Literarische Landschaften Band 14

Das Hörspielwerk Fred von Hoerschelmanns

Von Hagen Schäfer

Duncker & Humblot · Berlin HAGEN SCHÄFER

Das Hörspielwerk Fred von Hoerschelmanns Literarische Landschaften

Herausgegeben im Auftrag der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen von Frank-Lothar Kroll

Band 14 Das Hörspielwerk Fred von Hoerschelmanns

Von

Hagen Schäfer

Duncker & Humblot · Berlin Die Philosophische Fakultät der Technischen Universität Chemnitz hat diese Arbeit im Jahre 2012 als Dissertation angenommen.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2013 Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen in Kommission bei Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in ISSN 1439-1201 ISBN 978-3-428-14095-4 (Print) ISBN 978-3-428-54095-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-84095-3 (Print & E-Book)

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Vorwort

Das Hörspielwerk Fred von Hoerschelmanns einer breiteren Öffentlichkeit be- kannt zu machen und damit der Wiederentdeckung dieses deutschbaltischen Autors Vorschub zu leisten, sind Anspruch und Ziel der vorliegenden Monographie, die im Juni 2012 als Dissertation an der Technischen Universität Chemnitz angenommen wurde. Die Anregung, mich wissenschaftlich mit diesem Thema auseinander zu set- zen, verdanke ich Prof. Dr. Günter Peters, der die Arbeit als ,Doktorvater‘ betreute und mir in der Entstehungsphase der Dissertation durch seine kritische Beurteilung des Manuskriptes immer wieder wichtige Denkanstöße gab. Danken möchte ich auch Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, der meine Arbeit seit langem mit großem Interes- se verfolgt hat, bereitwillig das Zweitgutachten erstellte und dessen Vermittlung ich es verdanke, dass die Dissertation in die Reihe „Literarische Landschaften“ aufge- nommen wurde. Ohne die finanzielle Unterstützung durch ein Promotionsstipendium der Konrad- Adenauer-Stiftung hätte ich das Dissertationsprojekt nicht verwirklichen können. Dafür sei an dieser Stelle mein nachdrücklicher Dank ausgesprochen. In guter Erin- nerung wird mir auch die Chemnitzer Stipendiatengruppe bleiben. Stellvertretend gedankt sei an dieser Stelle Prof. Dr. Beate Neuss. Mein Dank gilt den Mitarbeitern der Handschriftenabteilung des Deutschen Lite- raturarchivs Marbach, die mir während meiner Tätigkeit im Archiv mit großer Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit entgegengekommen sind. Danken möchte ich vor allem Dr. Jasmin Hambsch für ihre Unterstützung bei der Entsperrung der Kor- respondenz Fred von Hoerschelmanns. An dieser Stelle gebührt mein besonderer Dank Suzanne Doucet, die sich in ihrer Funktion als Universalerbin sehr entgegenkommend gezeigt hat und großzügig ihre Einwilligung in die Freigabe weiter Teile der Korrespondenz Fred von Hoerschel- manns gab, wodurch ich die Entstehungsgeschichte vieler Hörspiele überhaupt erst dokumentieren und zahlreiche Lücken in der Biographie des Autors schließen konnte. Dr. Ralph Erich Schmidt habe ich es zu verdanken, die Korrespondenz Fred von Hoerschelmanns mit Elisabeth Noelle-Neumann einsehen und umfassend auswerten zu können. Gern erinnere ich mich an die Studienaufenthalte im Privatarchiv Elisa- beth Noelle in Piazzogna, den inspirierenden Arbeitsplatz im Pavillon mit dem spektakulären Blick über den Lago Maggiore auf Locarno und Ascona. Die Heraus- gabe des Briefwechsels mit Elisabeth Noelle-Neumann, der Einblicke in eine unge- wöhnliche Freundschaft gewährt und ein genaues Bild der zeitkritisch-reflektieren- 6Vorwort den Wahrnehmung gesellschaftlicher Umbrüche vermittelt, ist als nächstes Projekt geplant. Mein Dank gebührt all jenen, die mir bei meinen Recherchen in den Archiven bereitwillig geholfen haben, schwer zugängliches oder verschollen geglaubtes Ma- terial aufzuspüren. Genannt seien vor allem Jana Behrendt (SWR Baden-Baden), Dr. Jörg Hucklenbroich (SWR ), Henning Rademacher (NDR ), Petra Witting-Nöthen (WDR Köln), Florian Westermayer (BR München), Ute Graf (DW Bonn), Axel Bundenthal (ZDF Mainz), Martin Sailer (ORF Innsbruck), Bar- bara Belic (ORF Graz), Margherita Meier (SR DRS Zürich), Gabrijela Gruden (RTV Slovenija Ljubljana), Philip A. Trier Jacobsen (DR Kopenhagen), David Tall- bäck (SR Stockholm), Linda De Leeuw (VRT Beeldarchief Brüssel), Trish Hayes (BBC Written Archives Centre Reading), Malle Ermel (Eesti Ajalooarhiiv Tartu) und Carsten Eichenberger (Haus der Heimat Stuttgart). Wichtige Hinweise und Informationen verdanke ich Dr. Hans-Ulrich Wagner (Hamburg), Dr. Wolfram Wessels (Baden-Baden), Prof. Dr. Michael Garleff (Olden- burg), Prof. Dr. Joachim Kaiser (München), Prof. Dr. Monika Barthels (Bremen), Prof. Dr. Edgar Lersch (Tübingen), Dr. Inge Jens (Tübingen) und Dr. Gabriele von Engelhardt (Tübingen). Besonders hervorzuheben ist an dieser Stelle die im April 2011 verstorbene Gertrud Feldmann, die mit ihrem Wissen über Hapsal in den 1930er Jahren, seine Bewohner und Fred von Hoerschelmann eine große Hilfe war und mir mit ihren lebendigen Schilderungen in bleibender Erinnerung sein wird. Bernd Schauenburg, ihr Bevollmächtigter, hat mir in Absprache mit den Erben die Korrespondenz Fred von Hoerschelmanns mit Gertrud Feldmann freundlicherweise überlassen. Ferner gilt mein Dank Wolf von Hoerschelmann (Wiesbaden), Monika von Hoer- schelmann (Tübingen), Axel von Hoerschelmann (Berlin), Dr. Werner Konstantin von Hoerschelmann (Basedow), Alexander von Hoerschelmann (Wien) und Kon- stantin Hoerschelmann (Mettenheim) für die interessanten, anregenden und hilfrei- chen Gespräche und Briefkontakte sowie das zur Verfügung stellen von Materialien zur Geschichte der Familie von Hoerschelmann. Meinen Eltern, Verwandten und Freunden, die mein Dissertationsprojekt interes- siert begleitet haben und Geduld, Nachsicht und Verständnis zeigten, wenn ich mich arbeitsbedingt für längere Zeit zurückzuziehen gezwungen sah, sei an dieser Stelle ebenfalls gedankt. Meiner im Dezember 2010 verstorbenen Großmutter, Lie- selotte Predehl, die den Abschluss meiner Promotion nicht mehr erleben konnte, ist diese Arbeit gewidmet. Radebeul, im Januar 2013 Hagen Schäfer Inhaltsverzeichnis

I. Fred von Hoerschelmann und die Geschichte des deutschen Hörspiels ...... 13 1. Einleitung und Themenstellung ...... 13 2. Definitionen, radiophone Gestaltungsmittel und methodische Ansätze ...... 15 3. Forschungsstand und Quellenlage ...... 21 4. Biographischer Abriss und Werküberblick ...... 24

II. Das Hörspiel in der Weimarer Republik und zu Beginn des Dritten Reiches 46 1. Die Anfänge des Hörspiels ...... 46 2. Hörspieltheoretische Konzeptionen I – Pongs, Kolb und Wegmann ...... 52 3. Hoerschelmanns erstes Hörspiel Die Flucht vor der Freiheit ...... 56 a) Die Flucht vor der Freiheit in den Fassungen von 1928/29 und 1932 ..... 56 b) Der Weg in die Freiheit – Arnolt Bronnens Bearbeitung und ihre Deutung im Vorfeld der „Machtergreifung“ ...... 73 c) Die Flucht vor der Freiheit in der Fassung von 1959 ...... 82 4. Urwald ...... 91 5. Fred von Hoerschelmanns Hörspiele in der Zeit des Dritten Reiches ...... 95

III. Das Hörspiel der Nachkriegszeit ...... 99 1. Der Neubeginn 1945–1949 ...... 99 2. Das Hörspiel der 1950er und frühen 1960er Jahre ...... 101 3. Theoretische Prämissen des Hörspiels der 1950er und frühen 1960er Jahre .... 105 4. Hörspieltheoretische Konzeptionen II – Knilli und Heißenbüttel ...... 107

IV. Fred von Hoerschelmanns Hörspieldramaturgie ...... 112 1. „Man kann heute genauso gut erzählen wie immer“ ...... 112 2. „Meister der Hörspieldramaturgie“ ...... 119

V. Generationenkonflikte – Das Hörspiel als Beitrag zur Aufarbeitung der Ver- gangenheit in der frühen Bundesrepublik? ...... 130 1. Aufarbeitung der Vergangenheit und Generationenkonflikte ...... 130 8 Inhaltsverzeichnis

2. Das Schiff Esperanza – DaserfolgreichstedeutscheHörspiel ...... 134 a) Entstehungsgeschichte ...... 134 b) Vater-Sohn-Konflikt, Auswandererproblematik und Menschenhandel ..... 137 c) Vergleich der Realisationen ...... 144 3. Ein Weg von acht Minuten – Die Hauptfigur eines Blinden und der Vater-Toch- ter-Konflikt ...... 149 4. Der Mutter-Sohn-Konflikt in Der Käfig ...... 158

VI. Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg ...... 166 1. Die Umsiedlung in Die verschlossene Tür ...... 166 2. Entstehungsgeschichte und Varianten des Hörspiels Die verschlossene Tür .... 171 a) Die Fassung des SDR 1952 ...... 171 b) Die Fassungen des NWDR/NDR 1952 und 1957 ...... 176 c) Vergleichende Analyse der Realisationen ...... 181 3. Darstellung des Motivs der Umsiedlung, Vertreibung und Flucht in Die ver- schlossene Tür ...... 188 4. Judenverfolgung – Variationen über das Motiv des Versteckens ...... 192 a) Fred von Hoerschelmanns Die verschlossene Tür ...... 192 b) Günter Eichs Die Mädchen aus Viterbo ...... 196 c) Rolf Schneiders Zwielicht ...... 199 d) VergleichderGestaltungdesMotivs...... 204 5. Die Fernsehspielfassungen der Verschlossenen Tür ...... 207 6. Das Thema der Verantwortung und Schuld in Aufgabe von Siena ...... 212 a) Inhalt und Form des Stationendramas ...... 212 b) Vergleich der Realisationen ...... 220

VII. Existenzialien des menschlichen Lebens ...... 225 1. Der Selbstmord in Ich bin nicht mehr dabei ...... 225 2. Die Rückkehr eines Totgeglaubten in Die blaue Küste ...... 237 3. Die prophetische Todesvorhersage in Ich höre Namen ...... 248

VIII. Schicksale in Abhängigkeit von Behörden ...... 260 1. Amtmann Enders – Sprechende Gegenstände als dramaturgisches Mittel ...... 260 2. Der Hirschkäfer – Zwei parallele Sprechebenen ...... 271 3. Eine Stunde Aufenthalt – Funkbearbeitung der Erzählung Salme ...... 275 Inhaltsverzeichnis 9

4. Sabab und Illah – Wechselspiel zwischen irdischer und transzendenter Hand- lungsebene ...... 279 5. Sizilianischer Frühling – Das Problem der Erzählperspektive ...... 284

IX. Historische Hörspielstoffe ...... 293 1. Was sollen wir denn tun? – Ein Hör- und Fernsehspiel über die letzten Tage von Leo Tolstoi ...... 293 2. Timbuktu – Die Geschichte von René Caillié ...... 297 3. Der Palast der Armen – Die parallele Handlungsstruktur ...... 302 4. Caro – Regisseursintervention als Spiel mit der Handlung ...... 307

X. Im Angesicht der Gefahr – Endzeitszenarien ...... 315 1. Das reale Endzeitszenario in Die Saline ...... 315 2. Das fiktionale Endzeitszenario in Rendezvous der Maschinen ...... 324 3. Das irreal-parabolische Endzeitszenario in Fröhliches Erwachen ...... 325 4. Das absurd-groteske Endzeitszenario in Dichter Nebel ...... 331

XI. Schlussbetrachtung und Ausblick ...... 339

Quellen- und Literaturverzeichnis ...... 343 1. Ungedruckte Quellen und Tonträger ...... 343 2. Literaturverzeichnis ...... 351 a) Primärliteratur ...... 351 b) Sekundärliteratur ...... 353 aa) Monographien und Aufsätze ...... 353 bb) Zeitungsartikel ...... 358 3. Übersicht über das Hörspielwerk Fred von Hoerschelmanns ...... 360

Personenverzeichnis ...... 362 Abkürzungsverzeichnis

BBC British Broadcasting Corporation London BEFU Berliner Funkstunde BR Bayerischer Rundfunk DLA Deutsches Literaturarchiv Marbach DLAH Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass A: Hoerschelmann dpa Deutsche Presse Agentur DR Danmarks Radio København DRAF Deutsches Rundfunkarchiv a.M. DRAP Deutsches Rundfunkarchiv Potsdam DW Deutsche Welle EAA Eesti Ajalooarhiiv Tartu (Estnisches Historisches Archiv Tartu) epd Evangelischer Pressedienst ERA Eesti Riigiarhiiv Tallinn (Estnisches Staatsarchiv Tallinn) FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung HA Historisches Archiv HMS Hörspiel-Manuskript-Sammlung HR Hessischer Rundfunk KRO Katholieke Radio Omroep Hilversum NDR Norddeutscher Rundfunk NWDR Nordwestdeutscher Rundfunk NWRV Nordwestdeutscher Rundfunkverband NZZ Neue Züricher Zeitung OM Originalmanuskript ORAG Ostmarken Rundfunk AG ORF-K Österreichischer Rundfunk Kärnten ORF-ST Österreichischer Rundfunk Steiermark ORF-T Österreichischer Rundfunk Tirol ORF-V Österreichischer Rundfunk Vorarlberg ORF-W Österreichischer Rundfunk Wien RB Radio Bremen RIAS Rundfunk im amerikanischen Sektor RRG Reichsrundfunkgesellschaft Abkürzungsverzeichnis 11

RTV Radiotelevizija Slovenija Ljubljana RuF Rundfunk und Fernsehen RuG Rundfunk und Geschichte RWR-W Sendergruppe Rot-Weiß-Rot Wien SA Schallarchiv SDR Süddeutscher Rundfunk SM Sendemanuskript SR Saarländischer Rundfunk SR DRS Schweizer Radio DRS SR-ST Sveriges Radio Stockholm SWF Südwestfunk SWR Südwestrundfunk VRT Vlaamse Radio- en Televisieomroep Brussel WDR Westdeutscher Rundfunk WERAG Westdeutsche Rundfunk AG ZDF Zweites Deutsches Fernsehen

I. Fred von Hoerschelmann und die Geschichte des deutschen Hörspiels

1. Einleitung und Themenstellung

Die Geschichte des deutschen Hörspiels ist eng mit dem Namen Fred von Hoer- schelmann verbunden. Er zählt nicht nur zu den Pionieren dieser in der Zeit der Weimarer Republik entstehenden Kunstform, sondern hat sie in ihrer Blütezeit, in den 1950er und frühen 1960er Jahren, entscheidend geprägt. Bereits in seinem ers- ten Hörspiel Die Flucht vor der Freiheit wird Hoerschelmanns funkdramaturgisches Können in der Gestaltung der Dialoge und sein psychologisches Feingefühl beim Zeichnen der Charaktere erkennbar. Die Figuren in seinen Hörspielen müssen, auf sich allein gestellt, in einer für sie bedrohlichen oder nicht durchschaubaren Situa- tion Entscheidungen treffen. Das novellistische Erzählen mit einem zumeist drama- tisch zugespitzten offenen Schluss, der den Hörer auffordert, nach einer Lösung zu suchen, und der Umgang mit existentiellen Fragen des menschlichen Lebens, mit Konflikten, die um Schuld, Verantwortung und Gewissen kreisen, kennzeichnen Fred von Hoerschelmann als „Meister der Hörspieldramaturgie“1 sowie als „Ro- mancier des Radios“2. Hörspiele wie Die verschlossene Tür, Die Saline und Dichter Nebel gehören seit ihrer Ursendung zum Repertoire zahlreicher Rundfunkanstalten, allen voran das 1953 urgesendete Das Schiff Esperanza, das – gemessen an der Zahl der Übersetzungen und weltweiten Produktionen – als das erfolgreichste deutschsprachige Hörspiel angesehen werden muss und lange Zeit zur Pflichtlektüre an deutschen Schulen gehörte. Darüber hinaus lässt die unter dem Titel Die Stadt Tondi erschienene Sammlung von Erzählungen Hoerschelmann als erfindungsreichen Erzähler mit einem Scharf- blick für menschliche Abgründe erkennen. Die estnische Heimat mit ihren ausge- dehnten Wäldern und der Ostseelandschaft ist dabei Bezugspunkt und Inspirations- quelle zugleich. Dieses Umfeld bildet den Hintergrund, vor dem, in zumeist mono- logischen oder sich auf eine Figur konzentrierenden Erzählungen, dissoziierte Men- schen porträtiert werden. Die meisten dieser Erzählungen sind tragisch angelegt und lassen pessimistische Züge deutlich erkennen.

1 Heinz Schwitzke (Hrsg.): Reclams Hörspielführer, Stuttgart 1969, S. 299. 2 Hans-Ulrich Wagner: Ein Romancier des Radios: Fred von Hoerschelmann. Ein Porträt, SWR Baden-Baden 15. 11. 2001, SA 3901378/001, 00:50:48–00:53:47, HMS 3901378, S. 27 ff. 14 I. Fred von Hoerschelmann und das deutsche Hörspiel

Die tragende Bedeutung Fred von Hoerschelmanns für die Entwicklung des deut- schen Hörspiels ist früh erkannt worden, ohne dass die Literatur- und Medienwis- senschaft diesem Umstand bislang Rechnung getragen hätte. Eine literaturwissen- schaftliche Arbeit, die sich dezidiert mit allen Originalhörspielen Hoerschelmanns und deren Rezeption in den 1950er und 1960er Jahren befasst, ist bislang ein Desi- derat. Diese Forschungslücke zu schließen, wird Aufgabe und Ziel der Dissertation sein. Als erste umfassende Darstellung des Hörspielschaffens Fred von Hoerschel- manns leistet sie einen Beitrag sowohl zur Geschichte des Hörspiels in der Weima- rer Republik und der frühen Bundesrepublik Deutschland als auch zur deutschbalti- schen Literaturgeschichte. Deren europäische Dimensionen sind bei kaum einem anderen Autor so deutlich erkennbar wie bei Hoerschelmann. Einerseits ist seine Biographie charakteristisch für die eines Kosmopoliten im 20. Jahrhundert: Sie ist geprägt durch das Reisen und In-die-Ferne-Gehen als stets abrufbare Möglichkeit – wie viele andere deutschbaltische Autoren verließ Fred von Hoerschelmann seine Heimat früh, um in Deutschland seine schriftstellerische Laufbahn zu beginnen.3 Dass die europäischen Dimensionen der deutschbaltischen Literatur besonders in Hoerschelmanns Œuvre zu Tage treten, beweisen andererseits seine zwei bekanntes- ten Hörspiele Das Schiff Esperanza und Die verschlossene Tür, die vor dem Hinter- grund von – zum Teil selbst widerfahrener – Umsiedlung, Flucht und Vertreibung nicht nur europäische Schicksale ins Literarische transformieren, sondern darüber hinaus einen Beitrag zum Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und deren Aufarbeitung in der Adenauer-Ära leisten. Die Prämisse, „daß deutsches Kulturerbe und europäische Gesinnung im Ostseeraum keine Gegensätze bilden, sondern als einander ergänzende und sich wechselseitig bedingende Impulse zu ver- stehen sind“,4 ist deshalb auch für Hoerschelmann symptomatisch. In den Hörspielen und Erzählungen Fred von Hoerschelmanns wird deutlich, dass ihr Autor an die Erzählbarkeit der Welt glaubt und auf die Sinnfälligkeit zeit- los-zeitkritischer Stoffe vertraut. Das Bedürfnis, Geschichten zu erzählen, Erfahrun- gen weiterzugeben, die Phantasie der Hörer und Leser anzuregen, behaupten dauer- haft Gültigkeit und sprechen, weil sie für Hoerschelmann in besonderem Maße kennzeichnend sind, für dessen Wiederentdeckung. Seine Hörspiele zeichnen ein detailliertes Bild der deutschen Nachkriegsgesellschaft, halten ihr aber zugleich ei- nen Spiegel vor. Sie sind deshalb auch zeitgeschichtliche Dokumente und insofern unter mentalitäts- und ideengeschichtlichen Aspekten von Interesse, als sie indirekt einen Beitrag zur Debatte über die „Aufarbeitung der Vergangenheit“ leisten. Denn das Parabolische der Stoffe und der zumeist offene Schluss fordern vom Hörer – insbesondere in den Hörspielen, in denen Bezug auf den Nationalsozialismus und

3 Vgl. Gero von Wilpert: Deutschbaltische Literaturgeschichte, München 2005, S. 24; Gero von Wilpert: Baltische Literatur. Thesen und Hypothesen. In: Jahrbuch des baltischen Deutsch- tums. Bd. LII (2005), Lüneburg 2004, S. 115–132, hier: 127. 4 Frank-Lothar Kroll: Vorwort. In: Ders. (Hrsg.): Europäische Dimensionen deutschbalti- scher Literatur, Berlin 2005, S. 5–8, hier: 8. 2. Definitionen 15

Generationenkonflikte genommen wird –, eine Lösung zu finden, sich selbstkritisch mit der Problematik auseinander zu setzen. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Frage, wie die Hörspiele Fred von Hoerschelmanns literarisch gestaltet sind, welche theoretischen und dramaturgi- schen Prämissen ihnen zugrunde liegen und wie sie künstlerisch und technisch um- gesetzt wurden. Dabei sind entstehungs- und rezeptionsgeschichtliche Aspekte ebenso zu berücksichtigen wie die einzelnen Text- und Tonträgerfassungen. Welche Relevanz das „realistische Problemhörspiel“5 und der dramatisch-novellistische Er- zählansatz mit Blick auf hörspiel- und zeitgeschichtliche Perspektiven beanspru- chen, wird ebenfalls zu klären sein. Ein besonderes Augenmerk wird auf die Hör- spiele gerichtet sein, in denen Hoerschelmann neue Spielformen und Gestaltungs- möglichkeiten entwickelt. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt in der Auswertung der Hörspielmanus- kripte und -tonträger. Dabei wird das Hauptaugenmerk auf die Originalhörspiele ge- richtet sein. Die Funkbearbeitungen, Fernsehspiele, Dramen und Erzählungen wer- den nur punktuell in die Analyse einbezogen, sofern sie für die Bewertung der Ori- ginalhörspiele oder Fragen einer autorenspezifischen Hörspieldramaturgie von Re- levanz sind.

2. Definitionen, radiophone Gestaltungsmittel und methodische Ansätze

Die elektroakustische Realisation eines Textes durch Wort und Stimme sowie durch Geräusch, Ton und Musik wird als Hörspiel bezeichnet. Es ist neben der Klangkunst und dem Feature die einzige produktive Kunst des Rundfunks, weil in ihm durch die Komposition hörbarer Räume und akustischer Zeichen sowie durch Blende, Schnitt und Montage Realitäten geschaffen werden, die außerhalb des Rundfunks nicht existent sind und demzufolge auch nicht reproduziert werden kön- nen.6 Deshalb kann ein Hörspieltext nur mit Hilfe der technischen Mittel und Mög- lichkeiten des Rundfunks adäquat umgesetzt werden und allein dadurch seine spezi- fische Wirkungskraft entfalten. Im Folgenden wird deshalb zwischen dem (Origi- nal-)Hörspiel als der Umsetzung eines Textes, der eigens für den Rundfunk entstan- den ist, und der Funkbearbeitung als Text, der auf anderen literarischen Vorlagen basiert und für den Rundfunk eingerichtet werden musste, unterschieden.

5 Der Begriff wurde von Heinz Schwitze: Das Hörspiel. Geschichte und Dramaturgie, Köln/Berlin 1963, S. 334 geprägt und wird, weil er den von Fred von Hoerschelmann gepräg- ten Hörspieltyp treffend charakterisiert, auch in dieser Arbeit verwendet. Eugen Kurt Fischer: Das Hörspiel. Form und Funktion, Stuttgart 1964, S. 110, 120 spricht in diesem Zusammen- hang vom „Problemspiel“ oder „realistischen Handlungsspiel“. 6 Vgl. Helmut Jedele: Reproduktivität und Produktivität im Rundfunk, Stuttgart 1952 [un- veröffentlichtes Typoskript], S. 66, 78 ff., 94; Schwitzke 1963, S. 42; Fischer 1964, S. 3 f.