-KONFERENZ

Kurt Faltlhauser* Herrenchiemsee: Klosterinsel, Königsinsel, Verfassungsinsel Einführung in die Ausstellung zur »Herrenchiemsee- Konferenz« anlässlich des 70. Geburtstages von Prof. Hans-Werner Sinn

der aus der Versenkung holte: Er errichtete im Jahr 2009 die erloschene Diözese wieder als Bistum. Chiemsee ist seitdem das einzige Titularbistum in Deutschland. Hierzu gibt es zwar keine päpstliche Urkunde, wohl aber steht dies inzwischen offiziell im päpstlichen Jahrbuch. Die als »Königsinsel« hat ihre eigene Geschichte: Ludwig II. wollte zunächst auf der Insel Kurt Faltlhauser Wörth im Staffelsee sein französisches bauen. Doch die Erwerbung der Insel scheiterte an der Stand- haftigkeit ihrer Besitzer. Parallel hatte auf der größten KLOSTERINSEL UND KÖNIGSINSEL Insel im Chiemsee ein Besitzwechsel stattgefunden: 1871 kaufte ein Konsortium württembergischer Holz- Die große Insel im Chiemsee, Herrenchiemsee, hat händler die Herreninsel, um den wertvollen Waldbe- eine große Geschichte in dreierlei Hinsicht: Zum einen stand in Gänze kahlzuschlagen. König Ludwig II. wollte war sie bedeutendes kirchliches Zentrum, dann dies verhindern und erwarb die Insel 1873. Fünf Jahre brachte König Ludwig II mit dem »Neuen Schloss« später legte er den Grundstein zum Neuen Schloss, in herrschaftlichen Glanz, und im Jahr 1948, dem dem er nicht nur sein großes Idol (den König der Fran- Geburtsjahr von Hans-Werner Sinn, wurde auf der zosen Ludwig XIV.) verherrlichen wollte, sondern den Insel durch den »Verfassungskonvent« deutsche Absolutismus als solchen. Im ganzen Neuen Schloss Geschichte mitgeprägt. gibt es keinen Hinweis auf Bayern, auf bayerische Per- Die Klostergeschichte auf der Herreninsel sönlichkeiten oder auf bayerische Symbole. Das doku- begann bereits 620; in dieser Zeit wurde nach mentiert eine Begebenheit aus der jüngsten Vergan- archäologischen Untersuchungen eine erste Kloster- genheit: Ludwig II. hatte sich im Schlafzimmer eine anlage aus Holz errichtet: Das mit Abstand älteste Replik des Schlafzimmers von Versailles bauen lassen. Kloster auf bayerischem Boden! Im achten Jahrhun- Die eifrigen Künstler verzierten das große Bett am dert gab es bereits ein Kloster aus Stein, 1217 wurde Fußende links und rechts mit großen holzgeschnitz- Herrenchiemsee zum Zentrum des neu gegründeten ten, vergoldeten Löwen – dem Symbol bayerischer Bistums Chiemsee. Die Entwicklung in den darauffol- Kraft und Eigenständigkeit. Ludwig II. ließ diese bei- genden Jahrhunderten war einerseits geprägt von den Löwen, als er sie bei einer Besichtigung wahr- Verfall, andererseits von Wiederbelebung, Neubau nahm, sofort wieder entfernen und in München lagern. und auch glanzvoller Ausgestaltung. So entwarf 1738 Ein restauriertes Exemplar dieser goldenen Herren- Johann Baptist Zimmermann das Deckengemälde des chiemsee-Löwen konnte auf diese Weise das Bayeri- Bibliotheksaales, das glücklicherweise bis heute sche Finanzministerium Finanzminister Söder bei sei- erhalten ist. 1803 wütete auch auf der Herreninsel die ner Verabschiedung in die Staatskanzlei überreichen. Säkularisation. Nach 1818 wandelte der damalige Dieser von Ludwig II. verschmähte Löwe steht heute Eigentümer, ein Münchner Großkaufmann, die säkula- im Kabinettssaal am Hofgarten. risierte Stiftskirche in ein Brauhaus um; eine Zerstö- Nach der Revolution 1918 wurde der Freistaat rung, die bis heute nicht wieder beseitigt werden Bayern Besitzer der Insel. In einer langen Folge von konnte. Im Gegensatz zu anderen Klöstern wurde in Restaurierungen wurde im Neuen Schloss zusätzlich der Zeit Ludwig I. das Kloster Herrenchiemsee nicht eine Ludwig-II.-Ausstellung eingerichtet; vor allem ist wieder restituiert. Vor diesem Hintergrund ist es hervorzuheben, dass der östliche Seitenarm des erstaunlich, dass Papst Benedikt XVI. das Bistum wie- , der nie vollendet worden war, für Ausstel- lungszwecke wunderbar präpariert wurde. Moderne * Prof. Dr. Kurt Faltlhauser war von 1994 bis 1995 Parlamentarischer Kunst in großen Räumen mit blanken roten Ziegel- Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, von 1995 bis 1998 Bayerischer Staatsminister und Leiter der Staatskanzlei und von wänden ist heute ein (leider zu seltenes) 1998 bis 2007 Bayerischer Staatsminister der Finanzen. Kunsterlebnis.

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Im Komplex des Augustiner Chorherrenstiftes maliger Anlauf wurde in der Außenministerkonferenz wurden neben generellen Sanierungen (auch in den in London vom 25. November bis 15. Dezember 1947 Räumen mit Wohnrecht des Hauses Wittelsbach) eine versucht; auch diese »Konferenz der letzten Chance« große Ausstellung des Chiemsee-Malers Julius Exter scheiterte. Die Einheit Deutschlands war nicht und eine weitere Ausstellung der sogenannten Chiem- mehr erreichbar. Die Westalliierten stießen see-Maler eingerichtet. Im Zentrum der Präsentatio- deshalb die Schaffung der DM an, die am 20. Juni 1948 nen, im ehemaligen Kloster, steht jedoch die Ausstel- den Bürgern ausgegeben wurde, ein »vorweg lung zum Verfassungskonvent im Jahr 1948. genommener Gründungsmythos der Bundesrepublik« (Wolfgang Reinicke). Die UdSSR folgte nur drei Tage DIE VERFASSUNGSINSEL später mit der Ostmark und mit der gleichzeitigen Blockade Berlins, die 322 Tage lang anhalten sollte. Die Zeit bis zum Verfassungskonvent Ein weiterer Einigungsversuch war von Minister- präsident Hans Ehard unternommen worden: Er lud die Die Zeit zwischen 8. Mai 1945 bis 1. Juli 1948 war von Ministerpräsidenten – sowohl der Westländer als auch einer katastrophalen Ernährungssituation, Wohnungs- der Ostländer – am 7. Mai 1947 nach München ein. Erst- not, Arbeitslosigkeit und einer großen Zahl von Selbst- mals seit Kriegsende saßen die deutschen Ministerprä- morden geprägt. Mit erheblichem Aufwand betrieben sidenten an einem Tisch. Ziel war es, die Einheit der die Alliierten die »Entnazifizierung«: 3,76 Mio. Personen Deutschen zu wahren. Das Scheitern der Konferenz war waren vom »Befreiungsgesetz« betroffen. 950 000 Per- jedoch vorgeprägt: Den Ministerpräsidenten der fran- sonen wurden individuell abgeurteilt. »Die statistische zösischen Zone war von der französischen Regierung Bilanz der Säuberung war eine Bilanz großzü- untersagt worden, über Fragen der deutschen Einheit giger Rehabilitierung: 1 654 Hauptschuldige, rund zu reden; umgekehrt war die Vorgabe der ostzonalen 22 000 Belastete und rund 1 006 Minderbelastete. Die Ministerpräsidenten nur, die Schaffung eines deut- Masse kam also mit dem Mitläuferprädikat davon.« schen Einheitsstaates zu diskutieren; der Versuch, in (Manfred Tremmel). Diese Zahlen beziehen sich auf das einer Konferenz die deutsche Einheit auf den Weg zu Gebiet der Westmächte; über die sowjetische Besat- bringen, musste scheitern. zungszone gibt es keine entsprechenden Daten. Dies war der Hintergrund eines historischen Bekannt ist von diesem Teil des Nachkriegsdeutsch- Datums: Am 1. Juli 1948 übergaben die drei Militär- lands vor allem das dunkle Kapitel der sowjetischen gouverneure Lucius D. Clay (USA), Sir Brian Robertson Internierungslager, in denen die schrecklichsten Haft- (Großbritannien) und Marie-Pierre Koenig (Frank- bedingungen herrschten. reich) im alliierten Hauptquartier in Frankfurt den elf Die Zeit zwischen 1945 und 1948 war gleichwohl Ministerpräsidenten der westlichen Besatzungszonen auch von Bemühungen, neue administrative und poli- drei Dokumente: tische Strukturen zu schaffen, geprägt. Alle entspre- chenden Vorgänge wurden dabei von den drei West- – Das Dokument I, in dem die Alliierten den Auftrag mächten gesteuert. Die Länder der US-Zone gaben formulierten, eine demokratische Verfassung zu sich Verfassungen, die 1946 jeweils mit Volksabstim- schaffen. Bedeutend dabei war die ausdrückliche mungen angenommen wurden. In der britischen Zone Betonung, dass der Staatsaufbau nach föderalisti- wurde erst im April 1947 gewählt, in der französischen schem Prinzip vorzunehmen sei. Die USA, die in Zone im Mai 1947. Interessant dabei: Die Länder der allen Fragen des demokratischen und administra- britischen Zone gaben sich ihre Verfassung erst nach tiven Aufbaus immer besonders ungeduldig waren, Verabschiedung des Grundgesetzes. setzten sich auch mit der Terminvorgabe durch, Am 1. Dezember 1946 wurde die Verfassung des dass die Länder spätestens zum 1. September 1948 Freistaates Bayern angenommen und ist dabei neben eine verfassungsgehende Versammlung einzube- der Verfassung des Landes Hessen die älteste der rufen hatten. deutschen Nachkriegsverfassungen. Im April und im –– Das Dokument II gab die Überprüfung der gegebe- Mai wurde in den Landkreisen und in den Gemeinden nen Ländergrenzen in Auftrag. gewählt. –– Das Dokument III beschrieb die Vorgaben des In Potsdam war vereinbart worden, in Deutsch- Besatzungsstatutes, in dem vor allem die Aufteilung land eine Wirtschaftseinheit zu realisieren. Die Ameri- der Zuständigkeiten der zunächst agierenden deut- kaner ergriffen hierzu die Initiativen, nur die Briten schen Institutionen und der alliierten Behörden nahmen jedoch das Angebot an. So entstand am festgelegt waren. 1. Januar 1947 die »Bizone«, ein »Vereinigtes Wirtschaftsgebiet«. Das Dokument I setzte die westlichen Ministerpräsi- Das dominierende Hauptthema dieser Zeit war denten erheblich unter Druck. Deren größter Wider- jedoch die Einheit Deutschlands. In einer Außenmi- stand entstand aus der einhelligen Auffassung, dass nisterkonferenz vom 10. März bis 24. April 1947 in man nicht dem Torso eines deutschen Staates eine Ver- Moskau versuchten die Verhandlungspartner zu fassung geben könne. Die Ministerpräsidenten waren einer Einigung zu kommen. Ergebnislos. Ein noch- immer noch geprägt von der Hoffnung auf ein ein-

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heitliches deutsches Staatsgebiet. Carlo Schmid löste Konferenzstandorts Herrenchiemsee wohl gelungen; diesen Vorbehalt durch die Idee eines »Provisoriums« von diskreter Arbeit konnte dagegen nicht die Rede auf. »Auf Vorschlag des ersten Bürgermeisters von sein, denn der Chef der Staatskanzlei aus Bayern, Hamburg, Max Brauer (SPD), sollte die zu schaffende Anton Pfeiffer, der die Konferenz leitete (er war nicht Verfassung als Grundgesetz bezeichnet werden.« (Wolf- Vorsitzender, sondern nur der »geschäftsführende gang Reinicke). Betreuer«) hielt jeden Tag um 17:00 Uhr eine gut In einer Konferenz der Ministerpräsidenten mit besuchte Pressekonferenz ab. den Westalliierten am 26. Juni 1948 in Frankfurt Die personelle Besetzung der Konferenz war sehr stimmten die Westalliierten zu, dass nunmehr die »südlastig«: Zwar war die Auswahl der Delegierten in Arbeit für ein »Grundgesetz« und nicht für eine »Ver- der parteilichen Gewichtung ausgeglichen, doch spie- fassung« beginnen sollte. gelte sich die unterschiedliche Erwartungshaltung an die Bedeutung dieser Zusammenkunft in der perso- Der Herrenchiemsee-Verfassungskonvent nellen Besetzung. Den Ländern war nur je ein stimm- berechtigter Bevollmächtigter vorgegeben, doch die Noch bevor die Einigung zum Begriff Grundgesetz mit Abstand größte Delegation kam aus Bayern. zustande kam, fiel der Startschuss für die Idee des Neben Pfeiffer saß der erfahrene Verfassungsrechtler Herrenchiemsee-Konvents. Es war der hessische Hans Nawiasky, der schon entscheidend die bayeri- Ministerpräsident Christian Stock, der vorschlug, zur sche Verfassung mitgeprägt hatte; zudem saßen die Vorbereitung des parlamentarischen Rates einen Herren Claus Leusser, Staatsrat a. D. Ottmar Kollmann »Beamtenausschuss« einzuberufen. Bayern reagierte, und Richard Ringelmann als Finanzexperte mit am angetrieben von dem Anspruch, die staatliche Ord- Tisch. Franz Heubl, der spätere Landtagspräsident nung des neuen Deutschlands entscheidend mitzu- war als Sekretär abgestellt. Die Länder Hessen, Nie- prägen, schnell: Ministerpräsident Ehard schlug den dersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Hol- Kollegen einen »besonders ruhigen Ort« in Bayern vor. stein waren dagegen nur mit einem einzigen (stimm- Er machte die Herreninsel den Kollegen nicht zuletzt berechtigten) Delegierten vertreten. Zu zweit reisten dadurch schmackhaft, dass auf dieser Insel nur zwei die Abgesandten aus Hamburg, Bremen, Rhein- Telefone existierten und auf diese Weise Diskretion land-Pfalz sowie Württemberg-Hohenzollern an. einerseits gewährleistet wäre und andererseits der Württemberg-Baden stellte drei Vertreter. lästige Einfluss der Parteien (gleich welcher Richtung) Wenn man die Tatsache in Rechnung stellt, dass minimiert würde. Letzteres ist durch die Wahl des die südlichen Länder eine deutlich föderalistische

Abb. 1 Sitzordnung am Tag der Eröffnung des Verfassungskonvents Hans Na- Paul Zürcher, Theodor Anton Pfeíffer, Josef Schwal- Ottmar Koll- Claus Leusser, Ottmar Hans Paul Zürcher, Theodor Maunz, Anton Pfeiff er, Josef Schwalber, Claus Leusser, wiasky Baden Maunz, Baden Vorsitz ber, Bayern mann,Kollmann, Bayern Bayern Nawiasky Baden Baden Vorsitz Bayern Bayern Carlo Schmid, Bayern Otto Suhr, Ber- Württemberg- lin Carlo Schmid, Otto Suhr, HohenzollernWürttemberg- Berlin GustavHohenzollern von unbekannt Franz Heubl Theodor

Schmoller,Gustav von unbekannt Franz Heubl Spitta, Bre- WürttembergSchmoller, - Theodormen Spitta, Württemberg- Bremen Hohenzollern Hohenzollern Josef Beyerle, Gerhart Feine, Josef-Beyerle, Gerhart Feine, WürttembergWürttemberg-- Bremen Bremen BadenBaden Otto Küster, Wilhelm Otto Küster, Wilhelm WürttembergWürttemberg-- Drexelius,Drexelius, BadenBaden HamburgHamburg Kurt Heid, Johannes Kurt Heid, Johannes Praß, WürttembergWürttemberg-- Praß, Ham- Hamburg BadenBaden burg Bernhard Fritz Baade, Theo Kordt, Hermann Brill, Bernhard Fritz Baade, Theo Kordt, Hermann Brill, Hülsmann,Hülsmann, Schleswig-Schleswig-Hol- NordrheinNordrhein-- Hessen Hessen RheinlandRheinland-Pfalz- Holsteinstein WestfalenWestfalen

Pfalz Adolf Justus AdolfSüsterhenn, Süster- JustusDanckwerts, Danck- Rheinland-Pfalz Niedersachsen henn, Rhein- werts, Nieder- land-Pfalz sachsen S. 13 a

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Staatsstruktur bevorzugten, während die Nordländer schen Entwurfes die Themen systematisch abzuarbei- traditionell unitaristischer ausgerichtet waren, signa- ten. Das wäre zu viel weiß-blauer Einfluss gewesen! lisierte diese Teilnehmerschieflage von Anfang an die Die bayerischen Vertreter hatten jedoch trotzdem Tendenz des späteren Ergebnisses der Konferenz. durch den Vorentwurf des Freistaates einen wesentli- Die reine Männerrunde, 24 Herren, die in Abbildung chen Vorteil: Sie haben Teilbereiche des Bayern-Ent- 1 dargestellt ist, hatte unter qualitativem Gesichts- wurfes in den Unterausschüssen immer wieder einge- punkt ohne Zweifel besondere Namen zu bieten: Neben bracht und haben sich dabei oftmals durchgesetzt. Anton Pfeiffer der Verfassungsrechtler Hans Nawiasky, Dabei muss berücksichtigt werden, dass sich die der wortgewaltige und kluge Carlo Schmid, Otto Suhr Versammelten schon am ersten Tag darauf geeinigt (wenn auch nur in seiner Funktion als nicht stimmbe- hatten, keine Mehrheitsbeschlüsse herbeizuführen. rechtigter Gast), Adolf Süsterhenn aus Rheinland-Pfalz Bei unterschiedlichen Auffassungen sollten die kont- und Hermann Brill, der brillante Hesse. roversen Vorstellungen ohne Abstimmung gemein- Dieses Plenum konstituierte sich am 10. August sam dokumentiert werden. 1948 und führte zwei Tage eine Generaldebatte, die auf das Ergebnis noch keinen bedeutenden Einfluss Schwerpunkte und Streitpunkte hatte. Das Plenum teilte sich dann in drei Unteraus- schüsse: Der Unterausschuss I war für Grundsatzfra- Die Konferenz war sich in bedeutenden Punkten einig: gen zuständig, der Unterausschuss II sollte sich mit Zuständigkeitsfragen in der Gesetzgebung und um die –– Einig war man sich im Prinzip, dass Deutschland Finanzverfassung kümmern, der Unterausschuss III eine föderalistische Ordnung bekommen sollte. sollte vor allem Organisationsfragen lösen. Streitpunkt war jedoch, wieweit dieses föderalis- Diese Ausschüsse tagten verstreut auf der Her- tische Prinzip gehen sollte. Die bayerische De- reninsel und leisteten in den folgenden Tagen die legation war extrem föderalistisch vorgeprägt; eigentliche Arbeit. Pfeiffer gehörte zum föderalistischen Flügel von Diese Arbeit war nicht zuletzt durch den Fritz Schäffer und Alois Hundhammer. Zudem permanenten Versuch Bayerns, die Konferenz zu stand die CSU unter dem erheblichen Konkurrenz- dominieren, geprägt. Dies hatte mit dem Vorschlag druck der Bayernpartei, die einen strikt separatis- Ehards, die bayerische Insel als Tagungsort zu tischen Kurs verfolgte, also einen eigenständigen wählen, begonnen. Auch die Zahl der Mitarbeiter in Staat Bayern herbeiführen wollte. Die Bayernpar- der Konferenz war Teil dieser Dominanzstrategie. tei war damals die AfD von heute: Sie trieb die CSU Nicht zuletzt hatte Pfeiffer, der Vorsitzende und Spre- politisch vor sich her. Bayern wollte, dass der ein- cher der Expertengemeinschaft, auch einen eigenen hellig befürwortete Bundesrat jedem Gesetz Verfassungsentwurf auf die Insel mitgebracht. Die zustimmen sollte. Auch sollte diese Länderkam- Bayerische Staatskanzlei hatte intensive Vorarbeit mer gleichberechtigt an den Wahlen des Bundes- geleistet und war durch diese Formulierung eines Ver- kanzlers und des Bundespräsidenten teilnehmen. fassungsentwurfes in allen Detailfragen bestens Diese Auffassungen fanden keine Zustimmung vorbereitet. auf Herrenchiemsee. Doch es war erwartbar, dass sich die übrigen Kon- –– Ein zweiter Punkt der Einigkeit war die bewusste ferenzteilnehmer weigerten, auf der Basis des bayeri- Schwächung der Stellung des Bundespräsidenten; eine Haltung, die mit Blick auf die historische Rolle von Hin- Abb. 2 denburg sehr verständlich war. –– Auch einigte man sich auf ein konstruktives Misstrauens- votum. –– Es wurde ein Bundesver- fassungsgericht vorgeschlagen, das im Wesentlichen auf den Vorstellungen von Nawiasky beruhte. –– Einig war man sich auch, dass basisdemokratische Ele- mente im Grundgesetz nicht verankert werden sollten. Hier spiegelt sich das Misstrauen gegenüber einer Bevölkerung wider, die sich in den zwölf nati- onalsozialistischen Jahren so Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee leicht hatte verführen lassen.

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Vorsitzende der Herrenchiemsee-Konferenz Nur rudimentär wurde die Finanzverfassung diskutiert: Anton Pfeiffer, wurde zum Fraktionsvorsitzenden Bayern war mit der Forderung nach weitgehenden Län- der CDU/CSU im Parlamentarischen Rat gewählt. Ein derrechten bei der Steuererhebung in die Diskussion weiterer bedeutender Teilnehmer der Konferenz, hineingegangen. Hier konnte sich der Freistaat weitge- Carlo Schmid, wurde zum Fraktionsvorsitzenden der hend nicht durchsetzen. SPD gewählt, wenngleich er in der Debatte wahrlich nicht immer den Geist der Debatte auf der Insel Schlussarbeiten wiedergab. Am ehesten kann ein Textvergleich den Einfluss Eine wesentliche Einflussnahme auf die Konferenzer- von Herrenchiemsee auf das Ergebnis des Parlamen- gebnisse durch Bayern war jedoch die »Abschlussar- tarischen Rates messen. Ich will nur vier Beispiele beit der Konferenz«. herausgreifen: Von den Unterausschüssen hatte nur der Aus- schuss III für Organisationsfragen einen eigenen Beispiel I: Bericht vorgelegt, die Ausschüsse I und II hatten kei- Herrenchiemsee: Artikel 1, Abs. 2 nen Abschlussbericht erstellt. Nach einer taktisch Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist unantas- bestimmten Debatte kamen die Delegierten zu dem tbar. Die öffentliche Gewalt ist in allen ihren Entschei- Ergebnis, eine Formulierungskommission einzuset- dungsformen verpflichtet, die Menschenwürde zu ach- zen; sie ermächtigten ihren Vorsitzenden Pfeiffer, ten du zu schützen. ihren Namen unter ein ihnen noch nicht bekanntes Abschlussdokument zu setzen. »Damit schlug die Grundgesetz: Artikel 1, Abs. 1 große Stunde des Vorsitzenden: Als bis auf die Redak- Die Würde des Menschen ist unantastbar. Zu achten und tionsmitglieder alle Konventteilnehmer abgereist zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. waren, setzte Pfeifer seine Vorstellung eines dreiteili- gen Ergebnisses durch: Es entstand ein 95-seitiger Beispiel II: Bericht mit Einleitung, ein eigener Entwurf (149 Arti- Herrenchiemsee: Artikel 14, Abs. 1 kel) und ein Kommentarteil« (Wolfgang Reinicke). Auf Vor dem Gesetz sind alle gleich. diesem redaktionstechnischen Weg wurde der Abschlussbericht deutlich föderativer, deutlich baye- Grundgesetz: Artikel 3, Abs. 1 rischer, als er in einem geordneten Verfahren hätte Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. werden können. Am 31. August 1948 sandte Anton Pfeiffer diesen Beispiel III: Bericht an die Ministerpräsidenten. Herrenchiemsee: Artikel 7, Abs. 1 Jeder hat das Recht, seine Meinung frei und öffentlich Die Bedeutung des Konvents zu äußern und sich über die Meinung anderer zu unterrichten. Beschränkungen des Rundfunksemp- Schon während der Konvent tagte, wurde in vielen, fangs und des Bezugs von Druckerzeugnissen sind vor allem norddeutschen Medien über die »Insulaner« unzulässig. gespottet. Gezielte Indiskretionen vergifteten ebenso § 7, Abs. 3 Eine Zensur ist unstatthaft. die öffentliche Meinung wie heftige Attacken derer, die mehr Zentralismus in Deutschland als Ziel hatten. Grundgesetz Artikel 5, Abs. 1 Für die SPD war das Ergebnis von vornherein uner- Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und heblich, denn sie orientierte sich vor allem an dem Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allge- Verfassungsentwurf vom 16. August 1948 des Exper- mein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrich- ten Walter Menzel. Der CDU-Vorsitzende Konrad ten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichter- Adenauer spielte den »Pfeiffer-Entwurf« als »private stattung durch Rundfunk und Film werden gewährleis- Vereinbarung« herunter. Auch die CDU betrachtete tet. Eine Zensur findet nicht statt. die Arbeit der Experten auf der Insel als völlig unver- bindlich: Man wollte sich nicht von Bayern vorführen Beispiel IV: lassen. Die Einordnung des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee Artikel 45, Abs. 1 Herrenchiemsee wurde auch von manchen Politikwis- Der Bundestag besteht aus Abgeordneten, die vom Volk senschaftlern und Historikern in der Nachkriegszeit in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer marginalisiert. Wahl gewählt werden. Diese Einschätzungen gingen und gehen jedoch Artikel 46: Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen an den Tatsachen fundamental vorbei: Der Ver- Volkes. Sie sind nur ihrem Gewissen unterworfen und fassungskonvent von Herrenchiemsee hat den an Aufträge nicht gebunden. parlamentarischen Rat in entscheidender Weise Grundgesetz Artikel 38, Abs. 1 mitgeprägt. Dies deutete sich schon durch die Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in Besetzung des Parlamentarischen Rates an: Der allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer

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Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an dern zum 50. Jahrestag des Grundgesetzes Platz grei- Aufträge und Weisungen nicht gebunden, nur ihrem fen sollten. Ich erinnere mich noch gut, wie Stoiber Gewissen unterworfen. damals zu mir sagte: »Lass Dir da was einfallen.« Ich kannte aus den Seminaren von Professor Hans Nicht unbedeutend ist, dass beide Textgrundlagen, Maier und Professor Stammen die Grundgesetz-Vor- sowohl der Herrenchiemsee-Entwurf als auch das geschichte auf der Herreninsel. Also besuchte ich, Grundgesetz, für die Annahme der Verfassung einen begleitet von drei zuständigen Ministerialbeamten, Volksentscheid vorsahen: die Insel. Dort traf ich auf eine nicht geringe Zahl von »verteidigungsbereiten« Beamten der Schlösser­ Herrenchiemsee Artikel 149 verwaltung und des Finanzministeriums. Dieses Grundgesetz verliert seine Geltung an dem Tage, Die Geschichte meiner Besichtigung des Augusti- an dem eine von dem deutschen Volk in freier Selbstbe- ner Chorherrenstiftes ist mir heute etwas peinlich. stimmung beschlossene Verfassung in Kraft tritt. Denn die Schlösserverwaltungsbeamten vor Ort zeig- ten sich höchst zurückhaltend, was die Öffnung der Grundgesetz Artikel 149 verschiedenen Räumlichkeiten betraf: »Da haben wir Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem keine Schlüssel ... Leider sind diese Räumlichkeiten Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem gegenwärtig nicht zu besichtigen ...« deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen wor- Dies machte mich von Minute zu Minute zorniger. den ist. Mit herrischem Befehlston verlangte ich zunächst Zugang zum »Verfassungszimmer«. Als die Türe end- Die Realität des Jahres 1990 war der »Beitritt« nach lich geöffnet wurde, stellte sich heraus, dass in diesem Art. 23 GG der DDR in das Rechtssystem der Zimmer zwei Betten standen, die erkennbar aktuell Bundesrepublik. benutzt worden waren. Es zeigte sich, dass das Zim- Die Textbeispiele könnten weitergeführt werden. mer zu einem sehr bescheidenen DM-Preis zum Feri- Die hier ausgewählten sind jedoch typisch für die Par- enaufenthalt für Bedienstete der Schlösserverwal- allelität der Formulierung in vielen Teilen. Wer ange- tung zur Verfügung gestellt worden war. Der vielfach sichts dieser Tatsache von der »bescheidenen Bedeu- bezeugte Ausruf von mir: »Das muss sofort beendet tung« der Herrenchiemsee-Konferenz spricht, ver- werden!« Eine etwas kühne Aussage, da ich damals breitet fake news. noch nicht Finanzminister war und daher für die Her- Nachzutragen ist, dass der Bayerische Landtag reninsel keinerlei Zuständigkeit hatte. das Grundgesetz mit 101 gegen 63 Stimmen bei Darüber hinaus ergaben sich bei dieser Besichti- neun Stimmenthaltungen abgelehnt hat. Allerdings gung noch weitere Überraschungen. Die schönsten hat der Landtag in der gleichen Sitzung mit 97 Stim- Räumlichkeiten im ersten Obergeschoss mit Blick auf men bei 70 Enthaltungen beschlossen: »Bei Annahme die Fraueninsel waren besetzt von Pferdepflegerin- des Grundgesetzes in zwei Dritteln der deutschen nen, die historisch bedeutende Küche im Erdgeschoss Länder, in denen es zunächst gelten soll, wird die war eine Rumpelkammer. Rechtsverbindlichkeit dieses Grundgesetzes auch für Diese Umstände wurden schnell beendet. Nach Bayern anerkannt, wie es Artikel 144, Abs. 1 des der Rückkehr beauftragte die Staatskanzlei das Haus Grundgesetzes vorsieht.« der Bayerischen Geschichte eine Ausstellung zum Diese faktische Grundgesetztreue hat der Frei- Herrenchiemseekonvent zu konzipieren, die nicht nur staat Bayern in der Nachkriegsgeschichte durchgän- das eigentliche Verfassungszimmer umfasste, son- gig unter Beweis gestellt. dern auch weitere Räumlichkeiten mit in Anspruch nehmen sollte. PERSÖNLICHER NACHTRAG Die Mannschaft unter Professor Dr. Claus Grimm, vor allem der Projektleiter Dr. Manfred Tremmel und Am Schluss will ich noch eine persönliche Reminiszenz seine Mitarbeiter, leisteten dann in kurzer Zeit hervor- zur Geschichte der Verfassungsausstellung, die wir ragende Arbeit, so dass wir heute eine viel beachtete heute besichtigen, zur Kenntnis geben: Ausstellung besichtigen können, die zwar an Popula- Im Jahr 1995 habe ich mein Amt als Parlamenta- rität dem Neuen Schloss nicht beikommt, aber gleich- rischer Staatssekretär des Bundesfinanzministers in wohl an historischer Bedeutung. Bonn aufgegeben, um Leiter der Staatskanzlei in Bay- ern unter Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber zu werden. Im Jahr 1996 ging in Deutschland die Diskus- sion, welche Feierlichkeiten im Bund und in den Län-

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