Karl Ernst Osthaus Und Der „Hagener Impuls“

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Karl Ernst Osthaus Und Der „Hagener Impuls“ Auf dem Weg zu einer „handgreiflichen Utopie“ — Karl Ernst Osthaus und der „Hagener Impuls“ Birgit Schulte Folkwang — Die Grenzen des Museums 1 Ida Gerhardi, Porträt Karl Ernst Osthaus, 1903 überschreiten Als der Hagener Museumsdirektor Karl Ernst Ost- haus (1874 – 1921)1 im Jahr 1912 das Vorwort zu dem Gesamtkatalog seines Folkwang-Museums schrieb, re- sümierte er zehn Jahre Sammlungsgeschichte und for- mulierte eine erstaunliche Erkenntnis: „Die Wirksam- keit eines Museums zeigt sich einstweilen weniger in einer Sammlertätigkeit der ihm nahestehenden Kreise. Bedeutsamer ist die erhebliche Zahl von Werken mo- derner Baukünstler im Hagener Stadtbilde“.2 Um dieser Aussage Nachdruck zu verleihen, nahm er die „Werke der neueren Baukunst“, deren Initiator er war, kurzer- hand als Sammlungsobjekte in sein Katalogverzeichnis auf.3 So finden sich dort unter der Rubrik „Architek- tur und Raumkunst“4 Gebäude von Peter Behrens, Jan Ludovicus Mathieu Lauweriks, Richard Riemerschmid, Fritz Schumacher und Henry van de Velde sowie ande- ren zeitgenössischen Architekten. Auf diese Weise sig- nalisierte Osthaus, er betreibe in Hagen als Außenstelle des Folkwang ein dezentrales Freilichtmuseum vorbild- licher Baukunst. (Abb. 1) Osthaus’ städtebauliche Initiativen gründeten auf der Erkenntnis, dass „die kulturelle Entwicklung [...] im Westen mit der wirtschaftlichen nicht gleichen Schritt gehalten“ habe.5 Insofern fordert er, den „Wandel zu schaffen. Denn unsere Bürger, auch die der Industrie- städte, haben ein Recht darauf, am künstlerischen Leben unserer Nation teilzunehmen.“6 Diese Forderung nach einem Wandel durch Kultur, auf die sich nicht zuletzt das Motto der Kulturhauptstadt RUHR.2010 bezogen hatte, formulierte Karl Ernst Osthaus im Jahr 1908 in seinen kritischen Betrachtungen über das vergangene Hagener Baujahr. „Eine Stadt müssen wir erbauen, eine ganze Stadt!“ 123 Birgit Schulte Osthaus, der Gründer des Folkwang-Museums gründlicher mit jenen die Zeit bewegenden Theorien in Hagen, verließ als Museumsdirektor und Mäzen, aus einander [sic!] gesetzt habe als Peter Behrens“.12 als Kulturvermittler und Organisator zu Beginn des Dass Osthaus sich für Behrens’ durchkompo- 20. Jahrhunderts den institutionalisierten Kunstraum, niertes Darmstädter Domizil derart begeistern konnte, um eine gebaute Lebensreform in die Realität umzu- liegt darin begründet, dass er der individuellen Wohn- setzen. Er setzte darauf, die soziale Realität einer In- hausarchitektur eine eminente Bedeutung beimaß, vor dustrieregion mittels Architektur und Stadtplanung allem unter erzieherischen und sozialreformerischen positiv zu beeinflussen, sodass er die Grenzen des gän- Aspekten.13 Osthaus beließ es nicht bei der kritischen gigen Museumsbaus und -wesens überschritt. Unter Analyse der Zustände in Wohn- und Städtebau um dem durch den niederländischen Architekturhisto- 1900, sondern er strebte danach, ein Paradigma re- riker Nic Tummers 1968 geprägten Etikett „Hagener formierten Wohnens zu schaffen. In der westfälischen Impuls“ wurden Osthaus’ Initiativen im Rückblick zu Industriestadt Hagen nahm Osthaus zu Beginn des einem festen Begriff der jüngeren Kunstgeschichte.7 20. Jahrhunderts als Kulturvermittler, Stadtplaner und Mit den Zeugen dieses historischen Hagener Impul- Werkbund-Mitglied mit seinem Folkwang-Gedanken ses – den Bauten von van de Velde, Behrens, Riemer- die Vorstellung ernst, dass Kunst und Leben miteinan- schmid, Lauweriks und anderen – verfügt die Stadt der versöhnbar seien. Eine Chronologie seiner Projekte Hagen über im internationalen Maßstab bedeutsame in Hagen demonstriert, dass es nicht allein um private bauliche Ensembles, die heute noch Osthaus’ „hand- Wohnhausarchitektur ging, sondern er in seine Kon- greifliche Utopie“8 für die Umgestaltung der Gesell- zepte darüber hinaus die Gestaltung des Alltags, öffent- schaft und der urbanen Kultur durch künstlerische liche Bauten sowie städtebauliche Planungen einbezog. Konzepte erahnen lassen.9 Fast genauso lange, wie Ausgangspunkt war sein Folkwang-Museum. er in Hagen wirkte, zwei Jahrzehnte lang, stand Karl Bereits als 18-jähriger plante der Bankierssohn, sein Ernst Osthaus in engem Kontakt mit Peter Behrens Leben der Erforschung der ästhetischen Prinzipien und (1868 – 1940).10 Ihre erste Begegnung datiert in das deren Vermittlung zu widmen. Im Jahr 1896 erbte er Jahr 1901, das letzte Zeugnis ihrer Freundschaft ist der von seinen Großeltern das beträchtliche Vermögen von Nachruf für Osthaus von Behrens in der „Frankfurter 3 Millionen Mark. Der 22-jährige beschloss, die Summe Zeitung“ im April 1921. – In diesem Artikel erinnerte zu zwei Dritteln dem Allgemeinwohl zukommen zu las- sich Peter Behrens an die erste Begegnung mit dem sen. Ein Museum schien ihm das geeignete Medium zur charismatischen Museumsgründer: „Ich lernte ihn zu Volksbildung zu sein. meiner Darmstädter Zeit, als wir damals Jüngsten in Der Grundstein hierfür wurde im Zentrum sei- der Kunst eine neue Zeit heraufbeschwören wollten ner Heimatstadt 1898 gelegt. Geplant waren drei Ab- und es damit nicht so leicht hatten, […] eines Abends teilungen: Gemälde, außereuropäisches Kunstgewerbe in Berlin kennen. Einen hochaufgeschossenen jungen sowie eine naturkundliche Abteilung. Nach Fertigstel- Mann, der, wie mir schien, mit reichen Kenntnissen lung des Rohbaus im konventionellen Neo-Renais- von Kunst und anderer Wissenschaft versehen, mir sancestil entschied sich Osthaus im Jahr 1900, den bel- in allen meinen kühnsten Phantasien zustimmte. […] gischen Kunstgewerbler und Architekten Henry van de Weltanschauungsideen waren es auch damals, die uns Velde (1863 – 1957) mit der Ausgestaltung des Inneren bewegten, für die wir symbolischen Ausdruck auf zu beauftragen.14 allen Gebieten der Kunst im kleinsten Gegenstand Als das Folkwang-Museum im Sommer 1902 und im monumentalen Wollen […] suchten. Und in Hagen seine Pforten öffnete, sah sich das erstaunte alles dieses verstand der merkwürdige junge Mann Publikum mit der revolutionären Innenarchitektur des aus der westfälischen Industriestadt Hagen, stimmte belgischen Künstler-Architekten sowie mit Werken der ihm zu, bekräftigte es und erzählte, dass er in seiner zeitgenössischen Kunst konfrontiert.15 Das Folkwang Stadt ein Museum gebaut habe […], um auch die aller- erlangte bald den Ruhm als das bedeutendste Museum modernste Kunst darin aufzunehmen. Einem solchen für zeitgenössische Kunst. Den programmatischen Menschen zu begegnen, musste wie ein Ereignis wir- Namen „Folkwang“ entlieh Osthaus den altnordischen ken, auch wenn man noch nichts von der Art seines Mythen der Edda, dort bezeichnet Folkwang den Saal Sammelns und all seinen anderen Plänen wusste.“11 – der Freyja, der Göttin der Schönheit, der Liebe und Bezug nehmend auf die Darmstädter Ausstellung „Ein der Künste in Walhall. Osthaus’ Folkwang steht, ent- Dokument Deutscher Kunst“ 1901, resümierte Karl sprechend seiner erzieherischen Intention, auch für Ernst Osthaus, dass Behrens’ Haus, „in dem schon alle die Bedeutung Volksanger, Menschenwiese oder Ver- Handwerke vertreten waren […] dort das wichtigste sammlungsort.16 Doch Osthaus brachte nicht nur die Ereignis bildete“. Er konstatierte, dass „sich Keiner Werke der deutschen sowie europäischen Avantgarde 124 ICOMOS · Hefte des Deutschen Nationalkomitees LXIV Auf dem Weg zu einer „handgreiflichen Utopie“ — Karl Ernst Osthaus und der „Hagener Impuls“ 2 Henry van de Velde, Hohenhof, Ansicht von Südosten, Hagen, 1906 — 08 (Zustand 2008) in sein Museum. Ihm gelang es darüber hinaus, her- eigenartiger Geländeverhältnisse in enger Beziehung vorragende Künstler und Künstlerinnen an Hagen zu zu Wald- und Parklandschaft erschlossen. Bebauungs- binden, indem er unter anderem eine Künstlerkolonie plan gemeinschaftlich mit den bauenden Architekten gründete. Bei deren Konzeption stand ihm, abgesehen aufgestellt; […] Der Besitzer [...] verpflichtet die Käufer von den englischen Gartenvorstädten, nicht zuletzt das der Grundstücke, nur durch einen von ihm bestimmten Darmstädter Modell vor Augen. Architekten bauen zu lassen. Jeder Architekt bekommt eine ganze Gruppe von Häusern zur Bearbeitung, damit einheitliche geschlossene Gruppen und Städtebilder Hohenhagen — Eine moderne Gartenvorstadt entstehen. Bisher sind Gruppen zugeteilt an Professor Henri van de Velde in Weimar, Professor Peter Behrens Die Verbindung von Kunst und Leben sollte in der Gar- in Neubabelsberg und L. J. M. Lauweriks in Hagen i. tenvorstadt Hohenhagen ihren gebauten Ausdruck fin- Westf. […] Gewinne des Systems: in Formen, Mate- den.17 Nachdem der Wohnraum im Folkwang-Gebäude rial und Farbe einheitliche Straßenbilder.“20 An diesem für die Familie mit wachsender Kinderzahl zu eng Grundkonzept wird ersichtlich, dass sich Osthaus der wurde, beauftragte Osthaus im Jahr 1906 Henry van de Gartenstadt-Idee verpflichtet sah, doch er forderte, „die Velde, den neuen Wohnsitz der Familie zu planen. Die- Gartenstadt soll kein Rückfall in die Halbkultur der ser war jedoch nicht als Landhaus-Solitär vor den Toren Kleinstadt, sondern eine Hinausentwicklung über die der Industriestadt gedacht, sondern sollte sich als Be- Großstadt sein“. Er postulierte, „eine moderne Sache zugspunkt der Künstlerkolonie behaupten und bildete auch modern anzufassen“.21 den Ausgangspunkt für einen weit gefassten Rahmen- Als erstes Bauwerk wurde 1908 der Hohenhof plan.18 Hierfür erwarb Osthaus ein etwa 80 Morgen (ca. vollendet.22 Er behauptet die wichtigste Funktion im 200.000 Quadratmeter) großes Gelände außerhalb der städtebaulichen Ensemble der – nur in Ansätzen rea-
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