Aufsatz

Matthias Häußler Soldatische Hinterwäldler oder Avantgarde? Über die einsatzbezogenen Erfahrungen der Kaiserlichen in »Deutsch-Südwestafrika«*

Die »alten Afrikaner« könnten nur »Vieh klauen oder einzelne Leute totschießen«, aber auf eine »ernsthafte Kriegführung« verstünden sie sich nicht, notierte Gene- ralleutnant zornig in seinem Tagebuch über die eingesessenen, bewährten Offiziere der Kaiserlichen Schutztruppe in Südwestafrika. Er war im Frühjahr 1904 von Kaiser Wilhelm II. als neuer Kommandeur der südwestafrika- nischen Schutztruppe in die Kolonie entsandt worden, um die seit Januar aufstän- dischen Herero niederzuwerfen, nachdem die Operationen unter der Führung des »alten Afrikaners« Gouverneur Oberst Theodor Leutwein nicht zu den erwünschten Ergebnissen geführt hatten. Obwohl ein ›Haudegen‹ und sicher kein Repräsentant des neuen Soldatentyps, des »wissenschaftlich gebildeten professionellen Militärfachmanns«, brachte Trotha Manches mit, das immer noch den Aufstieg in der Kaiserlichen Armee ver- bürgte: Er entstammte dem Altadel, war Offiziersohn, hatte seine militärische Lauf- bahn in einem der prestigereichen Potsdamer Garderegimenter begonnen und galt als »strammer preußischer Offizier«. Doch setzte der Einsatz in Deutsch-Süd- westafrika seiner Karriere ein jähes Ende, die Schutztruppenuniform entpuppte sich – bildhaft gesprochen – als sein »Leichenhemd«. Ohne entscheidenden Erfolg

* Dieser Aufsatz ist aus einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geför- derten und von Trutz von Trotha (Universität Siegen) geleiteten Forschungsprojekt her- vorgegangen. Der Verfasser dankt der DFG und Trutz von Trotha für ihre Unterstüt- zung. Letzterem sei dieser Beitrag gewidmet, nicht nur als Ausdruck der Dankbarkeit für Lektüre und Kommentierung früherer Versionen dieses Manuskripts und darüber hinaus, sondern als Ausdruck der Vorfreude auf eine noch sehr ertragreiche Erforschung des Phänomens Krieg seinerseits.  Von Trotha Archiv (TA) 315, Abschrift der Tagebücher mit Anlagen und Materialsamm- lung, Eintrag 20.7.1904, S. 25.  Stig Förster, Optionen der Kriegführung im Zeitalter des ›Volkskrieges‹ – Zu Helmuth von Moltkes militärisch-politischen Überlegungen nach den Erfahrungen der Einigungs- kriege. In: Militärische Verantwortung in Staat und Gesellschaft. 175 Jahre Generalstabs- ausbildung in Deutschland. Hrsg. von Detlef Bald, Bonn 1986, S. 83–107, hier: S. 93. – Von Trotha hatte als Fähnrich an dem Preußisch-Österreichischen Krieg 1866 teilgenommen, als Leutnant am Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, und während des Boxeraufstandes in China (1900/01) eine der Brigaden des Ostasiatischen Expeditions- korps geführt; die Kriegsakademie hatte er – im Unterschied zu Theodor Leutwein – nicht besucht. Der aggressive Ton gegenüber den »alten Afrikanern«, insbesondere dem bürgerlichen Pastorensohn Leutwein, hatte nicht zuletzt mit den Ängsten der traditio- nellen Eliten vor Statusverlust in einer sich verbürgerlichenden Welt zu tun. George Steinmetz, The Devil’s Handwriting. Precoloniality and the German Colonial State in Qingdao, Samoa, and Southwest Africa, Chicago, IL 2007, S. 198.  Western Cape Archives (KAB), PMO 199: Correspondence Files Nos. 211/05–286/05, Na- tive Rising in , 1904–1906, File no. 229/05, vol. no. 2.  »Aus Deutschland«, Deutsch-Südwestafrikanische Zeitung (DSWAZ), 28.7.1906, S. 2.

Militärgeschichtliche Zeitschrift 71 (2012), S. 309–327 © MGFA, Potsdam, DOI 10.1524/mgzs.2012.0011

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kehrte er nach anderthalb Jahren ins Reich zurück und nahm, mit dem »Pour le Mérite« ausgezeichnet, seinen Abschied. Im Hauptquartier Trothas wurden die »alten Afrikaner« und ihre Ratschläge nur »bespöttelt«, wie Franz Epp in seinem Tagebuch vermerkte. Paul von Lettow- Vorbeck, damals Adjutant im Hauptquartier, schätzte die »alten Afrikaner« mili- tärisch deswegen gering, weil die vorrangige Aufgabe der Schutztruppe in der Un- terdrückung der afrikanischen Bevölkerung bestand und die Offiziere so weder mit der ›modernen‹ Kriegführung vertraut noch in der Lage waren, größere Ver- bände zu kommandieren. Kolonialkriege waren nicht eben die hohe Schule der Operationsführung, wie der französische Offizier Albert Ditte wusste, und galten vielen Offizieren als überholt, rückständig, ja geradezu karriereschädlich. Tatsäch- lich wich auch die Kriegführung in Deutsch-Südwestafrika in vielen Aspekten von den Standards europäischer Kriege ab, und der Wechsel in den Kolonialdienst war stets mit zahlreichen Risiken behaftet10. Ob die ›alte‹ Schutztruppe so rückständig war, wie manch ein Militär aus dem Deutschen Reich behauptete, darf indes bezweifelt werden. Einer Stimme kommt bei dieser Frage besonderes Gewicht zu: Sie gehört den jungen Offizieren, die an- lässlich der Kriege in die Kolonie kamen und bei den Feldtruppen ihren Dienst versahen – und fundierte Vergleiche zwischen neu aus dem Deutschen Reich ein- getroffenen und eingesessenen Militärs zogen. Manch ein junger Vertreter der mi- litärischen Elite, die nun verstärkt in den Kolonialdienst drängte11, mochte anfangs

5 Georg Hillebrecht und Franz von Epp, »S’ist ein übles Land hier«. Zur Historiographie eines umstrittenen Kolonialkrieges. Tagebuchaufzeichnungen aus dem Herero-Krieg in Deutsch-Südwestafrika 1904. Hrsg. von Andreas E. Eckl, Köln 2005, S. 279. 6 Eckard Michels, »Der Held von Deutsch-Ostafrika«: Paul von Lettow-Vorbeck. Ein preu- ßischer Offizier, Paderborn [u.a.] 2008, S. 125. 7 Albert Ditte, Quelques Observations sur la Guerre dans les Colonies, Organisation, Exe- cution, Paris 1905, S. 7. 8 Lawrence James, The savage wars. British campaigns in Africa, 1870–1920, London 1985, S. 163. 9 Leutwein räumte ein, dass einiges von dem, was in Deutsch-Südwestafrika praktiziert wurde, in Europa undenkbar war. So stand etwa im Gefecht die Artillerie in der Schüt- zenlinie. Theodor Leutwein, Die Kämpfe der Kaiserlichen Schutztruppe in Deutsch-Süd- westafrika in den Jahren 1894–1896 sowie die sich hieraus für uns ergebenden Lehren, Berlin 1899, S. 13. Auf dem Vormarsch waren Aufklärung und Sicherung nahezu ausge- schlossen, da sich in dem unübersichtlichen Gelände kaum Kontakt halten ließ. Georg Maercker, Unsere Kriegsführung in Deutsch-Südwestafrika, Berlin 1908, S. 44. Unter den geringen Truppenstärken und der oft drückenden Überzahl der Gegner litt die Feldher- renkunst: Reserven wurden nicht zurückbehalten, sondern alle Kräfte sofort eingesetzt; die Kämpfe wurden außerdem stets auf kurze Distanzen geführt, Leutwein, Die Kämpfe, S. 28. Dabei waren die Risiken insofern kalkulierbar, als selbst die schwersten Gegner nicht die offensiven Fähigkeiten europäischer Truppen besaßen, ebd., S. 11. 10 Vor den Kriegen hatte die Schutztruppe es in einem Land, das anderthalbmal so groß wie das Deutsche Reich war, auf eine Stärke von gerade einmal 750 Mann gebracht, die teilweise polizeiliche Aufgaben zu übernehmen hatten. Sie wies kaum Spitzenränge auf, der Planstellenkegel war stumpf und die Aufstiegschancen beschränkt. Wolfgang Pet- ter, Das Offizierkorps der deutschen Kolonialtruppen 1889–1918. In: Das deutsche Offi- zierkorps 1860–1960. In Verbindung mit dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt hrsg. von Hanns Hubert Hofmann, Boppard a.Rh. 1980, S. 163–174, hier: S. 168. Wer einmal aus dem Heer ausgeschieden war, um in die Schutztruppe einzutreten, fand bei seiner Rückkehr möglicherweise keine Planstelle mehr vor, ebd., S. 167. 11 Als der Krieg im Januar 1904 ausgebrochen war, trugen sich allein an der Kriegsakade- mie in Berlin 90 Offiziere in die Bewerberliste ein, und wer berücksichtigt wurde, konnte sich glücklich schätzen. Erich von Salzmann, Im Kampfe gegen die Herero, Berlin 1905, S. 2.

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selbst auch nicht ganz frei von Dünkel gegenüber den vermeintlich rückständigen Truppen vor Ort gewesen sein. Umso mehr nimmt es Wunder, dass Offiziere wie Rudolf Graf von Hardenberg, Werner Freiherr Schenk von Stauffenberg oder Ober- leutnant Stuhlmann nach kürzester Zeit eine Sicht auf die »alten Afrikaner« ent- wickelten, die derjenigen Trothas diametral entgegengesetzt war. Sehr rasch ver- loren sie den Glauben an die Überlegenheit der Militärs mit einer modernen, aber auf Kriegführung auf dem europäischen Kontinent bezogenen Ausbildung. Die Feldzüge in Deutsch-Südwestafrika wären ohne diese »mindestens ebenso gut ge- gangen«, unter Führung eines »alten Afrikaners« möglicherweise sogar »viel bes- ser«, zumal viele der ›Neuen‹ »ganz untauglich und kopflos« wären12. Das Urteil beschränkte sich nicht auf die alteingesessenen Offiziere; die ›alten‹ Verbände ins- gesamt galten den ›neuen‹ Truppen hinsichtlich der Kampfkraft als weit überle- gen13. Bereits ein bloßer »Kern von guten alten Schutztrupplern« sei eine so »vor- zügliche Kraft«, dass sie »auch die anderen mitreisst, es ihnen gleichzutun«14. Auch die Gegner gingen den ›alten‹ Verbänden aus dem Weg, während sie »vor den ›Kin- dern‹, d.h. den neuen Truppen, wie sie sie nennen [...], nicht den geringsten Re- spekt« hatten15. Die folgenden Betrachtungen sollen verdeutlichen, worauf die erwähnte Über- legenheit der eingesessenen Offiziere und Mannschaften basierte16. Einige ihrer Vorzüge liegen auf der Hand. Sie kannten Land und Gegner, waren in der Klein- kriegführung geschult und verfügten über gemeinsame Kampferfahrung, die sie zu Einheiten formte17. Die ›neuen‹ Verbände verfügten über nichts davon; sie wa- ren bunt aus allen Teilen des Reiches und allen Waffengattungen zusammenge- würfelt, und die Offiziere stießen erst unmittelbar vor der Mobilisierung zu den neu gebildeten Einheiten18. Aber auch wenn diese Aspekte nicht von der Hand zu weisen sind, waren sie nicht allein ausschlaggebend. Im Folgenden werden andere, weniger offensichtliche Faktoren erläutert, die verdeutlichen, dass und inwiefern die Kolonialkriegführung in Deutsch-Südwestafrika gegenüber den Anschauungen und Praktiken im Heimatheer durchaus innovative Elemente aufwies. Entgegen dem abfälligen Urteil sogenannter metropolitaner19 Militärs könnte man sogar sa-

12 Tagebuch Stuhlmann, National Archives of Namibia (NAN), Private Accessions (PA), A 109, S. 91 und 93. Stuhlmann kritisierte das Hauptquartier scharf, S. 91–93; S. 249–251 und S. 210. Von Brünneck hielt die Stabsoffiziere insgesamt für entbehrlich. NAN, PA, A 583, Eintrag 10.7.1904. 13 ›Kampfkraft‹ beruht nach Martin van Creveld »auf geistigen, intellektuellen und orga- nisatorischen Grundlagen und findet ihren Ausdruck in Disziplin und Zusammenhalt, Kampfmoral und Initiative, Mut und Härte, im Willen zum Kampf und der Bereitschaft, notfalls zu sterben«. Martin van Creveld, Kampfkraft. Militärische Organisation und Leis­ tung 1939–1945, 4. Aufl., Graz 2009, S. 17. 14 Tagebuch Stuhlmann, NAN, PA, A 109, S. 185. 15 Ebd., S. 226. 16 Petter schließt aus den Bedingungen des Kolonialdienstes auf einen mangelnden Korps- geist und eine geringe aufgabenbezogene Moral der Schutztruppenoffiziere. Petter, Das Offizierkorps (wie Anm. 10), S. 165. Die Zeugnisse von Kriegsteilnehmern zeigen, dass der Schluss irrig ist. 17 J. Glenn Gray, The Warriors. Reflections on Men in Battle, Lincoln, NE, London 1998, S. 44. 18 O. Busch, NAN, PA, A 529: »Deutschlands Kleinkrieg«, S. 6. 19 »metropolitan« ist ein der Soziologie entlehnter Begriff, der die Modernität der west- lichen und städtischen Lebensweise hervorhebt.

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gen, dass sich unter den ›alten‹ Verbänden in Deutsch-Südwestafrika eine solda- tische Avantgarde herangebildet hatte. In jüngerer Vergangenheit sind mehrere Studien zu den Schutztruppen erschie- nen. Ein wichtiger, innovativer Zug dieser Studien liegt darin, dass sie den indi- genen Akteuren besondere Aufmerksamkeit schenken20. Deswegen sind sie für die hier aufgeworfene Fragestellung nur eingeschränkt von Belang. Zwar umfasste auch die deutsch-südwestafrikanische Schutztruppe indigene Kräfte, ohne die sie manches Mal vielleicht verloren gewesen wäre; hier aber geht es um ihren perso- nellen Kern, der sich – im Unterschied zu den ostafrikanischen oder Kameruner Truppen – aus europäischen Berufssoldaten zusammensetzte, d.h. weder aus Afri- kanern noch aus Söldnern21. Zudem soll ein Vergleich mit der Heimatarmee gezo- gen werden, aus der sich die Schutztruppenangehörigen ursprünglich rekrutier- ten22. An dieser Stelle geht es vor allem um die europäische Militärkultur und ihre Fortentwicklung auf kolonialen Schauplätzen. Susanne Kuß’ vergleichende Studie »Deutsches Militär auf kolonialen Kriegs- schauplätzen« berührt hier erörterte Gesichtspunkte, wenn auch in anderem Kon- text. Indem sie etwa zeigt, dass deutsche Militärs infolge der Kriege einsahen, dass die Fixierung auf die Vernichtungsstrategie einseitig und verderblich, oder dass der moderne Soldat überhaupt der Selbstständigkeit bedurfte, die der Schutztrup- penangehörige in der Regel besaß, bestätigt sie die Bedeutung der gegenwärtigen Betrachtungen23. In einer bisher unveröffentlichten Studie über die Rolle der Schutztruppe hat Klaus Lorenz die interessante These formuliert, dass die Schutz- truppe einen Soldatentypus hervorbrachte, »der in der deutschen Armee erst nach den Erfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkrieges angestrebt wurde«24; wobei er seine Schlussfolgerungen leider nur auf Selbstdarstellungen von Schutztrup- penoffizieren abstützt.

20 Siehe hierzu z.B. Tanja Bührer, Die Kaiserliche Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika. Ko- loniale Sicherheitspolitik und transkulturelle Kriegführung 1885 bis 1918, München 2011 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 70); Stefanie Michels, Schwarze deutsche Kolonialsol- daten. Mehrdeutige Repräsentationsräume und früher Kosmopolitismus in Afrika, Biele- feld 2009; Thomas Morlang, Askari und Fitafita. »Farbige« Söldner in den deutschen Ko- lonien, Berlin 2008. 21 Die ersten Kolonialtruppen in Kamerun, Ostafrika und Südwestafrika (seit 1884/85) wa- ren Privatarmeen, Susanne Kuß, Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 2010, S. 128, nicht mehr aber in dem hier betrachteten Zeitraum. Die »Schutztruppe« als solche wurde 1891 ge- gründet und war von 1896 an der Kolonialabteilung, d.h. letztlich dem Reichskanzler, unterstellt. In der Kolonie übte der Gouverneur die oberste militärische Gewalt aus. Or- ganisatorische Bestimmungen für die kaiserlichen Schutztruppen in Afrika, Berlin 1898, S. 2 f. Von Trotha agierte in Deutsch-Südwestafrika de facto als Militärdiktator. 22 Unteroffiziere und Mannschaften in Deutsch-Südwestafrika waren Freiwillige aus dem aktiven Dienst des Reichsheeres resp. der Marine, wobei die Aufnahmebedingungen vergleichsweise streng waren. Neben Tropendienstfähigkeit und »solidem Lebenswan- del« umfassten sie auch die »Fähigkeit zu selbständigem Handeln«. Die Soldaten ver- pflichteten sich für mindestens drei Jahre. Organisatorische Bestimmungen (wie Anm. 21), S. 29 f. 23 Kuß, Deutsches Militär (wie Anm. 21), S. 376–394. 24 Klaus Lorenz, Die Rolle der Kaiserlichen Schutztruppe als Herrschaftsinstrument in Süd- westafrika, MA, Univ. Hamburg 1999, S. 41.

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1. Bilanz der Amtszeit Generalleutnant Lothar von Trothas

Im Januar 1904 erhoben sich sukzessive verschiedene Herero-Gruppen gegen die deutsche Kolonialherrschaft. Im Oktober desselben Jahres schlossen sich die Nama und Oorlam, die bis dahin an deutscher Seite gekämpft hatten – nicht zuletzt des- halb dem Aufstand an, da es insbesondere die metropolitanen Militärs nicht für nötig befunden hatten, immer genau zwischen Freund und Feind zu unterschei- den25. Zumindest zwischenzeitlich hatte der Feldzug gegen die Herero genozidale Dimensionen angenommen26. Diese hatten sich zwar der Einkesselung am Water- berg im August 1904 entzogen, erlitten aber auf der Flucht und in deutscher Ge- fangenschaft schwerste Verluste. Während die Herero sich noch auf größere Ge- fechte eingelassen hatten, setzten die Nama und Oorlam auf Guerilla-Taktiken, und dies mit größerem Erfolg. Am 31. März 1907 erklärte die deutsche Regierung den Krieg zwar für beendet, trotzdem waren mit Simon Koper und Jakob Marengo zwei der bedeutendsten Guerillaführer noch nicht geschlagen. Trotha stand für den Versuch, den Krieg in der kolonialen Peripherie stärker an den Maßgaben des europäischen Staatenkrieges auszurichten. Dazu gehörte das rigide Festhalten am Vernichtungsgedanken. Berlin entschied im Frühjahr 1904 die Ablösung Leutweins, weil immer zweifelhafter erschienen war, ob dieser ge- willt sein würde, den Krieg zu führen, den man erwartete. Argwöhnisch hatte der Große Generalstab bereits im Februar 1904 die Aufsicht über die Operationen an sich gezogen, und das Gerücht, dass Leutwein Verhandlungen mit den Herero an- zuknüpfen suchte, hatte im Deutschen Reich27 und in der Kolonie28 gleichermaßen für Entsetzen gesorgt. Der Friedensschluss mit Aufständischen konnte »nur in ih- rer bedingungslosen Unterwerfung bestehen«, bekräftigte der Chef des Großen Generalstabes, Alfred von Schlieffen, noch im November 190429. »Ordinäre Siege«30 reichten dafür nicht aus, sondern es bedurfte eines Totalsieges. Trotha war ein Kan- didat für dieses von Berlin ausgegebene Programm. Wie er in einem Brief an Leut- wein schrieb, wollte er die »aufständischen Stämme in Strömen von Blut und Strö- men von Geld« vernichten31. Beides floss, aber die erhofften Ergebnisse blieben aus. Wohlgemerkt besaß die Vernichtung der Gegner ursprünglich noch eine en- gere taktisch-operative Bedeutung, aber sie nahm allmählich eine genozidale Di-

25 So der Bericht Leutweins vom 21.11.1904, NAN, ZBU, D.I.V.M.1: Erhebung über die Gründe des Witbooi-Aufstandes, Bl. 61. 26 Zum Krieg: Jon M. Bridgman, The Revolt of the Herero, Berkeley, CA 1981. Zum Geno- zid insbesondere: Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen. Hrsg. von Jürgen Zimmerer und Joachim Zeller, Berlin 2004 (= Schlaglichter der Kolonialgeschichte, 2). 27 Das Gerücht beschäftigte zahlreiche Zeitungen im Deutschen Reich, vgl. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BArch), R 1001/2112, Bl. 168, 188 f. 28 Vgl. BArch, R 1001/2112, Bl. 25. 29 Bericht des Chefs des Großen Generalsstabes an Reichskanzler von Bülow vom 23.11.1904, BArch, R 1001/2089, Bl. 3. 30 Jehuda L. Wallach, Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Die Lehren von Clausewitz und Schlieffen und ihre Wirkungen in zwei Weltkriegen, München 1970, S. 83. 31 Horst Drechsler, Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft. Der Kampf der He- rero und Nama gegen den deutschen Imperialismus (1884–1915), Berlin 1984, S. 156.

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mension an32. Trothas Intransigenz weckte nur Erbitterung und Widerstand, nicht nur aufseiten der Herero33, sondern auch der Oorlam und Nama, die sich darauf- hin ebenfalls erhoben. Mit Carl von Clausewitz zu reden, entfesselte und schürte Trotha so nur eine Logik des »reinen Krieges«34, wodurch die ›Fronten‹ sich wei- ter verhärteten. Er insistierte auf dem Ziel der Vernichtung, mochte sie schließlich auch die Auslöschung eines Volkes mit sich bringen, und lehnte Verhandlungen jeder Art ab. Schlieffen hielt Trothas Feldzug gegen die Herero spätestens im November 1904 für gescheitert und empfahl, Maßnahmen ins Auge zu fassen, um die Herero zur freiwilligen Übergabe zu bewegen, da sich der Kriegszustand sonst nicht beenden lassen würde35, Reichskanzler von Bülow sekundierte ihm und brachte den Kaiser dazu, Trotha zum Widerruf seiner berüchtigten Proklamation vom 2. Oktober 1904 zu veranlassen, die den Herero jeden Pardon verweigert hatte36. Der Erfolg dieser Intervention blieb indes gering. Erst als Trotha – übrigens auf eigenen Wunsch – knapp ein Jahr später die Kolonie verließ, sollten sich innerhalb kurzer Zeit 12 000 Herero ergeben, die sich bis dahin noch im Feld verborgen gehalten hat- ten37. Im Süden war Ende Oktober 1905 der berühmte Oorlam-Chief Hendrik Wit- booi zu Tode gekommen, aber auch dies war ein mehr oder weniger bedeutungs- loser Prestigeerfolg. Wie ein Offizier bemerkte, hatte »Hendrik [...] hier immer als das gefährliche Gespenst herumgespukt, ist es aber nie gewesen. Gegen ihn hat man immer die Haupttruppen versammelt und geglaubt, mit seiner Vernichtung falle der Aufstand in sich zusammen [...] Eine Wende im Feldzug jedenfalls ist Hendriks Tod keineswegs geworden38.« Die (vor allem) auf indigener Seite verursachten Verluste und die dafür aufge- wandten Mittel lassen die Erfolge der Kriegführung von Trothas in einem noch un- günstigeren Licht erscheinen. Nach dem Urteil des späteren Generals Ludwig von Estorff lagen die Anlage und Durchführung insbesondere des Hererofeldzuges »noch unter dem Mittelmäßigen«39. Die »alten Afrikaner« hatten immer wieder – vergeblich – ihre Stimmen gegen diese Kriegführung erhoben.

32 Zur allmählichen Eskalation der Gewalt vgl. Matthias Häußler, From Destruction to Ex- termination: Genocidal Escalation in Germany’s War against the Herero, 1904. In: Jour- nal of Namibian Studies, 10 (2011), S. 55–81. 33 In einem britischen Memorandum vom 20.1.1905 heißt es: »The German methods of con- ducting operations against the Hereros during the present war have [...] the Damaras [Herero] to hold them in considerable contempt – and they openly state with conviction that were they able to obtain a sufficient quantity of arms and ammunition they would still – if properly organized – be able to contend with the German forces«. Botswana Na- tional Archives (BNA), RC 4/18, S. 5 f. 34 Trutz von Trotha, Genozidaler Pazifizierungskrieg. Soziologische Anmerkungen zum Konzept des Genozids am Beispiel des Kolonialkriegs in Deutsch-Südwestafrika, 1904–1907. In: Zeitschrift für Genozidforschung, 4 (2003), 2, S. 30–57, hier: S. 50 f. 35 Bericht des Chefs des Großen Generalsstabes an Reichskanzler von Bülow vom 23.11.1904, BArch, R 1001/2089, Bl. 3 f. 36 Vgl. von Bülows Schreiben an den Kaiser vom 24.11.1904, BArch, R 1001/2089, Bl. 8. 37 Casper W. Erichsen, »The Angel of Death Has Descended Violently among Them«. Con- centration Camps and Prisoners-of-War in Namibia 1904–1908, Leiden 2005, S. 40. 38 Erich von Schauroth, »Liebes Väterchen...«. Briefe aus den Feldzügen gegen Cornelius, Morris, Morenga und Johannes Christian, 2008, S. 99 f. 39 Ludwig von Estorff, Wanderungen und Kämpfe in Südwestafrika, Ostafrika und Süd- afrika 1894–1910. Hrsg. von Ch.-F. Kutscher, Windhoek 1979, S. 118 f.

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2. Die Leitung durch »alte Afrikaner«

Die Militärs im Reich waren auf taktisch-operative Fragen fixiert. Wie Jehuda L. Wallach40 dargelegt hat, tendierte Alfred von Schlieffen – und mit ihm eine Gene- ration von Offizieren, die den Großen Generalstab durchlaufen hatten – dazu, sol- che Fragen zu verabsolutieren und andere, nicht minder bedeutsame Aspekte der Kriegführung aus dem Blick zu verlieren. Hierzu zählten Politik und Strategie, wie sich am »Schlieffen-Plan« zeigte, der die Folgen der Nichtachtung der Neutralität anderer Staaten ignorierte41, aber auch die Logistik42. Hinzu kamen noch Enge und Einseitigkeit dessen, was als operativer ›Erfolg‹ oder ›Sieg‹ angesehen wurde. Auch die südwestafrikanischen Feldzüge unter der Leitung metropolitaner Mi- litärs wiesen diese Probleme auf, allen voran Trothas Versuch, mithilfe konzen- trischer Truppenbewegungen das Gros der Herero am Waterberg einzuschließen und vernichtend zu schlagen. Trotha wollte den Krieg mit einer einzigen, großen operativen Entscheidung zu einem Ende bringen, das nicht nur dem Prestigebe- dürfnis der deutschen Militärkultur genügt, sondern ihn zugleich aller politischen und diplomatischen Mühen enthoben hätte. Vernichtend geschlagen, hätte sich der Gegner ohne Wenn und Aber seinen Bedingungen beugen müssen. Vor der Schlacht hatte er Verhandlungen mit kriegsmüden Chiefs abgelehnt, weil er sich zu stark wähnte, um darauf eingehen zu müssen43; nach dem Fehlschlag am Water­ berg wähnte er sich zu schwach, um darauf eingehen zu können44. Umso mehr drängte er auf die Vernichtung des Gegners, obwohl dieses Insistieren zur wei- teren, schließlich zur genozidalen Entgrenzung des Krieges führte. Sein fehlendes Augenmaß und seine Ablehnung all dessen, was nach Politik oder Diplomatie roch, stürzte innerhalb weniger Monate die gesamte Kolonie in einen jahrelangen Kriegs- zustand. Trotha suchte bis zum Ende seiner Amtszeit in Deutsch-Südwestafrika sein Heil in konzentrischen Operationen45, welche die erhoffte Vernichtung, den Totalsieg, zu verbürgen schienen. Solche Operationen, die auf dem europäischen Kontinent den Ruhm des Großen Generalstabes begründet hatten, waren unter den gege-

40 Vgl. Wallach, Das Dogma der Vernichtungsschlacht (wie Anm. 30). 41 Ebd., S. 67–69. Ganz neu hierzu: Gerhard P. Groß, Mythos und Wirklichkeit. Geschichte des operativen Denkens im deutschen Heer von Moltke d.Ä. bis Heusinger, Paderborn [u.a.] 2012 (= Zeitalter der Weltkriege, 9), S. 61–97. 42 Martin van Creveld hat gezeigt, wie wenig der »Schlieffen-Plan« logistische Fragen be- rücksichtigte; so sei die Marne-Schlacht (1914) nicht zuletzt daran gescheitert, dass der Logistik in der Planung ein viel zu geringer Stellenwert eingeräumt worden sei. Martin van Creveld, Supplying War. Logistics from Wallenstein to Patton, Cambridge, MA 2004, S. 113–115, 125 und S. 137 f. Diese Argumentation verfolgt Groß ebenfalls. 43 Am 16.7.1904 notierte Trotha in seinem Tagebuch: »Ich habe heute den Befehl, in keine Unterhandlungen mit den Mordbanden zu treten, erneuert«, TA 315, S. 23. Landeskun- dige wandten ein, man hätte die Gelegenheit »nicht vorbeigehen lassen sollen«, da der Abfall eines Chiefs den weiteren Kriegsverlauf beeinflusst hätte. »Die kriegsgefangenen und kriegslustigen Hereros«, Windhuker Nachrichten (WN), 15.5.1905, S. 1. 44 Lothar von Trotha, Politik und Kriegführung. In: Berliner Neueste Nachrichten, 3.2.1909, S. 1; vgl. TA 315, S. 50. 45 Das belegt ein Memorandum von Trothas an die südwestafrikanischen Offiziere aus dem Juni 1905, das der britische Militärbeobachter Lt.-Col. Trench – mit Unverständnis – wie- dergibt, Public Record Office (PRO), WO 106/268, S. 214–220.

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benen Verhältnissen allerdings nicht ohne weiteres durchzuführen46. In der Kolo- nie galt in Umkehrung des Moltke’schen Grundsatzes: »Vereint marschieren, ge- trennt schlagen«47. Konzentrische Operationen scheiterten nicht zuletzt an der unzureichenden Logistik und dem schweren Gelände. Zwei Abteilungen verfehlten am Waterberg die ihnen gesetzten Ziele. Von der Abteilung unter Major von der Heyde, die von Südosten auf die Stellungen der Herero vorrücken sollte, war dem Hauptquartier bereits Wochen vor dem Angriff gemeldet worden, dass der befohlene Vormarsch in der veranschlagten Zeit nicht zu bewältigen sein würde48. Tatsächlich kam die Abteilung im sandigen Dornbusch kaum voran und blieb schließlich infolge völliger Erschöpfung liegen49. Der Kom- mandeur der Abteilung, die von Westen her vorrücken sollte, Oberst Deimling, hatte die Schwierigkeiten vollkommen unterschätzt und soll logistische Bedenken mit den Worten weggewischt haben: »Aber das macht ja nichts, wenn wir nur sie- gen50!!« Auch die erste Verfolgung unter Deimling scheiterte, weil Mensch und Tier nach wenigen Stunden zusammenbrachen und nur noch mit Glück die Ausgangs- stellungen erreichten51. Logistische Überlegungen spielten für Hauptquartier und Kommandeure eine bestenfalls untergeordnete Rolle. Stauffenberg warf den höheren Offizieren, die ihre operative Vorgehensweise nicht den Gegebenheiten vor Ort anpassten, vor, zu sehr darauf bedacht zu sein, die Erwartungen der Heimat zu erfüllen und »Siege« zu erzielen52. Er versah da- bei das Wort »Siegen« eigenhändig mit Anführungszeichen, darauf hindeutend, dass stillschweigend Maßstäbe angelegt wurden, die den örtlichen Verhältnissen nicht entsprachen. Siege oder Erfolge im europäischen Sinn hatten in Deutsch-Süd- westafrika unter Umständen keine Bedeutung. Das Werfen des Gegners aus sei- nen Stellungen und das Einnehmen seiner Positionen mochte nach europäischem Verstand als Sieg gelten, in Deutsch-Südwestafrika aber, wo sich die Gegner eva- siver Strategien53 bedienten und ein gelungenes Entkommen als operativen Erfolg

46 Trotz monatelanger Vorbereitung vermochte Trotha schließlich nicht, mehr als 1500 Ge- wehre an den Feind zu bringen, während die Frontlinie der Herero knapp 100 km maß. Maximilian Bayer, Mit dem Hauptquartier in Südwestafrika, Berlin 1909, S. 139. Zum Vergleich kontrollierte im Ersten Weltkrieg eine Division mit annährend 20 000 Mann einen Abschnitt von dreieinhalb bis fünfeinhalb Kilometern Länge. Tony Ashworth, Trench Warfare, 1914–1918. The Live and Let Live System, London 1980, S. 9. 47 Kurd Schwabe, Dienst und Kriegführung in den Kolonien und auf überseeischen Expe- ditionen, Berlin 1902, S. 89. 48 »Von unserer Stellung aus haben wir bis an den Gegner einen Marsch von 55 km. Die- sen können wir kaum in einem Zuge ausführen. Von Erfolg kann aber der Angriff nur sein, wenn er überraschend geführt wird. Es ist [...] beabsichtigt, den Nachmittag abzu- marschieren, sodass wir mit Tagesanbruch die Stellung des Gegners erreichen.« Anony- mus, »Kriegstagebuch«, NAN, Sammlung Lemmer, L 1032, Eintrag 26.7.1904. 49 Dass von der Heyde mehrmals eigenmächtig die Marschrichtung änderte, kam ledig- lich erschwerend hinzu. Der Große Generalstab, Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika. A. Der Feldzug gegen die Hereros, Berlin 1906, S. 178–180. 50 BArch, N 1030 (Viktor Franke), 30/3a, S. 360. 51 Vgl. die Tagebucheinträge von Hardenbergs vom 13. und 14.8.1904, NAN, PA, A 151, Nr. 2, I, S. 47. 52 Gertrud Marchand-Volz, Werner Freiherr Schenk von Stauffenberg. Von München nach Deutsch-Südwestafrika 1904, Windhoek 1998, S. 144. 53 Koloniale Herrschaft sah sich vonseiten der ›Beherrschten‹ fast durchweg mit defensiven »Strategien der Widerständigkeit« wie Flucht oder Verstecken konfrontiert und stieß da- bei oft genug an ihre Grenzen, wie Trutz von Trotha gezeigt hat. Trutz von Trotha, Ko- loniale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des

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werteten54, lief man sogar Gefahr, den Gegner aufzubauen, anstatt ihn zu demora- lisieren. Auch die »alten Afrikaner« suchten im Gefecht möglichst den Totalsieg55, aber sie rechneten stets damit, dass sich der Gegner eher zurückziehen würde, und hielten sich bereit, seine Verfolgung aufzunehmen. Sie warteten nicht auf die Ge- legenheit zu großen ›Erfolgen‹, sondern versuchten, dem Gegner Verluste beizu- bringen, wann und wo sie ihn trafen. Sie wussten, dass alles darauf ankam, nie die Fühlung zu verlieren und dem Gegner nachzusetzen, um ihn schließlich in die Re- signation zu treiben und zur Aufgabe zu bewegen. Neben dem Soldaten musste dann freilich der Diplomat stehen, der dem Gegner die »goldene Brücke« baute, um ihn für einen Friedensschluss zu gewinnen56, denn der Friedensschluss setzte unweigerlich ein beidseitiges Entgegenkommen voraus. Für die Öffentlichkeit im Deutschen Reich war eine solche ›operative‹ Beschei- denheit indes schwer nachzuvollziehen, zumal die Gegner bisweilen kaum 100 Ge- wehre stark waren57. Aber genau das war das Problem. Die »alten Afrikaner« wuss- ten, dass angesichts der Weite des Landes und der Mobilität des Gegners größere Operationen schnell ins Leere laufen konnten und aufgrund der Knappheit von Weide und Wasser immer riskant waren. Ihnen war bewusst, dass das Operative nur einen Gesichtspunkt neben anderen darstellte, und diese richtige Erkenntnis brachte ihnen den Spott von Hauptquartier und Kommandeuren ein, die sich für die besseren, ja die eigentlichen Militärs hielten58.

3. Was zeichnete die ›alten‹ Mannschaften aus?

Für viele Zeitgenossen stand die überlegene Kampfkraft der ›alten‹ Soldaten außer Frage, doch worin lag diese Überlegenheit begründet? Plötzliche Feuerüberfälle waren in Deutsch-Südwestafrika an der Tagesordnung. Dabei war es

»Schutzgebietes Togo«, Tübingen 1994, S. 411–441. Bemerkenswert ist, dass im Falle Deutsch-Südwestafrika auch der offensive gewaltförmige Widerstand die Signatur der Vermeidung und des Hinhaltens annehmen konnte und die Kolonialmacht vor schier unlösbare Probleme stellte. 54 Warriors, Leaders, Sages, and Outcasts in the Namibian Past. Narratives collected from Herero Sources for the Michael Scott Oral Record Project (MSQRP) 1985–6. Ed. by An- nemarie Heywood and Brigitte Lau, Windhoek 1992, S. 143; Andreas Kukuri und Ernst Dammann, Herero-Texte, Berlin 1983, S. 125. 55 Curt von François, Kriegführung in Südafrika, Berlin 1900, S. 44; Leutwein, Die Kämpfe (wie Anm. 9), S. 5. 56 Leutwein, Die Kämpfe (wie Anm. 9), S. 5. 57 O. Busch, NAN, PA, A 529: »Deutschlands Kleinkrieg«, S. 6. 58 Bemerkenswert ist, dass die »Afrikanisierung« der Kriegführung in Ostafrika eine Bru- talisierung umschrieb und rechtfertigte. Afrika sei »grausam von Grund aus«, schrieb Maercker über zehn Jahre vor seinem Einsatz in Deutsch-Südwestafrika über die Krieg- führung in Ostafrika und forderte, dass sich die Europäer an die Gepflogenheiten an- passen sollten, um dort zu bestehen. Georg Maercker, Unsere Schutztruppe in Ost-Afrika, Berlin 1893, S. 201. In Deutsch-Südwestafrika aber standen die »alten Afrikaner« im Kon- trast zu den ›Neuankömmlingen‹ für eine gehegte Kriegführung, auch weil die (tatsäch- lichen) Afrikaner oft nur auf »Coups«, Viehraub und Scharmützel setzten (vgl. Anm. 1).

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»unvermeidlich, dass in dem Augenblick, wo in Deckung geritten und zum Ge- fecht abgesessen wird, die Kompagnie dem Auge des Führers momentan gänz- lich entzogen ist. Und dann wird es einen Maßstab für die Disziplinierung die- ser Truppe bilden, ob kurz darauf sich jeder an dem vorher zugewiesenen Platz einstellen wird. Ich darf mit Stolz sagen, dass dieses bei drei derartigen Über- fällen, denen die Kompagnie ausgesetzt war, zutraf59.« Bei Hinterhalten gerieten die Männer nicht in Panik60, noch erstarrten sie. Keiner floh oder versuchte, sich nur seiner eigenen Haut zu erwehren. Ihre Ordnung löste sich nicht auf, auch wenn dem Offizier die Kontrolle entglitten war und er keinen bestimmenden Einfluss auf das Geschehen nehmen konnte. Alle bewahrten die Ruhe, nahmen ihre Positionen ein und wehrten den Angriff gemeinsam ab. Jeder wusste, was zu tun war, und tat es im entscheidenden Augenblick auch. Metropolitane Offiziere bestätigten Frankes Ausführungen. Stuhlmann schildert die ›alte‹ Schutztruppe als hervorragend, da sie sich im Gefecht »ruhig und kalt- blütig« verhielt61 und in brenzligsten Situationen durch eine »Bombenruhe« aus- zeichnete62. Die Männer waren imstande, sich Deckung zu suchen und sie auszu- nutzen, ihre Ziele selbstständig zu wählen und nach eigenem Ermessen zu feuern. Dadurch hatten sie stets nur geringe Verluste zu verzeichnen63 und legten selbst in heiklen Situationen eine hohe Feuerdisziplin an den Tag64. Die Unterschiede zu ›neuen‹ Truppen waren augenfällig. Stuhlmann hebt ei- nen Aspekt besonders hervor, der zweifellos nichts mit den Umständen zu tun hatte, unter denen die neuen Truppen aufgeboten wurden. Ihnen fehlte »so ganz jede Selbstständigkeit des einzelnen Mannes. Sie brauchen immer Anweisungen, und man hört dauernd ein fortgesetztes Befehlen und Schimpfen vonseiten der ebenso frischen Vorgesetzten65.« Sie waren daran gewöhnt, dass ihnen die Offi- ziere jede Kleinigkeit nach Manöverordnung vorschrieben66. Sie waren »unzuver- lässig«, weil sie daran gewöhnt waren, stets angeleitet und beaufsichtigt zu wer- den; fiel die Kontrolle einmal weg, erfüllten sie ihre Aufgaben nicht67. Die Überlegenheit der ›alten‹ Kolonialtruppen beruhte also zu einem guten Teil auf der Selbstständigkeit des einzelnen Soldaten; dies hatten sie den ›neuen‹ Truppen ohne Zweifel voraus. Die Lineartaktik des 18. Jahrhunderts war mit der waffentechnischen Revolu- tion Mitte des 19. Jahrhunderts endgültig obsolet. Weitreichende Hinterlader, Ar- tillerie und Maschinengewehr ließen Truppenkonzentrationen auf dem Schlacht- feld kaum mehr zu. Dies bedeutete einerseits einen Kontrollverlust der Offiziere, andererseits stellte es an den einzelnen Soldaten höhere Anforderungen. Zuvor

59 BArch, N 1030 (Viktor Franke), 21: »Die Tätigkeit der 2. Feldkompanie vor und beim Ausbruch des Aufstandes in Süd-West-Afrika«, S. 19. 60 Paniken sind von den neuen Verbänden überliefert. Den Tagebuchaufzeichnungen des Offiziers von Frankenberg lässt sich entnehmen, dass sich in den Truppenlagern allein in einer einzigen Nacht die Fälle häufen konnten, NAN, AACRLS.070, S. 20. 61 NAN, PA, A 109, S. 201. 62 Ebd., S. 91. 63 Ebd. 64 Beim Gefecht von Oviumbo am 12.4.1904 hätten sich die »neu importierten Truppen [...] total verschossen«, als die ›Alten‹ erst zehn Schuss (von 130) pro Kopf abgegeben hat- ten. BArch, N 1030 (Viktor Franke), 21: Die Tätigkeit (wie Anm. 59), S. 14. 65 NAN, PA, A109, S. 90. 66 Ebd., S. 201. 67 Ebd., S. 90.

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wurden die Truppen in gleichmäßigen Reihen ins Gefecht geführt und ließen sich dadurch leichter beaufsichtigen. Jeder Handgriff war durch Drill mechanisch ein- geübt, jede Einzelheit des Kampfes war von vornherein festgelegt und wurde im Gefecht auf Kommando des Offiziers lediglich abgerufen, der dadurch das Kampf- geschehen kontrollierte. Durch das Feuern in Salven, das die geringe Reichweite und Durchschlagskraft der Gewehre auffangen sollte, kontrollierte der Offizier noch den Munitionshaushalt der Soldaten. Für das Schießen im Pulk musste der Soldat keine Fertigkeiten im Schießen mitbringen, das englische Kommando lau- tete bezeichnenderweise »level« und zielte auf das Einhalten einer ungefähren Höhe bei der Schussabgabe, aber nicht das Anvisieren bestimmter Ziele. Das vor- herrschende »Maschinenmodell«68 zielte darauf, die Subjektivität des einzelnen Kämpfers weitestgehend zu unterdrücken69. Die neue Waffentechnik machte eine zerstreute Ordnung der Truppen im Ge- fecht erforderlich, und hierin lag der hauptsächliche Kontrollverlust des Offi- ziers. Franke bemerkt, dass er in den Gefechten, die mit langen, dünnen Schüt- zenlinien geschlagen wurden, kaum jemals mehr als zehn Mann unter seinen Augen hatte70. Der Soldat musste viele der Entscheidungen, die ihm vorher ab- genommen waren, selbst treffen. Der Unübersichtlichkeit des Schlachtgesche- hens begegnete die militärische Führung damit, dass dem Einzelnen größere Handlungsspielräume eröffnet wurden71. Der Soldat musste die Lage selbststän- dig einschätzen und auf die besonderen Umstände reagieren können, denn ›von oben‹ konnte das Geschehen nicht mehr gesteuert werden. Zudem lag es in sei- ner eigenen Verantwortung, sich Deckung zu suchen, seine Ziele auszuwählen (und sie treffen zu können), mit der Munition hauszuhalten, die Lage im Blick zu behalten und selbstständig zu urteilen, wann z.B. die Gelegenheit zum Vor- gehen gekommen war. Der Einzelne konnte mit seinem Handeln entscheidend zu dem Ausgang des Gefechts beitragen. Darauf bereitete der hergebrachte Drill nicht vor, ja konnte dafür sogar gefährlich sein, wie erkannte72. Dieses überraschend moderne Schlachtfeld verlangte dem Soldaten vor allem Eigeninitiative und eine geschärfte Urteilskraft ab. Die Einübung von Automa- tismen im Rahmen der Gruppe war dafür nicht förderlich73; »Freiheit vom

68 Jens Warburg, Das Militär und seine Subjekte. Zur Soziologie des Krieges, Bielefeld 2009, S. 116. 69 Überspitzt ließe sich mit Ulrich Bröckling sagen, dass der Soldat dieser Zeit gar nicht dazu ausgebildet war, zu kämpfen oder zu töten, da er weder den gezielten Schuss noch den Umgang mit der Blankwaffe beherrschte, sondern nur wie ein Rädchen einer Ma- schine »funktionieren« sollte. Ulrich Bröckling, Disziplin. Soziologie und Geschichte mi- litärischer Gehorsamsproduktion, München 1997, S. 89. Wie niedrig die Trefferquote der Schützen in jenen Tagen lag, belegen David Grossmans Untersuchungen. David Gross- man, On Killing. The Psychological Cost of Learning to Kill in War and Society, New York [u.a.] 2009, S. 20 f. 70 BArch, N 1030 (Viktor Franke), 21: Die Tätigkeit (wie Anm. 59), S. 20. 71 Warburg, Das Militär (wie Anm. 68), S. 210. 72 Bernhard Neff, »Dekorationsmilitarismus«. Die sozialdemokratische Kritik eines ver- meintlich nicht kriegsgemäßen Militärwesens (1890–1911). In: Schule der Gewalt. Mili- tarismus in Deutschland 1871–1945. Hrsg. von Wolfram Wette, Berlin 2005, S. 91–110, hier: S. 98 f. 73 Joanna Bourke, An Intimate History of Killing. Face-to-Face Killing in Twentieth-Cen- tury Warfare, New York 2000, S. 74.

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Schema« lautete stattdessen die Losung für die Einstellung des Soldaten auf die veränderten Kampfbedingungen74. Die Eliten des Wilhelminischen Deutschland sperrten sich gegen verschiedene Neuerungen im Heereswesen75 – insbesondere solche, die soziale Veränderungen mit sich bringen konnten. Häufig waren es daraus resultierende Vorurteile und Ängste, welche sie veranlassten, längst unvermeidlich gewordene Entwicklungen zu blockieren. Tatsächlich war die »Auftragstaktik«76 in ihren Grundzügen bereits im Exerzierreglement von 1906 verankert und als Ziel der Erziehung des Soldaten ausgegeben77, aber die Wirklichkeit sah anders aus. Vor allem aus innen- resp. stän- depolitischen Gründen beruhte die Ausbildung nach wie vor überwiegend auf dem überkommenen Drill78. Der demütigende Ton, der in der Heimatarmee von Offizieren gegenüber Mannschaften angeschlagen wurde, z.B. in Fritz Oswald Bil- ses Schrift »Aus einer kleinen Garnison« (1904) dokumentiert, zielte allenfalls auf die Erzwingung einer »passiven Disziplin«, und zwar »durch Brechung des Wil- lens [...], notfalls mit Hilfe harter Strafe«79, aber sie bildete nicht den Soldaten he- ran, dessen die Kriegsszenarien des 20. Jahrhunderts zunehmend bedurften. Anders lag die Sache in der Schutztruppe. Wegen der aufgelösten Gefechtsord- nung, so der Schutztruppenoffizier Kurd Schwabe, mussten auch die einfachen Soldaten eigenständig die Lage beurteilen und die richtigen Mittel zu ergreifen wissen80. Die »Fähigkeit zu selbstständigem Handeln für alle Chargen« war die Maxime der Ausbildung. Der Soldat wurde zu »raschem selbstständigen Handeln und Denken«81, mithin dazu erzogen, »unter eigener Verantwortung zu handeln, sein Leben einzusetzen und über Leben und Tod anderer zu entscheiden«82. Kla- rer konnte der Grundgedanke der »Auftragstaktik« nicht formuliert werden. Die Ausbildung in Deutsch-Südwestafrika machte die Mannschaften »sehr viel brauch- barer, umsichtiger und zuverlässiger«, als es die Mannschaften der Heimatarmee waren83.

74 Die Maxime »Freiheit vom Schema« stammt von Franz Halder, 1938–1942 Chef des Ge- neralstabs des Heeres, zit. nach Creveld, Kampfkraft (wie Anm. 13), S. 57. 75 Stig Förster, Der doppelte Militarismus, Die deutsche Heeresrüstungspolitik zwischen Status-quo-Sicherung und Aggression 1890–1913, Stuttgart 1985 (= Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, 118), und Detlef Bald, Der deutsche Of- fizier. Sozial- und Bildungsgeschichte des deutschen Offizierskorps im 20. Jahrhundert, München 1982. 76 Es handelt sich um die konsequente Umsetzung der Selbstständigkeit auf allen Ebenen. Dabei ging es darum, den »Untergebenen zu befehlen, was sie zu tun hatten, aber nicht, wie das zu geschehen hatte«, Creveld, Kampfkraft (wie Anm. 13), S. 52. Die Umsetzung blieb Sache des Ausführenden, der einzig in der Lage war, die tatsächlichen Bedingungen zu beurteilen und danach zu handeln. Siehe hierzu auch: Stephan Leistenschneider, Auf- tragstaktik im preußisch-deutschen Heer 1871–1914. Hrsg. vom MGFA, Hamburg [u.a.] 2002. 77 Warburg, Das Militär (wie Anm. 68), S. 212. Leistenschneider, Auftragstaktik (wie Anm. 76), S. 123–138. 78 Zit. nach Warburg, Das Militär (wie Anm. 68), S. 213–218. Nach Warburg wurde die Feuer­ kraft der modernen Waffen stark unterschätzt. 79 Ebd., S. 211. 80 Schwabe, Dienst und Kriegführung (wie Anm. 47), S. 92. 81 Ebd., S. 26. 82 Curt von François, Deutsch-Südwest-Afrika. Geschichte der Kolonisation bis zum Aus- bruch des Krieges mit Witbooi April 1893, Berlin 1899, S. 81. 83 Ebd.

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Spezielle Umstände begünstigten diese Entwicklung. Die Schutztruppe sah sich durchweg einem in vielen Belangen gleichwertigen, zahlenmäßig oft deutlich über- legenen Gegner gegenüber. Sie musste ihre geringe Feuerkraft voll ausnutzen. Dass »Selbstständigkeit« gefordert war, lag auch daran, dass die Truppe nicht in und durch die Masse wirken konnte84, weil eine solche Masse gar nicht verfügbar war. Ließen sich überhaupt taktische Erfolge erzielen, dann nur durch ein schnelles Handeln des Einzelnen, unangesehen des Ranges. Der einzelne »Reiter« musste die Kriegshandlung selbst ›lesen‹ können85. Ein weiteres Moment dieser Entwicklung hängt mit der »kolonialen Situation« (George Balandier) zusammen. Die Kriegführung der »alten Afrikaner« und ihre Charakteristiken waren von der Siedlergesellschaft mitbestimmt. Siedlergesell- schaften sind relativ egalitär. Der für die »koloniale Situation« typische Antago- nismus zwischen »kolonialer Gesellschaft« (Henri Delavignette) und »Eingebore- nen« führte zur Aufwertung jedes »Weißen«, mochte er noch so »verworfen« sein86. Die Standesschranken der Ursprungsgesellschaft waren sehr gemildert87. Der ein- zelne Mann erfuhr eine Aufwertung, und auch Offiziere und Mannschaften rückten näher zusammen88.

84 François, Kriegführung (wie Anm. 55), S. 32. 85 Ebd., S. 46. 86 Vgl. dazu ausführlicher Matthias Häußler und Trutz von Trotha, Koloniale Zivilgesell- schaft? Von der »kolonialen Gesellschaft« zur kolonialen Gewaltgemeinschaft in Deutsch- Südwestafrika. In: Krieg und Zivilgesellschaft. Hrsg. von Dierk Spreen und Trutz von Trotha, Berlin 2012. 87 François bescheinigte den Mannschaften in den Kolonien ein »gesteigertes Selbstbewusst- sein«, weil sie mit den übrigen Weißen, gleich welchen sozialen Ranges, in »vollstän- diger Gleichheit« verkehrten – was freilich auch die Gefahr des ›Klüngels‹ mit sich brachte, François, Deutsch-Südwest-Afrika (wie Anm. 82), S. 80 f. 88 Hier kommt ein weiterer Aspekt ins Spiel: die »soziale Verantwortung« gegenüber der Bevölkerung, Samuel P. Huntington, The Soldier and the State. The Theory and Politics of Civil-Military Relations, Cambridge, MA 1957, S. 9, die die Schutztruppenoffiziere ge- genüber ihren metropolitanen Kollegen auszeichnete. Die Bevölkerung in der Kolonie lehnte von Trotha bald ab, während sie Leutwein zumindest als Soldat (wenn auch nicht als Politiker) ein gewisses »Vertrauen« entgegenbrachte. »Der Aufstand«, DSWAZ, 10.8.1904, S. 1. Leutwein war elf Jahre in Deutsch-Südwestafrika, und die »koloniale Si- tuation« ließ die wenigen »Weißen« im Lande zusammenrücken. Eine solche Nähe hätte das heimatliche Offizierkorps, das ein elitäres Selbstverständnis pflegte und sich kasten- mäßig gegen das ›Volk‹ abschottete, niemals zugelassen. Bald, Der deutsche Offizier (wie Anm. 75), S. 14 f. »Alte Afrikaner« wie Leutwein waren keine reinen ›Gewaltspezialisten‹, sondern mit dem ›Aufbau‹ der Kolonie befasst, was die »soziale Verantwortung« gegen- über der Siedlerschaft schärfte. Durch seinen Eid auf den Monarchen sah sich das Offi- zierkorps im Reich eindimensional der Spitze der Hierarchie verpflichtet und empfand nach unten, d.h. gegenüber der Bevölkerung, keinerlei Verantwortung, Bald, S. 19. Dies schlug sich auch in der Kriegführung nieder. Von Trotha zielte vorrangig auf militärische Prestigeerfolge, welche die Erwartungen der Spitzen des Reiches zufriedenstellten, wäh- rend Leutwein der Maxime folgte, die Ressourcen der Siedlerschaft zu erhalten, z.B. »Der Aufstand«, DSWAZ, 14.12.1904, S. 2.

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4. Die Eigenschaften des Offizierkorps

Oberleutnant Stuhlmann hatte die Kämpfe am Waterberg mitgemacht. Im An- schluss daran wurde seine Halbbatterie im September 1904 dem Kommando Joa- chim von Heydebrecks unterstellt. Nachdem er unter Oberst Deimling gedient hatte, freute er sich nun auf einen »ruhigen Führer«, »der als alter Afrikaner genü- gend für Mann und Tier sorgt«89. Die Fürsorge für die Tiere war ein Imperativ der Kriegführung der »alten Afrikaner«, und sie stellten operative Gesichtspunkte da- hinter zurück, wenn ihre Verfolgung die Mobilität der Truppe längerfristig zu be- einträchtigen drohte. Da die Aussicht auf entscheidende operative Erfolge be- schränkt war, war es zu riskant, alles auf eine Karte zu setzen. Die Truppe musste in erster Linie bewegungsfähig bleiben, denn den Gegner zu schlagen, verlangte Ausdauer. So verwundert es nicht, wenn Stauffenberg die bei den »alten Kompa- gnien« herrschende »Art der Pferdepflege« bemerkte, die »im Gegensatz zu den [...] jüngeren Kolonnen [...] einen verhältnismäßig hohen Grad an Bewegungsfä- higkeit zu erhalten« zuließ90. Mindestens ebenso wichtig wie die Rücksicht auf die Tiere war die Fürsorge gegenüber den Mannschaften. Welche Bedeutung die militärische Führung für den Gefechtswert ihrer Einheiten hat, ist durch zwei hinreichend bekannte Studien ver- deutlicht worden. Mit Blick auf den US-Einsatz in Vietnam haben Paul Savage und Richard Gabriel aufgezeigt, wie verheerend es sich auswirken kann, wenn die Truppen den Eindruck gewinnen, dass ihre Offiziere nicht im gleichen Maße die Risiken des Kampfes tragen, dass diese in erster Linie ihre Karriere im Blick haben und deshalb eher den Ansprüchen ihrer Vorgesetzten als den Bedürfnissen ihrer Untergebenen nachkommen91, oder dass schließlich der gesamte Militärapparat nur den Avancementsinteressen des Offizierkorps dient92. Statusunterschiede und Privilegien der Offiziere sind nicht per se problematisch, sondern werden klaglos hingenommen, solange sich die Offiziere ihrer würdig erweisen93. Edward Shils und Morris Janowitz machen folgende grundlegende Pflichten des Offiziers aus94. Verluste sind im Krieg unvermeidbar, aber sie sollten sich stets in Grenzen halten und gerechtfertigt erscheinen95; die Offiziere tragen die Verpflichtung, das Leben der ihnen anvertrauten Mannschaften nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Im

89 NAN, PA, A 109, S. 66 f. 90 Marchand-Volz, Werner Freiherr Schenk von Stauffenberg (wie Anm. 52), S. 91. 91 Paul L. Savage and Richard A. Gabriel, Cohesion and Disintegration in the American Army. An Alternative Perspective. In: Armed Forces and Society, 2 (1976), 3, S. 340–376, hier: S. 366. 92 Ebd., S. 362. Nach Jonathan Shay befindet sich der moderne Soldat in einer Abhängig- keit vom Militärapparat, die nur mit der Abhängigkeit des Kleinkindes von seinen El- tern vergleichbar ist. Jonathan Shay, Achill in Vietnam. Kampftrauma und Persönlich- keitsverlust, Hamburg 1998, S. 35. Die ganze militärische und zivile Struktur ist ein »sittliches Gebilde, eine Art Treuhandverwaltung, die für Leben und Sicherheit des Sol- daten verantwortlich ist«, ebd., S. 48. Der Soldat muss diesem Apparat vertrauen kön- nen, und jede Enttäuschung dieses Vertrauens kann sich verheerend auf die Moral aus- wirken, die ihn dazu bringt, die sichere Deckung zu verlassen und sich in feindliches Feuer zu stürzen, ebd., S. 37. 93 Savage/Gabriel, Cohesion (wie Anm. 91), S. 3 und S. 43. 94 Edward A. Shils and Morris Janowitz, Cohesion and Disintegration in the Wehrmacht in World War II. In: Public Opinion Quarterly, 12 (1948), S. 280–315. 95 Ebd., S. 297.

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Zweifelsfall sollten sie bereit sein, das Wohlergehen der Mannschaften, die Verant- wortung ›nach unten‹, über die Befehle ›von oben‹ zu stellen96. Sie sollten den Un- tergebenen nichts abverlangen, was sie nicht auch selbst tun könnten und würden, ja sie sollten sie idealiter in allen Belangen übertreffen97. Das schließt ein, dass Of- fiziere und Mannschaften gleichermaßen die Risiken des Kampfes tragen. Auf- grund ihrer Erfahrung vor Ort, hatten die ›alten Offiziere‹ diese Einstellung be- reits internalisiert, und genau darin lag die Stärke der ›alten‹ gegenüber der ›neuen‹ Schutztruppe. Das Urteil der jungen Offiziere über die höheren metropolitanen Offiziere fiel vernichtend aus. Die Feldtruppen fühlten sich verheizt98, weil sich unter ihnen der Eindruck verfestigte, dass sich die höheren Offiziere eher den übergeordneten Stel- len in Berlin als den eigenen Leuten verpflichtet fühlten. Sie warfen ihnen vor, al- les hinter die Erwartungen der Politiker und der Generalität, die »immer nach ra- schen Taten« verlangte, zurückzustellen, während eine vielleicht weniger ›spektakuläre‹, den örtlichen Verhältnissen aber angemessene Kriegführung, wie sie von den »alten Afrikanern« praktiziert wurde, »nicht einen Bruchteil des Blutes gekostet« hätte99. Das Wohlergehen der Untergebenen war für diese Offiziere of- fenbar nachrangig. Insbesondere Oberst Deimling stand im Ruf, die Truppe »rück- sichtslos« den eigenen Karrierezielen zu opfern100. Er wurde als »ehrgeizig« und »egoistisch«101, als »allgemein unbeliebt«, als »krasser Egoist« und »Streber«, ja als »verrückt« beschrieben102. Immer wieder wurde geklagt, dass Deimling zu eilig marschieren ließ103, was letztlich auf Kosten von Personal und Material ging. Am Waterberg und danach waren 10 000 Stück Vieh sinnlos verendet, während die Mannschaften unter der katastrophalen Versorgungslage litten104. Über Wochen hatten sie mit einem Drittel der Normalration auskommen müssen, die fast aus- schließlich in Reis ausgegeben worden war. Viele Soldaten erlagen diesen Strapa- zen105. Dabei war der Erfolg der (abermals konzentrischen) Operationen von An- fang an mehr als ungewiss106. Auch Franke warf Deimling rücksichtslosen Verschleiß vor107 und behielt Recht, wie nicht zuletzt die gescheiterte Verfolgung der Herero am 13. und 14. August 1904 zeigte. Resigniert notierte er deshalb: »Ar- mes Land, Du musst büßen unter der grenzenlosen Thorheit [...] von unfähigen u.

96 Nach Shils und Janowitz war dieses Desiderat in der Wehrmacht exemplarisch erfüllt, weswegen sich auch nach Jahren der Rückzugsgefechte kaum Auflösungserscheinun- gen einstellten. Die Verfasser führen Beispiele dafür an, wie Offiziere aus Verantwor- tung für die eigenen Leute im Zweifelsfall Durchhaltebefehle ignorierten und stattdes- sen kapitulierten, ebd., S. 295. 97 Ebd. 98 Dass die Erfolge der Verfolgungsoperationen »im Verhältnis zu den herzkrank mar- schierten Mannschaften und den vielen gefallenen Zugtieren« stünden, bezweifelt Stuhl- mann, NAN, PA, A 109, S. 82. 99 Marchand-Volz, Werner Freiherr Schenk von Stauffenberg (wie Anm. 52), S. 144. 100 Vgl. die Bemerkungen Stuhlmanns, NAN, PA, A 109, S. 7 und S. 9. 101 Vgl. das Tagebuch von Hardenbergs, NAN, PA, A 151 (von Alten), Bd 2, S. 41. 102 Ebd., S. 48. 103 Ebd., Bd 1, S. 43. 104 Tagebuch Stuhlmann, NAN, A 109, S. 50. 105 Ebd., S. 54. 106 Ebd. 107 Franke wirft der Führung vor, sie »ruiniere [...] das halbruinierte Material gänzlich, ohne den Schimmer einer Aussicht auf Erfolg«. BArch, N 1030, 30/3a, S. 363.

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eitlen Offizieren, die [...] lediglich für ihre Ordensschnalle u. ihr Portemonnaie ar- beiten108!« Die »alten Afrikaner« hingegen hatten eine vollkommen andere Auffassung vom Umgang mit dem ihnen anvertrauten Personal und Material. Anfang Okto- ber 1904 berichtet Stuhlmann, dass Heydebreck den ausdrücklichen Befehl vom Hauptquartier, die Gangart zu beschleunigen, ignorierte und eine solche Geschwin- digkeit wählte, die der tatsächlichen Leistungsfähigkeit der Truppe entsprach109. Auch wenn es auf Kosten der Geschwindigkeit der Abteilung ging, hatte Heyde- breck außerdem darauf bestanden, mehr Proviantwagen mitzuführen und stets ausreichend Zeit zum Auskundschaften von Wasserstellen zu nehmen110. »[B]ei den alten Afrikanern [besteht] ein ganz anderes Verständnis und Fürsorge«111, stellt Stuhlmann abschließend fest, auch wenn dies den Befehlen ›von oben‹ zuwider- lief. So fassten die Untergebenen Vertrauen in ihre Führer. Der Kontrast zwischen den ›alten‹ und den ›neuen‹ Offizieren wurde in einem anderen Zusammenhang sehr offensichtlich. Die Feldtruppen hatten zumeist ein- seitig die Last der Entscheidungen ›von oben‹ zu tragen112. Während diese oft nichts zu essen hatten und »mit jedem Körnchen Reis« haushalten mussten113, litt das »satte und Moselwein trinkende Hauptquartier«114 keinerlei Not, wie Stuhlmann spottete115. Franke klagte den ihm dekadent dünkenden Luxus im Hauptquartier mit der Bemerkung an, dass Trotha »sein Bett von 9 bis 10 totgehetzten Eseln hin- ter sich herschleppen« ließ116. Bei einer anderen Gelegenheit hatte sich das Haupt- quartier von einer Lieferung von 100 Sack Hafer 82 für die eigenen 130 Pferde ge- nommen und der Truppe mit über 300 Pferden lediglich den Rest überlassen117. Es verzichtete weder auf Privilegien noch einen gehobenen Lebensstandard. Im Ge- gensatz dazu eigneten sich »alte Afrikaner« wie Heydebreck knappe Vorräte nicht einfach an, sondern ließen sie aufheben, um sie später als »Extra-Belohnung« für schwierige Aufgaben an die Mannschaften ausgeben zu können, die sie ausführen würden118. Nicht nur verzichtete Heydebreck damit sichtbar auf Privilegien, son- dern unternahm zugleich etwas, um die angeschlagene Moral der Truppe zu he- ben und Anreize für Initiative zu setzen. In der ›alten‹ Schutztruppe waren außerdem die Standesunterschiede zwischen Offizieren und Mannschaften nicht gleichermaßen stark ausgeprägt wie bei den frisch aus dem Deutschen Reich eingetroffenen Truppen. Sie waren zwar nicht voll- ständig aufgehoben, aber deutlich abgemildert. Bei den neuen Einheiten ließen sich hohe Offiziere ihre Betten nachtragen, während die Feldtruppe mit dem nackten Boden Vorlieb nehmen musste; ein Offizier wie Frankenberg verzichtete

108 Ebd., S. 385. 109 NAN, PA, A 109, S. 73 f. 110 Ebd. 111 Ebd., S. 74. 112 Bei der Verfolgung der Herero, die darauf zielte, den Fehlschlag vom Waterberg wett- zumachen, den Gegner doch noch einmal zu stellen und entscheidend zu schlagen, ver- mehrte sich im September 1904 die Zahl der Kranken und Toten »im erschreckenden Umfang«. Tagebuch Malzahn, NAN, PA, A 510, S. 26. 113 BArch, N 1030 (Viktor Franke), 21: Die Tätigkeit (wie Anm. 58), S. 23. 114 Marchand-Volz, Werner Freiherr Schenk von Stauffenberg (wie Anm. 52), S. 143. 115 NAN, PA, A 109, S. 81. 116 BArch, N 1030, 30/3a, S. 363. 117 NAN, PA, A 109, S. 81. 118 Ebd., S. 73.

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auch im wasserarmen Deutsch-Südwestafrika nicht auf das tägliche Bad119 oder seine Lektüre, die er sich für sehr viel Geld aus der Heimat nachsenden ließ, wäh- rend sich die Mannschaften angesichts horrender Preise in der Kolonie kaum mit dem Nötigsten versorgen konnten. Ganz im Gegensatz dazu ist Franke in Friedenszeiten mit seiner Kompanie, die es im Krieg zu hohem Ansehen bringen sollte, aus Omaruru, wo sie regulär stati- oniert war, jedes Jahr für mehrere Monate in das entlegene Sorris-Sorris gezogen, wo die Truppe unter einfachsten Verhältnissen lebte. Dabei musste sich Franke nicht allein gegen den Protest derjenigen Bewohner Omarurus durchsetzen, die als Laden- oder Kneipeninhaber von der Kompanie lebten120. Für Franke bedeu- tete der jährliche Umzug einen erheblichen Mehraufwand, denn er musste regel- mäßig hin und her pendeln, um weiterhin seine Verwaltungsaufgaben wahrzu- nehmen. Die Schlafstätten in Sorris-Sorris waren spartanisch. Sie bestanden aus einer Handvoll Gras, der darüber geworfenen Satteldecke und etwas zusammengescho- benem Sand. Zwischen Offizieren und Mannschaften bestand kein Unterschied, alle schliefen auf dem Boden und unter freiem Himmel121. Neben dem ›Bett‹ teil- ten sie auch den ›Tisch‹: Die Offiziere haben in Sorris-Sorris mit den Mannschaften »stets aus demselben Topf gegessen«122. Hinzu kam, dass die Offiziere die gleichen Arbeiten an den Tieren verrichteten wie ihre Untergebenen auch. Deswegen mahnte Franke in einem in Deutschland gehaltenen Vortrag, dass all diejenigen Offiziere der Schutztruppe fernbleiben sollten, »die ein Pferd nur zu schätzen wis- sen, wenn es ihnen gesattelt und gezäumt vorgeführt« werde123. Dies gehörte wie selbstverständlich auch zu den Aufgaben des Offiziers selbst. So hart also das Le- ben unter Franke für die Kompanieangehörigen auch gewesen sein mag, Franke – wie auch andere »alte Afrikaner«124 – verlangte ihnen nichts ab, was er nicht selbst tat125. Die Relativierung der Standesunterschiede zwischen Offizieren und Mann- schaften war offensichtlich. Die Schutztruppenoffiziere waren wie die Mann- schaften mit Gewehr, Seitengewehr und Patronengürtel ausgerüstet, da auch sie

119 NAN, AACRLS.070, S. 84. 120 BArch, N 1030 (Viktor Franke), 21: Die Tätigkeit (wie Anm. 59), S. 3. 121 Ebd., S. 4. 122 Ebd. 123 Ebd., S. 1. 124 Über Ludwig von Estorff weiß Fischer in dem Buch »Südwester Offiziere« übereinstim- mend zu berichten: »Aus den Reihen sonnenverbrannter Reiter, die dem Feind entge- gen durch das graue Einerlei der Landschaft zogen, war Estorff kaum herauszufinden, so eins mit allen war er in Anspruch und Aussehen. Ohne Zelt, wie jeder andere, war er der Glut des Tages und der Kälte der Nacht ausgesetzt; er lag unter offenem Himmel auf bloßer Erde, hatte den Sattel als Kopfkissen, den Woylach als Decke. Er aß, was sein farbiger Diener aus der Tagesration zuzubereiten vermochte, die für Offiziere und Rei- ter die gleiche war.« Zit. nach Marchand-Volz, Werner Freiherr Schenk von Stauffenberg (wie Anm. 52), S. 89. Jeder »weiße« Soldat in Deutsch-Südwestafrika hatte einen Bur- schen, einen »Bambusen«. 125 Franke ging seinen Männern immer wieder voran, so bei der Rettung des ertrinkenden Leutnants von Wöllwarth. Die Tagebücher des Schutztruppenoffiziers Victor Franke, Bd 1: Die Tagebuchaufzeichnungen vom 16.5.1896–27.5.1904, Delmenhorst 2003, S. 346, oder dem Sturm auf Omaruru, BArch, N 1030 (Viktor Franke), 21: Die Tätigkeit (wie Anm. 59), S. 30 f.

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im Gefecht in der Schützenlinie lagen126. Als Frankes Kompanie aus Sorris-Sorris zurückkehrte, schienen die letzten Unterschiede verwischt. Alle kamen »abgeris- sen, wie die Landstreicher, braun wie die Bastarde, mager wie Rennpferde« zu- rück127. Mit der Aufweichung der Standesunterschiede ging schließlich eine andere ›Pä- dagogik‹ einher, d.h. zumindest ein unterschiedlicher Ton, der gegenüber den Un- tergebenen angeschlagen wurde. Hörte man von den Offizieren aus dem Heimat­ heer »dauernd ein fortgesetztes Befehlen und Schimpfen« – mit Paul Fussell zu reden: »Chickenshit«128 –, kam dies bei den »alten Afrikanern« nicht vor129. Ange- sichts der Selbstständigkeit, zu der die Mannschaften ausgebildet werden sollten, war der Erziehungsstil, der mehr auf Einschüchterung und Demütigung abhob130, obsolet.

5. Schlussbetrachtung

Das Urteil jüngerer Offiziere, welche die Feldzüge in Deutsch-Südwestafrika mit- machten, strafte die im Deutschen Reich geläufigen Vorurteile gegenüber der ›al- ten‹ Schutztruppe Lügen. Letztere erwies sich als sehr leistungsfähig und dem Er- satz aus dem Heimatheer in vielen Belangen überlegen. Die Überlegenheit hatte strukturelle Gründe und erschöpfte sich nicht in der besseren Kenntnis von Land und Gegner. Die eingesessenen Offiziere zeichneten sich durch Unabhängigkeit von der im Reich vorherrschenden Militärdoktrin, einen weiteren Horizont und eine höhere Flexibilität aus. Anders als ihre metropolitanen Kameraden gehorchten sie nicht blind einem für europäische Verhältnisse entwickelten militärischen Dogma und sahen das Taktisch-Operative als einen Gesichtspunkt der Kriegführung neben an- deren an. Der höhere Gefechtswert der ›alten‹ Truppenverbände lag vor allem in der Selbstständigkeit begründet, zu der die Männer erzogen worden waren. Obwohl diese Selbstständigkeit einen Imperativ der ›modernen‹ Kriegführung bildete, wa- ren es die Angehörigen der Schutztruppe, nicht des Heimatheeres, die ihn zuerst umgesetzt hatten. Dies war auch das Verdienst eines Offizierkorps, das sich durch eine »soziale Verantwortung« ›nach unten‹ auszeichnete. Sie setzten nicht leicht- fertig Gesundheit und Leben ihrer Leute aufs Spiel; sie verzichteten auf Privilegien und teilten das Los ihrer Mannschaften, die dadurch sicher sein konnten, dass ihre Offiziere keine Befehle erteilten, deren Folgen sie nicht auch selbst zu tragen be- reit gewesen wären; schließlich stellten die »alten Afrikaner« das Wohl ihrer Un- tergebenen im Zweifelsfall über Befehle ›von oben‹. Der Standesunterschied, der im Reich Offiziere und Mannschaften noch trennte, weichte sich in Deutsch-Süd-

126 Helmuth Auer von Herrenkirchen, Meine Erlebnisse während des Feldzuges gegen die Hereros und Witbois nach meinem Tagebuch, Berlin 1907, S. 11 f. 127 BArch, N 1030 (Viktor Franke), 21: Die Tätigkeit (wie Anm. 59), S. 6. 128 Paul Fussel, Wartime. Understanding and Behavior in the Second World War, Oxford 1989, S. 79–95. 129 NAN, PA, A 109, S. 90. 130 Shay, Achill (wie Anm. 92), S. 274.

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westafrika auf. Folglich realisierte sich damit erstmals der Begriff des Soldaten, der Mannschaften und Offiziere verband. In deutschen Streitkräften konnte sich dieses Verhältnis aber erst nach der Beseitigung der letzten feudalen Reste durchsetzen131. Die ›alte‹ Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika wies also gegenüber dem Hei- matheer innovative Elemente auf. Die Schlussfolgerung kann daher auch lauten: Avantgarde waren die »alten Afrikaner«.

Abstract

Metropolitan senior officers looked down upon the Imperial Troops of »German- Southwest-Africa« as being backward and inferior in many respects. However, the junior officers who came into the country in the course of the revolts in 1904 and served in the field troops provide reports which suggest a completely different view. According to them, officers as well as men were clearly superior to the newly arrived forces. Their superiority was not just related to their better familiarity with the country, the enemies and small wars in general. The officers did not blindly ad- here to »The Dogma of the Battle of Annihilation« because they had understood that the operational part was just one aspect of warfare. Furthermore, they dis- played a high degree of social responsibility towards men and population. The men were systematically trained to be self-reliant and autonomous, whereas the soldiers from the metropolis lacked these features. The Southwest-African troop- ers represented the type of soldier modern battlefields required. Instead of being backward they rather were ahead of their time.

131 Creveld, Kampfkraft (wie Anm. 13), S. 151.

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