Monika Scheele Knight | Morgen kann warten

MORGEN KANN WARTEN

MONIKA SCHEELE KNIGHT Originalausgabe Morgen kann warten Copyright © März 2017 | Monika Scheele Knight Schmollerstr. 3, 12435 Berlin Printed in Germany by Amazon Distribution GmbH, Leipzig ISBN: 1544176872 ISBN-13: 978-1544176871 INHALT

Vorwort – In der Welt sein 1

1 Thassos – Sprache 14

2 Hiddensee – Elternsein 30

3 Rhodos – Epilepsie 44

4 Côte d’Azur – Fernand Deligny 62

5 Mallorca – Diagnoseanstieg 84

6 Connemara – Therapien 105

7 Südtirol – Neurodiversität 135

8 Südschweden – Inklusion 153

9 Normandie & Elsass – Geschichte 169

10 Valencia – Kultur 183

11 Prag & Theresienstadt – Ethik 204

12 Texel – Freundschaft 222

13 Berlin – Autismus als Metapher 236

Nachwort – Für immer 15 253

Respekt und Dank 257

Anmerkungen 259

Literaturverzeichnis 295

Dieses Buch ist für John, den Jungen mit der Bonbon-Agenda, der in den Mülleimer beißt, und die Gitarre wie einen Kontrabass spielt. Ein Partisan und ein Meister puren Seins.

Vorwort – In der Welt sein

»In jeder Krankheit treffen sich zwei Ereignisse: Die Geschichte einer Person und die Geschichte der Gesellschaft, in der diese Person lebt.« (Maurice Dorès)

John wurde im September 2000 in Arlington Heights in den USA geboren. Als er achtzehn Monate alt war, entwickelte er plötzlich epileptische Anfälle und wurde in ein Krankenhaus eingewiesen. Sein Gitterbett hatte gepolsterte Stäbe, war nach oben hin ver­ schlossen, ein Käfig. Über eine Klammer an seinem großen Zeh führte ein Kabel zu einem Monitor, 126/96 war darauf in roten Digitalziffern zu lesen. Unser vorher fröhliches, starkes und neu­ gieriges Kind lag schwach in diesem Käfigbett, tief erschöpft von Medikamenten, Untersuchungen und Krampfanfällen. Zwei Wochen zuvor hatten ihn alle noch für gesund gehalten, dann hatte ich ein komisches Zucken bemerkt, vier Tage nach der ersten Beobachtung hatte es sich ausgeprägter wiederholt, die Arme sprangen nach vorne vom Körper ab und John nickte dabei mit dem Kopf in Richtung Brustkorb. Nach meiner Beschreibung der Vorfälle beim Kinderarzt wurden wir zu einer EEG-Ableitung über­ wiesen, einer Untersuchung seiner Hirnströme, und noch am selben Tag erfuhren wir das Ergebnis, das uns nüchtern übers Telefon mit­ geteilt wurde: »Ihr Kind hat Epilepsie. Sie müssen zur weiteren Diagnose und medikamentösen Einstellung so schnell wie möglich ins Kranken­ haus kommen.«

1 Am selben Tag beobachtete ich gleich mehrere kleine Anfälle. Die Entwicklung verlief von hier an rasant: Waren zwischen dem ersten und dem zweiten Anfall noch vier Tage vergangen, so kamen die Anfälle danach täglich und mehrten sich zudem jeden Tag. Bald wurden wir vom Vorort-Krankenhaus in das Epilepsiezentrum an der Universität von Chicago überwiesen. Es folgte eine mehr als zweijährige Odyssee durch Kranken­ häuser und Epilepsiezentren auf zwei Kontinenten, ich gewöhnte mich an die Pritschen neben Johns Bett und an den Schlaftakt, den die Kontrollbesuche der pflegerischen Nachtwache vorgaben. Zahllose Experten wussten keinen Rat, während sich Johns Gesundheitszustand immer weiter verschlechterte. Medikamente wurden auf- und wieder herunterdosiert, John war in einem Kreis­ lauf aus Anfällen und Nebenwirkungen gefangen. Als Reaktion auf ein Medikament, das für Nebenwirkungen auf der Haut bekannt war, entwickelte er Neurodermitis, die auch nach Absetzen des Medikamentes blieb. Eine aggressive Hormontherapie brachen wir ab, nachdem der Kardiologe am Ultraschall eine lebensgefährliche Verdickung des Herzmuskels beobachtete. Als Ergebnis einer um­ fassenden genetischen Untersuchung, in der wir vor allem herausfinden wollten, ob John vielleicht das Fragile-X-Syndrom hat, stellte sich stattdessen heraus, dass ein seltener genetischer Defekt namens G-6-PD-Mangel vorliegt. Wir bekamen einen Notfall­ ausweis und eine lange Liste von Substanzen und Medikamenten, die lebensgefährlich sein könnten. Als zweitletzten möglichen Ausweg setzten wir John vier Monate lang auf die Ketogene Diät – eine im Krankenhaus eingeleitete und schulmedizinisch betreute

2 Ernährungsumstellung, die manchen Menschen geholfen hat, deren Epilepsie gegen Medikamente resistent geblieben war. Bei John half auch die Ketogene Diät nicht. Schließlich sollte im Epilepsie­ zentrum Bethel als letzte Option die Möglichkeit einer Gehirnoperation untersucht werden und auch dies stellte sich als unmöglich heraus. Die Leiterin der Neurochirurgie entließ uns mit den Worten: »Sie müssen sich damit abfinden, dass Ihr Kind keinen Tag in seinem Leben anfallsfrei sein wird.« Wie um diesen fahrlässigen Satz Lügen zu strafen, wurde John kurze Zeit später anfallsfrei, auf ebenso rätselhafte Weise, wie die Krampfanfälle begonnen hatten. Erst in diesem Zustand und ohne die harten Medikamente be­ merkten wir verschiedene Verhaltensweisen, die auf eine veränderte Wahrnehmungsverarbeitung hindeuteten. Die Psychologin des heilpädagogischen Kindergartens, den John zu dieser Zeit besuchte, empfahl uns einen Besuch im Autismus-Zentrum. Die Ursachen­ suche, die zweieinhalb Jahre zuvor in einem Zimmer mit der Nummer 218 eines amerikanischen Krankenhauses in der Nähe von Chicago begonnen hatte, fand nach einer Fährübersetzung in Vegesack ihr Ende in Bremen: John wurde nach einem etwa zweistündigen Test mit Frühkindlichem Autismus diagnostiziert.

Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die mit einer veränderten neurologischen Verarbeitung der Wahrnehmung ein­ hergeht und die zu einem sehr vielfältigen Erscheinungsspektrum führt.

3 Einige Autisten sind in der sozialen Kommunikation mit ihren Mitmenschen beeinträchtigt oder von den Reizen in ihrer Umwelt schneller überfordert. Es gibt Autisten, die in ihren intellektuellen Fähigkeiten keineswegs beeinträchtigt sind und andererseits solche, deren Beeinträchtigung mit einer mittelschweren oder schweren geistigen Behinderung einhergeht. Einige mögen keine körperliche Nähe und haben Probleme mit Augenkontakt. Andere suchen, mögen und brauchen viel Nähe. Einige können nicht sprechen, sind aber mit ihrer Umwelt und ihren Bezugspersonen emotional sehr eng verbunden. Viele Menschen unterschätzen die Bandbreite und höchst unterschiedlichen Ausprägungsformen von Autismus. Die Beobachtungen des Autismus reichen bis ins neunzehnte Jahrhundert zu den deutschen Psychiatern Karl Ludwig Kahlbaum und Emil Kraepelin zurück. Doch erst als der schweizerische Psychiater Eugen Bleuler das Adjektiv autistisch 1912 als Symptom im Zusammenhang mit schizophrenen Patienten verwendete, gewann der Begriff an Popularität. Der österreichische Kinderarzt Hans Asperger benutzte den Begriff als unabhängiges Syndrom erstmals 1938 in einem Vortrag in Wien. Dieser Vortrag wurde 1944 publiziert und ging so als Geburtsstunde des Autismus in die Geschichte ein. Unabhängig davon beschrieb der ebenfalls österreichische, aber in den USA lebende Psychiater Leo Kanner 1943 die autistischen Störungen im affektiven Kontakt als Frühkindlichen Autismus. Das fast gleichzeitige Benutzen desselben Begriffs wirft bis heute Fragen auf. Die beiden Österreicher sind sich nie begegnet und durch den Zweiten Weltkrieg war die Kommunikation zwischen

4 Österreich und den USA weitgehend unterbrochen. War es also Zufall, dass die beiden Männer sich denselben Begriff aussuchten, um ein Syndrom zu beschreiben? Sicher ist, dass beide Deutsch sprachen und denselben intellektuellen Hintergrund teilten, also ver­ mutlich mit den Ausführungen von Kahlbaum, Kraepelin und Bleuler vertraut waren. Das machte den Zufall weniger unwahrscheinlich. Über weitere Gründe für die Gleichzeitigkeit wird spekuliert. Leo Kanner könnte Aspergers Terminologie zum Beispiel auch von jüdischen Wissenschaftlern gehört haben, die in die USA geflohen waren. Es ist bekannt, dass Kanner diesen Wissenschaftlern half, sich in Amerika zu etablieren. Die Vermutung liegt nahe, dass er mit ihnen auch über neue fachliche Entwicklungen in Europa ge­ sprochen hat. Und Asperger hatte schon 1934 in Briefen an mehrere Kollegen vorgeschlagen, dass Autismus ein nützlicher Diagnosebegriff sein könnte. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass aus Österreich und Deutschland geflohene Wissenschaftler Kanner darüber berichteten. Kanner war an der Johns Hopkins University Leiter der aller­ ersten Kinderpsychiatrie in den USA und stand unter Zugzwang, sein neu geschaffenes Institut und den auf Kinder spezialisierten Psychiatriezweig im Allgemeinen zu profilieren. Die Wahrheit darüber, ob er von dem Begriff aus Europa gehört hatte oder nicht, wird man vielleicht nie erfahren. Sicher ist nur, dass Asperger und Kanner keinen direkten Kontakt zueinander hatten und dass die Störungsbilder, von denen beide berichteten, sehr unterschiedlich waren.

5 Asperger beschrieb Kinder, die Schwierigkeiten im sozialen Um­ gang hatten, Obsessionen für spezielle Wissensgebiete entwickelten und deren Sprachkompetenz durch verbale Besonderheiten gekennzeichnet war. Kanner hingegen beschrieb Kinder, die zwang­ haften Wiederholungen nachgingen und kaum oder keine Sprache entwickelten. So ist das breite Spektrum des Autismus bereits in der Entstehungsgeschichte des Syndroms angelegt.

Als John im Alter von anderthalb Jahren die Epilepsie entwickelte, hatte ich mich von meiner Festanstellung in Chicago beurlauben lassen. In den USA war für eine Freistellung aus medizinischen Gründen gesetzlich nur eine Dauer von maximal drei Monaten vor­ gesehen. Da wir aber fast zwei Jahre in Krankenhäusern verbracht hatten, war ich nicht an meinen Arbeitsplatz zurückgekehrt. Selbst nach der Anfallsfreiheit blieb John stark pflegebedürftig. Er entwickelte sich motorisch zwar gut, machte kognitiv aber kaum Fortschritte. Er sprach nicht, hatte aggressive Ausbrüche und massive Schlafstörungen. Mit seinen multiplen Diagnosen bekam John die Pflegestufe III. Das Versorgungsamt stellte einen Grad der Behinderung von 100% fest, wir erhielten einen Schwerbehin­ dertenausweis. Wir hatten zwischen den Klinikaufenthalten in Deutschland zunächst bei meinen Eltern gewohnt. Ich bemühte mich um einen Platz in einem auf Autismus spezialisierten Kindergarten in Berlin, wo ich schon vor meinem Umzug nach Chicago gewohnt hatte. Scott blieb in den USA. Wir lebten getrennt, aber Scott flog viel hin und her. Durch die Betreuung im Sozialpädiatrischen Zentrum

6 erfuhr ich von der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen. So fand ich einen Einzelfallhelfer, der uns im Alltag unterstützte. Ich begann, von Europa aus wieder freiberuflich für meine Chicagoer Firma zu arbeiten. Schließlich gab auch Scott seine Festanstellung auf, um zu uns nach Berlin zu ziehen.

Schon während unserer Krankenhausaufenthalte hatte ich begon­ nen, Treffen von Eltern autistischer Kinder zu besuchen. Die Geschichten, die ich dort hörte, empfand ich oft als entmutigend, denn es waren vor allem Erzählungen von Kämpfen und Isolation. Um die Kämpfe würden wir wahrscheinlich nicht herumkommen, das fing bei den Behörden an und endete bei den für Johns Behin­ derung typischen Verhaltensauffälligkeiten. Der Alltag mit einem schwer behinderten und chronisch kranken Kind ist nicht gerade leicht. Kein Nutzen oder Grund, dies zu beschönigen. Aber sicher müsse es möglich sein, die Isolation zu verhindern, dachte ich. Eine etwa sechzigjährige Frau zog mich bei einem dieser Elterntreffen zur Seite und erzählte mir vom Leben mit ihrem dreißigjährigen, autistischen Sohn. Von montags bis freitags war er von acht Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen untergebracht, ansonsten lehnte er jegliche Aktivitäten oder Treffen mit anderen Menschen ab. Die späten Nachmittage und Abende verbrachte die Mutter alleine mit ihrem Sohn Zuhause, ebenso die Wochenenden, an denen er sich weigerte, etwas anderes als einen Schlafanzug anzuziehen. Er wusste, dass man im Schlafanzug nicht nach draußen geht und so stellte er sicher, keinen Fuß vor die Tür setzen oder andere

7 Menschen treffen zu müssen. Dann waren da noch die Feiertage und Ferienzeiten, an denen die Werkstatt geschlossen war, manch­ mal für mehrere Wochen. Die Mutter erzählte mir von ihrer Isolation. Ihr Mann hatte sie vor Jahren verlassen, er konnte dieses abgeschiedene Leben einfach nicht mehr ertragen. Sie sagte, sie könne ihn gut verstehen, sehe aber für sich selbst keinen anderen Ausweg. Ihren Sohn in ein Heim zu geben, das könne sie nicht übers Herz bringen, und die Routinen Zuhause zu verändern, das gelinge ihr nicht mehr. Sie sprach sehr eindringlich mit mir: »Dein Sohn ist noch klein. Er kann noch lernen, an normalen Aktivitäten teilzunehmen – in der Welt zu sein. Darum komme ich zu diesen Treffen. Ich hoffe, dass junge Mütter von mir lernen können. Mein Sohn und ich leben Zu­ hause wie auf einer einsamen Insel. Lass es nicht so weit kommen.« John war zwar noch klein und der Einzelfallhelfer ein guter Anfang, aber vielleicht sollten wir jetzt schon mehr Ideen entwickeln, wie wir mit ihm gut in der Welt sein könnten?

Selbst wenn das Spektrum des Autismus sehr breit gefächert ist, haben Autisten eines gemeinsam: Sie haben Schwierigkeiten, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Studien haben gezeigt, dass autistische Kinder auf bestimmten Gebieten Defizite aufweisen, etwa in der Wahrnehmung von Scham, Schuldgefühlen und in der Sorge um andere. Diese Gefühle erfordern ein Bewusstsein für das vom eigenen Erleben getrennte Selbst eines anderen Menschen. Die Studien haben aber auch gezeigt, dass sich autistische Kinder auf anderen sozialen Gebieten kaum von Nicht-Autisten unterscheiden.

8 Die Stimmung in ihrem Umfeld beeinflusst sie zum Beispiel stark. Und sie können stolz, schüchtern oder eifersüchtig sein wie jedes andere Kind. Dies sind selbst erlebte Gefühle, bei denen die Einfühlung in ein Gegenüber keine so große Rolle spielt. Dass Autisten sich nur begrenzt (oder auf jeden Fall anders als Nicht-Autisten) in ihre Mitmenschen hineinfühlen, lässt also keines­ falls den verbreiteten Umkehrschluss zu, sie hätten selbst keine Gefühle. Ganz im Gegenteil. Aus Erfahrungsberichten von Autisten wissen wir heute, dass ihr inneres Erleben reichhaltig und eng mit der Welt verknüpft ist. So beschreibt etwa die Autistin Dawn Eddings Prince: »Soweit meine Erinnerung zurückreicht, hat mir die Intensität des Lebens Schmerzen bereitet. Ich habe sehr früh verstanden, dass ich in einer Kultur lebe, die eine gewisse Abtrennung trainiert. Doch selbst als erwachsene Frau hat alles um mich herum, von den Brombeer­ blättern bis hin zu den Biegungen des Baches, eine Persönlichkeit, eine Art Resonanz, die wie ein erweitertes Bild von mir selbst ist, und die zu einer freundlichen Vertrautheit führt. Meine Welt ist ein Ort, an dem die Menschen gleichzeitig zu schön und zu schrecklich anzusehen sind. Ihre Münder sprechen Worte, die ich manchmal nicht höre, aber ich höre, wie ihr Herz zerbricht. Ich frage mich, wie die Welt es schafft, nicht gehörlos zu werden vom Lärm der bre­ chenden und aufgeregten Herzen, vom Getöse unvergossener Tränen und ungeweinter Freude.«

Diese anthropomorphischen Schilderungen berührten mich, denn ich hatte das Gefühl, dass auch John Details wahrnahm, die wir

9 nicht sahen oder hörten. Es ließ sich in gewisser Hinsicht sogar erklären. Eine Hirnstamm-Audiometrie im Alter von drei Jahren hatte ergeben, dass in seinem Gehirn eine sehr überdurchschnitt­ liche Menge an Geräuschen ankam. Der normale Filter­ mechanismus funktionierte nicht. Das leise Ticken einer Uhr könnte in Johns Gehirn womöglich dem Rufen seines Namens gleich sein. Spätestens nach diesen Ergebnissen hatte es uns nicht mehr ge­ wundert, dass John auf Sprache oft entweder gar nicht oder aber verzögert reagierte. Erst durch das Nachvollziehen seiner Aufmerksamkeit konnten wir manchmal entdecken, was John bewegte. Eines Abends lag er zum Beispiel fröhlich auf dem Boden vor dem Wohnzimmerfenster, unter dem zugezogenen Vorhang. John sah sehr glücklich aus, aber ich konnte nicht erkennen, warum. Ich legte mich neben ihn und folgte seinem Blick. Das grau-weiße Muster des Vorhangs über uns bewegte sich im Luftzug der Heizung zwischen der Dämmerung draußen und dem Licht drinnen in einer Art tanzendem Muster, das sich ständig veränderte. Es war tatsächlich sehr schön anzuschauen. Ohne John hätte ich es niemals bemerkt.

Wir hatten von Anfang an nicht das Gefühl, dass John in einer eigenen Welt lebt und ich halte diese in Bezug auf Autismus oft benutzte Beschreibungsweise bis heute für irreführend. Scott und ich hatten vielmehr schon früh das Gefühl, dass John aus der gleichen Welt andere Erfahrungen herauszog und auf eine andere Weise mit ihr verknüpft war. Er schien der Welt stärker aus­ geliefert zu sein, mit ihr auf eine Weise zu verschmelzen, die ihn

10 einerseits schutzloser machte und andererseits auch daran hinderte, übergeordnete Zusammenhänge zu verstehen. Doch wir hatten auch früh gemerkt, dass die verschwimmenden Grenzen zwischen dem Ich und dem Außen für John nicht aus­ schließlich problematisch waren, sondern ihm manchmal auch Freude bereiten konnten. Wie könnte es möglich sein, einerseits die Isolation zu verhin­ dern, vor der mich die Mutter in der Elterngruppe so eindringlich gewarnt hatte, und andererseits für John auch die positiven Aspekte seiner intensiven Wahrnehmung zu fördern? Ich dachte sofort ans Reisen. Ich war immer viel gereist und hatte seit 1995 in der Reise­ branche gearbeitet. Vielleicht könnte die Erfahrung neuer Orte, Landschaften, Gerüche und Geräusche John Freude bereiten, ihm neue Möglichkeiten geben, seine besondere Verbindung mit der Welt zu erleben, und dabei gleichzeitig das Heraustreten aus Routinen trainieren. Solange wir dabei eine zu große Reizüber­ flutung vermeiden könnten, würde das Reisen John vielleicht neue Zugriffe auf die Welt ermöglichen. Reisen also als Versuch, in der Welt zu sein, wie es die Mutter in der Elterngruppe formuliert hatte. Die Idee hatte dabei durchaus auch einen egoistischen Anteil. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, irgendwann so zu leben, wie die Mutter es mir geschildert hatte. Mit der Geburt eines Kindes verlieren die Eltern nicht ihre eige­ nen Interessen, ganz grundsätzlich gesprochen, das ist selbst­ verständlich. Aber auch ein Kind mit einer schweren Behinderung ist wie jedes andere Kind Teil einer Familie, in der mehrere

11 Menschen zusammenleben, die dennoch weiterhin alle ihre eigenen Wünsche, Träume und Interessen haben. Wir erwarteten und wussten, dass das Leben mit einer chronischen Erkrankung und einer schweren Behinderung von uns deutlich mehr Kompromisse fordern würde, und dennoch hofften wir, dass dies keine totale Aufopferung bedeuten musste. Wenn wir dauerhaft zusammenleben wollten, brauchte jeder auch Platz. Wie anders könnten wir sonst auf lange Sicht belastbar sein? Sollte das Reisen John überfordern, würden wir es aufgeben müssen, aber wenn es funktionierte, könnte es für uns alle eine Abwechslung bietende Erfahrung sein.

Willkommen in Holland heißt ein bekannter Text von Emily Perl Kingsley aus dem Jahr 1987 über das Leben mit einem behinderten Kind. In ihrem Text beschreibt Kingsley, ein Kind zu erwarten sei, wie eine Reise nach Italien zu planen. Nach Monaten freudiger Er­ wartung ist der Tag endlich da, die Koffer werden gepackt und es geht los. Ein paar Stunden später landet das Flugzeug und die Flugbegleiterin sagt: »Willkommen in Holland.« Die Eltern wollten nach Italien und nun sind sie in Holland ge­ landet. Dort geht es viel langsamer zu. All das Tolle, was sie von Italien gehört hatten, gibt es hier nicht. Sie sehnen sich danach, aber nach einer Weile bemerken sie die Windmühlen und die Tulpen. In Holland gibt es andere Dinge, sogar Rembrandt. Die Eltern erfahren, wie schön es in Holland ist, dennoch ändert es nichts dar­ an, dass die Freunde aus Italien entzückt von Dingen erzählen, die ihnen verwehrt bleiben. Das Fazit des Textes ist, dass die Eltern

12 zwar bis ans Ende ihres Lebens Italien nachtrauern können, dann aber niemals frei genug sein werden, die besondere Schönheit von Holland zu genießen. Die Parabel kommt tröstend daher, etabliert aber in ihrem an der Oberfläche versöhnlichen Ton trotzdem eine klare Dichotomie. Hier Holland, da Italien. Der Familie mit einem behinderten Kind wird ein anderes Land zugewiesen. Ein Ghetto am Ende, egal wie viele Tulpen man in ihm pflanzt. Im Internet gibt es eine kritische Antwort auf Kingsleys Text. Darin reißen die Eltern eines Tages die Rembrandts von der Wand, gehen in ein Reisebüro, nehmen sich Broschüren über Brasilien, Griechenland, Ägypten, Alaska, Japan und Tahiti mit nach Hause, drehen den Globus und wählen mit geschlossenen Augen einen Ort darauf aus. Tschüß, Holland. Viel später, lange nachdem ich sowohl die Parabel als auch die kritische Antwort gelesen hatte, und nachdem wir viele Reisen mit John unternommen haben, ist uns aufgefallen, dass wir sinngemäß die Kritik in die Tat umgesetzt haben.

13 1. Thassos – Sprache

»Jedes Schreiben ist eine Sünde gegen die Sprachlosigkeit.« (Samuel Beckett)

Am Morgen nachdem die Mutter in der Elterngruppe mir von ihrer Isolation berichtet hatte, kochte ich mir einen Tee, sobald John in den Bus zum Kindergarten gestiegen war, setzte mich mit dem Laptop aufs Sofa und begann meine Recherche nach einem Reise­ ziel. Ich stieß auf einen günstigen Flug von Berlin nach Thessaloniki und ging in die Stadtbibliothek, um mir Bücher über Griechenland auszuleihen. Mir gefiel ein Reiseführer über die Insel Thassos, die anscheinend von Thessaloniki aus über eine dreistündige Busfahrt nach Kavála zu erreichen war. Von dort fuhr eine Fähre auf die Insel. Ein abgeschiedenes und dennoch einigermaßen gut erreich­ bares Ziel. John stand jeden Morgen sehr früh auf und musste den ganzen Tag unterhalten werden, weil er sich nicht selbst beschäftigen konnte. Thassos schien dafür groß genug zu sein. Wir würden eine ruhige Unterkunft brauchen, also suchte ich im Internet nach Zimmern und fand eine Pension, die von einer Deutschen und ihrem griechischen Ehemann geleitet wurde. Viel schneller als ich es

14 mir selbst vorgestellt hatte, buchte ich den Flug und die Unterkunft für die kommenden Osterferien. Zur Eingewöhnung würden wir zwei Nächte in einem Hotel in Thessaloniki bleiben, dann mit Bus und Fähre für zehn Tage nach Thassos reisen, und auf dem Rückweg vor dem frühen Rückflug noch einmal in Thessaloniki übernachten. Zwei Wochen Urlaub insgesamt. Ich wollte mit John alleine reisen. Wir hatten so viel Trubel er­ lebt, zuerst in den Krankenhäusern mit der Epilepsie, dann mit der Autismusdiagnose. Ständige Termine und Gespräche mit Experten über Experten der verschiedensten Richtungen. Die meisten waren zwar sehr nett und alle versuchten zu helfen, aber es führte doch unweigerlich auch dazu, dass wir fast nie alleine waren, nicht zur Ruhe kamen. Erst als ich die Reise plante, fiel mir das so richtig auf, und auch, wie sehr ich mich darauf freute, endlich Zeit alleine mit John zu verbringen.

In Bezug auf die Epilepsie war die Lage trotz verschiedener Therapien und Medikamente letztlich recht übersichtlich gewesen. Bestimmte Medikamente waren für bestimme Erscheinungsformen von Krampfanfällen vorgesehen, wenn eines nicht half, schlich man es wieder aus und dosierte langsam das nächste auf. Der Prozess war klar und vergleichsweise unumstritten. Beim Autismus schien alles undurchsichtiger. Die Ursache der Beeinträchtigung war trotz intensiver wissenschaftlicher Bemü­ hungen noch unbekannt. Klar schien nur, dass Autismus genetisch bedingt sein musste. Einer der ersten aussagekräftigen Belege für

15 diese Erkenntnis war 1977 eine Zwillingsstudie von Michael Rutter und Susan Folstein. Von 21 Zwillingspaaren waren 90% der eineiigen Zwillinge beide Autisten, während bei den zweieiigen Zwillingspaaren nur 10% beide mit Autismus diagnostiziert wurden. Neuere Studien waren allerdings zu weniger offensichtlichen Ergebnissen gekommen. Und nur ein Bruchteil der Gene, die an der Entstehung von Autismus beteiligt sein könnten, wurde bisher identifiziert. Die Wissenschaft befand sich noch in der Grundlagenforschung. Die unklare Lage begünstigte Spekulationen. In den Medien wurde fast wöchentlich über neue Theorien zu Ursachen des Autis­ mus berichtet. Fast noch beunruhigender als diese Ursachen­ theorien war die Vielfalt an teils auch völlig entgegengesetzten Therapien. Ich würde mich intensiv damit auseinandersetzen müssen, das ahnte ich, aber zuerst sehnte ich mich danach, von diesen äußeren Einflüssen wegzukommen. Eine tiefgreifende Entwicklungsstörung schien mir vor allem eine eigene Gewöhnung an die Besonderheiten zu erfordern. Die beste Art, wie ich mir das vorstellen konnte, war schlicht und einfach, Zeit miteinander zu verbringen.

John war dreieinhalb Jahre alt. Er sprach nicht und wir waren nicht sicher, wie viel er verstehen konnte. Vieles schien er eher zu erraten. Wenn wir sagten: »Setz Dich bitte hin«, dann konnte es sein, dass er sich setzte. Aber wenn wir zum Beispiel sagten: »Nimm bitte den Teller«, dann setzte er sich vielleicht auch auf den nächstgelegenen Stuhl

16 oder er legte etwas weg, das er in der Hand hielt. Er verstand offen­ bar, dass man ihn um etwas gebeten hatte, und in seinem rührenden Versuch, der Aufforderung nachzukommen, probierte er verschiedene Dinge aus. Auch wenn John nicht sprach, war er uns und den Menschen, die oft um ihn waren, sehr nahe. Er saß lieber auf meinem Schoß als alleine neben mir. Er kuschelte gerne und genoss Aufmerksamkeit. Bestimmte gängige Bilder über Autismus trafen auf ihn überhaupt nicht zu. John hing an uns, das merkten wir deutlich. Die größte Herausforderung war die Kommunikation. Ich war voll von Sprache und John schien für Sprache nicht empfänglich. In diesem Sinne hatten John und ich gewissermaßen unterschiedliche Bezugsrahmen. Und wenn einen die Sprache erst einmal durch­ drungen hat, kann man nicht mehr hinter sie zurücktreten. Sie ist immer da, sie schwebt über allem. Man kann keinen Besen sehen, ohne direkt zu denken: Besen. Wie konnte ich die Nonverbalität verstehen lernen? Andererseits ist zwischen allen Menschen vieles, was sich nicht verbal klären oder erklären lässt. Der Unterschied in unserer unter­ schiedlichen Wahrnehmung musste also doch irgendwie durchlässig sein. Griechenland reizte mich auch deshalb als Reiseziel, weil ich noch nie dort gewesen war, kein Wort griechisch verstand und noch nicht einmal das griechische Alphabet lesen konnte. Vielleicht könn­ te es helfen, an einem Ort zu sein, an dem wir beide die Sprache nicht verstanden?

17 Ich suchte ein Hotel in Thessaloniki, druckte die Busfahrzeiten zwischen Thessaloniki und Kavála aus und besorgte in der Biblio­ thek eine Landkarte. Abends sah ich mir mit John die Bilder in den Reiseführern an und versuchte, ihn auf die Reise vorzubereiten. Manchmal schien er an den Fotos milde interessiert, aber ich war mir nicht sicher, wie viel er verstand, wenn überhaupt etwas. Wir flogen vom Tempelhofer Flughafen ab, der 2004 noch ge­ öffnet war. John war noch nie dort gewesen, er rannte aufgeregt durch die große Halle. Er konnte gar nicht genug davon kriegen. Irgendetwas an der imposanten Halle faszinierte ihn sehr. John war schon mehrfach zwischen den USA und Deutschland geflogen, er kannte also das Fliegen. Der Abflug und die Landung schienen ihm immer zu gefallen, zwischendrin aber war er wegen der Enge und des Sitzenmüssens oft gelangweilt und unruhig – wie wohl die meisten nichtbehinderten Kinder auch. In manchen Dingen ging es uns gar nicht so viel anders als anderen Familien. Nur konnte man mit John eben nicht verhandeln. In Thessaloniki nahmen wir ein Taxi zum Hotel, ich merkte, dass es John nach Bewegung drängte, also stellte ich das Gepäck nur kurz im Zimmer ab, wir gingen sofort spazieren und suchten einen Spielplatz. John verausgabte sich beim Laufen, Schaukeln und Klettern, dann aßen wir im Ladadiká-Viertel zu Abend und John blieb, wie in einer neuen Umgebung erwartet, lange wach. Am nächsten Tag erkundeten wir Thessaloniki. John liebte es, in seinem Reha-Buggy herumgeschoben zu werden, er machte dabei seine typischen, fröhlich glucksenden Geräusche und guckte in alle

18 Richtungen. Es war schwer, ihn in Innenräumen zu bändigen. Viel Zeit hatten wir deshalb schon draußen verbracht, immer unterwegs. Unser Hotel lag in der Nähe der Kirche Ágios Dimítrios mit Mosaiken aus dem siebten Jahrhundert. Auf unserem Spaziergang kamen wir an unzähligen Kirchen, Moscheen und Türkischen Bädern vorbei. Während wir so liefen, entfalteten sich in der Archi­ tektur die Schichten der Stadtgeschichte vor unseren Augen. Wir gingen zum Modiano-Markt und sahen uns den Galerus-Bogen an. Ich schob den Buggy bergauf in die Altstadt und wir genossen den Blick hinunter auf die Stadt und das Meer. Auf dem Rückweg zum Hotel lagen an einem Friedhof eine ganze Reihe zerbrochener Grabsteine an der Seite eines Friedhofs. In meinem Reiseführer las ich, dass die Gräber in Griechenland oft schon nach wenigen Jahren ausgehoben werden. Anscheinend wurden die Grabsteine dann einfach an die Seite gelegt. Im Bus nach Kavála hatte ich am nächsten Tag das erste Mal auf unserer Reise Schwierigkeiten. Das hatte ich nicht erwartet, denn normalerweise gefiel es John in jeder Form, bewegt zu werden, ob im Buggy, im Auto oder im Bus. Doch die drei Stunden in einem gut gefüllten Bus waren ihm zu lang. Ich versuchte ihn abzulenken, aber es half alles wenig. Erst auf der Fähre ging es John besser. Er beobachtete fasziniert, wie das Wasser gegen den Bug schlug. Von der Hafenstadt Skala Prinou nahmen wir den öffentlichen Bus ins Dorf Potós zu unserer Pension. Auch diese Busfahrt von nur 45 Minuten gefiel John nicht. Mein Plan, die Insel mit den öffentlichen Bussen zu erkunden, würde vielleicht angepasst werden müssen.

19 Die Besitzerin der Pension begrüßte uns warmherzig. Unser Zimmer hatte einen Balkon und auf dem Flur befand sich eine kleine, gemeinschaftlich genutzte Küche. Wir waren die einzigen Gäste. Im Dorf wurde überall gebaut, Straßen waren aufgerissen, Gebäude wurden gestrichen. Die Pensionsbesitzerin erzählte mir, dass noch fast keine Touristen auf der Insel seien, da Ostern in diesem Jahr so früh lag. Umso besser für uns, John war sowieso kein Fan von großen Menschenmengen.

Etwa zehn Kilometer von Potós entfernt befand sich das kleine Bergdorf Theologos, der alte Hauptort der Insel. Dort sollte es eine alte Steinbrücke und eine sehenswerte Kirche geben, St. Demetrios. Außerdem betrieb ein deutsches Ehepaar außerhalb von Theologos einen Pferdehof und sie boten auch therapeutisches Reiten an, wie ich im Internet gesehen hatte. Am ersten Morgen auf der Insel war ich voller Energie und freute mich auf unsere erste Erkundungstour. Den Buggy wollte ich nur für Notfälle mitnehmen. Ich dachte, John könnte die meiste Zeit selbst laufen. Er lief und rannte viel, das Problem war nur, dass er keinem geraden Weg folgte, vielleicht etwa vergleichbar zu einem kleineren Kind, das gerade laufen gelernt hat. Schon kurz hinter dem Ortsausgang von Potós streikte John und wollte in den Buggy. Ich gab nach und schob ihn eine Weile, holte ihn dann aber wieder heraus. Sobald der Weg bergauf führte, wurde Johns Widerstand größer, er wollte zurück in den Buggy. Ich ent­ schied, den hübscheren, aber unwegsamen Pfad zu verlassen und John stattdessen am Straßenrand zu schieben.

20 Wir kamen an vielen kleinen Schreinen vorbei, die sich anscheinend überall in Griechenland am Wegesrand finden, die mir aber ganz neu waren. Dann sahen wir eine freilaufende Ziege. Uns kam ein alter Kleinlaster entgegen und ich signalisierte dem Fahrer anzuhalten. Ich zeigte auf die Ziege und fragte auf Englisch, ob sie vielleicht jemandem entkommen sei? Der Bauer verstand mich nicht, ich hantierte mit meinem Wörterbuch herum und als er endlich verstand, was ich wollte, lachte er herzlich und ich verstand, dass er etwas sagte wie: »Das ist okay, das ist normal.« Im Lauf des Spaziergangs begegneten uns dann noch viele frei­ laufende Tiere. Schafe, Ziegen, Esel und Hunde. Ich merkte: Natürlich war das ganz normal hier. Kein Wunder, dass der Bauer so herzlich gelacht hatte. Schon zwei Stunden später kam es mir vollkommen lächerlich vor, dass ich ihn angehalten hatte. Zum ersten Mal an einem ganz fremden Ort hat man keine Idee von dessen Konzept der Normalität, aber ebenso schnell verliert man diese Perspektive wieder, wenn man sich eingewöhnt hat. So viel zur Stabilität und Verlässlichkeit der Vorstellung vom Normalen, dachte ich.

Ich schob John aufwärts, hier und da hielten wir an und John lief herum. Er interessierte sich besonders für die knorrigen Oliven­ bäume, vielleicht fiel es ihm wirklich auf, dass sie so anders aussahen als die Bäume bei uns Zuhause? John schien es hier zu ge­ fallen, ich war erleichtert. So hatte ich es mir erhofft: eine abgelegene Gegend, in der John gefahrlos herumrennen und erkunden konnte.

21 Wir erreichten Theologos und aßen auf einem verlassenen Spielplatz am Dorfrand mitgebrachte Brote. Das Dorf hatte durch seine verfallen wirkenden Häuser einen morbiden Charme. Auf dem Rückweg fanden wir den Pferdehof, auf dem tatsächlich therapeutisches Reiten angeboten wurde. Ein Pferd auf dem Hof hatte viele Jahre in einer Einrichtung für Menschen mit Behin­ derung in der Nähe von Heidelberg gelebt und genoss hier nun seinen Ruhestand. Ich machte einen Termin für die kommenden Tage und schob John zurück nach Potós. Er genoss es, so viel im Buggy sitzen zu dürfen, aber ich hatte mich dazu entschlossen, darüber keine Auseinandersetzung zu füh­ ren. Wir waren schließlich im Urlaub und nicht in der Verhaltens­ therapie. Als wir nach Potós zurückkehrten, wurde es schon Abend. Von morgens an waren wir den ganzen Tag unterwegs gewesen. Auf dem Weg zur Pension hielten wir beim Lebensmittelladen und kauften für das Abendessen ein. An der Kasse fragte mich die Kassiererin auf Englisch: »Oh, sind Sie die Frau, die heute das Kind im Buggy den ganzen Weg nach Theologos hinaufgeschoben hat?« Sie schüttelte den Kopf, halb ungläubig, halb amüsiert. Einen Tag da und wir waren schon Dorfgespräch. Ich kochte in der Gemeinschaftsküche und danach gingen wir zum Sonnenuntergang noch für eine Weile an den Strand. Schon immer hatte John das Wasser geliebt: Baden, in Pfützen springen, dem Regen zuhören. Manchmal wurde er durch Wasser aktiv, manchmal beruhigte es ihn. Hier lief er den Strand auf und ab, wäh­ rend ich erschöpft war. Ich war etwa 18 km mit Höhenunterschied und Buggy gelaufen.

22 Wenn John nicht laufen wollte, musste ich auf Dauer eine andere Lösung finden. An der Fähre hatte ich eine Autovermietung gesehen. Die Pensionsbesitzerin half mir am nächsten Morgen bei der Buchung am Telefon, John und ich fuhren mit dem Bus nach Skala Prinou und holten das Auto ab. Ich stellte das Radio an und John freute sich hinten im Wagen über die griechische Musik. Keine Frage, er war glücklich mit dem Auto. Am nächsten Morgen hatten wir unseren Termin mit dem Heidelbergpferd, doch John wollte gar nicht erst in dessen Nähe gehen. Die Pferdebesitzerin hatte eine Idee: Sie hatte auch noch einen Esel, den sie ausgesetzt in den Bergen gefunden hatte. Anscheinend war es bei den Bauern durchaus üblich, Esel zum Sterben auszusetzen, wenn sie zu alt für ihre Aufgaben geworden waren. Die Frau hatte schon mehrere Tiere gerettet. Der Esel erwies sich als sehr geduldig und John hatte auch nicht solche Angst vor ihm, vielleicht, weil er viel kleiner war als das Pferd. Am Anfang ließ John sich zögerlich auf den Esel heben, aber wir merkten, wie schnell er sich daran gewöhnte. Wir würden in zwei Tagen wiederkommen. Mit dem Auto war es leicht, die ganze Insel zu erkunden. Wir fuhren zur Halbinsel Alikí, auf der es Ruinen aus dem siebten Jahrhundert v. Chr. gab. John interessierte sich besonders für einen großen Sarkophag. Er lief um ihn herum und guckte an verschiede­ nen Stellen in den Graben, der den großen Steinblock umgab. In Alikí befand sich außerdem ein antiker Marmorsteinbruch. John bewegte seine Hände über die Steine und befühlte sie genau. Wie aufmerksam er war! Wenn man ihn wild herumrennen sah, konnte

23 man leicht den Eindruck gewinnen, dass er gar nicht wirklich etwas um sich herum wahrnahm. Aber dieser Schein trog. Wenn man genau hinsah, wirkten seine Bewegungen doch gezielt, als verfolgten sie eine Absicht, auch wenn ich diese nicht richtig verstehen konnte. Wir waren ganz allein auf der Halbinsel und hatten Zeit. Ich ließ John herumlaufen, blieb wegen des gefährlichen Terrains aber immer an seiner Seite. Ich folgte einfach nur Johns Rhythmus. Zum Mittagessen hatte ich wieder ein Picknick mitgebracht. Der Himmel war so blau wie in den Reiseführern. Uns fehlte es an nichts. In der Pension gab es keinen Fernseher und kein Internet, der Lebens­ mittelladen des Dorfes führte nur Zeitungen auf Griechisch. Ich hatte keine Ahnung, was in der Welt passierte. Es war schön, kein Ziel zu haben, keine Termine, keine Verpflichtungen. In den folgenden Tagen wurde es zu unserer Routine, morgens früh aufzustehen, Brote mitzunehmen und bis zum Abend auf der Insel umherzustreifen, wir ließen uns einfach nur treiben. Auf dem Rückweg kauften wir im Lebensmittelladen ein, ich kochte in der Gemeinschaftsküche und abends gingen wir an den Strand.

Überall auf der Insel entdeckte John Brunnen und Wasserquellen, als ob er einen sechsten Sinn dafür hätte. Grundsätzlich überraschte mich das nicht so sehr, denn Wasser hatte ihn schon immer angezo­ gen, aber wie er die Quellen von weit weg ortete, war dennoch bemerkenswert. Im Ort Megálo Kazavíti stießen wir auf eine große, ausgehöhlte Platane. Das Loch in der Mitte war so groß, dass es den Baum in zwei Teile teilte. John interessierte sich sofort dafür und kletterte in

24 die Ausbuchtung. Er untersuchte das Innere des Baums, befühlte es mit den Händen, steckte seine Nase ganz dicht ans Holz, schnüffelte und tastete und schien glücklich versunken in seine Erkundung. Irgendwann kam er wieder heraus, lief um den Baum herum, befühlte dabei die Rinde und kletterte dann wieder in die Aushöhlung hinein. Es machte den Eindruck, als ob er die Ober­ flächen von Außen und Innen verglich. Ich fragte mich: Wie verarbeitete er all diese Eindrücke? War das eine rein körperliche Erfahrung? Unmittelbar, vergänglich und nur situationsbezogen? Das konnte eigentlich nicht sein. Ich hatte schon oft bemerkt, dass John ein gutes Gedächtnis für Orte hatte. Als er knapp zwei Jahre alt gewesen war, hatten wir meine Großmutter in Norddeutschland besucht. John hatte sich im Verlauf des Besuchs für die Gänse im Nachbarsgarten interessiert. Als wir mehrere Mo­ nate später wieder zu meiner Großmutter fuhren, war John aus dem Auto gesprungen, hatte sich noch nicht einmal zur Orientierung umgesehen und war sofort zielgerichtet zum Nachbarsgarten gelaufen. Er war daraufhin sehr unglücklich gewesen und ich war mir sicher, es kam daher, dass dort keine Gänse mehr waren. An vielen Kleinigkeiten konnte man bemerken, dass John ein gutes Gedächt­ nis und einen hervorragenden Orientierungssinn hatte. Aber wie erinnert man sich ohne Sprache? In ihrem Buch Denken in Bildern beschreibt die Autistin , dass sie visuell anstatt verbal denkt. Dies schien auf viele Autisten zuzutreffen. Wir hatten auch für John begonnen, Kommunikation zu visualisieren. Wir benutzten laminierte Bilder,

25 um ihm zu zeigen, was wir unternehmen oder wohin wir gehen wollten. Auch seine Frühfördergruppe arbeitete mit dem System PECS, einem Bildkartensystem, das in den achtziger Jahren in den USA von der Logopädin Lori Frost und dem Autismusforscher Dr. Andrew Bondy entwickelt worden war. Als ich Johns beeindruckende Interaktion mit der ausgehöhlten Platane beobachtete, fragte ich mich wieder, wie diese Art von non­ verbaler Erfahrung funktionierte. Sie schien so körperlich intensiv. Ich musste an Hugo von Hofmannsthals Reisebericht Augenblicke in Griechenland denken, in dem es so passend zu Johns Erfahrung hieß: »Unter diesem Licht ist ja wirklich das Geistige leiblicher und das Leibliche geistiger als irgend sonst auf der Welt.« Bei Säuglingen und Kleinkindern denken wir an eine vorsprachli­ che Phase, also dass sie noch keine Sprache beherrschen. Darin ist implizit schon eine spätere Phase mitgedacht, in der sie so werden, wie wir sind. John war dreieinhalb Jahre alt und es gab keine Anzeichen, dass er auf dem Weg einer solchen Entwicklung war. Seine Wahrnehmungsverarbeitung war nicht wirklich vorsprachlich, sie schien eher außersprachlich. Ludwig Wittgenstein hat gesagt: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.« Das hatte sich für mich immer richtig angehört, aber in Betrachtung von John schien das nicht mehr zuzutreffen. Wittgenstein hatte aber zumindest insoweit Recht, als ich Johns Erfahrung nicht verstehen konnte, weil sie jen­ seits der Sprache lag und ich durch die Grenzen der Sprache gebunden war.

26 Meine Gedanken kehrten zurück zu den Augenblicken in Griechenland. Zu Hofmannsthal überhaupt, immer wieder sein Kampf mit der Sprache. Im Brief des Lord Chandos an Francis Bacon beschrieb er im Verlust der Sprache »unerklärliche Zustände eines rätselhaften, wortlosen, schrankenlosen Entzückens.« Wie sehr seine Schilderungen doch auf Johns Erfahrungen mit der Platane passten.

Unser Blick auf den Autismus hat oft etwas Einseitiges. Wir verbin­ den Autismus sehr stark mit Introvertiertheit. Wir denken an das Für-Sich-Sein des Autisten, Autismus wird zumeist ins Innere ge­ deutet. Viele bekannte Klischees haben darin ihren Ursprung, zum Beispiel die verbreitete Vorstellung, Autisten seien in sich gefangen. Dabei ist der Autismus ein Syndrom, das sich auch klar nach Außen zeigt und von außen wahrnehmen lässt, wie das wortlose Entzücken, das ich bei John beobachtete. Es ist verständlich, dass der öffentliche Blick sich auf die inner­ lichen Aspekte des Autismus konzentriert. Sie sind in ihrer großen Bandbreite faszinierend: von bewundernswerten Inselbegabungen bis hin zur Tragödie eines abgekapselten Ich. Die äußerlichen und körperlichen Aspekte sind demgegenüber nicht so unmittelbar an­ sprechend. Wir verstehen nicht, was es soll, wenn Autisten mit den Händen flattern, an einer Baumrinde riechen oder unverständliche Laute von sich geben. Wenn wir uns aber derart aussuchen, welchen Aspekten wir Aufmerksamkeit schenken, versagen wir uns von Anfang an die Möglichkeit, ein ganzes Bild zu sehen. Die allgemeine Tendenz, sich übermäßig mit den inneren und zu wenig mit den

27 äußeren Aspekten des Autismus zu beschäftigen, konnte Autisten nicht gerecht werden. Das war mir auf Thassos zumindest schon einmal klar geworden.

Wir kehrten noch ein paar Mal zum Pferdehof zurück und John schaffte mit der Zeit den Umstieg vom Esel auf das Pferd. Zuerst saß ich gemeinsam mit John auf dem Pferd, am Ende ritt er ganz alleine, ohne Sattel, sich eine halbe Stunde im Trott perfekt balancierend. Eine erstaunliche Leistung, die wir zum großen Teil auch der geduldigen Pferdehofbesitzerin verdankten. Früher war John nicht gerne gelobt worden. Es war ihm irgend­ wie zu viel gewesen. Ich hatte auch beobachtet, dass er motorische Handlungen wie das Einschenken von Wasser in ein Glas besser machte, wenn er alleine war. Die bloße Präsenz einer anderen Person schien ihn so abzulenken, dass es seine Dyspraxie verstärkte. Diese Art von Befangenheit lockerte sich langsam. Auf dem Pferd reitend konnte er es gut aushalten, beobachtet zu werden (was alleine nötig war um aufzupassen, dass er nicht herunterfiel). Und als ich ihn am Ende lobte: »Das hast du sehr gut gemacht!«, lächelte John sogar. Er schien fast ein bisschen stolz und es war ebenso berührend wie ermutigend zu sehen, dass er mehr zu interagieren begann und sich dabei sogar wohl zu fühlen schien. Nach zehn Tagen verabschiedeten wir uns von den netten Menschen, die wir kennen gelernt hatten, gaben den Mietwagen zurück, reisten mit der Fähre und dem Bus zurück nach Thessaloniki, schliefen eine Nacht im selben Hotel wie bei der Ankunft und flogen zurück nach Berlin. Alles ohne Probleme.

28 Unser erster richtiger Urlaub war ein Erfolg. Ich war einfach nur Johns Hinweisen gefolgt, was ihm zu gefallen schien. Ohne Sprache war das nicht immer ganz leicht herauszufinden, aber alle Eltern mit Kindern, die noch nicht sprechen, kennen dieses Problem, dieses Herumraten: Hunger? Durst? Müdigkeit? Windelwechsel? Bei uns war es so ähnlich, nur eben vielfältiger und dauerhaft. Man kann grundsätzlich hinterfragen, wie gut sich zwei Menschen wirklich verstehen können, aber üblicherweise gibt es eine gemeinsame Basis, sobald man die gleiche Sprache spricht – Philosophie hin oder her. Unsere Sprachgewohnheiten basieren letztlich auf der impliziten Annahme, dass wir uns verstehen, oder zumindest der permanenten Möglichkeit dessen. Mit John fehlte uns dieses inhärente Fundament. Wir mussten Kommunikation anders aufbauen, dabei war aber eines klar: John kommunizierte. Auf unserer Reise waren mir Dinge aufgefallen, die ich im beschäftigten Alltag nicht beachtet hatte. Vor allem hatte mich die Intensität von Johns Erfahrungen beeindruckt. Es war ganz klar, dass sein Verhalten seine Sprache war. Er kommunizierte mit dem ganzen Körper und in ständiger Bewegung. Seine Selbstwahrnehmung und die Wahrnehmung der Welt funktionierten jenseits von verbaler Sprache. Dass ich das nicht richtig nachvollziehen konnte, war eine Tatsache, die ich erkannte hatte und akzeptierte. Eine der besten Entdeckungen auf Thassos war das Nichtstun. Uns durch den Tag treiben zu lassen und zufällige Entdeckungen zu machen, das könnten wir noch an vielen Orten tun.

29 2. Hiddensee – Elternsein

»Das Universum setzt sich für jeden Menschen neu zusammen, ganz nach seiner jeweiligen Liebe.« (Ralph Waldo Emerson)

Nach unserer erfolgreichen Reise suchten wir für die Herbstferien einen ähnlichen Ort, an dem John sich frei bewegen konnte. Dieses Mal zu Dritt. Wir kamen auf Hiddensee, weil die Insel autofrei ist. Wir fuhren nach Rügen, parkten unser Auto auf dem Langzeitpark­ platz in Schaprode und setzten mit der Fähre über. Im Ankunftsort Vitte lagen Kutter im Hafen, auf denen frischer Fisch verkauft wurde. Der Himmel war bedeckt, es wehte ein kräftiger Wind. Auf der Insel war es kühler als auf dem Festland, aber die Brise fühlte sich gut an. In einem Büro am Hafen erhielten wir die Schlüssel zu unserer Ferienwohnung. John trug noch Windeln und vor kurzem hatte er die im Ge­ schäft erhältlichen Größen überschritten. Seither bekamen wir von der Krankenkasse jeden Monat Windelkartons geliefert. Wir konnten also beim Reisen keine Windeln mehr vor Ort kaufen, sondern mussten den Vorrat für die ganze Reise mitnehmen. Zum Glück konnten wir uns am Hafen für unser Gepäck einen Hand­ wagen ausleihen. Die Ferienwohnung lag 20 Gehminuten vom Hafen entfernt im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses, an der Westküste der Insel.

30 Vom Balkon aus sahen wir auf einen Deich, dahinter hörten wir das Meer. John stand begeistert da, natürlich hörte der Wasserexperte sofort die aufschlagenden Wellen. Man konnte die Balkontür von innen nicht abschließen, sie hatte nur eine normale Türklinke. Was, wenn John mitten in der Nacht unbemerkt aufwachte und sich hinaus schlich? Da er kein Gefahrenbewusstsein hatte, würde er womöglich aus dem ersten Stock springen, um zum Wasser zu gelangen. Wir fanden eine einfa­ che Lösung. Nachts würden wir einen Rattanstuhl aus dem Wohnzimmer vor die Balkontür stellen und unser Gepäck darauf stapeln. Sollte John sich an diese Konstruktion machen, würden wir es auf jeden Fall hören. Als Erstes unternahmen wir einen Spaziergang am Strand. John rannte aufgeregt auf und ab, kam dem Wasser immer näher, irgend­ wann war er völlig durchnässt und wir kehrten in die Wohnung zurück. Vom ersten Moment an fühlte John sich auf Hiddensee wohl. Wir waren nur drei Stunden mit dem Auto gefahren und dann 45 Minuten mit der Fähre, und dennoch waren wir hier in einer anderen Welt. Wir hatten das hektische Berlin hinter uns gelassen, hier war die Atmosphäre viel langsamer und ruhiger. Wir konnten John einfach laufen lassen, ohne Angst haben zu müssen, dass er vor ein Auto lief. Und es gab hier nichts zu tun: vier kleine Dörfer und zum Erkunden ansonsten nur Sanddornbüsche, Heidelandschaft und Strände. Wir fanden einen Fahrradverleih und mieteten zwei Fahrräder, eines davon mit einem Kindersitz. Wir fuhren in den Norden der Insel, wo die Landschaft hügelig wurde. Der Pfad war zudem sehr

31 sandig, so mussten wir irgendwann unsere Räder abschließen und zu Fuß weitergehen. Wir schafften es bis zum bekannten Leucht­ turm der Insel, kletterten hinauf und genossen den Ausblick über die Ostsee. Scott hatte seine Gitarre mitgebracht und abends spielte er Beatles-Songs, die John besonders mochte. Wie viele autistische Kinder hatte John häufig einen gestörten Schlaf-Wach-Rhythmus, ging entweder sehr spät schlafen oder wachte mitten in der Nacht auf, teils für mehrere Stunden, in denen man natürlich dann auf ihn aufpassen musste. Wir wurden immer wieder aus dem Schlaf gerissen, diese Phasen waren für uns sehr anstrengend. Scott und ich teilten uns dann in Schichten ein. Wer die Nacht mit John über­ nommen hatte, durfte morgens noch einmal schlafen. Auf Hiddensee hatten wir diese Probleme nicht. Das Bewegen in der Natur, die Ruhe, die frische Luft, was auch immer es war, John schlief durch. So wurde der Urlaub tatsächlich für uns alle erholsam. Wir waren entspannter, als wir es seit Monaten gewesen waren.

Seit unserer Reise nach Griechenland hatte John sich insofern weiter entwickelt, als er nun hier und da ein paar Worte gesagt hatte. An einem Morgen hatte sich das Frühstück in der Frühfördergruppe um eine halbe Stunde verspätet. John hatte sich mitten in den Flur gestellt und laut gerufen: »Frühstück!« Ein schwieriges Wort, aber sein Bezugsbetreuer sagte, John habe es ganz laut und deutlich gesagt. Danach war monatelang wieder nichts gekommen, bis wir eines Morgens auf dem Gehweg vor unserem Haus standen und auf den Bus zur Frühfördergruppe

32 warteten. Der Bus kam nicht. Wir warteten und warteten. Da sagte John plötzlich: »Nein! Nein! Bus? Nein.« Die seltenen Sprachäußerungen schienen immer dann hervorzu­ brechen, wenn Johns Routine gestört wurde. Andererseits gab es auch viele Situationen, in denen etwas anders lief als geplant, und in denen John nicht sprach. Es war nicht leicht zu erklären. Im Fall des Busses hatte sich das Ganze noch verschlimmert, als ein ähnlicher Bus an uns vorbeigefahren war ohne anzuhalten. Ich hatte versucht, John zu erklären, dass es nicht unser Bus war, aber er verstand es nicht. Als unser Bus endlich kam, lag John um sich schlagend und sich heftig in den Arm beißend auf dem Gehweg. Ich hatte alle Hände voll damit zu tun gehabt, dass er dabei nicht auf die Straße rollte. Solche aggressiven Kontrollverluste passierten leider häufiger. An einem Sonntag spazieren zu gehen konnte zum Beispiel zu ei­ nem Fiasko werden, wenn wir an einer geschlossenen Apotheke vorbei kamen. John kannte das rote A ganz genau, er wusste: dort gab es Traubenzucker. Dass die Apotheke am Sonntag geschlossen war, verstand er aber nicht und es konnte zu einem großen Zusammenbruch führen. Wir mussten deshalb immer auf der Hut sein. Wir kannten John gut, konnten einige brenzlige Situationen voraussehen und rechtzeitig ablenken, doch wir versuchten auch, ihm dabei zu helfen, mit solchen Frustrationen umzugehen zu ler­ nen. Apotheken waren nun einmal sonntags geschlossen und wir konnten nicht dauerhaft sonntags jede Apotheke in Berlin umgehen. Überhaupt war es unmöglich, Krisen grundsätzlich zu vermeiden,

33 denn wir konnten nun einmal nicht alle Probleme voraussehen. Dafür war das Leben einfach zu unberechenbar. Es machte den Eindruck, als ob genau diese Unberechenbarkeit von John so empfunden wurde, als mache sie das ganze Leben un­ zuverlässig. Als könnte einem durch kleine, unerwartete Situationen gleich die ganze Welt abhanden kommen, so heftig löste John sich darin vor unseren Augen auf. Wir sagten auf Englisch dazu Meltdown, eine Art Kernschmelze, das schien passend. Auf Deutsch passte das Wort Zusammenbruch, denn auch das war es, was wir beobachteten: dass John völlig in sich zusammenbrach. Störungen in der Kontinuität – eine geschlossene Apotheke, ein verspäteter Bus – konnten ihn bis ins Mark erschüttern. Es deutete darauf hin, wie sehr er permanent einer Affirmation durch das Außen bedurfte, um sein Inneres zu stabilisieren. Es gibt Theorien, wonach die Wahrnehmung des Selbst beim Autismus eine zentrale Rolle spielt. Es könnte sein, dass jemandem mit einer starken autistischen Ausprägung das fehlt, was man als un­ sere fundamentale Sicherheit beschreiben könnte: das Gefühl eines eigenständigen Selbst. Oder aber dass das autistische Selbst sich zumindest in größerem Ausmaß durch das Außen stabilisieren muss. Wenn dem wirklich so sein sollte, schien es noch passender, dass der Begriff Autismus aus dem Griechischen autós, also Selbst entlehnt ist.

Johns aggressive Zusammenbrüche verursachten intensiven Stress für alle Beteiligten. Zum einen tat es einfach weh, Haare heraus­ gerissen zu bekommen oder gebissen zu werden. Auch wenn es

34 Johns Kampf war, wurden wir durch die Nähe zu ihm in diesen Kampf hineingezogen. Zum anderen fiel es mir in einer krisenhaften Situation schwer, schon im Moment des Geschehens eine Distanz aufzubauen, durch die ich Johns Verhalten als Organisation der Selbstwahrnehmung reflektieren könnte. Ich war emotional zu involviert. Scott gelang es kühler zu bleiben, selbst bei dramatischen Zusammenbrüchen, und er konnte diese Situationen darum auch mit weniger eigenem Stressempfinden unter Kontrolle bringen. Ein Teil des Problems schien zu sein, dass es John schwer fiel zu generalisieren, also bekannte Erfahrungen auf neue Situationen zu übertragen. Es fehlte ihm an der Fähigkeit, übergeordnete Zusammenhänge wahrzunehmen. Auch hatte John Schwierigkeiten, selbst seine Aufmerksamkeit zu steuern, von etwas abzulassen und sich etwas anderem zuzuwenden. Er spielte zum Beispiel gerne mit Kordeln und Bändern, drehte und schlackerte sie vergnügt in den Händen, aber er steigerte sich dann oft so sehr in diese stereotypen Handlungsabläufe hinein, dass er irgendwann daran verzweifelte und wütend wurde. John fand alleine einfach nicht den Punkt aufzuhören. Zuhause wie auch in der Frühfördergruppe versuchten wir, John durch größtmögliche Zuverlässigkeit die benötigte Sicherheit zu bieten. Wir nutzten dazu einen in den sechziger Jahren für Autisten und anderweitig kommunikationsgestörte Kinder entwickelten An­ satz des US-amerikanischen Psychologen , ein Programm namens TEACCH. Der Tag wurde dabei in eine Sequenz von Bildkarten unterteilt, die auf einer Leiste an der Wand

35 befestigt und über den Tag abgearbeitet, also heruntergenommen wurden. Damit wurden Abläufe effektiv, leicht zugänglich und in einem klaren Überblick visualisiert. Dies half John sowohl bei der Kommunikation als auch bei seiner Wahrnehmungsverarbeitung. Wir hatten durch TEACCH für John eine räumlich und zeitlich strukturierte Oberfläche geschaffen, dabei aber lebten wir als Eltern dennoch, paradoxerweise, in erheblicher Unsicherheit. Wir mussten in jedem Moment bereit sein zu reagieren. Kein Tag ließ sich voraussehen. Es galt jeden Tag aufs Neue, sich auf das einzulassen, was sich unvorhersehbar ergab. Ein widersprüchlicher Aspekt des Lebens mit Autismus: Jeder Mensch lebt zu einem gewissen Maß mit Routinen, aber gerade das Leben mit dem so sehr an Routine ausgerichteten Autismus erforderte von uns Eltern gerade das Gegenteil. Je schwerer Johns Autismus war, desto flexibler mussten wir sein.

Wir unterhielten uns über das Elternsein. Was bedeutete es für uns – und war es für uns anders als für andere? Klar war, das intensive Elternsein war für uns keine Übergangsphase. Als ich zuerst Mutter geworden war, hatte ich gedacht, dass die ersten Jahre mit einem Baby wohl anstrengend sein würden, aber dass sich das Leben langsam wieder normalisieren würde, wenn John aufwuchs, laufen und sprechen lernte, zum Kindergarten ging, Freunde hatte, irgendwann auch mal woanders übernachtete oder auf Ferienfreizeiten fuhr, also langsam sein eigenes Leben entwi­ ckelte. Die erste Intensität des Elternseins würde abnehmen und

36 uns auch wieder mehr Zeit für andere Interessen lassen. Das Leben würde wieder in einen ähnlichen Zustand zurückkehren wie zuvor. Doch John durchlief keine solche Entwicklung. Die Arztbriefe vom Neurologen bis zum Kinderpsychiater ließen keinen Zweifel an seiner Prognose. Es war höchst unwahrscheinlich, dass John je­ mals ein unabhängiges Leben führen könnte. Er würde sein ganzes Leben lang Pflege und intensive Hilfe benötigen. Unsere Verantwortung würde nicht nachlassen. Jedes Elternsein ist endlos. Doch unseres schien mir in seiner Endlosigkeit extremer. Es ängstigte mich nicht, solange wir uns um John kümmern konnten. Wir waren schließlich eng mit ihm verbunden. Aber wir dachten auch schon oft an die Zeit, in der wir nicht mehr da sein würden. John würde aller Wahrscheinlichkeit nach länger leben als wir. Also war es auch Teil unserer Verantwortung, ihn auf dieses Leben ohne uns vorzubereiten. Es reichte nicht, dass wir ihn gut umsorgten, er würde immer auch mit anderen Menschen zurechtkommen müssen. Wir hatten zwar hof­ fentlich noch viele Jahre Zeit, bis eine Trennung zur Realität wurde, aber die Sorge darum, was nach uns mit John geschehen würde, schlich sich schon jetzt immer wieder in unseren Kopf und unser Herz.

Je älter John wurde, umso mehr entfernte sich unser Leben davon, wie die Familien mit nichtbehinderten Kindern um uns herum lebten. Und je mehr wir auseinander drifteten, umso mehr neigte ich dazu, alle Erfahrungen damit in Verbindung zu bringen, ein schwer behindertes und chronisch krankes Kind zu haben. Dabei bestand

37 die Gefahr zu übersehen, dass Eltern von so genannten normalen Kindern viele ähnliche Erfahrungen machten und dass wir nicht in allem unterschiedlich waren. Einmal waren Scott und ich zu einem Konzert in die Berliner Philharmonie gegangen und ziemlich spät angekommen. Fast alle anderen saßen schon auf ihren Plätzen, aber in der Eingangshalle gingen wir an einer Frau vorbei und ich hörte im Vorbeigehen, dass sie leise ein Gutenachtlied ins Handy sang. Sie kam gerade noch rechtzeitig in den Saal, bevor die Türen geschlossen wurden. Ich sah, wie sie das ganze Konzert über das Handy im Schoß in der Hand hielt, und ich dachte mir: »Bestimmt auf Vibration gestellt, falls ein Anruf von Zuhause kommt.« In der Pause sah ich sie wieder telefonieren. Die nervöse Frau machte den Eindruck, als ob es ihr erster Abend ohne Kind war. Sie zu beobachten erinnerte mich an den Abend, als ich nach Johns Ge­ burt das erste Mal ausgegangen war. Ich war genauso gewesen wie sie. Auch ich hatte das Handy die ganze Zeit in der Hand gehalten. Das Ausgehen war eigentlich anstrengender gewesen als Zuhause zu bleiben. Aber ich hatte gewusst, dass ich lernen musste loszulassen. Wahrscheinlich ging es der Mutter in der Philharmonie in dem Moment ganz ähnlich. Es gab keinen Grund für die Annahme, dass sie etwa ein behindertes Kind hatte. Nein, Loslassen ist für alle Eltern eine Herausforderung. Ich wollte mich mit dem intensiven Elternsein nicht übermäßig identifizieren. Die Gefahr war da, denn die Wahrnehmung der Un­ terschiede war manchmal so stark. Also versuchte ich mich immer

38 wieder selbst daran zu erinnern, nicht mehr Differenz aufzubauen als nötig. Alle Eltern mussten mit anstrengenden Nächten zurecht­ kommen, mit Schlafentzug, mit dem Gefühl ständiger Verant­ wortung, mit dem Verlust von Unabhängigkeit. Dennoch genossen die meisten Eltern das Elternsein und empfanden eine tiefe Qualität darin, auch wenn es vielleicht schwer fiel, diese Qualität genau zu beschreiben. Warum macht uns etwas glücklich, das so viel von uns fordert? Liebe ist natürlich eine Antwort auf diese Frage. Mit einem schwer behinderten Kind schien mir die Vereinigung dieser paradoxen Gefühle einfach nur extremer. Wir erlebten größe­ re Verantwortung, mehr Schlafentzug, mehr Sorgen und mehr Einschränkungen unserer Freiheit, doch auch unser Elternsein genossen wir und fühlten eine tiefe Qualität darin. Eine zarte, aber große Kraft, in sich selbst ruhend und sich selbst genügend. Es hatte wohl auch etwas damit zu tun, die fundamentale Unsi­ cherheit und Unbegreiflichkeit des Lebens auf eine ganz neue Weise zu akzeptieren. Wir hatten sehr deutlich erfahren, dass sich das Leben nicht kontrollieren ließ, aber gleichzeitig hatte sich heraus­ gestellt, dass das viel weniger wichtig oder schlimm war als gedacht. Johns Probleme konnten uns zwar viele Sorgen bereiten, aber durch sie war unsere Einstellung zum Leben insgesamt sogar sorgloser geworden.

Als Mutter eines behinderten Kindes begegnete ich immer wieder bestimmten Narrativen. Vor allem der Mutter, die für ihr Kind

39 kämpft wie eine Löwin. Dieses Bild sprach mich nicht an. Die Kampfrhetorik gefiel mir ebenso wenig wie das Instinktbetonte eines Tiervergleichs. Ich hielt mich lieber an die Vernunft und auch wenn ich sicher alles tun würde, um mein Kind gut zu versorgen, so hatte ich dennoch vor, auch noch andere Interessen zu behalten. Nein, eine Löwenmutter wollte ich nicht sein. In einer eher spirituell ausgerichteten Ansprache wurde oft etwas gesagt wie: »Dein Sohn hat sich schon die richtige Familie ausgesucht.« Auch damit konnte ich nicht viel anfangen. Ich war nicht beson­ ders prädestiniert für diese Aufgabe. Es war einfach so, dass John mehrere Einschränkungen und gesundheitliche Probleme hatte. Epilepsie, Autismus, eine Stoffwechselstörung, eine geistige Behinderung. Für uns war es simpel. John war, wie er war, und so liebten wir ihn. Für Außenstehende jedoch konnte es anscheinend erstaunlich schwierig sein, ein Schicksal ohne weitere Erklärungsversuche zu akzeptieren. Vielleicht waren diese Zuweisungen aber auch nicht wirklich an mich gerichtet, sondern funktionierten eher als Selbstberuhigung der Außenstehenden. Und Vätern trug man solche Bilder viel weni­ ger an, was in mir den Verdacht nährte, dass diese Narrative – wenn auch unbewusst und gut gemeint – am Ende vielleicht dennoch am ehesten dazu dienten, die Mutter an ihre designierte Aufgabe zu binden. Mir gefiel die Rhetorik der Aufopferung jedenfalls ebenso wenig wie die des Kampfes. Ich wollte nicht bemitleidet werden und

40 genauso wenig wollte ich auf ein moralisches Podest gehoben wer­ den. Ich fragte mich, ob ich als Mutter eines behinderten Kindes mit der Zeit auch einen Platz jenseits dieser wiederkehrenden Stereotypien finden konnte.

An unserem letzten Tag auf Hiddensee fuhren wir mit den Fahrrä­ dern in das Dorf Kloster. Hier hatte Gerhart Hauptmann gewohnt und hier war er auf einem kleinen Friedhof begraben. Wir besuchten sein Haus, das heute ein Museum ist. Mit einem beein­ druckenden Weinkeller, wie sich herausstellte. In Kloster gab es nur eine unbefestigte Straße. Wir kamen an ei­ nem Café vorbei und entschieden uns hineinzugehen. An zwei Tischen saßen Gäste, ansonsten war das Lokal leer. Der Kellner, schätzungsweise etwa Mitte Zwanzig, war von Kopf bis Fuß in schwarz gekleidet und hatte schwarz gefärbte lange Haare, die am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Es lief Gothic-Musik, aber leise gestellt. Der Kellner brachte uns die Speisekarte. »Zwei Tassen Kaffee, ein Stück Apfelstrudel ohne Sahne und ein Glas Apfelsaft bitte«, bestellten wir. Der Kellner verschwand in der Küche, kehrte zurück und stand mit einem melancholischen Blick hinter der Bar. Aus der Küche kam eine Frau, etwa im selben Alter wie er, ebenfalls ganz in schwarz gekleidet und mit schwarz gefärbtem Haar, dazu ein Piercing an der Lippe. Sie sah aus, als hätte sie gerade geweint. Sie ging auf den Kellner zu und die beiden umarmten sich auf eine selt­ sam zögerliche Weise. Es sah aus wie der Abschied zweier

41 Menschen, die sich einmal sehr nahe gewesen waren und die nun getrennte Wege gingen. Den Blick auf den Boden gerichtet, verließ die Frau dann hastig das Lokal. Der Kellner sah ihr nach, stand für eine Weile still da, den Blick auf die Tür gerichtet, und sah dabei sehr traurig aus. Kein Wort war gesprochen worden, aber was für eine intensive Szene. Aus der Küche brachte jemand ein Stück Apfelstrudel. Der Kellner löffelte Sahne darauf. Dann stellte er die Kaffeemaschine an und bereitete etwas zu, das wie zwei Café Latte aussah. Schließlich füllte er noch ein Glas zu Dreiviertel mit Apfelsaft und gab ein Viertel Mineralwasser mit Kohlensäure dazu. Er brachte alles an unseren Tisch und sagte leise: »Bitte, Ihre Bestellungen.« Nachdem wir die berührende nonverbale Interaktion mit der jungen Frau beobachtet hatten, brachten wir es nicht übers Herz ihm zu sagen, dass nichts hiervon tatsächlich unserer Bestellung ent­ sprach. Wir tranken also Café Latte anstatt normalen Kaffee und teilten uns den Strudel mit der Sahne, die John nicht mochte. Auch seine Apfelschorle rührte John nicht an, da er in einer Phase war, in der er nichts Kohlensäurehaltiges trank. Aber er regte sich gar nicht darüber auf, dass dieses falsche Glas auf dem Tisch stand. Selbst John war in verzeihlicher Stimmung. Am Ende unserer Inselwoche nahmen wir die Fähre zurück zu unserem Auto in Schaprode. Die Straßen waren leer und Scott ge­ noss es, in Deutschland auf der Autobahn schnell fahren zu dürfen. Downhill Autobahning, nannte er es. John saß dabei vergnügt hinten auf der Rückbank, die Arme angewinkelt am Körper, vor und zurück rudernd, mit vollem Oberkörpereinsatz. Johns signature dance,

42 sein rudernder Sitztanz in glücklichster Ausprägung. Beide Männer fuhren gerne schnell und ich war wohl die einzige im Auto, die froh war, als wir unversehrt wieder in Berlin ankamen.

43 3. Rhodos – Epilepsie

»Reisen sollte nur ein Mensch, der sich ständig überraschen lassen will.« (Oskar Maria Graf)

Für die folgenden Weihnachtsferien fanden wir ein Ferienhaus in Lindos auf Rhodos. Als wir dem Besitzer zum Buchen eine E-Mail schickten, schrieb er zurück: »Ich möchte nur sichergehen, dass Sie das wissen: Lindos ist im Winter ganz anders als im Sommer!« Das war sehr nett von ihm, tatsächlich war es aber genau der Grund, weshalb wir lieber im Januar kommen wollten. Wir hatten gehört, dass es auf Rhodos im Winter sehr wenige Besucher gab. Wir verließen Berlin am kalten und feuchten Neujahrsmorgen und flogen nach Athen, wo wir zwischenübernachten mussten, be­ vor wir am nächsten Morgen einen kleinen Zubringerflug nach Rhodos nehmen konnten. Der Flug nach Athen dauerte etwa vier Stunden und John war viel unruhiger und ungeduldiger als noch zehn Monate zuvor auf dem Weg nach Thessaloniki. Mit den Füßen trat er den Sitz vor sich, was dem Mann, der darin saß, verständli­ cherweise gar nicht gefiel. Wir mussten John fast vier Stunden lang die Beine halten, ihn abzulenken versuchen, und zudem war er auch noch ziemlich laut.

44 Wir fragten uns, ob wir jemals wieder mit ihm in die USA fliegen könnten. John war erst vier Jahre alt und schon jetzt wurde das Fliegen mit ihm immer schwieriger. Scotts Familie – Johns Großeltern, eine Tante, zwei Onkel und eine stetig wachsende Zahl von Cousinen und Cousins – lebten in Vororten rund um Chicago. So war es eine traurige Aussicht, dass wir einen Flug nach Chicago wahrscheinlich nicht mehr würden unternehmen können.

In Athen hatten wir ein Hotel in der Nähe des Flughafens gebucht. Wir dachten, dass mit der Ankunft dort der schwierigste Teil der Reise überstanden war, doch am nächsten Morgen hatten wir am Inlandsterminal Kommunikationsprobleme. Das Sicherheits­ personal sprach ausschließlich Griechisch. An der Kontrolle wollten wir es so wie immer machen: Ich würde zuerst durch den Scanner gehen, Scott würde mit John warten, und nachdem ich fertig war, würde er mir John durchschicken. Ein Angestellter drängte Scott aber, mir John direkt hinterher zu schicken, schon während ich noch abgetastet wurde. Scott versuchte, ihm unseren Plan zu erklären, scheiterte aber an der Sprachbarriere. Der Mann schüttelte nur den Kopf und zeigte ungeduldig vorwärts. Scott versuchte es noch einmal: »Unser Sohn ist Autist, behin­ dert. Er kann nicht sprechen und versteht vieles nicht. Er wird wegrennen!« Der Angestellte war nun richtig verärgert. Er sprach aufgeregt auf Griechisch und gestikulierte wild. Das wiederum machte John nervös, der anfing zu schreien und sich in die Hand zu beißen.

45 Auf der anderen Seite dachte ich gerade, dass ich fertig war. Ich drehte mich also zu den Dreien um und hoffte, dass wir John nun schnell durch den Scanner schicken und beruhigen konnten. Die Angestellte, die mich abgetastet hatte, tippte mir aber auf die Schul­ ter und bedeutete, dass sie noch meine Schuhe scannen wollte. Genau in dem Moment, als ich mich wieder zu ihr umdrehte, schickte Scott John hindurch und ich sah es nicht, weil ich ihnen schon den Rücken zugewandt hatte. Ich hörte Scott nur rufen: »Monika, er kommt!« Im selben Moment schon merkte ich, wie John an mir vorbei rannte und ich lief hinterher. John bog nach links in einen Flur ab. Ich hörte die Angestellten hinter mir laut rufen, aber ich rannte weiter. Wenn John erst einmal außer Sicht wäre, wie würden wir ihn dann wiederfinden? Ich musste ihn erreichen, rief laut seinen Namen und: »Stopp!« John hörte mich und hielt tatsächlich an. Als ich ihn erreichte, standen auch schon zwei wütende Angestellte hinter mir. Wir gin­ gen zusammen zurück zur Sicherheitskontrolle, wo in der Zwi­ schenzeit mehrere weitere Männer aufgetaucht waren, von denen einer nun zum Glück auch Englisch sprach. Wir erklärten genau, was passiert war und wurden nach einer Weile endlich durchge­ lassen. Der Sicherheitsangestellte, durch dessen forsche Ungeduld die Situation überhaupt erst entstanden war, sah sehr erleichtert aus, dass wir nun endlich gingen. Scott und ich stritten uns am Gate noch kurz: »Warum hast du ihn denn so schnell durchgeschickt?« »Warum hast du ihn denn einfach vorbeilaufen lassen?«

46 Aber wir wussten beide, dass es niemandes Schuld war. Lost in translation. Die Angestellten hatten unsere Bedürfnisse einfach über­ haupt nicht verstanden. Und weil wir beide durch den Sicherheitsscanner voneinander getrennt waren, hatten wir keine Chance gehabt, uns gut abzustimmen, als der eine Angestellte plötz­ lich so einen Druck ausübte. Wir saßen dann einfach nur noch still da, erschöpft. Im Flugzeug angekommen merkten wir, dass außer uns nur noch drei andere Personen mitflogen. Es war das erste Mal, dass John in einem Propellerflugzeug saß. Der Flug war, ganz im Gegensatz zum Vortag, leicht und problemlos. Der Stress legte sich. Wir flogen in niedriger Höhe über die Ägäis, John sah die ganze Zeit gebannt aus dem Fenster und freute sich über das Meer. Als wir uns Rhodos näherten, sah er verzückt auf die weißen Häuser, den blauen Himmel und das türkisblaue Wasser. Wirklich, was für satte Farben.

An der Autovermietung erwartete uns die nächste Überraschung. Sie akzeptierte nur europäische Führerscheine. Scott benutzte noch seinen internationalen Ausweis, also würde nur ich fahren können. Lindos lag etwa 50 km vom Flughafen entfernt. Wir fuhren durch eine raue und hügelige Landschaft und kamen auf einem öffentlichen Parkplatz an, der oberhalb von Lindos lag. Wir wussten, dass wir hier parken mussten. Der alte Ortskern war wegen seiner engen Gassen eine autofreie Zone. Wir hatten mitten im Ort ein Haus im Stil des 18. Jahrhunderts gemietet. Da wir mit dem Be­ sitzer eine Zeit ausgemacht hatten, wusste er um unsere Ankunft und wartete mit ein paar anderen Ortsansässigen und Eseln auf dem

47 Parkplatz, um unser Gepäck zum Haus zu transportieren. Der zahlreiche Empfang deutete unmissverständlich darauf hin, dass hier im Januar wohl noch nicht einmal Nebensaison war. Auf dem Weg hinunter nach Lindos waren wir beeindruckt von den weißen Häusern am Fuß der Akropolis. Die Festungsruine lag hoch auf einem Felsen. Man merkte gleich, dass sie im Verlauf der Geschichte für Griechen, Römer und Osmanen ein idealer Ort zur Verteidigung gewesen war. Von unserem Ferienhaus sah man von außen nur ein großes Tor. Dahinter aber lag ein mit Mosaikfliesen dekorierter Innenhof, um den herum die Zimmer verteilt waren. Wollte man vom Schlaf­ zimmer ins Wohnzimmer, musste man durch den Hof gehen. Das Zentrum des Hauses lag so tatsächlich im Freien. Die Zimmer waren schlicht eingerichtet und die betagte Küche mit altem Ge­ schirr ausgestattet. Es war wie eine Zeitreise, das Haus hätte vor fünfzig oder sechzig Jahren genauso aussehen können. Als Erstes machten wir einen Spaziergang durch das Dorf. John interessierte sich besonders für die engen, verwinkelten Gassen. Die meisten Geschäfte, Tavernen und Bars waren geschlossen. Die Fensterläden der Souvenirläden waren fest verriegelt und machten den Eindruck, als ob sie schon länger nicht geöffnet worden waren. Überall streunten Katzen herum, es mussten Dutzende sein, man schien sie auf jeder Treppe und auf jedem Dach zu sehen. Wie schon auf Thassos, fand John sofort mehrere Brunnen und Quellen. Irgendwann entdeckten wir auch einen kleinen geöffneten Lebensmittelladen und konnten einkaufen.

48 Am ersten Morgen in Lindos stiegen wir den steilen Fußweg hinauf zur Akropolis. Anfangs war John enthusiastisch, aber nach etwa der Hälfte des Weges streikte er und Scott setzte sich John auf die Schultern. Am Eingang befand sich eine mit Zypressen gesäumte Terrasse. Die Burgruine bot einen herrlichen Ausblick auf die Bucht unter uns. Steile Stufen führten weiter hinauf zu einem Säulengang und einem teilweise rekonstruierten Athenetempel aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. John kletterte herum und wir besahen uns die Ruinen.

Abends gingen wir zuerst auf einen Spielplatz und dann zum Strand. Auf dem Weg kamen wir an einer geöffneten Bar voll von Männern vorbei. Eine Frau kam um die Ecke und holte ihren Mann heraus, wie es aussah. Später sahen wir eine ähnliche Szene erneut, ebenso am folgenden Abend. In unserem Lebensmittelladen erzählte die Verkäuferin, dass man auf den sechsten Januar wartete. In der griechisch-orthodoxen Kirche der Tag der Epiphanie, an dem die Taufe Christi gefeiert wurde. In den Tagen zuvor sollten die Männer eigentlich nicht in die Bar gehen, deshalb holten die Frauen sie heraus. Am Tag der Epiphanie würde es eine Prozession hinunter zur Bucht geben, zur so genannten Segnung des Wassers. Auf Thassos hatte ich an Karfreitag zum ersten Mal eine orthodoxe Messe besucht. Die Pensionsbesitzerin hatte mir erklärt, dass ein Gottesdienst mehrere Stunden dauerte und die Menschen einfach rein- und rausgingen. So hatte ich John im Buggy für eine Weile hineingeschoben und die Gesänge hatten ihm augenscheinlich gefallen. Draußen hatten viele Dorfbewohner in Grüppchen

49 gestanden, sich unterhaltend und lachend. Das war eine interessante Erfahrung, ganz anders als eine katholische oder evangelische Messe, wie ich sie aus Deutschland kannte. Am sechsten Januar sahen wir uns die Prozession von weitem an, um niemanden zu stören. Der Pfarrer war ganz in schwarz ge­ kleidet. Gefolgt von einer großen Gruppe fein angezogener Männer und Frauen ging er hinunter zur Bucht und auf einen Landungssteg, der ins Meer ragte. Inmitten der feierlichen Gruppe bemerkten wir ein paar Teenager, die nur bunte Badehosen trugen. Ein merkwürdiges Bild. Der Pfarrer betete und segnete ein dekoriertes Kreuz, das er dann plötzlich ins Wasser warf. Die Teenager in den Badehosen sprangen hinterher und als einer von ihnen mit dem Kreuz in der Hand wieder auftauchte, klatschte die ganze Gruppe. Die Szene war uns fremd, vielleicht ähnlich fremd wie vielen Dorfbewohnern Johns Verhalten scheinen mochte, wie wir bei un­ seren Spaziergängen durch den Ort an verschiedenen irritierten Blicken bemerkt hatten. Es erinnerte mich daran, wie wenig mir die gängige Redewendung gefiel, dass Autisten in ihrer eigenen Welt leben. Wenn man es schon so formulieren wollte, dann lebten wir doch letztlich alle in einer eigenen Welt. Wer sich zum Beispiel unsere Bräuche von außen ansah, empfand sie wahrscheinlich meistens als merkwürdig und fremd.

Am folgenden Morgen zeigte sich die Stadt hinter dem Haustor völlig verändert. Die Gassen waren voll von Menschen, alle Ge­ schäfte waren geöffnet. Wir hatten uns daran gewöhnt, dass es hier ziemlich still war, die einzigen Geräusche kamen normalerweise von

50 den sich nähernden und entfernenden Motorrollern der Dorfbewohner. Nun hatte sich die Atmosphäre rasant verändert. Wir fragten in unserem Lebensmittelladen nach und hörten, dass ein Kreuzfahrtschiff für einen Tagesausflug angelegt hatte. Hunderte von Touristen würden den Tag hier verbringen. Wir kamen an einem Zeitungsständer vorbei und sahen seit un­ serer Ankunft das erste Mal Zeitungen auf Englisch. Die Schlagzei­ len befassten sich mit dem Tsunami, der kurz vor unserer Abreise im Indischen Ozean so viele Menschen getötet hatte. Das Ausmaß war bei unserer Abreise allerdings noch längst nicht so klar gewesen, wie wir es nun sahen. Wir hatten tagelang keine Nachrichten gehört, waren schockiert, kauften sofort ein paar Zeitungen und gingen zurück zum Haus. Es war uns zur Gewohnheit geworden, in der Küche zu sitzen, denn das Haus hatte keine Heizung und es war trotz blauem Himmel und Sonnenschein recht frisch. Der Hausbesitzer hatte uns zwar einen kleinen Elektroheizer gegeben, aber das Wohnzimmer mit den hohen Decken konnte dieser nicht wärmen. Also saßen wir mit dem Heizer in der kleineren Küche und lasen die Zeitungen. John saß neben mir, er kaute an einem Butterbrot. Plötzlich fiel mir aus dem Augenwinkel auf, dass er für einen kurzen Moment wie eingefroren dasaß. Ich sah ihn an, seine Augen waren glasig. Sein Kopf bewegte sich in einer Nickbewegung zum Brustkorb. Das Ganze war ein flüchtiger Moment, zusammen vielleicht nur zwei Se­ kunden lang, und doch kam es mir viel länger vor. Für mich geschah das Ganze wie in Zeitlupe.

51 Das Wissen darum, was hier passierte, schien mehr in meinem Körper zu sein als in meinem Geist. Ich fühlte es in mir, wie es wuchs und sich durch meinen Körper bewegte. Es drehte meinen Magen, es traf meine Lungen, als ob es ihnen die Luft entziehen wollte, es bildete einen Kloß in meinem Hals, dann erst flutete es meinen Kopf. Ich hatte gerade den ersten epileptischen Anfall seit über einem Jahr gesehen. Binnen weniger Sekunden war alles wieder da, es kam mir vor wie dieser Schnelldurchlauf des Lebens, von dem oft nach Nahtoderfahrungen berichtet wird. All die EEGs, die Medikamente, die Ärzte, die Krankenhausbetten, die Krampfanfälle, Tag und Nacht. Ein Schnelldurchlauf, der in völligem Gegensatz zu der Zeit­ lupe stand, in der ich den kurzen Anfall wahrnahm. Alles zusammen traf mich wie ein Schlag. Die Zeitlupe des Geschehens, die körperliche Reaktion der Erinnerung, der Schnell­ durchlauf der Erfahrungen. John schien es aber gut zu gehen. Er aß weiter, als ob nichts gewesen wäre. Ich hoffte, dass es sich hier um eine einzelne Episode handeln könnte, oder dass ich sie mir vielleicht sogar nur eingebildet hatte. Kurze Zeit später geschah es aber noch einmal, mit einer stärker wahrnehmbaren Bewegung und einem schnelleren Kopfnicken. Am Abend kehrte auch die Armbewegung in den Anfall zurück, zuerst langsam, dann schneller, eine Bewegung, die wie eine Umarmung ins Leere aussah, eine fast elegante Verbeugung. Die Krampfanfälle bauten sich wieder genauso auf, wie es früher im Alter von anderthalb Jahren angefangen hatte: zuerst waren sie

52 kaum merklich und wurden dann immer ausgeprägter. Wir hatten die Epilepsie überwunden und nun war sie zurückgekommen. Wir hatten immer gewusst, dass dies passieren könnte, und dass es nach Johns Krankheitsverlauf sogar sehr wahrscheinlich war, aber als es geschah, war es dennoch ein Schock. Und die Anfälle waren binnen eines Tages wieder so stark geworden, dass John tiefe Augenringe hatte und völlig geschafft aussah. Für mich lag ein großer Unterschied in der Wahrnehmung der Epilepsie im Gegensatz zum Autismus. Der Autismus schien mir eng mit Johns Persönlichkeit verknüpft. Auch wenn er viele Heraus­ forderungen mit sich brachte, schien John damit dennoch grundsätzlich ein glückliches Kind zu sein. Die Epilepsie dagegen ließ ihn desorientiert und tief erschöpft zurück. Sie zog eine un­ glaubliche Energie aus John heraus. Autismus und Epilepsie führten beide zu Schwierigkeiten, aber der Autismus war Johns Art, in der Welt zu sein, während die Epilepsie sein In-der-Welt-Sein nur behinderte.

In der 20. Schwangerschaftswoche hatte meine Frauenärztin in den USA beim Ultraschall eine so genannte Plexuszyste an Johns Gehirn entdeckt. Sie hatte mir erklärt: »Das passiert manchmal, in den allermeisten Fällen hat es nichts zu bedeuten. Die Zyste löst sich auf und beim Ultraschall in der 30. Woche werden wir dann schon nichts mehr sehen. Nur in ganz seltenen Fällen ist so eine Zyste mit einem Chromosomenfehler verbunden, der Trisomie 18. Aber da machen

53 Sie sich mal keine Sorgen, das ist nur bei einem von 3.000 Babys der Fall.« Zuhause war ich natürlich sofort ins Internet gegangen, um mir die schlimmsten Szenarien anzusehen. Auch wenn es im Jahr 2000 bei weitem noch nicht so viele Informationen im Internet gegeben hatte wie heute, hatte ich doch einiges gefunden. Ich las, dass die meisten Babys mit Trisomie 18 noch vor der Geburt starben. Wenn Sie überlebten, hatten sie erhebliche Organprobleme und eine ver­ kürzte Lebenserwartung. Wir wohnten zu dieser Zeit in einem Vorort von Chicago. Ich hatte meine Jacke angezogen und war spazieren gegangen, um herauszufinden, was diese Zyste für mich bedeutete. Höchstwahr­ scheinlich war es gar nichts, aber was, wenn doch? Würde mein Sohn lebend zur Welt kommen? Wie lange würde er leben können? Ein Jahr oder nur ein paar Monate? Mehr als alles andere fühlte ich die Hoffnung, dass ich mein Kind wenigstens lebend würde sehen können, selbst wenn es nur für ein paar Stunden sein sollte. Interessanterweise beschäftigte mich die Möglichkeit eines solchen Chromosomenfehlers nur in Bezug auf die Frage, wie viel Zeit wir gemeinsam haben würden. Ich war mehr als eine Stunde spazieren gegangen und als ich in unsere Wohnung zurückkam, war mir bewusst, dass die Liebe zu meinem Sohn bedingungslos ist. Es war egal, ob er behindert, krank, gesund und/oder normal sein würde, oder in welchen Kategorien wir auch immer zu denken neigten. Diese Kategorien bedeuteten mir nichts, oder besser: sie spielten in der Liebe zu meinem Kind keine Rolle. Es war ein ganz außergewöhnliches Gefühl gewesen, ein großer Moment. Ich hatte

54 keine Angst mehr gehabt und war nicht mehr beunruhigt gewesen. Ganz im Gegenteil, ich hatte mich richtiggehend befreit gefühlt. Man konnte es natürlich so wahrnehmen, dass meine Reaktion ziemlich einseitig und auch egoistisch gewesen ist: Ich wollte mein Kind unbedingt kennen lernen und dabei hatte ich zum Beispiel kaum an das potentielle Leiden gedacht oder an die Schmerzen, die mit einer Trisomie 18 verbunden sein könnten. Und vielleicht war meine intuitive Reaktion vor allem auch ein Weg gewesen, mich mit der Möglichkeit einer extremen Diagnose psychologisch vergleichs­ weise schadensfrei auseinander zu setzen. Als ich von der Frauenärztin nach Hause gefahren war, hatte ich mir noch gedacht, dass es zehn lange Wochen sein würden, bis uns der nächste Ultraschall Gewissheit gäbe. Durch meine Reaktion musste ich mich in diesen zehn Wochen aber gar nicht so sehr darum sorgen. Es ließe sich sicher vieles an meinem Erlebnis relativieren, dennoch: Als John die Epilepsie entwickelt hatte und auch später wieder, als er mit Autismus diagnostiziert worden war, erlebte ich nicht so große Gefühle des Verlustes, wie ich sie oft von anderen Eltern be­ schrieben hörte. Noch bevor John geboren worden war, hatten die Zyste und mein Spaziergang dauerhaft ein bejahendes Gefühl gegenüber Krankheit und Behinderung angelegt. In der 30. Schwangerschaftswoche hatte sich dann gezeigt, dass sich die Zyste wie erwartet aufgelöst hatte. So viel wir wussten, hatte das alles auch nichts mit Johns verschiedenen Krankheiten und Be­ hinderungen zu tun. Aber ich dachte nun bei der Rückkehr der Epilepsie daran zurück. Egal, was passierte, wusste ich doch immer, dass ich vor allem dankbar war, dass wir zusammen leben konnten.

55 Es gab keine offensichtliche Erklärung für die Rückkehr der Epilep­ sie. John hatte einen zufriedenen und fitten Eindruck gemacht. Wir überlegten, ob uns irgendetwas Besonderes in den Sinn kam, aber nichts. Vielleicht hatte es etwas mit Johns Stoffwechsel zu tun? Es war wie immer ein sinnloses Rätseln. Wenn sämtliche Experten schon keinen Rat wussten, wie sollten wir es dann erklären oder verstehen können? Wir waren auf einer Insel weit weg von Zuhause, wir konnten hier nicht einfach ein EEG machen lassen. Vielleicht in Rhodos- Stadt. Aber Johns EEGs waren immer abnormal gewesen, selbst im anfallsfreien Zustand. Sie gaben keinen Aufschluss über Ursache, Lokalisation oder Heilungsmöglichkeiten. Johns Epilepsie war generalisiert und therapieresistent. Ein neues EEG würde uns wahr­ scheinlich sowieso nichts nützen. Wir dachten kurz darüber nach, den Urlaub abzubrechen, entschieden uns aber dagegen. Wir hatten Johns Notfallmedikament dabei und daneben gab es nichts, was man wirklich tun konnte – wo auch immer wir waren. Nach einem Krampfanfall musste John schlafen, um wieder zu Kräften zu kommen. Ich saß neben ihm und sah ihn an, sah seine eingefallenen Augen, sah unseren verletzlichen kleinen Jungen, den wir nicht beschützen konnten. Das Gefühl der Hilflosigkeit war schwer zu ertragen. Ausgerechnet Machtlosigkeit ist merkwürdiger­ weise eines der mächtigsten Gefühle. Mit der alten Traurigkeit kam aber auch das mittlerweile ebenso gut bekannte Vertrauen zurück, diese Hilflosigkeit aushalten zu können. Zwei Jahre Epilepsie-Erfahrung hatten uns gelehrt, dass

56 wir schon zurechtkommen würden. Wir hatten das früher geschafft, wir würden es auch jetzt wieder schaffen.

Unseren ersten Ausflug nach der Rückkehr der Epilepsie unter­ nahmen wir nach Rhodos-Stadt, ganz im Norden der Insel, um dort das Krankenhaus zu suchen und uns für den Notfall den Weg dort­ hin einzuprägen. Und da wir schon einmal in der Stadt waren, beschlossen wir, die Altstadt zu erkunden. Wir fanden einen Parkplatz und betraten durch das Eleftherias- Tor das Ritterviertel. Als Erstes stießen wir auf die Ruinen eines dorischen Aphrodite-Tempels aus dem dritten Jahrhundert v. Chr., es waren nur noch ein paar Sockel zu sehen. Mitten darin hatte John seinen nächsten Krampfanfall. So saßen wir bei wunderbarem Wet­ ter in der Tempelruine, die der Göttin der Liebe geweiht war, unterhalb des imposanten Palastes der Kreuzritter, und warteten darauf, dass John im Buggy von seinem Schlaf nach dem Anfall aufwachte. The Knight Family, solche Ritter waren wir. Als John wieder aufgewacht war, gingen wir weiter, vorbei an Palästen, Kirchen, Moscheen und einer Synagoge. John saß ganz ru­ hig in seinem Buggy. Er hatte nach dem Anfall zwar weniger Energie, aber schien zufrieden, sah sich die ganze Zeit um und die Stadt schien ihm zu gefallen. Es war beeindruckend zu sehen, wie stark John war, wie schnell er sich erholte und schon wieder lachen konnte. Von unserem vierjährigen Jungen konnten wir lernen. Auch wir gewöhnten uns langsam an die Tatsache, dass die Epilepsie in unser Leben zurückgekehrt war.

57 In den Gassen der Altstadt fanden wir eine Taverne zum Mittagessen und am frühen Nachmittag fuhren wir entlang der Westküste in Richtung Süden. Wir sahen uns das Kloster Moni Skiadi an und fuhren von dort aus weiter in das Landesinnere zu einem der typischen abgelegenen Bergdörfer, Mesanagros, im Süden der Koukouliari-Berge. Wir spazierten durch das Dorf und wollten dann weiter Richtung Süden fahren, zu einem anderen Dorf namens Kattavia. Auf der Karte schätzten wir die Entfernung auf etwa 13 km, doch bald half uns die Karte nicht mehr weiter. Vor uns gabelte sich der Weg, wo es auf der Karte gar keine Gabelung gab. Welchen Weg sollten wir nehmen? In diesem Fall nahmen wir lieber den, der befahrener und breiter aussah. Bald führte dieser aber immer steiler bergauf, ob das richtig war? Bevor wir es richtig bemerkten, war der Weg so eng geworden, dass man darauf nicht mehr umdrehen konnte. Auf der einen Seite wurde der Weg durch den Berg begrenzt, der steil anstieg, und auf der anderen ging es steil bergab. Ich wollte ungern in diesem engen Korridor rückwärts fahren, also beschlossen wir, weiterzufahren und nach einer Wende­ stelle zu suchen. Und irgendwohin würde der Weg schon führen. Die Landschaft war sehr schön und es machte uns zunächst nicht viel aus, dass wir uns verirrt hatten. Uns kamen Schafe entge­ gen und wir sahen eine Hütte, die allerdings vom Weg aus nur zu Fuß erreichbar war. Irgendwann lag immer mehr Geröll auf dem Weg, wir mussten aussteigen und den Weg freiräumen, und kurze Zeit später löste sich der Weg einfach auf. Nein, er führte nicht zu einer Wendestelle und nein, er führte auch sonst nirgendwo hin.

58 Jetzt gab es keine andere Möglichkeit mehr, als den ganzen Weg rückwärts zu fahren. Scott meinte, dass es ihm nichts ausmachen würde, also ließ ich lieber ihn ans Steuer. Im Beifahrersitz sah ich noch deutlicher, wie phantastisch die Aussicht war, aber ich hatte dafür in diesem Mo­ ment wenig Sinn. Als wir wieder an der Hütte und den Schafen vorbeikamen, fühlte ich mich langsam besser. Bald hätten wir es geschafft. An der Gabelung schlugen wir den anderen Weg ein und ich wechselte zurück ans Steuer. Ohne weitere Probleme erreichten wir Kattavia, wo John ein großes Eis bekam, während wir den Kellner des Cafés nach den Straßen fragten. Er sagte: »Nein, also der andere Weg ist eigentlich nur für Geländefahrzeuge geeignet.« Scotts Einwurf: »Aber da stand nirgendwo ein Schild!«, quittierte er achselzuckend. Wir hatten Glück gehabt, dass wir mit unserem Mietwagen ohne Schaden zurückgekommen waren.

Mittlerweile war es Spätnachmittag, aber da wir schon so weit im Süden waren, beschlossen wir, bis ganz an die Südspitze der Insel zu fahren. Je näher wir kamen, umso mehr sah die Landschaft aus wie eine Wüste. Der Weg führte kilometerlang durch Sanddünen, dann öffnete er sich plötzlich und wir gelangten zu einer Halbinsel, die zu beiden Seiten von malerischen Buchten umgeben war. Von der einen Seite wehte ein heftiger Wind und die Wellen peitschten an Land, auf der anderen Seite war das Wasser ganz ruhig und sah fast aus wie eine Glasfläche. Ein wirklich beeindruckender Gegensatz und dazwischen lag, wohl einen halben Kilometer breit, der Strand

59 Prasonisi. Außer uns war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. John war früher sehr empfindlich gegenüber Wind gewesen, er hatte viele Ohrenprobleme gehabt, und die Empfindlichkeit hatte sich erst gelegt, als die zum Schutz vor Entzündungen gelegten Paukenröhrchen wieder herausgefallen waren. Ich wusste zwar, dass John Wind seither besser ertrug, war aber etwas ängstlich, ob dieses Szenario vielleicht zu viel für ihn sein könnte. Der Wind war zudem sehr laut und John ja auch geräuschempfindlich. Doch er schien sich überhaupt nicht an Wind oder Lautstärke zu stören. Seine Haare waren binnen Sekunden zerzaust und er lachte ausgelassen. Wie auch wir schien er absolut bezaubert von dieser Sandbank und der Halbinsel. Rhodos war fast 80 km lang und wir hatten diese Länge an ei­ nem einzigen Tag durchfahren, vom frühen Morgen in der Haupt­ stadt im Norden über das Verirren in den Bergen im Landesinneren bis hin zur Südspitze, wo wir nun vor der Kulisse eines verlassenen und absolut atemberaubenden Strandes den Sonnenuntergang erlebten. Im Auto auf dem Weg zurück nach Lindos hörten wir Sting, All This Time. Solange man nicht daran dachte, an welchem Tag das Album aufgenommen worden war, schien es genau die richtige zarte Musik für diesen Abend. Es war dunkel geworden, hier und da sa­ hen wir die Lichter von entfernten Dörfern und die Ostküste brachte uns zurück zu unserem Ferienhaus.

60 In Berlin vereinbarten wir sofort einen Termin beim Neurologen, wurden ins Krankenhaus eingewiesen, machten einen erfolglosen EEG-Versuch, weil es viel zu hektisch zuging und John deshalb nicht kooperierte, wurden dann ins Epilepsiezentrum überwiesen, wo wir erfolgreich ein 24-Stunden-EEG erhielten, das aber wie er­ wartet keine neuen Erkenntnisse brachte. Wieder wurden verschiedene Medikamente gegeben, die wieder nicht wirkten. Die Spezialisten wussten nach wie vor keinen Rat. Da John die Medika­ mente nicht schlucken wollte, wurde vorgeschlagen, ihm wieder eine PEG-Magensonde zu legen, wie wir es früher schon einmal gemacht hatten. Wir entschieden uns dagegen. Fünf Monate später hörten die Krampfanfälle auf genauso rätselhafte Weise wieder auf wie beim ersten Mal.

61 4. Côte d'Azur – Fernand Deligny

»Man suche nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.« (Johann Wolfgang von Goethe)

Die Hürden des Reisens beginnen manchmal schon vor der Reise selbst. Im Fall unseres Sommerurlaubs in Südfrankreich mit einem ausführlichen E-Mail-Kontakt zur Besitzerin eines Ferienhauses, das wir im Internet gefunden hatten und gerne mieten wollten. Einen Monat lang tauschten wir E-Mails mit der Besitzerin aus. Tinsley aus Seattle war sehr bestrebt, jedes Detail zu klären. Vor allem die Tatsache, dass wir mit einem Kind anreisen würden, bereitete der kinderlosen Frau erhebliche Sorgen. Wegen Seattle stellten wir uns vor, sie wohne in einem schicken Apartment wie Kelsey Grammer in der Serie Frasier. Solch einen Ort würde ein Kind natürlich schnell auf den Kopf stellen. Glücklicherweise konnten wir ihre Be­ denken zerstreuen. Tinsleys Haus befand sich in Haut-de-Cagnes, einem kleinen Bergdorf etwa 20 km von Nizza entfernt, und es hatte für uns einige Vorteile. Nach Nizza konnten wir von Berlin aus günstig fliegen, Bergdörfer waren für gewöhnlich weniger überlaufen als Küstenorte und das Haus hatte einen großen eingemauerten Garten, aus dem John nicht so schnell würde weglaufen können.

62 Das Weglaufen war ein großes Problem, denn es fehlte John noch immer an Gefahrenbewusstsein. Er war unermüdlich auf der Suche nach neuen Reizen, für sein Alter groß gewachsen und konnte motorisch vieles, was er kognitiv nicht einschätzen konnte. Dass auf der Straße fahrende Autos ihn zum Beispiel überfahren könnten, verstand er nicht. Seine Konzentration lag woanders, etwa bei einer Eisdiele auf der anderen Straßenseite. Zuhause hatten wir überall abschließbare Fenstergriffe. Permanente Bewegung bestimmte Johns – und damit auch unseren – Tag. Ungleich anderen fünfjährigen Kindern spielte, malte oder las John überhaupt nicht. Er rannte nur, kletterte und sprang herum. Mehr als einmal hatte ich mich schon um fünf Uhr morgens mit ihm auf dem Spielplatz wiedergefunden. Wenn wir un­ ser Leben in einer kurzen Wendung beschreiben wollten, sagten wir, wir seien immer auf der Flucht. John hatte auch kein herkömmliches Gefühl für Temperaturen oder Schmerz. Er war gerade in einer Bürstenphase, suchte überall nach Bürsten oder Besen und steigerte sich dann in das Reiben der Borsten hinein. Er schien gar nicht zu fühlen, dass er sich damit auf Dauer die Haut wund scheuerte. Ihn vor Verletzungen zu schützen, war für uns eine Verantwortung rund um die Uhr. Tinsleys Haus schien zu unseren Bedürfnissen zu passen: ein altes Steinhaus, mit nur einem zentralen Zugang, den John alleine nicht öffnen konnte. Herumlaufen könnte er so nur auf dem Areal des Hauses selbst, und im Garten gab es viel Platz für ihn, sich frei zu bewegen. Das Haus schien perfekt für unseren Balanceakt zwischen Schutz und Freiheit.

63 Am Flughafen in Nizza schlug uns die Hitze des südfranzösischen Hochsommers entgegen. Das Thermometer zeigte nahezu 40 Grad. Mit unseren Koffern und John im Reha-Buggy suchten wir die Autovermietung. Wir fanden einen großen, wild vollgestellten Park­ platz und eine Menschenschlange, die sich vom Hof hinunter in unsere Richtung schlängelte. Rechts und links von den Wartenden lagen Gepäckstücke verstreut, die mal mehr und mal weniger gewissenhaft weiterbewegt wurden, wenn die Schlange in Richtung Anmeldung vorwärts kroch. Trotz vorheriger Reservierung wurde uns eine ungefähre Wartezeit von drei Stunden in Aussicht gestellt. John würde es in dieser Hitze keine halbe Stunde aushalten, da waren wir sicher. Man konnte seine Disposition vielleicht mit der eines ein- oder zweijährigen Kindes vergleichen, das für Erklärungen noch nicht zugänglich ist und nur vom eigenen Wohl­ befinden aus reagiert. Also teilten wir uns auf, Scott gab mir die Papiere für das Ferienhaus und stellte sich in der Schlange an, ich setzte mich mit John und unseren Koffern in ein Taxi.

Der Taxifahrer konnte unser Ferienhaus in Haut-de-Cagnes zunächst nicht finden. Das Dorf bestand aus engen, verwinkelten Einbahnstraßen, die allerdings früher oder später alle zum zentralen Dorfplatz zurückführten. Wir drehten ein paar Runden und fragten mehrfach Passanten, bis wir irgendwann am Ferienhaus ankamen. Die französische Hauswärterin, die mir den Schlüssel übergab, sprach aufgeregt von: »Tinsley, Tinsley«, wobei sie den Namen französisch aussprach, auf der letzten Silbe betonte und dabei mit den Händen aufgeschreckt in der Luft herumdeutete. Das passte

64 irgendwie hübsch zu dem Eindruck, den wir durch die E-Mails gewonnen hatten. Ich machte mir Sorgen, ob Scott das Haus finden würde. Ein Amerikaner, der das erste Mal in Frankreich war, kein Wort Französisch verstand, der nicht nur kein Handy dabei hatte, son­ dern nicht einmal irgendeine Karte der Umgebung, nur die Adresse auf einem schnell dahin gekritzelten Zettel, und wenn er Haut-de- Cagnes erst einmal gefunden hatte, wartete hier oben immer noch das verwirrende Straßensystem auf ihn, das schon einen ein­ heimischen Taxifahrer ratlos gemacht hatte. Irgendwann machte ich mich mit John auf die Suche nach einem Supermarkt. Wir fanden einen kleinen Laden, ich kaufte etwas ein, kehrte mit John zum Haus zurück und begann zu kochen. Scott tauchte sechs Stunden nach der Landung am Ferienhaus auf. Das Auto hatte er auf dem Dorfplatz geparkt und sich auf den Fußweg verlegt, um die unbeschilderten Gassen nach den Namen der Häu­ ser zu durchkämmen. Dabei hatte er einen Marokkaner getroffen, der ihm bei der Suche geholfen hatte.

Im Garten blühten Schmucklilien, neben einer in Stein eingefassten Grillecke stand ein großer Tisch mit sechs Stühlen. Wir trugen das Essen nach draußen. John gefiel der Garten und er hatte kaum Zeit zum Essen, denn er wollte alles erkunden. Besonders intensiv betrachtete er ein paar uneben an der Grillecke angebrachte Steinkacheln, befand sie nach einigem Betrachten aber anscheinend für in Ordnung, wie zumindest sein zufriedener Gesichtsausdruck nahe legte. John lief hin und her, beugte sich hier herunter und

65 fasste dort etwas an, und seine glucksenden Ich-bin-glücklich- Geräusche bestätigten uns, das richtige Haus gewählt zu haben. Nach dem Essen nahmen wir das Unterfangen in Angriff, den Mietwagen vom Dorfplatz zur Garage des Ferienhauses zu über­ führen. Tinsley hatte uns geschrieben, dass wir durch einen engen Torbogen fahren müssten. Wir spazierten also los und fanden den Torbogen nicht weit unterhalb des Hauses. Als Nächstes suchten wir den Dorfplatz und machten zu Fuß aus, wie wir mit dem Auto vom Platz aus an den Fuß des Torbogens kommen konnten. Die enge Straße stieg in einer steilen Kurve bis zum Bogen an, der nur wenige Zentimeter breiter war als das Auto. Man musste die richtige Kombination von Gasgeben und Drehung finden, um von der steilen Kurve aus durch den Bogen zu gelangen. Gerade als Scott hindurch fuhr, trat ein junges Paar hervor und blieb vor Schreck in der Mitte des Weges wie angewurzelt stehen, als ob dies eine Fußgängerzone sei und sie deshalb kein Auto er­ wartet hatten. Scott bremste abrupt und wir hörten das quetschende Geräusch von Metall an Stein. Auf der rechten Seite des Autos hatte es eine Felge erwischt. Auf dem Rücksitz fand John das Ganze sehr lustig. Zum Glück war der Schaden gering und wir hatten eine Versicherung ohne Selbstbeteiligung abgeschlossen. Auf der engen Straße hinter dem Torbogen erforderte es dann noch ein mehr­ faches Vor- und Zurücksetzen, um das Auto in die Garage zu manövrieren. Scott, mittlerweile dann doch schon ein bisschen verzweifelt, fragte: »Hast du zufällig auch Wein gekauft?«

66 Wir sahen uns das Haus näher an. In der Doppelgarage hatte Tinsley für ihre Frankreichaufenthalte ein fürsorglich abgedecktes BMW-Cabrio geparkt. Im Wohnzimmer fand sich eine eklektische Sammlung an Unterhaltungsmedien: The Doors gepaart mit Céline Dion, neben Ein Hauch von Nerz mit Doris Day und Cary Grant der eher unbekannte Film 1001 Rezepte eines verliebten Kochs, eine Gedichtsammlung von Walt Whitman sowie Thomas Pynchons Die Enden der Parabel neben Rosamunde Pilchers Wintersonne. John riss in seinem Bewegungsfuror noch oft und leicht Gegen­ stände im Vorbeigehen zu Boden, von ihm ebenso unbeabsichtigt wie unbemerkt, deshalb räumten wir Vasen und andere zerbrechliche Dekorationen des Hauses in ein abschließbares Zim­ mer, das wir bis zur Abreise nicht mehr würden öffnen müssen. Ebenfalls in dieses Zimmer stellten wir einen Stuhl aus dem Wohnzimmer, dessen linke Lehne nicht mehr sicher am Sitz befestigt war.

Nach vier Tagen an der Côte d’Azur wurde uns auf der Straße in Nizza Johns Kinderausweis geklaut. Ich hatte vergessen, ihn aus der Vordertasche des Rucksacks herauszunehmen. Das deutsche Konsulat in Nizza befand sich, wie wir heraus­ fanden, im fünften Stock eines Gebäudes mit dem Namen Minotaurus. Ob man nun Minotaurus als Menschen fressendes Ungeheuer interpretierte oder wie Friedrich Dürrenmatt als Sinnbild von Orientierungslosigkeit, es war in jedem Fall eine interessante Wahl für einen Konsulatssitz.

67 Der Honorarkonsul sah mit seinem offenen Hemd aus, als hätten wir ihn geradewegs von einer Yacht geholt. Er erklärte uns, dass wir für Johns Ersatzpapiere ein Foto bräuchten, auch wenn im normalen Kinderausweis in diesem Alter noch kein Foto nötig war. Wir ahnten, dass es sich bei der Passfoto-Aktion um einen längeren Prozess handeln würde. John saß einfach nicht still genug und blickte sowieso nicht gerne in eine Kamera. Statt dabei zusätz­ lich noch die Geduld eines Fotografen zu strapazieren, entschieden wir uns deshalb, zum Flughafen zu fahren, wo wir bei unserer Ankunft einen Fotoautomaten gesehen hatten. Dort würden wir in unserem eigenen Tempo vorgehen können. Sich einfach Zeit zu nehmen, das war oft der Schlüssel zum Erfolg. Wenn man sich darauf einstellte, dass etwas länger dauern würde, ganz simpel, war die Frustration auch gleich wesentlich geringer. Im Lauf der Jahre hatte sich mit John in unserem Leben eine grundsätzlich andere Zeitwahrnehmung eingestellt, die nicht unterschwellig schon immer Abläufe zeitlich kalkulierte und nach dem nächsten Moment strebte. Unser Leben war viel ausdrücklicher und verharrender ein Leben im jeweiligen Moment, denn den nächsten konnte man sowieso nicht voraussehen. Man musste sich darauf einlassen, es war eine andere Seinsweise, in gewisser Weise eine Parallelwelt, aus der heraus uns das ständige Streben, das wir bei anderen Menschen nun verstärkt wahrnahmen, mittlerweile geradezu seltsam erschien. Am Flughafen fütterten wir den Automaten mit Münzen und erhielten eine Reihe von Fotos mit Teilansichten von Johns Kopf und Haaren, bis wir ein halbwegs akzeptables Passfoto bekamen. Im

68 Minotaurus war der Konsul zufrieden mit dem Bild, wir bekamen einen Ersatzausweis und konnten unseren Urlaub fortsetzen. Wir fuhren über die Küstenstraße Corniche Moyenne nach Monaco und ins Bergdorf Èze, in dem Nietzsche einen Teil von Also sprach Zarathustra geschrieben hatte. Wir sahen uns Cannes und Saint- Tropez an, das Hotel Intercontinental, die Croisette und den Yachthafen. Mit seinem unruhigen und erratischen Verhalten fiel John überall schnell auf.

Die Soziologin Rosemarie Garland-Thomson hat vier Haupt­ reaktionen auf Behinderung beschrieben: Bewunderung, Rührseligkeit, Exotismus und Realismus. Paradoxerweise käme die letzte Kategorie dabei nach Garland-Thomson am seltensten vor. John war allerdings noch so klein, dass die Menschen seine Behinderung meistens gar nicht ohne weiteres erkannten, wohl auch, weil er körperlich so fit war. Es lag nahe, sein Verhalten ein­ fach als Unerzogenheit zu interpretieren. Noch so ein Kind, das den Eltern auf der Nase herumtanzt, noch so Eltern, die an der Erziehung scheitern. Das war uns gegenüber bisher die häufigste Reaktion. Wir wurden oft unverhohlen angestarrt, aber wenn wir versuch­ ten uns zu erklären, drehten sich die Menschen, die gerade noch extra stehen geblieben waren, häufig schnell weg. So genau wollte man es dann wiederum auch nicht wissen. Der Weg vom Alarmiertsein zum Desinteresse konnte erstaunlich kurz sein. An einem Tag trug Scott ein auffälliges, rot-weißes Trikot, auf dem groß ENGLAND stand, und plötzlich wurde er mehr

69 angestarrt als John. So fanden wir eine neue Methode, John vor kritischen Blicken zu schützen. Die Wunderwaffe England-Trikot als perfekter Blitzableiter. In Arles erkauften wir mit einem Eis Johns Bereitschaft, das Amphitheater anzusehen. Wir hatten schon häufig gemerkt, dass John, egal worum es ging, zunächst einmal eine Art grundsätzlichen inneren Widerstand hatte. Wenn er aber in der Lage war, diesen ers­ ten Widerstand zu überwinden, konnte er manchmal plötzlich sogar Feuer und Flamme für etwas sein. Eis hatte sich als gute Motivationshilfe erwiesen. Und so war es auch in Arles: Zuerst hatte John keine Lust, sich dem Amphitheater auch nur zu nähern, aber mit dem Eis in der Hand war er so gut gelaunt, dass er einfach mit­ kam, und als wir erst einmal drinnen waren, interessierte er sich für das Gebäude, betrachtete aufmerksam die Arkaden und wollte immer weiter durch die Gänge laufen. Wir fuhren über kleine Landstraßen weiter zum Aquädukt Pont du Gard. Vom Parkplatz aus blickten wir zur Brücke, es war sehr heiß, John sah den langen Weg vor sich und wollte nicht aus dem klimatisierten Auto steigen. Wir hatten seinen Reha-Buggy dabei, aber das Terrain war zu uneben zum Schieben. Wir befürchteten schon, den Aquädukt gar nicht ansehen zu können, da stieg John doch noch aus. Zunächst lief er mit einem eher teilnahmslosen Gesichtsausdruck neben uns her, seine Einstellung änderte sich allerdings sofort, als wir auf der Brücke ankamen. John lief an der Brüstung entlang, sprang mit rudernden Armbewegungen herum und freute sich deutlich erkennbar über den Ausblick auf die

70 Landschaft der Provence. Zweimal Widerstand in Freude gewan­ delt, eine gute Bilanz für einen Tag.

Wir verbrachten viel Zeit im Garten unseres Ferienhauses und hörten Elliott Smith. Sein Album From a Basement on the Hill hatte uns dazu gebracht, auch die älteren Alben XO und either/or wieder häufiger zu hören. John lief gerne im Garten herum, spielte mit dem Wasserschlauch und konnte sich allgemein längere Zeit aufhalten, ohne sich zu langweilen. Jenseits der Stoßzeiten gingen wir in Juan-les-pins bei Antibes schwimmen. Zuerst hatte John Angst davor, ins Meer zu gehen. In Griechenland waren wir zwar viel am Strand gewesen und das Meer hatte John sehr fasziniert, aber beide Urlaube – im Januar auf Rhodos und Anfang April auf Thassos – waren in eine Zeit gefallen, in der das Wasser noch zu kalt zum Schwimmen gewesen war. Das gleiche galt für Hiddensee im Herbst. John konnte mit Schwimm­ flügeln schwimmen, war dazu aber nur an Schwimmbäder gewöhnt. Wir beobachteten ihn, er schien hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ins Wasser zu gehen und irgendeinem Problem. Zuerst dachten wir, es seien die Wellen, die ihn ängstigten, aber dann bemerkten wir, dass John immer wieder auf den Boden sah. Muschelreste und kleine Kiesel wurden angespült, vielleicht traute er sich nicht, darauf zu laufen? Er hielt Abstand, stand im weichen Sand. In einem Geschäft für Strandbedarf ganz in der Nähe wurden Plastikstrandschuhe verkauft, in Johns Schuhgröße nur in einem grellen Türkis erhältlich. Wir kauften sie und kehrten zum Strand

71 zurück. John sah lustig aus in den türkisfarbenen Schuhen, doch der Bann war mit ihnen tatsächlich gebrochen. Er lief ins Meer und konnte endlich das Wasser genießen. Weil John uns nicht sagen konnte, was ihn bewegte, waren wir sehr aufs Beobachten angewie­ sen. Ein weiteres Rätsel gelöst zu haben fühlte sich manchmal an wie ein kleiner Lottogewinn. Auf dem Weg nach Hause hielten wir in Cagnes-sur-Mer, dem Küstenort, zu dem Haut-de-Cagnes gehört, und kauften im Intermarché-Supermarkt eine Flasche Sekt, um unseren kleinen detektivischen Erfolg zu würdigen. Abends lief im französischen Fernsehen Reality TV. Mir fiel auf, dass Scott völlig gebannt davor saß, obwohl er gar kein Französisch verstand. Er sagte: »Wenn du dir das ansiehst und nicht verstehst, was sie sagen, dann wird dir erst so richtig klar: Die Menschen sind verrückt.« Ohne die Bedeutung von Wörtern erschien es seltsam, wie die Menschen miteinander und aufeinander reagierten. Ich fragte mich, ob dieses Gefühl vielleicht dem nahe kam, wie John manchmal die Welt erlebte. Auf unseren Abendspaziergängen durch Haut-de-Cagnes begeg­ neten wir Scotts marokkanischem Wegweiser und dessen Freunden ebenso wie vielen Älteren, die vor ihren Häusern, vor der Bar oder am Bouleplatz saßen. Durch Johns auffälliges Verhalten, seine Lautstärke und sein unkoordiniertes Herumlaufen wurden wir zwar auch hier ein bisschen angestarrt, dabei aber oft freundlich gegrüßt. Wie es vielleicht eher für ein Dorf typisch ist, wurden wir ein­ fach angesprochen, die Sprache war dabei etwas ruppig, aber deutlich wohlwollend. Ich mochte die direkte Art der Menschen in Haut-de-Cagnes. Eine ältere Frau beobachtete uns zum Beispiel

72 einen Moment, dann fragte sie unbefangen: »Was hat Ihr Sohn denn?« Ich wusste nicht, ob sie mit dem Wort Autismus etwas anfangen konnte, also erklärte ich ein bisschen und sie hörte zu, nickte, wandte sich dann wieder John zu und redete mit ihm auf Französisch: »Dir geht es gut, mein Kleiner, das kann ich sehen, Dir geht es wirklich gut…« Und obwohl John nach unserem besten Wissen davon nun wirklich kein Wort verstehen konnte, freute er sich und strahlte die Frau an. Er spürte wohl, dass sie ihn akzeptierte.

Passend zum Urlaub in Frankreich las ich Bücher der Pädagogen Fernand Deligny und Jacques Lin. In Frankreich hatte es eine starke psychoanalytische Tradition gegeben, nach der autistische Kinder als unbeschulbar galten und in psychiatrischen Einrichtungen unter­ gebracht wurden. Das Land war im Bereich der psychiatrischen Diagnosen als einziges westliches Land einen Sonderweg gegangen, unter anderem auch mit einem eigenen Diagnosehandbuch. Autismus wurde darin noch als Infantilismus beschrieben, als die beiden sonst maß­ geblichen Diagnosehandbücher Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) und International Classification of Diseases (ICD) Autismus längst als tiefgreifende Entwicklungsstörung anerkannt hatten. Durch die eigenwillige psychiatrische Tradition Frankreichs hatte sich als Gegenbewegung aber auch eine ausgeprägte Anti- Psychiatrie entwickelt. In den 1960er Jahren suchte der Pädagoge Fernand Deligny, der zunächst selbst in den Institutionen gearbeitet

73 hatte, zum Beispiel nach Alternativen zur stationären psychiatrischen Unterbringung von autistischen Kindern. Gemeinsam mit einigen Sympathisanten zog er mit ein paar Autisten in die Cevennen. Die Gruppe lebte, aufgeteilt in kleinere, versprengte Einheiten, mit den autistischen Kindern in einem nomadischen Stil in der Natur. Deligny beschrieb dieses Leben als Transhumanz, ähnlich der Alpwirtschaft mit dem Auf- und Abtrieb der Herden zwischen Sommer und Winter. Die autistischen Kinder gaben mit ihrem Bewegungsdrang den Takt an, und die Gruppe schloss sich diesem Driften in einer radikalen Konsequenz an. Man wollte, wie Deligny es nannte, »neue Lebensnetze für diejenigen weben, die über Bord gefallen waren.« Das Getöse des Wortes überstimme in der Welt diejenigen, die keine Wörter besaßen. Zurückgezogen in den Bergen wollte man stattdessen die manifeste Bitte um etwas anderes wahrnehmen, die von jeder Gebärde dieser Kinder ausgehe – selbst wenn man diese Bitte nicht verstehen konnte. Der Versuch war alles, was zählte. Die Autisten führten, so Deligny, hin zu einer Seinsweise, auf die man nicht stoßen konnte, wo Sprache ungestört und unangefochten herrschte. Die Abwesen­ heit der Sprache gleiche ein wenig der Abwesenheit von Schwerkraft. Fast vierzig Jahre lang lebte die Gruppe in den Bergen. Jacques Lin schrieb darüber in seinem Buch Das Leben mit dem Floß - in der Gesellschaft autistischer Kinder, Fernand Deligny in Ein Floß in den Bergen. Deligny drehte auch zwei Filme. Besonders berührte mich ein Erlebnis, das Lin über den zwölfjährigen Autisten Janmari schilderte. Eines Nachts wachte

74 Janmari auf und war sehr verzweifelt, er verbiss sich in seinen Schlafanzug, schlug den Kopf an die Wand, war nicht zu beruhigen. Jacques Lin bat ihn, zu zeigen, was ihn störte. Janmari lief nach draußen, in den Wald hinein, kletterte auf einen Felsen, Lin mit einer Taschenlampe hinter ihm her, mitten in der Nacht den Felsen hinauf. Nachmittags waren sie dort gewesen, hatten bei einer Rast Orangen gegessen, die schwer zu schälen gewesen waren. Lin hatte sie halbiert und umgestülpt, um das Fleisch essen zu können, da­ nach hatte er die beiden Hälften zum Verwesen weggeworfen. In der Nacht auf dem Felsen angekommen suchte Janmari herum, fand die Orangenhälften, stülpte sie wieder zurück in ihre ursprüngliche Form, lachte und klatschte in die Hände. Alles war in Ordnung, sie konnten zum Haus zurückgehen, wo Janmari sofort und tief einschlief. Die Episode erinnerte mich daran, wie ich John einmal mitten in der Nacht gehört hatte. Als ich in sein Zimmer gekommen war, hatte er hellwach am Fußende seines Bettes gesessen. Ich war zu ihm gegangen, um ihn wieder richtig ins Bett zu legen, hatte mich zu ihm heruntergebeugt und gesehen, dass man von dieser Ecke aus das Licht einer Straßenlaterne sehen konnte, das im schrägen Win­ kel durch einen kleinen Spalt zwischen Fensterrahmen und Vorhang fiel. Die Laterne hatte man nur von diesem einen Punkt im Zimmer aus sehen können. Von der Tür aus war noch nicht einmal zu sehen gewesen, dass der Vorhang nicht vollständig geschlossen war. Ich war zum Fenster gegangen und hatte den Vorhang vollständig über den Fensterrahmen gezogen. John war damit zufrieden gewesen,

75 hatte sich sofort bereitwillig hingelegt und innerhalb von wenigen Minuten hatte ich seine gleichmäßigen Atemzüge gehört. In einer anderen Nacht hatte ich ihn auf der Fensterbank sitzend vorgefunden. Die Knie an die Brust gezogen, hatte er den Vollmond angeheult wie ein Wolf. Deligny zeichnete die Wege der Kinder auf, die – wie John – immer in Bewegung waren. Heraus kamen dabei Muster, die eine Karte ergaben. Diese beschrieb aber nicht wie andere Karten einen vorher erkundeten Weg, sondern machte im Gegenteil etwas aus dem Unbekannten heraus erstmals auf dem Papier sichtbar. Deligny nannte diese Aufzeichnungen Irrlinien. Er unterschied auf den Kar­ ten so genannte Gewohnheitslinien, die Routineabläufe wiederga­ ben, von Abweichungslinien, die scheinbar ziellose Bewegungen visualisierten. Auf den Karten war zu sehen, dass sich die Kinder, wenn sie innehielten, besonders an bestimmten Stellen aufhielten. Das waren die so genannten Knotenpunkte des Lebens in den Bergen. Interpretierbar waren die Irrlinien-Karten nicht. Dazu waren sie aber auch gar nicht gedacht. Deligny war es wichtig, dass die Karten keine Bedeutung haben sollten. Es kam ihm nicht auf Interpretation an, oder besser gesagt ging es ihm gerade darum, den Drang zur Interpretation aufzugeben. Keine Bedeutung, nur Kartographie. Eine Karte als Aufriss von Spuren, und in gewissem Sinn als Kunst­ werk. Ich stellte mir vor, wir würden Johns Bewegungen im Garten des Ferienhauses aufzeichnen. Die Karte sähe vermutlich ähnlich aus wie die im Buch abgebildeten und auch sie wäre nicht interpretierbar.

76 Delignys Sprache hatte etwas auffallend Poetisches. Gewohnheitsmäßige Handbewegungen wurden zum Ballett der Hände. Ein Autist war für ihn ein natürlicher Partisan, ob er dies sein wollte oder nicht, denn sein Wesen, so Deligny, verwehre sich allem Konjugierbaren, allen Gesinnungen und Allüren unserer Institutionen. Eine solch poetische Sprache könnte den Eindruck erwecken, den Autismus zu romantisieren oder zu idealisieren. Das war nicht der Fall, denn Deligny verschwieg die Schwierigkeiten mit den autistischen Kindern nicht. So bezeichnete er sie etwa als »auf beeindruckende Weise unerträglich.« Den Kräften des Autismus nicht standhalten zu können, sei eine dramatische Erfahrung. Die fortwährende Präsenz des Autismus führe zu einer gewissen Zähig­ keit, »ähnlich wie das Zarte durch Gerben zu Leder wird. Gebärden, die zunächst nur aus Versehen geschehen, wiederholen sich und werden zu Horn.« Auch diese Schilderungen erinnerten mich an John, wie er sich mit Kordeln und Bürsten bestimmte Bewegungen ausdachte und diese dann immer wiederholte. Über Janmari schrieb Deligny: »Unheilbar, unerträglich, unmöglich, haben sie ihn genannt. Die Gesellschaft jedoch hat alles vorhergesehen, selbst Orte für das Nicht-Leben. Das Symptom ist unübersehbar. Und weil nur das Unwandelbare sein Bedürfnis stillt, wird er sich berauschen an der Immobilität und der Wiederholung, am Immergleichen. Am anderen Pol stehen wir, und in diesem Jungen wird uns der Schlüssel zu unserer Existenz gereicht. Er ließ uns sehen, dieser Junge, dass sich die Erde vielleicht verkehrt herum dreht. Unermüdlich, es ist nicht normal, nicht zu ermüden. Wie ein

77 Wilder, ein Wolfsjunge. Man musste ausharren, bei Tag und bei Nacht. Trotz des Unmöglichen, des Unerträglichen. Und wir, um die Wahrheit zu sagen, ziemlich ratlos, aber ausdauernd.« Mir gefiel Delignys Suchen nach neuen Sichtweisen, auch wenn in seinen Schriften manchmal noch der französische Sonderweg hervorschien, etwa wenn er vom Autismus schrieb, er sei eine Psychose, die über eine Familie niedergehe wie eine Bombe. Deligny wollte sich von den Institutionen lossagen, in denen er einst gear­ beitet hatte, aber in manchen Ausführungen zeigte sich, dass er ihre Prägung nicht ganz überwinden konnte. Dennoch: Die Gruppe um ihn hatte sich mit den autistischen Kindern in ein imponierendes Abenteuer begeben. Deligny endete seine Ausführungen: »Ist dieses Horn, sind diese Furchen, die wir bekommen haben, nur Schwielen und Verhärtungen oder sind sie vielleicht das Instrument, das Harmonien widerhallen lässt, die so alt sind wie der Mensch selbst? Damit wäre es benannt, unser Forschen und Suchen, das uns veranlasst, es unaufhörlich auf- und umzuschreiben, dieses Floß, all die Orte, an denen der unbedeutendste Zwischenfall das Schreiben scheitern lässt.« Und Jacques Lin resümierte am Ende seines Buches: »Seit fast dreißig Jahren ersparen wir es Janmari und einigen Seinesgleichen, in eine psychiatrische Anstalt gehen zu müssen. Und das, indem wir uns nicht ausschließlich auf die Sprache verlassen, die uns in Rich­ tung des Warum und Weil zieht, was angesichts des Verhaltens von Autisten oft keinen Sinn hat. Wir achten stattdessen in einer besonderen Weise auf Umstände und Ereignisse. Wir haben eine nicht immer leichte Lebensweise auf uns genommen und

78 ermöglichen es damit diesen Unerziehbaren, diesen Unberechenbaren, diesen Unanpassbaren und Unbrauchbaren, die weit davon entfernt sind, lebensuntüchtig zu sein, sich als angenehme Gefährten zu erweisen.« Der Autist als angenehmer Gefährte, was für eine schöne Darstellung.

Bevor wir zum Ende unserer Reise noch nach Paris flogen, musste die Hauswärterin das Haus in Haut-de-Cagnes abnehmen. Wir putzten und räumten alles aus dem abgeschlossenen Zimmer wieder zurück an Ort und Stelle. Ich zeigte der Hauswärterin, wie sich an dem einen Stuhl im Wohnzimmer die Lehne löste. Ich erklärte ihr, dass wir den Stuhl so vorgefunden und ihn deshalb extra wegge­ schlossen hatten. Die Hauswärterin glaubte uns. Ohne meinen Hinweis hätte sie es schließlich noch nicht einmal bemerkt, aber sie wollte sicherheitshalber kurz bei Tinsley in Seattle anrufen. Die wie­ derum wollte uns nicht glauben und meinte, es handele sich um eine Antiquität und die Reparatur solle von unserer Kaution abgezogen werden. Es folgte eine längere Diskussion, die am Ende vertagt wurde. Im Flugzeug nach Paris saß neben mir eine Frau, die schon während des Abhebens damit begann, ihre Haare zu pflegen. Mit einer Tinktur behandelte sie gewissenhaft und geduldig einzelne Haarspitzen. Danach formte sie ausführlich ihre Wimpern, holte eine Lotion hervor, mit der sie ihre Fingernägel bearbeitete und trug schließlich noch eine andere, teuer aussehende Handcreme auf. Als sie gerade fertig war, landeten wir in Paris. Ein ganzer Flug für

79 Haare und Hände – während wir direkt neben ihr alle Hände voll damit zu tun gehabt hatten, unser Kind ruhig zu halten. Das Spektrum des Lebens in einer einzigen Flugsitzreihe. Vor unserem Hotel in Saint-Germain zerbrach beim Auseinan­ derklappen des Reha-Buggys eine tragende Strebe, ohne die der Buggy funktionsunfähig war. Irgendwie hievten wir unser Gepäck, John und den kaputten Buggy die Stufen zum Hotel hinauf. Wir betraten einen unübersichtlichen, mit roten Seidentapeten dekorierten Raum, der von einem roten Plüschsofa dominiert wurde. Mitten hineingezogen in den Raum war eine Trennwand mit einem Bücherregal, das wohl die Hotelbibliothek darstellte. Auf den ersten Blick war niemand zu sehen. Wir hörten aber ein leises Tuscheln und entdeckten in einer Ecke eine kleine Rezeptionstheke, über deren Ablagefläche gerade noch ein Haarbüschel hervorlugte. Wir traten näher, ein Hotelangestellter kauerte heruntergebeugt unter der Theke und flüsterte in ein Telefon. Dass wir nun vor ihm standen, schien ihm eine große Unannehmlichkeit zu sein. So schnell er konnte, drückte er uns einen Schlüssel in die Hand und verschwand mit seinem Telefon wieder unter der Theke. Wir machten uns auf die Suche nach unserem Zimmer. Die Gänge waren wie die Lobby eng und verwinkelt. Unser Zimmer hatte kein richtiges Fenster, nur eine trübe Scheibe, durch die man den Blick in einen schmalen Schacht mehr erahnen als sehen konnte. Wenn man das Zustellbett für John ausklappte, gab es im Zimmer keinen freien Bodenraum mehr. Nach dem komfortablen Ferienhaus mit dem großen Garten im ruhigen Bergdorf war Paris eine große Umstellung. Draußen setzte

80 John sich zunächst alle zehn Meter auf den Gehweg und bestreikte das Weitergehen. Vielleicht war es etwas zu ehrgeizig von uns gewe­ sen, nach Südfrankreich noch ein paar Tage in Paris anzufügen. Mit Geduld schafften wir es ohne Buggy bis zum Jardin du Luxembourg und dort besserte sich Johns Stimmung deutlich. Wir hatten zwar noch nie einen so simplen Spielplatz gesehen, für den man zwei Euro Eintritt zahlen musste, aber John schaukelte lebhaft und das war alles, was zählte.

Wir befürchteten, dass das Essengehen am Abend problematisch werden könnte. Im Ferienhaus hatten wir selbst gekocht, hier aber mussten wir essen gehen, was mit John meistens eher eine Heraus­ forderung war. In Deutschland war er uns einmal so schnell unter dem Tisch entwischt, dass wir ihn erst einfangen konnten, als er einer Frau am Nebentisch schon ein paar Pommes vom Teller geklaut hatte. Wir versuchten es mit einer Brasserie um die Ecke vom Hotel. Der Kellner merkte, dass John sehr unruhig war und kam zu uns. Ich befürchtete Schlimmes, denn in Berlin hatte uns ein Kellner auch schon einmal hinauswerfen wollen, weil John die anderen Gäste störe. Aber dieser Kellner hatte zum Glück ganz andere Ab­ sichten. Er unterhielt sich mit John, knuffte ihn freundlich, schnitt Grimassen. Er fragte uns nach seinem Namen. Wir sagten: »John«, und er rief: »Ah, Jean-Luc!« Er redete weiter auf Französisch auf John ein, nun mit einem fröhlichen Jean-Luc in fast jedem Satz. John taute sichtlich auf und

81 das Essen war wesentlich weniger problematisch als wir zunächst erwartet hatten. Auf das Jean-Luc reagierte John sogar besser als auf seinen richtigen Namen. Jean-Luc machte ihn stutzig, ließ ihn aufhorchen. Die Taktik behielten wir darum eine Weile bei, so dass John in den nächsten Monaten zu einer ganzen Reihe von Spitznamen kam: Johnny, Jojo, Don, Johnchen, Johnchenmann, Jack, Jack-in-the-box, Fred, Filou, Schlingel, Schlawiner, Räuber, Struppi, Stöpsel, Piepenpeter, Funky Monkey, Friederike, Bob, Pfifferling, Monsieur le Président. Solange man ihn nur nicht John nannte, standen die Chancen recht gut, dass er aufhorchte. Nach einiger Zeit setzte allerdings auch dabei ein Gewöhnungseffekt ein. In Frankreich nannten wir John seitdem aber immer Jean-Luc.

Am nächsten Tag schafften wir es ohne Buggy bis zum Eiffelturm. Als wir uns gerade an der langen Schlange angestellt hatten, wurden wir von einem Bediensteten bemerkt, der herüberkam und uns bat, ihm zu folgen. John war gar nicht so wild gewesen, aber der An­ gestellte kannte sich wohl gut mit Autismus aus, jedenfalls hatte er Johns Behinderung sofort bemerkt. Wir wurden nach vorne geleitet und in den nächsten Aufzug gesetzt. Das Warten in der Schlange hätten wir abbrechen müssen, wenn John sich einem Zusammen­ bruch genähert hätte. So verdankten wir es diesem umsichtigen und großzügigen Mann, dass John (und wir) den Blick über Paris genießen konnten. In Berlin hatte das Sanitätshaus das Ersatzteil für unseren Reha- Buggy vorrätig, so dass dieser auf der Stelle repariert werden

82 konnte. Und der Urlaub endete ein bisschen so, wie er begonnen hatte: mit einem ausführlichen Austausch von E-Mails mit Tinsley in Seattle, dieses Mal über die abgelöste Lehne des antiquarischen Stuhls. Irgendwann stellte sich heraus, dass wir von zwei unter­ schiedlichen Stühlen sprachen und dass derjenige, den wir beiseite geräumt hatten, noch gar nicht aufbereitet worden war. Wir erhielten unsere Kaution zurück. Auf der Website des Ferienhauses fanden wir einige Zeit später dennoch den Zusatz: »Keine Kinder unter zehn Jahren.«

83 5. Mallorca – Diagnoseanstieg

»Glück ist immer das, was man dafür hält.« (Ingrid Bergman)

Es dauerte mehr als zweieinhalb Jahre bis zu unserem nächsten Urlaub. Wir waren innerhalb von Deutschland verreist, nach Hamburg, Dresden, Leipzig und Heidelberg. Wir waren mehrfach bei meinen Eltern und Freunden in Norddeutschland gewesen. Von Friesoythe aus konnten wir gut Tagesausflüge an die Nordsee unter­ nehmen, zum Wattenmeer und auf die ostfriesischen Inseln. Unser Hauptfokus aber war die Schulsuche gewesen. Ich hatte mir viele Schulen in Berlin angesehen und in einigen hospitiert. Es gab Schulen, die extra für schwer betroffene Autisten gegründet worden waren, die aber in der Zwischenzeit nur noch sprechende Kinder beschulten. John wollten sie nicht aufnehmen. Er wurde für ein Jahr zurückgestellt und wir setzten unsere Schul­ suche fort. Im Alter von sieben Jahren wurde John schließlich in eine Sonderschule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung aufgenommen. John hatte viele Jahre in einem sehr geschützten Umfeld in einer kleinen, spezialisierten Frühfördergruppe zugebracht. Die Räum­ lichkeiten für nur sechs Kinder hatten sich in einem ruhig gelegenen Wohnhaus befunden. Die Schule dagegen lag direkt am

84 Alexanderplatz, ein großes Gebäude mit mehr als 150 Schülern, und sie war auch nicht auf Autismus spezialisiert, so dass für John ein Schulhelfer bewilligt werden musste.

In Johns ersten Osterferien als Schulkind wollten wir endlich wieder reisen. Wir fanden ein günstiges Paket aus Flügen nach Mallorca plus einer Zweizimmerwohnung in einem Hotelkomplex mit Halb­ pension. So etwas hatten wir noch nie probiert. Wir landeten bei strahlendem Sonnenschein in Palma. Vor dem Flughafen empfing uns eine mit Palmen gesäumte Straße. Genau das richtige nach einem Berliner Winter. Mit unserem gebuchten Mietwagen fuhren wir nach Santa Ponsa, nur etwa eine halbe Stunde vom Flughafen entfernt. Zu unserem Erstaunen schien es sich bei dem Ort um einen britischen Urlaubsort zu handeln, wir sahen lauter englische Pubs und Restaurants. Auch das Hotel war voll von englisch­ sprachigen Gästen. Unsere Wohnung lag im fünften Stock und hatte einen Balkon mit Blick auf den Strand. Zum Abendessen gab es ein Buffet mit herzhaften Fleisch- und Kartoffelspeisen. Tapas würden wir hier nicht finden, das war schnell klar, aber da John gerne Fleisch und Kartoffeln aß, passte es uns gerade gut. Als John das große Buffet sah, fing er laut an zu lachen. In seinen Augen womöglich ein Paradies. Hinter uns fragte jemand in britischem Englisch: »Was zum Teufel ist denn hier so lustig?« Zuerst dachten wir, dass es ein Scherz sein sollte, aber als wir uns umdrehten, sahen wir einen älteren Mann, der deutlich schlecht

85 gelaunt war. Scott erklärte auf Englisch: »Unser Sohn hat eine Behinderung.« Der Mann drehte sich kopfschüttelnd weg. Wir bemerkten, dass uns im Restaurant viele Menschen ansahen, einige mit einem freundlichen Gesichtsausdruck, andere genervt. Wir waren es ge­ wohnt angestarrt zu werden, aber uns ging auf, dass dies in einem Pauschalreisehotel vielleicht neue Dimensionen haben würde. Touristen wollen unterhalten werden. Ein Hotel wie dieses war offenbar eine sehr gesellige Umgebung, in der jede Gelegenheit für Gesprächsstoff untereinander genutzt wurde.

John stand noch immer früh auf, also hatten wir jeden Tag viel Zeit, die Insel zu erkunden. In den Bergen an der rauen Westküste er­ kundeten wir das Künstlerdorf Deià, John gefielen die Serpentinenstraßen mit den steilen Anstiegen, engen Kurven und Ausblicken auf das Meer. Guter Dinge performte er im Auto zu Yo La Tengo seinen rudernden Sitztanz. Auf dem Weg zum Kap Formentor kam uns ein Bus entgegen. Die Straße war nicht breit genug für einen Bus und ein Auto, also musste Scott bis zu einer Einbuchtung rückwärts zurücksetzen. Was mich ins Schwitzen brachte, freute John auf dem Rücksitz. Oben am Kap angekommen gingen wir zur Brüstung, aber John klammerte sich plötzlich an mein Bein. Es war das erste Mal, dass er deutlich eine Tiefenwahrnehmung zeigte. John hatte Höhen bisher schlecht einschätzen können, einer der vielen Gründe, weshalb er in der Schule einen Schulhelfer brauchte. Die Türen und Fenster dort konnten nämlich nicht verriegelt werden. An seinem

86 Einschulungstag wäre John fast aus einem Fenster im ersten Stock gesprungen. Sein Schulhelfer hatte ihn gerade noch rechtzeitig von der Fensterbank gezogen. Am Kap Formentor nun sahen wir erste Anzeichen dafür, dass sich Johns Höhenwahrnehmung verbesserte. Später fiel uns auf, dass er auch auf dem Spielplatz beim Springen von Klettergerüsten vorsichtiger wurde. Wir hatten von einer entlegenen Bucht in der Nähe des Dorfes Sa Calobra gelesen. Die Bucht konnte nur über einen recht steilen Fußweg erreicht werden. Wir hatten in der Zwischenzeit den Reha- Buggy dauerhaft überwunden, was für John wie auch für uns ein großer Schritt gewesen war. Aber wir waren uns nicht sicher, ob wir nun einen so großen Spaziergang mit John schaffen würden. Doch wir erreichten die Bucht ohne Probleme, John mochte die Natur, das Gehen machte ihm gar nichts aus. Wir blieben etwa zwei Stun­ den, John lief herum, erkundete Steine, Grasbüschel, Sand, Halme, Seegras, Erde und Wasser. Es ging ihm blendend.

Auf der Berlinale hatten wir einen berührenden Dokumentarfilm gesehen, Ihr Name ist Sabine, gedreht von der französischen Schauspielerin Sandrine Bonnaire. In dem Film porträtiert sie ihre autistische Schwester Sabine in einer Kombination aus Rückblenden in die Kindheit und aktuellen Aufnahmen aus dem Heim, in dem Sabine als Erwachsene lebt. In den Rückblenden gab es viele Szenen aus Familienurlauben, in denen Sabine einen aktiven und glücklichen Eindruck machte. Ich musste an der Westküste von Mallorca immer wieder daran denken, wenn John auf den

87 Serpentinenstraßen oder an der verlassenen Bucht so gute Laune hatte. Je älter Sabine geworden war, umso weniger konnte die Familie mit ihr unternehmen. Würde es uns ähnlich gehen? Ich konnte es mir schwer vorstellen, wenn ich sah, wie zufrieden John schien, aber bei Sabine hatte man als Kind den gleichen Eindruck gehabt. Und der Kontrast zwischen ihr als Kind und ihr als Erwachsener war er­ heblich. Es erinnerte mich daran, dass wir den Moment nutzen mussten. Was wir machen konnten, sollten wir hier und jetzt tun. Morgen kann warten. Bei Sabine war es in der Schule sehr schwierig geworden und irgendwann war sie gar nicht mehr zur Schule gegangen. Die Familie war von Paris aufs Land gezogen, eine schwierige Verände­ rung für Sabine, die zudem in eine Zeit fiel, als ihre älteren Geschwister von Zuhause auszogen und begannen, ihr eigenes Leben zu leben. Ausstieg aus der Schule, Verlust des Zuhauses, Bezugspersonen, die aus dem täglichen Leben verschwinden, das war vielleicht zu viel Veränderung. Sabine wurde sehr aggressiv und ihre Familie kam nicht mehr mit ihr zurecht. Sabine landete in der Psychiatrie, in der es ihr nur noch schlechter ging. Der Film porträtierte in beängstigender Intensität, wie eine Verkettung von Ereignissen, die für sich genommen zum normalen Leben gehören, zum totalen Kontrollverlust führen konnte.

Im Kleinen hatten wir mit John zur Einschulung erlebt, wie sehr Übergangsphasen für einen Autisten eine existenzielle Herausforderung, ja Bedrohung darstellen konnten. John war

88 aggressiver geworden und hatte wieder mehr Zusammenbrüche gehabt. Die Bürokratie konnte Übergänge dabei umso heikler machen. Selbst wenn wir eine Idee hatten, was für John gut wäre, wie etwa ein Schulhelfer, musste dies erst einmal genehmigt und umgesetzt werden. Es gab viele Leistungen, aber automatisch bekam man sie natürlich nicht. Es gehörte zu unserer Aufgabe als Eltern, uns zu in­ formieren und unsere Rechte einzufordern. Vor der Einschulung hatte Johns Förderbedarf festgestellt werden müssen. Die Behörde teilte John zunächst den Förder­ schwerpunkt Geistige Entwicklung zu. Ich wusste, dass es auch den Förderschwerpunkt Autismus gab und fragte mich, warum John diesen nicht bekommen sollte, wo er doch offiziell mit Autismus diagnostiziert worden war. Es stellte sich heraus, dass John mit dem Förderschwerpunkt Autismus eine bessere Personalausstattung und mehr Leistungen zustehen würden. Ich beantragte sofort eine An­ passung des Förderschwerpunkts, musste aber einige Zeit kämpfen, bis sie uns tatsächlich gewährt wurde. In unserer Elterngruppe erzählte ich davon und es stellte sich heraus, dass es dort noch andere autistische Kinder gab, die lediglich den Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung erhalten hatten. Es handelte sich bei unserem Fall also nicht um einen Zufall. Die reduzierte Zuweisung hatte System. Für die Behörde handelte es sich vielleicht um eine bequeme Art Geld zu sparen, aber für uns bedeutete dies ein wirkliches Risiko. Wir wussten, wenn John sich nicht in einem Rahmen aufhielt, der für ihn passte, könnte ihn dies schnell in eine schwere Krise führen.

89 Seine Balance des Daseins in der Welt war eine feine Gratwanderung. Wir hatten keinen Spielraum für Sparexperimente. John regte sich manchmal so auf, dass Schäden nicht abzu­ wenden waren. Im Rahmen der Umgewöhnung von der Frühför­ dergruppe zur Schule war in unserer Wohnung einiges zu Bruch gegangen und wir waren immer wieder mit Reparaturen beschäftigt. John hatte zweimal eine Glasscheibe in der Küchentür mit dem Kopf eingeschlagen, wie durch ein Wunder hatte er sich nicht an den Scherben geschnitten. Stress, Angst und Unsicherheit ließen John in seinen Grund­ festen verzweifeln. Es war klar, dass er dieses Verhalten nicht aus bösem Willen zeigte, er konnte sich einfach nicht mitteilen, er war überfordert. Manchmal sangen wir das Lied Monster von Wir sind Helden: »Kannst du mein Monster halten, hältst du mich?« John mochte das Lied sehr und wenn ich ihm am Ende des Liedes sagte: »Ja, ich kann dein Monster halten. Ich halte dich«, strahlte er mich an, erleichtert und dankbar.

Wir konnten Johns Frustration gut verstehen, wussten aber anderer­ seits meistens nicht, was im konkreten Fall für ihn falsch war und was wir tun könnten, um ihm zu helfen. Im Alter von sieben Jahren war John dabei körperlich schon wesentlich stärker und schwieriger zu kontrollieren als zuvor. Wie schon früher brauchte er bei aggressiven Schüben ein starkes Gegenüber, jemanden, der dem Kontrollverlust von außen Einhalt gebieten konnte. John selbst hatte in so einer Situation überhaupt keine Kontrolle mehr über sich. Sie musste von außen

90 kommen, wir mussten ihn halten. Am besten ging es, wenn man selbst dabei keinerlei Stress, Angst oder Unsicherheit zeigte und sich möglichst wenig von seinem Verhalten beeindrucken ließ, was aber durchaus schwierig sein konnte, wenn John zum Beispiel gerade seinen Kopf durch die Küchentürscheibe gestoßen hatte. Unser Hauptproblem war immer noch die Kommunikation. Das Benutzen von Bildkarten war größtenteils eine Einbahnstraße. Wir zeigten John Bilder, zum Beispiel davon, was wir unternehmen wollten, und er schien dies durchaus zu verstehen. Er selbst be­ nutzte die Bilder aber kaum. Die einzigen Karten, die er einiger­ maßen zuverlässig nutzte, hatten mit Essen und Wasser zu tun, seinen beiden großen Leidenschaften. In der Schule gab er dem Schulhelfer die Mehr-Karte, wenn er einen zweiten Teller essen wollte. Zuhause brachte John manchmal die Karten für Küche und Badewanne. John badete gerne und manchmal brachte er die Badewannenkarte mehrmals am Tag. Eigentlich sollte er für das Kommunizieren belohnt werden und immer das bekommen, was auf der Karte war, die er gebracht hatte. Als John an einem Tag aber schon zweimal in der Wanne gewesen war, sagte ich ihm, dass es für heute genug damit sei und nahm die Badewannenkarte an mich. Abends ging John an seine Schublade mit den Bildkarten und durchsuchte mit einer für ihn ungewöhnlichen Geduld alle Karten. Schließlich kam er mit stolzem Gesichtsausdruck zu mir, legte die Schwimmbad-Karte in meine Hand und marschierte in Richtung Badezimmer. Ein unvergesslicher Moment, wie er sich an der

91 Badezimmertür umdrehte und mich triumphierend anlachte, als wollte er sagen: »Dieser Punkt geht an mich!« Ich musste an den Philosophen Ernst Cassirer denken, der über die taubblinden Helen Keller und Laura Bridgman geschrieben hat: »Der spezifische Charakter der menschlichen Kultur und ihre intellektuellen und sittlichen Werte gehen nicht auf das Material zu­ rück, aus dem sie besteht, sondern auf ihre Form, ihre architektonische Struktur. Und diese Form kann sich in allem möglichen Sinnesmaterial ausdrücken. Die Lautsprache ist der taktilen Sprache deutlich überlegen; aber die technischen Mängel dieser letzteren zerstören nicht ihre grundsätzliche Brauchbarkeit. Die freie Entfaltung von symbolischem Denken wird durch die Verwendung taktiler anstelle von lautlichen Zeichen nicht unterbun­ den.« Wie Recht Cassirer hatte. John hatte symbolisches Denken gezeigt, er hatte gewusst, dass die Schwimmbad-Karte der Badewannenkarte am nächsten kam. In Johns klaren Momenten ohne Frustration und Aggression erlebten wir einen glücklichen Jungen, der stolz war auf seine Fortschritte. John hatte durchaus verstanden, dass ich die Badewannenkarte für diesen Tag aus­ sortieren wollte, aber er hatte einen Weg gefunden, mich zu über­ listen. Wann immer sich solche Situationen der Öffnung zeigten, blitzte auch dieser typische John-Humor auf. Nicht ohne Grund hatten sie ihn schon in der Kita in Chicago »Mister Personality« genannt. Leider fehlte es an generalisierenden Effekten. Nach einer solchen Aktion konnte es sein, dass John wochenlang gar keine

92 Bildkarten mehr benutzte – obwohl er damit doch so erfolgreich gewesen war (selbstverständlich hatte er nach dem Bringen der Schwimmbad-Karte ein drittes Mal baden dürfen).

Als ich mich – unfreiwillig, aber zu Johns Nutzen unabwendbar – mit der politischen Instrumentalisierung von Förderschwerpunkten zu befassen begann, stieß ich auf die Frage nach der Häufigkeit des Vorkommens von Autismus. Wenn es alleine in Berlin eine ganze Gruppe diagnostizierter Autisten gab, die keinen Förderschwer­ punkt Autismus zugesprochen bekommen hatten, was bedeutete das für die Wahrnehmung des Syndroms? Es gab in Deutschland keine offiziellen Zahlen zum Vorkommen von Autismus, deshalb basierten Schätzungen oft auf anderen Kriterien, wie zum Beispiel auch auf der Anzahl von Förderschwerpunkten. Nun stellte sich aber heraus, dass diese das Vorkommen des Syndroms gar nicht angemessen widerspiegelten. Wie zuverlässig waren also unsere Annahmen darüber, wie viele Autisten es tatsächlich gibt? In Deutschland und in den USA, den beiden Ländern, in denen wir mit John gelebt haben, gab es große Unterschiede in der Wahr­ nehmung des Autismus. In Deutschland wurde Autismus noch immer als seltene Beeinträchtigung angesehen. Eine europäische Schätzung von 1999 ging davon aus, dass auf 10.000 Kinder etwa 5 mit Autismus kommen. Dies galt in Deutschland immer noch als realistischer Leitwert. In den USA dagegen hatte die Gesundheits­ behörde zuletzt die Zahl von 1:50 veröffentlicht. Ein unglaublicher Unterschied.

93 Der Autismus war in den Vereinigten Staaten in allen Medien präsent, es gab Titelgeschichten in großen Magazinen und Zeitungen, Newsweek, Time Magazine, People Magazine, New York Times. Bei Larry King und Oprah Winfrey wurde über Autismus ge­ sprochen, es war gar von einer neuen Grenzerfahrung der Menschheit die Rede. Hillary Clinton sprach in ihrem Nominierungswahlkampf 2008 von einer Epidemie, die die Auf­ merksamkeit des nächsten Präsidenten erfordere. Autismus, in Deutschland eine Randerscheinung, war in den USA seit mehreren Jahren ein heiß diskutiertes Massenphänomen. Wie konnte das passieren? Was die Medien betraf, gab es eine leichte Erklärung. Ein Enkelsohn von Bob Wright, dem einflussreichen ehemaligen Chef von NBC, war mit Autismus diagnostiziert worden. Daraufhin hatte Wright 2005 die Interessensvertretung Speaks gegründet. Innerhalb eines Jahres schlossen sich ihr zwei andere etablierte Interessensvertretungen an, die National Alliance for Autism Research und Cure Autism Now. In einer beispiellosen Medienkampagne war es Wrights Verein in den folgenden Jahren gelungen, das Thema Autismus auf die nationale Agenda zu setzen. Aufmerksamkeit kann positiv sein, wenn Bedürfnisse bisher weitgehend übersehener Menschen endlich gehört und anerkannt werden. Während dem Thema Autismus in Deutschland in diesem Sinn vielleicht zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, schien der Effekt in den USA durch das forsche Marketing aber zu kippen. Eine Epidemie muss einen Grund haben, also wurde viel spekuliert. Nahezu täglich gab es in den Medien neue Theorien zur Ursache

94 von Autismus: Pilzbefall, Vitaminmangel, Sekretinmangel, Gluten- Intoleranz, Virusinfektionen, Aspartamschäden, Reizdarm und Impfschäden, um nur einige Beispiele zu nennen. Wissenschaftlich beweisen ließen sich diese Spekulationen freilich nicht.

Abgesehen von der erhöhten Aufmerksamkeit durch die geschickt lancierte Medienkampagne waren die Zahlen von Autismus­ diagnosen in den USA allerdings ja auch tatsächlich stark ange­ stiegen. Die Frage blieb: Warum? Bei genauerem Hinsehen ließ sich dies vielfältig erklären. Obwohl Hans Asperger und Leo Kanner den Diagnosebegriff zwischen 1938 and 1943 entwickelt hatten, tauchte Kanners Form des Frühkindlichen Autismus erst 1980 im Diagnosehandbuch DSM auf. Aspergers Form des Autismus wurde dem Diagnosehandbuch sogar erst 1994 hinzugefügt. Damit ist Autismus eine vergleichsweise junge Diagnosekategorie. Ein Anstieg an Diagnosen ist in den ersten Jahren oder auch Jahrzehnten nach einer Neueinführung immer zu erwarten, während sich Psychiater, Kinder- und Jugendärzte sowie die allgemeine Öffentlichkeit dem Konzept annähern. Ein Kind mit Frühkindlichem Autismus wurde früher vielleicht lediglich als geistig behindert diagnostiziert, ein Asperger-Syndrom wurde möglicher­ weise gar nicht pathologisiert und der oder die Betroffene schlicht als Einzelgänger oder Sonderling wahrgenommen. Der Psychologe Tony Attwood ist noch vor zehn Jahren davon ausgegangen, dass etwa die Hälfte der Asperger-Syndrome nicht diagnostiziert wird.

95 Die Soziologin Majia Holmer Nadeson hat darauf hingewiesen, dass das Leben in der westlichen Welt heute außerordentlich hohe Anforderungen an soziale Kompetenzen stellt. Umso mehr falle es uns entsprechend auf, wenn jemand auf diesem Gebiet Defizite zeigt. Die Prägungen der westlichen Welt werden auch besonders im Vergleich mit anderen Regionen deutlich. Der Anthropologe , selbst Vater einer autistischen Tochter, hat Familien in Peru, Indien, Südkorea und Südafrika besucht. In Indien erlebte er den Autismus etwa als wesentlich weniger stigmatisiert. Der Rückzug aus der Gesellschaft, das Für-Sich-Sein, diese Aspekte haben in Indien durch den Hinduismus eine positivere Konnotation, die möglicherweise auch einen positiveren Blick auf den Autismus zulässt. Mitte des 20. Jahrhunderts verbreitete der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim in der westlichen Welt abstruse Theorien, dass emotional distanzierte Mütter am Autismus ihrer Kinder Schuld seien. Er sprach von so genannten Kühlschrankmüttern, eine Idee, die seither zum Glück längst verworfen ist. In Indien dagegen kursierte die gegenteilige Idee: die einer zu symbiotischen Beziehung zwischen Mutter und Kind. (Interessant aber auch, dass trotz des Gegensatzes von zu distanziert und zu nah letztlich die Hypothesen beider Kulturkreise die Mutter verantwortlich machen.)

Grinker hat sich auch eingehend damit befasst, wie sich die Diagnosekriterien in den verschiedenen Neuauflagen des Diagnosehandbuchs DSM verändert haben. Während die Kriterien in der Auflage von 1980 noch sehr speziell ausformuliert waren,

96 wurden sie in der Auflage von 1987 erheblich vager. Mehrere Studien haben gezeigt, dass dieser größere Spielraum zu erheblich mehr Diagnosen führte. Eine Studie verglich 194 Kinder, die mit Autismus in Verbindung gebracht wurden. Nach den Kriterien des Diagnosehandbuchs aus dem Jahr 1980 waren 51% von ihnen Autisten. Nach den Kriterien des Diagnosehandbuchs aus dem Jahr 1987 dagegen stieg die Zahl bei denselben Kindern auf 91%. Die deutschen Wissenschaftler Michael Kusch und Franz Petermann kamen zu dem Schluss, dass es in Deutschland nach den Kriterien von 1980 etwa 2.200 autistische Kinder gebe, nach den Kriterien von 1987 allerdings 20.000. Forscher in Finnland haben Kanners Diagnosekriterien aus dem Jahr 1943 mit dem in Europa benutzten Diagnosehandbuch ICD verglichen. Nach Kanner gebe es demnach 5,6 Autisten pro 10.000 Menschen, nach dem ICD aber 12,2. Mehr als das Doppelte. Für die Neuauflage des Diagnosehandbuchs DSM im Jahr 1994 wurden die Kriterien wieder etwas eingeengt, blieben aber nach wie vor hinter den Regelungen von 1980 zurück. Außerdem wurde ne­ ben dem Asperger-Syndrom auch die Kategorie Atypischer Autismus eingeführt. Beide neuen Kategorien wurden schnell, gerne und viel benutzt. Zu guter Letzt wurde bei der Redaktion der Korrekturfahnen im Manuskript auch noch an mehreren Stellen die Konjunktion und durch oder ersetzt. Aufgrund eines Lektoratsfehlers waren dadurch weniger übereinstimmende Merkmale nötig, um eine Diagnose zu rechtfertigen.

97 Es gibt noch weitere Einflussfaktoren auf die Diagnosehäufigkeit. Im Laufe der Zeit verbesserte sich zum Beispiel die Unterscheidung zu Differentialdiagnosen, besonders in Bezug auf Psychosen und Schizophrenie. Und die Diagnose Autismus wurde früher nicht ver­ geben, wenn andere nachweisbare medizinische Beeinträchtigungen vorlagen. Dies hat sich in den letzten Jahren sehr geändert. Heute haben bis zu 10% der Menschen mit Down-Syndrom zusätzlich eine Autismusdiagnose, bis zu 47% der Menschen mit dem Fragilen-X-Syndrom sowie bis zu 48% der Menschen mit Tuberöser Hirnsklerose. Andere Syndrome, die häufig mit Autismus assoziiert werden, sind das Angelman-Syndrom, das Rett-Syndrom, das Joubert-Syndrom und das Cohen-Syndrom. Insgesamt haben etwa 37% der diagnostizierten Autisten eine andere medizinisch nachweisbare Beeinträchtigung. Grundsätzlich ist zu bedenken, dass steigende Diagnosezahlen auch nicht automatisch bedeuten, dass mehr Kinder mit Autismus geboren werden. Einen erheblichen Anteil der Neudiagnosen ma­ chen die Diagnosen von Erwachsenen aus, die bis dahin undiagnostiziert oder anders diagnostiziert waren. Die meisten Epidemiologen sind sich heute einig, dass die stei­ gende Zahl an Autismusdiagnosen hinreichend erklärt werden kann und es eben keine Epidemie gibt. Einige Forscher bleiben skeptisch. Doch wenn man all die Faktoren bedenkt, die zum Diagnoseanstieg beitragen, wird so oder so klar, dass ein Anstieg an Diagnosen nicht automatisch einen Anstieg des tatsächlichen Vorkommens einer Beeinträchtigung bedeutet.

98 Heute haben etwa 7% der Kinder in Deutschland einen Förder­ bedarf und diese Zahl steigt stetig an. Kinder werden so genau be­ obachtet wie nie zuvor, was dazu führt, die kleinsten Abweichungen sowie Entwicklungs- und Persönlichkeitsunterschiede zu thematisieren. Je genauer wir hinsehen, eine umso größere Fülle von Unterschieden finden wir. Das kann nicht erstaunen. Je präziser ich meine Vorstellungen von Normalität definiere, umso kleiner wird die Gruppe der Normalen und umso größer die der Abweichler. Im Jahr 1952 waren im Diagnosehandbuch DSM nur 60 Katego­ rien abnormalen Verhaltens gelistet. In der Auflage von 1994 betrug die Anzahl der Kategorien schon 384. Man kann diese erhöhte Auf­ merksamkeit positiv oder negativ bewerten. Neutral lässt sich erst einmal feststellen: Wir sind körperlich gesünder und leben länger denn je, aber wir definieren immer mehr Probleme. Dies gilt für Erwachsene wie für Kinder. Sozialwissenschaftler der Columbia University haben die so genannte Autismus-Epidemie detailliert untersucht und sind zu dem Schluss gekommen, dass den verschiedenen Einflussfaktoren für den Diagnoseanstieg vielleicht ein gemeinsamer Auslöser unterliegt: Veränderungen in der Mittelklasse der Gesellschaft. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts lebten Kinder mit geistigen Einschränkungen nahezu ausnahmslos in Behindertenheimen. Die Anzahl geistig behinderter Kinder, die nicht in ihrer Familie lebten, erreichte im Jahr 1967 ihren Höhepunkt. Auch noch zehn Jahre später lebten 83% dieser Kinder in einem Heim. Erst in den 1980er und 1990er Jahren änderte sich dies. Es vollzog sich ein gradueller Prozess der Deinstitutionalisierung. Zuerst wurde es gesellschaftlich

99 akzeptabel, ein geistig behindertes Kind Zuhause zu behalten, dann wurde es langsam sogar als bessere und vorbildliche Alternative an­ gesehen. Die Integration wurde zum legitimen Ziel von Mittelklasse-Eltern. Durch diese Verschiebung entstanden neue Bedürfnisse. Solange die geistig behinderten Kinder und Erwachsenen in Heimen lebten, interessierte sich niemand wirklich für sie, geschweige denn für genaue Diagnosen. Doch als diese Kinder plötzlich mehr und mehr in ihren eigenen Familien aufwuchsen, brauchten die Eltern und Angehörigen dabei natürlich Unterstützung. Um diese zu organisieren, mussten bürokratische Strukturen geschaffen werden: für den Schulbesuch, für Entlastung in der Pflege, später zum Er­ möglichen einer Berufstätigkeit, um nur einige Beispiele zu nennen. Bürokratische Strukturen funktionieren über die Definition von Kriterien und so wurden Diagnosen zu Werkzeugen der Organisation des Familienlebens. In diesem Sinn lässt sich ein Diagnoseanstieg sogar als Zeichen der Ermächtigung lesen, und im Zuge der voranschreitenden Inklusion wären entsprechend weitere Anstiege an Diagnosen zu er­ warten, nicht nur im Bereich Autismus. Wie wir das Vorkommen der Häufigkeit eines Syndroms wahr­ nehmen, ist insofern wichtig, als steigende Zahlen im besten Fall bedeuten, dass die Gesellschaft genauer hinsieht und ein Syndrom besser versteht. Menschen mit dem Unterschied, den wir heute Autismus nennen, hat es wahrscheinlich schon immer gegeben, aber jetzt interessieren wir uns mehr dafür. Ein Diagnoseanstieg kann

100 auch bedeuten: Wir nehmen einen Unterschied wahr und erkennen ihn an.

Nach unseren schönen Tagen an Mallorcas Westküste wollten wir auch endlich die Hauptstadt Palma besuchen. In der Nähe der be­ eindruckenden Kathedrale La Seu fanden wir nach einigem Suchen endlich einen Parkplatz. Scott ging zum Automaten, um einen Parkschein zu ziehen, während ich John aus dem Auto holte. Unser Mietwagen war ein 2-Türer, ich klappte also den Beifahrersitz vor und öffnete Johns Gurt. Meine Tasche stellte ich neben meinem Fuß ab, um beide Arme für John frei zu haben. Gerade als ich ihn aus dem Auto hob, spürte ich eine Bewegung, wie aus dem Nichts. Jemand griff meine Tasche, ich sah, wie sie durch die Luft wirbelte, ein junger Mann rannte mit ihr weg. Mit John im Arm stand ich da, konnte nicht mit ihm rennen, ihn aber auch nicht alleine stehen lassen. Scott war noch am Parkschein­ automaten. Also stand ich einfach da und rief aus Reflex so laut ich konnte: »Hey!« Ein hilfloser Schrei, aber der junge Mann drehte sich um. Ich hatte John auf den Boden gestellt und stand nun Hand in Hand mit ihm neben dem Auto. Der Mann sah uns zwei lange Sekunden an, ließ dann meine Tasche fallen und rannte weg. Scott lief, von meinem Aufschrei alarmiert, zu der Tasche. Ich nahm an, dass der Mann irgendwie schnell mein Portemonnaie herausgenommen hatte, aber es stellte sich heraus, dass die Tasche noch verschlossen war und nichts fehlte. Er hatte sie also wirklich einfach fallen gelassen. Warum? Er hätte so leicht

101 damit entkommen können. Hatte er, als er sich zu uns umdrehte, gesehen, dass John behindert ist und dann beschlossen, uns nicht zu bestehlen? Unsere Erkundung von Palma fiel kurz aus. Wir waren nicht mehr wirklich in der Stimmung für Sehenswürdigkeiten. Beklaut zu werden war kein gutes Gefühl, aber besonders merkwürdig fühlte es sich an, zudem am Ende unerwartet verschont worden zu sein. Ich war natürlich sehr froh darüber, aber ich fragte mich auch, ob allein unser Anblick schon so viel Mitleid auslöste, dass ein Dieb sein Ge­ wissen entdeckte? Oder was war da passiert? Wir gingen ein bisschen in der Stadt spazieren und picknickten auf einer Bank in der Altstadt, machten uns aber bald wieder auf zurück nach Santa Ponsa.

An der Westküste trainierten professionelle Radfahrer in den mallorquinischen Bergen für ihre späteren Touren in ganz Europa. An einem Anstieg in einer verlassenen Gegend explodierte direkt vor uns der Vorderreifen eines alleine fahrenden Radfahrers. Wir sahen, wie er über das Lenkrad flog und fuhren sofort an die Seite. Scott und ich stiegen aus, John ließen wir angeschnallt hinten im Auto sitzen. Der Mann lag am Boden, seine Hände und Knie bluteten, er hatte Kratzer im Gesicht. Aber er bewegte sich und ver­ suchte, sich aufzusetzen. »Sind Sie okay?«, fragten wir. Er antwortete nicht und sah uns nur mit einem verstörten Gesichtsausdruck an. Er stand wohl unter Schock.

102 Auf der Straße war sonst niemand zu sehen, es bestand also keine unmittelbare Gefahr, überfahren zu werden. Vorsichtig brachten wir zuerst den Mann und dann sein Fahrrad an den Straßenrand. Wir wollten einen Krankenwagen rufen, hatten aber keinen Handyempfang. Also mussten wir den Mann wohl selbst transportieren. Er hatte mittlerweile seine Sprache wiedergefunden und es stellte sich heraus, dass er Deutscher war. Den Beifahrersitz schoben wir für ihn so weit wie möglich nach hinten. Der Kofferraum unseres Mietwagens war zu klein für das Fahrrad. Scott schraubte beide Reifen ab, mehr passte in den Kofferraum nicht hinein. Also setzte Scott sich hinten zu John und balancierte dabei das Gestell des Fahrrads auf seiner Schulter. Ich folgte den Instruktionen des Mannes zu dem Camp, in dem seine Trainingsgruppe wohnte. Er hatte Schmerzen, das merkte man, aber er war trotzdem nett und interessierte sich sogar für Johns Autismus, nachdem er Johns Lautieren von der Rückbank zu­ nächst nicht einordnen konnte. Es war ein Phänomen, welch einen enormen Eindruck John auf seine Umwelt machte. Schlagartig und egal in welcher Situation. Fast ein bisschen wie eine Naturgewalt. Wer John begegnet war, vergaß ihn nicht mehr. Oft wurden wir in Berlin angesprochen, weil sich Menschen aus unterschiedlichsten Zusammenhängen an John erinnerten, mehrfach zum Beispiel auch Kassiererinnen aus Super­ märkten, in denen wir mit John eingekauft hatten, und die uns woanders in der Stadt wiedererkannten. Das Radfahrercamp war von einer Mauer umgeben und die Ein­ fahrt durch ein Tor verriegelt. Als wir heranfuhren, kam ein

103 Wachmann skeptisch auf unser Auto zu. Sobald er aber den verletzten Mann auf dem Beifahrersitz sah, rief er Unterstützung heran. Schnell tauchten mehrere Männer auf, halfen dem Verletzten aus dem Auto und nahmen die Fahrradteile an sich. Es ging alles so schnell, dass wir uns gar nicht richtig verabschieden konnten. Wir suchten eine Tankstelle und säuberten das Auto. Es war gut, dass wir den Mietwagen wieder ohne Selbstbeteiligung gebucht hatten, denn die Blutflecken auf dem Beifahrersitz bekamen wir nicht ganz heraus.

Ehe wir uns versahen, endete unser Urlaub und wir flogen zurück zur schwierigen Schulsituation in Berlin. Johns Helfer war nur für ein Schuljahr bewilligt worden, nun mussten wir für das nächste Jahr einen neuen Antrag stellen. Es war unklar, ob wir die nötige Stundenzahl dafür bewilligt bekämen. Der rot-rote Berliner Senat hatte für die Kosten von Schulassistenz gerade Sparmaßnahmen beschlossen. Gemeinsam mit anderen Eltern gründeten wir einen Verein, um unsere Interessen besser durchsetzen zu können. Ich wurde Mit­ glied im Vorstand, wir trafen uns mit den bildungspolitischen Sprechern aller im Senat vertretenen Parteien. Ich wollte keine Aktivistin werden, aber vor John lag ein langes Schulleben. Kürzungen einfach zu akzeptieren, das war auch und gerade im Hinblick auf die Gefahr von Aggressionen keine Alternative.

104 6. Connemara – Therapien

»Die Wissenschaft hat die Akademie hervorgebracht, der Aberglaube die Inquisition.« (Robert Green Ingersoll)

Die Sommerferien begannen ohne Antwort der Schulbehörde auf unseren Schulhelferantrag. Das war für alle eine schwierige Situa­ tion, nicht zuletzt auch für den Schulhelfer, der nicht wusste, ob er nach den Ferien noch eine Arbeit hatte. John hatte in der Zwischenzeit angefangen, Worte und sogar Satzteile nachzusprechen, die er oft hörte. Ein autistisches Mädchen in seiner Klasse, Owens, war wie John motorisch unruhig und ständig auf der Suche nach neuen Reizen. Sie kletterte auf alles, was sich anbot, und die Lehrkräfte riefen wohl oft: »Owens, komm da runter!« John wiederholte das Zuhause immer wieder, und es sollte jahrelang in seinem Repertoire bleiben: »Owens! Nein! Owens, komm da runter!« Meistens war Johns Sprache derart echolalisch. Das heißt, dass er gehörte Sätze und Satzteile wiederholte, oft auch außerhalb ihres Sinnzusammenhangs. Manchmal ließ er den ersten Buchstaben ei­ nes Wortes weg. Einmal saß er auf einer Schaukel und sagte: »Aaalt!« Es war ziemlich kalt und so fragte ich ihn: »Ist Dir kalt?« Und er antwortete tatsächlich: »Ja!«

105 Es war das erste Mal, dass er eine Frage verbal beantwortete. Wie auch mit dem Badewannen-Bildkartenerfolg handelte es sich allerdings um einen Ausnahmemoment. In der Regel wiederholte er nur Gehörtes. Neben der Echolalie hatte John auch angefangen, Melodien zu summen. In der Schule hatte er mit seinem Schulhelfer klassische Musik gehört. Besonders beeindruckt war John von der Arie der Königin der Nacht in Mozarts Zauberflöte. Wenn er etwas besonders dringend haben wollte, summte er nun oft, laut und nachdrücklich diese Melodie. John experimentierte überhaupt viel mit seiner Stimme, machte manchmal piepsige Töne oder imitierte tiefe Männerstimmen. Als wir eines Tages zu Dritt am Potsdamer Platz spazieren gingen, hielt eine vor uns gehende Frau in einem schicken Business-Kostüm abrupt an, drehte sich um und sah Scott erbost an. Es sah aus, als wolle sie ihm jeden Moment eine Ohrfeige geben. Wir wussten nicht, was los war, bis John genau in diesem Moment in seiner tie­ fen Stimme wiederholte, was er anscheinend vorher schon einmal gesagt hatte, und was wir vor lauter Wiederholung schon gar nicht mehr wahrnahmen: »Hmm, lecker!« Der böse Blick der Frau glitt von Scotts Gesicht hinunter zu John an dessen Hand. Sie lachte herzlich. »Aha, das war gar keine Anzüglichkeit!«

»Hmm, lecker!«, war eine von Johns liebsten Wendungen. Er begeisterte sich besonders für Eis und Cheeseburger. Fast alle Wor­ te, die er sprach, hatten mit Essen zu tun. Wenn wir mit dem Auto

106 durch Berlin fuhren und an einer Tankstelle vorbeikamen, rief John: »Eis kaufen! Eis kaufen gehen!« Wir kauften ihm meistens ein Eis, wenn wir das Auto tankten, und wegen Johns teurem Hobby »Im Auto herumgefahren werden« waren wir oft an der Tankstelle. So waren diese für John irgend­ wann zu einem Eisladen geworden. Wenn wir an den goldenen Bögen von McDonald's vorbeifuhren, summte John die Melodie: »Da-da-da-da-daaa!« Und wir antworteten: »Ich liebe es!« John wusste ganz genau, was es in welchen Geschäften zu kaufen gab. Er sah die Läden oft schon von weitem, wenn wir sie noch gar nicht bemerkt hatten. Allerdings unterschied er die unter­ schiedlichen Ketten dabei nicht. Wenn wir an einem Burger King vorbeifuhren, sang er auch: »Da-da-da-da-daaa!« Oft fügte er dann noch hinzu: »Cis-Börger kaufen!« Natürlich konnten wir John nicht an jeder Tankstelle ein Eis und an jedem McDonald's oder Burger King einen Cheeseburger kaufen. Deshalb hörten wir vom Rücksitz beim Vorbeifahren oft laut eine verärgerte Version der Königin der Nacht.

Nachdem wir für unseren Sommerurlaub in Dublin gelandet waren, holten wir unseren wie immer gebuchten Mietwagen ab und fuhren in die Stadt. Um die Ecke vom Bed & Breakfast, in dem wir für eine Nacht ein Zimmer gemietet hatten, sahen wir einen McDonald's und John sang: »Da-da-da-da-daaa!« Zur guten Umgewöhnung an die neue Umgebung taten wir ihm den Gefallen, dort zu essen. Danach liefen wir durch die Stadt: Trinity College, Grafton Street, St. Stephen's Green. Im Bed &

107 Breakfast saßen wir, als John eingeschlafen war, mit einem Glas Wein am offenen Fenster, die Stadtluft zog ins Zimmer, gegenüber sahen wir die typischen Reihenhäuser mit ihren engen Treppenaufgängen, das Licht der Straßenlaternen schien hier milder, wir hörten die ungewohnte Sirene eines Krankenwagens in der Ferne. Vieles war so typisch Stadt, könnte irgendwo sein, aber gleichzeitig waren viele Details doch so anders als Zuhause in Berlin. Am nächsten Morgen fuhren wir einmal quer durch das ganze Land bis an die Westküste, wo wir ein Haus auf der Halbinsel Renvyle in Connemara gemietet hatten. Das abgelegene Haus fan­ den wir, nachdem wir zweimal in Pubs nach dem Weg gefragt hatten. Die Besitzerin des rustikalen Ferienhauses erklärte uns, wie man für warmes Wasser einen Knopf drücken und eine Stunde war­ ten müsste. Im Wohnzimmer war Torf zum Heizen aufgeschichtet. Es gab einen Kamin und ein großes Panoramafenster mit einem herrlichen Blick aufs Meer, im Hintergrund grün bewachsene Hügel. John setzte sich in Unterhose und T-Shirt in einen Alkoven am Fenster. Kleidung legte er am liebsten ab, sobald man ihn ließ. Die Ecke am Fenster hatte er sofort entdeckt, als er das Wohnzimmer zum ersten Mal betreten hatte. Danach war es für den Rest unseres Aufenthalts seine Ecke. Er konnte im Verhältnis zu seiner sonstigen motorischen Unruhe erstaunlich lange dort sitzen und einfach nur hinausblicken. Irland eroberte unsere Herzen im Sturm. Wir erkundeten die Halbinsel, fanden alte Ruinen, halb verfallene Steinhäuser, einen verlassenen Friedhof. Bei Ebbe konnte man die Insel Omey Island

108 über einen Fußweg durch das Watt erreichen. Wir waren uns nicht sicher, ob John da mitmachen würde, aber es klappte problemlos. Wir fuhren für einen Tagesausflug mit der Fähre auf die Insel Inishbofin, fuhren den Connemara Loop, besuchten Kylemore Abbey. Wo immer wir waren, beeindruckte uns die Natur. Hier konnten wir uns wieder perfekt durch den Tag treiben lassen. Im Haus fanden wir ein großes Puzzle der Ha'penny Bridge in Dublin. John interessierte sich zwar nicht dafür, rührte die Puzzle­ teile auf dem Tisch aber auch nicht an. Vor nicht allzu langer Zeit hätte er sie in einem Wisch vom Tisch gefegt. Uns fiel auf, wie viel ruhiger er mit seinen mittlerweile acht Jahren doch geworden war.

Eines Morgens kamen wir am Nationalpark Connemara vorbei und sahen ein Hinweisschild für Wanderungen am knapp 500 m hohen Diamond Hill. John war so gut zufrieden, vielleicht könnten wir sogar richtig wandern? Drei Routen führten auf den Berg: Der gelb ausgeschilderte Weg war der kürzeste und leichteste, der blaue die mittlere Distanz und die rote Route führte bis ganz auf den Gipfel. Am Fuß des Berges sahen wir einige andere Familien. Die gelbe Route könnten wir vielleicht schaffen, dachten wir. John merkte allerdings recht schnell, dass wir uns hier nicht treiben ließen, sondern ein Ziel hatten. Das gefiel ihm spontan erst einmal gar nicht und er rief verärgert: »Owens! Nein! Owens! Owens!« Immer wieder setzte John sich am Wegesrand hin, wir kamen nur langsam voran. Familien mit wesentlich kleineren Kindern über­ holten uns. »Will nicht gehen, der kleine Kerl, was?«, fragte ein

109 Vater. »Wir werden mal sehen, wie es mit denen hier läuft.« Er zeigte auf seine beiden Kinder. Wir lachten und ließen sie vorbeiziehen. Langsam machten wir unseren Weg aufwärts, John kam besser in die Gänge. Wir erreichten die Gabelung, an der die gelbe Route wieder bergab führte. Wir entschieden, noch ein bisschen der blauen Aus­ schilderung zu folgen. Bald erreichten wir einen herrlichen Aussichtspunkt. Wir waren nun so hoch, dass wir über die kleineren Hügel hinüber bis zum Meer gucken konnten. John stand da, blickte mit einem glückseligen Gesichtsausdruck auf die Landschaft hin­ unter und performte vor lauter Begeisterung spontan die Stehversion seines Rudernden Sitztanzes. Dabei rief er laut: »Owens, nein! Owens! Owens«, dieses Mal aber nicht mehr verärgert, sondern richtig enthusiastisch. John ging immer zügiger bergauf, es schien nun, als könne er gar nicht schnell genug höher kommen. Wir überholten Familien, die wir vorher hatten ziehen lassen. Deren Kinder fingen nun an zu streiken. Auch den Vater mit seinen beiden Kindern holten wir ein. »Wollen nicht mehr gehen, die kleinen Kerle, was?«, fragte Scott. Und ich zeigte auf John und sagte: »Dieser hier will jetzt!« Der Vater lachte und winkte uns vorbei. John schien in seinem Element zu sein. Wir würden einfach so lange laufen, wie wir den Eindruck hatten, dass es ihm noch gefiel. Als wir an die Gabelung mit dem roten Weg kamen, ging John auf dem zunehmend engeren Pfad sogar vorweg. Wolken zogen ein und es fing an zu regnen. Bald waren wir klatschnass. Hier waren keine Familien mehr zu sehen, nur noch einzelne Wanderer. Doch John lief weiter, bis ganz

110 auf den Gipfel, und dort stand er mitten in den Wolken und freute sich unbändig. Die Nässe schien ihm überhaupt nichts auszumachen. Der Weg hinunter war zunächst glitschig und steil. Wir nahmen John zwischen uns und einer hielt immer seine Hand. Vorsichtig erreichten wir den blauen Weg und von da an wurde es leichter. John konnte wieder alleine laufen und sprintete los, wir hinterher. Wir erreichten unser Auto etwa acht Stunden nachdem wir unsere Wanderung angetreten hatten. Was für eine Leistung. Wir hatten tatsächlich gemeinsam den Diamond Hill erklommen. Wir waren alle Drei durchnässt und erschöpft, aber glücklich. Im Ferienhaus trockneten wir unsere Kleidung und unsere Schuhe vor dem Kamin, genossen unser wohlverdientes Abendessen und John saß glücklich in seiner Ecke am Panoramafenster. »Das ist besser als jede Therapie«, dachte ich mir. Die Natur, das Wandern, und dann abends eine tolle Aussicht und ein warmer Kamin.

Die Frage nach Therapien lag mir seit einiger Zeit zunehmend schwer im Magen. In unserer Elterngruppe wurden neuerdings An­ meldungen für dubiose Seminare verbreitet. Ein Wochenendkurs kostete 400 Euro, es ging um biomedizinische Interventionen, die angeblich Autismus heilen könnten. Mich verstörte das. Autismus war nicht heilbar und es schien mir ziemlich klar zu sein, dass hier jemand mit dem Leid der Menschen Geld verdienen wollte. Warum wollten sich Eltern, die ich ansonsten als rationale Menschen erlebt hatte, darauf einlassen? Vielleicht hatte es damit zu

111 tun, dass konventionelle Therapien wie Ergotherapie und Logopädie nur kleine Fortschritte bewirken konnten. Der Autismus aber blieb und war mit zunehmendem Alter sogar stärker bemerkbar. Spätestens jetzt war der Punkt gekommen, ihn als lebenslange Beeinträchtigung anzuerkennen. Ein Schritt, der sich vielleicht durch neue, alternative Behandlungsideen etwas hinauszögern ließ. Solange man noch etwas tun konnte, gab es Hoffnung auf Veränderung.

Angefangen hatte diese Dynamik im Grunde schon im jungen Alter der Kinder mit der Idee, dass es gegen den Autismus ein be­ stimmtes Zeitfenster des Handelns gebe. Es gab viel Druck, die Kinder möglichst früh und intensiv zu fördern. Studien haben allerdings ergeben, dass eine zu frühe Diagnose des Autismus die Wahrscheinlichkeit von Fehldiagnosen signifikant erhöht. Im Lebensalter von 24 Monaten gestellte Diagnosen stellen sich später zu etwa einem Drittel als falsch heraus. Wartet man mit der Diagnose bis zum Lebensalter von 30 Monaten, liegt die Trefferquote fast bei 100%. Die Idee der möglichst frühen Intervention hingegen beruhte mehr oder weniger auf der verbreiteten Annahme, dass die ersten drei Lebensjahre in der frühkindlichen Entwicklung eine entscheidende Rolle spielen. Ob das in Bezug auf die Entwicklung des Autismus wirklich eine entscheidende Rolle spielte, war wissen­ schaftlich allerdings nicht klar. Einige Neurowissenschaftler, wie zum Beispiel John Bruer, gehen davon aus, dass die Synapsenbildung in den ersten drei Jahren im Vergleich zum Rest

112 des Lebens bei weitem nicht so überproportional wichtig ist, wie einst angenommen. Studien zum Autismus haben verschiedenste Veränderungen in Gehirnstrukturen von Autisten gefunden: kleinere und weniger Purkinje-Zellen, besonders im Cerebellum, weniger Zellen im Limbischen System, kleinere Zellen in den Minisäulen des frontalen Kortex, die zudem auch weiter voneinander entfernt sind. Diese Arten von Abweichungen ergeben sich nicht postnatal. Das Konsortium eines Autismus-Genomprojekts hat 1.400 Fa­ milien untersucht. Den Ergebnissen nach spielen beim Autismus bestimmte Proteine eine Rolle, die mittels der Neurotransmitter Glutamat und GABA Verbindungen zwischen Nervenzellen her­ stellen. Patrick Levitt von der Vanderbilt University hat die Rolle des Rezeptors MET untersucht, der neben Hirnfunktionen im Cortex und Cerebellum auch für das Immunsystem und den Magen- Darm-Stoffwechsel eine Rolle spielt. Das Hirnwachstum ist bei 37% der autistischen Kinder vorüber­ gehend beschleunigt, bei 40% der autistischen Männer sind beide Hemisphären vergrößert. Die neurobiologischen, morphologischen und molekularen Forschungen deuten zurzeit alle darauf hin, dass Autismus eine neurobiologische Disposition mit genetischen Ursachen ist und lassen entsprechend nach dem jetzigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis den Schluss zu, dass es kein frühes, unwiederbringliches Zeitfenster des Handelns gibt. Die Ergebnisse zeigen uns vor allem, dass die Gehirne von Autisten anders funktionieren. Nicht besser oder schlechter, sondern anders. Die Wertung herauszunehmen, ist keine

113 vernachlässigenswerte Nuance. Die Neurowissenschaft hat immer wieder gezeigt, dass unsere Gehirne für einen simplen Determinismus viel zu komplex aufgebaut sind. Die Theorie des Zeitfensters allerdings ist eine deterministische. Eltern, die daran glauben, befinden sich automatisch in einem Wettrennen gegen die Zeit. Sie haben das Gefühl, möglichst viel tun zu müssen, bevor sich das Zeitfenster schließt. Die Verantwortung, die die Zeitfenster- Theorie den Eltern aufbürdet, provoziert Sorgen und Schuld­ gefühle, wenn trotz aller frühen Interventionen der Autismus dennoch bleibt.

Im Rahmen der Zeitfenstertheorie waren einige Eltern Anhänger von sehr intensiven Therapien geworden, die teilweise bis zu 40 Stunden pro Woche durchgeführt wurden, selbst bei kleinen Kindern. Eine Familie hatte sich dem intensiven, so genannten Son- Rise-Programm verschrieben und war zur Fortbildung extra in die USA geflogen. Wenn ich sie mit ihrem Sohn erlebte, hatte ich das Gefühl, dass sie vor lauter Aktionismus ihr eigenes Kind in seiner Persönlichkeit gar nicht mehr wirklich wahrnahmen. Einige andere führten Verhaltenstherapien durch. Ich fragte mich: Hatten die Kinder überhaupt noch genügend Freiraum, wenn sie 40 Stunden pro Woche in Therapie waren? Die Befürworter ant­ worteten mir, das sei nicht so schlimm, denn für die Kinder fühle sich die Therapie wie ein Spiel an. Wie aber sollten wir wissen, wie die Kinder das wahrnehmen? Das Argument basiert auf der Prämisse, dass die Kinder nicht merken, ob sich jemand aus einem therapeutischen Interesse, also

114 auch mit Zielen und Erwartungen, mit ihnen beschäftigt. Ich erlebte bei John aber immer wieder, dass er sehr empfindsam dafür war, wie Menschen zu ihm standen. Ich glaubte nicht, dass man ihm eine Therapie so einfach als Spiel verkaufen konnte. Und für die Eltern war allemal klar, dass dahinter ein anderes Interesse steckte. Sie waren also auf jeden Fall in eine Therapiesituation einbezogen. Vielfältige Interventionen und damit womöglich noch verbundene Fahrtzeiten kosten viel Zeit, die der Lebensqualität der Familie verloren geht.

Ich fragte mich auch, was bei so einer Spielbetonung überhaupt noch ein Merkmal von Therapie war. John liebte Musik. Wenn wir mit ihm Musik hörten und tanzten, könnten wir das dann Musik­ therapie nennen? Im letzten Winter hatte es in Berlin viel geschneit und wir waren oft rodeln gegangen. John machte es viel Spaß, er konnte gar nicht genug davon bekommen. Einer von uns musste immer mit ihm auf dem Schlitten sitzen, denn steuern konnte John nicht und man musste auch seine unkoordinierten Bewegungen während des Rodelns ausbalancieren, um nicht umzukippen. Immer wieder waren wir den Hügel am Berliner Weinbergspark hochgelaufen und hinuntergerodelt. Abends waren wir alle Drei erschöpft. John schlief in diesen Nächten plötzlich durch, was sonst eher selten war. Vielleicht könnte man dieses Rodeln therapeutisch nennen, denn es hatte einen guten Effekt auf seinen Schlaf-Wach-Rhythmus?

115 Nein, wir hörten gerne Musik mit John, wir rodelten gerne mit ihm und wanderten auf den Diamond Hill, und das alles war eben keine Therapie, sondern unser ganz normales Familienleben.

Während ich mich innerlich immer mehr von Therapien wegbewegte, sah ich bei anderen Eltern, wie sie diesem Pfad immer stärker folgten. Einige ließen sich als Co-Therapeuten ausbilden, um auch Zuhause die Verhaltenstherapien umzusetzen. Ich fragte mich, ob die Eltern-Kind-Bindung nicht eine emotional ganz andere war als die zwischen Therapeut und Patient. Wie sollte das funktionieren und beeinflusste dieser Rollenwechsel nicht vielleicht auch die Be­ ziehung zwischen Eltern und Kind? Hatten autistische Kinder mit Eltern als Co-Therapeuten noch das Gefühl, in der Familie ganz sie selbst sein zu können und zu dürfen? Die Problematik war ähnlich der des Verwischens von Spiel und Therapie. Auch hier konnte das Ganze nur funktionieren, wenn man davon ausging, dass das Kind das therapeutische Ansinnen gar nicht erst bemerkte. Es schien mir ein hohes Risiko, die Vertrauensbasis und emotionale Bindung einer Mutter-Kind-Beziehung oder Vater- Kind-Beziehung mit therapeutischen Zielen zu vermischen. Mit John hatten wir schon so oft bemerkt, wie enorm wichtig verläss­ liche Bezugspersonen für ihn waren. Er war dankbar, dass wir ihn in seinen Kontrollverlusten halten und mit seinen Herausforderungen umgehen konnten. Anforderungen, so schien mir, sollten doch lieber von anderen kommen. Wir waren sein Rückzugsort. Wir

116 wollten ihn nicht therapieren. Bei uns sollte er ganz er selbst sein können.

Einige Eltern gaben ihren Kindern auch diverse Nahrungsergänzungsmittel und/oder setzten sie auf die so genannte GFCF-Diät (eine gluten- und kaseinfreie Ernährung). Sie führten Darmreinigungen durch und ließen Schwermetallausleitungen vor­ nehmen. Blut, Urin und Stuhl der Kinder wurden zu teuren biomedizinischen Untersuchungen an Labore eingeschickt, deren Adressen sich die Eltern untereinander weiterreichten. Während sich die evidenzbasierte Forschung noch im für Eltern oft frustrierenden Grundlagenstadium befand, gaben alternative Ange­ bote ersehnte Handlungsoptionen. Michael Fitzpatrick, britischer Arzt und Vater eines autistischen Kindes, hat detailliert untersucht, wie die als neu deklarierten biomedizinischen Ansätze tatsächlich auf frühere medizinische Sackgassen und zentrale Themen der abendländischen Geschichte rekurrieren, so zum Beispiel auf die gescheiterte biologische Psychiatrie in den 1960er und 1970er Jahren sowie auf Theorien des 19. Jahrhunderts, wonach der Mensch sich durch seine eigenen Exkremente vergifte. Im 21. Jahrhundert gesellt sich zu diesen Hypothesen noch der Eindruck hinzu, dass sich in der Zwischenzeit auch die Umwelt gegen uns gerichtet hat. Als Argumente dienen hier etwa die Industrialisierung, die Chemie-Revolution und genveränderte Lebensmittel. Die biomedizinischen Ansätze sind meistens nicht weit entfernt von Verschwörungstheorien.

117 Eine im Bereich Autismus populär gewordene Intervention ist die Quecksilber-Ausleitung. Der Psychologe Dr. Bernard Rimland, selbst Vater eines autistischen Sohnes, baute Mitte der 1990er Jahre ein Netzwerk von Ärzten auf, deren Interventionen besonders seit der Jahrtausendwende stark an Momentum gewonnen haben. Zum Vergleich: Im Jahr 2000 wurde etwa eine Handvoll von Kindern einer Quecksilber-Ausleitung unterzogen und fünf Jahre später waren es schon 10.000. Insgesamt werden von biomedizinisch arbeitenden Ärzten etwa 88 Interventionen angewendet, von denen 33 eine medikamentöse Behandlung beinhalten. Rimland ist inzwischen verstorben, aber viele Ärzte praktizieren auf diesem Gebiet weiter. Oft werden mehrere Interventionen parallel oder in kurzen Zeitabständen benutzt, so dass selbst bei einer positiven Veränderung nicht festzustellen wäre, welche der Therapien diese Wirkung gehabt haben könnte. Im Zusammenhang der experimentellen Interventionen auch zu nennen ist der so genannte Stammzellentourismus. Berichte über Stammzellentherapien stammen vor allem aus Russland, Costa Rica, China und Mexiko, also aus Ländern, die vergleichsweise hohe technische Fähigkeiten haben, aber weniger wissenschaftliche Qualitätskontrollen und niedrigere Ethikstandards als etwa Europa oder die USA. In den Vereinigten Staaten sorgte die Familie des Autisten Matthew für Aufsehen, als die Eltern per Weblog von einer Reise nach Costa Rica berichteten. Dort wollten sie mittels einer Stammzellentherapie den Autismus ihres Sohnes heilen. Die Vorstellung, dass wahllos injizierte Stammzellen auf wundersame Weise wüssten, was sie im komplexen System des Körpers ändern

118 sollen, zeugt von einem therapeutischen Optimismus, der bei Befürwortern und Anwendern von alternativen Heilmethoden stark verbreitet ist.

Eine zumindest für den Menschen körperlich weniger invasive Alternativintervention ist die so genannte Delfintherapie. Im Fern­ sehen und in Zeitungsartikeln wird gerne darüber berichtet. Reporter begleiten Familien nach Florida, in die Türkei, nach Israel und Curaçao. Die behinderten Kinder schwimmen mit einem Delfin und machen danach angeblich enorme Entwicklungsfortschritte, so die übliche Erzählung. Die Orte, an die die Familien reisen, sind exotische Urlaubsorte. Die Intervention ist teuer. Eltern sammeln im Vorfeld daher oft Spenden. Aus Mitgefühl tragen viele Menschen bei, und da beginnt schon der Erfolgsdruck. Wer würde nach einer solchen Sammelaktion nach Hause zurückkehren und sagen, dass sich durch die Delfintherapie nichts geändert hat? Die Menschen haben doch dafür gespendet, dass sich etwas bessert. Würde die Zeitung gerne drucken, dass die Delfintherapie nichts nützt? Würden die Leser es gerne lesen? Im Grunde ist die Aktion von Beginn an zum Erfolg verdammt. Gerade im Rahmen von medialer Wohlfühl- Berichterstattung gibt es keinen objektiven Blick auf eine solche Therapie und mit jeder neuen Geschichte wird der rein anekdotische Mythos der Effektivität noch gestärkt. Ein Mädchen aus Johns heilpädagogischem Kindergarten war mit ihren Eltern nach Florida geflogen. Danach stand ein großer Bericht in der Zeitung, in dem die Familie erzählte, wie viel die

119 Delfintherapie gebracht hätte. Als ich das Mädchen wiedersah, konnte ich keinen Unterschied erkennen. Auch die Erzieherinnen sagten mir, sie hätten keine Veränderung bemerkt. Unsere Wahr­ nehmung stand in einer merkwürdigen Diskrepanz zu dem Bild, das durch die Zeitung in der Öffentlichkeit produziert worden war. Bei einem Treffen der Elterngruppe kurz nach Erscheinen des euphorischen Artikels wurde eine Mutter sehr emotional: »Die Delfintherapie ist so eine tolle Sache. Aber sie ist so teuer, wir können uns das nicht leisten. Ich fasse es nicht, dass es etwas gäbe, das meinem Sohn helfen könnte, und er bekommt es nicht, weil wir es uns nicht leisten können. Es bricht mir das Herz.« In diesem Moment wurde mir das Ausmaß des Schadens be­ wusst, den auch diese alternative Therapie anrichtet. Es wird großer Druck aufgebaut, eine neue Hoffnung gesät, aber sie ist für die meisten unerreichbar. Am Ende führt die Dynamik sogar dazu, dass sich Eltern schuldig fühlen. Dabei konnte man auch diese Therapie durchaus kritisch sehen. Neben den schon seit den frühen 1990ern formulierten grund­ sätzlichen Bedenken gegenüber dem Einsatz von nicht- domestizierten Tieren, sind Delfine auch noch eine geschützte Art. Sie werden in den Delfinarien dennoch aus der Natur nachgeliefert, weil Nachzuchten in Gefangenschaft nicht erfolgreich sind. Wissen­ schaftliche Studien haben gezeigt, dass die Tiere in den meisten Delfinarien nicht artgerecht gehalten werden können. Und aufgrund einer möglichen gegenseitigen Krankheitsübertragung und einer zusätzlichen Wasserverschmutzung durch die Anwesenheit von

120 Menschen, muss die Konzentration von Chlor im Wasser auf ein für Delfine ungesundes Niveau erhöht werden. Studien des Biologen Karsten Brensing und seiner Kollegen haben zudem ergeben, dass die Tiere versuchen, den Menschen im Wasser auszuweichen. Verschiedene Beobachtungen wie etwa die Intensivierung einer Subgruppe, allgemein unkoordiniertes Verhal­ ten sowie die Erhöhung der Geschwindigkeit und der Tauchtiefe deuteten nach den Ergebnissen der Forscher darauf hin, dass die Tiere unter Stress stehen, wenn Menschen im Wasser sind. Ultraschall von Delfinen kann zwar tatsächlich Wirkung auf biologisches Gewebe haben, aber die meisten Delfine senden die als hilfreich angesehene Frequenzstrahlung unter den gegebenen Bedingungen gar nicht aus. Und selbst wenn, dann nicht lange und gezielt genug, um wirksam sein zu können. Die Forschungsergebnisse variierten je nach Anlage, in der die Delfine gehalten wurden. In einer großen Anlage zeigten die Delfine weniger Symptome von Stress, aber nur einer von fünf Delfinen schien überhaupt ein verstärktes Interesse an einem behinderten Kind zu haben. Eine Vergleichsstudie der Universität Würzburg hat gezeigt, dass die Delfintherapie keinen nachweisbaren therapeutischen Nutzen hat, der den anderer tiergestützter Therapien überschreitet. Allein in der Wahrnehmung der Eltern profitierten die Kinder mehr von der Teilnahme. Unabhängige Beobachtungsinstrumente (Betreuer und Video) stellten keine signifikanten Veränderungen fest. Leider ist Reiten wesentlich weniger spektakulär, als nach Curaçao zu fliegen.

121 Ich habe Therapeuten erlebt, die exotische Heilungsmythen als Hoffnungsspender verteidigten. Nach ihrer Argumentation sei alles positiv, was die Eltern in irgendeiner Form unterstütze und ihnen Kraft und Hoffnung gebe. Einerseits ist das Argument gut nachvoll­ ziehbar, andererseits empfinde ich es aber als zu kurz gedacht. Die derart kreierte Hoffnung ist flüchtig. Bei mehreren Interventionen reiht sich in Wirklichkeit eine Enttäuschung an die nächste. Das ergibt eher einen Leidensweg, der zudem das Akzeptieren des Kindes, so wie es ist, verzögert. Ganz zu schweigen davon, was es für das Kind bedeutet, von einer Intervention zur nächsten geschleppt zu werden. Vielleicht können alternative Behandlungen temporär Hoffnung nähren, aber auf lange Sicht ist man doch wieder in seinem eigenen Zuhause, mit dem gleichen Kind wie vorher. Alternativinterventionen können dabei zudem auch noch alles andere als harmlos sein. In Milwaukee starb ein achtjähriger Junge, Terrance Cottrell, während eines Gottesdienstes. Die Kirchen­ mitglieder hatten versucht, an ihm einen Exorzismus vorzunehmen. Der fünfjährige autistische Abubakar Tariq Nadama aus England starb in Pennsylvania an einer Schwermetall-Ausleitung. Die Mutter hatte ihn extra für diese Behandlung von England in die USA ge­ flogen. Der tragische Verlauf der Behandlung durch Dr. Roy Kerry, einen Arzt aus dem Umfeld von Rimland, wurde strafrechtlich ver­ folgt. So wurde bekannt, dass der Hals-Nasen-Ohren-Arzt bei Tariq vorher auch schon eine hyperbarische Sauerstofftherapie angewendet hatte – eine weitere, an Popularität gewinnende Behandlungsidee.

122 Gestorben ist der Junge an der intravenösen Gabe des Chelatkomplexes Disodium EDTA (Ethylendiamintetraessigsäure). Einige Befürworter biomedizinischer Interventionen sprachen zunächst von einer tragischen Verwechslung mit Calcium EDTA, aber der behandelnde Arzt Kerry sagte im Verlauf der Anhörung aus, dass er in seiner Praxis immer und ausschließlich mit Disodium EDTA behandelt hatte und auch nur dieses vorrätig hielt. Es lag also keine Verwechslung vor. Kerry stimmte einer Abfindungs­ vereinbarung zu, die eine dreijährige Sperre seiner Lizenz beinhaltete sowie das generelle Verbot intravenöser Schwermetallausleitungen an Minderjährigen. Es ist ein paradoxes Phänomen, dass die Befürworter biomedizinischer Interventionen hoch getesteten Impfungen extrem kritisch gegenüberstehen und zu Recht maximale Sicherheits­ standards und Testreihen einfordern, diese aber in ihrer eigenen Arbeit nicht anwenden, ja nicht einmal für nötig erachten. Michael Fitzpatrick schrieb dazu: »Sie sind entsetzt über winzige Mengen von Quecksilber in Impfstoffen (das Quecksilber verhindert bakterielle Infektionen und ein nachteiliger Effekt wurde bei diesen geringen Mengen nie bewiesen), jedoch macht es ihnen nichts aus, den Kindern Produkte wie Sekretin zu spritzen: ein roher Extrakt aus der Bauchspeicheldrüse des Schweins, der nur zum Test von Drüsenfunktionen entwickelt und für keinen anderen therapeu­ tischen Gebrauch jemals getestet wurde.«

Follow the money. Der Journalist Dirk Böttcher schrieb über alternative Behandlungsmethoden bei schwerkranken Kindern:

123 »Während sich die Wissenschaft über die Alternativmedizin streitet, ist sie längst zu einem rasant wachsenden Wirtschaftszweig geworden.« Bevor ein Kind an Leukämie stirbt, kauft eine Familie lieber noch einen Magnetstab für 500 Euro. Man möchte natürlich alles versucht haben, und genau mit diesem verständlichen Impuls wird viel Geld verdient. In Deutschland wurden Freiheitsstrafen gegen einen Importeur, einen Heiler und einen Journalisten verhängt, die ein unwirksames Krebsmittel (Galavit) zu Preisen von bis zu 8.500 Euro auf den Markt gebracht hatten. In den USA mahnte die Arzneimittelbehörde 28 Unternehmen ab, die 187 nutzlose Krebs­ mittel vertrieben. Der Philosoph Thomas Metzinger hat allerdings wohl recht, wenn er sagt: »Wir sollten uns nichts vormachen: Die Prohibition ist in der Vergangenheit stets gescheitert, und die Erfahrung lehrt, dass es für jedes verbotene menschliche Verlangen, für jede Nachfrage einen Schwarzmarkt gibt. Für jeden Markt wird es immer auch eine Industrie geben, die ihn bedient«. Und das trifft leider eben auch auf den Autismus zu. Der Ab­ satzmarkt für Vitamine, Mineralien, Enzyme etc. ist ein Multi- Millionen-Geschäft. Einnahmequellen von biomedizinischen Akteuren sind neben Verbindungen zu Firmen, die Produkte zur Nahrungsergänzung und Behandlung anfertigen, auch Honorare und Vorträge bei Elternkonferenzen sowie Verbindungen zu den Laboren, in denen die teuren Testverfahren durchgeführt werden. Labortests der menschlichen Ausscheidung kommt bei den biomedizinischen Verfahren eine große Bedeutung zu, mit dem

124 willkommenen Zusatzeffekt, der Behandlung eine wissenschaftliche Aura zu verleihen.

Die Forscher David Gal und Derek Rucker von der Northwestern University haben eine Studie veröffentlicht, wonach Gegenbeweise die Menschen paradoxerweise zu stärkeren Advokaten dessen machen, was widerlegt wurde. Konfrontiert damit, dass ein Glaube sich als falsch erweist, wird der Glaube nicht abgelegt, sondern umso vehementer verfochten. Dies passte dazu, wie ich die Befürworter alternativer Therapien erlebte. Selbst wenn über Jahre hinweg eine Intervention nach der anderen nichts brachte, ließ sie das nicht an der grundsätzlichen Richtung ihrer Bemühungen zweifeln. Sie steckten ihre Zeit und ihr Geld in die nächste Idee. Über die Jahre hatte ich gesehen, wie sich einige Eltern mit den immer neuen Behandlungsversuchen völlig er­ schöpft hatten. Aber es gab kaum eine Basis, miteinander ins Gespräch zu kommen. Das Denken war einfach so grundsätzlich unterschiedlich. Ein Vater fragte mich bei einem Treffen unserer Elterngruppe, wie viele alternative Interventionen wir denn schon probiert hätten. »Keine«, sagte ich. Er lachte und meinte: »Meine Güte, was für Quälereien ihr dann noch vor euch habt! Es gibt so viel zu probieren.« Ich entgegnete: »Wir wollen das alles aber gar nicht machen.« Er war geschockt. »Wie kannst du dein Kind so im Stich lassen?«, fragte er. »Siehst du denn nicht, dass du alles probieren musst, um festzustellen, ob nicht doch etwas wirkt?«

125 Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich mich lieber an evidenzbasierte Ansätze halten wollte. »Sonst kann doch jeder, der Geld verdienen möchte, wahllos irgendetwas behaupten und nach dieser Logik muss man das dann probieren. Das ist doch verrückt. Da jagt man doch einem Geist nach. Und ethisch fragwürdig finde ich es auch, ein Kind diesen ganzen Quälereien auszusetzen. Du selbst hast doch von Quälereien gesprochen.« Er wandte sich verärgert ab. »Ethik«, sagte er im Weggehen. »Du kommst mir mit Ethik? Ich rede von Heilung, das ist Ethik. Seinem Kind die Heilung vorzuenthalten, das ist ethisch fragwürdig.« Ich sah ihn noch ein paar Mal bei den Elterntreffen. Einmal beschrieb er allen, wie viel besser es seinem Sohn ginge und wie viel die alternativen Behandlungen gebracht hätten. Später am selben Abend fragte er nach Kontaktadressen für Einzelfallhelfer, weil seiner nach zunehmenden Aggressionsproblemen des Sohnes gerade den Job aufgegeben habe. Hatte er nicht eben noch von Ver­ besserungen gesprochen? Wie passte das zu den zunehmenden Aggressionen?

Am beunruhigendsten empfand ich so genannte Therapien, die auf Gewaltanwendungen basierten. In Großbritannien wurde zum Beispiel der sechsjährige Autist Rowan in Begleitung seiner Eltern und einer Filmcrew zu einem Schamanen geflogen. Der Junge wurde von dem Schamanen vor laufender Kamera gepeitscht und unter eine laute Trommel gehalten. Er wehrte sich immer mehr und musste am Ende vom Vater zu den so genannten »heiligen Wassern« regelrecht verschleppt werden. Mit einer erstaunlichen

126 Ignoranz und Empfindungslosigkeit wurde dies alles gefilmt – als rechtfertige eine schwere autistische Beeinträchtigung jedwedes Verhalten. Zwei Mütter, die ich weitläufig aus dem Netzwerk der Selbsthilfe kannte, wandten bei ihren Kindern die so genannte Festhaltetherapie an. Die Psychotherapeutin Ute Benz hat Trauma­ tisierungen durch Therapieformen wie die Festhaltetherapie nach Jirina Prekop, oder auch die Körper-Interaktions-Therapie KIT nach Jansen aus verschiedenen Perspektiven untersucht. Das Ergebnis ist – erwartungsgemäß, wenn man Prekops Schriften wie Der kleine Tyrann kennt – erschreckend. Das gegen den Willen des Kindes erzwungene und teils über Stunden hinweg pausenlos durchexerzierte Festhalten setzt das Kind enormem Stress, Angstgefühlen, Ohnmacht und Verzweiflung aus. Es verletzt die körperliche Autonomie des Kindes und seine Würde. Die Prozesse, die angeblich Blockaden lösen sollen, »damit die Liebe wieder flie­ ßen kann« (derart kitschig und esoterisch die Rhetorik), destabilisieren die Persönlichkeit des Kindes und führen zu einem gestörten Kontaktverhalten sowie zu einem tiefgreifenden Vertrauensverlust. Je mehr wir verstehen, dass die Wahrnehmung von Selbst und Außen bei einem Autisten grundsätzlich verändert ist, umso weniger lassen sich solche Therapien rechtfertigen. Es ist nicht nachvoll­ ziehbar, warum für Menschen mit einer fragilen Ichstruktur ausgerechnet eine weitere Störung in Form von einer »erzwungenen Identifikation mit dem Aggressor« von Nutzen sein sollte.

127 Seit 2010 ermittelt die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft zunächst gegen ehemalige Mitarbeiter der evangelischen Graf-Recke-Stiftung, eines Tochterunternehmens des Diakonischen Werkes Rheinland. Die Mitarbeiter sollen in der Hildener Kinder- und Jugendeinrichtung Educon autistische Kinder im Rahmen frag­ würdiger Therapiemethoden misshandelt und gequält haben. Laut Ermittlungen seien autistische Kinder, die körperlichen Kontakt nur schwer ertragen konnten, teilweise stundenlang umklammert oder an Stühlen festgebunden und damit in Panik versetzt worden. Bei Gegenwehr entzogen die Tatverdächtigen den Patienten das Essen. Zum Teil seien Kinder über mehrere Tage hinweg eingesperrt worden. Die Graf-Recke-Stiftung entließ die beteiligten Mitarbeiter. Das Gerichtsverfahren wurde im Juli 2016 eröffnet, nachdem 200 Stunden Videomaterial ausgewertet worden waren. Das Verfahren läuft noch. Nach einer Zwischenbilanz des Landgerichts droht der hauptangeklagten Gruppenleiterin eine Haftstrafe ohne Bewährung.

Wie schon beim Thema der Vermischung von Spiel und Therapie stellt sich auch hier wieder die grundsätzliche Frage nach dem Be­ griff der Therapie. Ute Benz formuliert es so: »Die einen sind froh darüber, die anderen beklagen es sehr: Tatsache ist, dass als Therapie alles angeboten werden kann, wissenschaftlich Anerkanntes ebenso wie wissenschaftlich Verworfenes. Der Begriff Therapie allein garantiert keine humane und keine fachliche Qualität.« Unter dem Deckmantel von Therapie findet immer wieder Gewalt statt, die von der Gesellschaft in keinem anderen

128 Zusammenhang toleriert würde. Ute Benz fordert daher einen breiten öffentlichen Diskurs: »Es muss ein allgemeines Bewusstsein dafür entstehen, was im Detail als übergriffige, verletzende und traumatisierende Gewalt im Umgang mit Kindern zu gelten hat.« Wenn man sich das Behandlungsregiment der alternativen Heil­ methoden ansieht, ist die Ironie unübersehbar: Ärzte und anerkannte Therapeuten werden als autoritär bezeichnet, aber die viel autoritäreren Behandlungen, die alternative Heiler praktizieren, werden fraglos akzeptiert. Dass die Grenzen der Gewalt so oft überschritten werden, und dies zudem mit der ausdrücklichen Zu­ stimmung oder sogar unter Mitwirkung der Eltern, kann zwar auch als aussagekräftiges Indiz für den gesellschaftlichen Druck zur Heilung bewertet werden, dem Eltern ausgesetzt sind. Es kann aber nicht als Ausrede herhalten. Eltern sind in der Verantwortung.

Früh erkennen und früh handeln zu wollen, das ist verständlich, ebenso wie der Drang zum Handeln überhaupt verständlich ist. Dennoch müssen wir diese Impulse immer wieder kritisch hinter­ fragen. Angehörige und Therapeuten befinden sich kontinuierlich in einem Prozess der Entscheidungen darüber, was behandelt werden sollte und was nicht. Wenn man bedenkt, wie die Gesellschaft in anderen Fragen nach langem Ringen ein Unrechtsbewusstsein entwickelt hat, bekommt man eine Idee davon, wie wenig wir uns generell in einem Status Quo entspannt zurücklehnen können. Es ist noch nicht lange her, da wurden zum Beispiel Linkshändigkeit und Homosexualität therapiert. Zumindest in großen Teilen der westlichen Welt kann man sich heute kaum noch vorstellen, dass die

129 Notwendigkeit dazu von der breiten Masse der Gesellschaft als selbstverständlich angesehen wurde. Erst wenn man Betroffenen selbst zuhört, werden einem die eigenen blinden Flecken manchmal deutlicher. Die Autistin fordert deshalb, dass jeder Verhaltenstherapie, die einen nicht-zustimmungsfähigen Klienten involviert, ein ethischer Evaluationsprozess vorangehen sollte. Der Autist bietet eine Orientierungshilfe an: »Wenn eine autistische Person sich gefährlich und destruktiv verhält, oder mit den Rechten anderer Menschen in Konflikt gerät, dann ist dies ein Problem, das gelöst werden muss. Wenn dem Autist eine Fähig­ keit fehlt, die das Erreichen seiner Ziele und Wünsche verbessern würde, dann sollte jeder Versuch gemacht werden, ihn diese Fähigkeit zu lehren. Ein Problem sehe ich dann, wenn Autisten intensiven, Stress auslösenden und oft sehr teuren Behandlungen unterzogen werden, die nur den Zweck haben, sie normaler zu machen. Verhaltensweisen zu eliminieren, nur weil Nicht-Autisten sie als merkwürdig empfinden, oder auch Fähigkeiten zu lehren, die den Autisten selbst überhaupt nicht interessieren, das ist problematisch.«

Mit John hatten wir im Alter von anderthalb Jahren mit konventionellen, anerkannten Therapien begonnen. Zunächst hatte man in der Frühförderung mit Basaler Stimulation und Sensorischer Integration daran gearbeitet, dass John sich in seinem Körper bewusster fühlen konnte. Er schien kein gutes Körperbewusstsein zu haben und sein Muskeltonus war hypoton. Ergotherapie und

130 Psychomotorik waren eine Weile hilfreich gewesen, aber nur bis zum Alter von etwa drei Jahren. Bei der Logopädie hatten wir an der Schule einen Durchbruch erlebt. Eine Therapeutin hatte nach dem Konzept der brasilianischen Logopädin Beatriz Padovan gearbeitet. Seitdem hatte sich Johns Sprache gebessert und er hatte Gefallen an den Lauten gefunden, die er produzieren konnte. Wir glaubten einerseits, dass John spezifische Förderung brauchte, um besser mit seinen vielfältigen Herausforderungen zurechtzukommen. Natürlich wollten wir ihm helfen, sich und seine Wünsche ausdrücken zu können. Andererseits sollte er aber auch Zeit und Raum für eigene Entdeckungen haben. Manchmal fand Entwicklung auch einfach so statt. Wie jedes andere Kind erforschte John sich und seine Umgebung und machte dabei auch Entwicklungsfortschritte. Mir kam es vor, als ob wir dies gerade Kindern mit geistigen Einschränkungen viel zu wenig zugestanden. Es war ein Balanceakt. Wenn er nachmittags aus der Schule kam, schien John glücklich, einfach nur Zuhause zu sein. Da wollten wir ihn nicht noch zur nächsten Therapie fahren. Den Luxus, die För­ derung ganz auf die Schulzeit zu beschränken, konnten wir uns allerdings nur leisten, solange zum Beispiel Logopädie auch in der Schule angeboten wurde.

In Irland ließen wir uns entspannt durch die Natur treiben. Ursprünglich hatten wir einen Tag nach Galway fahren wollen, das etwa anderthalb Stunden von unserem Ferienhaus entfernt lag, aber bis dorthin kamen wir gar nicht. Es gab zu viel Natur zu erkunden. Reisen heißt auch: verweilen können.

131 Gegen Ende unseres Aufenthalts wollten wir aber doch noch die Klippen von Moher ansehen und fuhren für einen Tagesausflug durch The Burren nach Doolin und Liscannor. Wie schon am Kap Formentor auf Mallorca merkten wir, dass die Tiefe der Klippen John unheimlich war. Er genoss den Ausblick, solange Scott ihn auf dem Arm trug, aber auf den Boden hinuntergesetzt werden wollte John nicht. Auf dem Rückweg nach Dublin fuhren wir über Limerick in die Wicklow Mountains. Dort hatten wir zwei Nächte in einem Bed & Breakfast gebucht. Während des Studiums war ich mit meiner Freundin Susanne mit dem Bus von Dublin nach Enniskerry gefahren und von dort waren wir weiter nach Glendalough getrampt. Es hatte lange gedauert, bis in Enniskerry jemand anhielt und uns mitnahm. Während wir am Straßenrand warteten, hatte ich ein vierblättriges Kleeblatt gefunden, das ich in ein Buch legte, trocknete und trotz vieler Umzüge bis heute noch besitze. Ich habe in meinem ganzen Leben bisher nur ein einziges Mal ein vier­ blättriges Kleeblatt gefunden. An so einen speziellen Ort sollte man mehr als 13 Jahre später ruhig noch einmal zurückkehren.

Das Bed & Breakfast war ein normales Familienhaus mit einer zu Gästezimmern ausgebauten Garage. Die Besitzerin begrüßte uns fröhlich und drückte uns schnell die Schlüssel in die Hand: »Ich muss los, Lads. Ich habe heute ein Date, aber wenn ihr irgendwas braucht: Mein Sohn ist im Haus, klingelt einfach.« Und weg war sie. Im Zimmer fiel uns auf, dass wir tatsächlich etwas brauchten, denn die Frau hatte das Zustellbett für John

132 vergessen. Wir klingelten an der Haustür, aber keiner öffnete. Von irgendwoher kam laute Musik, der Sohn musste also Zuhause sein. Wir gingen um das Haus herum und klopften ans Fenster. Der Sohn saß biertrinkend und kiffend mit ein paar Freunden im Wohn­ zimmer, es lief Pink Floyd. Die Teenager sprangen schuldbewusst auf, halfen uns dann aber bereitwillig, eine Matratze zu finden und ins Gästezimmer zu tragen. Zum Frühstück war die Besitzerin zurück, sie sah müde aus, war aber wie am Vortag in bester Laune. Sie schäkerte mit John, knuddelte ihn und erzählte uns irgendwann, dass sie auch eine be­ hinderte Tochter habe. Nach einem überaus netten Gespräch machten wir uns auf, die Gegend zu erkunden. Beim Check-out am nächsten Morgen gab die Frau uns eine Ermäßigung. »Solidarität!«, sagte sie lächelnd. »Wir müssen zusammenhalten.« Wohin auch immer wir in den letzten zehn Tagen gekommen waren, überall waren die Menschen außerordentlich freundlich gewesen. Mit wem auch immer wir sprachen, im Supermarkt, an der Tankstelle, alle waren nett und vor allem auch John gegenüber sehr zugewandt. Wir wären gerne noch länger geblieben. Unseren letzten Abend verbrachten wir in Dublins Ausgehviertel Temple Bar. Auf der Straße spielte eine Band Johnny Cash, Ring of Fire. John blieb abrupt stehen, wie angewurzelt beobachtete er aufmerksam die Band. Am Ende des Liedes, das er nach unserem besten Wissen noch nie gehört hatte, drehte er sich mit großen Augen zu uns um, offensichtlich schwer beeindruckt, das sah man sofort, und summte wortlos aber laut und fehlerfrei die Melodie:

133 »And it burns, burns, burns / the ring of fire, the ring of fire.« John summte sogar die Trompetenparts perfekt. Wir ahnten nicht, dass dies ab sofort die Arie der Königin der Nacht ersetzen sollte. Wenn wir ihm an einem Tag kein drittes Eis erlauben wollten, hörten wir von nun an laut vom Rücksitz: »Daaa- daa-daa-dadadadada-daa-da-daaa / the ring of fire, the ring of fire!«

134 7. Südtirol – Neurodiversität

»Die Frage ist nicht, wie man geheilt werden, sondern wie man leben kann.« (Joseph Conrad)

Für die Herbstferien beschlossen wir, mit dem Auto nach Südtirol zu fahren. Im Sommer hatten wir auf dem Rückweg von Dublin nach Berlin Probleme bekommen. Der Flug hatte sich sehr verspätet und das Gate war zweimal gewechselt worden. Diese Übergänge, mit immer neuem Warten verbunden, hatten John sehr unruhig gemacht. Die Mitarbeiter am Gate bemerkten das und erlaubten uns aus diesem Grund kein Pre-Boarding. Sie bestanden darauf, dass wir als letzte ins Flugzeug steigen. Ich hatte versucht zu erklären, dass das Fliegen für uns gerade deshalb so gut funktionierte, weil wir John platzieren konnten, bevor so viele Menschen auf engem Raum da waren. Aber die Mitarbeiter hatten nicht auf uns gehört. Wie erwartet war es dann gar nicht gut gegangen, mit John in ein komplett gefülltes Flugzeug einzusteigen. Er war total ausgeflippt. Ein unangenehmes Ende für unseren sonst so schönen Urlaub. Wir wollten das nicht so schnell noch einmal erleben, also stiegen wir aufs Auto um. Wir übernachteten auf halber Strecke in

135 Ingolstadt und fuhren über den Brenner nach Italien. Der Jaufenpass war geöffnet, also nahmen wir die langsamere Strecke durch die Berge. Scott und John waren das erste Mal in den Alpen, wir hielten immer mal wieder an, um die Aussicht zu genießen. Wie schon so oft zeigte John sich interessiert an einer unbekannten Landschaft. Wir hatten eine Ferienwohnung in Tramin gebucht. Dort war ich als Kind auch häufiger mit meiner Familie gewesen. Es sah noch ganz so aus wie früher: die Weinterrassen, die Kirche, der Brunnen im Ortszentrum, in den mein Bruder einmal hineingefallen war, die mediterran anmutenden Palmen, in Trachten gekleidete Menschen. Die Besitzer unserer Ferienwohnung waren Winzer. Auf dem Weg zur Wohnung gingen wir durch einen Probierraum mit großen Weinfässern und Regalen voller Rot- und Weißweine. Die Flaschen waren nicht etikettiert. Kleine Schilder informierten darüber, in welchem Regal sich welcher Wein befand. Man durfte sich Flaschen in die Ferienwohnungen mitnehmen. Auf einem Holztisch lagen Stift und Papier, um auf Vertrauensbasis die Anzahl einzutragen. Wir spazierten zur oberhalb von Tramin gelegenen Kapelle St. Jakob. Zufällig erklärte dort gerade ein Touristenführer den romanischen Freskenzyklus. Zu sehen waren verschiedene Chimären: ein Zentaur, ein Hundsköpfiger, Fisch- und Vogelmenschen, ein Skiapode. Über den chaotisch wirkenden Mischwesen eine Reihe würdevoller Apostel und Christus in der Mandorla. Gegensätze aus dem Jahr 1220. Ich musste an den Minotaurus in Nizza denken.

136 Von der Kapelle aus hatte man eine schöne Aussicht auf das Tal. Wir gingen weiter bergauf und es dauerte nicht lange, bis wir in einsamer Natur ankamen. Wir saßen auf einer Lichtung, die Bäume um uns herum schienen die Geräusche von Außen aufzufangen, jedenfalls war es auf dieser Lichtung unglaublich still. Man konnte diese dichte Stille regelrecht körperlich spüren. Abends in unserer Ferienwohnung sahen wir uns die Nach­ richten an. Es gab sogar WLAN. Ich dachte an die entlegene Stille, die wir vorher in den Bergen erlebt hatten. Ein Kontrast. In den meisten anderen naturnahen Unterkünften, in denen wir gewesen waren, wie auch zuletzt in Irland, waren die Häuser und Wohnungen schlicht und nicht besonders gut ausgestattet gewesen. Die Unterkünfte hatten gewissermaßen zum abgelegenen Setting gepasst. In der Traminer Wohnung dagegen war alles renoviert und auf dem neuesten technischen Stand. Auch hier konnten wir uns tagsüber in der Natur treiben lassen, waren aber abends wieder mitten in der Welt. Südtirol erlebten wir in vielerlei Hinsicht als geprägt von Gegen­ sätzen, oder besser: von Vielfalt. Zwischen Italien und Österreich, zwischen dem Alpinen und dem Mediterranen, mit den Mischwesen und Aposteln in der Kapelle, mit neuester Technik, aber auch entlegener Natur, mit Deutsch als überall gesprochener Sprache, obwohl wir in Italien waren. Das Spracherbe reflektierte selbst in sich noch Vielfalt, denn das Deutsch schien teilweise wie stehen­ geblieben in einer vergangenen Zeit. In der Dolomitenzeitung las ich die Nachrufe und es fühlte sich an, als ob ich eine 50 Jahre alte Zeitung in der Hand hielt.

137 Es erinnerte mich an die ausgewanderten Deutschen, die ich in Chicago kennengelernt hatte. Auch sie hatten ein Deutsch gesprochen, das ich höchstens noch von meinen Großeltern kannte. Die meisten lebten seit den 1950er Jahren in den USA. Ohne einen direkten Einfluss aus Deutschland hatte sich ihr Sprachschatz viel weniger verändert.

Auf dem Weg zum Auto trafen wir die Besitzerin des Weingutes. Sie fragte: »Wollt ihr eigentlich auch noch nach Italien?« Die Frage ließ uns stutzen. Wir waren doch in Italien. Im ersten Moment verstand ich ihre Frage nicht, bis mir aufging, dass sie es eben gar nicht so wahrnahm. Ich antwortete: »Ja, wir wollen noch nach Verona fahren. Das soll doch sehr schön sein, oder?« Sie zuckte mit den Schultern. »Ist okay.« Ihr Enthusiasmus für die Stadt, die immerhin auf der Liste des UNESCO-Welterbes verzeichnet ist, hielt sich in Grenzen. Als ich das Weingut von Berlin aus angerufen hatte, um die Wohnung zu buchen, hatte ich die Besitzerin, zumal sie einen italienisch klingenden Nachnamen hatte, zuerst höflich gefragt: »Sprechen Sie auch Deutsch?« Sie hatte mir mit einiger Empörung in der Stimme geantwortet: »Natürlich, wir sprechen hier nur Deutsch.« In einem Supermarkt in Bozen allerdings hatte ich die Kassiererin auf Deutsch angesprochen und sie war darüber sehr empört gewesen. Sie hatte mir verärgert auf Italienisch geantwortet, dass sie kein Deutsch spreche und dass wir hier in Italien seien. Als Außenstehende war es für mich nicht unbedingt leicht, hier

138 niemanden zu beleidigen. Die Sprache war offenbar sehr eng mit der Identität verknüpft.

Auf das Thema Identität war ich auch in Diskussionen rund um den Autismus immer wieder gestoßen. Immer mehr Autisten argumen­ tierten, dass Autismus keine Krankheit, sondern eine Form des Seins sei. Während andere Krankheiten oder Behinderungen nur einen Teil des Menschen betreffen, und darum auch bevorzugt von »Menschen mit Epilepsie« oder »Menschen mit Hörschwierigkeiten« die Rede sein sollte, anstatt von Epileptikern und Schwerhörigen, um den Menschen nicht auf seine Krankheit zu reduzieren, war der Autismus für viele Autisten ein zentraler Bestandteil ihrer Person und viele bevorzugten sogar die subsumierende Terminologie. Gerade Asperger-Autisten formulierten verstärkt, dass sie den Autismus als elementaren Bestandteil ihrer Persönlichkeit erachteten und wertschätzten. Jim Sinclair erklärte es so: »Autismus kann man nicht von der Person trennen. Wenn Eltern sich wünschen, dass ihr Kind nicht autistisch sei, dann sagen sie damit: 'Ich wünschte, es gäbe dieses Kind nicht. Ich wünschte, ich hätte ein anderes Kind.' Lesen Sie das noch einmal. Das ist es nämlich, was wir Autisten hören, wenn um uns getrauert wird. Das ist, was wir hören, wenn für eine Heilung gebetet wird. Ziel ist, dass wir eines Tages nicht mehr so sind, wie wir sind. Wir sollen uns in einen anderen, fremden Menschen verwandeln – und den wird man dann lieben können.« Die Autistin Judy Singer hat Mitte der 1990er Jahre für diese neue Emanzipationsbewegung den Begriff der Neurodiversität

139 geprägt: ein Konzept zur Anerkennung neurologischer Vielfalt und zur Wertschätzung der Tatsache, »dass wir nicht alle gleich sehen, fühlen, hören, schmecken und Informationen verarbeiten.« Singer und Sinclair waren zunächst nur einer überschaubaren Gruppe von Menschen bekannt. Das Thema Neurodiversität blieb im engeren Autismuszirkel, bis der Journalist Harvey Blume es 1998 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machte. Seit Beginn des neuen Jahrtausends hat sich die Idee zunehmend verbreitet, nicht zuletzt durch das Internet. Die Autismusforscherin Kathleen Seidel schuf die Website .com, um das neue Bewusstsein zu fördern. Die Diagnose Autismus solle nicht mehr als Hiobsbotschaft wahrgenommen werden, sondern dabei helfen, Lebensmuster zu erkennen und zu verstehen. Die Autisten organisierten sich immer selbstbewusster, auch international, beispielsweise in der britischen Kampagne »think differently about autism« von der National Autistic Society oder auch im kanadischen »Autism Acceptance Project«. Und ihr Recht auf Anderssein verteidigten sie immer öffentlichkeitswirksamer, vor allem auch mit Hilfe des Internets. Als das pädiatrische Forschungs­ zentrum der New York University eine Anzeigenkampagne für Autismusforschung in Form von Erpresserbriefen veröffentlichte, formierte sich rasant ein Protest. In der Anzeige des Forschungszentrums stand: »Wir haben Ihren Sohn. Wir werden dafür sorgen, dass er den Rest seines Lebens nicht mehr eigen­ ständig und sozial integriert leben kann. Und das ist erst der Anfang. Unterzeichnet: Autismus.«

140 Befürworter der Neurodiversität sahen sich angegriffen. Die Anzeigenkampagne bediene sich uralter Vorurteile gegenüber Autismus sowie gegenüber Behinderungen im Allgemeinen, argumentierte an vorderster Stelle Ari Ne'eman, Präsident der Selbsthilfegruppe Autistic Self Advocacy Network. Im Bild des Autismus als Kindesentführer würde das Syndrom mit einem Ver­ brechen assoziiert. Die Kampagne impliziere Autismus als Unzulänglichkeit und als schweren Verlust. Behindertenverbände unterstützten den vom Autisten Ne'eman initiierten Protest. Es wurden so viele Beschwerdebriefe an das Forschungszentrum der New York University geschrieben, dass darüber bald in der New York Times, der Washington Post und dem Wall Street Journal berichtet wurde. Weniger als drei Wochen nach dem Start wurde die umstrittene Anzeigenkampagne eingestampft. Und Barack Obama berief Ari Ne'eman in seinen Behindertenrat nach Washington, D.C.

In Australien sorgte die Aufmerksamkeitskampagne »« für Aufsehen. Eine Wohlfahrts­ organisation hatte dazu aufgerufen, am 1. November einen Tag lang keine sozialen Medien zu nutzen, um so die Isolation von Autisten nachzuempfinden. Die Organisation hatte dieses Konzept allerdings ohne Beteiligung von Autisten entworfen. Diese fühlten sich völlig misrepräsentiert, denn das Internet und die sozialen Medien empfanden sie als überaus hilfreich, ja geradezu als ideale Kommu­ nikationsform. Im direkten Kontakt konnten sie Schwierigkeiten haben, diese aber bei der Kommunikation via Computer überwinden.

141 Tatsächlich: Dass sich ausgerechnet Autisten wirkungsvoll in sozialen Gruppen zusammenschließen würden, hätte man vor den digitalisierten Vernetzungsmöglichkeiten nicht vermutet. Das Inter­ net hat Autisten eine neue Stimme gegeben. Und in den neu geformten Gruppen ließen sich sogar typische Sozialisations­ mechanismen beobachten. Die Autisten prägten zum Beispiel eigene Ausdrücke wie NT's für Nicht-Autisten. Das NT steht für neurotypisch. Als Reaktion auf die fehlgeleitete Initiative »Communication Shutdown« führte die Autismusszene stattdessen den 1. November als »Autistics Speaking Day« ein.

Auch im deutschsprachigen Raum hat die Bewegung Fuß gefasst. Begriffe wie Aspies und Autis werden mittlerweile wie selbst­ verständlich benutzt. Es gibt den Verein Aspies e.V. und die »Enthinderungsselbsthilfe von Autisten für Autisten.« Die autistische Autorin des Buches Ein guter Tag ist ein Tag mit Wirsing, Nicole Schuster, beschrieb das neue Lebensgefühl auf ihrer Website so: »Seit frühster Kindheit habe ich mich anders gefühlt als die übrigen Menschen. Ich habe mich unter ihnen nie heimisch, nie dazugehörig gefühlt. Durch Zufall bin ich auf das Asperger- Syndrom aufmerksam geworden. Für mich war sofort klar: hier sprechen Seelenverwandte. Menschen, die meine Empfindungen teilen, die so denken und erleben wie ich. Heute weiß ich, dass auch ich das Asperger-Syndrom habe. Der Tag meiner Diagnose ist für mich der erste Tag einer neuen Zeitrechnung. Am 2. November 2005 begann mein Leben als Aspie.«

142 Die Performance-Künstlerin Anne Tismer hat in einem Interview im ZEITmagazin erklärt, wie prägend der Autismus für ihre Persönlichkeit und ihre Arbeit sei. Den Autismus als wertvollen Bestandteil der Persönlichkeit zu begreifen, bedeutet eben nicht automatisch einen Rückzug in das Selbst und einen Abschied aus der Gesellschaft, ganz im Gegenteil. Ohne die Vorgabe einer sozialen Assimilierung möchten die Autisten als Teil der Gemein­ schaft anerkannt werden. Der Psychologe Tony Attwood ist dafür bekannt, schon bei der Übermittlung der Diagnose ein deutlich positives Zeichen zu setzen. Er sagt: »Herzlichen Glückwunsch, Sie haben das Asperger-Syndrom!« Das neue Selbstbewusstsein der Autisten geht bei einigen Ver­ tretern gar so weit, dass sie das Asperger-Syndrom aus dem Diagnosehandbuch DSM entfernt wissen wollen, so wie dies einst 1973 für die Homosexualität gelang.

Einige Forscher haben versucht, die Idee des Autismus als Neurodiversität wissenschaftlich zu untermauern. Der Soziologe Christopher Badcock und der Evolutionsbiologe Bernard Crespi haben anhand von Genomanalysen für Autismus als kognitive Viel­ falt argumentiert. Sie beschrieben ein evolutionäres Tauziehen der mütterlichen und väterlichen Gene: Wenn die Gene einer der bei­ den Partner überrepräsentiert seien, entwickelten sich extreme Gehirnformen; Autismus bei einer Dominanz der väterlichen Gene, Schizophrenie bei einer Dominanz der mütterlichen. Der britische Psychologe Simon Baron-Cohen geht davon aus, dass die Gehirne von Autisten extrem männlich funktionieren. Die

143 evolutionsbiologischen Anforderungen an Männer hätten im Laufe der Zeit deren Gehirne immer spezialisierter ausgeprägt, weg von der Empathie und hin zum Systematisieren. Ganz neu ist diese Spekulation nicht. Schon Asperger hatte 1944 eine extreme Variante männlicher Intelligenz hinter der autistischen Persönlichkeit ver­ mutet. Erstaunlich allerdings, dass solche Gender-Stereotypien auch im 21. Jahrhundert noch so viel Resonanz finden, wie es sich in der medialen Aufmerksamkeit gegenüber Baron-Cohen zeigt (seine letzte Veröffentlichung zu dem Thema stammt aus dem Februar 2017). Die Autisten Dinah Murray, Mike Lesser und Wendy Lawson spekulierten über Autismus als Extrem des Verstandes aller Men­ schen. Sie gehen davon aus, dass Autisten die Welt in einer Art Aufmerksamkeitstunnel wahrnehmen und daher besonders gut fokussieren können. Diesen Aufmerksamkeitstunnel definieren sie als zentrale Ursache der Stärken wie auch der Schwächen autistischer Menschen. Ein Tweet fasste diesen Aspekt ganz treffend zusammen: »Zwangsläufig ist, dass die Wikipedia-Seiten zum Asperger-Syndrom zu den detailliertesten und am besten sortierten gehören.«

Der Literaturwissenschaftler Gary Westfahl hat mit einem Text auf sich aufmerksam gemacht, in dem er den Autismus gar als Evolutionsschritt der Menschheit propagierte: »Ich argumentiere, dass das Asperger-Syndrom nicht als Behinderung angesehen werden soll, oder als hinderlicher Zustand, sondern als unermesslicher Gewinn, ein Set von nützlichen Eigenschaften, die

144 vielleicht eines Tages als Charakteristika einer neuen, überlegenen Form der Menschheit anerkannt werden.« Neurotypische Menschen verstrickten sich laut Westfahl mit neuen Technologien immer weiter in endlose Kommunikation. Die sozialen Medien bewirkten eine hoch-komplexe Kontinuität, die sehr viel Aufmerksamkeit und Zeit koste und neurotypische Men­ schen in ein unproduktives Geflecht der Dauerkommunikation einbinde. Durch seine non-soziale Disposition verfalle der Autist dieser kommunikativen Ansteckung hingegen nicht. So sei er der fähigere Arbeiter, der sich zielgerichteter auf eine bestimmte Auf­ gabe konzentrieren könne und unabhängig von äußeren Einflüssen bliebe. In Westfahls Argumentation spiegeln sich eine ganze Reihe von Hypothesen aus dem 20. Jahrhundert wider, zum Beispiel die An­ steckungstheorien des Medientheoretikers Marshall McLuhan. Der hatte schon in den 1960er Jahren gemutmaßt, dass der Mensch durch die Medien unsichtbar kontaminiert werde. Auch Westfahls Gedanke, dass der Mensch sich in den Medien prothetisch externalisiert, tauchte schon bei McLuhan auf. Der Soziologe Georg Simmel ging schon Anfang des 20. Jahrhunderts davon aus, dass immer einseitigere Leistungen vom Individuum verlangt würden, und diese zwar Leistung im Speziellen steigern könnten, aber die Persönlichkeit verkümmern ließen. Simmel prägte argumentativ vor, was viele heute mit Autismus assoziieren: Spezialisierung und eine flache Persönlichkeit. 1903 selbstverständlich noch ohne den Namen und das Konzept Autismus gedacht, Simmel sprach von Atomisierung.

145 Auch Max Weber und Theodor W. Adorno haben sich mit diesem Thema befasst. Ideen, die Anfang des 20. Jahrhunderts als Auswirkung der Industrialisierung und Verstädterung sowie Mitte des 20. Jahrhunderts als Auswirkung der Verbreitung von Massen­ medien beschrieben wurden, tauchen nun also als vermutete Auswirkung der Digitalisierung wieder auf. Der Asperger-Autist als evolutionsbiologisches Substrat der digitalisierten Welt. Indem Westfahl den Autismus dabei in den evolutionären Ehrenstand zu heben versuchte, schoss er weit über sein ur­ sprünglich gesetztes Ziel hinaus: dass die Gesellschaft »diese merkwürdigen Menschen als loyale Freunde und fähige Arbeiter« akzeptieren lerne. Als überlegene Menschen erinnern sie eher unheilvoll an einen Topos der Verschmelzung von Mensch und Technik, wie wir ihn aus Ernst Jüngers faschistoider Utopie kennen. Grundsätzliche Kritik an einem ontologischen Konzept der Neurodiversität hat die Kommunikations- und Sozialwissen- schaftlerin Majia Holmer Nadeson geäußert. Eine Aufteilung in Autisten einerseits und neurotypische Menschen andererseits etabliere zwei getrennte Gruppen, die auf einer fundamental biologischen Ebene nicht miteinander vereinbar wären. In der Formulierung physiologischer Unterschiede verliere man die Dimension eines veränderbaren Sozialverhaltens aus dem Auge. Eben diese Dimension habe sich aber bei vielen Autisten gezeigt, die zunehmend an der Gemeinschaft teilhaben können. Nur wenn man die veränderbare Komponente mitdenke, würden die Gruppen durchlässig. Bei der Befürwortung der Neurodiversität solle man mit

146 der Reklamation einer ontologischen Verschiedenheit deshalb vielleicht eher vorsichtig sein.

In den letzten Jahren haben sich verschiedene Arbeitsvermittlungen für Autisten gegründet, die auf den speziellen Fähigkeiten auf­ bauend eine Integration der Autisten in den ersten Arbeitsmarkt zu gestalten versuchen. Die ursprünglich dänische Agentur gibt es mittlerweile in vielen anderen Ländern, so etwa in der Schweiz, in Österreich, Großbritannien, Island und den USA. In Hamburg hat der IT-Programmierer und Autist Hajo Seng die Agentur autWorker gegründet. In Berlin ist auticon die erste Firma, die ausschließlich mit Autisten arbeitet, vor allem im Bereich IT- Consulting. Die Autismus-Forschungs-Kooperation von Autisten und Wissen­ schaftlern des Max-Planck-Instituts an der Freien Universität Berlin hat in einer Untersuchung mangelnde Sozialkompetenzen weiterhin als Schlüssel für die Schwierigkeiten von Autisten im Arbeitsleben ausgemacht. Trotz aller Fähigkeiten verlieren Autisten noch immer überproportional oft ihre Arbeitsstelle und einige schaffen es nie über die Hürde des Vorstellungsgesprächs. In mathematisch- technischen Arbeitsbereichen, in denen soziale Kompetenzen eine untergeordnete Rolle spielen, haben Autisten die besten Chancen auf Erfolg. Das Magazin Wired hat über die Zunahme von Asperger- Diagnosen im Silicon Valley berichtet. Die autistischen Kinder stammten oft aus Familien von Ingenieuren oder Programmierern und so wurde in dem Artikel gar spekuliert, ob eine Beschäftigung

147 in diesen Berufen vermehrt zur Geburt autistischer Kinder führe. Allerdings stellt sich die Frage, ob wirklich die Technologie Autismus gebiert, oder ob es die Autisten nicht viel mehr an Orte mit Beschäftigungsfeldern zieht, in denen sie ihre Stärken gut einsetzen können. In diesem Sinne wäre das Silicon Valley kein Auslöser für einen Diagnoseanstieg, sondern einfach nur ein guter Gastgeber. Auf diesen Mechanismus spielte auch die Autistin Temple Grandin an, als sie die NASA in einem Interview einmal als »die weltgrößte Behindertenwerkstatt für Autisten« bezeichnete. Das Softwareunternehmen SAP hat medienwirksam ange­ kündigt, bis zum Jahr 2020 Hunderte von Autisten einstellen zu wollen. So sinnvoll und lobenswert all diese Arbeitsinitiativen sind, so wenig sollte man aber aus dem Auge verlieren, dass sie nur eine spezielle Gruppe von Autisten adressieren, nämlich Asperger- Autisten mit IT-Kompetenzen. Letztlich handelt es sich um einen auf Leistung fokussierten Diskurs, der das Spektrum des Autismus nicht abbildet. Der breitere Nutzen für die gesellschaftliche Akzep­ tanz des Autismus dürfte daher überschaubar sein.

Die Vertreter der Neurodiversität hingegen versuchen, alle Autisten in ihr Konzept einzuschließen. Sie möchten nicht, dass sich der Wert des autistischen Menschen über seine Leistung definiert. Das Anderssein soll nicht nur deshalb akzeptiert werden, weil es mit besonderen Fähigkeiten verbunden ist.

148 Unter Autisten selbst gibt es aber durchaus auch unter­ schiedliche Meinungen zum Konzept der Neurodiversität. So sagte etwa die Autistin Susanne Schäfer auf einer Tagung des Bundesverbands Autismus Deutschland: »Ich habe immer gedacht, Autismus ist ein Teil meiner Persönlichkeit. Ich kann heute aber sagen, was Autismus ausmacht, die Störung in der Wahrnehmung, in der Konzentration und das ganze Drumherum, wenn man das alles wegnimmt, dann bleibe ich immer noch übrig. Das ist keine autistische Persönlichkeit, es ist nur ein viel, viel einfacheres und schöneres Leben. Ich kann heute am Autismus nichts Wertvolles mehr finden. Ich bin ganz dankbar, dass ich das noch erleben durfte.« Tatsächlich ist die Frage berechtigt, wie oder gar ob sich Aus­ prägungen von Autismus, die mit starken kognitiven Einschrän­ kungen verbunden sind, zu dieser Emanzipationsbewegung positionieren lassen. Nonverbale Kinder, die ihren Kopf gegen die Wand schlagen, und sich selbst und andere verletzen, passen nicht in die Feierstimmung der Neurodiversität. Die größte Herausforderung der Neurodiversität ist die sorg­ fältige Formulierung einer differenzierten Haltung. Wenn man dafür plädiert, dass Autismus schlicht als Form des Seins akzeptiert wird, läuft man Gefahr, darüber die finanzielle Unterstützung zu ver­ lieren. Gelder für Pflege, Betreuung, Beschulung und Wohnein­ richtungen fußen darauf, dass Autismus als Behinderung anerkannt ist. Das System sieht keine Hilfen für Bewusstseinszustände vor, die nicht pathologisiert sind.

149 Michael Fitzpatrick hat die größte Sorge klar auf den Punkt ge­ bracht: »Den Autismus zu normalisieren, reduziert vielleicht Stigma und Ausgrenzung. Es birgt aber auch das Risiko, die Probleme der Autisten mit schweren kognitiven Defiziten zu trivialisieren sowie die extreme Einsamkeit zu unterschätzen, die auch High- functioning-Autisten teilweise aufgrund ihrer sozialen Beeinträch­ tigungen empfinden.« Man muss es schaffen, gleichzeitig mit der Akzeptanz zu kommunizieren, dass ein Leben mit Autismus dennoch in unter­ schiedlicher Hinsicht Unterstützung braucht. Autisten brauchen eine solidarische Gesellschaft. Die Kontroverse wird teils scharf geführt, möglicherweise unnötig scharf, denn keine Form des Umgangs mit Autismus muss alleingültig sein. Wer sich der Behandlung autistischer Symptome widmet, muss anderen Menschen nicht absprechen, dass sie im Autismus eine wertvolle Bedeutung erleben können. Und Men­ schen, die den Autismus willkommen heißen, müssen anderen das Leiden daran nicht absprechen. Schon die vielen Nuancen des Spektrums sorgen dafür, dass keiner alleine Recht behalten wird. Zudem mag jeder in verschiedenen Lebensphasen auch unter­ schiedlich empfinden: den Autismus schätzen, wenn das Leben funktioniert, und an ihm leiden, wenn Probleme das Leben dominieren. Letztlich scheint mir eine Erkenntnis wichtig, die die Sozial­ wissenschaftlerin Donna Haraway am Beispiel von AIDS beschrieben hat. HIV-Infizierte haben immer mehr darauf gedrängt, dass sie mit dem Virus leben, und sie konnten sich mit diesem Fokus

150 aus dem Opferstatus lösen. Viele Kontroversen, wie etwa Diskussionen um Heilung, genetischen Determinismus und Pathologisierung, könnten in den Hintergrund treten, wenn man den Fokus darauf lenkt, dass und wie wir mit Autismus leben können.

In einem unserer Familienurlaube in Tramin hatte ich als Kind mit meinen Eltern und meinem Bruder einen Wanderweg in den Traminer Bergen absolviert. Man sammelte bei verschiedenen Hütten auf dem Weg Stempel und nach dem erfolgreichen Ab­ schluss der Wanderung erhielt man die Anstecknadel »Goldener Rucksack.« Ob wir das mit John wiederholen könnten? Bei der Touristeninformation fanden wir heraus, dass es den Weg noch gab, nur war der »Goldene Rucksack« durch eine simplere Anstecknadel ersetzt worden. John wollte unterwegs viele Pausen machen. An jeder Hütte, an der wir einen Stempel abholten, verweilten wir. Der Weg war ins­ gesamt etwa 17 km lang und man musste einen Höhenunterschied von etwa 600 m überwinden. Wir waren morgens um neun los­ gegangen. Den letzten Abschnitt durch eine steile Schlucht zurück ins Tal erlebten wir im zunehmenden Dunkeln. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass es so lange dauern würde und hatten keine Taschenlampe mitgebracht. Wir schafften es zum Glück gerade noch aus der Schlucht, bevor wir nichts mehr sehen konnten. Während wir in der Ferienwohnung unser Abendessen kochten, sprang und lief John herum, als ob er sich den ganzen Tag nicht bewegt hätte. Dabei wäre diese Wanderung wohl für kein

151 achtjähriges Kind eine ganz leichte Sache gewesen. Über Johns Energie konnten wir uns immer wieder nur wundern. Auf dem Rückweg nach Berlin lag auf dem Brenner schon Schnee. Wir hielten an und ließen John eine Weile umherstreifen. Schnee hatte er nicht erwartet, das konnte man merken. Es war im­ mer wieder schön zu sehen, wie intuitiv und impulsiv John auf Natur reagierte. Besonders, wenn etwas neu oder unerwartet war, sah man diese pure Freude in ihm.

152 8. Südschweden – Inklusion

»Was alle angeht, können auch nur alle lösen.« (Friedrich Dürrenmatt)

Die ausreichende Stundenzahl für Johns Schulhelfer hatten wir für das nächste Schuljahr erst nach harten Kämpfen bewilligt be­ kommen und im nächsten Frühjahr war es schon wieder an der Zeit, den Antrag für das Folgejahr zu stellen. Zwischen Bewilligung und Neuantrag lag immer nur ein kleines Zeitfenster der Ruhe. Für das nächste Jahr würde es zudem noch schwerer werden. Der Berliner Senat hatte sich verstärkt der Inklusion verschrieben. Die zur Verfügung gestellten Mittel für Schulassistenz wurden dazu nicht etwa aufgestockt, sondern lediglich umverteilt, so dass aus­ gerechnet die am schwersten beeinträchtigten Kinder an den Förderschulen das Nachsehen hatten. Langfristig war das so nicht durchzuhalten, wir brauchten verlässliche Perspektiven, für alle Be­ teiligten. In Berlin aber würde sich für uns nichts zum Besseren wenden, das wurde immer klarer. Also sahen wir uns nach Schulen außerhalb von Berlin um. Wir besuchten eine Privatschule, die ich mir vor Johns Ein­ schulung schon einmal angesehen hatte. Wir hatten seinerzeit gedacht, dass sie zu weit entfernt lag, etwa 70 km von Berlin im

153 brandenburgischen Fürstenwalde. Wir fuhren anderthalb Stunden dorthin und ich war entmutigt. Das konnte nicht gehen, drei Stunden Fahrtweg am Tag. Als wir die Klassen sahen, spürte ich aber sofort, wie viel besser dies für John passen würde. In der Burgdorf-Schule wurde flächen­ deckend nach TEACCH gearbeitet, alles war auch auf nonverbale Kinder zugeschnitten, alle Lehrer arbeiteten nach dem gleichen Konzept. An der öffentlichen Schule in Berlin gab es pädagogische Freiheit, was auch bedeutete, dass die Lehrer teils unterschiedlich arbeiteten, was für John schwierig war. Die Schulleiterin führte uns auf dem Gelände der Schule herum und je mehr wir sahen, umso sicherer wurden wir, dass dies der richtige Ort für John war. Im Moment gab es leider keinen Platz. Wir würden noch ein Jahr warten und ein letztes Mal in Berlin um die Schulassistenz kämpfen müssen.

Für die Osterferien buchten wir ein Ferienhaus in Grisslehamn, an der Ostküste von Schweden. Vom Flughafen Stockholm fuhren wir im Mietwagen durch die flache Landschaft gen Osten. Hier lag noch Eis und Schnee, während Berlin den Winter schon hinter sich gelassen hatte. Die Familie, auf deren Grundstück sich das Ferien­ haus befand, hatte zwei Golden Retriever. Johns Beziehung zu Hunden war zwiespältig. Einerseits sah er sie sehr gerne an, andererseits mochte er es nicht, wenn sie ihm zu nahe kamen. So ging es ihm auch mit den beiden Retrievern, er interessierte sich für sie und hatte dennoch Angst vor ihnen. Wir nannten sie »Double- trouble«.

154 Wenn wir sagten: »Oh, oh, da kommt Double-trouble!«, lachte John jedes Mal und bewegte erfreut seinen Oberkörper vor und zu­ rück. Double-trouble konnte nur getoppt werden, wenn wir drei Hunde sahen: »Triple-trouble!« Auf dem Gelände des Ferienhofs gab es auch einen Hühnerstall, und die Hühner liefen frei herum. Anders als zu den Hunden hatte John zu den Hühnern gar kein zwiespältiges Verhältnis. Er lief er­ freut zwischen ihnen herum. Es erstaunte uns, weil sie doch eher unberechenbar herumflatterten und wir erwartet hätten, dass dies John verunsichern würde. Aber keine Spur, er liebte es. Auf einem Tagesausflug nach Stockholm machten wir einen Spaziergang durch die Altstadt Gamla Stan und entschieden uns dann für eine seltene Aktivität mit John, einen Museumsbesuch. Im Vasa-Museum ist die schwedische Galeone Vasa ausgestellt, ein Kriegsschiff, das auf seiner Jungfernfahrt 1628 gesunken ist. Das 69 m lange und 12 m breite Holzschiff war 1961 gehoben worden und man hatte dann das Museum um das Schiffswrack herum ge­ baut. Die Galeone trug einst 64 Kanonen und war mit 700 Skulpturen dekoriert: römische und griechische Götter, Löwen, Meerjungfrauen und Fantasiefiguren. Man konnte auf sieben Ebenen um das Schiff herumlaufen. Normalerweise interessierte John sich nicht für Museen, aber in Arles hatte er sich ja für das Amphitheater begeistert. Ein paar Mal schon hatten wir bemerkt, dass größere Strukturen ihn zu faszinieren schienen. Es war einen Versuch wert. Leider funktionierte es nicht ganz so gut wie in Arles. Im Museum war es sehr dunkel. John zeigte kein besonderes Interesse

155 an dem Schiff, war aber zufrieden mit dem Herumlaufen. Wir schafften es, alle sieben Ebenen anzugucken. So war es eben, man wusste nie genau, was ihn ansprechen würde und was nicht. Und wir, die wir das Museum eigentlich nur für John ausgesucht hatten, waren von dem Schiff sehr beeindruckt. Letztlich ging es uns also auch nicht viel anders als John: Man konnte im Vorhinein nie so genau wissen, was einen interessiert.

John war gerade besonders angetan vom Album Come and feel the Illinoise von Sufjan Stevens. Wir konnten es praktisch den ganzen Tag hören, ohne dass es John langweilig wurde. Wir legten die CD ein und fuhren an der Küste entlang Richtung Norden. Zu Mittag aßen wir in einem schwedischen Imbiss in Östhammar, vollbesetzt mit Leuten und dennoch war es darin ganz still. Die Leute aßen alle schweigend vor sich hin. Ein seltsames Restaurant. Wir stießen auf eine alte Stadt, Karlholmsbruk, gingen dort eine Weile spazieren und fuhren dann mit Sufjan Stevens weiter nach Uppsala. Die schwedische Landschaft zog an uns vorbei, monoton eigentlich und dennoch ansprechend. Alles sah so gleich aus, selbst in den Ortschaften, durch die wir fuhren. Man musste schon nach Details Ausschau halten, um Unterschiede zu erkennen. Warum war das trotzdem schön anzusehen? Vielleicht entstand der Reiz gerade aus der Monotonie, die sich zudem extrem passend mit der Musik auf dem Album Illinoise verband. In dem Ganzen lag etwas sehr Beruhigendes. Ich konnte gut nachvollziehen, warum es John gefiel.

156 Wir alle mochten die Klarheit und Gelassenheit von Schweden. Als sich zwei Monate später die Gelegenheit bot, für den Sommer das Ferienhaus einer Bekannten in Schweden zu mieten, sagten wir sofort zu. Von Berlin aus fuhren wir mit dem Auto in zwei Stunden an die Ostsee. Dort wollten wir von Rostock aus mit der Fähre nach Gedser in Dänemark übersetzen. Die Fahrscheine hatten wir im Voraus online gekauft, um mit John nicht nach einem Ticketschalter suchen oder gar anstehen zu müssen. Wir hatten keine Ahnung von dem Chaos gehabt, das uns tatsächlich erwarten würde. Die Sommerferien hatten gerade begonnen und halb Berlin- Brandenburg schien sich auf den Weg nach Skandinavien zu machen. Viele Autos aus der Schlange mussten umdrehen, weil die Urlauber vorher keine Karten gekauft hatten und die Fähren ausge­ bucht waren. Sie wurden zum Hafen nach Fehmarn geschickt, gute zwei Stunden entfernt. Die Mitarbeiter hatten Mühe, das Chaos zu koordinieren. Es war sehr heiß und wir standen in einer langen Autoschlange. John war bald neun Jahre alt, brauchte aber noch Windeln. Um den Vorrat für drei Wochen in unserem kleinen Auto transportieren zu können, hatten wir neben der für das Haus auch benötigten Bett­ wäsche gerade noch genügend Kleidung ins Auto bekommen. In der Schlange vor der Fähre langweilte John sich. Autofahren war nur gut, wenn man sich auch wirklich bewegte. Er begann, die Windelpackungen neben sich auf dem Rücksitz aufzureißen und im Auto mit Windeln um sich zu werfen. Wir waren heilfroh, als wir es endlich auf die Fähre geschafft hatten.

157 Das Ferienhaus lag etwa 19 km außerhalb von Växjö. Wir hatten Instruktionen, durch Rottne zu fahren und nach einem verblassten Schild mit der Aufschrift Målajord Ausschau zu halten. Das von uns gemietete Gartenhaus gehörte zu einem ehemals großen Anwesen, das Solhagen hieß. Übrig geblieben waren von dem Anwesen nur noch das Gartenhaus und das Haupthaus. Auf dem Großteil des Geländes war die Natur seit langem sich selbst überlassen. Das An­ wesen hatte ursprünglich einem schwedischen Pionier in Südafrika gehört, dem Fischer Carl Ossian Johnson, Mitbesitzer der im Jahr 1909 gegründeten Southern Whaling and Sealing Company. Die Ehefrau von Johnson hatte ihm über 30 Jahre lang die Scheidung verweigert. Solhagen war der Landsitz, auf dem er mit seiner neuen Partnerin Esther und einer gemeinsamen Tochter lebte, wenn er in Schweden war. Es hieß, der Geist der Frau, die niemals seine Ehefrau werden konnte, rumore noch unter dem Dach des Haupthauses. Im Gartenhaus sollte es aber keine Geister geben. Das Anwesen war später als Internat für verhaltensauffällige Jugendliche genutzt worden. An diese Zeit erinnerten verblichene Graffiti und ein überwachsener Fußballplatz auf dem Gelände. Das gelbe Holzhaus war größer als wir gedacht hatten. Im Erd­ geschoss befanden sich eine geräumige Küche, ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer. Im ersten Stock lagen zwei weitere Schlaf­ zimmer und das Bad. Im ganzen Haus gab es als Heizung nur einen Kamin im Wohnzimmer. Das Haus hatte keinen Fernseher, keinen Geschirrspüler und keine Waschmaschine. Letzteres würde für uns mit einem inkontinenten Kind etwas schwierig sein. Rund um das Haus war ein breiter Streifen Gras gemäht und damit aus der wilden

158 Natur quasi herausgeschnitten worden. Das war der Garten. In einem Schuppen hinter dem Haus fanden wir ein paar Gartenmöbel und in der Mitte der Rasenfläche gab es eine Feuerstelle mit einem Grillgerüst. In einem großen Baum hing eine sehr lange Schaukel. Das war etwas für John, den großen Schaukelliebhaber. Im Wohnzimmer stand ein Plattenspieler neben einer großen Sammlung an Schallplatten. Wenn es abends draußen zu kalt wurde, hörten wir drinnen die alten Platten oder die eine CD, die es auch noch gab, Dreams von The Whitest Boy Alive. Die CD hörten wir so oft, dass die Musik auf eine Weise mit unserem Sein im gelben Holzhaus verschmolz. Nachts hörten wir manchmal dumpf das Gerumpel von Fahr­ zeugen. In der Umgebung baute Volvo LKW und die Teststrecke lag nicht weit entfernt. In der Nähe gab es auch einen Badesee, den man nur zu Fuß über einen Trampelpfad erreichen konnte. Nach­ dem wir den Weg einmal gelaufen waren, erkannte John ihn beim zweiten Mal gleich wieder. Er wusste, dass er am Ende der Strecke schwimmen konnte. Leider machte ihn dieses Wissen ganz verrückt. Er konnte es nicht abwarten, am See anzukommen. Er steigerte sich so sehr in seine Beunruhigung hinein, dass er auf dem Pfad einen großen Zusammenbruch hatte und wir ohne schwimmen gegangen zu sein wieder umkehren mussten. Warten war nach wie vor ein Riesenproblem für John. Be­ sonders zum Essen hatten wir damit lange Schwierigkeiten gehabt. Sobald John merkte, dass Scott oder ich anfing zu kochen, signalisierte ihm das, dass es Essen geben würde, und dies wiederum wollte er dann sofort haben. Die durch das Kochen entstehende

159 Verzögerung bereitete John große Probleme. Irgendwann waren wir auf die Idee gekommen, eine Serviceklingel zu kaufen. Diese stellten wir auf den Esstisch und klingelten, wenn wir bereit waren zu essen. Mit der Zeit hatte John verstanden, dass nicht der Beginn des Kochens das Signal zum Essen war, sondern das Klingeln auf dem Esstisch. Es hatte erstaunlich gut geklappt, die Zusammenbrüche vor dem Essen mit dieser Serviceklingel zu verhindern. Wie wir die durch den Weg zum See entstehende Schwimm­ verzögerung ausgleichen könnten, dazu fiel uns allerdings auf die Schnelle nichts ein. Dieser spezielle Badesee wurde damit von der Agenda gestrichen.

In der zweiten Woche unseres Aufenthalts wurde es kälter. Es regnete sieben Tage hintereinander. Wir mussten mehr Zeit im Haus verbringen, das allerdings schnell auskühlte. Im Schornstein nisteten Vögel, deshalb konnten wir den Kamin nicht nutzen. Bei unserer Ankunft hatten wir auf dem Küchentisch eine entsprechende Notiz von den vorherigen Besuchern gefunden, die sich stattdessen Decken gekauft und uns dagelassen hatten. Das Haus war kalt und feucht. Die Handwäsche brauchte drei Tage zum Trocknen. Auf einem Campingplatz in Växjö fanden wir als bessere Alternative einen kleinen Waschsalon. Recht häufig fuhren wir zur Stadtbibliothek von Växjö, in der es freies WLAN gab. Wo wir schon mal da waren, wurde ich Mitglied der Bücherei und lieh mir ein schwedisch-deutsches Wörterbuch aus. In der Küche unseres Ferienhauses hatte ich nämlich ein Koch­ buch gefunden. Ich übersetzte das Rezept für einen Heringssalat

160 und war ebenso erstaunt wie stolz, dass er tatsächlich gut und irgendwie schwedisch (im Grunde hieß das natürlich nur: anders als deutscher Heringssalat) schmeckte. Ein anderes Mal kamen wir in der Stadtbibliothek mit einer Frau von der Touristeninformation im selben Gebäude ins Gespräch. Sie empfahl uns einen Besuch von Huseby Bruk, einer Eisen- und Müllersiedlung aus dem 17. Jahrhundert. Man könne dort eine Wassermühle, eine Sägemühle und eine Schmiede ansehen. Sobald sich das Wetter besserte, fuhren wir dorthin. In der Nähe des Eingangs zum Museumsdorf stießen wir auf einen Fahrrad­ verleih, vor dessen Tür auch ein Behindertenrad parkte: ein Dreirad mit einem Sitz für Rollstuhlfahrer. John war mittlerweile zu groß für Kindersitze und selbst fahren konnte er nicht. Dies aber könnte für uns klappen. John setzte sich überaus bereitwillig in den Rollisitz. »Herumgefahren werden, gute Idee!«, schien er zu denken. Der Mitarbeiter, der uns das Rad auslieh, empfahl uns eine Tour rund um den angrenzenden See Åsnen. Mit der Rundfahrt um den zweit­ größten See von Småland verbrachten wir dann den ganzen Tag. Wir hielten immer mal wieder an, ließen John umherstreifen und aßen unterwegs in einem Restaurant. John war in hervorragender Laune. Das Ganze war eine völlig unerwartete, tolle Erfahrung. Wir hatten nur ein bisschen in dem Museumsdorf herumlaufen wollen. Wer hätte gedacht, dass es dort einen Fahrradverleih mit einem behindertengerechten Rad geben würde. Dies passte allerdings zu einem Eindruck, den wir in Schweden schon die ganze Zeit hatten. Dieses Land war besonders behinder­ tenfreundlich. In Växjö hatten wir auf einem öffentlichen Spielplatz

161 eine Rollstuhl-Schaukel entdeckt. Noch nirgendwo hatte ich sowas jemals auf einem öffentlichen Spielplatz gesehen. Dabei war es so sinnvoll. Dass man auf öffentlichen Spielplätzen, zum Beispiel auch in Berlin, meistens wenige Kinder mit Behinderungen sah, war sicher auch der simplen Tatsache geschuldet, dass die Spielplätze nicht ihren Bedürfnissen entsprachen. Der Unterschied in Schweden hatte aber nicht nur mit einer erheblich besseren Ausstattung zu tun, das ging tiefer. Die Men­ schen schienen sich hier im Umgang mit behinderten Menschen grundsätzlich wohler zu fühlen. Wir wurden überhaupt nicht angestarrt wie sonst überall. Wenn John sich merkwürdig bewegte oder lautierte, wurden wir angelächelt. Natürlich konnte uns das auch in Deutschland oder anderswo passieren, aber es war dort eben nicht die Norm, und hier schon. Einmal hatte John bei der Stadtbibliothek Växjö einen Zusammenbruch. Zwei jugendliche Mädchen in der Nähe kamen zu uns herüber, um mit John zu sprechen und uns bei dem Versuch zu helfen, ihn zu beruhigen. Es schien hier einfach nicht dieselben Berührungsängste zu geben wie anderswo. Vielleicht lag das auch daran, dass wir überall Menschen mit den verschiedensten Behinderungen sahen. Sie waren sehr präsent im öffentlichen Leben, viel mehr als zum Beispiel in Berlin. Eine gewisse Sicherheit im Umgang bekommt man wahrscheinlich erst durch Gewöhnung aneinander.

In Deutschland ist 2008 die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft getreten. Inklusion als erklärtes Ziel dieser Konvention

162 betrifft ausdrücklich alle Lebensbereiche. Dennoch konzentrieren sich die Bemühungen bisher vor allem darauf, Kinder mit Behinderungen in Regelschulen statt in Sonderschulen zu unter­ richten. Und da war ich für John war skeptisch. Mir war natürlich bewusst, wie sehr Sonderschulen ein getrenntes Leben etablieren, und das setzt sich im Erwachsenenalter mit den Behindertenwerkstätten fort. Sicher könnten mehr Kinder mit Behinderungen an Regelschulen unterrichtet werden und sicher wäre das für viele Kinder besser – auch für Kinder ohne Behin­ derungen. Auf diese Weise könnten Berührungsängste überwunden und der Umgang mit Behinderungen erlernt werden. Wie soll eine Gewöhnung erfolgen, wenn man sich immer in getrennten Lebens­ welten aufhält? Wenn man aber so viele pädagogische Kräfte zur Verfügung stellen wollte, wie für eine inklusive Beschulung benötigt würden, wäre das teuer. Stattdessen wurde Inklusion bei uns in Berlin als Sparpolitik betrieben, ohne das nötige Personal und ohne das nötige Fachwissen. Wer weiß, eines Tages wäre der Besuch einer Regelschule vielleicht auch etwas für ein Kind wie John, aber dafür müsste sich so viel ändern, dass es im Zeitrahmen von Johns Schullaufbahn ein extrem unwahrscheinliches Ziel darstellte. Eine Gesellschaft ver­ ändert sich nicht so schnell. Es hat sich oft genug gezeigt, dass die Anerkennung von Minderheiteninteressen ein langwieriger Prozess ist, an dem man mit viel Geduld arbeiten muss. Für uns ging es darum, Johns Aggressionen in Schach zu halten. Das war ein aufwändiger Balanceakt, den ich einer Regelschule in

163 voraussehbarer Zukunft nicht zutraute. Inklusion war für uns daher kein Schulziel, sondern vor allem ein Ziel im öffentlichen Umgang. Unsere Vorbilder waren Spielplätze mit Rollischaukeln wie in Växjö und Fahrradverleihe mit Behindertenrädern wie in Huseby Bruk. Als John zweieinhalb Jahre alt gewesen war, hatte ich eine russische Mutter getroffen, deren Kind auf derselben Station im Krankenhaus lag wie John. Sie erzählte mir, in ihrem russischen Dorf habe man immer einen schwarzen Mantel über jemanden ge­ worfen, der einen epileptischen Anfall hat. Sie empfahl mir, das auch einmal bei John zu probieren. Sie war wirklich davon über­ zeugt, dass es gegen den Anfall helfen könnte. Sie hatte nicht gemerkt, dass der Mantel etwas versteckte, nicht heilte. Ich war dankbar, dass wir in der westlichen Welt keine Mäntel mehr über Menschen warfen, die einen Krampfanfall hatten, aber angekommen am Ziel der Inklusion waren wir eben auch noch nicht. In Schweden wurde mir bewusst, was mein persönlich größter Wunsch an die Inklusion war: nicht mehr permanent angestarrt zu werden. Unsere eigene Randständigkeit war mit den Jahren zu ei­ nem natürlichen Lebensgefühl geworden. Wir nervten die Men­ schen um uns herum. Wir störten ihren Frieden. Neben uns wollte man im Restaurant nicht unbedingt sitzen. Jeder hatte genug mit seinem eigenen Leben zu tun, da brauchte man nicht noch ein an­ strengendes Kind wie John in der Nähe. Geschenkt. Ich war mit der Zeit abgehärtet, bildete mir ein, das Anstarren und Wegdrehen meistens ganz gut ignorieren zu können. Doch in Schweden, ohne das ständige negative Feedback, entspannte ich mich und fühlte

164 mich besser. Es stellt eben doch einen Unterschied dar, ob man sich von der Umwelt akzeptiert fühlt oder nicht. Eine solche Atmosphäre wünschte ich mir auch für Zuhause.

Drei Wochen waren eine lange Zeit zum Erkunden der Gegend, zumal John immer noch jeden Tag sehr früh aufstand. Meistens waren wir morgens um acht schon unterwegs und kamen am Nach­ mittag zurück in den Garten. John konnte dort Stunden auf der langen Baumschaukel verbringen. Bei gutem Wetter war der Garten unseres Ferienhauses das reinste Paradies für ihn. Wir besuchten das Schloss Teleborg in Växjö, das Schloss Kronoberg im See Helgasjön, Kalmar und die Ruinen von Borgholm auf der Insel Öland. Im Süden von Öland entdeckten wir die seltsame Schönheit der kargen Landschaft Stora Alvaret, einer flachen, in der Eiszeit geformten Kalkebene. Das war eine perfekte Gegend zum Treibenlassen mit John. An einem Tag liehen wir uns an einem See ein Kanu aus. Mit Johns unkontrollierten Bewegungen war es allerdings ein Wunder, dass wir nicht kenterten. Wir merkten binnen fünf Minuten, dass es keine gute Idee war. Auf einer unserer Autotouren entdeckten wir ein verbleichtes Schild, das laut Wörterbuch übersetzt hieß: Hörnebo Schiefer-Steinbruch. Unser Tag wurde unerwartet abenteuerlich. Wir kletterten einen steilen Hang hinab und kamen an einen langen, sehr dunklen Tunnel. Da wir keine Taschenlampe hatten, ging Scott mit seinem Feuerzeug zum Austesten voraus. »Warte mal, bis du die andere Seite siehst!«, sagte er, als er zurückkehrte.

165 Also folgten John und ich ihm in den langen Tunnel, das Feuer­ zeug half kaum, es war enorm dunkel. Auf der anderen Seite kamen wir an den ehemaligen Steinbruch, durch den ein Bach floss. Alles war verwittert und mit fluoreszierend grünen Pflanzen überwuchert. Es sah aus wie in einem Märchen. Wir erkundeten die ganze Umgebung und John freute sich über diesen Ort. Wir wanderten auch auf den Berg Hanaslöv und wurden mit einer weiten Aussicht auf die grüne und blühende Landschaft be­ lohnt. Wir sahen uns an, wo Die Kinder von Bullerbü gedreht worden war und besuchten den Hof von Michel aus Lönneberga. Ich hatte gar nicht gewusst, dass Michel in Schweden Emil hieß. In dem Schuppen, in den Michel nach seinen Streichen verbannt wurde, setzte John sich sofort wie selbstverständlich auf den Schemel, auf dem Michel im Film immer seine Holzfiguren schnitzte. John kannte die Geschichte gar nicht, er lief immer weg, wenn ich ihm etwas vorlesen wollte, ein Hörbuch anstellte oder einen Kinderfilm. Die einzigen Filme, die er gerne sah, waren Natur- und Tierdokumentationen. Geschichten wie die von Astrid Lindgren konnte er nicht verstehen. Aber wie er da so auf dem Schemel saß, musste ich lächeln, denn das war definitiv auch so eine michelartige John-Spezialität: Er fand überall immer ganz schnell einen Platz, der dann unmissverständlich seiner war.

Auf dem Rückweg nach Berlin machten wir Station in Kopenhagen. Nach dem Einchecken bemerkten wir, dass wir nur Bettzeug für zwei Personen im Zimmer hatten. Es stand zwar wie bestellt ein Zustellbett da, aber ohne Decke und Kissen. Während Scott den

166 Koffer aus dem Auto holte, setzte ich John in die Badewanne. Baden half John immer bei Übergängen von einem Ort zu einem anderen. Es klopfte an der Tür, ich ging hin und öffnete. Das Zimmer­ mädchen brachte eine Decke und ein Kissen. Ich war nur kurz von der Badewanne weggegangen, weniger als eine Minute. Doch als ich wieder ins Bad kam, saß da ein flammend rotes Kind in der Wanne. John hatte den Temperaturregler auf das heißeste gedreht, was hier anscheinend nahezu kochendes Wasser bedeutete. Er hatte den Regler dann nicht wieder zurückgedreht und auch das Wasser nicht ausgestellt. Von beidem hatte er wahrscheinlich kein Verständnis. Er hatte wohl nur zufällig daran gedreht und wusste nicht, dass das etwas mit dem heißen Wasser zu tun hatte. Er war aber auch nicht aufgesprungen und aus der Wanne geklettert, was er durchaus konnte. Möglicherweise hatte John mit seinem verminderten Schmerz- und Temperaturempfinden gar nicht bemerkt, dass er sich verbrühte. Ich ließ das Wasser ab, drehte die Brause auf kalt, merkte aber an Johns Zittern, dass der Temperaturunterschied wohl zu groß war. Ich drehte also auf leicht warm und versuchte, Johns Haut­ temperatur langsam zu senken. Ich war mir nicht sicher, ob wir ins Krankenhaus fahren müssten. Als Scott kam, entschieden wir uns, der Sache einen Moment Zeit zu geben. Wir wickelten John in ein großes Handtuch und legten uns mit ihm aufs Bett. John hatte ein bisschen Schüttelfrost, aber die Haut sah schon viel weniger rot aus. Am Ende mussten wir nicht ins Krankenhaus, aber der Schock saß tief, am meisten wohl bei mir. Ich wusste doch seit neun Jahren,

167 dass man John keine Sekunde alleine lassen durfte. Warum hatte ich überhaupt auf das Klopfen an der Tür reagiert? Jemand klopft, da geht man hin und öffnet die Tür, ein Automatismus. Aber solche Nachlässigkeiten konnten wir uns nicht erlauben, das war damit wieder einmal mehr als klar geworden.

Wir kamen an einem Sonntag zurück nach Berlin und fuhren direkt zum Hauptbahnhof, weil dort immer ein Supermarkt geöffnet hat. Der Bahnhof war voller Menschen und im Supermarkt standen wir in einer langen Schlange. John war unruhig und andere Kunden starrten uns an. Der Kontrast zu Schweden war extrem. Im Haupt­ bahnhof war es meistens krass, aber umso mehr nun mit der Erfahrung der letzten drei Wochen im Rücken. Wir hätten uns aufteilen sollen: Einer bleibt mit John im Auto und einer geht rein. Noch ein Fehler, dabei saß mir der vom Vortag noch in den Knochen. Zurück im Auto konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Wir waren wieder da, wo wir in der Öffentlichkeit eine dicke Haut brauchten.

168 9. Normandie & Elsass – Geschichte

»Einmal offenbart sich jedes Lebende, einmal jede Landschaft, und völlig: aber nur einem erschütterten Herzen.« (Hugo von Hofmannsthal)

Zu Beginn von Johns drittem Schuljahr wurde der Schulhelfer erst bewilligt, nachdem wir beim Sozialgericht eine Klage eingereicht hatten. Wochenlang hatten wir gekämpft und es war eine Erleichte­ rung zu wissen, dass damit bald Schluss sein würde, wenn John auf die Privatschule in Fürstenwalde wechseln konnte. Im Herbst waren wir alle Drei bereit für Ferien in Frankreich. Wir hatten ein Ferienhaus auf der Cotentin-Halbinsel gebucht, in Siouville-le-Hague in der Normandie. Am ersten Tag fuhren wir bis Aachen. Dort sahen wir uns den Dom an und auf dem Weg durch die Altstadt entdeckten wir den Brunnen Kreislauf des Geldes von Karl-Henning Seemann. Die lebensgroßen Bronzeskulpturen sahen ein bisschen wie überzeichnete Cartoons aus und John war sofort fasziniert. Er kletterte hinauf und umarmte mit einem glücklichen Gesichtsausdruck eine der Skulpturen. Als hätte er einen Freund wiedergetroffen, den er lange nicht gesehen hatte. Wir machten ein paar lustige Fotos. Was genau war es, das John an den Skulpturen so glücklich machte? Wie so oft verstanden wir es nicht, freuten uns aber über seine Freude.

169 In Nordfrankreich war am nächsten Morgen kurz hinter der belgischen Grenze die Autobahn gesperrt und wir mussten einer Umleitung über die Landstraße folgen. In fast jedem Dorf sahen wir Kriegsdenkmäler für den Ersten Weltkrieg. Wir waren nicht weit von Verdun entfernt. In Le Havre erreichten wir die imposante Schrägseilbrücke Pont de Normandie, die über die Seine nach Honfleur führt. John sah bezaubert aus dem Fenster, als wir im ho­ hen Bogen den Fluss überquerten. Das war etwas für ihn, das hatten wir geahnt. Auf der Cotentin-Halbinsel endete die Autobahn und wir fuhren wieder auf kleinen Landstraßen, durch Dörfer mit Steinhäusern und auf Straßen, die zu beiden Seiten von hohen Hecken gesäumt, eigentlich eher: eingefasst waren. Wir fuhren durch eine Kurve und ein Spalt in der Hecke gab erstmals den Blick auf das Meer frei. Die Sonne reflektierte die Luft in einer Art lilafarbenem Blau und die Steinhäuser glänzten in einem milden Beige. Dazu das gesättigte Grün der Hecken. Es sah fast unwirklich aus, magisch. Was für ein atemberaubendes Licht es hier gab. Im Garten unseres Ferienhauses standen mehrere Apfelbäume und Überreste alter Telefonmasten. Der Garten war von einer Steinmauer umgeben und nur über ein abschließbares Holztor erreichbar, perfekt für unsere Bedürfnisse. Das Ferienhaus selbst war ein renovierter Steinbau, wohl eine ehemalige Scheune. Es gab einen Kamin und in der Garage lagerte Feuerholz. Wir gingen hin­ unter zum Strand. Die Flut hatte lange Stränge von Tang hinter­ lassen, verteilt über den kilometerlangen gelben Sandstrand. Der Wind war enorm stark und tatsächlich zelteten ganz in der Nähe

170 einige Surfer. John lief barfuß über den Strand und man sah sofort, wie sehr es ihm gefiel. Zuhause feuerten wir den Kamin an. Das Erdgeschoss bestand aus einem loftähnlichen großen Raum. Die Küche mit offenem Schnitt war verbunden mit einem Wohn- und Esszimmer, so dass wir immer alle zusammen sein konnten, auch beim Kochen. Es war leicht, hier gut anzukommen. Morgens spazierten Scott und John zur Bäckerei des Ortes, die gleichzeitig auch die Bar war, zwei miteinander verbundene Zimmer, eines für morgens, und eines für abends. Nur dass das mit morgens und abends auch nicht so genau genommen wurde. Scott erzählte, als er mit John und Baguette zurückkehrte, dass dort schon um 8:00 Uhr Leute Wein tranken und jedem, der in die Bäckerei kam, zuriefen: »Bonjour!« Als ob man gerade einem mit zu viel Klischee beladenen französischen Film entstiegen war. »Außerdem«, sagte Scott, »haben wir drei Schafe im Garten!« Wir hatten das Holztor in der Nacht nicht geschlossen und das üppige Gras hatte sie wohl angelockt. John besah sich die Schafe neugierig aus der Ferne.

Wir machten einen Tagesausflug auf die andere Seite der Halbinsel zu den Orten der Alliiertenlandung 1944. Sicher würde es interessant sein, sich diese Erinnerungsstätten anzusehen, hatten wir gedacht, und doch keine Ahnung gehabt, wie tief uns das be­ eindrucken würde. So viel man auch über die Geschichte wusste, so anders, so wahrer, so direkter fühlte es sich an, wenn man selbst auf dem Omaha Beach stand. Von hier aus war Europa befreit worden.

171 Natürlich hatten die Russen zu dieser Zeit schon drei Jahre gegen Deutschland gekämpft, 22. Juni 1941 versus 6. Juni 1944. In der Normandie aber war die Demokratie nach Europa zurückgekehrt. Während John den Strand herauf- und hinunterlief, standen wir da und dachten beklommen an die Männer, die hier ihr Leben geopfert hatten. Der Kontrast war überwältigend: der sattgelbe und makellose Strand, der eine solch dunkle Geschichte hatte. Das konnte man irgendwie gar nicht erfassen, begreifen. Wir sahen auf das Wasser und konnten uns nicht vorstellen, wie man von dort aus kommend hier landen konnte, dem Land so offen ausgeliefert. Die Größe dieser Tat erschloss sich uns auf eine ganz neue Weise, als wir es selbst sahen. Auf dem amerikanischen Friedhof in Colleville-sur-mer war John sehr laut, ausgerechnet, als wir an einem Schild vorbeikamen, auf dem stand: »Silence and Respect.« Wir würden unseren Respekt auch gerne leise zeigen, konnten John aber nicht kontrollieren. Durften wir trotzdem auf den Friedhof gehen? Wir waren uns nicht sicher, ob das für andere Besucher okay sein würde oder ob wir damit eine Grenze des Tolerierbaren überschritten. Neben uns ging eine amerikanische Familie und die Mutter lächelte mich ermutigend an. Danach fühlte ich mich besser, anscheinend störten wir nicht zu sehr. Wir fuhren auch noch zum Utah Beach, zum deutschen Fried­ hof in La Cambe und nach Sainte-Mère-Église mit dem berühmten Kirchturm, in dem sich der Fallschirm von John Steele verfangen hatte. An der Klippe Pointe-du-Hoc, einem unheimlichen Ort voller Festungsruinen und überwachsener Bombenkrater, war die

172 bedrückende Szenerie leichter zu ertragen mit John, der weiter einfach er selbst war und unbelastet die Krater erkundete. Entlang der Küste sah man in nahezu jedem Dorf und in jeder Stadt Gedenkstätten, Schilder mit Erklärungen und Museen. Der ganze Küstenstrich war im Grunde ein einziges, riesiges und be­ eindruckendes Mahnmal gegen den Krieg. Abends saßen wir still am Kamin, John genoss das Feuer und wir dachten zurück an die Erfahrungen unseres denkwürdigen Tages. Jean-Claude Juncker hatte Recht: »Wer an Europa zweifelt und wer an Europa verzweifelt, der soll Soldatenfriedhöfe besuchen, dann zweifelt er nicht mehr.« Das machte etwas mit einem, diese Orte zu besuchen. Einfach, offensichtlich und zugegeben recht unüberraschend: Frieden und Demokratie wertschätzen, Verantwortung spüren. Aber nur weil es erwartbar war, hieß das ja nicht, dass es nicht trotzdem eine wichtige Erfahrung sein konnte. Wir hatten unterwegs neben den französischen Autos viele mit ausländischen Kennzeichen gesehen, vor allem aus Holland, Belgien und Großbritannien. Es dürften ruhig auch ein paar mehr aus Deutschland werden, dachte ich.

Unsere Erfahrung ließ mich auch an die Geschichte des Autismus zurückdenken. Einer der Gründe, weshalb Hans Asperger über­ haupt den Begriff Autismus als Diagnose formuliert hatte, hing mit dem Nationalsozialismus zusammen. Die Wiener Gesellschaft für Rassenhygiene war 1924 gegründet worden. Der Regierungsrat Dr. Alois Scholz, der später auch den Vorsitz übernehmen sollte, erklärte die Ziele der Organisation

173 folgendermaßen: »Wie schon das Wort sagt, handelt es sich um die Pflege des Erbgutes der Volksgemeinschaft. Nur wenn wir die von der Natur gewollte Förderung des Starken, Lebenskräftigen und die Ausmerzung des Lebensuntüchtigen bewusst durchführen, treiben wir jene Hygiene, die dem Ganzen nützlich ist.« Die Gesellschaft hatte bis zur Annexion Österreichs 1938 keinen besonders großen Einfluss. Dann aber stand sie an der Seite der Deutschen und begann, ihre Ideologie auch an der Universität Wien zu lehren. In Deutschland war schon 1933 das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses erlassen worden. Nach der Annexion Öster­ reichs wurde ein solches Gesetz auch dort wahrscheinlich. Asperger wollte versuchen, die Kinder in seiner Obhut vor den nationalsozialistischen rassenhygienischen Ideen zu schützen. Dazu führte er den Begriff Autismus ein. Am 3. Oktober 1938 hielt Asperger einen öffentlichen Vortrag an der Universitätsklinik, in dem er argumentierte: »Wie viel können wir für diese Menschen leisten, das soll die Frage sein. Und wenn wir mit all unserer Hingabe ihnen helfen, so tun wir damit auch unserem Volk den besten Dienst, indem wir zu erreichen suchen, dass sie als arbeitende Menschen ihren Platz im lebendigen Organismus des Volkes ausfüllen.« Asperger versuchte, Autisten als praktisch brauchbare Menschen zu etablieren. Seine Lancierung des Begriffs kann als biopolitischer Schachzug interpretiert werden. Die Verteidigung des Anderen, die Verteidigung dessen, was außerhalb des als normal empfundenen Leistungskatalogs liegt, die Verteidigung gegenüber den Ansprüchen

174 einer homogenen Gemeinschaft: All das ist nach Aspergers Gründungsvortrag die Existenzgrundlage des Autismus. Asperger adressierte sogar, wie Ärzte argumentieren könnten, wenn in Österreich ein Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses erlassen würde: »Wird der Arzt als Begutachter in solchen Fällen vor eine Entscheidung gestellt, so wird er diese nicht allein nach dem Ergebnis der Beantwortung eines Fragebogens oder nach der Ziffer des Intelligenzquotienten treffen dürfen, sondern in erster Linie nach seiner Kenntnis der kindlichen Persönlichkeit, eine Kenntnis, die alle Fähigkeiten des Kindes, nicht nur die abstrakte Intelligenz in Rechnung stellt.« Es ist interessant, dass sich in unserem zeitgenössischen Umgang mit dem Autismus Aspergers Argumente der Nützlichkeit noch oft wiederfinden, zum Beispiel bei den Arbeitsagenturen für Autisten und bei Westfahls Skizzierung der Autisten als »fähige Arbeiter«, um nur zwei bereits besprochene Themen aufzugreifen.

An einem Abend lief im französischen Fernsehen eine Serie namens Was ist Liebe? und in der aktuellen Folge wurde zufällig über Autismus berichtet. Die Portraits mehrerer Familien widmeten sich sehr stark der Pflege und der Frage, wie die Eltern mit den Heraus­ forderungen zurechtkommen, die sie durch ihre Kinder erleben. Ich fragte mich: Sollten nicht die Autisten im Zentrum stehen? Mich irritierte die Konzentration auf die Eltern. Andererseits: Wie erfasst man das Wesen eines nonverbalen Kindes? Uns ging es doch ganz ähnlich. Wir wussten nicht, was John dachte und er konnte es uns nicht sagen. So blieb alles immer im

175 Bereich der Spekulation. Wir mussten uns auf die Intuition verlassen. Wir beobachteten, verglichen mit früheren Erfahrungen, achteten auf seine Reaktionen. Letztlich dominierte damit aber zwangsläufig doch immer, was wir als Eltern schlussfolgerten.

Eines Morgens stand plötzlich ein Pony unter dem Apfelbaum in unserem Garten. Als wir zum Einkaufen fuhren, ließen wir das Tor offen, damit es wieder hinauslaufen konnte. Mit den Schafen und dem Pony im Garten fühlte ich mich ein bisschen an Thassos er­ innert, wo so viele Tiere frei herumgelaufen waren. Auf dem Rückweg vom Supermarkt sahen wir unser Pony aller­ dings auf einem Feld außerhalb von Siouville und mehrere Menschen versuchten, es zu fangen. Wenn wir das gewusst hätten, hätten wir einfach das Tor schließen und die Polizei rufen können. Was in Griechenland normal war, war es in Frankreich anscheinend nun wohl doch nicht. Die Normalität blieb weiter ein flüchtiges Konzept. Sehr normal hingegen war auf der Cotentin-Halbinsel die Omnipräsenz der Atomkraft. Wir erkundeten die markante Dünen­ landschaft der Westküste in unserer bewährten Methode des Treibenlassens und sahen allerorten Reaktoren. Im Ort Flamanville, direkt neben Siouville gelegen, wurde gerade ein neues gebaut und auf der anderen Seite von Siouville stand in La Hague die auch in Deutschland bekannte Wiederaufbereitungsanlage. Die Normandie ist eine wirtschaftlich schwache Region, in der die Atomkraft für Arbeitsplätze sorgt. Man traf daher kaum jemanden, der sich beschwerte. Aber was für die lokale Bevölkerung zur Normalität

176 geworden war, kam uns immer noch gespenstisch vor: die riesigen Atomklötze an so einer bemerkenswerten Küste.

Die Normandie beeindruckte uns sehr, mit ihrer schönen Natur und den Erinnerungsorten an den Zweiten Weltkrieg. Wir wären gerne noch länger geblieben. Auf dem Rückweg hatten wir aber noch für eine Woche ein Ferienhaus im Elsass gemietet. Nach der Ruhe in der Normandie kam es uns rund um Straßburg besonders lebhaft und international vor. Wir fuhren die Weinstraße entlang, aber es war schwierig, einen für John ge­ eigneten Platz zum Umherstreifen zu finden, weil überall so viel los war. In den Bergen in der Nähe von Obernai fanden wir schließlich doch einen Wanderweg, der um einen Weinberg herumführte, und der wenig frequentiert aussah. Wir waren etwa zur Hälfte herumgegangen, als John nicht mehr weiter wollte. Er legte sich auf die Straße, mit einem Ohr am warmen Asphalt, und so lag er eine ganze Weile einfach da. Wie ein Indianer, der nach galoppierenden Pferden lauscht. John wollte partout nicht aufstehen, also setzten wir uns neben ihn und warteten, bis er fertig war – mit was auch immer er da machte oder hörte. Irgendwann war er bereit, weiterzugehen. Gut gelaunt schritt er voran und wedelte dabei lachend mit den Armen, wie er es gerne tat, wenn er guter Dinge war. Irgendetwas hatte ihn sehr glücklich gemacht, auch wenn wir wieder nicht verstanden, was. Wir spazierten durch die Altstadt von Colmar und in Straßburg besuchten wir das Stadtviertel Petite France und das Liebfrauen­ münster. Früher war John gerne in leere Kirchen gegangen und

177 hatte dort seine Stimme im Hall ausprobiert. Jedes Mal, wenn wir meine Großmutter besuchten, waren wir dort in die Kirche ge­ gangen und John hatte freudig vor sich hin lautiert. Diese Faszination war nun aber vergangen und in Straßburg war John in der Kathedrale nur ungeduldig. Vom Kloster Mont St. Odile genossen wir den Ausblick auf den Sonnenuntergang. Im Tal sah man, wie sich die Blätter der Bäume verfärbten, der Herbst nahte mit großen Schritten.

Auf dem Nachhauseweg nach Berlin wurde John zunehmend un­ ruhiger. Kurz vor Berlin fing er zuerst herzerweichend an zu weinen, dann schrie er laut und schlug um sich. Ich saß im Fahrer­ sitz, als John sich nach vorne beugte und mit voller Kraft an meinen Haaren zog. Eine gefährliche Situation im starken Verkehr um Berlin. Ich schaffte es gerade noch, die nächste Ausfahrt zu nehmen. Ich fuhr an die Seite und wir versuchten, John zu be­ ruhigen. Was war nur los? Wollte er nicht zurück nach Hause? Es war immer schlimmer geworden, je näher wir Berlin kamen, und bestimmt hatte er die Umgebung schon erkannt. War das der Grund? Scott übernahm das Steuer und ich blieb hinten bei John. Endlich Zuhause angekommen, setzten wir John nach bewährter Methode sofort in die Badewanne. Doch selbst das, was ihn norma­ lerweise immer beruhigte, wirkte nicht. Er schlug wild um sich und schnell war das ganze Bad überschwemmt. Unsere Nachbarn wussten jetzt bestimmt auch, dass wir wieder Zuhause waren.

178 Plötzlich kam Blut aus Johns Mund und was mich alarmierte, schien ihn im Gegenteil zu beruhigen. Bereitwillig öffnete er den Mund und ich fand darin einen großen Backenzahn, einen seiner letzten verbliebenen Milchzähne. Damit hatte er so gekämpft! Wir hatten überhaupt keine Ahnung gehabt. John hatte sich nicht an den Mund gefasst oder irgendeine Geste gemacht, die uns auf diese Spur hätte führen können. Wir hatten uns Sorgen gemacht, dass er nicht nach Hause wollte, aber das war Quatsch, den wir mit dem blutgetränkten Wasser den Abfluss hinunterspülen konnten. Die Versuche, Johns Verhalten zu inter­ pretieren, liefen so oft fehl. Immer wieder dachten wir an psychologische Gründe, wenn sich am Ende ein körperlicher Schmerz als Ursache entpuppte. Ich dachte zurück an Fernand Deligny und seine Idee, dem Drang zur Interpretation bewusst zu widerstehen. Es war eine gute Idee, aber in verzweifelten Situationen unmöglich. Auch wenn man an der Interpretation scheiterte, man musste es versuchen, um eine Krise zu überwinden. Es war schlimm anzusehen und schwer auszuhalten, wenn John Schmerzen hatte oder auf irgendeine Weise in Not war, sich aber nicht mitteilen konnte. »Zeig uns, wo es weh tut!«, hatten wir schon so oft zu ihm gesagt. Aber das konnte er nicht. Ich hatte gelesen, dass einige Autisten Schwierigkeiten haben, den Ursprung eines Schmerzes zu fühlen. So schien es John auch zu gehen. Das gehörte für mich mit zu den herausfordernsten Aspekten des Autismus. Es führte immer wieder zu Situationen großer Hilflosigkeit, in denen wir John so gerne

179 beistehen wollten, aber nicht herausfanden, wie. Wenn es früher oder später gelang, waren wir zwar glücklich, aber auch erschöpft.

In Berlin erwarteten uns tiefe Veränderungen. Unsere Wohnung lag zu weit weg von der Schule in Fürstenwalde, in die John zum nächsten Schuljahr wechseln würde. Es gab dort zwar auch ein Internat, aber John war nach unserem Dafürhalten mit seinen neun Jahren noch viel zu jung dafür, und wir wollten weiter als Familie zusammenleben. Also suchten wir eine neue Wohnung, die näher an der Auto­ bahn Richtung Südosten lag. John hüpfte viel herum, daher mussten wir ein Hochparterre finden, wo niemand unter uns wohnte. Nach drei Monaten klappte es. Unsere neue Wohnung war sehr schön, wir aber auch ein bisschen traurig, aus der Gegend um die Kastanienallee wegzuziehen, in der einige Freunde wohnten, die nun recht weit weg sein würden. Bei der Umzugsplanung hatte ich wieder an den Dokumentarfilm Ihr Name ist Sabine denken müssen, in dem für Sabine zu viele Veränderungen auf einmal stattgefunden hatten. Deshalb legten wir unseren Umzug in den Februar, so dass John noch ein halbes Jahr in seine alte Schule gehen konnte, während wir uns in die neue Wohnung eingewöhnten. Wenn im Sommer der Wechsel in die neue Schule erfolgte, war die Eingewöhnung in die neue Wohnung hoffentlich schon weit genug gediehen, eine Krise zu verhindern.

180 Um den Bustransport an eine Schule außerhalb von Berlin bewilligt zu bekommen, benötigten wir eine Bestätigung vom Schulamt, dass John in Berlin nicht mehr beschult werden konnte. Zum Termin beim Schulrat nahmen wir John mit, damit der Schulrat auch wüsste, worüber er entschied. John ging nicht gerne in offiziell aussehende Gebäude. Er hatte schon so viele Arztpraxen, Kliniken und Untersuchungen an unter­ schiedlichen Orten erlebt, dass er sofort Gebäude erkannte, die für ihn nichts Gutes verhießen. Dabei hatte er definitiv eine gute Intuition. Sobald wir uns in den Warteraum setzten, wollte er wieder aufstehen und gehen. Es dauerte nicht lange, bis wir John nicht mehr davon abhalten konnten, lautierend den Flur auf und ab zu laufen. Als uns der Schulrat endlich in sein Zimmer bat, lernten wir einen netten und mitfühlenden Mann kennen. Wie ich es auch bei anderen Eltern behinderter Kinder bemerkt hatte, waren wir nach Jahren des Verhandelns und Streitens um Leistungen sehr defensiv geworden. Wir hatten eine automatische innere Abwehrhaltung entwickelt und erwarteten grundsätzlich Probleme und Unfreundlichkeit. Nicht nur John kam unruhig in derartige Gebäude. Doch hier ergab sich für uns nun eine ganz andere Situation. Der Schulrat sah John aufmerksam an und zweifelsohne hatte er ihn von draußen auch schon gehört. Er sagte: »Ich sehe, dass ihr Sohn sehr besondere Bedürfnisse hat und dass Sie sich gut um ihn kümmern. Wenn es irgendetwas gibt, womit ich Ihnen helfen kann, freue ich mich, das zu tun.« Einfach so. Innerhalb von zehn Minuten bekamen wir unsere Bestätigung für den Bustransport in ein anderes Bundesland. Und

181 ich hatte mich in Gedanken schon wieder beim Sozialgericht gesehen.

182 10. Valencia – Kultur

»Kultur ist nicht so sehr was man plant, sondern viel mehr das, womit man durchkommt.« (Marcus Westbury)

Vor der neuen Schule sollte es in den Sommerferien nach Valencia gehen. Scott hatte dort ein geeignetes Ferienhaus gefunden. John war in der Zwischenzeit sehr gewachsen und ein Flug schien uns zu heikel, also entschieden wir uns, die 1.500 km inklusive zwei Zwischenübernachtungen mit dem Auto zurückzulegen. Für drei Wochen unterwegs brauchten wir wieder viele Windeln. Um mehr Platz für alles zu haben, mieteten wir dieses Mal lieber einen größeren Wagen. Am ersten Tag fuhren wir bis Besançon. Die Reise von norma­ lerweise neun Stunden dauerte für uns zwölf, da wir oft anhalten mussten. Am zweiten Tag legten wir eine deutlich kleinere Strecke bis nach Montpellier zurück. Ich hatte 1992 und 1994 jeweils für einige Monate dort gelebt. Wir gingen an meiner ehemaligen Wohnung und an der Universität vorbei, an der ich studiert hatte. Von meinem ehemaligen Praktikumsplatz am deutschen Kultur­ institut Maison der Heidelberg liefen wir weiter zur Place de la Comédie, wo wir mit Public Viewing zu Abend aßen. Spanien spielte an diesem Abend im Weltmeisterschaftsfinale in Südafrika

183 gegen die Niederlande. John mittendrin in der bunten Menschenmenge, es machte ihm erstaunlicherweise gar nichts aus, er schien es sogar zu genießen. Man wusste eben nie. Am nächsten Morgen fuhren wir durch die Pyrenäen und erreichten Katalonien. Je südlicher wir kamen, umso stärker ver­ änderte sich die Landschaft. Die Erde wechselte ihren Ton von braun zu rotbraun. Es gab deutlich weniger Vegetation und es wurde sehr heiß. Die Fahrt von Montpellier nach Valencia dauerte gut neun Stunden. John wurde unruhig. Nach drei Tagen Autofahren hatte er – verständlicherweise – wohl langsam genug. Wie sollten wir das in Zukunft machen, wenn Fliegen zu schwierig war und so lange Strecken mit dem Auto aber auch? Wahrscheinlich würde sich unser Bewegungsradius verkleinern müssen. Das Ferienhaus lag in der Nähe der kleinen Stadt Llíria, außer­ halb von Valencia. Das Haus gehörte einem englisch-spanischen Männerpaar, die in London lebten. Sie hatten uns genaue Anfahrts­ informationen gegeben, weil die Siedlung selbst mit einem Navigationsgerät nicht zu finden sei. Man musste zunächst außer­ halb von Llíria zwischen offenen Feldern hindurchfahren, die fast wie eine Wüste aussahen. Wir kreuzten ausgetrocknete Flussläufe, der asphaltierte Weg endete und wir fuhren auf Schotter weiter. Irgendwann kamen wir an eine Ansammlung von zwölf Häusern mitten im Nirgendwo, eines davon sollte für zwei Wochen unser Zuhause werden. Eine Engländerin, die in Valencia wohnte und sich um die Ver­ mietung kümmerte, erwartete uns schon. Als Erstes erklärte sie uns, dass der Schatten des Hauses die Tiere aus der wilden Umgebung

184 anlockte. Wir sollten jederzeit alle Türen geschlossen halten und die Haustür noch nicht einmal geöffnet lassen, um zum Beispiel Lebensmittel aus dem Auto zu holen. Wenn wir unsere Schuhe anzogen, sollten wir diese immer erst ausschütteln, auch wenn sie nur im Haus gestanden hatten. »Hier gibt es Taranteln und Skorpione. Die verstecken sich gerne in Schuhen«, sagte sie. Das ermutigte mich nicht gerade. Als wir im Flur einen Gecko die Wand hochlaufen sahen, freute sich die Engländerin: »Es ist ein gutes Zeichen, wenn diese Genossen im Haus sind. Die lieben die Taranteln!« Als sie uns unserem Schicksal überlassen hatte, sagte ich Scott, dass ich nicht wisse, ob ich an diesem Ort zwei Wochen bleiben könnte. Er schien im Gegensatz zu mir kein Problem damit zu haben: »Das ist bestimmt alles okay. Sonst würden sie das Haus ja nicht vermieten. Das ist doch ständig belegt. Und auf beiden Seiten neben uns wohnen Familien, die permanent hier leben. So schlimm kann es also nicht sein.« Seinem Pragmatismus hatte ich erst einmal nichts entgegen zu setzen. John war besonders angetan von dem Pool im Garten. Wegen der Inkontinenz hatten wir von der Krankenkasse eine so genannte Schwimmtherapiebadehose aus Neopren erhalten und in der Schule ging John einmal in der Woche schwimmen. Ein Haus mit einem Pool hatten wir noch nie gemietet. Es erschien uns sehr luxuriös, auch wenn die Umgebung natürlich alles andere war als das. Bei der Hitze wurde auch schnell klar, dass es hier gar nicht ohne Pool ging. Jedes Haus hatte einen.

185 Wir hörten nebenan die Kinder im Wasser plätschern. Die Mutter rief ihnen laut aus dem Haus heraus etwas zu. Die Nachbarn auf der anderen Seite waren auch sehr laut. Wir merkten schnell, dass dieser Geräuschpegel hier normal war. Alle schienen sich den ganzen Tag aus Distanz anzuschreien, anstatt zu demjenigen hinzu­ gehen, mit dem man sprechen wollte. Einer der Nachbarn hieß Jesús und seine Frau rief ständig nach ihm. In den nächsten beiden Wochen sollten die steten Jesús-Rufe zu unserem üblichen Hintergrundrauschen gehören. Der Pool war besonders am Abend ein Traum. Nach hinten war das Grundstück eingezäunt, nach vorne fiel es direkt hinter dem Pool langsam bergab, so dass man aus dem Wasser heraus einen Blick über das Tal und direkt in den Sonnenuntergang hinein hatte. In dieser Atmosphäre zu schwimmen wurde zum Highlight am Ende jeden Tages. Dennoch bot der Pool auch einiges an Konfliktpotential. John wollte sich am liebsten rund um die Uhr im Wasser aufhalten. In den ersten Tagen bekam er aber Durchfall, vielleicht vom ungewohnten spanischen Essen, vielleicht vom vielen Chlorwasserschlucken. Selbst mit der speziellen Badehose war der Durchfall für den Pool zu gefährlich, also konnte John zwei Tage lang nicht schwimmen. Herumzufahren wäre die einfachste Lösung gewesen, aber mit einem inkontinenten zehnjährigen Kind mit Durchfall war das mit dem Herumfahren auch keine ganz so leichte Sache. Zum Glück gab es im Haus eine Klimaanlage, so dass wir uns gut drinnen aufhalten konnten.

186 Nachdem John den Durchfall überwunden hatte, fuhren wir ans Meer. Die See war rau und die Strömung stark. Wir mussten gut auf John aufpassen, denn man wurde leicht weit hinausgetragen und es war schwer, wieder ans Ufer zurückzuschwimmen. John war ein guter Schwimmer, das Problem war eher das kognitive Verständnis. Er wollte nicht zurückschwimmen. Für mich war es zu gefährlich mit John im Meer, aber Scott konnte ihn zum Glück halten und immer wieder in Richtung Strand zurückdirigieren. Wir passten uns an die spanische Siesta an, fuhren morgens früh sowie am späten Nachmittag hinaus und verbrachten die Stunden der größten Mittagshitze im klimatisierten Ferienhaus. John machte zwar keinen Mittagsschlaf, das hatte er schon im Alter von zwei Jahren aufgegeben, doch es gab im Haus eine große Auswahl an DVDs. John entdeckte besonders den Musicalfilm The Sound of Music mit Julie Andrews für sich. Er war geradezu süchtig nach diesem Film und den Liedern darin. So verbrachten wir in der Siesta viel Zeit mit Maria, Herrn von Trapp und seinen sieben Kindern. Nach einer Woche hatten wir uns genügend akklimatisiert, um einen Ausflug in die Stadt zu wagen. Wir konnten in Valencia mitten in der Altstadt parken. Mit Hilfe eines Gutachtens von Johns Kinderpsychiater hatten wir nämlich kürzlich einen Behinderten­ parkausweis erhalten, der für ganz Europa galt. Wir waren dankbar, dass uns das Leben durch den Ausweis erleichtert wurde, auch wenn das Verständnis der Umwelt manchmal zu wünschen übrig ließ. In Berlin hatte uns eine Frau beim Aussteigen wütend angeschrien: »Hey, ihr Kind kann ja gehen!« Ich wollte es zunächst

187 zu erklären versuchen, beließ es dann aber einfach dabei, weil mir die Aussicht auf Verständnis eher gering erschien. Am besten gefiel uns in Valencia die Stadt der Künste und Wissenschaften, der futuristische Gebäudekomplex der Architekten Santiago Calatrava und Félix Candela. John schien besonders beeindruckt von einer Schrägseilbrücke und türkisblauen Pools, die die Gebäude miteinander verbanden. Sobald er auch nur einen Zeh ins Wasser hielt, kam aber leider schon ein Sicherheitsangestellter angelaufen. Betreten verboten. John sah sich trotzdem aufmerksam um. Wir bemerkten wieder, wie er sich erkennbar für Gebäudestrukturen interessierte.

Ein Interesse an Architektur war für einen Autisten nicht un­ gewöhnlich. Auch wenn John weit davon entfernt war, daraus selbst konkret etwas zu machen, erinnerte es mich an Projekte anderer Autisten. Der britische Künstler Stephen Wiltshire, mit Autismus diagnostiziert, ist zum Beispiel für seine geometrisch präzisen Stadt­ bilder bekannt. Der französische Künstler Gilles Tréhin, ein Savant mit außergewöhnlichem mathematischem Talent, erschuf die hochkomplexe Stadt Urville. Seit 20 Jahren zeichnet er an dieser Stadt mit etwa zwölf Millionen Einwohnern. Fast 300 Zeichnungen verschiedener Stadtteile zeigen unterschiedliche architektonische Stile und geben Informationen über Geschichte, Geographie, Ökonomie und Kultur. Das Vichy-Regime, der Zweite Weltkrieg und die Globalisierung, alles findet sich in Tréhins fiktiver Stadt wieder.

188 Der autistische Savant James Henry Pullen hat sieben Jahre an seinem bekannten Meisterwerk, einem Modell des Raddampfers The Great Eastern gearbeitet. Pullen konnte nicht sprechen, aber er er­ schuf ein kompliziertes Meisterwerk: ein mehrere Meter langes Schiff mit allen Einzelheiten und einer kompletten Innenausstattung. Der autistische Künstler George Widener ist für seine Bilder von komplexen Landschaften und numerischen Palindromen bekannt. Seine Werke wurden in Deutschland zunächst im Rahmen der Art brut gezeigt, also bei Ausstellungen von autodidaktischen Künstlern mit einer Geisteskrankheit oder geistigen Behinderung. Mittlerweile stehen Wideners Ausstellungen aber für sich und werden in renom­ mierten Museen wie dem Hamburger Bahnhof in Berlin gezeigt. Auch die Werke des Autisten Larry Bissonnette werden regelmäßig in regionalen wie nationalen Ausstellungen präsentiert. Der Savant Daniel Tammet ist dafür bekannt, dass er innerhalb von einer Woche Isländisch lernte. Er hat außergewöhnliche mathematische Fähigkeiten und wird oft mit Kim Peek verglichen, dem realen Autisten hinter der Figur von Dustin Hoffmans Rain Man. Über Inselbegabungen und außergewöhnliche Fähigkeiten wird in den Medien viel und gerne berichtet. Das öffentliche Interesse ist auf dem Höhepunkt in einer Zeit, in der die Neurowissenschaft zur Leitforschung avanciert ist. Der Autismus markiert dabei eine unerreichte Schwelle: Wir denken, über das Gehirn mittlerweile so viel zu wissen, aber können die außergewöhnlichen Fähigkeiten von Savants, also von Menschen mit Inselbegabungen, noch nicht erklären. Allerdings haben nur 10% der Autisten derart besondere

189 Talente. Das heißt, wir widmen einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Autisten verhältnismäßig viel Aufmerksamkeit. Es ist verständlich, weil sie spontan faszinieren, aber es birgt auch die Gefahr, aus den Augen zu verlieren, dass es sich hier um eine deutliche Minderheit unter den Autisten handelt.

Hans Asperger hat gesagt: »Es scheint, dass für Erfolg in der Wissenschaft oder in der Kunst ein Schuss Autismus erforderlich ist.« Es brauche die autistische Fähigkeit, sich vom Alltag und vom pragmatischen Leben abzuwenden, um durch die Bündelung aller Begabungen ein bestimmtes Thema neu denken und einen bisher unbekannten Zugang finden zu können. In den letzten Jahren sind ganz in diesem Sinn eine Unmenge von posthumen Diagnosen gestellt worden. Hans Christian Andersen, Sherwood Anderson, W.H. Auden, Jane Austen, Belá Bartók, Ludwig van Beethoven, Alexander Graham Bell, Anton Bruckner, Lewis Carroll, Marie Curie, Charles Darwin, Emily Dickinson, Albert Einstein, Glenn Gould, Vincent van Gogh, Thomas Jefferson, Wassily Kandinsky, Immanuel Kant, Stanley Kubrick, Lenin, Michelangelo, Wolfgang Amadeus Mozart, Isaac Newton, George Orwell, Spinoza, Henry David Thoreau, Alan Turing, Andy Warhol und Ludwig Wittgenstein: Zu ihnen allen wurden Vermutungen geäußert, sie könnten Autisten gewesen sein. Wenn man davon ausgeht, dass sich das Vorkommen von Autismus nicht erhöht hat, dann muss es in der Geschichte tat­ sächlich viele Autisten gegeben haben. Doch wie zuverlässig können posthume Diagnosen sein? Nüchtern betrachtet, nicht besonders.

190 Andererseits kann man diese Art der Beschäftigung mit der kulturellen Entwicklungsgeschichte durchaus auch als Teil der zeitgenössischen Identitätspolitik des Autismus begreifen. Und die Bandbreite der Charaktere korrespondiert mit dem breiten Spektrum, das wir heute in Bezug auf den Autismus wahrnehmen. In der russischen Kulturgeschichte sind die heiligen Narren bekannt. Die Autismusforscherin Uta Frith hat sich damit be­ schäftigt, inwieweit diese heiligen Narren womöglich Autisten gewesen sind. In Europa ist der Topos der so genannten Wolfs­ kinder zu nennen, die alleine in der Natur lebend aufgefunden wurden. In Hessen soll im vierzehnten Jahrhundert ein siebenjähriger Junge gefunden worden sein, in Irland kennt man den Schafsjungen aus dem Jahr 1652, in Holland wurde im achtzehnten Jahrhundert ein verwildertes Mädchen aufgefunden. In diese Reihe passen wo­ möglich auch der Wilde Peter von Hameln und Kaspar Hauser. Der letzte bekannte Fall eines Wolfsjungen ist der 1976 ge­ fundene, so genannte Wilde Junge von Burundi, der angeblich von Affen aufgezogen wurde. Der Psychologe Harlan Lane untersuchte den Jungen und diagnostizierte ihn mit Autismus. Auch in Bezug auf viele vorherige Wolfskinder wird heute davon ausgegangen, dass sie Autisten gewesen sein könnten.

Im Blick auf heilige Narren, Wolfskinder und auch mittels posthumer Diagnosen, sind wir auf der Suche nach der Kultur­ geschichte des Autismus. In diesem Prozess erfolgt allerdings dann oft auch eine symbolische Aneignung dieses Blicks. Im Film Der

191 Wolfsjunge des französischen Regisseurs François Truffaut wird zum Beispiel die wahre Geschichte eines zwölfjährigen Jungen erzählt, der im achtzehnten Jahrhundert unbekleidet im Wald von Aveyron gefunden wurde. Man gab ihm den Namen Victor. Der Junge konnte nicht sprechen und schien auch keine Sprache zu verstehen. Wahrscheinlich hatte er eine geistige Behinderung, möglicherweise Autismus, und er war vermutlich ausgesetzt worden. Victor wurde nach dem Auffinden nach Paris gebracht und Truffauts Film erzählt, basierend auf dieser wahren Begebenheit, von den folgenden Erziehungsversuchen. Truffaut schickte den Schauspieler Jean-Pierre Cargol, der die Hauptrolle des Victor spielen sollte, in die Cevennen zu Fernand Deligny. Zur Darstellung des Wolfsjungen sollte Cargol den Autisten Janmari beobachten, dessen Geschichte der umgedrehten Orangenhälften ich früher im Buch erzählt habe. Die Darstellung des Wolfsjungen Victor im Film beruht also auf dem Verhalten eines Autisten. Nicht zuletzt geschah dies vielleicht auch einfach, weil Truffaut mit Deligny befreundet war. Mehr oder weniger durch diesen Zufall wurde die Art, wie wir durch den Film auf den Wolfs­ jungen blicken, mit dem Syndrom Autismus verknüpft.

Dem Vermischen vom tatsächlichen Syndrom und künstlerischer Aneignung wird noch eine weitere Ebene hinzugefügt, wenn man sich gänzlich fiktive Charaktere ansieht, die teils vermutlich und teils nachgewiesenermaßen im Blick auf Autisten erfunden wurden, wie etwa Tarzan von Edgar Rice Burroughs und Mowgli in Rudyard

192 Kiplings Dschungelbuch. Im Moment wird übrigens auch diskutiert, ob Sherlock Holmes vielleicht autistisch sei. Der amerikanische Autor Conrad Aiken schrieb 1934 die Kurz­ geschichte Leiser Schnee, heimlicher Schnee. Autismus existierte zu dieser Zeit als Diagnose noch nicht. Die Geschichte ist aus der Sicht des Jungen Paul geschrieben, der sich langsam immer mehr in sein Inneres zurückzieht. Fiktiv und avant la lettre, vermittelt der Text dennoch einen starken Eindruck, wie wir uns von außen Autismus vorstellen. Man kann sich kaum denken, dass Aiken die Geschichte ohne ein Vorbild im wirklichen Leben geschrieben hat. Seit mehr als 30 Jahren wird die große Figur von Herman Melvilles ultimativem Verweigerer Bartleby mit Autismus in Verbin­ dung gebracht. Nebenbei werden auch dem Autor Melville selbst autistische Züge nachgesagt – noch jemand, den man der immer länger werdenden Liste posthumer Diagnosen zufügen könnte. Eine umfassende Studie von Bartlebys Verhaltensweisen ergab an der medizinischen Fakultät von Stanford deutliche Anzeichen für das Asperger-Syndrom. Der Kommunikationswissenschaftler Amit Pinchevski schrieb: »Melvilles Beschreibung des einsamen Schreibers, veröffentlicht im Jahr 1853, dient als historische Bestätigung der Annahme, dass es schon immer in unserer Ge­ schichte Menschen mit diesen Symptomen gegeben hat.« Letztlich zeigt sich am Beispiel von Bartleby vor allem aber auch ein oft verwendeter Platzhalter-Mechanismus. Autistisches Ver­ halten wird dazu benutzt, zu Kernfragen des Menschen vorzudringen. In diesem Fall zum existenziellen Alleinseins jedes

193 Menschen. Bartlebys Autismus ist klar symbolisch. Er trägt eine Bedeutung, die über das Syndrom selbst hinausgeht. Autismus wird in der Literatur oft mit Technologie in Verbin­ dung gebracht, so etwa in den Romanen Microserfs und jPod von Douglas Coupland. In Stieg Larssons erfolgreicher Millenium- Trilogie hat die Figur der Lisbeth Salander das Asperger-Syndrom, ein fotografisches Gedächtnis und sie ist ein Computergenie. Ihre Figur trägt wesentlich zur Anziehungskraft der Trilogie bei. Im Film Rain Man ist die Symbolisierung insofern nicht ganz so stark ausgeprägt, als hier das Syndrom Autismus wirklich die zentrale Rolle spielt. Aber auch in diesem Film wird Autismus symbolisiert. Während die Figur des von Dustin Hoffman gespielten Raymond der tatsächliche Autist ist, zeigt auch sein Bru­ der Charlie, gespielt von Tom Cruise, autistische Züge: Probleme in der sozialen Interaktion, Wiederholungen in der Sprache, Unnah­ barkeit. In seinem Fall charakterisieren diese Verhaltensweisen aller­ dings kein Syndrom, sondern die Ära der profitorientierten 1980er Jahre. Am Ende werden Charlies Rücksichtslosigkeit und sein Materialismus durch die autistische Präsenz des Bruders gemildert. Nebenbei ein weiteres, oft genutztes kulturelles Narrativ: Der Autismus als Katalysator für eine charakterliche Verbesserung. Insgesamt hinterlässt die Popularität des Films Rain Man ein ambivalentes Erbe. Einerseits haben dadurch viele Menschen den Autismus überhaupt erst kennen gelernt, andererseits hat der Film die Ansicht geprägt, dass Autisten außergewöhnliche Fähigkeiten hätten, was eben nur bei einer geringen Minderheit der Fall ist.

194 Die Symbolisierung von Autismus in Filmen und Büchern reflektiert sowohl negativ als auch positiv auf die Wahrnehmung des tatsächlichen Syndroms zurück. Einerseits droht der Begriff Autismus durch häufigen Gebrauch zu einer bloßen Mode­ erscheinung zu werden. Der Journalist Niall Ferguson diagnosti­ zierte: »Amerika hat Asperger.« In seinen Augen werde der Begriff so häufig verwendet, weil man damit hervorragend egoistisches und asoziales Verhalten rechtfertigen könne. Andererseits haben in den letzten Jahren einige Veröffent­ lichungen durchaus zu einem besseren Verständnis beigetragen, zum Beispiel der Roman Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone von Mark Haddon. Im Rahmen einer Konferenz zum Thema »Geistige Behinderung und Philosophie« sprach der Wissenschaftstheoretiker Ian Hacking zum Thema Autismus. Er sagte: »Das neue Multimedia-Genre der Erzählungen über Autismus – Autobiographien, Elternerzählungen, Fiktion, Kinderbücher und vor allem Blogs – trägt wesentlich dazu bei, die Vorstellung zu überwinden, schwer autistische Menschen hätten ein flaches Gefühlsleben. Wir sehen nun eine viel reichhaltigere Existenz.«

Wir hatten eine DVD-Sammlung mit nach Spanien gebracht: Spain – on the Road Again, in der der Koch Mario Batali, die Schauspielerin Gwyneth Paltrow, der Restaurantkritiker Mark Bittman und die Schauspielerin Claudia Bassols durch Spanien reisen und regionale Gerichte probieren. Wann immer wir John von The Sound of Music abbringen konnten, sahen wir uns eine Episode an. So stießen wir

195 eines Tages darauf, wie Mario Batali und Gwyneth Paltrow mit dem so genannten Zen Master der Albufera, einem Naturpark im Süden von Valencia, eine Paella zubereiteten. Der Koch begann, indem er ein Feuer entfachte. Batali fragte ihn, wie lange es dauere, bis das Feuer bereit sei. Der Koch antwortete: »Ich lenke nicht das Feuer, das Feuer lenkt mich.« Ah, der Zen Master. Aber es gefiel mir, denn so ging es uns auch mit John. Er war unser Feuer. »Frag nicht, wie lange etwas dauert, so funktioniert das hier nicht.« Neben der Terrasse unseres Ferienhauses befand sich ein traditioneller Paellero, ein kleiner Anbau mit einem Holzfeuerrost. Wir mussten diese Paella ausprobieren, also fuhren wir am nächsten Tag zu den Reisfeldern der Albufera. Auf dem Rückweg hielten wir in der Stadt und kauften in der Markthalle von Valencia noch frischen Fisch und Meeresfrüchte dazu. Mit dem Feuer wurde es am Abend im Paellero schnell sehr heiß. Ich brachte den Fisch und die Meeresfrüchte nach draußen und wurde sofort von einem Schwarm Fliegen attackiert. Wir aßen schon nicht mehr draußen, weil die Fliegenmengen nicht zu ertragen waren. John und ich sahen uns im klimatisierten Haus The Sound of Music an und hörten Maria zum hundertsten Mal Do-Re-Mi singen, während Scott in der qualmigen Hitze des Paellero kochte und die Fliegen abwehrte. Die Paella schmeckte schließlich fantastisch. Der Zen Master hatte am Ende Reis auf den Löffel genommen und den Löffel umgedreht. Es dürfe nichts herunterfallen. Unsere Paella bestand sogar seine Nagelprobe.

196 Wir fuhren in die kleine Stadt Chelva, wo wir etwas außerhalb einen Wasserfall entdeckten. Das kalte Bergwasser war natürlich et­ was für unseren Wasserjungen, besonders in der Hitze. John zeigte uns seine Begeisterung mit einer exquisiten Stehvariante seines Rudertanzes. Doch der Boden war glitschig und mit der vollen Energie seines Tanzes glitt John, an Scotts Hand, zu Boden. Die beiden fielen hin und rutschten direkt unter den Wasserstrahl. John giggelte fröhlich. Zum Glück war beiden Männern nichts weiter passiert. Abends kam die britische Hauswärterin vorbei und bat uns, später am Abend das Tor für die Wasserlieferung zu öffnen, die hier alle zwei Wochen erfolgte. Die entlegene Siedlung war nicht an die Kanalisation angeschlossen. Die Häuser waren alle mit Tanks ausgestattet, die regelmäßig befüllt und geleert wurden. Die Wasserlieferung sollte um zehn Uhr erfolgen. »Zehn Uhr heute Abend?«, fragten wir sicherheitshalber noch­ mal nach, ob wir das richtig verstanden hatten. Die Frau lächelte. »Ja, zehn Uhr heute Abend.« Tatsächlich gingen die Uhren hier etwas anders. Unsere Nachbarn begannen ihr Abendessen meistens erst gegen zehn. Also warteten wir, zehn Uhr kam und ging, ebenso elf Uhr. Nachts war die Dunkelheit hier tiefschwarz. Es gab keine Straßenlaternen, keine Ortschaft in der Nähe, an klaren Nächten war der Sternenhimmel fantastisch. Irgendwann gingen wir schlafen, weil wir dachten, dass die Lieferung bestimmt verschoben worden war. Gegen ein Uhr nachts aber wachten wir von lauten Geräuschen auf.

197 Ein riesiger Truck war angekommen und alle schrien laut herum: die Nachbarn, die Arbeiter, der Lastwagenfahrer. Auf dem Truck waren starke Scheinwerfer installiert, die gerade unser Nachbar­ grundstück erleuchteten. Bevor wir überhaupt wussten, was geschah, sprang unser Nachbar Jesús über den Zaun, halbnackt, rannte zum Tor und öffnete es. Die Scheinwerfer schwenkten um auf unser Grundstück, mehr Geschrei, und plötzlich das laute Ge­ räusch von sprudelndem Wasser. Unsere Terrasse war im Nu über­ flutet. Es ging alles ganz schnell, schon schwenkten die Schein­ werfer auf das nächste Grundstück um. Jesús winkte noch Gute- Nacht, als er über den Zaun auf sein eigenes Grundstück zurücksprang. Interessanterweise war unser Leichtschläfer John von dem Spektakel nicht wach geworden. Am nächsten Morgen erschien mir die ganze Szene wie ein Traum.

Es spricht viel für einen Ort, an dem man die Limonen für einen Cocktail direkt vom Baum pflücken kann, aber ich war dennoch etwas erleichtert, als wir nach zwei Wochen auscheckten, ohne eine Tarantel oder einen Skorpion gesehen zu haben. Zurückfahren wollten wir in vier Tagen anstatt der drei auf dem Hinweg. Wir wollten die tägliche Fahrtzeit etwas reduzieren. Am ersten Tag fuhren wir dreieinhalb Stunden bis nach Barcelona und übernachteten in einem kleinen Hotel direkt im Zentrum, in der Nähe von Las Ramblas. Das Hotel befand sich in der Fußgängerzone, doch laut Website durfte man zum Entladen des Gepäcks vorfahren. Der Verkehr war

198 dicht und die Straßen voll von Menschen. Wir fuhren im Kreis und suchten eine Zufahrt ohne Poller. Es dauerte lange, bis wir den Weg fanden. John war noch geduldig, aber schon nah am Limit, als wir endlich eincheckten. Später am Tag aber genoss er merklich unseren Besuch in der Basilika La Sagrada Família. John sah sich sehr interessiert in der Kirche um. Das nächste Parkhaus war ein paar Häuserblocks vom Hotel entfernt. Am nächsten Morgen machte Scott sich daher zunächst alleine auf den Weg, um das Auto zum Beladen wieder vor das Hotel zu fahren. In der Fußgängerzone wurde er von einem Mann angehalten, der seinen Arm durch das geöffnete Fenster streckte. Er klopfte Scott auf die Schulter und sagte etwas von leckender Flüssigkeit vorne unter dem Auto. Scott schüttelte den Mann ab und wollte das Fenster schließen, aber der Mann griff noch einmal hinein und zog an Scotts T-Shirt. Scott schüttelte ihn erneut ab und konnte dann das Fenster schließen. Am Hotel warteten John und ich mit dem Gepäck. Wir luden das Auto und fuhren Richtung Frankreich. Kurz hinter der Grenze hielten wir für eine kleine Pause an. Scott wollte ein Foto machen und fragte: »Wo ist denn mein Rucksack? Da ist die Kamera drin. Der lag doch auf dem Rücksitz. Hast du ihn in den Kofferraum gelegt?« Ich hatte den Rucksack nicht gesehen, seitdem Scott morgens mit ihm losgelaufen war, um das Auto zu holen. Ich hatte gedacht, er sei im Kofferraum. Wir durchsuchten das ganze Auto, aber es musste wohl ein Komplize die hintere Tür geöffnet haben, während der Mann in der Fußgängerzone seinen Arm vorne ins Auto

199 gestreckt hatte. Im Rucksack waren Bücher, DVDs, Scotts Handy, mein Adressbuch und am schlimmsten natürlich die Kamera mit etwa 600 Bildern unseres Spanienurlaubs. Kurz vor der Reise hatte uns außerdem Scotts Bruder mit Familie aus Chicago besucht. Auch diese Bilder aus Berlin waren auf der Speicherkarte und noch nirgendwo anders gesichert. Nun blieben uns nur die wenigen Fotos, die ich mit meiner alten Kamera gemacht hatte. Wir überlegten, ob wir zurückfahren sollten, um eine Anzeige zu erstatten. Aber was würde das bringen? Wir waren schon in Frank­ reich, es wäre ein langer Weg. So fuhren wir lieber einfach weiter zu unserem nächsten Stopp nach Nîmes.

Nîmes hatten wir unter anderem wegen des Amphitheaters als Zwischenstopp ausgesucht. Bei unserer Pechsträhne hatte es aller­ dings ausnahmsweise an diesem Abend wegen eines Konzertes geschlossen. So gingen wir ein bisschen in der Stadt spazieren und aßen in einem chinesischen Restaurant. Auf dem Rückweg ent­ deckten wir ein altes Karussell und fanden so doch noch etwas für John. Er wollte immer und immer wieder mitfahren. Irgendwann spendierte uns der Mitarbeiter sogar ein paar Freifahrten, weil er selbst so einen Spaß daran hatte, mit welcher Begeisterung John Runde für Runde mitfuhr. Zurück im Hotel fand ich in meinem E-Mailpostfach eine Nach­ richt von einem Jesús. Zuerst dachte ich an unseren Nachbarn in Llíria, aber es handelte sich um einen anderen Jesús, dieser kam aus Barcelona. Er habe einen Rucksack gefunden und meine E-Mail vorne im Adressbuch. Im Rucksack wären außerdem noch Bücher

200 und DVDs gewesen. Offenbar hatten die Diebe das Handy und die Kamera gestohlen und den Rucksack dann weggeworfen. Jesús schrieb, es tue ihm leid, dass in seiner Stadt so viel geklaut würde. Er bot an, uns den Rucksack zuzuschicken und gab uns die Kontaktdaten zu einem UPS-Büro. Er würde den Rucksack dort abgeben und wir könnten die Zahlung direkt mit den Mitarbeitern dort vereinbaren. Von Berlin aus rief ich das UPS-Büro in Barcelona an und überwies die Lieferkosten. Vier Tage später erhielten wir unseren Rucksack mit dem verbliebenen Inhalt. Ich schrieb an Jesús, dankte ihm und bot eine Belohnung an, die er aber ablehnte. Er schrieb: »Diese Banden werfen so ein schlechtes Licht auf meine Stadt. Ich liebe Barcelona und ich freue mich, wenn ich das Bild der Stadt mit dieser Geste etwas geraderücken konnte.« Das war ihm gelungen.

Der Urlaub in Spanien war für uns eine etwas erschöpfende und vor allem eine von Widersprüchen geprägte Erfahrung. Nachdem das Fliegen mit John schwierig war, hatten wir sehen wollen, ob wir auch längere Distanzen mit dem Auto fahren könnten, wenn wir die Tage gut einteilten. Das hatte so mittelgut geklappt. In Valencia hatten wir zwar mit Hitze gerechnet, konnten aber natürlich nicht wissen, dass es ein außergewöhnlich heißer Sommer werden würde. John hatte das Meer gefallen, aber durch die starken Wellen war es schwer, ihn ohne Gefahr darin zu kontrollieren. Der Pool im Gar­ ten mit Sonnenuntergangausblick war traumhaft, aber aufgrund von Johns mangelndem Verständnis auch anstrengend. Das Ferienhaus war für mich zu weit in der Wildnis gewesen, allerdings hatte das

201 Scott und John nichts ausgemacht. Der Diebstahl in Barcelona war eine schlechte Erfahrung, die Rückgabe des Rucksacks hingegen geradezu rührend. Ein paar Monate später schickte uns der Besitzer des Ferien­ hauses aus England eine E-Mail. Er war von der Polizei in Valencia kontaktiert worden, die wiederum von der Polizei in Barcelona beauftragt worden war, die Mieter des Hauses zu einem bestimmten Zeitpunkt zu finden, nämlich in den beiden Wochen, in denen wir dort gewesen waren. Die Polizei in Barcelona hatte eine Wohnung voller Hehlerware entdeckt, unter anderem auch mit unserer Kamera. Sie hatten die Bilder durchsucht und einen Vater und seinen Sohn im Pool gesehen. Der Name des Ferienhauses war in die Mosaikfliesen des Pools eingearbeitet. Auf der Chipkarte waren natürlich Datum und Uhrzeit gespeichert. So hatten sie zuerst das Ferienhaus und dann uns gefunden. Wir saßen sprachlos vor der E- Mail. Unsere Fotos waren wieder da. Ich schickte der Polizei sofort eine E-Mail, teilte ihnen mit, dass uns die Kamera in Barcelona gestohlen worden war und dass wir keine Anzeige erstattet hatten, weil wir es erst in Frankreich be­ merkt hatten. Ich fragte, ob wir die Speicherkarte bekommen könnten. Die Kamera war schon recht alt und wir hatten uns in der Zwischenzeit eine neue gekauft. Aber die Bilder waren für uns so wertvoll. Ich gab ihnen unsere Adresse und bot an, das Geld für das Porto zu überweisen. Leider stellte sich dann allerdings heraus, dass die Polizei uns nur hatte finden wollen, um zu sehen, ob wir irgendetwas mit der orga­ nisierten Kriminalität zu tun hatten. Sobald sie wussten, dass die

202 Kamera gestohlen war und wir nur unschuldige Urlauber, verloren sie das Interesse. Auf meine E-Mail erhielt ich keine Antwort und der Chip kam nie in Berlin an. Wir waren unseren Fotos noch einmal so nahe gekommen.

203 11. Prag & Theresienstadt – Ethik

»Was sind wir doch für anmaßende Menschen, anzunehmen, dass wir uns gleich beim ersten Zusammentreffen verstehen müssten. Versuchen wir es noch einmal.« (Javier Tomeo)

Für den Schulwechsel nach den Sommerferien planten wir eine langsame Eingewöhnung, doch John ging es in der sehr strukturier­ ten neuen Umgebung sehr gut und er kam unerwartet schnell mit der Veränderung zurecht. Schon nach zwei Wochen schlugen die Klassenlehrer vor, dass John ganze Tage zur Schule gehen könnte, sogar ohne Eins-zu-Eins-Betreuung. Ich sprach mit der Mutter eines anderen Autisten. »John wird doch immer mehr lernen, wenn er eine Assistenz an seiner Seite hat«, sagte sie. »Wenn er einen Schulhelfer bewilligt bekommen kann, würde ich das auf jeden Fall machen.« Scott und ich waren uns nicht sicher. John sollte schließlich auch lernen, in einer Gruppe zurechtzukommen. Was war uns wichtig? Ein Schulhelfer, der immer an Johns Seite ist, könnte intensiv mit ihm arbeiten, aber ohne Eins-zu-eins-Betreuung würde John viel­ leicht besser lernen, Teil der Gruppe zu sein. In der alten Schule war es ohne Schulhelfer für John zu gefährlich und zu unstrukturiert gewesen. Wenn aber die neue

204 Schule Johns Sicherheit ohne Begleitperson gewährleisten konnte, dann bot das auch Chancen. Sozialverhalten war wichtig, denn John würde den Rest seines Lebens auf andere Menschen angewiesen sein und in Gruppen zurechtkommen müssen. Wir beschlossen, es erst einmal ohne Schulhelfer zu versuchen, wie es die Schule auch empfahl. In den letzten Jahren war John immer gegen 15 Uhr nach Hause gekommen, so dass wir an vier Tagen in der Woche nachmittags Einzelfallhelfer Zuhause gehabt hatten. Nun kam John von Montag bis Donnerstag erst um 17 Uhr aus der Schule und wir brauchten nur noch am Freitag einen Einzelfallhelfer. Binnen weniger Monate erreichten wir eine so stabile Situation, dass ich mehr arbeiten konnte. Es wurde mir wieder klar, wie sehr alles in unserem Leben von Johns Stabilität abhing. Und auch wenn wir Zuhause alles für ihn taten, so war es nicht genug, wenn nicht auch die äußeren Umstände stimmten. Hoffentlich könnte John bis zum Alter von 21 Jahren auf der Schule in Fürstenwalde bleiben. Danach käme wieder ein schwerer Übergang, aber in der Zwischen­ zeit hofften wir auf beständige Jahre.

Das Reiseunternehmen, für das ich in Chicago gearbeitet hatte, bot mir eine Reiseleitung für fünf Tage in Prag an. Ich war seit vielen Jahren nicht von John getrennt gewesen. Die Pflege hatte zu einer sehr nahen, ja symbiotischen Beziehung geführt. Nun war John zehn Jahre alt, interessierte sich für seine Klassenkameraden und wollte manchmal nicht mehr an der Hand gehalten werden, wenn wir draußen unterwegs waren. Weil er immer noch keine

205 angemessene Gefahreneinschätzung für den Verkehr hatte, konnten wir ihn nicht loslassen, aber sein Wunsch war ein klares Signal, dass er mehr nach Unabhängigkeit zu streben begann. So beschloss ich, zum ersten Mal seit Johns Geburt wieder eine Reise außerhalb Berlins zu leiten. Ich dachte, ich würde mich über die neu gewonnene Freiheit freuen, aber in Prag fühlte es sich zu­ nächst vor allem merkwürdig an. Kein John, der sich auf meinen Schoß fallen ließ oder der mich am Arm irgendwohin ziehen wollte. Wir lebten Zuhause im ständigen Körperkontakt und mit viel Lärm, weil John permanent Geräusche machte. Ohne ihn spürte ich zu­ nächst vor allem Leere und Stille. Es erinnerte mich daran, wie John in den Kindergarten ge­ kommen war, nachdem wir fast zwei Jahre in Kliniken verbracht hatten. Die therapieresistente Epilepsie und die ständigen Krampf­ anfälle Tag und Nacht hatten keinen Platz für irgendetwas anderes gelassen. Als John dann in den Kindergarten ging, hatte ich mit einer Zeitung am Küchentisch gesessen, ohne mich auf das Lesen konzentrieren zu können. Nach ein paar Sätzen schon schweiften meine Gedanken weg vom Text, ich konnte das Gelesene gar nicht verarbeiten. Ich hatte mich aber schnell wieder umgewöhnt und die Freiheit der Kindergartenstunden schätzen gelernt. Ein paar Tage alleine in Prag zu sein, hatte zunächst einen ähnlichen Effekt. Kein Windelwechseln, kein Füttern, keine langen Zubettgehprozeduren und vor allem: keine Nachtschicht. Fünf Tage und Nächte kamen mir vor wie eine Ewigkeit. Doch dann über­ raschte es mich, wie schnell ich mich auch hier wieder daran gewöhnte. Ich schlief tief und fest, weil ich wusste, dass ich nicht

206 mit einem halben Ohr darauf hören musste, ob John aufstand. Das tat er oft und man konnte ihn dabei wegen der mangelnden Gefahreneinschätzung nicht alleine lassen. Tatsächlich hatte ich in Prag auch sehr viel Arbeit, empfand diese aber überhaupt nicht als anstrengend. Ich merkte, dass der Stresslevel in der Pflege Zuhause wirklich ziemlich hoch sein musste. Dagegen war die Arbeit ein Kinderspiel, selbst wenn ich viel zu tun hatte. So schnell und leicht ich mich in Prag an die Unabhängigkeit und Freiheit gewöhnt hatte, so schwer fiel es mir Zuhause, mich wieder an die Pflegesituation anzupassen. Der Schlafmangel setzte mir viel mehr zu, als das vor meiner Reise der Fall gewesen war. Auch Johns Dominieren meiner Zeit und Energie erschöpfte mich mehr als vorher. Es dauerte über eine Woche, mich wieder Zuhause einzuleben. Offensichtlich war die Pflegesituation etwas, an das man sich sehr gewöhnte. Irgendwann bemerkte man die Belastung nicht mehr. Eine Pause bedeutete, dass die Rückkehr umso schwieriger war. Ich merkte auch, dass ich in den kurzen fünf Tagen der Ab­ wesenheit schon die Herausforderungen idealisiert hatte. Ich war mit einem vagen Gefühl nach Berlin zurückgekommen, dass das alles in Wirklichkeit ja auch gar nicht so anstrengend war. Merk­ würdig, wie der Geist funktioniert. Nach so vielen Jahren der Erfah­ rung reichten ein paar Tage aus, um eine realistische Einschätzung deutlich zu trüben. John hatte meine Abwesenheit einigermaßen gut toleriert. Seine Lehrer sagten, er habe manchmal ein bisschen desorientiert gewirkt.

207 Er hatte auch einmal in der Schule geweint, ansonsten schien soweit alles in Ordnung. Die Busfahrerin sagte, es sei mit jedem Tag meiner Abwesenheit ein bisschen schwieriger geworden mit John. Scott hatte Zuhause keine Probleme gehabt. Wir hatten eine Bild­ kartenleiste für John vorbereitet, in der fünf Tage lang kein Foto von mir zu sehen war und am sechsten Tag war ich wieder mit dabei. Jeden Tag hatte Scott mit John die Leiste »abgearbeitet« und mein Foto am Ende gezeigt. Wir waren uns hierbei allerdings, wie auch beim verbalen Verständnis, nicht sicher, wie viel John davon tatsächlich verstand. Als ich zurückkehrte, schenkte John mir zuerst überhaupt keine Aufmerksamkeit, kam aber später am Abend mit einem breiten Grinsen auf mich zu und wollte kuscheln.

Prag war für mich nicht nur eine eindrucksvolle Erfahrung, weil ich erstmals wieder alleine unterwegs gewesen war, sondern ich hatte auch eine beeindruckende Stadt erlebt. Mit der Reisegruppe und den lokalen Stadtführern hatten wir die Prager Burg, die Karlsbrücke, den Altstädter Ring, den Wenzelsplatz und das jüdische Viertel gesehen. Wir hatten das Prager Gemeindehaus besichtigt und eine Führung durch das Mucha-Museum mitgemacht. In meiner Freizeit hatte ich das Franz-Kafka-Museum besucht. Ich wollte die Stadt unbedingt Scott und John zeigen. Wir fanden ein Hotel für die Pfingstferien, etwas außerhalb gelegen in einem Plattenbau. Das Familienzimmer bestand aus zwei Zimmern mit einer Verbindungstür, so dass wir John abends gut schlafen legen und selbst noch wach bleiben konnten. Direkt vor dem Hotel verkehrte ein Bus in die Stadt.

208 Bei unserer Ankunft setzten wir John wie immer erst einmal in die Badewanne. Durch das Feiertagswochenende war die Stadt voller Touristen, deshalb spazierten wir am Abend lieber erst einmal jenseits der Hauptsehenswürdigkeiten durch die Nebenstraßen. Wir würden am nächsten Morgen früh aufstehen müssen, um die größten Menschenmengen zu meiden. Der Frühstücksraum öffnete um sechs Uhr. John machte laute, gutturale Geräusche, während er sich das Buffet ansah. Die Mit­ arbeiter und die wenigen anderen Gäste, die schon so früh da waren, lächelten uns freundlich an. John war mittlerweile so groß geworden, dass man ihm seine Behinderung unmittelbar ansah. Die Menschen hielten ihn nicht mehr einfach nur für ein schlecht erzogenes Kind. Sie begegneten uns zunehmend mit mehr Ver­ ständnis und Mitgefühl. In mancherlei Hinsicht wurde es für uns in der Öffentlichkeit leichter, je größer John wurde. Offensichtliche körperliche Hinweise halfen anscheinend erheblich beim Verständnis, dass man es hier mit einer Behinderung zu tun hatte. Dies war uns auch schon bei einem IKEA-Besuch auf­ gefallen. Wir hatten Johns Behindertenausweis genutzt, um einen Rollstuhl auszuleihen. Wie im Auto oder Bus mochte John es auch, im Rolli herumgefahren zu werden. Er sah sich freudig im Geschäft um und wir konnten mit mehr Ruhe die Möbel ansehen, als wenn wir gleichzeitig noch Johns Bewegungen managen müssten. Wir hatten nicht geahnt, dass es aber auch im Umgang mit den anderen Kunden einen Unterschied machen würde. Im Restaurant wollte uns eine Frau an der Kasse vorlassen. »Nein danke, alles okay, kein

209 Problem«, sagten wir, denn John war guter Laune und wir deshalb auch nicht in Eile. »Kommt gar nicht in Frage, ich bestehe darauf. Sie gehen vor!«, antwortete die Frau und reihte sich hinter uns ein. Wir waren erstaunt. John hatte im Supermarkt schon häufig wirkliche Probleme mit dem Warten an der Kasse gehabt, doch dort ließ uns fast nie jemand vor. Der Rollstuhl machte einen Riesen­ unterschied. Im ganzen Geschäft hatten uns andere Kunden Platz gemacht und anteilnehmend zugelächelt. Es war nicht nur eine einzelne Begebenheit, sondern eine durchweg andere Akzeptanz. Im Frühstücksraum in Prag merkten wir, dass wir mittlerweile nicht einmal mehr den auffälligen Marker Rollstuhl brauchten, um von der Umwelt diese Art von Verständnis zu bekommen.

Als Erstes fuhren wir zur Karlsbrücke, über die wir so früh am Morgen noch problemlos spazieren konnten. Die Morgenluft war noch feucht und die Stadt erwachte gerade erst. Wir spazierten hin­ auf zur Burg und erkundeten das weitläufige Gelände mit dem Veitsdom und dem Ludwigsflügel, wo der Prager Fenstersturz statt­ gefunden hatte. Von der Terrasse aus genossen wir den Blick auf die goldene Stadt der hundert Türme. John schien das Panorama sehr zu gefallen und uns fiel keine Höhenangst mehr auf, wie wir sie am Kap Formentor auf Mallorca und an den Klippen von Moher in Irland bemerkt hatten. Als die ersten Touristenströme kamen, verließen wir die Burg und fuhren über die Moldau zurück ins jüdische Viertel. Ich wollte Scott den ersten Stock in der Pinkas-Synagoge zeigen, wo

210 Kinderzeichnungen aus Theresienstadt ausgestellt waren. Leider war die Synagoge schon voll von Touristengruppen, die sich ungeduldig durch das Gebäude schoben. John fühlte sofort den Stress und be­ gann, sich in die Hand zu beißen. Schnell verließen wir das Gelände, bevor es zu einem Zusammenbruch käme. Mit der Straßenbahn überquerten wir erneut die Moldau, zur Prager Kleinseite und zum malerischen Viertel Nový Svět. Dort fanden wir einen Spielplatz, auf dem John sich eine ganze Stunde beschäftigte, bevor er zur Bank zurückkehrte, auf der wir saßen – sein Zeichen, dass wir nun weitergehen könnten. So gingen wir weiter spazieren, sahen uns noch das Prager Loreto an und aßen in der traditionellen Kneipe »Pivnice U černého vola«, Zum Schwarzen Ochsen, zu Abend. Wir hatten einen ganzen Tag zu Fuß und mit öffentlichen Verkehrsmitteln in der Stadt verbracht, von morgens halb sieben bis abends halb sieben. Überall hatten wir problemlos Orte zum Windelnwechseln gefunden. Das Treibenlassen konnten wir also nun auch in der Stadt praktizieren. In Paris war das noch schwierig gewesen, aber mittlerweile hatten sich Johns Interessen verändert. Wir vermuteten, dass dies nicht unerheblich mit dem Thema Essen zu tun hatte, seinem Hauptinteresse momentan. John bekam in der Zwischenzeit gegen die Aggressionen ein Medikament, das als Nebenwirkung leider extrem appetitanregend wirkte. In der Stadt gab es überall Möglich­ keiten in Form von Ständen, Geschäften und Eisläden. Natürlich bekam John auch über den Tag verteilt hier und da etwas.

211 Auf dem Rückweg nach Berlin hielten wir in Theresienstadt. Drei Jahre zuvor hatten wir auf dem Rückweg von Südtirol in Nürnberg zwischenübernachtet. Dort hatten wir uns nach einem Spaziergang durch die Altstadt auch das Reichsparteitagsgelände angesehen. Unter anderem wurde dort gerade eine Ausstellung über das so genannte Euthanasieprogramm im Nationalsozialismus gezeigt. Wir hatten schon manches Mal daran gedacht, dass John in Deutschland nicht überlebt hätte, wenn er in den 1920er oder 1930er Jahren geboren worden wäre. Die Euthanasie-Ausstellung in Nürnberg, in Verbindung mit dem so deutlich von Wahnsinn ge­ prägten Reichsparteitagsgelände, hatte diesen Gedanken eine dringlichere Realität verliehen. Die Wirklichkeit eines Ortes zu spüren, das war auch dort etwas anderes als nur das Wissen darüber. So, wie wir es auch schon am Omaha Beach in der Normandie gespürt hatten. Es war eine Sache, über Geschichte zu lesen, aber selbst an den Orten zu sein, gab dem Wissen eine neue Dimension. Das so genannte Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten stand dabei aber durchaus in einem größeren Kontext. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert war die Rassenbiologie international sowie im gesamten politischen Spektrum populär. Der Politiker Karl Kautsky etwa propagierte 1910 eine »sozialistische Eugenik«. In den USA war der Eugeniker und Biologe Harry Laughlin treibende Kraft beim Erlass von Gesetzen zur eugenischen Sterilisierung. Zwischen 1907 und 1914 hatten 12 Bundesstaaten solche Gesetze erlassen, die zunächst wegen legaler und bürokratischer Hürden nicht konsequent angewendet wurden. Laughlin beförderte die

212 Umsetzung, indem er dafür ein Modell entwarf. In Deutschland trat das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses im Jahr 1933 in Kraft, ausdrücklich dem Modell von Laughlin nachempfunden. Die Universität Heidelberg zeichnete Laughlin für seine Arbeit 1936 mit einem Ehrentitel aus. Die meisten Fakten über das so genannte Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten sind bekannt. Die T4-Aktion wurde nach der Adresse des Gebäudes benannt, in dem das Programm koordiniert wurde – in der Tiergartenstraße 4 in Berlin. Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen wurden in Gas­ kammern ermordet, als Blaupause für die spätere Ermordung der Juden. Bis zum Jahr 1941 starben 70.000 Menschen mit Behin­ derungen und psychischen Erkrankungen. Die so genannte Hartheim-Statistik, benannt nach einer der Vernichtungsstätten, gab bekannt, dass 141 Mio. Reichsmark an Pflegekosten gespart worden seien. Die Kirchen protestierten öffentlichkeitswirksam gegen das Pro­ gramm und so wurde die T4-Aktion 1941 offiziell abgebrochen, inoffiziell aber weiter betrieben. Einige Gaskammern in den Kliniken wurden zwar noch benutzt, aber die meisten Tötungen er­ folgten danach durch subtilere Methoden wie Verhungernlassen, Medikamentenentzug oder Überdosierungen. Insgesamt wurden im Rahmen des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms etwa 300.000 Menschen ermordet, unter ihnen etwa 5.000 Kinder. In Berlin hatten wir das Medizinhistorische Museum der Charité besucht, in dem es auch eine Abteilung zu den Theorien der Rassenhygiene und der Euthanasiepraxis gab. Im Norden Berlins

213 stießen wir in der Ausstellung totgeschwiegen in den früheren Wittenauer Heilstätten auf das Foto eines getöteten Jungen, der sehr viel Ähnlichkeit mit John hatte. In seiner Akte war vermerkt, dass er geistig schwer behindert gewesen sei. Die Beschreibungen seines Verhaltens lasen sich wie ein typischer Frühkindlicher Autismus. Als ich mehr nach dem Jungen forschte, erfuhr ich, dass er mit seiner Familie in der Möckernstraße in Kreuzberg gelebt hatte, ganz bei uns in der Nähe. Kinder wie John und Eltern wie wir hatten genau hier vor nicht allzu langer Zeit in einer Situation gelebt und waren gestorben, wie wir es uns kaum noch vorstellen konnten. Es war unmöglich, diesen Gedanken einfach zu ignorieren. Um mit dem Schrecken umzugehen, den wir fühlten, besuchten wir immer mehr Orte, an denen dieser Schrecken stattgefunden hatte. Vergessen und ver­ drängen waren keine Option. Man musste dem Horror ins Auge blicken, um ihn vielleicht begreifen und verarbeiten zu können. So war es für uns ganz klar, dass wir auf dem Rückweg von Prag nicht ohne Besuch an Theresienstadt vorbeifahren würden. Als wir das Gelände betraten, musste ich an die Kinderzeichnungen denken, die ich in der Pinkas-Synagoge gesehen hatte. Hier hatten diese Kin­ der gelebt. Wir verbrachten fast zwei Stunden auf dem Gelände und trafen in der ganzen Zeit nur drei Menschen. Die Leere fühlte sich unwirklich an, sie machte die Erfahrung des schrecklichen Ortes umso bedrückender.

Die Situation heute lässt sich selbstverständlich nicht mit den Gräueltaten des Nationalsozialismus vergleichen. Das Thema

214 Euthanasie und die ethischen Fragen dazu aber beschäftigen die Gesellschaft weiter. Mit am verstörendsten für mich waren die Tötungsdelikte be­ hinderter Kinder durch die eigenen Eltern, oft von Müttern begangen. Für Aufsehen hat zum Beispiel Dorothy Spourdalakis gesorgt, die 2013 ihren vierzehnjährigen autistischen Sohn tötete. Sie wurde im Dezember 2016 bereits wieder aus der Haft entlassen. In den letzten Jahren gab es in den USA wenigstens drei bis vier solcher Delikte pro Jahr. Im Internet wird eine entsprechende Liste geführt, auf der man die Fälle nachlesen kann. Es ist auffällig, wie häufig die Mütter, die ihre Kinder töteten, vorher Anhängerinnen von alternativen Heilmethoden waren. Wenn wir uns auf Heilung fokussieren und zu diesem Zweck auch das Experimentieren ermutigen, behindert dies offenbar nicht nur den Prozess der Akzeptanz und nährt falsche Hoffnungen, sondern es schafft auch eine große Fallhöhe. In dem Moment, in dem das Bewusstsein dafür reifte, dass es wahrscheinlich keine Verbesserung geben wird, erschien einigen Müttern wie Dorothy Spourdalakis die Situation dann als ausweglos. Sie hatten nicht gelernt, mit ihren Kin­ dern so zu leben, wie sie sind. Sie hatten nicht gelernt, sich für den Alltag genügend Unterstützung zu organisieren. Nicht, dass das eine Erklärung oder gar Rechtfertigung sein könnte, aber ein Mechanismus ist erkennbar, der eine weitere Dimension der Gefahr alternativer Interventionen offenbart.

Die niederländische Regierung begann 1990, an einem Gesetz zum medizinisch assistierten Suizid zu arbeiten. Der dafür eingesetzte

215 Ausschuss wurde von Prof. Jan Remmelink geleitet und die ersten Arbeitsergebnisse wurden 1991 entsprechend im so genannten Remmelink-Report veröffentlicht. Das Gesetz wurde 1994 auf den Weg gebracht. Seitdem wird die Entwicklung medizinisch assistier­ ter Suizide wissenschaftlich begleitet. Zentrale Untersuchungsergebnisse wurden 2011 in der medizinischen Zeitschrift Lancet veröffentlicht. Demnach blieb die Zahl der medizinisch assistierten Suizide über die Jahre hinweg recht stabil. In der Methodik des assistierten Suizids ließen sich aber Veränderungen erkennen. Während zu Beginn mehr tödliche Spritzen verabreicht wurden, nahmen im Laufe der Zeit die terminalen Sedierungen zu. Dabei werden beruhigende Medikamente gegeben, in Zusammenhang mit dem Zurückhalten von Flüssigkeit und Nahrung, bis zum Tod durch Dehydrierung. Die Nutzung dieser Methode ist seit 2005 um 50% gestiegen. Dabei blieb aber die Anzahl der medizinisch assistierten Suizide stabil bei etwa 4.000 pro Jahr. Das Thema Euthanasie betrifft im Rahmen der medizinisch assistierten Suizide etwa 1.000 Fälle, also ein Viertel der Gesamt­ zahl, bei denen ohne Einverständnis der Patienten gehandelt wurde. In den meisten dieser Fälle handelt es sich um Demenzerkrankte, psychiatrische Patienten und Menschen mit Behinderung. 41% wurden auf Wunsch eines Angehörigen getötet. 14% der Patienten waren bei vollem Bewusstsein und sogar in der Lage zu kommunizieren. 11% wären in der Lage gewesen, selbst eine Ent­ scheidung zu treffen, wurden aber nicht gefragt. In 32% der Fälle

216 hatten die Angehörigen als Begründung ihrer Entscheidung angegeben, dass die Pflegesituation sie überfordere. In den Jahren 1997-2004 tötete der Arzt Eduard Verhagen in Groningen 22 Kinder im Alter von null bis zwölf Jahren, mit Ein­ verständnis ihrer Eltern. Diese Zahl hat der Arzt selbst publiziert. Als Gründe nannte er in seinem Bericht: die Lebensqualität der Kin­ der sei gering gewesen, sie hätten niemals eigenständig leben können, die meisten waren nicht in der Lage, hinreichend zu kommunizieren und einige hatten viel Zeit in Krankenhäusern ver­ bracht, ohne dabei eine reduzierte Lebenserwartung zu haben. Verhagens Evaluation führte 2004 zum so genannten Groningen- Protokoll, in dem die Euthanasie von Kindern zwischen null und zwölf Jahren geregelt und legalisiert wurde. Verhagens Liste der Gründe für die Euthanasie traf auch auf John zu. Jeder einzelne Punkt. Alleine der Gedanke machte mich schwindelig. Wer bestimmt darüber, wie groß oder klein Lebensqualität ist?

In Deutschland können Schwangerschaften beim Vorliegen einer schweren Behinderung des Kindes beendet werden, wenn das psychische Wohlergehen der Mutter gefährdet ist. Wird die Behin­ derung erst so spät festgestellt, dass das Kind schon außerhalb des Mutterleibes überlebensfähig wäre, wird vor der Einleitung der Wehen eine lange Nadel mit tödlichem Kalium-Chlorid durch die Bauchdecke der Mutter in die Fruchthöhle und in das Herz des Kindes gestochen.

217 Autismus ist von Spätabtreibungen nur deshalb nicht betroffen, weil er vorgeburtlich (noch) nicht diagnostizierbar ist. Heute werden etwa 90% der Schwangerschaften mit einem Kind mit Down- Syndrom nicht mehr ausgetragen. Und das bei Kindern, denen man ein gutmütiges Naturell nachsagt. Wenn sich so viele Eltern gegen diese Kinder entscheiden, trotz des vergleichsweise guten Images in der Öffentlichkeit, konnte man sich leicht vorstellen, wie das Ganze im Fall von Autismus ausginge, wenn die Eltern von Fremd-, Sach- und Autoaggressionen hörten.

Euthanasie und Tötungsdelikte lassen vergleichsweise wenig Zweifel an ihrem Unrecht aufkommen, Spätabtreibungen beunruhigen auf subtilere Weise. Wir denken, frei zu sein in unseren Entschei­ dungen, doch möglicherweise spüren wir diese Freiheit nur genau so lange, wie wir die Entscheidungen treffen, die unsere Gesellschaft vordefiniert hat. Im Band Das Leben lebt nicht heißt es dazu: »Die inhaltsleere Selbstbestimmung will nichts anderes, als der gesell­ schaftliche Trend auch: ein bis zwei gesunde, qualitativ hochwertige Kinder, die die leeren Renten- und Krankenkassen füllen und flexibel genug sind, die Jobs der New Economy machen zu können.« Andererseits bin ich mir sicher, dass Eltern sich Entscheidungen nie leicht machen, wie auch immer sie am Ende ausfallen. Durch die Komplexität der Fragestellungen wie auch durch persönliche Er­ fahrungen können sich Meinungen zudem über die Jahre verändern. Es ist bekannt, wie dies bei Walter Jens geschehen ist. Der Rhetorik- Professor, der öffentlich den medizinisch assistierten Suizid

218 unterstützte, entschied sich selbst am Ende seines Lebens dagegen. Er hatte schon viel an Erinnerung und Sprache verloren, aber wiederholt bat er seine Frau: »Nicht töten, nicht töten.« Inge Jens und der gemeinsame Sohn Tilman entschieden sich daraufhin, seine Patientenverfügung nicht auszuführen. Inge Jens beschrieb in einem Interview, wie Walter Jens von einem intellektuellen zu einem biologischen Leben übergegangen war, in dem sie aber immer noch Momente wahrnahm, in denen er sich deutlich am Leben freute: »Er spürt, da bin ich mir ganz sicher, die Achtung und den Respekt, den man ihm entgegenbringt. Er freut sich heute über Dinge, die er früher als primitiv, nicht zu seiner Welt gehörig abgetan hätte. Er weint manchmal. Aber Trauer gehört zum Leben, es ist eine menschliche Äußerung. Er ist nicht so un­ glücklich, so voller Schmerzen, dass man ihm zum Sterben verhelfen sollte. Nein, ich habe gelernt, dass ich gewisse Dinge anheimstellen muss.«

Ich fragte mich allerdings auch, wie weit meine eigene Akzeptanz ging. Wenn es eine Tablette gäbe, die John jeden Morgen einnähme und die den Autismus komplett verschwinden ließe, würde ich sie John geben? Ja, das würde ich. Die Antwort war für mich einfach und klar. Nur zu gut kannte ich Johns Frustrationen, Kämpfe und Herausforderungen. Auch wenn die Wissenschaft noch nicht erklären konnte, was in Johns Körper vor sich ging, so war doch klar, dass er mit einer Reihe von Fehlfunktionen des Körpers wie des Geistes zurechtkommen musste. Könnte eine Tablette diese Fehlfunktionen ausgleichen, ich wäre dankbar gewesen.

219 Natürlich war es nicht wahrscheinlich, dass die Wissenschaft in dieser oder auch der nächsten Generation ein solches Medikament entwickeln würde. Die Frage war rein hypothetisch. Darüber nach­ zudenken verdeutlichte mir aber, dass es in diesen Fragen weder leichte noch »richtige« Antworten geben konnte. Klar ist: Steuergelder, die für wissenschaftliche Forschung ausgegeben werden, können biopolitisch profitabel werden, indem sie einer Gesellschaft dienen, in der weniger Kinder mit Behinderungen geboren werden, und in der dadurch pflegerische und medizinische Kosten gespart werden. Der Wissenschaft und dem technologischen Fortschritt ist dieser Dualismus natürlich immer inhärent. Sie können helfen, aber sie sind unweigerlich auch Teil komplexer Machtdynamiken. Wie dies schon der Philosoph Michael Foucault beobachtet hatte: »Die Macht ist nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert; die Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht.« Der Fortschritt in der Wissenschaft treibt die ethischen Fragen vor sich her. Entscheidungen werden zunehmend schwerer, denn je mehr wir tun können, umso mehr müssen wir uns fragen, ob wir es auch tun möchten. Auch der Philosoph Giorgio Agamben hat sich mit dieser Dialektik befasst. Wir machen uns so viele Sorgen über das Leben, dass diese Sorgen absolut werden und mit der Eugenik verschmelzen. Autisten, Eltern, Therapeuten, Pflegekräfte, Ärzte, Forscher und Politiker: sie alle sind in die komplexen Machtdynamiken

220 eingebunden. Mit jedem wissenschaftlichen Fortschritt müssen alle Beteiligten in diesem ungleichen und beweglichen Beziehungs­ geflecht ihre Argumente neu vorbringen und verteidigen. Umso wichtiger erscheint in diesem Kontext das Engagement der Selbsthilfe von Autisten, auch in der emanzipatorischen Bewegung für Neurodiversität. Selbst wenn Angehörige, Therapeuten und andere Beteiligte ihnen vielleicht nicht immer zustimmen, so ist es doch unverzichtbar, genau zuzuhören und von den Betroffenen direkt zu lernen. Für den Schutz des Lebens dürften sie der stärkste Partner sein.

Die Ambiguität der ethischen Fragen ließ mich immer etwas unzufrieden zurück. Ich liebte John, bedingungslos. Ich könnte niemals Bedingungen für ein lebenswertes Leben definieren. Aber ich musste ja auch keine allgemeingültigen Antworten finden. Manchmal reichte es auch anzuerkennen, dass es kein richtig und falsch gibt. Man kann es selbst zumindest nicht zuweisen. Für uns war die Hauptsache, mit John in Freiheit und unbedrängt leben zu können. Eine Mutter aus Johns Kindergartengruppe hatte sich einmal mit dem sperrigen Reha-Buggy in der Straßenbahn verhakt und damit den Verkehr aufgehalten. Ein Mann hatte ihr zugerufen: »Wissen Sie, solche Kinder müssen Sie heute doch gar nicht mehr bekommen!« Glücklicherweise leben wir in einer Zeit, in der sie ihm einfach antworten konnte: »Tja, für so eine Diktatur sind Sie ja mal locker über 70 Jahre zu spät dran.«

221 12. Texel – Freundschaft

»Wenn du mich nicht sogleich verstehst, bleibe dennoch guten Mutes. Findest du mich nicht an einer Stelle, so suche mich an einer andern. Irgendwo halte ich mich auf und warte auf dich.« (Walt Whitman)

Nachdem das Arbeiten in Prag gut funktioniert hatte, nahm ich im Sommer einen Auftrag für zehn Tage in der Schweiz an. In Meiringen stand ich eines Abends draußen vor dem Hotel, telefo­ nierte mit Scott und hörte John im Hintergrund lautieren. Der Kontrast zwischen dem tumultigen Leben am Telefon und der erhabenen Stille der alpinen Landschaft, auf die ich dabei blickte, lag fast greifbar in der Luft. Gerade als ich das Telefonat beendete, sah ich aber auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Teenager mit einer Behinderung. Er wurde von einem Erwachsenen begleitet, der ihn an der Hand hielt. Vom Verhalten des Jungen nahm ich an, dass er wahrscheinlich ein Autist war. Ich konnte sehen, wie er unruhiger wurde und sich einem Zusammenbruch näherte. Und richtig, er fing laut an zu schreien und seine Arme flogen wild durch die Luft. Ich spürte, wie der Begleiter unter Stress stand, den Jungen vor dem Verkehr zu schützen, und ich fühlte mich sofort mittendrin in dem

222 Leben der beiden. Das war auch mein Leben. Mir fiel auf, wie sehr ich mich mittlerweile damit identifizierte. John kam mit meiner Abwesenheit gut zurecht, obwohl ich dieses Mal doppelt so lange weg war. Vielleicht gewöhnte er sich daran, dass ich ein paar Tage unterwegs sein könnte und verstand besser, dass ich dann auch wieder zurückkäme. Scott hatte Zuhause keine Probleme, fast im Gegenteil. John war sehr gut darin, seine Mitmenschen so zu manipulieren, dass er bekam, was er wollte. Ich reagierte darauf eher als Scott, der ihm weniger durchgehen ließ. Das wusste John durchaus und versuchte es darum meistens erst gar nicht. Anscheinend gab es in meiner Abwesenheit sogar weniger Konfrontationen.

Vor unserem Sommerurlaub mussten wir noch einen Termin zur Überprüfung von Johns Pflegestufe durchstehen, was für alle Betei­ ligten immer mit viel Stress verbunden war. John musste dabei sein und weil man während so einer Überprüfung natürlich vor allem darüber redet, was die zu pflegende Person alles nicht kann, waren diese Termine sehr negativ besetzt. Ich war mir nicht sicher, wie viel John davon verstand. Wenn ich mir aber vorstellte, es würde so aus­ giebig defizitorientiert über mich geredet, und ich müsste es auch noch die ganze Zeit mit anhören, und ich könnte auch noch selbst nichts dazu beitragen: was für eine Horrorvorstellung. Ich fühlte mich aber nicht nur für John schlecht. Auch für mich selbst waren diese Termine unangenehm. Alle zwei Jahre kam je­ mand anderes und man fing jedes Mal wieder von vorne an, bei den Komplikationen der Schwangerschaft, musste über die

223 Schwierigkeiten bei der Geburt berichten, über die Klinikaufenthalte und so weiter. Volle Kooperation wurde vorausgesetzt, auch in persönlichen, finanziellen und emotionalen Fragen. Ein schmerz­ hafter Prozess. In einem Bericht des Medizinischen Dienstes schrieb ein Arzt einmal: »Die Familie lebt in einer kleinen Dreizimmerwohnung.« Es hatte sich im Kontext sehr herablassend angehört und mich geärgert. Vielleicht wohnte der Arzt in einem Einfamilienhaus irgendwo in einem Berliner Vorort und empfand unsere Wohnung deshalb als klein. Ich wusste nichts über seine Perspektive, denn die Offenbarung funktionierte bei solchen Terminen selbstverständlich nur als Einbahnstraße. Aber ich hielt die unterschwellige Wertung in jedem Fall für unnötig. Wir lebten gerne mitten in der Stadt, wir mochten unsere Wohnung und wir brauchten nicht mehr Platz. Warum spielte die Größe unserer Wohnung überhaupt eine Rolle in der Beurteilung von Johns Pflegebedürftigkeit? Eine Kleinigkeit, aber an vielen Kleinigkeiten manifestierte sich, dass wir permanent beurteilt wurden. Wie viele Berichte ich mit den Jahren angesammelt hatte: von Lehrern, Einzelfallhelfern, Ärzten, Medizinischem Dienst, Therapeuten. In ihnen allen wurde nicht nur über John geschrieben, sondern auch über uns als Eltern. Wir wur­ den zwar gelobt, aber dennoch fühlte es sich oft wie eine Grenz­ überschreitung an. Unsere Einzelfallhilfe organisierten wir über die Lebenshilfe, eine Trägerorganisation, die für Menschen mit Behinderung in Berlin die Eingliederungshilfe verwaltete. Als wir einmal einen neuen Einzelfallhelfer bekommen hatten, bat uns die zuständige

224 Sachbearbeiterin, dass wir uns mit dem Helfer siezen sollten. Dies diene der professionellen Distanz zwischen Helfer und Familie, hieß es. Wir sahen das anders. Der Einzelfallhelfer bekam einen Schlüssel zu unserer Wohnung, weil er John manchmal nachmittags am Schulbus in Empfang nahm oder auch mit ihm ein- und ausging. Durch den Schlüssel war er mit John unabhängig. In den Stunden, die der Einzelfallhelfer mit John verbrachte, war er für ihn verant­ wortlich und wir vertrauten ihm das Leben unseres Kindes an. Wir suchten die Einzelfallhelfer gewissenhaft aus und sie wurden zu Freunden in unserem Haus. So, wie wir es sahen, wäre es lächerlich, sich plötzlich mit einem Einzelfallhelfer zu siezen. Es hatte einige Diskussionen gegeben und am Ende wurde uns erlaubt, uns mit dem neuen Einzelfallhelfer zu duzen. Was für eine absurde Situation. Schrieb man Eltern von nichtbehinderten Kindern jemals vor, mit wem sie sich siezen oder duzen sollten? Ich musste an all die Formulare denken, die wir unterzeichnet hatten, die vierteljährlichen Pflegeüberprüfungen, die jährlichen Ter­ mine zur Weiterbewilligung der Eingliederungshilfe. Wohin wir kamen, gab es Unterlagen und Akten über uns, die mit den Jahren immer dicker wurden. Und da manchmal Dinge falsch aufge­ schrieben wurden (am Anfang hatte ich mir noch die Mühe gemacht, sie zu korrigieren, dieses aber irgendwann aufgegeben), existierten auch unterschiedlichste Versionen über Johns Krankheitsgeschichte. Wenn ich frustriert war, stellte ich mir vor, wir würden all diese Akten sammeln, und unsere eigenen Ordner und Notizen

225 obendrauf werfen, und dann das Konglomerat an letztlich kläglichen Versuchen, Johns Disposition besser zu verstehen, in einem großen Lagerfeuer verbrennen. Das Feuer würde John auf jeden Fall mögen.

Nachdem wir im Vorjahr mit der Reise nach Spanien an eine Grenze gestoßen waren, wollten wir in diesem Jahr nicht so weit in den Urlaub fahren. Wir hatten viel Gutes über die niederländische Insel Texel gehört. Meine Eltern wohnten auf halbem Weg dorthin und wir konnten bei ihnen zwischenübernachten. John kannte seine Großeltern, ihr Haus und ihren Garten gut, und er war gerne dort. Nach Texel waren es von dort dann nur noch vier Stunden. Von Norddeutschland fuhren wir Richtung Niederlande und über den kilometerlangen Deich, der das Ijsselmeer von der Nord­ see trennt. Mitten auf dem Deich entdeckten wir eine Parkbucht und hielten an. John stieg neugierig aus und öffnete augenblicklich seine Arme wie Flügel. Sichtlich genoss er diesen Ort, im starken Wind oben auf dem Deich stehend, Wasser zu beiden Seiten. Wir hatten ein Ferienhaus in De Koog gemietet. Im Garten saßen Möwen auf dem Rasen und weil wir von der Reise noch trockene Brötchen hatten, ging Scott mit John nach draußen und warf den Möwen ein paar Krümel zu. Sofort kamen mehr Möwen angeflogen. John sah sich immer gerne Vögel an, besonders wenn sie in Formationen am Himmel flogen. Nun waren sie so nah. John freute sich. Ich saß drinnen und las das Handbuch des Ferienhauses. Gerade als ich den glücklichen John mit den Möwen vor dem

226 Fenster beobachtete, stieß ich auf den Absatz: »Bitte nicht die Vögel füttern.«

Texel als größte der niederländischen Nordseeinseln unterschied sich zwar vom kleinen Hiddensee in der Ostsee, aber bei uns stellte sich schnell ein ähnliches Gefühl ein, wie wir es auf Hiddensee er­ lebt hatten. Die Insel schien das Leben zu verlangsamen. Es gab nicht viel zu tun. Wir gingen im verschlafenen Dorf De Waal spazieren und sahen uns dort die kleine alte Kirche an. Im Künstler­ dorf Den Hoorn wurde gerade ein Kunstprojekt namens Klifhanger gezeigt. Kleine gehäkelte Mützen, so genannte Bloiende Bollen, waren im ganzen Dorf auf alle Zaunpfosten gesetzt worden. An der Ostküste liefen wir auf einen mit Gras bewachsenen Deich, auf dem Schafe weideten. Auf der anderen Seite fiel der Deich steil zum Wasser ab. Ein Angler stand bis zur Hüfte im Wasser, in seiner Nähe standen mehrere Eimer. Überall waren Quallen an Land gespült worden. John setzte sich hin und wollte das Meer lieber aus der Ferne beobachten. Ganz im Norden wollten wir zum Leuchtturm, doch John sah schon vom Parkplatz aus die vielen Menschen und wollte nicht mitgehen. Wir beschlossen, ihm nachzugeben und zum Ferienhaus zurückzufahren. Vielleicht brauchte er noch ein bisschen Eingewöhnungszeit. Den nächsten Morgen begannen wir früh auf dem Spielplatz der Ferienhaussiedlung. Die Sonne schien, es wurde langsam warm und John giggelte fröhlich auf der Schaukel. Seine Sprache war noch immer größtenteils echolalisch, aber sein Wortschatz hatte sich auf etwa 50 Wörter erweitert. In der Schule benutzten die Lehrer

227 laminierte Symbolkarten mit einem Erst-/Dann-System. Mit der »Erst«-Karte sollte John eine Aufgabe erledigen, die er als Arbeit wahrnahm, zum Beispiel den Müll hinauszubringen, mit der »Dann«-Karte konnte er danach etwas tun, das ihm gefiel, zum Beispiel Schaukeln. Unser Konditionierungsrebell hatte allerdings schnell seine eigene Erst-/Dann-Idee entwickelt und so saß er auf Texel in der Schaukel und rief: »Erst Eis essen, dann Schokolade!«

In der Nähe unseres Ferienhauses gab es zwei Fahrradverleihe. Leider führte keiner der beiden behindertengerechte Fahrräder, also wollten wir es mit einem normalen Tandem versuchen. Vor Jahren hatten wir Zuhause in Berlin von einer Familie aus der Elterngruppe ein behindertengerechtes Tandem bekommen, aus dem ihr Sohn herausgewachsen war. Auf dem Reha-Fahrrad hatte John vorne gesessen, so dass man seine Bewegungen von hinten immer im Blick hatte. Die Pedale vorne waren optional tretbar und das Lenkrad festgestellt. Im Grunde musste John nur stabil auf dem Rad sitzen. Es hatte aber eine Weile gedauert, bis er das Mitfahren gelernt hatte. Zuerst wollte er immer wieder während der Fahrt ab­ steigen. Auch bewegte er sich so stark nach links und rechts, dass es schwierig war, diese Bewegungen von hinten auszugleichen und das Rad in der Balance zu halten. Manchmal nahm John mitten in der Fahrt die Hände vom Lenker, um seine Arme in der Luft zu wedeln, wie er es gerne tat, wenn es ihm gut ging. Auf einem Spielplatz in Weißensee war er auf diese Weise einmal von einer Seilbahn gefallen und hatte sich den Arm gebrochen.

228 Das Radfahren auf dem speziellen Tandem hatte John mit der Zeit gelernt. Vor kurzem war er allerdings auch aus dem 24er- Rahmen vorne herausgewachsen und wir hatten das Rad an eine andere Familie mit einem kleineren autistischen Kind weiterge­ geben. Vielleicht könnte John mittlerweile sogar auf einem normalen Tandem mitfahren? Einen Versuch war es wert. Er würde hinten sitzen müssen, denn Steuern konnte er nicht. Also müsste immer jemand hinter dem Tandem fahren, um Johns Bewegungen im Blick zu behalten. Und John müsste lernen, die Füße verlässlich auf den Pedalen zu lassen, denn bei einem normalen Tandem drehten sich diese natürlich automatisch mit. Das Fahren war für uns anstrengend, weil wir Johns Bewegungen ausgleichen mussten. Wir kamen nur langsam voran, aber grundsätzlich klappte es. Am Strand war John wieder über­ haupt nicht daran interessiert, zum Wasser zu gehen. Was war nur los? Wir fuhren also stattdessen weiter den Strandweg entlang, kamen an einem Pferdehof vorbei und an grünen Wiesen. Überall trafen wir auf Schafe und sahen Vögel, und John beobachtete alles interessiert. Wir erreichten das Naturschutzgebiet De Slufter, eine weite und offene Salzmarsch zwischen den Dünenketten, in die das Meer­ wasser eindringen kann und die darum von Prielen durchzogen ist. John schien nicht von der Idee angetan, sich das Gebiet näher anzusehen. Er stieg aber vom Rad und kooperierte einigermaßen, bis er auf einer Düne das Ausmaß der weiten Natur vor sich sah. Da legte er sich in den Sand und rührte sich nicht mehr. Die Augen hatte er mit seinen Armen verdeckt. Wollte er schlafen? Oder war

229 ihm das Licht zu grell? John war ganz ruhig, doch sehr entschieden in seinem Verbleib auf der Düne. Er machte auch keine Anstalten, zurückgehen zu wollen. Also warteten wir. Früher, vor noch gar nicht langer Zeit, hätte John dieser Ort so gefallen. Das alles hier wäre genau sein Ding gewesen. Wir verstan­ den es nicht. John fing derweil an zu brummen und dieses Brummen wurde immer lauter. Er hielt die Hände vors Gesicht, be­ wegte die Finger schnell vor seinen Augen und beobachtete dabei intensiv und mit zusammengebissenen Zähnen die Fingerspitzen. »Gesten, deren Intensität und Frequenz ab- oder zunimmt, die aber an sich unverändert bleiben.« Deligny. Johns Ballett der Hände. Plötzlich kam ein kraftvolles Jaulen aus seinem Mund, John biss sich heftig in die Hand, brüllte noch lauter und begann, sich auf dem Boden zu rollen, was oben auf der Düne nicht gerade ideal war. Ein großer Zusammenbruch, nichts ging mehr. John war mit seinen elf Jahren natürlich längst so groß und schwer, dass man ihn nicht mehr tragen konnte. Wir konnten also nur warten und aufpassen, dass er nicht unkontrolliert die Düne hinunterrollte. Als John sich einigermaßen beruhigt hatte, traten wir den Rückweg zu den Fahrrädern an. Dort angekommen, war John schon wieder viel zufriedener. Was war das gewesen? Auf dem Rad fotografierte ich John, der ausgelassen lachte, und es wurde eines der besten Bilder, die wir in dem ganzen Jahr von ihm machten. 100% pure Freude im Gesicht. Noch heute, wenn ich das Foto ansehe, kann ich nicht begreifen, wie ausgerechnet diesem Bild ein so riesiger Zusammenbruch unmittelbar vorangegangen war. Man sieht keine Spur davon. Was dieses Bild nicht sagt, ist so

230 viel größer als das, was man erkennen kann. Ein Ungleichgewicht, das natürlich jedem Porträt innewohnt, aber wohl selten so sehr wie in diesem Fall. Damit fing dieses Bild perfekt die Disparität unseres Lebens ein, das so von Johns Vielfalt geprägt war. (Das Bild ist auf der Rückseite des Buches ganz rechts zu sehen. Das Bild vorne auf dem Buch zeigt einen typischen Balance-Kletterakt barfuß auf spitzem Stein in Irland.)

Für ein paar Tage besuchte uns meine Freundin Claudia auf Texel. Wir wollten ihr unsere Entdeckung De Slufter zeigen und dieses Mal war John kooperativ. Vielleicht auch gerade wegen Claudias An­ wesenheit. Wir verbrachten so viel Zeit alleine mit ihm, dass wir manchmal den Eindruck hatten, dass es John auch einfach zu lang­ weilig mit uns war. Mit Claudia lief John bereitwillig über die Dünen und durch die Salzmarsch bis ganz zum Wasser. Claudia stellte sich immer voll und ganz auf John ein, und John mochte sie sehr. Diese Art von Kontakt und Freundschaft war aller­ dings eine Ausnahme. Wann immer wir versucht hatten, mit anderen Familien gemeinsam etwas zu unternehmen, war dies sehr schwierig gewesen. Selbst einen gemeinsamen Spaziergang zu machen, klappte nicht. John rannte so unberechenbar vor und zurück, war manchmal enorm schnell und manchmal sehr langsam unterwegs, legte sich zwischendurch auf den Boden, so dass wir immer irgendwo anders waren als der Rest, entweder weit vorn oder weit hinten. Ich traf meine Freunde mittlerweile vor allem, wenn John in der Schule war, oder abends, wenn wir einen Babysitter hatten. Von

231 Anfang an hatte ich Isolation verhindern wollen, aber leider: Je älter John wurde, umso schwieriger war es, ein normales Sozialleben auf­ recht zu erhalten. Zum Glück hatten wir ein paar wirklich gute Freunde. John selbst mochte einige Kinder in der Schule gerne, aber wir hatten es nie geschafft, auch außerhalb seines Klassenzimmers Freunde für ihn zu finden. Hätte er Geschwister gehabt, wäre er vielleicht durch diese mit anderen Kindern in Kontakt gekommen. Als Einzelkind aber kamen keine zufälligen Kontakte zustande. Auf dem Spielplatz interagierten die anderen Kinder selten mit John. Die wenigen Situationen, in denen das vorkam, blieben mir nachhaltig in Erinnerung. Auf dem Spielplatz um die Ecke von unserer Wohnung zum Beispiel gab es eine Schaukel für mehrere Personen. John ging einmal darauf zu, zwei türkische Mädchen saßen schon darauf. Ich fragte sie, ob John sich dazusetzen dürfte. Oft sprangen die anderen Kinder dann von der Schaukel und über­ ließen sie lieber John alleine. Diese beiden Mädchen aber riefen: »Klar!«, und rückten sofort an die Seite, um in der Mitte Platz für ihn zu machen. Sie sorgten für den Schwung und John saß mit einem breiten, glücklichen Lächeln zwischen ihnen. Ich war traurig, dass so etwas selten vorkam, aber wie könnten wir es fördern? Ich konnte andere Kinder auf dem Spielplatz schließlich schlecht zu einem Kontakt mit John zwingen. Wir hatten einmal eine gemischte Sportgruppe ausprobiert. Beim Probetermin war es in der Turnhalle sehr laut und wuselig gewesen. Damit kam John überhaupt nicht zurecht. Er brauchte eine ruhige und sehr strukturierte Umgebung. Die Sportgruppe war nicht das

232 richtige für Johns Wahrnehmungswelt, das hatten wir schnell gemerkt.

Leider machten wir auch einige nachhaltig schlechte Erfahrungen. Im Supermarkt gegenüber von unserer Wohnung war John einmal sehr gut gelaunt durch die Gänge gegangen und hatte seine Finger gegen die Verpackungen geschnipst. Das tat er gerne, es war seine Kommunikation mit den Dingen. Eine Art, ihre Formen und Far­ ben anzuerkennen. Zwei kleine Mädchen, vielleicht sechs Jahre alt, beobachteten Johns Interaktion, kicherten zuerst und dann trat eines der Mädchen nah an John heran, sah ihm direkt in die Augen und sagte: »Du bist ja echt ekelhaft!« Ich wandte mich ihr sofort zu, während das andere Mädchen wegrannte. »Meine Freundin hat aber auch über ihn gelacht!«, versuchte sie sich dürftig zu rechtfertigen. »Das ist mir völlig egal«, sagte ich. »Ich stehe hier mit dir und du hast meinem Sohn etwas gesagt, was sich überhaupt nicht gehört. Auf dieser Welt gibt es viele unterschiedliche Menschen, und du solltest schon wissen, dass sie alle ein Recht haben, hier zu sein, genau wie du.« John schluchzte in großen Zügen. Ob er die Bemerkung des Mädchens verstanden hatte, oder meine Aufregung spürte, wahr­ scheinlich beides, in jedem Fall war er aufgewühlt, regelrecht verzweifelt. Ich stellte den Einkaufskorb einfach ab und verließ das Geschäft mit ihm.

233 Ich erinnere mich noch, wie sicher ich mich gefühlt hatte, als ich die Wohnungstür hinter uns schloss. Und wie irritiert ich darüber war. Wir waren in Berlin, warum sollte sich unsere Wohnung an­ fühlen wie ein sicherer Hafen? Ich war wütend und traurig. Selbst wenn wir gut für John sorgten, konnten Momente, in denen er glücklich war, im Handumdrehen von außen zerstört werden. Wie könnten wir John mit Gleichaltrigen in Kontakt bringen, die ihn akzeptierten, sich vielleicht sogar mit ihm anfreunden könnten? Diese Frage schien wichtiger zu werden. Als John jünger gewesen war, hatte er sich gerne alleine auf dem Spielplatz aufgehalten. In letzter Zeit aber bemerkten wir häufiger, dass er andere Kinder beobachtete. Einmal hatte er auf der Schaukel gesessen und sehr aufmerksam zugesehen, wie Kinder neben uns Fußball spielten. Es sah so aus, als versuchte John zu verstehen, was die Kinder da ma­ chen. So etwas wie Fußballspielen verstand er überhaupt nicht. Plötzlich rannen ihm Tränen über das Gesicht. Früher schien John sein Anderssein selbst nicht zu bemerken. Nun wurde es ihm wohl schmerzhaft bewusst. Er erfuhr die eigene Isolation. Dieses war schwer mitanzusehen und mitzuerleben. Wir boten ihm an, nach Hause zu gehen, aber John wollte nicht. Er hielt sich an der Schaukel fest, wollte auf keinen Fall loslassen, und beobachtete weiter die anderen Kinder. Es erinnerte mich daran, wie tapfer er immer gegenüber seiner Epilepsie gewesen war, wenn er nach Krampfanfällen diese kraftvolle Lebensfreude gezeigt hatte. An der Schaukel kamen auch mir die Tränen, sicher teils im Schmerz über meine Hilflosigkeit, aber auch, weil sein Mut und seine Tapferkeit so berührend waren. Er musste einen Weg finden,

234 mit sich und seinen Problemen in der Kommunikation zurechtzukommen. Er war anders und würde es immer sein. Er hatte ja Recht: Er musste sich dem stellen.

Auf Texel nutzte sich die Attraktion des Radfahrens leider binnen weniger Tage ab. Spazierengehen wollte John überhaupt nicht mehr, auch nicht ans Wasser. Am liebsten wollte er im Ferienhaus bleiben oder im Auto herumgefahren werden. Das einzige, was ihn noch wirklich zu interessieren schien, war Musik. Wir hatten gemerkt, dass er gerne zusah, wie Musiker spielten. So sahen wir uns Konzerte auf Youtube an, auf NPR die Tiny desk concerts, Bandmitschnitte bei KEXP Seattle und die französische TV5-Serie Acoustic. John, der sich sonst nicht lange auf eine Sache konzentrieren konnte, sah sich nun ganze Konzerte an. Besonders gefiel ihm die Konzerttour Old Friends von Simon & Garfunkel – und, was für uns etwas schwierig war, Helene Fischer. Auf Texel fuhren wir im Auto herum und hörten dabei The Decemberists, Bon Iver und Iron & Wine. Vielleicht war das alles im Alter von elf Jahren ja auch ganz normal: Nicht zu wissen, was man machen will, sich schnell zu langweilen, aber mit jeder vorge­ schlagenen Aktivität unzufrieden zu sein. Vielleicht war es einfach nur der Beginn der Pubertät? John veränderte sich auf jeden Fall und brauchte andere Dinge. Nur mussten wir herausfinden, was das sein könnte.

235 13. Berlin – Autismus als Metapher

»Nichts ist schädlicher, als einer Krankheit eine Bedeutung zu verleihen, denn jede Bedeutung hat unweigerlich eine moralische Dimension.« (Susan Sontag)

Zurück in Berlin merkten wir, dass John sich auch hier veränderte. Er wollte keine Ausflüge ins Brandenburger Umland mehr unter­ nehmen. Oft waren wir zum Wildgehege Glauer Tal gefahren, das auf einem ehemaligen sowjetischen Truppenübungsplatz in der Nähe von Ludwigsfelde angelegt worden war. Dort hatte John sich immer wohl gefühlt und war viel herumgelaufen. Das Naturkind, der Erkunder, der Junge, der früher immer in Bewegung war, er saß nun am liebsten Zuhause auf dem Sofa, guckte Konzerte oder Tier- und Naturdokumentationen, oder er wurde mit Musik im Auto herumgefahren. Auf einer Tour hatten wir dabei einen Platz mit einem Brunnen für uns entdeckt, den Hausvogteiplatz. Aus irgendeinem Grund, den wir nicht verstanden, liebte John diesen Platz. Das Wasser, ein Kiosk in der Nähe, das waren denkbare Gründe, aber diese hätten auch auf andere Plätze zugetroffen. Doch John schien sich am Hausvogteiplatz so wohlzufühlen wie sonst nirgends in der Stadt. Fast jeden Tag fuhren wir dorthin und John drehte seine Runden

236 um den Brunnen. Wir benannten die Tage danach: War es ein Vier- Runden-Tag, ein Neun-Runden-Tag oder ein Zwölf-Runden-Tag? Wir waren immer unterwegs gewesen, aber nun war unsere Welt ziemlich klein geworden.

Das Leben ist unerschöpflich und Johns Entwicklung zeigte uns, wie unerschöpflich auch der Autismus war. Je länger man mit dem Syndrom lebte, umso deutlicher wurde dessen Komplexität. Als ich einem Arzt von einigen Veränderungen erzählte, die wir bemerkt hatten, legte er seinen Stift zur Seite, sah mich an und sagte: »Wissen Sie, was mir gerade auffällt? Ich könnte ihnen so etwas über meine eigenen Kinder nie sagen. Ich sehe sie dafür gar nicht genug, und wenn, dann achte ich nicht wirklich auf kleine Veränderungen.« Das erschien mir nur natürlich. Wir orientieren uns normaler­ weise stark an der Sprache und rechnen damit, dass Bedürfnisse und Wünsche verbal ausgedrückt werden. Nur weil John sich sprachlich nicht mitteilen konnte, brachten wir seinem Verhalten und den Ver­ änderungen darin so viel Aufmerksamkeit entgegen. Die Bemerkung des Arztes ließ mich aber auch an einen anderen, der Intuition erst einmal widersprechenden Aspekt des Autismus denken: John konnte wegen seines mangelnden Gefah­ renbewusstseins und seiner generellen Hilfsbedürftigkeit nicht eine Minute alleine gelassen werden, deshalb verbrachten wir ungewöhn­ lich viel Zeit mit ihm. Wir waren ihm innig verbunden, und er uns. Wenn wir nicht mit John zusammen waren, übernahmen dies Lehrer, Einzelfallhelfer und Babysitter, mit denen wir in ständigem

237 Kontakt standen. Für John wie für uns war der Autismus eine höchst soziale Angelegenheit. John war in seiner Hilfsbedürftigkeit permanent auf uns und andere Bezugspersonen angewiesen. Dies bedeutete auch, dass er uns jeden Tag und jeden Moment zu 100% vertrauen musste. Wie schwer das bestimmt war. John begegnete seiner Abhängigkeit und seinen Einschränkungen aber mit einem positiven Wesen und mit einer erstaunlichen Würde und Energie. Das innere Leben eines Menschen bleibt weitestgehend sein Ge­ heimnis. Das gilt allerdings im Besonderen, wenn jemand nicht sprechen kann. Wir konnten nicht wissen, was in Johns Seele vor sich ging, was er sich für ein erfülltes Leben wünschte. Oft genug verstanden wir ihn nicht. Wie großzügig er doch war, uns die Ent­ täuschung darüber nicht nachzutragen. Im russischen Dokumentarfilm Anton ist hier sagt die Heil­ pädagogin Mariya Berkovich über ihre Arbeit mit dem Autisten Anton: »Was ich jetzt über die autistische Welt sage, gilt, glaube ich, in gewissem Maße für die Welt als Ganzes. Aber im Autismus ist das Leben konzentriert. Für einen Autisten zählt ausschließlich, was er fühlt. Alle grundlegenden Fragen werden mit einer eindrucks­ vollen Klarheit beantwortet. Es gibt nichts Oberflächliches und keine Konvention. So ein Leben mag man vielleicht als absurd wahrnehmen, man kann es aber auch als Leben in seiner reinsten Form betrachten. Kommt man mit einem solchen Leben in Berührung, entdeckt man dieses Potential auch in sich selbst. Es ist, als ob man ein Medikament einnimmt, als ob man einen Becher unverdünntes Leben trinkt. Das Leben in seiner reinsten Form. Es

238 ist sehr wirkungsvoll und danach ist es schwer, in den normalen Zustand zurückzukehren.« Auch wenn John nicht mehr in so einem engen Kontakt zur Natur stand wie früher, beobachteten wir bei ihm immer noch ein sehr intensives Erleben. John konnte zum Beispiel gegenüber Musik sehr mitfühlend sein. Mehrmals fing er bei traurigen Liedern im Ra­ dio an zu weinen. In der Schule weinte er, wenn sein bester Freund in der Klasse ausgeschimpft wurde. Das machte er bei anderen Kin­ dern nicht. Wenn es aber um seinen Freund ging, war es für John, als ob er selbst betroffen war. Wir erlebten manchmal sogar, dass er sich klar erkennbar in andere Menschen hineinversetzen konnte. Die so genannte »Theory of Mind« besagt, Autisten könnten eben dies nicht. Tatsächlich zeigte John nicht oft, dass er die Gefühle anderer Menschen ver­ stand, aber man konnte das nicht verallgemeinern. Als ich einmal auf Dienstreise war, hatte John die Grippe bekommen. Nachts musste Scott mehrfach die Bettwäsche wechseln. Um vier Uhr morgens hatte John im Bett Durchfall gehabt und Scott hatte ihn in die Badewanne gesetzt. Scott saß neben der Wanne und stützte er­ schöpft den Kopf in die Hände. Plötzlich fühlte er, wie eine Hand ihm auf den Kopf klopfte. Er sah auf. John blickte ihn aufmerksam und mitfühlend an. John sah Scott direkt in die Augen und legte ihm die Hand auf die Schulter, als wolle er sagen: »Ich weiß, dass es heute schwer ist. Danke, dass du dich um mich kümmerst.« Die Intensität dieses Augenblicks ist schwer zu beschreiben. Das Einfühlen in Scotts

239 Position war überaus deutlich. John war nicht gefühlsblind und empathielos, wie es Autisten so oft nachgesagt wird.

In der Öffentlichkeit differenziert sich die Wahrnehmung des Syndroms allerdings bisher leider nicht weiter aus. Im Gegenteil, es mischen sich immer mehr falsche Bilder ins Bewusstsein. Autismus ist seit Jahren als Metapher sehr beliebt. Ob in den Medien, in der Politik, in der Wirtschaft oder in der Architektur, überall wird der Autismus als Metapher benutzt. Der Journalist Jakob Augstein hat mit Autismus als zentraler Metapher Frank Schirrmachers Buch Ego. Das Spiel des Lebens rezensiert. Augstein spricht von einer »Ideologie der Kälte und des Autismus. Eine Ideologie von Psychopathen für Psychopathen.« Im Jahr 2000 hat der Wirtschaftswissenschaftler Bernard Guerrien die Bewegung der Post-autistischen Ökonomie gegründet. Autismus wird darin im Sinne einer wirtschaftlichen Abschottung definiert, die man in dieser Bewegung zu überwinden versucht. Die Geografin und Architektin Maria Kaika hat in der zeit­ genössischen Stadtplanung eine autistische Architektur ausgemacht. Ikonische Wahrzeichen berühmter Architekten fügten sich nicht mehr in ein Bedeutung schaffendes Gesamtbild ein. Autistische Architektur wird definiert als pathologische Versunkenheit und als Beschäftigung mit sich selbst, bis zum Ausschluss der äußeren Welt. Ich hatte jahrelang den Begriff Autismus als Google Alert abonniert. Eigentlich wollte ich mich damit über neue wissenschaft­ liche Erkenntnisse auf dem Laufenden halten, doch ich merkte schnell, dass stattdessen zum Großteil Autismusmetaphern in den

240 Posteingang meiner E-Mail gespült wurden. Mit der Zeit kristallisierten sich bestimmte Gebiete und Themen heraus, für die die Autismusmetapher besonders gerne benutzt wurde. So ist heute fast alles, was mit dem Internet zu tun hat, autismus­ verdächtig. In einem Zeitungsartikel hieß es: »Die Spielkonsole hat Hunderttausende in den Autismus getrieben.« Dienste wie Twitter und Facebook verwirklichen ein permanentes Sich-Miteinander- Abgleichen durch pausenlose Kommunikation, allerdings nur virtuell. Sind wir also isoliert oder verbunden? Die Metapher Autismus dient als Referenzgrundlage einer digitalisierten Gesell­ schaft, in der jeder alleine vor dem Computer sitzt, und in der dem Autismus der Spielkonsole die letztlich ebenso autismusverdächtige Eingebundenheit in virtuelle Kommunikation entgegensteht.

Nicholas Epley und Adam Waytz von der University of Chicago haben eine Untersuchung vorgestellt, wonach Menschen mit engen sozialen Kontakten dazu neigen, Personen außerhalb ihres sozialen Umfelds zu entmenschlichen. Das Gefühl sozialer Eingebundenheit könnte demnach dazu verleiten, Menschen außerhalb der eigenen Gruppe als weniger wertvoll zu betrachten. Die Teilnehmer eines Versuches wurden in zwei Gruppen ein­ geteilt. Die Teilnehmer der einen Gruppe füllten einen Fragebogen aus, während ein Freund zusammen mit ihnen im Raum saß. Die anderen erledigten diese Aufgabe in Anwesenheit eines Unbekannten. Beiden Gruppen wurden Fotos von elf Menschen vorgelegt, die als inhaftierte Terroristen präsentiert wurden, angeb­ lich für die Planung der Attentate auf das World Trade Center

241 verantwortlich. Anschließend beantworteten die Versuchs­ teilnehmer eine Reihe von Fragen, darunter auch, in welchem Maße sie Foltertechniken wie simuliertes Ertrinken und Elektroschocks für vertretbar hielten. Die Forscher fanden heraus, dass die Gruppe der sozial einge­ bundenen Personen, die den Fragebogen in Anwesenheit eines Freundes ausgefüllt hatten, die Gefangenen deutlich stärker ent­ menschlichten und wesentlich eher bereit waren, Verletzungen gutzuheißen. »Enge soziale Kontakte zu anderen haben sehr positive Auswirkungen auf die eigene körperliche und geistige Ge­ sundheit«, schrieben die Forscher. »Aber sie ersticken auch die Motivation, soziale Kontakte außerhalb der Gruppe zu knüpfen und können die empfundene Distanz zwischen uns und denen vergrößern.« Die Verwendung des Begriffs Autismus als Metapher funktioniert wie dieser Mechanismus. Die nicht sozial eingebun­ denen Autisten symbolisieren das Außen in dieser Distanz zwischen uns und denen.

Das alleine scheint mir aber zu kurz gedacht. Offensichtlich besteht in der Verwendung des Autismusbegriffs auch ein Wechselspiel von Anziehung und Abstoßung. Wenn man zum Beispiel die Tatsache, den Urlaub bewusst ohne Internet und Handy verbracht zu haben, damit beschreibt, dass man sich autistisch verhalten hätte, kokettiert man mit diesem Bild. Autismus impliziert dann die Illusion eines wenigstens temporär non-konformen Verhaltens, welches durch die ständige Kommunikation immer seltener wird. Zumindest als

242 ephemere Erfahrung ist der Autismus damit heute vielleicht auch gerade besonders reizvoll. Dies ist wiederum auch kein neuer Topos. Das Heraustreten aus der Gemeinschaft wird gerade unter Künstlern seit langem als reiz­ voller Gedanke zelebriert und formuliert, man denke nur an Gustave Flauberts Begriff der impassibilité, der kühlen Teilnahms­ losigkeit des Dichters, oder an Paul Cézannes bewusst propagiertes Leben als Solitär. Paul Eluard schrieb: »Ich träume davon, losgelöst von allem zu sein. Aber leider besteht kaum die Aussicht, dass sich das erfüllen wird.« Der Satz scheint heute für unsere allzeit vernetzte Zeit geradezu emblematisch.

Die Beschäftigung mit dem Autismus setzt insofern eine lange künstlerische Tradition des Wechselspiels zwischen Teilhabe und Isolierung fort, ein Wechselspiel, das sich im frühen 21. Jahrhundert zwischen den Polen der Vereinzelung und der Vernetzung bewegt. Im Film The Social Network begegnet der Erfinder von Facebook, Mark Zuckerberg, dem Zuschauer als Computer-Nerd, der wenig Augenkontakt hält, Sprachwendungen und Doppeldeutigkeiten nicht versteht, alles wörtlich nimmt und selbst in harmlosen Gesprächen pedantisch auf Genauigkeiten beharrt. Dass das, was er sagt, andere verletzen könnte, versteht er nicht. Kurzum, Dreh­ buchautor Aaron Sorkin und Regisseur David Fincher porträtieren Zuckerberg in ihrem Film als Asperger-Autisten. Die Schriftstellerin Zadie Smith schrieb über den Film und die Generation Facebook, der Typus des »sozialen Autisten« sei uns in der heutigen Zeit sehr augenfällig: »Wir kennen diesen Typen.

243 Überprogrammiert, grimmig, einsam.« Interessant ist dabei, dass es ihr gar nicht um eine tatsächliche Diagnose geht, sondern um die Zuschreibung einer Generation, deren Persönlichkeit von den ober­ flächlichen Möglichkeiten der Facebook-Software geprägt werde. In sozialen Netzwerken sei Verbindung das ultimative Ziel, die Qualität dieser Verbindungen spiele aber eine untergeordnete Rolle. Falsch-fröhlich, pseudo-freundschaftlich, selbst-vermarktend und gekonnt unaufrichtig würden die Menschen Auskunft über sich geben, ohne dass komplexe Gefühle, Wünsche und Ängste im Profil ihren Ausdruck finden könnten, denn eine tiefere, komplexe Dimension sehe die Zuckerberg-Software nicht vor. Auf Facebook schrumpfe alles: individueller Charakter, Freundschaften, Sprache, Sensibilität. Smith beschreibt dies als transzendentale Erfahrung: körperlos und ohne komplexe Gefühle. Das von seiner Viel­ schichtigkeit befreite Selbst sei dabei alles andere als frei. Unsere Persönlichkeit verflache. Der Typus des »sozialen Autisten« erfasse diese Entwicklung in einem komprimierten Begriff. (Smiths Thesen lassen natürlich sofort auch wieder an Simmels Ideen einer ver­ kümmernden Persönlichkeit und Atomisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts denken.) Das Thema Persönlichkeit hängt unmittelbar mit einem weiteren Thema zusammen, das sowohl für unsere Zeit, als auch für den Autismus bedeutsam ist: Reizüberflutung. Der Journalist Nicholas Carr hat 2008 mit dem Aufsatz Macht uns Google dumm? eine Debatte über die Reizüberflutung im Internet eröffnet. Darin interpretierte Carr das Internet als einen evolutionsgeschichtlichen Wendepunkt.

244 Unsere Aufmerksamkeitsspanne verkürze sich bedenklich. Ähnlich ein Jahr später Frank Schirrmachers Bedenken in Payback. Interessant für die Autismusmetapher ist, dass sich auch hier wieder Parallelen zwischen Autisten und neurotypischen Menschen auftun. Überforderung bei der Verarbeitung von Sinneseindrücken ist ein zentrales Problem für Autisten, doch dieses Problem kennen heute auch Nicht-Autisten nur zu gut. In einer Radiosendung darüber, ob der Mensch die Stadt prägt oder vielleicht umgekehrt die Stadt den Menschen, berichtete der Musiker Sxip Chirey, er habe sich wie ein Autist gefühlt, als er das erste Mal nach New York kam. Er habe die Stadt wie ein autistischer Junge erlebt, der die vielen Reize, die auf ihn einprasseln, nicht filtern und ordnen kann. Chireys Beschreibungen der Parallelen zwischen der Wahrnehmung von Autisten und seiner eigenen ersten Wahrnehmung von New York sind ein typisches Beispiel dafür, wie der Autismus heute gerne als Sinnbild für eine Reizüberforderung herangezogen wird.

Wenn man Parlamentsprotokolle auf den Begriff Autismus hin durchsucht, bekommt man seitenlange Einträge. Im Parlament ist es beliebt, den Autismus in die Nähe des Fundamentalismus zu rücken, so sagte etwa MdB Rolf Feldmann von der FDP: »Im Klar­ text: Die Militärs spielen weiter mit der Existenz der Menschheit und behaupten wie eh und je, sie hätten alles im Griff. Und auf diesen brandgefährlichen Autismus sollen wir unsere Sicherheit und unsere Zukunft gründen?« Der Abgeordnete Hans von der CDU mahnte: »Zur Besonnen­ heit gehört, zu unterscheiden zwischen den Millionen Moslems, von

245 denen viele hier im Westen in unserem toleranten Lebensstil eingebunden sind, und den paar tausend fanatischen Autisten, die unsere Kultur – damit meine ich die westliche und die islamische – global und total bedrohen.« In der Politik spitzt sich der Autismus zum Gegenspieler der Demokratie schlechthin zu. Dem Autismus werden Adjektive wie 'brandgefährlich' und 'fanatisch' an die Seite gestellt, die die Wahr­ nehmung einer Gefahr noch verstärken. Der Begriff Autismus drückt die kollektive Abscheu der demokratischen Staaten gegen­ über ihren Gegnern, vor allem Terroristen, aus. Die politische Metapher wird zur Variation des guten Ganzen gegen den einzelnen Abtrünnigen.

Reinhart Lempp ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und emeritierter Professor der Universität Tübingen. In seiner Praxis im Umgang mit autistischen Kindern und Jugendlichen bemerkte auch er Parallelen zwischen den Beeinträchtigungen einer autistischen Wahrnehmung und Wesensmerkmalen unserer Zeit. In seinem Buch Die autistische Gesellschaft. Geht die Verantwortlichkeit für andere verloren? schrieb er über unseren täglichen Autismus, über die Kontaktstörung unserer Alltagswelt. Es kämen zwar immer mehr Menschen miteinander in Berührung, aber sie kämen nicht in psychischen Kontakt miteinander. Die Menschen nähmen sich gegenseitig nicht mehr wahr. Das Nebeneinanderher-Leben führe zu einer zunehmenden Verantwortungslosigkeit gegenüber den Mit­ menschen und zu einer Aufkündigung der Gemeinschaft.

246 Im Magazin Theater Heute schrieb die Literaturwissenschaftlerin Branka Schaller-Fornoff in einer Titelgeschichte über Belgrad und den Balkan: »Täglich und doch immer völlig unerwartet bekomme ich zu hören, wie viel besser das Leben im Sozialismus war, das vereinte Jugoslawien. Diese Demokratie, dieser Kapitalismus, sie hätten nichts Gutes gebracht. Ein Medienwissenschaftler sagt mir lakonisch, die Leute seien total autistisch geworden, ihre Mit­ menschen interessierten sie nicht mehr. Er geht jetzt weg.« Neben der Autismusdiagnose für den Kapitalismus spielt das Zitat auch auf das Autistische unserer zunehmend transitorischen Existenz an, auf den Autismus der Mobilität: »Er geht jetzt weg.« Noch nie sind wir so oft umgezogen, weltweit, haben so oft den Arbeitsplatz und die Partner gewechselt, international. Alles ist im Fluss, immer, und morgen könnte man schon ganz woanders sein. Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein für die Gemeinschaft sind so ungleich schwerer zu leben, so die Idee dieser Autismus­ metapher. In der Metapher geht es in den verschiedensten Zusammen­ hängen fast immer um das Vereinzelte als Gegenbild des Gemein­ samen, ein neuralgischer Punkt unserer globalisierten, kapitalis­ tischen und digitalisierten Lebens- und Arbeitswelt.

Die Schriftstellerin Susan Sontag beobachtete in Krankheit als Metapher, wie Tuberkulose im 19. Jahrhundert und Krebs im 20. Jahrhundert zu Syndromen wurden, die zentrale Ängste und Gefahren der Gesellschaft verdeutlichten. Dass eine bestimmte Krankheit eine kulturelle Dominanz entwickelt, ließ sich laut Susan

247 Sontag an wissenschaftlichen Untersuchungen im 20. Jahrhundert erkennen: sie wiesen hohe Übereinstimmungswerte zwischen dem Vorkommen von Krebs und den verbreiteten, allgemeinen Beschwerden der Zeit nach. Selbst Nichtkranke gaben demnach viele gleiche Beschwerden an, die auch Krebspatienten hatten. Wenn eine Krankheit eine kulturelle Bedeutung entwickelt, greift sie um sich und löst sich dabei auch vom Syndrom selbst: Immer mehr Menschen erkennen sich darin wieder, ohne tatsächlich er­ krankt zu sein. Dies gilt heute für den Autismus. Die für Tuberkulose und Krebs beschriebene Invasion des Körpers hat sich heute durch Virtualität und Globalisierung zu einer Loslösung vom Körperlichen entwickelt, und während in den Fällen von Tuberkulose und Krebs das fundamental Abschreckende die Assoziation des tatsächlichen Todes war, so ist es im Fall der Autismusmetapher die Assoziation des sozialen Todes. Der Ausdruck des Selbst im 19. Jahrhundert (Tuberkulose) wich im 20. Jahrhundert dem Ausdruck des gefühlten Selbstverlustes (Krebs), der wiederum nun, im beginnenden 21. Jahrhundert, von einem Ausdruck des gefühlten Gemeinschafts­ verlustes überschrieben wird (Autismus). Sich einen medizinischen Begriff zunutze zu machen, um neue hermeneutische Möglichkeiten zu schaffen, ist allerdings grund­ sätzlich problematisch, darauf wies auch Susan Sontag immer wieder deutlich hin. In einem solchen Prozess löst sich die Metapher unweigerlich vom tatsächlichen Syndrom und schneidet es auf die eigenen Bedürfnisse zu. Dies geht so weit, dass die

248 Assoziationen nichts mehr mit dem tatsächlichen Syndrom zu tun haben. Entfernt uns das Internet voneinander und lässt es unsere Persönlichkeit verkümmern? Können wir der Flut an Reizen nicht mehr standhalten? Löst sich die Gemeinschaft auf und verschwindet jeder einfach in seinem eigenen Leben? Macht die glo­ balisierte Welt uns gefühl- und verantwortungslos? Zur Formulie­ rung dieser und vieler anderer Fragen benutzen wir die Autismus­ metapher, und all diese Fragen sind mit einer enormen, ja existenziellen Angst besetzt. Der Autist wird rhetorisch als entfernt und verschieden dar­ gestellt, ihm wird die dialektische Funktion des Anderen aufge­ bürdet, er verkörpert die Gefahr, den Ort, an den diejenigen nicht kommen wollen, die Teil der Gemeinschaft sind. Ob all diese Ängste dabei überhaupt gerechtfertigt sind, oder wie viele Anteile an typischem Kulturpessimismus in neuem Gewand in diesen Ängsten stecken, das ist dabei noch eine ganz andere Frage. Egal ob zur Beschreibung wirtschaftlicher, künstlerischer, kultureller oder politischer Problemzustände unserer Zeit: Indem die Metapher Autismus das Außen definiert, eignet sie sich augen­ scheinlich zum Versuch, eine auf verschiedensten Ebenen als ge­ fährdet wahrgenommene Idee der Gemeinschaft wieder zu stabilisieren, indem sie die Gefährdungsmomente aus ihrem eigenen Inneren in ein Außen überträgt, nämlich auf den außen stehenden Autisten. Den Preis für die metaphorische Übertragung aber zahlen die Autisten und auch ihre Angehörigen.

249 So prägnant sich drängende zeitgenössische Fragestellungen durch die Brille des Autismus erfassen und verarbeiten lassen, weil die Defizite und Stärken, die mit Autismus verbunden sind, mit zen­ tralen Fragestellungen unserer Gesellschaft korrespondieren, so dringend muss die Frage gestellt werden, was Autismus als Metapher für die Menschen bedeutet, die tatsächlich autistisch sind. Der wahre Autist hat im Gegensatz zum metaphorischen weder eine verkümmerte Persönlichkeit noch wendet er sich als Integrationsverweigerer bewusst von der Gemeinschaft ab. Die Ab­ wendung erfolgt eher in umgekehrter Richtung, nämlich in dem Sinn, dass eine Gemeinschaft Autisten ausschließt, weil sie deren Disposition nicht versteht. Autisten leben nicht vereinzelt, sondern in Gemeinschaften. Oft leben sie in der Familie, und dort als Erwachsene sogar häufiger als Nicht-Autisten, die in der Regel mit achtzehn oder neunzehn Jahren das Elternhaus verlassen. Autisten lernen, mit Reizüberflutung um­ zugehen. Und zum behaupteten Verlust des Verantwortungsgefühls für die Mitmenschen: Gerade an engagierten Angehörigen, Therapeuten, Lehrern, Ärzten und Pflegepersonal lässt sich bestens erkennen, dass es sehr wohl noch Menschen mit einem hohen Verantwortungsbewusstsein gibt. Die Metapher greift immer zu kurz. Sie verzerrt und schadet.

Weiter problematisiert wird die Lage durch zunehmend feindselige Positionierungen zum tatsächlichen Syndrom in den Medien. Als Adam Lanza in Newtown in den USA 27 Menschen tötete, wurde in den Medien weltweit spekuliert, dass Lanza vielleicht Autist

250 gewesen sei. Zeugenaussagen hatten auf das Asperger-Syndrom hin­ gedeutet. Diese Spekulationen wurden ursächlich mit der Tat ver­ bunden und als Erklärungsversuch benutzt, um die schreckliche Tat einzuordnen. Einzuordnen bedeutete dabei vor allem auch wieder, dass man die Verantwortung für eine erschreckende Tat schnell einer Minderheit zuschieben konnte. Ähnliches passierte nach einem Mord in München. Eine Nachbarin der Ermordeten meinte, der Täter sei Autist gewesen und habe eine Förderschule besucht. Die Berichterstattung zielte wieder auf einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Autismus und der Tat. »Psychogramm: So tickt der mutmaßliche Sendling- Mörder« hieß die Schlagzeile in der Münchener Abendzeitung. Jedoch: In einer Studie der University of Western Australia in Perth haben Forscher die gesamte, zwischen 1955 und 1969 gebore­ ne Bevölkerung Westaustraliens untersucht, mehr als anderthalb Millionen Menschen. Sie verglichen Verhaftungen mit den Daten psychiatrischer Diagnosen und kamen zu dem Ergebnis, dass es kein erhöhtes Kriminalitätsrisiko im Zusammenhang mit psychiatrischen Problemen gibt. Während Menschen mit einer Dia­ gnose Schizophrenie zwar häufiger verhaftet werden als Menschen mit einer Depression, liegen die Verhaftungszahlen für Suchterkrankte deutlich über denen der Schizophrenie. Autisten sind viel häufiger Opfer als Täter, zum Beispiel Opfer von Mobbing, in der Schule und am Arbeitsplatz. Sie sind oft von Ausgrenzung betroffen. Durch die verzerrte Berichterstattung wer­ den sie allerdings im Gegenteil geradezu als Psychopathen dar- gestellt. Es erfolgt auch für den tatsächlichen Autismus eine

251 ähnliche Instrumentalisierung wie in Bezug auf die Metapher. Die negative Vereinnahmung hat erhebliche, schädliche Konsequenzen.

252 Nachwort – Für immer 15

»Und ich weiß schon: Solange meine Seele in mir wohnt, werd ich das Dunkel dieses Augenblicks schöpfen und trinken und bluten.« (David Grossman)

»Das Leben an der Seite des Autismus ist eine Erziehung des Her­ zens. Wir hoffen, dass wir noch lange mit John leben können.« So endete die englische Ausgabe dieses Buches vor knapp vier Jahren. Der letzte Satz bezog sich auf unsere Angst, dass die Pflege uns irgendwann überfordern könnte und John vielleicht in einem Wohnheim leben müsste. Wir wollten ihn so gerne bei uns behalten. Unsere größte Sorge war, was mit John nach unserem Tod passieren würde. Immer wieder sagten wir uns dann dieses »Morgen kann warten«: Sorgen über die Zukunft dürfen uns nicht die Gegenwart trüben. John hatte so viel überstanden und so viele Jahre keine Krampf­ anfälle gehabt. Daher hatten wir nicht gedacht, dass es auch anders kommen und er vor uns sterben könnte. In den letzten neun oder zehn Monaten vor seinem Tod hatten wir zwar schon gemerkt, dass es ihm nicht besonders gut ging, aber wir hatten nicht gewusst, warum. Er war in der Schule ziemlich aggressiv geworden. Bei seiner enormen Kraft und Größe von mittlerweile 1,93 m waren diese Kontrollverluste richtig gefährlich, für andere ebenso wie für John selbst. Nach einer Unterredung mit der Schulleiterin beantragten wir einen Schulhelfer, den wir seit so vielen Jahren nicht mehr gebraucht hatten.

253 Zu den 14 Wochen Schulferien und den diversen Feiertagen mit langen Wochenenden waren im letzten Schuljahr über 30 Fehltage dazugekommen, also noch einmal knapp sieben Wochen ohne Schule. Es schien, als fühle John sich nur Zuhause noch wirklich wohl. Andere Leute treffen wollte er auch nicht mehr. Wir fragten uns, wie viel Raum wir seinem Bedürfnis nach Rückzug geben und wie viel Anpassung wir von ihm fordern sollten. Brauchte John die­ sen Kokon jetzt gerade einfach für eine bestimmte Zeit? Hatte es etwas mit der Pubertät zu tun? Wir entschieden, uns vorerst darauf einzulassen und abzuwarten, ob John mit der Zeit in eine stabilere Lage käme, in der wir unser Leben wieder mehr öffnen könnten. Vorerst gingen Scott und ich abends auch nicht mehr gemeinsam aus, einer von uns blieb immer bei John. Fünf Monate vor seinem Tod hatte John dann erstmals nach zehn Jahren wieder einen epileptischen Anfall. Besonders schlimm daran war, dass John in der Schule darum nicht mehr schwimmen gehen durfte – eine seiner wenigen verbliebenen Lieblingsbeschäftigungen dort. Wir vereinbarten eine Einweisung in das Epilepsiezentrum. Bei unserem Aufenthalt waren alle Ärzte und Pflegekräfte sehr freundlich, kompetent und geduldig. John fühlte sich tatsächlich wohl im Krankenhaus, er kooperierte und wir erhielten ein 20- minütiges, auswertbares EEG von seinen Hirnströmen. Das Ergeb­ nis sah leider gar nicht gut aus. Der Neurologe warnte uns, dass wir uns auf weitere Krampfanfälle einstellen müssten. Nach drei Monaten sollten wir erneut eingewiesen werden, um zu sehen, wie

254 sich das EEG in der Zwischenzeit entwickelt hatte. Auch würden wir ein MRT von Johns Gehirn machen müssen. Wir hatten das Krankenhaus im Januar 2016 mit der Erkenntnis verlassen, dass die Probleme der letzten Monate wahrscheinlich anders als mit Pubertät zu erklären waren. Stand John nun doch eine Gehirnoperation bevor? Darüber würde uns das MRT Auf­ schluss geben. Aber so weit kam es nicht. John starb einen Monat vor der nächsten Einweisung, in der Nacht vom vierten auf den fünften März 2016. Die Ärzte denken, dass er wahrscheinlich einen Krampfanfall hatte, der zu einem Atem- und Herzstillstand geführt hat. SUDEP, das steht für sudden unexpected death in epilepsy, also für einen plötz­ lichen und unerwarteten Tod bei Epilepsie.

Johns Tod ist für uns schwer zu verarbeiten. Plötzlich und unerwartet. Wir vermissen John sehr. Wir trauern dabei nicht über enttäuschte Erwartungen an die Zukunft. Wir wussten, dass wir nicht auf Johns Abiball tanzen und keine Enkelkinder bekommen würden. Wir hadern auch nicht mit der Vergangenheit. Seit John im Alter von anderthalb Jahren so krank geworden war und wir zwei Jahre in Kliniken verbrachten, war uns sehr bewusst, wie zerbrechlich das Leben ist, besonders seines. Wir haben es jeden Tag wertgeschätzt. John war unsere absolute Priorität und wir haben sehr viel Zeit mit ihm verbracht. Gerade deshalb fehlt er uns aber natürlich auch an allen Ecken und Enden. Zum Erscheinen dieses Buches jährt sich Johns Todestag zum ersten Mal. Es fühlt sich immer noch unwirklich an, dass er nie

255 mehr da sein wird. Die Zeit vergeht wie im Flug, irgendwie an uns vorbei, über uns hinweg, während wir gefühlt nichts tun. Wir sind schon völlig damit ausgelastet, die Situation einfach nur zu ertragen. Wir müssen es akzeptieren lernen: Das war Johns Leben, es war schön und schwer, und für uns zu kurz, aber so sollte es sein. Dank­ barkeit für die Zeit, die wir gemeinsam hatten, ist letztlich vielleicht die einzig hilfreiche Perspektive. John wird uns für immer fehlen. Seine Persönlichkeit, seine Leidenschaft, sein Humor, seine große Nähe, seine ungestüme Energie, seine Fähigkeit zur pursten Freude, seine unverwechselbare Sicht auf die Welt. Es war ein Privileg, an seiner Seite zu leben. Die Liebe und die Erinnerungen werden immer bleiben. In der Nähe von Johns Grab gibt es ein anderes Kindergrab. Wir haben mit dem Vater gesprochen, der dort vor 13 Jahren seinen achtjährigen Sohn beerdigt hat. Wir standen am Grab des Jungen, und ich dachte, heute wäre er nun also 21, aber er wird für immer acht sein. Da ist mir erst aufgegangen, dass das ja auch für John gilt. Für immer 15.

256 Respekt und Dank

Jede Beschreibung und Erzählung, die von außen auf Autismus blickt, könnte für autistische Leser anmaßend und paternalistisch wirken. Ganz besonders, wenn sie von einem Elternteil kommt, das ist mir bewusst. Ich respektiere den Autismus und hoffe, dass sich das im Text angemessen widerspiegelt. Autistische Leser möchte ich bitten, mir mitzuteilen, falls ich Aspekte falsch dargestellt habe, die ihnen wichtig sind. Zur Diskussion darüber, ob man die Person zuerst benennen sollte (»Mensch mit Autismus«) oder ob es gerechtfertigt ist, die Person unter dem Syndrom zu subsumieren (»Autist«): Ich habe viel darüber gelesen und mir scheint, dass die Mehrheit der Autisten die Person-zuerst-Variante nicht bevorzugt. Ich habe mir erlaubt, die Bezeichnung so zu handhaben, wie ich es für passend halte. Viele Menschen haben uns mit John geholfen. Ich bin ihnen allen dankbar und möchte nur einige nennen. Dr. Michael Kohrmann am Epilepsiezentrum der University of Chicago sowie Dr. Christoph Korenke am Kinderkrankenhaus Oldenburg standen uns immer wieder in Notsituationen schnell und effektiv zur Seite. Johns Kinderpsychiater Dr. Michael Elpers hat uns über viele Jahre hinweg einfühlsam begleitet. Die Schulleiterin Susanne Rabe hat John aufgenommen, als eigentlich kaum Platz an der Schule war. Johns langjährige Lehrer Birgit Kirchner und Ralf Pöschke haben wunderbar mit John gearbeitet. Überhaupt ein großes Dankeschön an alle, die an Johns Beschulung beteiligt waren: Lehrer, Assistenten, pädagogische Unterrichtshelfer, Betreuer, Busfahrer

257 und Begleitpersonen. Unsere Einzelfallhelfer, besonders David von Heynitz, Rainer Pätzke und Thomas Ackermann, haben sich über viele Jahre geduldig und mit großem Mitgefühl an der Betreuung von John beteiligt. Ich danke allen, die dieses Buchprojekt auf Kickstarter unter­ stützt haben. Ohne das Crowdfunding der englischen Version hätte es auch die deutsche nie gegeben. Mein Dank geht auch an Johannes und Edeltraud, die in unserer Nähe wohnen und uns oft geholfen haben. Ganz besonders danke ich meinen Eltern Ludger und Maria Scheele, die immer für uns da waren. Außerdem haben sie auch die deutsche Fassung korrigiert. Und ich danke Scott, der das Buch oft mit mir besprochen hat, und der die englische Version lektorierte. In unserer Trauer um John sind wir dankbar für den schönen Abschied von ihm, den wir in den zwei Wochen zwischen seinem Tod und seiner Beerdigung erleben konnten. Unser Dank gilt Pfarrer Michael Wiesböck, unseren Bestattern Lea und Uller Gscheidel, unseren Familien und Freunden. Die Unterstützung, die wir bei der Beerdigung und in den ganzen letzten Monaten erfahren haben, war beeindruckend. Sie hat uns wirklich sehr geholfen.

258 Anmerkungen

Vorwort – In der Welt sein

• Es wird noch häufig fälschlicherweise geschrieben, Hans Asperger habe den Begriff Autismus im Jahr 1944 geprägt. Dieses Datum bezieht sich auf die Publikation seiner Habilitation. Den Begriff öffentlich eingeführt hat Asperger schon am 3. Oktober 1938 bei einem Vortrag in Wien, der ebenfalls 1938 in Ausgabe 51 der Wiener Klinischen Wochenzeitung abgedruckt wurde. Zu mehr Details siehe Brita Schirmer: »Autismus – Von der Außen- zur Innenperspektive« (2003). • Zu Aspergers Brief von 1934 an mehrere Kollegen, dass er den Begriff Autismus für einen nützlichen diagnostischen Terminus halte, siehe Klaus-Jürgen Neumärker: »...der Wirklichkeit abgewandt« (2010). Neumärkers Buch ist auch eine exzellente Quelle zum Einfluss von Kraepelin and Kahlbaum.

• In einem 2013 veröffentlichten Buch über das Euthanasie­ programm der Nationalsozialisten habe ich einen Eintrag von 1945 gefunden, in dem ein deutscher Arzt wie selbstverständlich den Begriff autistisch verwendet. Der Arzt in München beschrieb Patienten, die man hungern ließ, als »langsam, träge, autistisch und apathisch«. Das Adjektiv autistisch scheint in jener Zeit also im psychiatrischen Umfeld zur Beschreibung von Symptomen bereits sehr geläufig gewesen zu sein. Siehe Gerhard Schmidt: »Selektion in der Heilanstalt«, zitiert von Götz Aly in Die Belasteten (2013), S. 273.

259 • In Bezug auf das Einfühlen in die Gefühle anderer Menschen siehe zum Beispiel Lisa Capps et al.: »Understanding of simple and complex emotions in non-retarded children with autism« (1992).

• Das Zitat von Dawn Eddings Prince stammt aus deren Text »An Exceptional Path: An Ethnographic Narrative Reflecting on Autistic Parenthood from Evolutionary, Cultural, and Spiritual Perspectives« (2010), S. 56-68. Ich habe das Zitat zusammen­ gefasst. Die gesamte Ausgabe der Zeitschrift Ethos, in der dieser Artikel erschienen ist, war dem Autismus gewidmet – eine empfehlenswerte Lektüre.

• Emily Perl Kingsleys Parabel »Willkommen in Holland« findet sich an vielen Stellen im Internet, zum Beispiel hier: http://www.our-kids.org/Archives/Holland.html [Zuletzt aufgerufen am 01.02.2017]

• Die kritische Antwort auf »Willkommen in Holland« findet sich unter: http://www.angelfire.com/in4/farewelltoholland/ [Zuletzt aufgerufen am 01.02.2017]

Thassos – Sprache

• Michael Rutters and Susan Folsteins Studie »Infantile Autism: A Genetic Study of 21 Twin Pairs« wurde zuerst 1977 in der Zeitschrift Journal of Child Psychology and Psychiatry veröffentlicht. Sie ist seit dem 7. Dezember 2006 auch online zu lesen: http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1469- 7610.1977.tb00443.x/full [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

260 • Andrew Solomon erwähnt zum Beispiel 279 bereits identifizierte Genmutationen, siehe Andrew Solomon: Far from the Tree (2012), S. 759.

• Siehe Temple Grandin: Thinking in Pictures (1996).

• Zu näheren Informationen über das Bildkommunikationssystem PECS siehe Andrew Bondy und Lori Frost: PECS. The Picture Exchange Communication System. Training Manual (1994).

• Hugo von Hofmannsthal ist zitiert aus der Ausgabe des Jahres 2001 von Augenblicke in Griechenland [Original 1908]. Der Text ist im Rahmen des Gutenberg Projektes auch online zu lesen: http://gutenberg.spiegel.de/buch/1008/1. [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017] Dort findet sich auch der Brief des Lord Chandos an Francis Bacon [Original 1902]: http://gutenberg.spiegel.de/buch/997/1 [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

Hiddensee – Elternsein

• Das Buch Foundations for Self-Awareness: An Exploration through Autism (2006) von Peter Hobson et al. hat mich zuerst auf das Thema der veränderten Wahrnehmung von Selbst versus Außen gestoßen. Auch die Entwicklungspsychologin Uta Frith schreibt über das instabile Selbst als zentrales Problem, siehe zum Beispiel ihr Buch Autism. A very short introduction (2008), S. 101f.

• Die Therapeutin Kristin Kaifas-Tennyson schreibt über Distanzierungsstrategien: »Die meisten Menschen denken, dass man sich von einer Situation distanzieren kann, wenn nötig. Dieses ist aber oft gerade nicht der Fall, weil wir Gefühle nicht einfach an- und abstellen können.« Übersetzt aus ihrem Artikel

261 »Patience – The Least Important SuperPower«, veröffentlicht in: Embracing Autism (2008) von Robert Parish & Friends, S. 35. Insgesamt ein empfehlenswertes Buch.

• Zu näheren Informationen über das Programm »Treatment and Education of Autistic and related Communication-handicapped Children« (TEACCH) siehe Gary Mesibov, Victoria Shea und Eric Schopler: The TEACCH Approach to Disorders (2004).

Rhodos – Epilepsie

• Zu näheren Informationen über Epilepsie siehe Ilo E. Leppik: Contemporary Diagnosis and Management of the Patient with Epilepsy (2001). Zu näheren Informationen über die Ketogene Diät siehe John M. Freeman et al.: The Ketogenic Diet. A Treatment for Epilepsy (2000).

Côte d’Azur – Fernand Deligny

• Der französische Sonderweg in Bezug auf den Autismus zeigte bis ins 21. Jahrhundert Nachwirkungen: Nach Schätzungen von Autisme France besuchten noch 2003 bis zu 80% der schwer autistischen französischen Kinder keine Schule. Siehe PDF (auf Französisch): http://www.autisme- france.fr/offres/file_inline_src/577/577_A_14682_1.pdf Im Jahr 2004 veröffentlichte der Europarat eine Entscheidung des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte, wonach Frank­ reich seine Bildungsaufgabe gegenüber autistischen Kindern gemäß der Europäischen Sozialcharta nicht erfülle. Diese

262 Entscheidung bestätigte die Beschwerde von Autism Europe gegen die französische Regierung, siehe Pressemitteilung (auf Englisch): http://www.autismeurope.org/files/files/aevsfrance.pdf [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017] Zu näheren Informationen über Autismus in Frankreich siehe auch Liz Ditz: A Culture of Abuse: Autism Care in France (2012). Ihr Artikel erklärt auch die invasive Behandlungsmethode »Le Packing«, die seit Jahren von Autism Europe kritisiert wird. http://www.thinkingautismguide.com/2012/01/culture-of- abuse-autism-care-in-france.html [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Die Zitate von Fernand Deligny stammen alle aus seinem Buch Ein Floß in den Bergen (1980). Die Zitate von Jacques Lin stammen alle aus seinem Buch Das Leben mit dem Floß in der Gesellschaft autistischer Kinder (2004).

• Teile der Filme Le moindre geste sowie Ce gamin, là kann man auch auf YouTube ansehen.

• Zur poetischen Sprache Delignys: Die Unterschiede in der Intensität und Frequenz der sich wiederholenden Gesten bei den autistischen Kindern beschrieb er zum Beispiel auch als driftende Gesten (geste de dérive) und steuernde Gesten (geste dérive).

Mallorca – Diagnoseanstieg

• Sandrine Bonnaire: Ihr Name ist Sabine. Dokumentarfilm aus dem Jahr 2007.

• Das Zitat von Ernst Cassirer stammt aus: Versuch über den Menschen. Eine Einführung in eine Philosophie der Kultur (1990), S. 63.

263 • Die Schätzung von Fombonne stammt aus seiner Studie Autism and associated medical disorders in a French epidemiological survey (1997).

• Die Prävalenzzahlen der amerikanischen Gesundheitsbehörde American Center for Disease Control and Prevention finden sich auf der Website des CDC: http://www.cdc.gov/ncbddd/autism/data.html [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017] Zu näheren Informationen über das Thema Prävalenz siehe auch Michael Rutter: Incidence of Autism Spectrum Disorder (2005) sowie Lorna Wing und David Potter: The Epidemiology of Autistic Spectrum Disorders: Is the Prevalence Rising? (2002).

• Das Zitat von Hillary Clinton, die in Bezug auf den Autismus von einer nationalen Gesundheitskrise sprach, stammt aus dem Artikel »Clinton Would Boost Autism Funding« von Amy Lorentzen in der Washington Post vom 25. November 2007.

• Zum Thema Autismus und Impfungen: Bis zum Jahr 2001 ent­ hielten Impfstoffe in den USA den Konservierungsstoff Thiomersal, der immer wieder in Verdacht gestellt wurde, zum Autismus beizutragen. Zahlreiche Studien konnten keinen Beleg für die Schädlichkeit von Thiomersal finden, dennoch wurde der Stoff aus den Impfungen entfernt. Eine Studie aus Kalifornien hat gezeigt, dass sich nach dem Entfernen des Impfzusatzstoffes Thiomersal die Prävalenzzahlen des Autismus allerdings nicht re­ duziert haben, siehe Michael Fitzpatrick: Defeating Autism. A Damaging Delusion (2008), S. 27. Auch Impfungen an sich standen immer wieder unter Ver­ dacht. Mehrere Studien, die einen Zusammenhang mit Autismus nahe legten, wurden dabei nachweislich manipuliert und daher zurückgezogen. Keine einzige Studie konnte den Nachweis

264 bestätigen. Unseriösen Ärzten wurde die Lizenz zum Praktizieren entzogen. Der britische Arzt Andrew Wakefield, damals angestellt an einem Londoner Krankenhaus, hatte 1995 die Theorie entwickelt, dass das Masernvirus (nicht der Impfzusatzstoff) in der MMR- Impfung Autismus verursachen könnte. Der Grund für diese An­ nahme ergibt sich vor allem aus der Tatsache, dass sich der Autis­ mus eines Kindes häufig um das Lebensalter von 15 Monaten herum erstmals wahrnehmbar zeigt (beispielsweise durch Sprach­ verlust und stagnierende oder rückläufige Entwicklung), und zu eben dieser Zeit auch die MMR-Impfung vorgenommen wird. Das zeitliche Zusammentreffen zweier Umstände bedeutet aller­ dings nicht automatisch einen kausalen Zusammenhang. Zu­ nächst einmal war Wakefields Theorie ein klassischer Fehlschluss post hoc, ergo procter hoc. Der Autismusforscher Paul Offit beschreibt das zentrale Pro­ blem für die Wissenschaft so: »Wissenschaftler können nicht fest­ stellen, warum etwas ein Problem ist (indem sie die Effekte in Labors untersuchen), bis sie überhaupt festgestellt haben, dass etwas ein Problem ist (durch epidemiologische Studien).« Gemeinsam mit einigen Kollegen führte Wakefield eine Studie mit elf Jungen und einem Mädchen im Alter zwischen drei und zehn Jahren durch. An den Kindern wurden zahlreiche Untersu­ chungen durchgeführt (u.a. MRT, Hirnstrommessung, Endoskopien und Lumbalpunktion). Wakefield stellte fest, dass alle 12 Kinder gastrointestinale Symptome zeigten, die mit Autismus in Verbindung gebracht werden. Wakefield sagte zwar aus, dass er eine kausale Verbindung zwischen der Impfung und dem Autismus nicht nachweisen konnte, warnte aber vor einem möglichen Autismusanstieg, sollte eine kausale Verbindung beste­

265 hen. Vor der Veröffentlichung seiner Studie lag die MMR- Impfquote in Großbritannien bei 92% und fiel danach sukzessive auf 80% ab. In der Folge gab es steigende Fälle von Masern­ infektionen und es starben auch Kinder an Masern. In weiteren Studien konnten die Ergebnisse der Erststudie nie wieder nachgewiesen werden, daraufhin zogen zehn der 13 Co- Autoren ihre Schlussfolgerungen zurück. Es stellte sich zudem heraus, dass in der Erststudie nur bei einem einzigen Kind die Autismussymptome nachweislich erst nach der Impfung begonnen hatten. In den anderen Fällen hatte man sich auf die subjektiven Beobachtungen der Eltern berufen und teils sogar ignoriert, dass in den medizinischen Akten der Kinder schon vor der Impfung Sorgen über die Entwicklung notiert worden waren. Je mehr Wakefield einer genaueren Beobachtung unterzogen wurde, umso untauglicher schienen seine Ergebnisse. Bald stellte sich zudem heraus, dass Wakefield – noch bevor er die Erststudie begonnen hatte und ohne die Eltern davon zu informieren – ein Patent für einen alternativen Impfstoff beantragt hatte. Auch hatte er von einem Anwalt, der eine Impfschadenklage vertrat, 500.000 Dollar für die Untersuchung einer Verbindung zwischen der MMR-Impfung und Autismus erhalten. Im Juli 2007 beschäftigte sich die britische Ärztekammer schließlich mit dem Fall. Bei Sichtung der Unterlagen fiel auf, dass Wakefield für seine invasiven gastrointestinalen und neurologischen Untersuchungen gegenüber den Eltern medizinische Notwendigkeit als Grund angegeben hatte, während die Überweisungen an die Gastroenterologie keinen solchen Vermerk enthielten und lediglich eine Nachforschung zur möglichen Rolle der MMR-Impfung als Grund für die Untersuchungen nannten. Außerdem hatte Wakefield auf sehr

266 unorthodoxe Weise eine Kontrollgruppe für seine Studie etabliert: Auf der Geburtstagsfeier seines Sohnes hatte er den Kindern, die zu Gast waren, ohne vorheriges Einverständnis der Eltern Blut abgenommen und jedem Kind dafür eine Belohnung von fünf Pfund gezahlt. Bei einer Konferenz in Kalifornien auf diese ethische Verfehlung angesprochen, zeigte Wakefield kein Unrechtsbewusstsein, sondern stellte in Aussicht, auch in Zukunft auf solche Weise an Forschungsmaterial gelangen zu wollen. Am 28. Januar 2010 entschied die britische Ärztekammer, dass Dr. Andrew Wakefield im Versuch des Nachweises einer Verbindung zwischen Impfungen und Autismus in seinen Studien »rücksichtslos, unethisch und unverantwortlich« gehandelt habe, woraufhin The Lancet, Veröffentlicher der Studie von 1998, die Veröffentlichung am 2. Februar 2010 offiziell zurückzog. Im Mai 2010 wurde Wakefield von der britischen Ärztekammer die Lizenz zum Praktizieren in Großbritannien entzogen. Seine Anstellung beim Royal Free Hospital in Großbritannien hatte er allerdings schon im Dezember 2001 zugunsten unkonventioneller Behandlungsmethoden aufgegeben, die er seither an Privatkliniken in Florida und Texas bei autistischen Kindern durchführt. Andrew Wakefield spricht noch heute regelmäßig auf Konferenzen: seit seiner Diskreditierung in Fachkreisen allerdings nunmehr auf Elternkonferenzen. 2005 veröffentlichte Robert Kennedy, Jr. in der »Huffington Post« einen Artikel, der auch in den Magazinen »Salon« und »Rolling Stone« veröffentlicht wurde: Deadly Immunity. Kennedy schloss sich darin medienwirksam den Impfgegnern an und schrieb, es gebe »Hunderte von Studien in Dutzenden Ländern«, die unmissverständlich bewiesen, dass Impfungen Autismus

267 verursachen können. Leider blieb er den Nachweis dieser Studien schuldig. Im Januar 2011 zog »Salon« die Veröffentlichung von Kennedys Artikel zurück. Zu Andrew Wakefield insgesamt siehe auch die gute Zusammenfassung von Alex Hannaford: Andrew Wakefield: Autism Inc. (2013). Die zweite Studie, die angeblich erfolgreich eine Verbindung zwischen den Impfungen und Autismus feststellte, kam von Mark Geier und seinem Sohn David im Jahr 2006. Es stellte sich aber auch hier heraus, dass die Studie von Impfgegnern interessengeleitet war. Die Glaubwürdigkeit von Mark Geier wurde so erschüttert, dass man im Januar 2007 auch seine Studie offiziell zurückzog, im April 2011 wurde auch ihm die Lizenz zum Praktizieren entzogen. Kurz zuvor waren die beiden Geiers in einem Gerichtsverfahren über Entschädigungszahlungen wegen Impfschäden noch als Experten gelistet worden. Obwohl sie nie zur Aussage gerufen wurden, stellten sie zwischen 250 und 400 Dollar pro Stunde für Vorbereitungen und Befragungen in Rechnung, insgesamt 600.000 Dollar. Dies nur ein Beispiel für den Profit, den professionelle Impfgegner mit ihren Kampagnen machen. In Großbritannien hatten sich 1.000 Eltern für eine Klage zusammengeschlossen, das Gerichtsverfahren dauerte fünf Jahre und wurde im September 2003 mangels Beweisen eingestellt. Andrew Wakefield, Paul Shattock und andere professionelle Akteure sagten im Laufe des Verfahrens als Experten aus und verdienten gemeinsam mit den Anwälten 15 Millionen Pfund, während die Familien leer ausgingen. Neben dem finanziellen Aspekt ergeben sich auch ethische Fragen. 2003 wurde eine britische Gruppe von sieben autistischen

268 Kindern in die USA geflogen, um dort eine Lumbalpunktion zur Überprüfung von Masernviren in der Rückenmarkflüssigkeit vornehmen zu lassen – eine Prozedur, die ihnen in Großbritannien aus ethischen Gründen verwehrt wurde, weil der schwere Eingriff durch keinerlei medizinische Hinweise gerechtfertigt ist. Im März 2008 sorgte der Fall der neunjährigen Hannah Poling für Aufsehen. Eine Impfung hatte bei ihr einen bis dahin nicht diagnostizierten Mitochondrialschaden derart verstärkt, dass sich starke autistische Züge bei dem Mädchen ausprägten. Die amerikanische Gesundheitsbehörde erkannte den Impfschaden an und sofort versuchten die Impfgegner, diesen Fall für sich zu vereinnahmen, auch wenn der Autismus nur mittelbar über den schon vorher existierenden Mitochondrialschaden entstanden war. Als Präzedenzfall scheint diese einmalige Verkettung von Umständen zwar eher ungeeignet für verallgemeinernde Aussagen über den Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus, aber trotzdem wird der Fall Hannah Poling bis heute viel diskutiert und von Impfgegnern immer wieder als Beispiel angeführt. Das amerikanische Bundesgericht entschied am 12. Februar 2009 drei repräsentative Fälle des so genannten Omnibus Autism Proceeding, einer Sammlung von mehr als 5.500 Klagen, die die MMR-Impfung als Ursache für Autismus behaupten und Entschädigungen fordern. Auf fast 700 Seiten entschied das Gericht in den drei repräsentativen Urteilen, dass keine Verbindung zwischen der MMR-Impfung und Autismus nachgewiesen werden konnte. Doch die Geiers, Andrew Wakefield und David Kirby – der 2005 das Buch Evidence of Harm veröffentlichte – forschen weiter an dem Beweis ihrer Theorien.

269 Empfehlenswerte detaillierte Auseinandersetzungen mit den Fehlschlüssen und Schwächen in den Theorien der Impfgegner finden sich bei Michael Fitzpatrick: Defeating Autism. A Damaging Delusion (2008) und bei Seth Mnookin: The Panic Virus (2011). Mit Donald Trump ist ein Präsident ins Weiße Haus eingezogen, der den Impfschadentheorien anhängt. Er twitterte: »Gesundes Kind geht zum Arzt, bekommt eine massive Mehrfachimpfung gespritzt, fühlt sich danach nicht gut und verändert sich – AUTISMUS. Viele solcher Fälle!« Übersetzt aus: https://twitter.com/realdonaldtrump/status/4495252685298155 52?lang=de [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Die Annahme des Psychologen Tony Attwood, dass bisher nur 50% der Asperger-Autisten diagnostiziert werden, stammt aus dessen Buch Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom, S. 58.

• Das Argument von Majia Holmer Nadeson ist zitiert aus ihrem Buch Constructing Autism (2005).

• Roy Richard Grinkers Erfahrungen mit Autismus in verschie­ denen Ländern sind in seinem Buch (2008) nach­ zulesen.

• Die erwähnten Studien aus den USA und Finnland, die zeigen, wie stark die Prävalenz von der Definition der Diagnosekriterien abhängt, werden von Grinker ausführlich besprochen, siehe Unstrange Minds (2008), S. 138 und S. 158.

• Die deutsche Studie ist zitiert nach Michael Kusch und Franz Petermann: Entwicklung autistischer Störungen (1991), S. 35.

• Der Fehler in den Korrekturfahnen wird im Artikel »Are you on it?« von Benjamin Wallace erklärt, New York Magazine, Ausgabe vom 28. Oktober 2012. Wallace zitiert den Vorsitzenden der

270 DSM-Arbeitsgruppe Fred Volkmar, Leiter der Kinderpsychiatrie am Yale-New Haven Children's Hospital: »Ein Redakteur ersetzte unds mit oders, eine harmlos scheinende, redaktionelle Änderung, die aber zu einer signifikanten Ausweitung der Diagnose führte.«

• Die Informationen zu Komorbiditäten stammen aus Liane Kaufman et al.: The genetic basis of non-syndromic intellectual disability: a review (2010).

• Zur Verbreitung des Förderbedarfs siehe: Bildung in Berlin und Brandenburg 2008. Ein indikatorengestützter Bericht zur Bildung im Lebenslauf (2008).

• Das Kapitel über den starken Einfluss der Deinstitutionalisierung auf die Entwicklung der Diagnosezahlen findet sich in Gil Eyals Buch The Autism Matrix (2010) ab S. 98. Auch die Londoner Psychiaterin Joanna Moncrieff hat sich mit den politischen Einflüssen auf Diagnosen befasst, siehe ihren Artikel Psychiatric diagnosis as a political device (2010).

• Ein weiterer Einflussfaktor: Stuart Murray weist in seiner Autismusstudie außerdem darauf hin, dass das Konzept des Normalen erst Mitte des 19. Jahrhunderts in den Vordergrund trat, als es das Konzept des Idealen ersetzte. Selbst das Streben nach Normalität kann also als junge Kategorie begriffen werden. Die Ausführungen von Stuart Murray finden sich in seinem Buch Representing Autism (2008), S. 14.

• Eine grundsätzliche Anmerkung zur Kontroverse, ob es eine Autismus-Epidemie gibt: Eltern nützt diese Diskussion wenig. Was auch immer der Auslöser ist, sie haben ein autistisches Kind und im Vordergrund stehen für sie Themen, die dazu beitragen, gut damit leben zu können (Hilfe bei der Betreuung etc.). Mehrfach ist mir das Argument begegnet, dass die

271 Autismusdiagnosen vielleicht auch deshalb ansteigen, weil den Eltern diese Diagnose lieber sei als die einer geistigen Behinderung. Unter den zahlreichen Begründungen für einen Diagnoseanstieg scheint mir diese am wenigsten nachvollziehbar. Zunächst einmal gibt es viele Autisten ohne geistige Behinderung. Selbst wenn aber, wie auch bei John, eine geistige Behinderung dazukommt, ist dies doch eher klar ein Zusatz und kein Ersatz. Kognitive Einschränkungen sind etwas anderes als die komplett veränderte Wahrnehmungsverarbeitung beim Autismus. Hätte John »nur« eine geistige Behinderung gehabt, aber ein normales Schmerzempfinden, um nur ein Beispiel zu nennen, wäre seine Beeinträchtigung erheblich leichter gewesen. Ich kann nicht sehen, warum Autismus eine vorzuziehende Diagnose sein sollte.

Connemara – Therapien

• John Bruer ist zitiert nach The Myth of the First Three Years: A New Understanding of Early Brain Development and Lifelong Learning (1999).

• Die signifikanten Unterschiede in der Verlässlichkeit von Diagno­ sen nach Lebensalter 36 Monate im Gegensatz zum Lebensalter 24 Monate sind zitiert nach Uta Frith: Autism. A very short introduction (2008), S. 18. Besonders problematisch sind die extremen Frühdiagnosen zu­ dem, wenn Eltern aus einer Fehldiagnose die Meinung ableiten, sie hätten ihr Kind in der Zwischenzeit vom Autismus geheilt, obwohl das Kind nie wirklich autistisch gewesen ist, sondern falsch positiv diagnostiziert wurde.

272 • Zu Studien über Veränderungen im Gehirn siehe zum Beispiel: Purkinje cell size is reduced in cerebellum of patients with autism von Hossein Fatemi et al. (2002), Neuropathology of Infantile Autism von Thomas Kemper und Margaret Bauman (1998) sowie The Neuropathology of Autism von (2007).

• Patrick Levitt und das Genomprojekt sind zitiert nach Michael Fitzpatrick: Defeating Autism. A Damaging Delusion (2009), S. 80.

• Zur Größe der Gehirne siehe An MRI study of brain size in autism von Joseph Piven et al. (1995) sowie Head Circumference and Height in Autism: A Study by the Collaborative Program of Excellence in Autism von Janet Lainhart et al. (2006).

• Eine Zeitlang war die Hypothese des Einflusses von Spiegel­ neuronen sehr populär. Die Spiegelneuronen-Theorien haben sich allerdings als eher defizitär erwiesen, siehe zum Beispiel: Interpersonal motor resonance in autism spectrum disorder: evidence against a global 'mirror system' deficit von Peter Enticott et al. (2013).

• Theorien von Kontextblindheit und Unterkonnektivität sind noch heute recht populär, siehe etwa Marcel Adam Just und Timothy Keller: Is 'underconnectivity' in autism specific to frontal cortex? (2013). • Zu den intensiven Frühinterventionen zählt in Deutschland ver­ stärkt die Verhaltenstherapie ABA (Applied Behavior Analysis). Die Methode wurde in den 1960er Jahren vom Psychologen Ivar Lovaas in Kalifornien entwickelt. Sie basiert auf B. F. Skinners Behaviorismus. Im Grunde handelt es sich um eine operante Konditionierung. Die autistischen Kinder sollen durch intensive Frühförderung dazu gebracht werden, erwünschte Verhaltens­ weisen zu erlernen.

273 Zu Zeiten von Lovaas arbeitete man noch mit harten Strafen und Elektroschocks, seither wurde die Methode zwar in einer weniger gewalttätigen Form weiterentwickelt, aber sie ist immer noch sehr invasiv. Dies zeigt sich alleine schon daran, dass die Intervention für 30-40 Stunden pro Woche angewendet wird. Die Kinder befinden sich praktisch permanent in Therapie. Zudem gibt es keinen geschützten Raum, da die Therapie auch im eigenen Zuhause stattfindet und von den Eltern als Co- Therapeuten mit durchgeführt wird. Von Befürwortern wird gerne behauptet, ABA sei wissenschaftlich nachgewiesen die wirksamste Methode zur Behandlung von Frühkindlichem Autismus. Das ist ein fragwürdiges Statement, denn randomisierte kontrollierte Doppelblindstudien kann es gar nicht geben. Im Vorfeld kann man das Potential der verschiedenen Kinder nicht abschätzen und so gibt es keine verlässliche Vergleichsgrundlage. ABA hat in den USA eine lange Tradition. Dort kommen mehrere Faktoren zusammen, die ABA begünstigen. Zunächst einmal handelt es sich um eine Gesellschaft, die sehr auf Leistung fokussiert ist. Außerdem gibt es kein starkes Gesundheits- und Sozialsystem. Der Versuch, ABA wissenschaftlich zu etablieren, führte dazu, dass Spezialeinrichtungen entstanden, die zur Betreuung dringend gebraucht wurden. In Deutschland ist die Ausgangslage anders und ABA war hier daher auch lange Zeit uninteressanter. Durch unser stärkeres Sozialsystem (z.B. durch das Pflegegeld) haben wir mehr Möglichkeiten, dass ein Elternteil reduziert oder gar nicht erwerbstätig ist. Und während man ABA in den USA als Finanzierungsargument für Spezialeinrichtungen brauchte, hatten wir in Deutschland durch das heilpädagogische System sowieso

274 schon spezialisierte Einrichtungen. Dazu kommt, dass wir traditionell (seit 1945) keinen so großen Druck einer erfolgreichen Therapierung hatten, weil die Heilpädagogik als Folge unserer Geschichte philosophisch bewusst anders ausgerichtet war. Dass ABA sich in Deutschland in den letzten Jahren so verbreitet, deutet auf einen wachsenden Anpassungsdruck hin.

• Zur medizinhistorischen Einordnung biomedizinischer Interventionen siehe Michael Fitzpatrick: Defeating Autism. A Damaging Delusion (2009). Er weist auch darauf hin, dass die Idee, wir seien durch die Umwelt oder uns selbst verschmutzt, an die christliche Idee des Sündenfalls erinnert. Der Anstieg an Schwermetallausleitungen zwischen den Jahren 2000 und 2005 wird bereits im Vorwort ausgeführt.

• Zu Experimenten mit Stammzellentherapien siehe zum Beispiel: http://www.stemcellmexico.com/ [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Zur Geschichte von Matthew siehe zum Beispiel Orac: Stem cell quackery for autism, revisited (2010). http://scienceblogs.com/insolence/2010/12/16/stem-cell- quackery-for-autism-revisited/ [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017] Einen ähnlichen therapeutischen Optimismus, wie er sich nun oft in Bezug auf Autismus zeigt, hat es früher auch schon in Be­ zug auf andere Behinderungen gegeben, wenn diese aus dem einen oder anderen Grund in den Fokus der Gesellschaft rückten, so etwa die Zelltherapie bei Down-Syndrom in den 1960er und 1970er Jahren.

275 • Bruce Dobkin von der University of California sagte zur Stamm­ zellentherapie: »Es ist extremer Unsinn zu denken, dass diese injizierten Stammzellen im komplexen Nervensystem des Menschen so viel bewirken können, wenn wir noch nicht einmal mit Zellen in Mäusen oder Ratten viel zu bewirken vermögen.« Zitiert und übersetzt nach Louisa Lim: Stem-Cell Therapy in China Draws Foreign Patients (2008). http://www.npr.org/templates/story/story.php? storyId=88123868#88432812 [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Zur Kritik an der Delfintherapie siehe Karsten Brensing et al.: Can dolphins heal by ultrasound? (2003) sowie http://www.wal-und- mensch.de/wum2002/brensing.php [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Informationen zur Vergleichsstudie der Universität Würzburg finden sich hier: http://www.i4.psychologie.uni- wuerzburg.de/mitarbeiter/dr_eva_stumpf/forschungsprojekt_del fintherapie/ [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Siehe auch die kritischen Betrachtungen der gemeinnützigen Organisation zum Schutz von Walen und Delfinen (WDC): http://de.whales.org/themen/delfintherapie-dolphin-assisted- therapy-dat [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017] • Zu Terrance Cottrell siehe zum Beispiel Juliet Williams: Minister charged in death of autistic boy at church healing (2003). • Zu näheren Informationen zu Abu Bakar Tariq Nadama siehe zum Beispiel Mike Stanton: Kerry charged over Tariq’s death (2007).

276 • Das Zitat von Dirk Böttcher stammt aus seinem Artikel Hoffnung in geringer Konzentration (2008). • Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel (2010), S. 313.

• Nähere Informationen zu Implikationen von Labortests bei bio­ medizinischen Interventionen, siehe Michael Fitzpatrick: Autism. A Damaging Delusion (2009), S. 21 und S. 125. • Der Astronom und Autor Carl Sagan machte einen Vertrauens­ verlust in der Gesellschaft als Grund für die zunehmende Ver­ breitung von Pseudowissenschaft aus. Der Vertrauensverlust führe zu einer Abwendung von der Aufklärung und zum wach­ senden Einfluss verschiedener Ausprägungen von Irrationalität, siehe Carl Sagan, Demon-Haunted World: Science as a Candle in the Dark (1996). • Auch der Wissenschaftsjournalist Damian Thompson hat den Vormarsch von Pseudowissenschaft und Verschwörungstheorien ausführlich untersucht. Eine nicht unerhebliche Rolle spielten demnach die Medien, die immer mehr pseudowissenschaftliche Sendungen und Berichte über nicht nachgewiesene Therapie­ methoden verbreiteten, siehe Damian Thompson, Counterknowledge: How We Surrendered to Conspiracy Theories, Quack Medicine, Bogus Science and Fake History (2008).

• Studie von David Gal und Derek Rucker von der Northwestern University: When in Doubt, Shout! Paradoxical Influences of Doubt on Proselytizing (2010).

• Der Autist Rowan, der in Begleitung einer Filmcrew in der Mongolei der Behandlung eines Schamanen unterzogen wurde, ist bekannt geworden durch das Buch seines Vaters, siehe Isaac Rupertson: Der Pferdejunge. Die Heilung meines Sohnes (2011). Das Buch wurde danach auch unter demselben Titel verfilmt.

277 • Nähere Erläuterungen zur Festhaltetherapie finden sich zum Beispiel bei Ute Benz: Gewalt gegen Kinder (2004).

• Zum Educon-Prozess wegen Misshandlung autistischer Kinder siehe zum Beispiel: »Hauptangeklagter im Educon-Prozess droht Haftstrafe« http://www.rp- online.de/nrw/staedte/duesseldorf/hauptangeklagter-im- educon-prozess-droht-haftstrafe-ohne-bewaehrung-aid-1.6445205 [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Michelle Dawsons Vorschlag zur ethischen Evaluation ist zitiert aus ihrem Artikel An Autistic Victory: The True Meaning of the Auton Case (2005). Veröffentlicht unter: http://www.sentex.net/~nexus23/naa_vic.html [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Jim Sinclair: What does being different mean? (2009) http://www.autism-help.org/story-adult-being-different.htm [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

Südtirol – Neurodiversität

• Übersetzt aus Jim Sinclair: Don't mourn for us (1993), siehe: http://www.autreat.com/dont_mourn.html [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Judy Singer zur weiteren Erklärung der Neurodiversität: »Die Wahrnehmung von Autismus als Spektrum beinhaltet den Ruf nach Neurodiversität und denkt diese politische Idee voraus. So, wie andere Kategorien bereits in der Politik verhandelt werden, zum Beispiel Klasse, Gender und Rasse. Das Bewusstsein für neurologische Unterschiede wird helfen, die sozialen Aspekte von

278 Behinderung besser zu verstehen. Die postmoderne Fragmentie­ rung schreitet durch die Neurodiversität voran. Wir haben erlebt, wie sich andere festgeglaubte Überzeugungen in Luft aufgelöst haben. Dazu kommen nun solche, die uns bisher ganz selbst­ verständlich schienen: dass wir alle gleich sehen, fühlen, hören, schmecken und Informationen verarbeiten.« Übersetzt aus ihrem Text: The Birth of Community Amongst People on the Autistic Spectrum: A personal exploration of a New Social Movement based on Neurological Diversity (1998), S. 12f.

• Harvey Blume übersetzt aus: Neurodiversity. On the neurological underpinnings of geekdom (1998).

• Auch ein schönes Beispiel für das neue Selbstbewusstsein: In einer Wissenschaftssendung auf CNN fragte der Neurochirurg Sanjay Gupta den Autisten D.J.: »Sollte man Autismus behandeln?« Und D.J. antwortete: »Ja, mit Respekt.«

• Ari Ne'eman: An Urgent Call to Action: Tell NYU Child Study Center to Abandon Stereotypes Against People With Disabilities (2007).

• Joane Kaufman: Ransom-Note Ads About Children’s Health Are Canceled (2007).

• Robin Shulman: Child Study Center Cancels Autism Ads (2007).

• Jacob Goldstein und Sarah Rubenstein: NYU Bows to Critics and Pulls Ransom-Note Ads (2007).

• Gaynell Payne: Communication Shutdown Day is answered with Autistics Speaking Day (2010).

• Nicole Schusters Zitat stammte von ihrer Website: http://www.nicole-schuster.de/, die inzwischen aber nicht mehr existiert.

279 • Anne Tismer: »Schauspielerei: Ich verachte das jetzt«, Zeitmagazin (2010).

• Tony Attwood: Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom (2008), S. 394.

• Das Asperger-Syndrom wurde in der im Mai 2013 neu erschienenen Ausgabe des Diagnosehandbuchs DSM-5 tat­ sächlich als Begriff entfernt. Die Beeinträchtigungen werden allerdings weiterhin als pathologisch aufgeführt, sie wurden nur unter den Schirm des Autismusspektrums gezogen. Ob mit oder ohne Aspergers Namen, die Kernfrage bleibt: Wo verläuft die Grenze zum Pathologischen?

• Christopher Badcock and Bernard Crespi: Imbalanced genomic imprinting in brain development: an evolutionary basis for the aetiology of autism (2006).

• Zu Simon Baron-Cohens Hypothesen siehe zum Beispiel sein Buch: The Essential Difference: Male And Female Brains And The Truth About Autism (2004). Am 17. Februar 2017 twitterte er: »79.6% der weiblichen Autistinnen haben ein männliches Gehirn und Frauen mit einem männlichen Gehirn haben eine dreifach erhöhte Wahrscheinlich­ keit, Autistinnen zu sein.« Übersetzt von: https://twitter.com/sbaroncohen/status/832490232721371136

• Hans Asperger: Die 'autistischen Psychopathen' im Kindesalter (1944).

• Dinah Murray, Mike Lesser und Wendy Lawson: Attention, monotropism and the diagnostic criteria for autism (2005).

280 • Tweet: »Zwangsläufig ist, dass die Wikipedia-Seiten zum Asperger-Syndrom zu den detailliertesten und am besten sortierten gehören.« Siehe: https://twitter.com/#!/stoffelstab/status/135696214623662081 [Die Tweets dieses Accounts sind in der Zwischenzeit geschützt und nicht mehr allgemein einsehbar]

• Gary Westfahl: Homo Aspergerus: Evolution Stumbles Forward (2006). Siehe: http://locusmag.com/2006/Features/Westfahl_HomoAspergeru s.html [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle – Understanding Media (1995). Siehe auch Oliver Lerone Schultz: McLuhan, Pasteur des Medienzeitalters (2004).

• Georg Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben«, In: Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung. Jahrbuch der Gehe-Stiftung Dresden (1903), S. 185-206. http://gutenberg.spiegel.de/buch/-6598/1 [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Zu Max Weber siehe zum Beispiel Kapitel 6 (»The Specialist and the Cultivated Man: Certificates and the Origin of Ideas in Science«) in Stephen Kalbergs Max Weber: Readings and Commentary on Modernity (2008).

281 • Zu Theodor W. Adorno: »Längst ward dargetan, dass die Lohn­ arbeit die neuzeitlichen Massen geformt, ja den Arbeiter selbst hervorgebracht hat. Allgemein ist das Individuum nicht bloß das biologische Substrat, sondern zugleich die Reflexionsform des ge­ sellschaftlichen Prozesses, und sein Bewusstsein von sich selbst als einem an sich Seienden jener Schein, dessen er zur Steigerung der Leistungsfähigkeit bedarf.« Minima Moralia (1951), S. 307.

• Majia Holmer Nadeson: Constructing Autism (2005), S. 208f.

• Specialisterne: http://specialisterne.com/ [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Autworker: http://autworker.de/ [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Auticon: http://auticon.de/ [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Zu näheren Informationen über die Kooperation von Autisten und Wissenschaftlern siehe: http://autismus-forschungs- kooperation.de/ [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Steve Silberman zitiert und übersetzt nach: The Geek Syndrome (2001). Veröffentlicht unter: http://www.wired.com/wired/archive/9.12/aspergers_pr.html [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Temple Grandin zitiert und übersetzt nach Charlotte Moore: Thoughts About the Autism Label: A Parental View (2009).

282 • Zu der Initiative von SAP, Hunderte von Autisten einstellen zu wollen, siehe zum Beispiel Martin Motzkau: Super-Talente mit Überraschungseffekt (2013). Ich habe mich zu dieser Marketingkampagne im Deutschland­ radio Kultur am 27. Mai 2013 kritisch geäußert: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/2121211/ [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Susanne Schäfers Zitat stammt aus ihrem Vortrag Mein Leben mit Autismus (1998), S. 49.

• Zitat von Michael Fitzpatrick übersetzt aus: Autism. A Damaging Delusion (2009), S. 36.

• Donna Haraway: »Bei ihren Bemühungen, angesichts tödlicher Erkrankung Leben zu erhalten und Schmerzen zu lindern, betei­ ligen sich Menschen mit AIDS an vielen Prozessen der Erkenntnisgewinnung. Das erfordert den komplizierten Wechsel von Kodes, den Brückenschlag zwischen Sprachen sowie Bündnisse zwischen Welten, die vordem in Trennung gehalten wurden.« Siehe Donna Haraway: The Promises of Monsters: A Regenerative Politics for Inappropriate/d Others (1992), S. 69.

• Zur weiteren Kritik am Konzept der Neurodiversität: Einige Kritiker bewerten die Einstellung der Akzeptanz als kognitive Dissonanz, also letztlich als eine Art, sich mit seinem Schicksal anzufreunden. Diese Interpretation erinnert an Nietzsche, nach dessen Vorstellung sich ein starker Geist die Welt auf sich zu interpretiere und sie sich damit einverleibe. Krankheiten sah Nietzsche als Herausforderungen, die man nicht nur akzeptieren müsse, sondern sogar förderlich in die Interpretation des eigenen Lebens integrieren solle. Es ging Nietzsche dabei um das Bejahen der ewigen Kreisläufe von Tod und Leben, Lust und Schmerz,

283 Leid und Freude. Kognitive Dissonanz wäre in diesem Sinn kein Gegenargument zum Konzept Neurodiversität.

• Eine grundsätzliche Anmerkung zur Wertschätzung: Leider fin­ den sich noch oft veraltete Beschreibungsrhetoriken, gerade in den Medien. Es wird zum Beispiel immer noch oft das Verb leiden für die eigentlich neutrale Feststellung einer Diagnose benutzt, etwa: »XY ist sieben Jahre alt und leidet an Autismus.« Viele Autisten und Angehörige – und das schließt mich ein – schätzen eine solche Vereinnahmung nicht.

Südschweden – Inklusion

• Die UN-Behindertenrechtskonvention findet sich hier: https://www.un.org/development/desa/disabilities/convention- on-the-rights-of-persons-with-disabilities.html [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Die deutsche Übersetzung wurde fast ohne Beteiligung der Be­ troffenen oder ihrer Vertreter verfasst. Einige Behindertenrechts­ organisationen versuchten zu intervenieren, um wenigstens die offensichtlichsten Fehler zu korrigieren. Erfolglos. Deshalb wurde eine Schattenübersetzung verfasst, die hier zu lesen ist: http://www.netzwerk-artikel-3.de/index.php? view=article&id=93:international-schattenuebersetzung [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

284 Normandie & Elsass – Geschichte

• Alois Scholz zitiert aus Heinz Eberhard Gabriel und Wolfgang Neugebauer: Vorreiter der Vernichtung? Eugenik, Rassenhygiene und Euthanasie in der österreichischen Diskussion vor 1938 (2005), S. 59.

• Zu näheren Informationen darüber, wie Asperger durch seine Diagnosen die Kinder u.a. auch vor der Eugenik der National­ sozialisten schützen wollte, siehe Brita Schirmer: Autismus – Von der Außen- zur Innenperspektive (2003). http://www.dr-brita-schirmer.de/pdf/artikel12.pdf [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

Valencia – Kultur

• Gilles Trehin: Urville (2006).

• Zu James Henry Pullen siehe zum Beispiel: https://en.wikipedia.org/wiki/James_Henry_Pullen [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Werke von George Widener wurden zum Beispiel im Museum Hamburger Bahnhof in Berlin vom 25. Januar bis 16. Juni 2013 eigenständig gezeigt.

• Daniel Tammet: Born on a Blue Day. Inside the Extraordinary Mind of an Autistic Savant (2007). • Der Begriff Savant geht zurück auf den Neurologen John Langdon Down, der 1887 von so genannten Idiot Savants sprach.

• Hans Asperger zitiert nach Michael John Carley: Asperger’s from the Inside Out (2008), S. 219.

285 • Zur Verbindung von Autisten und heiligen Narren siehe Uta Frith: Autism: Explaining the Enigma (2003).

• Zum Film Der Wolfsjunge: Die Korrespondenz zwischen François Truffaut und Fernand Deligny ist online zu lesen. Truffaut schrieb über Janmari als Vorbild für seinen Film: »Je suppose que votre garçon est trop fragile pour qu’il soit question d’envisager de le faire tourner et de lui faire jouer le rôle de 'l'enfant sauvage', mais la description que vous me donnez de son comportement est tellement proche de ce qu’Itard a décrit dans ses textes et de ce que nous voulons obtenir dans le film que je suis extrêmement troublé. Je crois, en tous cas, que votre garçon devrait nous servir de modèle à la fois pour choisir le garçon qui jouera effectivement le rôle et pour nous inspirer un style de comportement corporel.« http://1895.revues.org/281#tocto2n15 [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017] Fernand Deligny hatte überhaupt einen nicht zu unter­ schätzenden kulturellen Einfluss. Auch die Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari waren zum Beispiel stark von Deligny beeinflusst. An zentralen Stellen ihres Konzeptes der Rhizome bezogen sie sich auf Zeichnungen von Deligny und nutzten seine Begriffe (Karte‚ Konsistenzplan, Fluchtlinien, Plateau). Einflussreiche künstlerische und theoretische Werke Frankreichs sind durch Fernand Deligny eng mit dem Nachdenken über Autismus verbunden.

• Conrad Aiken: Silent Snow, Secret Snow (1934).

• Amit Pinchevski: Bartleby’s Autism. Wandering along Incommunicability (2011). http://muse.jhu.edu [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

286 • Der britische Literatur- und Filmwissenschaftler Stuart Murray hat Autismus in einer ganzen Reihe von literarischen Werken analysiert, zum Beispiel bei J.M. Coetzee, Joseph Conrad, Anita Desai, Charles Dickens und William Faulkner. Der Autismus wird meistens als Werkzeug benutzt. Uns begegnet damit in gewisser Weise das Argument der Prothese wieder. Wie das Internet den Autisten als Prothese dient, so dienen die Autisten in der Literatur als Prothese für die Geschichte. Murray schreibt: »Diese Romane scheinen uns zu sagen, dass Autismus unendlich faszinierend ist, aber nur solange uns die Charakterisierung dazu dient, sie für den Blick auf etwas anderes zu nutzen.« Zitiert und übersetzt aus: Representing Autism (2008), S. 98.

• Eine ganz besondere Verbindung gibt es zwischen dem Autismus und Science Fiction. Der Journalist Steve Silberman beschrieb das technologisch interessierte Sci-Fi-Universum als autistischen Spielplatz, zitiert nach George Dvorsky: How Autism is Changing the World for Everybody. 26. Juli 2012. http://io9.com/5928135/how-autism-is-changing-the-world-for- everybody [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Douglas Coupland: microserfs (1996).

• Douglas Coupland: jPod (2007).

• Stieg Larsson: Die Millenium-Trilogie: Verblendung – Verdammnis – Vergebung (2010).

• Niall Ferguson: America has Asperger’s (2004).

• Mark Haddon: The Curious Incident of the Dog in the Nighttime (2004).

• Ian Hacking: How we have been learning to talk about autism (2009).

287 • Zur weiteren kulturgeschichtlichen Einordnung: Der Philosoph Thomas Hobbes beschrieb im siebzehnten Jahrhundert in Leviathan den Menschen in seinem natürlichen Zustand als gewalttätig, unproduktiv, einsam und ähnlich einem Tier. Der Dichter John Dryden bevorzugte etwa zur selben Zeit eine gegen­ teilige Idee. In seinem Heldenepos The Conquest of Granada begegnet uns der noble Wilde, der eine wahrhaftige und unab­ hängige Existenz in der Natur lebt, frei von den Manipulationen der Zivilisation und der Kultur. Interessanterweise könnte man den Autismus an beiden Enden dieses Menschseins platzieren, ihn ebenso als rohe Kraft wahrnehmen wie als wahre Natur. Der Autismus eignet sich als Bild für dieses paradigmatische Spannungsverhältnis des Menschen. Siehe Thomas Hobbes: Leviathan [1651]. http://www.gutenberg.org/files/3207/3207-h/3207-h.htm [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017] und John Dryden: The Conquest of Granada [1672]. http://www.gutenberg.org/files/15349/15349-h/15349-h.htm [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

Prag & Theresienstadt – Ethik

• Zum weiteren historischen Kontext der Rassenbiologie siehe zum Beispiel auch: »Die Rassenbiologie war tatsächlich so internatio­ nal wie heute die Biopolitik betreibende Humanbiologie.« JustIn Monday: »Eine Art von Verschwinden. Unter Umständen eine Verteidigung Foucaults gegenüber seinen LiebhaberInnen« in: Das Leben lebt nicht, die röteln (2006), S. 177. In den 1860er Jahren hatten sich sowohl liberale als auch sozialistische Kreise verstärkt für Charles Darwins Theorien der

288 natürlichen Auslese und der Überlegenheit des Stärkeren interessiert. Sie dienten als Argument gegen die Aristokratie: Die Position in der Gesellschaft sollte nicht mehr von der Geburt be­ stimmt werden, sondern von der eigenen Leistung. Neben der Industrialisierung trugen auch diese Theorien zu einem tief­ greifenden ideologischen Umschwung bei: zur Fokussierung auf Produktivität.

• Die Hartheim-Statistik kann man online einsehen: https://www.mauthausen-memorial.org/de [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017] • Götz Aly: Die Belasteten. Euthanasie 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (2013).

• Zu Dorothy Spourdalakis, die ihren Sohn Alex tötete, siehe zum Beispiel Matt Carey: Whitewashing the murder of Alex Apourdalakis (2013): https://leftbrainrightbrain.co.uk/2013/08/31/whitewashing-the- brutal-murder-of-alex-spourdalakis/ [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017] sowie zur Entlassung aus der Haft im Dezember 2016: http://abc7chicago.com/news/mother-godmother-who-killed- autistic-teen-released-from-prison/1656353/ [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Zu weiteren Fällen siehe zum Beispiel auch Kevin Leitch: Indefensible and Unprotested (2006) sowie die vielen Einträge in der Kategorie »McCarron« auf der Website der Behinderten­ rechtsinitiative Not Dead Yet: http://www.notdeadyet.org/category/mccarron [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

289 • Die von Kathleen Seidel initiierte und verwaltete Liste von er­ mordeten Autisten ist zu sehen unter: http://www.neurodiversity.com/murder.html [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Zum Remmelink-Report siehe zum Beispiel Paul Van Der Maas et al.: Euthanasia and other medical decisions concerning the end of life (1991). http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/1715962? dopt=Abstract [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017] Vorbehalte gegenüber den Ergebnissen des Remmelink- Reports gibt es vor allem wegen der Vermutung, dass Ärzte nicht alle Fälle mitteilen. • Die Entwicklung der Euthanasiepraxis in den Niederlanden wird zitiert nach Bregje Onwuteaka-Philipsen et al.: Euthanasia and other end-of-life decisions in the Netherlands in 1990, 1995, and 2001 (2003) sowie Bregje Onwuteaka-Philipsen et al.: Trends in end-of-life practices before and after the enactment of the euthanasia law in the Netherlands from 1990 to 2010: a repeated cross-sectional survey (2012). • Zu näheren Informationen zum Groningen-Protokoll siehe zum Beispiel Eduard Verhagen et al.: The Groningen Protocol – Euthanasia in Severely ill Newborns (2005). • Dass 90% der Frauen eine Schwangerschaft abbrechen, wenn das Kind pränatal mit Down-Syndrom diagnostiziert wird, zitiert nach Joan Morris und Anna Springett: The National Down Syndrome Cytogenetic Register for England and Wales 2011 Annual Report (2013). • Andrea Trumann: Das Leben lebt nicht (2006), S. 30.

290 • Zu Walter Jens siehe das Interview von Arno Luik mit Inge Jens: Ich sehe seinem Entschwinden zu (2008). http://www.stern.de/lifestyle/leute/inge-jens-ich-sehe-seinem- entschwinden-zu-616970.html [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017] • Michael Foucault: Sexualität und Wahrheit (1987), S. 115. • Giorgio Agamben: Homo Sacer (2002), S. 156.

Berlin – Autismus als Metapher

• Frank Schirrmacher: Ego. Das Spiel des Lebens (2013).

• Jakob Augstein: »Im Zweifel links: Ohne Zweifel links.« In: Spiegel, 11. Februar 2013. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/jakob-augstein- ueber-frank-schirrmachers-neues-buch-ego-a-882547.html [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Zur post-autistischen Ökonomie siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Plurale_Ökonomik [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017] sowie: http://www.paecon.net/HistoryPAE.htm [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

• Zur autistischen Architektur siehe Maria Kaika: »Autistic architecture: the fall of the icon and the rise of the serial object of architecture« (2011) sowie http://www.artmagazine.cc/content59837.html? month=2&year=2012 [Zuletzt aufgerufen am 10.02.2017]

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