Morgen Kann Warten

Morgen Kann Warten

Monika Scheele Knight | Morgen kann warten MORGEN KANN WARTEN MONIKA SCHEELE KNIGHT Originalausgabe Morgen kann warten Copyright © März 2017 | Monika Scheele Knight Schmollerstr. 3, 12435 Berlin Printed in Germany by Amazon Distribution GmbH, Leipzig ISBN: 1544176872 ISBN-13: 978-1544176871 INHALT Vorwort – In der Welt sein 1 1 Thassos – Sprache 14 2 Hiddensee – Elternsein 30 3 Rhodos – Epilepsie 44 4 Côte d’Azur – Fernand Deligny 62 5 Mallorca – Diagnoseanstieg 84 6 Connemara – Therapien 105 7 Südtirol – Neurodiversität 135 8 Südschweden – Inklusion 153 9 Normandie & Elsass – Geschichte 169 10 Valencia – Kultur 183 11 Prag & Theresienstadt – Ethik 204 12 Texel – Freundschaft 222 13 Berlin – Autismus als Metapher 236 Nachwort – Für immer 15 253 Respekt und Dank 257 Anmerkungen 259 Literaturverzeichnis 295 Dieses Buch ist für John, den Jungen mit der Bonbon-Agenda, der in den Mülleimer beißt, und die Gitarre wie einen Kontrabass spielt. Ein Partisan und ein Meister puren Seins. Vorwort – In der Welt sein »In jeder Krankheit treffen sich zwei Ereignisse: Die Geschichte einer Person und die Geschichte der Gesellschaft, in der diese Person lebt.« (Maurice Dorès) John wurde im September 2000 in Arlington Heights in den USA geboren. Als er achtzehn Monate alt war, entwickelte er plötzlich epileptische Anfälle und wurde in ein Krankenhaus eingewiesen. Sein Gitterbett hatte gepolsterte Stäbe, war nach oben hin ver­ schlossen, ein Käfig. Über eine Klammer an seinem großen Zeh führte ein Kabel zu einem Monitor, 126/96 war darauf in roten Digitalziffern zu lesen. Unser vorher fröhliches, starkes und neu­ gieriges Kind lag schwach in diesem Käfigbett, tief erschöpft von Medikamenten, Untersuchungen und Krampfanfällen. Zwei Wochen zuvor hatten ihn alle noch für gesund gehalten, dann hatte ich ein komisches Zucken bemerkt, vier Tage nach der ersten Beobachtung hatte es sich ausgeprägter wiederholt, die Arme sprangen nach vorne vom Körper ab und John nickte dabei mit dem Kopf in Richtung Brustkorb. Nach meiner Beschreibung der Vorfälle beim Kinderarzt wurden wir zu einer EEG-Ableitung über­ wiesen, einer Untersuchung seiner Hirnströme, und noch am selben Tag erfuhren wir das Ergebnis, das uns nüchtern übers Telefon mit­ geteilt wurde: »Ihr Kind hat Epilepsie. Sie müssen zur weiteren Diagnose und medikamentösen Einstellung so schnell wie möglich ins Kranken­ haus kommen.« 1 Am selben Tag beobachtete ich gleich mehrere kleine Anfälle. Die Entwicklung verlief von hier an rasant: Waren zwischen dem ersten und dem zweiten Anfall noch vier Tage vergangen, so kamen die Anfälle danach täglich und mehrten sich zudem jeden Tag. Bald wurden wir vom Vorort-Krankenhaus in das Epilepsiezentrum an der Universität von Chicago überwiesen. Es folgte eine mehr als zweijährige Odyssee durch Kranken­ häuser und Epilepsiezentren auf zwei Kontinenten, ich gewöhnte mich an die Pritschen neben Johns Bett und an den Schlaftakt, den die Kontrollbesuche der pflegerischen Nachtwache vorgaben. Zahllose Experten wussten keinen Rat, während sich Johns Gesundheitszustand immer weiter verschlechterte. Medikamente wurden auf- und wieder herunterdosiert, John war in einem Kreis­ lauf aus Anfällen und Nebenwirkungen gefangen. Als Reaktion auf ein Medikament, das für Nebenwirkungen auf der Haut bekannt war, entwickelte er Neurodermitis, die auch nach Absetzen des Medikamentes blieb. Eine aggressive Hormontherapie brachen wir ab, nachdem der Kardiologe am Ultraschall eine lebensgefährliche Verdickung des Herzmuskels beobachtete. Als Ergebnis einer um­ fassenden genetischen Untersuchung, in der wir vor allem herausfinden wollten, ob John vielleicht das Fragile-X-Syndrom hat, stellte sich stattdessen heraus, dass ein seltener genetischer Defekt namens G-6-PD-Mangel vorliegt. Wir bekamen einen Notfall­ ausweis und eine lange Liste von Substanzen und Medikamenten, die lebensgefährlich sein könnten. Als zweitletzten möglichen Ausweg setzten wir John vier Monate lang auf die Ketogene Diät – eine im Krankenhaus eingeleitete und schulmedizinisch betreute 2 Ernährungsumstellung, die manchen Menschen geholfen hat, deren Epilepsie gegen Medikamente resistent geblieben war. Bei John half auch die Ketogene Diät nicht. Schließlich sollte im Epilepsie­ zentrum Bethel als letzte Option die Möglichkeit einer Gehirnoperation untersucht werden und auch dies stellte sich als unmöglich heraus. Die Leiterin der Neurochirurgie entließ uns mit den Worten: »Sie müssen sich damit abfinden, dass Ihr Kind keinen Tag in seinem Leben anfallsfrei sein wird.« Wie um diesen fahrlässigen Satz Lügen zu strafen, wurde John kurze Zeit später anfallsfrei, auf ebenso rätselhafte Weise, wie die Krampfanfälle begonnen hatten. Erst in diesem Zustand und ohne die harten Medikamente be­ merkten wir verschiedene Verhaltensweisen, die auf eine veränderte Wahrnehmungsverarbeitung hindeuteten. Die Psychologin des heilpädagogischen Kindergartens, den John zu dieser Zeit besuchte, empfahl uns einen Besuch im Autismus-Zentrum. Die Ursachen­ suche, die zweieinhalb Jahre zuvor in einem Zimmer mit der Nummer 218 eines amerikanischen Krankenhauses in der Nähe von Chicago begonnen hatte, fand nach einer Fährübersetzung in Vegesack ihr Ende in Bremen: John wurde nach einem etwa zweistündigen Test mit Frühkindlichem Autismus diagnostiziert. Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die mit einer veränderten neurologischen Verarbeitung der Wahrnehmung ein­ hergeht und die zu einem sehr vielfältigen Erscheinungsspektrum führt. 3 Einige Autisten sind in der sozialen Kommunikation mit ihren Mitmenschen beeinträchtigt oder von den Reizen in ihrer Umwelt schneller überfordert. Es gibt Autisten, die in ihren intellektuellen Fähigkeiten keineswegs beeinträchtigt sind und andererseits solche, deren Beeinträchtigung mit einer mittelschweren oder schweren geistigen Behinderung einhergeht. Einige mögen keine körperliche Nähe und haben Probleme mit Augenkontakt. Andere suchen, mögen und brauchen viel Nähe. Einige können nicht sprechen, sind aber mit ihrer Umwelt und ihren Bezugspersonen emotional sehr eng verbunden. Viele Menschen unterschätzen die Bandbreite und höchst unterschiedlichen Ausprägungsformen von Autismus. Die Beobachtungen des Autismus reichen bis ins neunzehnte Jahrhundert zu den deutschen Psychiatern Karl Ludwig Kahlbaum und Emil Kraepelin zurück. Doch erst als der schweizerische Psychiater Eugen Bleuler das Adjektiv autistisch 1912 als Symptom im Zusammenhang mit schizophrenen Patienten verwendete, gewann der Begriff an Popularität. Der österreichische Kinderarzt Hans Asperger benutzte den Begriff als unabhängiges Syndrom erstmals 1938 in einem Vortrag in Wien. Dieser Vortrag wurde 1944 publiziert und ging so als Geburtsstunde des Autismus in die Geschichte ein. Unabhängig davon beschrieb der ebenfalls österreichische, aber in den USA lebende Psychiater Leo Kanner 1943 die autistischen Störungen im affektiven Kontakt als Frühkindlichen Autismus. Das fast gleichzeitige Benutzen desselben Begriffs wirft bis heute Fragen auf. Die beiden Österreicher sind sich nie begegnet und durch den Zweiten Weltkrieg war die Kommunikation zwischen 4 Österreich und den USA weitgehend unterbrochen. War es also Zufall, dass die beiden Männer sich denselben Begriff aussuchten, um ein Syndrom zu beschreiben? Sicher ist, dass beide Deutsch sprachen und denselben intellektuellen Hintergrund teilten, also ver­ mutlich mit den Ausführungen von Kahlbaum, Kraepelin und Bleuler vertraut waren. Das machte den Zufall weniger unwahrscheinlich. Über weitere Gründe für die Gleichzeitigkeit wird spekuliert. Leo Kanner könnte Aspergers Terminologie zum Beispiel auch von jüdischen Wissenschaftlern gehört haben, die in die USA geflohen waren. Es ist bekannt, dass Kanner diesen Wissenschaftlern half, sich in Amerika zu etablieren. Die Vermutung liegt nahe, dass er mit ihnen auch über neue fachliche Entwicklungen in Europa ge­ sprochen hat. Und Asperger hatte schon 1934 in Briefen an mehrere Kollegen vorgeschlagen, dass Autismus ein nützlicher Diagnosebegriff sein könnte. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass aus Österreich und Deutschland geflohene Wissenschaftler Kanner darüber berichteten. Kanner war an der Johns Hopkins University Leiter der aller­ ersten Kinderpsychiatrie in den USA und stand unter Zugzwang, sein neu geschaffenes Institut und den auf Kinder spezialisierten Psychiatriezweig im Allgemeinen zu profilieren. Die Wahrheit darüber, ob er von dem Begriff aus Europa gehört hatte oder nicht, wird man vielleicht nie erfahren. Sicher ist nur, dass Asperger und Kanner keinen direkten Kontakt zueinander hatten und dass die Störungsbilder, von denen beide berichteten, sehr unterschiedlich waren. 5 Asperger beschrieb Kinder, die Schwierigkeiten im sozialen Um­ gang hatten, Obsessionen für spezielle Wissensgebiete entwickelten und deren Sprachkompetenz durch verbale Besonderheiten gekennzeichnet war. Kanner hingegen beschrieb Kinder, die zwang­ haften Wiederholungen nachgingen und kaum oder keine Sprache entwickelten. So ist das breite Spektrum des Autismus bereits in der Entstehungsgeschichte des Syndroms angelegt. Als John im Alter von anderthalb Jahren die Epilepsie entwickelte, hatte ich mich von meiner Festanstellung in Chicago beurlauben lassen. In den USA war für eine Freistellung aus medizinischen Gründen gesetzlich nur eine Dauer von maximal drei Monaten vor­ gesehen. Da wir aber fast zwei Jahre in Krankenhäusern verbracht hatten, war ich nicht an meinen Arbeitsplatz zurückgekehrt. Selbst nach der Anfallsfreiheit blieb John stark pflegebedürftig.

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