Erwin Schulhoffs

Die Genesis der Oper und einige analytische Betrachtungen

Jirˇí David

The reflection of Erwin Schulhoff (1894-1942) in secondary literature up to now consists of two major approaches: on the one hand he is perceived as a “Modemusiker” composing music influenced by jazz, dadaism and other avant-garde tendencies of the 1920s, on the other hand as a composer who reacted actively to the social situation and manifested his inclination to the left side of the political spectrum (this approach is based mainly on his compositions from the 1930s). Die Flammen is the only by Schulhoff who finished it at the turn of his two composing phases (completed in 1929, the premiere took place in 1932). Die Flammen stems from the context of musical drama between the two World Wars which is characterised by the loss of a clear canon of musical means. The (created in 1922- 1924) corresponds with the expressionistic drama of the beginning of the 1920s including effects of dramatic alienation. Nevertheless, Schulhoff’s compositional style in this work is not in perfect accordance with the definition of musical expressionism. Unperiodical melodic ideas are covered by polyharmony and instrumentation with important timbre function. Schulhoff achieves this not only by the use of complicated harmonies, but also by the work with atonal intervallic structures and periodical lines which points out the constructivic features of his composing. Another analytical impulse represents the semantical work with jazz. In this opera jazz is not used as an element of renewal for European music like at the beginning of the 1920s. In context with the libretto, jazz appears in moments of dark passion, crime and negative power. We can conclude that this role of jazz in Die Flammen hints towards a changing attitude of the composer to the positive influence of jazz in European music and his later reserve to the use of jazz in important works (symphonies III-VI).

Erwin Schulhoff ist für die tschechische bzw. für die mitteleuropäische Musikwissen- schaft kein Unbekannter. Die bisher erschienene, ihm gewidmete Literatur bietet jedoch, abhängig von der Zeit ihres Entstehens, ziemlich unterschiedliche Bilder seines Lebens und akzentuiert unterschiedliche Momente seines Schaffens, gleichgültig, ob es sich um wissenschaftliche Werke, Memoirenliteratur oder Journalistik handelt. Diese Tat- sache wäre an sich nicht ungewöhnlich, eine ähnliche Bandbreite ist auch bei vielen

Musicologica Austriaca 28 (2009) 182 Jirˇí David

anderen Persönlichkeiten nicht nur der musikalischen Welt zu finden und hängt mit der Veränderlichkeit der Forschungspräferenzen zusammen. Nur bei wenigen Komponisten begegnet man jedoch einem so mannigfaltigen, ja sogar widersprüchlichen Schaffen, das derart viele Impulse für verschiedene Interpretationen bietet, wie eben bei Schulhoff. Ohne nun die bereits ziemlich große Menge von glorifizierenden, wenn auch gut gemein- ten Artikeln vermehren zu wollen, muss man doch feststellen, dass die schöpferische Entwicklung Schulhoffs tatsächlich bemerkenswert ist. Viele Ereignisse, von denen men- schliche Schicksale in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geformt wurden, haben hier den kompositorischen Werdegang eines Einzelnen beeinflusst. Am Beginn steht die Erfahrung seiner Prager jüdischen Herkunft und jene der noch an der Spätromantik orientierten Ausbildung an den Konservatorien in Deutschland; weiters die Erfahrung des Ersten Weltkrieges, der Ursache des „Todes des Ästheten“1 in der europäischen Kunst, was Schulhoff zur neuen Formulierung seiner künstlerischen Position im Geist des „Dadaismus“ und schließlich zu der des musikalischen enfant terrible geführt hat. Dieses Charakteristikum hat ihn dann wenigstens bis Ende der 1920er Jahre begleitet, als es in seiner Weltanschauung und auch in seiner Meinung bezüglich seines eigenen Schaffens zu einer tiefen inneren Wandlung gekommen ist, die sich in seinem Streben nach einer betont linksorientierten, sich an die breite Öffentlichkeit wendenden Kunst ausgedrückt hat.2 Von hier ausgehend kann man – vereinfacht gesagt – in der damaligen und auch in der späteren historischen Literatur zwei Seiten des Komponisten feststellen: Auf der einen steht Schulhoff als ein „Modemusiker“,3 der zuerst dadaistische Spielereien komponiert und dann eine bunte Stilpalette von Elementen der Jazz- und Tanzmusik bis zum Neoklassizissmus verwendet hat, auf der anderen der Schulhoff der Dritten bis Sechsten Symphonie (aus den Jahren 1935-41) und der Kantate Kommunistisches Manifest (1932).4 Obwohl dieses zwiespältige Bild Schulhoffs auf sachlichen Argumenten und seinen eigenen persönlichen Aussagen beruht, ist es trotzdem problematisch, wenn nicht irreführend. Den Verbindungslinien zwischen den verschiedenen Phasen seiner

1 So charakterisiert der tschechische Philosoph František Krejčí symbolisch und eher literarisch die durch den Krieg verursachte Neugestaltung der Werte in Bezug auf die Kunst. Siehe František Krejčí, Doba. Essaye z roku 1915 [Die Zeit. Essays aus dem Jahre 1915], Praha 1916, S. 36-56. 2 Diese Lebensetappe Schulhoffs behandelt ausführlich Josef Bek, Erwin Schulhoff. Leben und Werk (Verdrängte Musik, Bd. 8), Hamburg 1994. 3 Dieser Ausdruck wurde aus Erich Steinhard, „Modemusiker Erwin Schulhoff“, in: Der Auftakt 9 (1929), Nr. 3, S. 80f übernommen. Siehe auch ders., „Aus einem Prager Musikmilieu“, in: Mu- sikblätter des Anbruch 7 (1925), Nr. 5 (Sonderheft des Anbruch, Mai 1925, Musikfest in Prag), S. 259-262. Auch in zwei Sammelbänden aus Schulhoff gewidmeten Konferenzen der letzten Zeit wird dieses Bild Schulhoffs vermittelt: Gottfried Eberle (Hg.), Erwin Schulhoff – Die Referate des Kolloquiums in Köln am 7. Oktober 1992 (Verdrängte Musik, Bd. 5), Hamburg 1993; Tobias Widmaier, Peter Korfmacher (Hg.), „Zum Einschlafen gibt’s genügend Musiken“. Die Referate des Erwin Schulhoff-Kolloquiums in Düsseldorf im März 1994 (Verdrängte Musik, Bd. 11), Hamburg 1996. 4 So wird er vor allem in der von der dogmatischen linksorientierten Ideologie beeinflussten Nachkriegszeit geschildert, siehe z.B. Věra Stará (Hg.), Ervín Schulhoff. Vzpomínky, studie a dokumenty [E. Sch. Erinnerungen, Studien und Dokumente], Praha 1958. Weiters vgl. Oldřich Pukl, Konstanty, dominanty a varianty Schulhoffova skladebného stylu [Konstanten, Dominanten und Varianten im kompositorischen Stil Schulhoffs], Praha 1986. Erwin Schulhoffs Flammen 183

kompositorischen Entwicklung, die z.B. in seinem symphonischen oder kammermusika- lischen Schaffen zu finden sind, ist nämlich bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Er hat sich diesen Gattungen in den verschiedenen Etappen seines Lebens immer wieder gewidmet, es erscheint also möglich, trotz der auffälligen Wandlung seiner Weltanschauung, ein Kontinuum seiner Ausdrucksmittel festzustellen.5 Die Oper Flammen (WV 93), der dieser Artikel gewidmet ist, nimmt in Schulhoffs Schaffen – im Vergleich mit seinen Symphonien und anderen Formen – einen besonderen Platz ein. Obwohl sich der Komponist öfter dem Schaffen für das Theater gewidmet hat, ist sie sein einziges Opernwerk geblieben. Falls wir die These eines Bruchs in seiner schöpferischen Natur als Tatsache ansehen wollen, so wäre diese Oper als eines der letzten Werke seiner „formalistischen“ Periode zu bezeichnen.6 Zugleich handelt es sich jedoch um ein Werk, das Schulhoff immer geschätzt hat; er hat auch dessen baldige Ab- setzung vom Spielplan und das rapide Schwinden der Chancen auf weitere Aufführungen sehr schwer ertragen. Die Oper Flammen ist eines seiner Werke, die eine längere Ent- stehungszeit benötigt haben und steht also gewissermaßen an der Grenze seiner beiden kompositorischen Phasen. Viele Merkmale in ihr nehmen bereits den späteren Abschied Schulhoffs von seiner bisherigen Auffassung von der musikalischen Moderne vorweg.

Die Genesis der Oper und ihre Verwandlungen Im Herbst 1923 kehrte Erwin Schulhoff nach mehrjährigem Aufenthalt in Deutschland in die Tschechoslowakei zurück. Er hatte schon einige kompositorische Erfolge zu ver- zeichnen, die bereits erwähnte Erfahrung der Dada-Richtung hinter sich und war auch als ausübender Künstler gut bekannt.7 Die Rückkehr nach Prag brachte ihm trotzdem schwierige existenzielle Probleme, die ihn bis ans Ende seines Lebens begleitet und sein Schaffen markant beeinflusst haben. Um seinen Lebensunterhalt finanziell zu si- chern, hat er ständig verschiedene Konzertangebote angenommen und Konzertreisen unternommen, die für ihn eine sichere Einnahme bedeuteten, ihn jedoch immer wieder von den groß angelegten Werken abgelenkt und – da sie eine größere Chance auf Ver- öffentlichung boten – zum Komponieren von kleineren kammermusikalischen Formen gezwungen haben. So war es auch im Fall der Oper Flammen, an der er fast acht Jahre gearbeitet hat. Diese zeitliche Spannweite ist allerdings nicht nur auf seine Beschäftigung mit anderen Aufgaben zurückzuführen.

5 Josef Bek überbrückt diese zwei Schaffensperioden Schulhoffs mit dem Begriff Avantgarde, der jedoch zu vieldeutig bleibt, weil er die innovativen Impulse praktisch der gesamten Musikentwicklung der Zwi- schenkriegszeit umfasst. Siehe Josef Bek, Avantgarda. Ke genezi socialistického realismu v české hudbě [Die Avantgarde. Zur Genesis des sozialistischen Realismus in der tschechischen Musik], Praha 1984, S. 133-170. 6 Die Verwendung des Begriffs „Formalismus“ im Zusammenhang mit Schulhoff entnehmen wir zu unserem Erstaunen dem Artikel von Josef Stanislav, „Ervín Schulhoff“, in: ders. (Hg.), Stati a kri- tiky [Artikel und Kritiken], Praha 1957, S. 185-189. 7 Josef Bek, „Erwin Schulhoff. Kleine Chronik seines Lebens“, in: Eberle, Erwin Schulhoff (s. Anm. 3), S. 9-34. 184 Jirˇí David

Das Quellenmaterial bringt leider nur wenige Informationen über die ersten Impulse zu diesem Opernplan Schulhoffs, weil ein großer Teil seiner persönlichen Dokumente nicht erhalten geblieben ist.8 Man muss sich mit den Erinnerungen des Librettisten von Flammen, Karel Josef Beneš (1896-1969), zufrieden geben.9 Ihm zufolge hatte Schulhoff bei seiner Rückkehr in die Tschechoslowakei bereits an eine Oper gedacht und suchte gerade ein passendes Sujet. Er hatte enge Kontakte zu Max Brod, der ihm geholfen hat, eine Beschäftigung zu finden. Und Brod war es auch, der die Begegnung des Kompo- nisten mit dem künftigen Librettisten zweier seiner Bühnenwerke vermittelt hat.10 Max Brod, eine Autorität des tschechischen, aber auch des deutschsprachigen kulturellen Prag, hat das Schaffen von Beneš gut gekannt und war auch über die Existenz von des- sen szenischer Suite nach dem -Thema informiert, die der Schriftsteller für eine mögliche Vertonung verfasst hatte.11 Nach dessen Erinnerungen ist die Vereinbarung mit Schulhoff problemlos zustande gekommen, beide waren sich auch einig, dass der Stoff für eine abendfüllende Oper gut geeignet sei. Beneš hat also die ursprüngliche szenische Suite zu einem Opernlibretto umgearbeitet. Schulhoff, ein überzeugter Tschechoslowake, der das Tschechische trotzdem nie vollständig beherrscht hat, traute es sich aber nicht zu, den tschechischen Text zu vertonen: Max Brod übersetzte schließlich das Libretto, und die Musik wurde auf den deutschen Text komponiert. Beneš zufolge wurde zunächst die (spätere) erste Fassung der Oper flüchtig skizziert, und diese Nachricht wird auch durch andere erhaltene Quellen bestätigt. Der Text der ursprünglichen szenischen Suite befindet sich ebenso wie einige spätere tschechische Fassungen des im Nachlass von Karel Josef Beneš.12 Die Reinschrift der Suite ist mit dem 2.5.1922, die fertige Bearbeitung einer ihrer Szenen mit dem 8.12.1924 da- tiert. Man kann also annehmen, dass das Libretto zu Ende des Jahres 1924 fertig war.13 Eine weitere zeitliche Verzögerung entstand durch die Übergabe der Flammen an den Übersetzer Max Brod. Erst Mitte des Jahres 1925 schrieb dieser an Beneš: „Lieber Herr Dr. Bin den [sic!] von meinem Urlaub zurück. Natürlich viel Arbeit! [...] Ich glaube, mitte Oktober mit der Übersetzung Ihres Don Juan beginnen zu können.“14

8 Der Nachlass Schulhoffs, der vor allem Notenmaterial und Fragmente seiner Korrespondenz beinhal- tet, befindet sich heute im Tschechischen Museum der Musik Prag. 9 Karel Josef Beneš, „Vzpomínky“ [Erinnerungen], in: Stará, Ervín Schulhoff (s. Anm. 4), S. 26-32. 10 Außer bei Flammen hat Schulhoff mit Beneš auch bei seinem Ballett-Mysterium Ogelala (WV 64) zusammengearbeitet. 11 Näheres siehe bei Mikuláš Bek, „Erwin Schulhoffs Oper ‚Flammen‘. Eine Entstehungsgeschichte“, in: Widmaier, Korfma- cher (Hg.), „Zum Einschlafen gibt’s genügend Musiken“ (s. Anm. 3), S. 99-104. 12 Literarisches Archiv der Gedenkstätte des nationalen Schrifttums Prag, Fonds Karel Josef Beneš (KJB), Sign. 94/71, Inv.Nr. 12590 (Handschrift), Inv.Nr. 12592 (Maschinschrift). 13 Das komplette tschechische Libretto, das Brod zur Übersetzung übergeben wurde, steht leider nicht zur Verfügung. Man kann die ungefähre Fassung aufgrund einiger loser handschriftlicher Blätter der ersten Entwürfe rekonstruieren, das Material ist jedoch sehr fragmentarisch. Literarisches Archiv der Gedenkstätte des nationalen Schrifttums Prag, Fonds KJB, Sign. 94/71, Inv.Nr. 12594-12600. 14 Ebenda, Inv.Nr. 2431. Das Korrespondenzblatt vom 28. 8. 1925. Erwin Schulhoffs Flammen 185

Erwin Schulhoff hatte den definitiven Text für die Vertonung also wahrscheinlich erst zu Beginn des Jahres 1926. Nach seinen eigenen Aussagen schritt das Komponieren nicht leicht vorwärts, denn er war bei seiner Arbeit an der Oper außer durch seine regelmäßige Konzerttätigkeit auch durch andere kompositorische Aufträge stets behindert. Im Som- mer 1926 schrieb er die Bühnenmusik zu Molières Le bourgeois gentilhomme (WV 79), weiters die Cinq Etudes de Jazz (WV 81) und die Klaviersonate Nr. 2 (WV 82).15 Auch in den folgenden Jahren, in denen er an den Flammen gearbeitet hat, entstand eine Anzahl kleinerer Werke. Das bittere Anfangsstadium der Arbeit an der Oper beschreibt der Komponist in seinem Artikel zur Uraufführung:

Dreimal habe ich von vorn begonnen. Beim zweiten Anlauf habe ich fast den gesamten ersten Akt vollendet, aber alles wieder verworfen. Dabei war ich durch meine Konzerte im Ausland immer wieder in der Arbeit gestört worden und habe dadurch den Faden verloren. Es war eine Zeit unendlichen Leidens.16

Erst im Frühling 1927 kam Schulhoff zu konzentrierter Arbeit und schuf in einem Zug die komplette Skizze des ersten Aktes, also mehr als die Hälfte des Werkes. Über seine Fortschritte bei der Vertonung informierte er Beneš in von Enthusiasmus und Befriedigung über das Gelingen der Arbeit erfüllten Briefen, wie in jenem vom 15.6.1927, in dem er seinen Librettisten von der Fertigstellung der Skizze zum ersten Akt in Kenntnis setzt:

Lieber Freund, ich teile Dir mit, dass ich gerade den ersten Akt unseres „Juans“ fertig schreibe und ich glaube auch im Sommer daran weiter arbeiten zu können. Sei über- zeugt, dass ich darauf große Lust habe und deine famosen szenischen Einfälle mir sehr gefallen.17

Der folgende im Nachlass Beneš befindliche Brief Schulhoffs spricht bereits vom kompo- sitorischen Konzept des ganzen Werkes. Die Arbeit hatte bis dahin also etwa 15 Monate, von April 1927 bis Juni 1928, gedauert. Über den Zeitpunkt der Vollendung der Skizze der ganzen Oper sind wir fast auf die Minute genau informiert:

Lieber Karel, dieser Augenblick ist groß. Eben um ¼ 9 abends des oben angeführten Tages habe ich unseren „Juan“ vollendet, endlich...... endlich!!!!!! Ich habe daran bereits das dritte Jahr gearbeitet, und denke doch, es wird eine prächtige Sache sein. Einiges im ersten Akt muss ich noch umarbeiten, doch das sind nur Kleinigkeiten, die ich bald erledigen kann. Im Herbst werde ich mit der Instrumentierung beginnen.18

15 Die Nummerierung nach dem Werkverzeichnis bei Bek, Erwin Schulhoff (s. Anm. 2). 16 Ervín Schul- hoff, „Má opera ‚Plameny‘“ [Meine Oper „Flammen“], in: Česká hudba 35 (1932), Nr. 13, S. 202-204. In deutscher Übersetzung (verkürzt) im Programmheft zur Produktion der Oper am 2006 abgedruckt. 17 Literarisches Archiv der Gedenkstätte des nationalen Schrifttums Prag, Fonds KJB, 94/71, Inv.Nr. 4474. Die Briefe sind auf Tschechisch geschrieben. 18 Ebenda, Brief vom 18.6.1928, KJB 94/71, Inv.Nr. 4476. 186 Jirˇí David

Noch immer ist jedoch von einem Entwurf die Rede, nicht von einer ausgearbeiteten Partitur, und es erhebt sich die Frage, wann die Instrumentierung definitiv beendet und damit die Oper für die Aufführung fertig gewesen ist. Im Tschechischen Museum der Musik befinden sich zwei Partituren: Die eine ist eine Abschrift der Fassung mit zwei Akten, in der die wahrscheinliche Entstehungszeit mit 1927-1928 angegeben ist.19 Die nachträglichen Striche, Anweisungen für die Interpretation und Notizen des Dirigenten lassen vermuten, dass diese Abschrift auch bei der Aufführung verwendet worden ist. Die zweite Partitur ist das Autograph der dreiaktigen Fassung, in dem sich genauere Angaben zur Datierung der Instrumentierung befinden: I. und II. Akt – vollendet am 1.6.1929, III. Akt – am 10.12. d.J.20 Diese Angaben sind jedoch ein wenig irreführend. Aus den Erinnerungen von Beneš, aus dem Text des Programms zur Uraufführung21 und anderen Quellen ist bekannt, dass die Oper im Jahre 1932 in zwei Akten uraufgeführt wurde und die beiden Autoren die dramaturgische Struktur des Werkes erst danach für drei Akte bearbeitet haben. Die Datierung der dreiaktigen Fassung mit dem Jahr 1929 widerspricht dieser Tatsache. Ich bin also der Meinung, dass das Autograph der Partitur die ursprüngliche Fassung in zwei Akten darstellt, die nach der Premiere einer Revision unterzogen worden ist. Auch der äußerliche Zustand dieser Quelle – wie die chaotischen Seitenangaben und die aufgelöste Bindung, die die Verschiebung ganzer Szenen und ihre Umnummerierung ermöglicht hat – entspricht meiner Meinung. Dies bezeugt auch ein Brief im Nachlass von Beneš:

Lieber Karel, in diesem Moment habe ich unseren „Juan“ vollendet, – den zweiten und das heißt auch den letzten Akt. Nun ist die Partitur der Oper fertig! Die beiden Partituren haben zusammen 380 handschriftliche Seiten.22

Unsere Untersuchung des Zeitplans der Arbeit an der zweiaktigen Fassung des Werkes können wir also mit der Feststellung abschließen, dass die Oper zu Ende des Jahres 1929 (am 10.12.) vollendet und für die Aufführung bereit war. Die Oper Flammen wurde am Landestheater in Brünn, also auf einer tschechischen, nicht deutschen Bühne, uraufgeführt23 und musste deswegen ins Tschechische rück- übersetzt werden (der tschechische Titel lautet Plameny). Sogar Beneš selbst gibt die Schwierigkeiten dieses Schrittes zu, er erwähnt die Hektik und ein gewisses Provisorium dieses Schrittes:

19 Tschechisches Museum der Musik, Fonds Ervín Schulhoff (im Folgenden ES), Sign. S 173/415. 20 Ebenda, Sign. S 173/413 a 414. Es gibt auch noch die dritte Abschrift der Partitur, die sich ebenfalls im Archiv des Nationaltheaters Brünn befindet. Die Oper Flammen ist bei Schott Mainz im Jahre 1999 erschienen. Zu Lebzeiten Schulhoffs ist das Werk trotz seiner Bemühungen nicht veröffentlicht worden. 21 Literarisches Archiv der Gedenkstätte des nationalen Schrifttums Prag, Fonds KJB, 94/71, Inv.Nr. 12601. 22 Brief Schulhoffs vom 10.12.1929, ebenda, Inv.Nr. 4481 (Unterstreichung original); siehe auch Kopie des tschechischen Originals am Ende des Beitrags. 23 Die Uraufführung fand am 27.1.1932 statt. Erwin Schulhoffs Flammen 187

[...] ich musste gemeinsam mit dem Komponisten den Text in Eile zurück ins Tschechische übersetzen, und nur der, der aus eigener Erfahrung weiss, was es bedeutet Verse auf- grund einer fertigen Musik zu übersetzen, der weiss auch, wie schwierig eine solche Arbeit ist und dass das Ergebnis manchmal dem Original nachsteht.24

In diesem Fall war die enge Zusammenarbeit mit dem Komponisten notwendig, weil es bei der Übersetzung auch zu einigen Eingriffen in die Vokalpartien kommen musste und vor allem rhythmische Änderungen unabdingbar waren. In Bezug auf den Charakter der Textbehandlung bei Schulhoff in Flammen (und nicht nur dort) erweist sich die Möglich- keit der Anpassung eines neuen Textes an die vokale Linie ohne wesentliche qualitative Lizenzen in der Wort-Musik-Relation als sehr problematisch, wenn nicht unmöglich. Schulhoff geht immer konsequent von der Deklamation des deutschen Textes aus, in der Metrik wie in der melodischen Linie. Der Text ist maximal sparsam behandelt – das Libretto ist durchkomponiert, ohne jegliche Wiederholungen von Worten, die z.B. als Er- gebnis einer periodischen Struktur entstanden oder aufgrund anderer rein musikalischer Vorgänge notwendig wären. Bei der Applikation des tschechischen Textes musste es also unweigerlich zu Verstößen gegen diese elementaren Grundsätze von Schulhoffs Melodik kommen. Die Anzahl der Silben stimmte nicht mehr, sodass die Melodie auf kleinere rhythmische Werte aufgeteilt werden musste. Vor allem jedoch widerspricht die melodische Linie der natürlichen Deklamation der tschechischen Sprache. Keiner der Kritiker hat zwar diese Tatsache direkt erwähnt, die Qualität der Aufführung musste jedoch zweifellos unter den durch die Anpassung des tschechischen Textes verursachten Eingriffen in die musikalische Sprache Schulhoffs leiden und könnte vielleicht auch eine der Ursachen für die zurückhaltende Aufnahme durch das Publikum gewesen sein. Kurze Zeit nach der Uraufführung entschlossen sich die Autoren, die oben erwähnten Änderungen vorzunehmen, um die dramatische Wirksamkeit und theatralische Logik des Werkes zu erhöhen. Es wurde eine neue Szene eingefügt und die Reihenfolge der Bilder (nunmehr in drei Akten) geändert. Nach den Erinnerungen von Beneš haben die beiden Autoren aufgrund der Premiere die zweiaktige Fassung unter dem Gesicht- spunkt von Dramaturgie und Inszenierungsmöglichkeiten ungeeignet gefunden. Die Änderungen betrafen das Libretto und auch die Musik, an manchen Stellen hat Schul- hoff die Orchesterpartitur jedoch unversehrt gelassen und zu ihr einen neuen, den Text berücksichtigenden vokalen Part geschrieben oder auch eine neue Person eingeführt. In solchen Fällen hatte er oft mehr Text zur Verfügung als in der ersten Fassung, sodass er auch die ursprünglich orchestralen Zwischenspiele vokalisiert hat. Das ganze Werk gewann auf diese Weise an Kontinuität, z.B. umfasst die Szene „Mitternacht“ anstatt der ursprünglich 74 Gesangstakte nunmehr 135. Die Autoren waren sich der Disproportiona- lität zwischen den instrumentalen Teilen und den vokalen Partien offensichtlich bewusst.

24 Beneš, in: Stará, Ervín Schulhoff (s. Anm. 4), S. 27. 188 Jirˇí David

Obwohl die Musik nach ihren ursprünglichen Intentionen als eine der „dramatis perso- nae“ geplant war, die die dramatische Linie vertreten und die Kontinuität innerhalb des Werkes gewährleisten sollte, erfüllte das Ergebnis auf der Bühne diese Voraussetzung wahrscheinlich nicht. Nicht einmal die Striche in der Partitur kurz vor der Uraufführung konnten die Zersplitterung und Disproportionalität der Oper beseitigen.25 Die Art, in wel- cher Schulhoff mit dem Text arbeitete, hat die Eingliederung einer neuen vokalen Partie in die unveränderte orchestrale Partitur ermöglicht. Die stark bis an die Grenze der Tona- lität chromatisierte harmonische Struktur des Orchesters gestattete ihm die Verwendung einer freien deklamatorischen Gesangslinie, die sehr konsequent von der Melodik des gesprochenen Textes ausgeht und von den harmonischen Beziehungen unabhängig ist. Schulhoff verwendet ausschließlich unperiodische, chromatisierte melodische Linien, die zwar eng mit dem Text verbunden, jedoch für die problemlos austauschbaren Teile der Orchesterbegleitung ohne Nachteil sind. Die Verdichtung der Gesangspartien war im Vergleich zu den ursprünglichen Vorstellungen ein Zugeständnis der Autoren und nicht das einzige. Schulhoff unternahm sogar einen ziemlich ungewöhnlichen Schritt, indem er eine „Anrede“ an das Publikum verfasste, die immer vor der Vorstellung verlesen werden sollte und in der die künstlerischen Absichten der Autoren erklärt wurden. Aus dem kurzen, der eigentlichen „Anrede“ vorangestellten Text ist die Skepsis bezüglich der Aufnahmefähigkeiten des mit dem ungewöhnlichen Werk konfrontierten Publikums ersichtlich:

Zur Vermeidung unliebsamer Zwischenfälle, die zur Unterbrechung der Vorstellung führen könnten, und angesichts der Tatsache, dass die Masse erst dann zu glauben vermag, wenn ihr die Dinge mundgerecht gemacht werden, ist es unter den gegebenen Umständen angezeigt, die untenstehende Anrede an das Publikum in Form eines Prologs richten zu wollen.26

Ein weiterer Schritt in der librettistischen und dramaturgischen Bearbeitung war das Nachkomponieren ganz neuer Musikteile. So wurde z.B. die ursprünglich instrumentale Introduktion um eine Episode mit Figuren aus der Commedia dell’arte erweitert, und die 20 Takte des Chores der Schatten am Beginn der als „Karnevalsnacht“ bezeichneten Szene wurden neu komponiert. Einen besonderen Fall stellt die ganz neue Szene „Sturm“ dar. Auch diese neuen Einlagen sind im oben erwähnten Stil des Werkes geblieben, die einzige Ausnahme ist der Auftritt der Personen aus der Commedia dell’arte, deren Andersartigkeit durch eine periodische Vokallinie charakterisiert ist.

25 Diese Retuschen hat der Dirigent Zdeněk Chalabala im Einverständnis mit Schulhoff vorgenommen. 26 Tschechisches Museum der Musik, Fonds ES, Sign. S 173/311. Erwin Schulhoffs Flammen 189

Flammen als Beispiel einer Oper des 20. Jahrhunderts Die in den 1920er und 30er Jahren so heftig (sei es dilettantisch oder fundiert) diskutierte „Krise“ der Musikentwicklung war ein in seiner Anwendung kontroversieller Begriff. Die Meinungen der Ästhetiker und Kritiker waren von verschiedenen Motiven beeinflusst, von ihren eigenen ästhetischen Präferenzen bis zu ihren politischen Auffassungen. Die Pluralität, die im Zusammenhang mit dem Musikstil jener Zeit immer wieder genannt wird, zeigte sich auch in den von den verschiedenen Beurteilern vertretenen Wertsystemen. Der Verlust einer klaren Orientierung, der jedoch individuell noch immer überwunden hätte werden können, führte zu einer breiten Verwendung des Wortes „Krise“, hinter dem manchmal auch ganz verschiedene Begriffe standen. Als ein Ergebnis dieser „Inflation“ an Meinungen gab es Reaktionen der Komponisten und Repräsentanten der „Neuen Mu- sik“, die sich zwar nun ihrerseits auf das Schlagwort „Krise“ beriefen, es jedoch nunmehr den konservativen Kritikern gegenüber verwendeten.27 Die Entwicklung der Oper bzw. des Musiktheaters hängt mit der komplizierten Situation in der Musik der Zwischenkriegs- zeit eng zusammen. Das Musiktheater ist eine synthetische Kunst, sodass sich in ihm auch die „benachbarten Krisen“ der übrigen an ihm beteiligten künstlerischen Gattungen auswirkten. Infolgedessen gehen radikale Impulse für die Oper der Zwischenkriegszeit nicht nur vom Musiker, sondern auch vom Theaterschriftsteller oder vom Regisseur aus. Die Verbindung von mehreren künstlerischen Gattungen und immanenten Tendenzen ihrer Entwicklung führte zu einer Pluralität in den Stilkonzepten einzelner Werke, von der Carl Dahlhaus mit einer gewissen Übertreibung sagen konnte:

„Die“ Oper des 20. Jahrhunderts existiert, wie es scheint, lediglich als Begriffsgespenst der Lexikographie, denn in den Werken, die der Sammelbegriff umfasst, ist weder eine Logik oder Dialektik der Aufeinanderfolge noch eine zentrale, das Divergierende ver- knüpfende Problematik sichtbar ...28

Obwohl wir die „Oper des 20. Jahrhunderts“ nicht gerade für ein „Begriffsgespenst der Lexikographie“ halten, muss man doch aus der Stilpluralität des Genres, auf die sich das Zitat von Dahlhaus bezieht, einige Prämissen für die folgende Beurteilung der Flammen Schulhoffs ableiten. Der Blick auf die Entwicklung der Oper der Zwischenkriegszeit zeigt mehrere Tendenzen auf, die man jedoch nur schwer in feste Kategorien (die verschie- denen „-ismen“) einordnen und daher als echte Stilrichtungen bezeichnen kann. Dies

27 Z.B. Bohuslav Martinů, „Ke kritice o současné hudbě“ [Zur Kritik der zeitgenössischen Musik], in: Listy Hudební matice 4 (1925), Nr. 6, S. 184-187; Emil František Burian, „Jsme opravdu v hudební kri- si?“ [Befinden wir uns wirklich in einer musikalischen Krise?], in: Přítomnost 3 (1926), Nr. 20, S. 313f; Mirko Očadlík, „O stavu kritickém“ [Über den Stand der Kritik], in: Klíč 1 (1930/31), Nr. 4-6, S. 100-105, 141-145. Vgl. dazu auch Jiří David, „New Music in a New State: ‚New Music‘ in Bohemia and Moravia in the 1920s“, in: Geoffrey Chew (Hg.), New Music in the „New Europe“ 1918-1938: Ideology, Theory, and Practice, Brno 2007, S. 43-47. 28 Carl Dahlhaus, „Oper und neue Musik. Versuch einer Problemskizze“, in: ders., Vom Musikdrama zur Literaturoper. Aufsätze zur neueren Operngeschichte, München-Salzburg 1983, S. 145-152, hier S. 145. 190 Jirˇí David

verhindern vor allem manche Überlagerungen dieser Tendenzen in konkreten einzelnen Werken und die breite Möglichkeit ihrer Kombinationen. Eine solche Wandlung der Oper als Gattung kann man als den Weg vom „kulina- rischen“ Theater zur Anwendung des Prinzips der ästhetischen Distanz bezeichnen. Der Begriff „kulinarisch“ weist vielleicht zu sehr auf die konkrete Brechtsche Lösung dieses Problems hin, die Destruktion des illusionären musikalischen Dramas ist aber ein um- fassenderes Phänomen.29 Die Brechtsche Metapher spiegelt jedoch sehr gut eine mög- liche Dimension der Beziehung der Opernautoren der Zwischenkriegszeit zur Tradition wider. Ein konstitutiver Zug dieser Beziehung ist die „Abwehr des monumentalen und langsamen, groβspurigen und ausführlichen Pathos der musikdramatischen Epoche.“30 Abgelehnt und als „kulinarisch“ angeprangert wird eine Opernproduktion, die nach einer möglichst vollkommenen Bühnenillusion strebt und damit nach der größtmöglichen Identi- fizierung des Zuschauers mit einer Theaterfigur – also eine Oper als „Drama der Affekte“. Der neue inszenatorische Stil hat nach Ernst Křenek dazu geführt, dass man

die Oper als solche nicht mehr ernst [nimmt], die Darstellung geht nicht mehr darauf aus, das Dargestellte als Wirkliches vorzutäuschen und eine vollkommene Illusion her- beizuführen, sondern real bleibt nur die Tatsache der Darstellung (nicht ihr Gegenstand), real bleibt nur das unbezweifelbare, greifbare Faktum, daβ gespielt wird, nicht aber der Inhalt des Spiels.31

Diese Worte könnten auch von Brecht stammen. Die Akzeptanz der Brechtschen Regeln war jedoch nicht so vorbehaltslos. Um die vollkommene Zerstörung der Illusion in der Oper zu erreichen, förderte Brecht eine Musik, die jede Identifizierung des Zuschauers mit dem Text verhindert. Geeignet sind also die bis jetzt der Oper fremden, nonartifizi- ellen musikalischen Formen („Songs“) oder die Besetzung mit im Gesang ungeschulten Schauspielern. Die konsequente Verwendung der Brechtschen Grundsätze würde zur praktischen Liquidierung der Oper führen, worauf wieder Křenek aufmerksam gemacht hat. Die Distanz zu den älteren „Wagnerschen“ Prinzipien in der Oper geschieht also individuell, und es muss sich nicht immer um eine totale Negation handeln.32 Zum Beispiel wird die Position der Oper des Expressionismus, die uns im Zusammenhang mit Flammen vor allem interessieren wird, in ihren Grundzügen aus dem Wagner-Drama abgeleitet, und zwar vor allem in ihrem Versinken in das exaltierte Innere der psychologisierten Gestalten, doch zugleich wird konstatiert, dass sie

29 Bertold Brecht, „Anmerkungen zur Oper ‚Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘“, in: ders., Schriften 4, Texte zu Stücken (Werke, Bd. 24), Berlin--Frankfurt a.M. 1991, S. 74-86. 30 Ernst Křenek, „Zur Situation der Oper“, in: Der Auftakt 12 (1932), S. 131-137. 31 Ebenda, S. 132. 32 Siehe Carl Dahlhaus, „Wagner und die musikalische Moderne“, in: ders., Vom Musikdrama (s. Anm. 28), S. 139-144. Unter „Moderne“ versteht Dahlhaus jedoch eher das „fin de siècle“, während er die spätere Phase häufiger als „neue Musik“ bezeichnet. Seine Studie behandelt die Beziehungen zwischen den beiden Phasen. Erwin Schulhoffs Flammen 191

objektiver psychologisiert und mit dem traditionellen Ideal des Schönen auch den tra- ditionellen Mechanismus der Rezeption, der auf der Einfühlung und der subjektiven Identifizierung des Zuschauers mit der Figur gegründet war, negiert.33

Die parallel gehende Überwindung des Vermächtnisses der Vergangenheit und die Anknüpfung an die Tradition kann man allerdings als einen allgemeinen, in jeder neuen Kunst in irgendeiner Form präsenten Zug verstehen.34 Die Vielseitigkeit der angewandten Mittel in Bezug auf die musikalische Vergangenheit und die Gegenwart muss sich nicht nur beim Vergleich vollendeter, ganzer Werke erweisen, sondern kann auch in der inne- ren Struktur eines einzelnen Werkes anzutreffen sein, ohne dass dieses deshalb seine Konsistenz verloren hätte. Der abstrakte Begriff der zeitgemäßen Stilpluralität spiegelt sich auf diese Weise in der originellen Gestalt eines konkreten Werkes wider. Diese Voraussetzung wird uns zurück zu den Flammen Schulhoffs führen. Bevor ich meine eigentlichen analytischen Interpretationsversuche anstelle, sollen noch die zeitgenössischen Rezensenten zu Wort kommen, die den besonderen Charakter der Flammen erkannt haben. Beim Lesen der Kritiken der Premiere begegnen wir fast wörtlich wiederholten sachlichen Beschreibungen der musikalischen und dramatischen Struktur; die Kritiker unterscheiden sich lediglich im Grad der Akzeptanz oder Ablehnung der von ihnen ansonsten gleichlautend festgestellten Besonderheiten.35 Alle Rezensenten heben die Expressivität der Vorlage und die reichen Farben der Musik Schulhoffs hervor. Am meisten kommt Gracián Černušák in Lidové noviny dem Werk entgegen. Er bewertete im Grunde alle Bestandteile der Oper Flammen positiv, vom Libretto über die Musik bis zur Inszenierung. Das Sujet bezeichnet er als ein „symbolistisches Drama mit expres- sionistischer Technik,“ die musikalischen Qualitäten des Werks liegen seiner Meinung nach vor allem darin, dass

die Hypertrophie des Rhythmus durch den breiten Strom des musikalischen Melos unter- drückt wird, jedoch nicht im Sinne einer regelmäßig gebauten, übersichtlich periodisierten Melodie, sondern durch die klangliche Breite und Tiefe einer musikalischen Welle.36

Die Farbigkeit von Schulhoffs Orchestersprache wird von Černušák als ein Element einer den übrigen Parametern der musikalischen Struktur gleichermaßen gerecht werdenden Intention hervorgehoben, die ihn an und den konzentrierten Ausdruck Schönbergs erinnert, jedoch ohne ein Anzeichen von Epigonentum: „Die Partitur Schul-

33 Vladimír Zvara, Ján Cikker, Vzkriesenie. Genéza, osudy a interpretácia operného diela [J. C., Die Auferstehung. Genesis, Schicksale und Interpretierung des Opernwerkes], Bratislava 2000. 34 Christoph Blumröder (Der Begriff „neue Musik“ im 20. Jahrhundert, München 1981) versteht dies als wesentlich für den Begriff „neue Musik“ überhaupt. 35 Zum Vergleich führen wir drei Kritiken an. Zu den anderen siehe Bek, Erwin Schulhoff (s. Anm. 2), S. 174. 36 Gracián Černušák, „Z brněnské opery. Plameny“ [Aus der Brünner Oper. Flammen], in: Lidové noviny, 27.1.1932. 192 Jirˇí David

hoffs steht in ihrer eigenen Art technisch ganz auf dem Niveau der zeitgenössischen Kunst.“37 Den Schluss dieser äußerst günstigen Beurteilung bildet eine Klage darüber, dass ein gelungenes modernes Werk beim größtenteils traditionell orientierten Publikum wahrscheinlich keinen breiteren Widerhall finden werde.38 Positiv bewertet auch Erich Steinhard die Oper Flammen. Zuerst wundert er sich über die Verwandlung Schulhoffs vom „Modemusiker“ zu einem Vertreter eines verfeinerten Stils, der in Flammen seine ehemalige Vitalität verhüllt. Das Sujet des Werkes entspreche seiner Meinung nach vollkommen der Zeit seiner Entstehung, also dem Beginn der 1920er Jahre. Steinhard charakterisiert es als eine „mysteriöse Ballade“ oder ein visio- näres Werk, „wie ein Traumstück“. Die musikalische Struktur werde von

rauschhaften Klangvorstellungen [dominiert], die er impressionibel verwirklicht, und er fühlt die Musik, ohne über sie nachzudenken […] Eine leidende, feminine Musik. Impressionistische Gebärden sind die Majestäten in Schulhoffs Reich.39

Der einzige Vorwurf, der auch bei Černušák erscheint, ist der Zweifel an Schulhoffs Einfallsreichtum: „Er ist ein wirklich phantasievoller Musiker, dessen Einfälle allerdings nicht sehr tief gehen.“ Auf der einen Seite habe Schulhoff also viel Phantasie, auf der anderen Seite keine tief gehenden Einfälle. Wie soll man das verstehen? Wenn wir die damals aktuelle Debatte, was die Begriffe „musikalischer Gedanke“ oder „musikalisches Denken“ eigentlich bedeuten, beiseite lassen, kann man allerdings die Frage stellen: Wenn Steinhard in Schulhoffs musikalischer Sprache einen tiefen Gedanken vermisst und ihm trotzdem Phantasie zubilligt, kann man das als Kritik an einem zu wenig prägnant ausgedrückten und vor allem melodisch uninspirierten Ganzen verstehen? Die Phantasie habe lediglich in Phänomenen wie „schillernde Harmonik“, „Üppigkeit der Farbe“ oder „Klangmischungen“ genug Raum erhalten. Damit ist die Dichotomie der Wertungen angedeutet, die auf die eine oder andere Weise in allen Kritiken an Flammen präsent ist: Die Musik Schulhoffs hat phantasievollen Charakter und bietet eine vollkommene Instrumentierung mit illustrativer Funktion, andererseits fehlen ihr fassbare musikalische Gedanken, was die konstruktive Stabilität des Werkes entkräften würde. Diese nur flüchtig angedeutete Dichotomie definiert und bestätigt eindeutig Mir- ko Očadlík in der von ihm redigierten Revue Klíč.40 Očadlík hat an den Flammen fast kein gutes Haar gelassen, und es ist gewissermaßen symptomatisch, dass eine solche grundlegende Beurteilung gerade in Klíč erschienen ist. Diese Zeitschrift hat sich am Beginn der 1930er Jahre praktisch als einzige unter den auf Tschechisch erscheinenden

37 Ebenda. 38 Flammen wurde lediglich sechs Mal gespielt. Die Reprisen waren am 29.1., 6.2., 10.2., 20.2. und 9.3. desselben Jahres; danach wurde die Oper abgesetzt. 39 Erich Steinhard, „Erwin Schulhoff: ‚Flammen‘“, in: Der Auftakt 12 (1932), S. 78-80. 40 Mirko Očadlík, „Erwin Schulhoff zápasí s ideami“ [Erwin Schulhoff kämpft mit den Ideen], in: Klíč 2 (1931/32), Nr. 4, S. 113-117. Erwin Schulhoffs Flammen 193

Musikzeitschriften regelmäßig der modernen bzw. neuen Kunst gewidmet, und die in ihr vertretenen Meinungen waren dank Očadlík scharf profiliert. Die Kritik der Flammen deutet an, welcher Richtung die Redaktion gefolgt ist. Am Beginn betrachtet Očadlík die Beziehung zwischen der Mode und der Modernität in der Kunst und versucht zu formu- lieren, was von der Musik in Zukunft zu erwarten sei. Es handelt sich im Grunde um eine kurzgefasste Formulierung der Ästhetik der neuen Sachlichkeit:

Die wesentlichen Komponenten der heutigen Modernität bestehen aus der Bestimmtheit der Töne, aus ihrer festen Fixierung in einer melodischen Linie, und so auch aus einer gewissen linearen, fest und nachdrücklich charakterisierten Auffassung [...] Nötig ist ein direkter, klarer, bestimmter und nachdrücklicher Tonsatz, der einen gleichwertigen Gedanken ausspricht. Die Bestimmtheit, die Ausdrücklichkeit ist die Forderung des modernen Menschen und sie muss auch die Forderung an den modernen Künstler sein.41

Die Flammen könnten dieser Forderung nicht entsprechen, weder ihr Libretto, noch ihre Musik. Die Vorlage von Beneš hielt Očadlík für oberflächlich und vor allem nicht fest genug in der Idee für ein Opernwerk. Der Inhalt ist ihm zu vieldeutig, was die „zer- streuende Variabilität des Werkes“ verursache, das Schulhoff wahrscheinlich mit der „Menge der Möglichkeiten zum Affekt“ zur Vertonung verlockt habe. Die auf diese Vorlage zurückzuführenden musikalischen Konsequenzen könnten dann dem oben erwähnten ästhetischen Ideal nicht entsprechen. Očadlík fühlt sich ausdrücklich dadurch gestört, dass in den Flammen

von Anfang an ein unbestimmtes Tonmaterial klingt, das eher vertikal fixiert ist, in der Absicht, dass die einzelnen Stufen wie unterm Pedal die grundlegende Linie übertönen. Von hier geht der amorphe Tonsatz Schulhoffs aus, [der] die Formlosigkeit über die Bestimmtheit der Formen stellt.42

Očadlík bezeichnet also das, was Černušák „Melos“ oder „musikalische Welle“ und Stein- hard „Phantasie“ nennen, als „Unbestimmtheit“ und „amorphen Tonsatz“ – im Grunde vertreten sie jedoch dieselbe Meinung. Es gehört nicht zu den Aufgaben eines Musikhistorikers zu entscheiden, ob der Schöpfer oder der Kritiker der Wahrheit näher stehen. Die Charakterisierung der in Flam- men verwendeten Mittel erlaubt es jedoch, aufgrund der zeitgenössischen Rezeption der Oper die Hypothese zu formulieren, dass das Werk wegen seiner relativ langen Entste- hungszeit etwas verspätet auf die Welt gekommen ist, also bereits in eine Zeit, als seine hohe Expressivität dem herrschenden ästhetischen Kanon nicht mehr entsprochen hat. Zu dieser Meinung führt uns unter anderem auch der Schluss von Očadlíks Kritik:

41 Ebenda, S. 114. 42 Ebenda. 194 Jirˇí David

Die Flammen sind das Ergebnis einer nicht neuen, sondern rückwärts und retardierend orientierten stilistischen Ansicht. Ihre Partitur kann als Lehrbuch der Effekte dienen, nicht jedoch als Quelle einer neuen künstlerischen Erkenntnis, um so weniger als Wegweiser auf den neuen Wegen.43

Obwohl schon die oben genannte Retardierung einiges über das Werk aussagen kann, so ist doch eine positive Definition seines Charakters dadurch nicht leichter geworden. Wenn wir im Zusammenhang mit den Flammen von ihrer Expressivität sprechen, bedeu- tet das nicht, dass sie ein rein expressionistisches Werk sind und das Problem lediglich mit einem Verweis auf die Chronologie der Richtungen Expressionismus – Neue Sach- lichkeit zu lösen wäre. Es wird trotzdem nützlich sein, die expressionistischen Merkmale der Flammen als Ausgangspunkt zu betrachten. Auf die Frage, inwieweit Flammen dieser Richtung ent- sprechen, gibt es wieder zwei Antworten, die erste vom Standpunkt des Librettos, die zweite von dem der Musik aus. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hat sich die Struktur des Dramas als „eines in der Gegenwart ablaufenden zwischenmenschlichen Geschehens“ 44 gewandelt, wobei alle drei demgemäß erforderlichen Komponenten – die Gegenwart, die zwischen- menschliche Dimension und die auf ihrer Grundlage konstruierte Handlung – zerstört wurden, weil „das Zwischenmenschliche durch Innermenschliches verdrängt“ wird.45 Die klassische Struktur eines auf der Basis des Dialogs aufgebauten Dramas wird durch die Monologe der handelnden Personen ersetzt, die reale Möglichkeit eines Dialogs zwischen ihnen verschwindet allmählich, und damit auch die Gelegenheit, zwischen- menschliche Beziehungen auszudrücken; die künstlerische Ausarbeitung des Motivs der menschlichen Isoliertheit hatte also Konsequenzen für die dramatische Form, sie mündet in die Präsentation von parallelen, „monologischen“ menschlichen Schicksalen, oder direkt in die Form eines Monodramas. Das expressionistische Drama übernimmt also Strindbergs „Stationentechnik als Dramenform des Einzelnen, dessen Weg durch eine entfremdete Welt er anstelle zwischenmenschlicher Handlungen zu gestalten sucht. […] Vereinzelung wird so zur Methode.“46 Auch bei der Oper Flammen kann man eine sehr deutliche Neigung zum Monodrama konstatieren. Die einzige wirklich ausgearbeitete Rolle ist die des Don Juan, trotzdem lernen wir jedoch nur einen Teil seiner Persönlichkeit kennen. Die Autoren scheinen sich nur auf die Erfassung seiner inneren Leidenschaftlichkeit und des aus dieser entste- henden inneren Konflikts zu konzentrieren. Die Kenntnis anderer Komponenten seiner Persönlichkeit und die Verdeutlichung von konsequenten psychologisierenden Vorgängen ist jedoch nicht notwendig; Don Juan muss vielmehr etwas schablonenhaft wirken, soll er

43 Ebenda, S. 117. 44 Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas, Frankfurt a.M. 1967, S. 74. 45 Ebenda. 46 Ebenda, S. 104 und 106. Erwin Schulhoffs Flammen 195

nach der Intention von Beneš als ein „Symbol des Lebens“ dienen. Die monodramatisch angelegte Deskription seiner inneren erotischen Beweggründe kann man jedoch für einen expressionistischen Zug halten. Damit hängt auch die Form vor allem des ersten Aktes zusammen, einer Reihe von Szenen ohne lineare Handlung. Alles Äußerliche (z.B. die Darstellung von Juans Charakter durch episodische Handlungen, wie es bei Da Ponte der Fall war) würde hier in Bezug auf den Schwerpunkt der expressionistischen Merkmale überflüssig und inhomogen wirken. Das Sujet zu Flammen wurde von Anfang an als Opernlibretto geschrieben, nicht als Schauspiel (ich verzichte auf die nicht realisierte szenische Suite, die, nebenbei bemerkt, auch in ihrer Beziehung zur Musik eher librettistischen Grundsätzen entspricht als jenen des Schauspiels), und es gelten für dieses Werk auch die Grundsätze der Librettistik des 20. Jahrhunderts. Während im 19. Jahrhundert die Dramaturgie einer Oper und eines Schauspiels scharf getrennt waren, wird bereits zur Jahrhundertwende diese Trennung wesentlich überbrückt. Eine Verdi-Oper verwendet aus dem Schauspieldrama nur das die emotionellen Situationen schaffende Skelett der Handlung, alles andere unterwirft sie der formalen Struktur der Operngattung. Mit einiger Übertreibung kann man sagen, dass der Handlungsrahmen nur die emotionellen Auftritte verbinden sollte.47 Am Beginn des 20. Jahrhunderts arbeiten die Komponisten häufig mit einem unveränderten oder nur leicht bearbeiteten dramatischen Text (Salome, Wozzeck, Jenůfa usw.). Zum Objekt der Vertonung wird also eine ganzheitliche und selbständig funktionierende drama- tische Struktur, in der sich die Impulse der Wagnerschen Dramatik widerspiegeln. Bei Wagner bot das Libretto jedoch ein Netz von zusammenhängenden Gedanken, das die Leitmotive aufnimmt. Die Opern des 20. Jahrhunderts funktionieren eher auf der Basis von übereinstimmenden Beziehungen zwischen Text und Musik, wie es Erik Fischer charakterisiert hat.48 Die enge Beziehung von Musik und dramatischem Text in der so genannten Literaturoper zielt darauf ab, den Dualismus im Zeitverlauf zwischen den dynamischen Szenen der Handlung und der Statik der monologischen Auftritte, die die Emotionen der Person aufzeigen, zu überwinden. Dies bringt uns zur Erkenntnis, dass die Flammen keinesfalls als Literaturoper zu bezeichnen sind, weil ihr wesentlicher Teil (eine Ausnahme bildet die Szene der „Karnevalsnacht“) praktisch nur aus monologischen Auftritten ohne erkennbare Handlung besteht. Das Libretto schreitet nur als Reihenfolge geschlossener, typisierter Szenen vorwärts, die jedesmal durch die Musik als paralleles

47 Dahlhaus spricht in diesem Zusammenhang von einer „ausplündernde[n] Librettistik“. Carl Dahlhaus, „Zur Dramaturgie der Literaturoper“, in: ders., Vom Musikdrama (s. Anm. 28), S. 240. 48 Erik Fischer, Zur Problematik der Opernstruktur. Das künstlerische System und seine Krisis im 20. Jahrhundert (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Bd. 20), Wiesbaden 1982, S. 24. 196 Jirˇí David

künstlerisches System ergänzt werden.49 Die differenzierte Opernzeit bleibt in Flammen scheinbar präsent, doch mit einer maximalen Unterdrückung der Handlungsszenen und mit eindeutigem Übergewicht des statischen, emotionellen Elements, das den expressi- onistischen Charakter des Werkes zusätzlich betont. Während das Libretto der Oper Flammen eine gewissermaßen einheitlich stilisierte, auf den Expressionismus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg verweisende Struktur besitzt, kann man dasselbe allerdings nicht von seiner Vertonung sagen, die eher dem erwähnten Polystil des 20. Jahrhunderts entspricht. Die Anwendung des aus der Literatur und der bildenden Kunst entlehnten Begriffs Expressionismus in der Musik ist ein wenig problematisch. Üblicherweise wird er auf eine gewisse Anzahl von zwischen 1909 und 1923 entstandenen Werken angewendet (Erwar- tung, lunaire, Wozzek) und durch die der „atonalen“ Periode Arnold Schönbergs und seiner Schüler entsprechenden musikalischen Merkmale – wie den Verzicht auf den Dreiklang, die Emanzipation der Dissonanz, eine unperiodische melodische Linie mit „unsingbaren“ Intervallen und das Fehlen der unterstützenden tonalen Harmonie usw. – charakterisiert. Außer diesen dem musikalischen Expressionismus im engeren Wortsinn entsprechenden Werken gibt es jedoch auch jene, die zwar expressionistische Texte verwenden, musikalisch jedoch auf ganz anderen Prinzipien beruhen (z.B. Hindemiths Mörder – Hoffnung der Frauen). Solche Werke würden dann der weiteren Definition des Begriffs entsprechen, und ein solches Werk ist auch Schulhoffs Oper Flammen. Die Stilpluralität hat schon seit jeher zum kompositorischen Ausdruck Schulhoffs gehört. Seine schöpferische Entwicklung, in der sich die ganze Reihe der Tendenzen der 1920er und 30er Jahre widerspiegelt, zeigt dies deutlich genug. Zugleich verraten seine Kompositionen jedoch auch eine ihnen gemeinsame Schreibweise und eine ge- wisse wechselseitige Verbindung.50 In den kleineren kammermusikalischen Werken (aber auch in den Symphonien) erzielt Schulhoff diese innere Verbindung mit Hilfe von rein musikalischen Mitteln. Bei den abendfüllenden Flammen wird die innere Einheit durch die dramatische Linie erzielt. Den Polystil Schulhoffs in Flammen kann man als Anwendung verschiedener kompositorischer, vom Charakter der jeweiligen Szene abhängiger Mittel definieren. Der Ausgangspunkt der musikalischen Sprache dieser Oper erscheint immer in jenen Szenen, in denen das Verhalten der Personen von ihrer Leidenschaftlichkeit be- stimmt wird. Hier arbeitet Schulhoff vorzugsweise mit der Instrumentierung als wichtigem Ausdrucksmittel. Das Instrumentarium in Flammen ist auf den notwendigsten Apparat reduziert, wobei die Möglichkeiten verschiedener Klangfarben beibehalten werden. Er

49 Mikuláš Bek analysierte die Struktur der Oper Flammen mit Hilfe der Methode der vertikalen Montage, siehe Bek, Erwin Schulhoffs Oper Flammen (s. Anm. 11), S. 103. 50 Analytisch behandelt z.B. bei Wolfgang Rüdiger, „Vielfalt und Einheit. Analytische Überlegungen zu Erwin Schulhoffs Divertissement für Klarinette, Oboe und Fagott“, in: Widmaier, Korfmacher (Hg.), „Zum Einschlafen gibt’s genügend Musiken“ (s. Anm. 3), S. 79-98; Michael Kube, „Zwischen Tradition und Foxtrott. Erwin Schulhoffs Werke für Streichquartett“, in: ebenda, S. 61-78. Erwin Schulhoffs Flammen 197

verwendet nur die obligaten Streicher und Bläser, vor allem Holzbläser, die um Kontrafa- gott, Bassklarinette oder Englischhorn ergänzt werden. Aus demselben Grund verwendet er auch die Harfe und eine breite Skala von Schlaginstrumenten. Das Orchester hat die Funktion, Flächen von orchestralen Farben zu schaffen, und zwar unterhalb der chromatisierten vokalen Linie sowie auch in den Zwischenspielen. Deutlich wird das z.B. in der Szene „Lied des Feuers“ mit dem Text (Juan): „Geliebte, süße Traube“, in der zu den gehaltenen Tönen der Bläser die sordinierten Streicher Se- kunden- und Terzentremoli spielen. Auch die Arpeggi der Harfen, Glockenspiel, Celesta und Vibraphon unterstützen die expressive Aufsplitterung. Die Harmonik dieser Stelle ist statisch: Zum Septakkord c – e – g – b erklingt in den Hörnen und Streichern (in Tre- moli) fis und in den Kontrabässen as. Man kann diese Stelle auch bitonal erklären, als Zusammenklang zweier alterierter Akkorde b – (d) – fis + as – c – e – g. Der Komponist hat hier eine kompakte Fläche einer bestimmten Timbre-Charakteristik geschaffen, die Dissonanz ist kein Selbstzweck. Man kann nicht sagen, dass Schulhoff die Grenze der Tonalität überschritten hätte, doch werden von ihm die Beziehungen der tonalen Har- monik sehr gelockert. Für die Harmonik Schulhoffs in Flammen ist die Zerlegung des tonalen Zentrums durch Verwendung von mehrdeutigen harmonischen Vorgängen oder die Verdichtung und Alterierung der Akkorde charakteristisch. Ein anderer Fall der Aufsplitterung des Klangmaterials ist die Verwendung von Ton- reihen. In Takt 45 der 1. Szene finden sich in den Streichern und Bläsern Läufe in Ge- genbewegung, bei denen die Intervallstruktur eine wichtige Rolle spielt. In beiden Läufen wechseln regelmäßig immer ein Ganzton und ein Halbton. In den Streichern ist es eine aufsteigende Reihe 1 – ½ – 1 – ½ – 1 – ½ – 1, in den Bläser ist diese Struktur genau umgekehrt: absteigend, mit den Intervallen ½ – 1 – ½ – 1 – ½ – 1 – ½. Diese Fläche dient Schulhoff wieder zur Zerstörung des klaren und prägnanten musikalischen Ausdrucks zugunsten von Unbestimmtheit und „Verschmiertheit“ (die Läufe sind noch durch das Glissando der Harfe über drei Oktaven verschleiert). Dieses Beispiel bezeugt auch den wesentlichen und bei Schulhoff bisher wenig betonten Zug zum Konstruktivismus.51 Diese kompositorische Technik, die wir als absichtliche Zerstörung der klaren me- lodisch-harmonischen Linie charakterisiert haben, wird in jenen Szenen aufgegeben, in denen die Personen andere Charakterzüge als dunkle Triebhaftigkeit zeigen. Einen besonderen Fall stellt in diesem Zusammenhang in Flammen die Verwendung von Jazz- elementen dar.52 Die außerordentliche Rolle dieses Genres im Rahmen der Partitur von Flammen ist bereits durch seine Ausgliederung aus dem Orchester und seine Platzie- rung auf der Bühne betont. Obwohl Schulhoff oft als Bahnbrecher und ausnahmsloser Verteidiger der Jazzmusik als eines innovativen, erfrischenden Windes in einer Phase

51 Auf das konstruktivistische Prinzip seiner Arbeit in Flammen verweist allerdings Schulhoff selbst, siehe Schulhoff, „Má opera ‚Plameny‘“ (s. Anm. 16), S. 203. 52 Der Begriff „Jazz“ ist hier selbstverständlich im Sinne der Terminologie der Zwischenkriegszeit zu verstehen. 198 Jirˇí David

des Untergangs der europäischen Musik verstanden wird,53 ist seine Beziehung zu die- sem Phänomen nicht so eindeutig. Auch hier zeigt sich die Wandlungsfähigkeit seiner Persönlichkeit, von der bereits die Rede war. Flammen ist eines der letzten Werke, in denen Schulhoff den Jazz als gleichberechtiges Mittel seiner musikalischen Aussage verwendet hat. Später erscheint er nur noch in der Zweiten Symphonie (WV 101), in einigen kleineren kammermusikalischen Werken und im Jazzoratorium HMS Royal Oak (WV 96), bei dem jedoch umstritten ist, inwieweit es von Schulhoff als seriöses Werk gedacht war oder ob er es nur aus finanziellen Gründen komponiert hat.54 Auch später hat Schulhoff zwar den Kontakt mit dem Jazz nicht verloren, ihn jedoch immer mehr nur als Mittel verstanden, seinen Lebensunterhalt zu sichern, und in den ernst gemeinten Werken auf Jazzelemente verzichtet. Der Kontext der dramatischen Situationen, in denen der Jazz in Flammen verwen- det wurde, nimmt Schulhoffs spätere Abwendung von diesem Genre vorweg. Jazz als „Bühnenmusik“ erscheint an vier Stellen. Zum ersten Mal in der Szene „Mitternacht“ als musikalisches Gegenteil zum choralartigen Gloria, als Symbol des Konflikts zwischen Juan und dem Tod. In der Handlung, in der das Leben seine positiven Werte verliert, tritt der Jazz als Symbol der negativen Kräfte auf; die übrigen drei Beispiele seiner Ver- wendung haben dieselbe Funktion: in der Szene „Karnevalsnacht“, in der Juan seinen ursprünglichen Charakter als Verführer annimmt, dann unmittelbar nach dem Tod des Komturs – auf der Bühne wird das Verbrechen des Mordes begangen, doch Juan lässt sich nicht aus der Fassung bringen und tanzt einen Foxtrott. Der letzte Fall ist der Schluss der „Bankett“-Szene, in der Juan die Möglichkeit genommen wird, zu sterben und zur erwünschten Erlösung zu kommen – die Szene soll sofort in eine Bar verwandelt werden, in der eine stilisierte Jazz-Kapelle aufspielt. Der Jazz wird in Flammen also fast leitmoti- visch mit negativen Handlungskonnotationen verbunden und funktioniert nicht mehr als Symbol eines „frischen Windes“ auf dem alten Kontinent. Er erscheint stets gemeinsam mit herunter gekommenen menschlichen Charakteren oder direkt als Darstellung eines Weges in die Hölle. In diesem Punkt hängen also Flammen mit der Entwicklung der Meinungen über den Jazz in der europäischen Musik zusammen, in der seine Bedeu- tungszuschreibung traditionell zwischen zwei Polen oszilliert hat. Durch die Verwendung verschiedener kompositorischer Techniken, die durch eine dramatische Linie verbunden sind, reiht sich Schulhoff also eindeutig in den Kontext der modernen Oper der Zwischenkriegszeit ein, und das sogar trotz seiner proklamierten Anknüpfung an Wagner und seiner Ablehnung von Werken, in denen um jeden Preis telefoniert und mit dem Auto gefahren wird. Auch in der Oper der neuen Zeit soll Raum für die Darstellung von Emotionen bleiben, die Modernität basiert nur auf einer neuen

53 Vgl. Emil František Burian, Jazz, Praha 1928. 54 Schulhoff hat das Oratorium kurz nach den Flammen im Jahre 1931 vollendet. Es war eines jener Werke, bei denen er mit einer sofortigen Veröffentlichung bei der Universal Edition rechnen konnte. Bek, Erwin Schulhoff (s. Anm. 2), S. 110-113. Erwin Schulhoffs Flammen 199

Auffassung der historischen Aufgabe der Gattung. Eine moderne Auffassung soll sich nach den Worten Schulhoffs aus dem Jahre 1924 am kammermusikalischen Ausdruck und den engeren Beziehungen zwischen Musik und Handlung orientieren:

Die Musik übernimmt den akustisch-illustrativen Teil [...] der ganzen Operngestalt. Von der Illustrationsmusik des Wagnerstils, welche jeder Person oder einer bestimmten Handlung ihr eigenes Motiv unterlegt und in ihrer kontrapunktischen Komplikation ein eminent polyphones Gewebe darstellt, wird jetzt mehr und mehr abgewichen, dadurch eine enge Verschmelzung zwischen Handlung und Musik erzielt [...].55

Dem entspricht auch die Modernität der Inszenierung auf der Bühne mit ihrer breiten Ver- wendung des Tanzes, weil (nach dem gleichen Artikel Schulhoffs) die Ballettpantomime als „Ausdruck unserer erotischen Zeit“ funktioniert. Zum Schluss unserer Betrachtungen soll die Botschaft angeführt werden, die Schul- hoff in seiner „Anrede“ an das Publikum vor der Vorstellung formuliert hat. Sie zeigt die hohe Einschätzung und die künstlerischen Ansprüche, die der Komponist mit seinem Werk verbunden hat, ebenso wie seine künstlerische Verantwortung, die er seinem Werk gegenüber spürte und die er auch von seinem Publikum verlangte. In diesen Zeilen ist Schulhoff kein „Modemusiker“ mehr. Seine Verantwortung den Flammen gegenüber und seine Absicht, in seinen Werken auch eine wesentliche Stellungnahme abzugeben, deutet bereits Schulhoffs künftige Entwicklung zu größeren Formen an:

Ziehen sie nicht den Fehlschluss, dass dies nur Theater um der oberflächlichen Sensation willen ist, sondern Theater um des Theaters willen, und wer unter ihnen dennoch Sensationen sucht, und vermeint, diese gefunden zu haben, ist oberflächlich genug, die Handlung nicht zu verstehen. Die Moral findet sich erst dann im Kollektivum, wenn der einzelne fähig ist, unter vielen schlechten Eigenschaften auch gute zu finden, darunter auch sein eigenes Ich.56

55 Erwin Schulhoff, Der neue Opernstil. Zitiert nach der Handschrift im Tschechischen Museum der Mu- sik, Fonds ES, S. 173. Veröffentlicht auf Tschechisch als: Erwin Schulhoff, „Nový operní sloh“ [Der neue Opernstil], in: Národní a Stavovské divadlo 1 (1923/24), Nr. 35 (25.5.1924). 56 Siehe Anm. 26. 200 Jirˇí David

Der Brief Schulhoffs an seinen Librettist K. J. Beneš vom 10. Dezember 1929, mit welchem der Komponist die Fertigstellung der ganzen Partitur ankündigt. Die Verwendung des Kryptogramms statt klassischer Unterschrift kann auf seine mit dieser Fertigstellung verbundene enthusiastische Stimmung hinweisen (Literarisches Archiv der Gedenkstätte des nationalen Schrifttums Prag, Fonds KJB, 94/71, Inv.Nr. 4481; siehe auch Anm. 22).