Werkraum Schlotterbeck Vor 25 Jahren startete Basels erste grosse Zwischennutzung. Seite Drahtzieher erinnern sich. 6

Freitag 9. 10. 2015 5. Jahrgang 5.– www.tageswoche.ch Nr. Gerbergasse 30 4001 Basel 41 T 061 561 61 80

IM SCHLOTTERBECK

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INHALTThomas Maissen Foto: keystone

Der Historiker Thomas Maissen wehrt sich gegen die Geschichtsdeutung der SVP. Seite Ein Gespräch über Mythen, Schlagworte und rhetorische Duelle mit Blocher. 28

Andreas Räss Foto: nils fisch Sealand Foto: keystone

Der neue Integrationsbeauftragte Seite Vor der englischen Küste gründete Seite zieht nach drei Monaten Bilanz. 14 ein Radiopirat seinen eigenen Staat. 34

Kirche Thomas Steinbrugger S. 4 Bestattungen S. 24 Wie eine diskrete Gruppe von Kulturflash S. 41 Sie, er, es S. 43 progressiven Bischöfen in Impressum S. 43 St. Gallen die Reformen aufgleiste, Kultwerk S. 44 die Papst Franziskus heute in Wochenendlich S. 45 Seite Zeitmaschine S. 46 Rom vorantreibt. 32

TagesWoche 41/15 EDITORIAL PORTRÄT 4

Die wüste Schlacht um die Schlacht Thomas Steinbrugger von Samuel Waldis arignano heisst heute Melegnano und Als Profikletterer holte sich Thomas befindet sich im Grossraum von Mai- Steinbrugger Pokale. Jetzt nutzt er sein land. Vor 500 Jahren bekriegten sich Können, um an den exponiertesten Andreas Schwald M Stellen der Alpen Kristalle zu bergen. dort die Eidgenossen mit den Franzosen um das Chefredaktor a. i. Herzogtum Mailand. Sie – also wir – unterlagen, it einer Notdurft in luftiger Höhe hat das neue Leben das Resultat: Das Ende der damaligen Expansi- des Thomas Steinbrugger onslust der Alten Eidgenossenschaft. begonnen. Der österreichi- Msche Kletterer stieg auf der Suche nach ei- Die Schlacht von Marignano wird bereits Weiterlesen, S. 28 nem ruhigen Ort einen Couloir im Gott- seit gut 100 Jahren als Fundament einer Schwei- hardmassiv hoch. Weiter oben sah er ein grosses Loch im Fels. Eine Höhle, die ihn zer Neutralitätspolitik zurechtgedeutet. Jetzt neugierig machte. Aus Erzählungen wusste dient das Ereignis SVP-Politikern als kräftiges er, dass es eine Kluft sein musste. «Jeder Historiker Ungesichert kletterte er die 15 Meter zu Symbol, um im Jahr 2015 einer aussenpolitischen hat politische Über- der Stelle hinauf. Und was er dort fand, hat Abschottung das Wort zu reden: Die Schweiz soll zeugungen», den inzwischen 46-Jährigen bis heute nicht tageswoche.ch/ mehr losgelassen: einen Kristall, so gross eine Insel im wirren Europa bleiben, schliesslich +g609y wie zwei Milchtüten nebeneinander. vergossen unsere alteidgenössischen Vorfahren Acht Jahre später, auf der Terrasse eines Basler Cafés, beschreiben Steinbruggers dafür auf fremdem Boden ordentlich Blut. kräftige Hände die Form seines Fundes. Das aber geht so nicht. Zwar könne man Pro- Die Geste ist nachdrücklich, als wolle er ­damit seine Faszination für den über Milli- bleme von heute anhand von historischen Bil- onen von Jahren gewachsenen Festkörper dern diskutieren, sagt Historiker Thomas Mais- unterstreichen. sen im Interview mit der TagesWoche. Doch es Klaustrophobie und Höhenschwindel handelt sich eben um Bilder; und die Deutungs- Verkauft hat Steinbrugger den Kristall erst viel später. Heute verdient er die Hälfte hoheit könne nicht einer politischen Partei über- seines Lebensunterhaltes als Strahler. Er ist lassen werden. Maissen gilt als einer der wenigen einer von rund 50 professionellen Kristall- suchern im Alpengebiet. Der ehemalige Historiker, die sich in die Debatte einmischen. Profikletterer gehört dabei zur Minderheit «Es ist durchaus befriedigend, wenn man derjenigen, die das wertvolle Gut auch an exponierten Stellen im Gebirge suchen. mit Argumenten punkten kann und auch Zuerst sucht er die Felswände vom Heli- ­Applaus und einige Lacher auf seiner Seite hat», kopter aus ab. Dabei achtet er auf Unregel- mässigkeiten im Gestein – das Indiz für er- resümiert Maissen seine öffentlichen Debatten tragreiche Kluften. Hat er eine solche ent- mit SVP-Chefdenker Christoph Blocher. deckt, klettert er zu der Stelle, gesichert von seinem 20 Jahre jüngeren Bruder Philip. Bleibt zu hoffen, dass er weiteren Historikern In hochalpinem Gebiet, meist im kris- Mut macht. Mut, aufzustehen und Paroli zu bieten, tallreichen Gotthardmassiv, arbeitet er in engen, tief in den Fels führenden Höhlen wenn der Gegenwart ein Zerrspiegel aus ideologi- und Spalten, an Stellen, wo Eis- und Stein- scher Geschichtsdeutung vorgehalten wird. schlag drohen. Schon drei Strahler seien dieses Jahr ums Leben gekommen, sagt Was die Schweiz braucht, ist eine Debatte zur Steinbrugger, der als Alpinist immer wie- Aussenpolitik – gerade, wenn sich die EU mit der der mit dem Tod konfrontiert ist. Er selbst hat viele Freunde in den Bergen verloren. Flüchtlingspolitik an ihrem Limit bewegt. Es Dass er als Vater einer Tochter seinen kann nicht sein, dass wir die Rolle der Schweiz im Beruf mit der nötigen Umsicht erledigen kann, verdankt er seiner Vergangenheit als politischen und wirtschaftlichen Umfeld des Jah- Profisportler. Im Eisklettern war er Welt- res 2015 anhand einer Geschichtsklitterung von cupsieger, Vize-Weltmeister und österrei- chischer Champion. Ereignissen aus dem Jahr 1515 debattieren. Von diesem Leben, das ihn als Protago- tageswoche.ch/+flxtl × nist in Magazinen und Videos interessant

TagesWoche 41/15 5

Thomas Steinbrugger klettert nach natürlichen Schätzen im hochalpinen Raum. Foto: alexander preobrajenski für Sponsoren machte, hat sich Steinbrug- Abwasch. Und am Berg ist er Thomas’ erster seiner Zeit als Profikletterer sein Sponsor ger abgewendet. Die Kletterindustrie mit Partner. Die Blutsverwandschaft sei ent- ansässig war. ihren Expeditionen, in die sich Zahlungs- scheidend, das gegenseitige Vertrauen voll- Irgendwann will er ganz von der Strah- willige einkaufen, um sich auf den höchs- kommen, sagen beide. lerei leben können. Schliesslich entdeckt er ten Gipfeln der Erde gegenseitig auf die Den Sommer verbringen sie jeweils in Kluften heute nicht mehr per Zufall auf der Füsse zu treten, ist ihm heute ein Graus. den Bergen. Im Winter verkauft Thomas Suche nach einem stillen Örtchen. Er hat Steinbrugger stellt sich das Leben in den Steinbrugger die Steine; an Messen, direkt ein Auge für den Fels entwickelt und eine Bergen anders vor. Die natürliche Umge- an die Händler, an Esoterik- oder Sport- ganz eigene, geheime Methode, mit der er bung sei «ehrlich und direkt» und gebe ihm geschäfte. Zwischen einem und 25 000 die ertragreichen Stellen findet. Diese mar- Kraft und Energie. Das Leben als Strahler ist Franken kosten seine Kristalle. kiert der Österreicher in den Schweizer spartanisch. Die Brüder Steinbrugger ar- Bergen mit seinem Kürzel «S.T.15». beiten draussen, essen in luftigen Höhen Geheime Methode Nach den Regeln der Strahler ist es das und schlafen unter freiem Himmel, in Bi- Seit zwei Jahren sucht Steinbrugger nun Zeichen, dass eine Kluft für seinen Finder waks oder Felshöhlen. Die Enge der Kluften professionell nach solchen. Finanziell ist er reserviert ist. Die meisten Stellen müsste macht Steinbrugger manchmal zu schaffen. nach wie vor auf seine Winterbeschäftigung Steinbrugger eigentlich gar nicht markie- Vor dem Abseilen fürchtet er sich gar. angewiesen: Der gelernte Schreiner baut ren. Sie liegen derart exponiert, dass sie Im Team ist Thomas verantwortlich für Wohnungen und Häuser um. Aktuell erle- ausser dem einstigen Profikletterer ohne- die Kristallsuche und alles, was die Klette- digt er, ebenfalls mit seinem Bruder, einen hin kaum jemand erreicht. rei betrifft. Philip fürs Kochen und den Auftrag in Basel, wo er Freunde hat und zu tageswoche.ch/+imkbi ×

TagesWoche 41/15 Werkraum Schlotterbeck 6 Daniel Häni und Markus Ritter erinnern sich an die erste grosse Zwischennutzung in Basel. Ein Gespräch über Raumverteilung durch Kreidezeichnungen, das Zusammenspiel von kommerziell und alternativ sowie kleinkarierte Linke. foto: Walter + Spehr Walter foto: 77 «IM SCHLOTTERBECK BESTIMMTEN JENE,

DIE WAS UNTERNEHMEN WOLLTEN» 8 Von Hans-Jörg Walter Ritter: Wir stellten genau diese «Über- Regionalvertretung musste ihnen die Idee windung der Gegensätze» ins Zentrum des Werkraumes mehrere Male rapportie- or 25 Jahren startete ein bis dahin ­unserer Kommunikation. Wir traten als ren und sich fragen lassen, ob sie das wirk- undenkbares Zwischennut- ­Mischung von Menschen mit unterschied- lich ernst meine. zungsprojekt, der Werkraum lichster Herkunft und Gesinnung auf, und Wie ging es weiter, nachdem die Schlotterbeck. Eine grosse ehe- es war für unser Gegenüber nicht so ein- Zustimmung zum Projekt vorlag? Die Vmalige Autogarage im Bauhausstil der fach lesbar, wo wir hingehörten. 2500 Quadratmeter mussten ja unter 1920er-Jahre an der Viaduktstrasse zwi- der bunten Nutzerschaft aufgeteilt schen dem Schwimmbad Rialto und der werden. Markthalle. Das architektonische Unikum Häni: Anstatt den wertvollen Platz in wurde drei Jahre lang von Kunstschaffen- ­einer kleinen Gruppe zu verteilen, haben wir den und Handwerkern genutzt, bevor es alle Interessierten eingeladen, ihre Ideen 1994 abgebrochen wurde. Aus dem erfolg- dem Plenum vorzustellen. Die Aussprache reichen Projekt entstanden weitere Zwi- war eine sehr effektive Methode. Daraus ent- schen- und Umnutzungen (nt/Areal, Bell, standen spannende Ansätze und auch Kon- Epoque, Stücki), die teilweise (Werkraum flikte, die sich aber organisch lösten. Warteck, Unternehmen Mitte, Gundeldin- Das lief aber nicht nach dem Prinzip gerfeld) heute noch existieren. Vollversammlung, das im AJZ oder in Ein Vierteljahrhundert später sprechen der Stadtgärtnerei praktiziert wurde: wir mit zwei Drahtziehern von damals: Der Lauteste wird am besten gehört? ­Daniel Häni (49), Unternehmer, Mitbegrün- Ritter: Wir haben hinter dem Plenum, in der des Kultur- und Kaffeehauses Unter- dem alle Nutzer beteiligt waren, eine Struk- nehmen Mitte sowie Mitinitiator der Volks- tur gebaut, die als Glied zwischen Bank und initiative «Für ein bedingungsloses Grund- Werkraum diente. Zu Beginn gründeten wir einkommen», und Markus Ritter, damals sogar einen Verein, der den Zweck hatte, Freiraumaktivist und Biologe; heute die «Im Schlotterbeck gab es ­einen Trägerverein zu gründen. Das Ple- rechte Hand von Regierungspräsident Guy num war aber der Ort der Entscheidung. Morin. Das Gespräch führte Hans-Jörg offene Arbeitsräume, Häni: Gerade die Erfahrungen aus AJZ Walter, Creative Director der TagesWoche und Stadtgärtnerei hatten mich veranlasst, und damals mit seinem frisch eröffneten wo sich die Menschen einen anderen Weg einzuschlagen. Im Fotostudio im Schlotterbeck aktiv. Schlotterbeck bestimmten nicht die mit Beschäftigen wir uns zunächst mit der begegnen können. den lautesten Stimmen, sondern jene, die Vorgeschichte: In den Achtzigerjahren was unternehmen wollten. herrschte eine ganz andere politische Heute sieht man genau Das hat mich so in diesen Werkraum Atmosphäre als heute. Wie habt ihr das gezogen: Nicht die «geilen» oder erlebt? dieses Konzept auf dem «lauten» Projekte Einzelner, sondern Markus Ritter: Basel war eine linke Stadt die gegenseitige Neugier und die mit starkem Bürgerblock. Links, weil sie Novartis Campus.» Interaktion zwischen den schaffenden eine Industriestadt war. Die Geschichte des Nachbarn. Es war für mich ganz 20. Jahrhunderts war schön abgebildet. Markus Ritter wichtig mitzuerleben, wie Menschen Auch die Medienlandschaft zeigte das bei- nebeneinander und miteinander leben spielhaft: Es gab noch richtige Partei­ Es gab starken Gegenwind. und schaffen. Figuren, die ganz zeitungen mit der sozialdemokratischen Ritter: In der Verwaltung sassen zu die- unterschiedliche Sachen machen und «AZ», der «Nordschweiz» als CVP-Blatt und ser Zeit noch die letzten Kämpfer gegen andere Herangehensweisen an die der (heute lamentablen) «Basler Zeitung», den Kommunismus. Problemstellungen ihres Schaffens die damals liberale und linksliberale Gesin- Häni: Es war eine Gratwanderung. Die verfolgen. Zeuge von Schöpfungspro- nungen vereinigte, sowie der «Basler Rechten sagten: Was ihr wollt, ist Kommu- zessen anderer sein zu dürfen und ­Woche», die sehr altbaslerisch-konservativ nismus, und die Linke meinte: Was ihr da Nachbarn am eigenen Wirken partizi- daherkam. propagiert, ist Kapitalismus. Ihr kooperiert pieren zu lassen. Daniel Häni: 1989 fiel der Eiserne Vor- mit unserem Klassenfeind. Ritter: Das macht heute auch die Gross- hang. Ich war damals im November in Ber- Ritter: Das linke Blatt «Dementi» warf industrie. Offene Arbeitsräume, in denen lin. Dort war eine echte Aufbruchstim- uns Krypto-Kapitalismus vor. sich die Menschen begegnen können und mung spürbar. Und drei Wochen nach dem Häni: Das war lächerlich. Vielmehr war dadurch weniger im eigenen abgesteckten Fall der Berliner Mauer fand hier in der der Schlotterbeck ein Pilotprojekt einer Bereich ertrinken. Im Novartis Campus Schweiz die Volksabstimmung zur Ab- ­sozial-liberalen Zusammenarbeit. sieht man genau dieses Konzept. Vor 25 Jah­ schaffung der Armee statt. Das war ein Habt ihr dann einfach gut verhandelt, ren arbeiteten die alle noch jeder für sich Schlüsselmoment, in dem unsere damals dass es trotzdem geklappt hat? hinter verschlossenen Türen in ihren unkonventionellen Ideen jenseits vom Ritter: Da müssen wir die andere Seite ­Kaninchenställen. Blockdenken auf fruchtbaren Boden fielen. loben, die Vertreter der Basler Volksbank … Wie weit hat der Raum, die Architektur, Und durch die Volksabstimmung zeigte Häni: Wir sitzen hier übrigens in dem dem Projekt geholfen? sich, dass wir gar nicht so wenige sind: Raum, in dem damals verhandelt wurde. Ritter: Der Raum war sensationell. Wir Mehr als jeder Dritte stimmte Ja zur (In der ehemaligen Volksbank an der Ger- hätten dieses Projekt mit diesem Rückhalt ­Abschaffung der Armee. bergasse, wo heute das Unternehmen Mit- in der Stadt auch woanders machen kön- Vorläuferprojekte des Schlotterbeck te liegt und die TagesWoche ihre Redakti- nen, doch die Offenheit und das Licht wie das Autonome Jugendzentrum onsräume hat.) Aus der Distanz ist anzu- ­waren einzigartig, begeisternd. (AJZ) der Siebziger- und Achtziger- merken, dass die Vertreter der damaligen Häni: Der Raum war kongruent zu unse- jahre und auch die besetzte Stadtgärt- Volksbank echt über ihren Schatten ge- rer Idee, alles auf einem Stockwerk zu ver- nerei (1987) waren eher Protestbe- sprungen sind. Das Argument, dass es nicht einen: Nähe, Weite und Überblick. Die wegungen, also in Opposition zum effizient sei, die Räume drei Jahre unge- ­Architektur ist uns sehr entgegengekom- herrschenden System angelegt. Der nutzt zu lassen, hat sie getragen. men. Beim Folgeprojekt Warteck sah man, Schlotterbeck als konstruktives Projekt Ritter: In der Zentrale der Volksbank in wie kleine, verschachtelte Räume kontra- brauchte aber mehr als gute Absichten. Zürich waren sie sehr skeptisch, die Basler produktiv wirken können. 

TagesWoche 41/15 Kein Flügel des Raumschiffs Schlotterbeck, hier wurde ein grosser Tisch für eine Tafelrunde gebaut. foto: Walter + Spehr

Werkraum Schlotterbeck Künstler, Designer, Tänzer, ein Clown, eine Kaffeemaschinenwerkstatt, ein Sattler, Drei Jahre bestand die erste Zwischennutzung zwei Schreiner, drei Schlosser und einige Vertreter undefinierter Berufsgattungen Basels – sie wirkt bis heute nach. schafften nebst ihren eigenen Tätigkeiten in der 3000 Quadratmeter grossen Halle eine soziale Plastik, an der die ganze Stadt Soziale Plastik für die ganze Stadt teilnehmen konnte. Herzstück war die Kan- tine, wo der Austausch unter der Nutzer- von Hans-Jörg Walter schaft täglich zelebriert wurde. Partys, Vorführungen aller Art, Design- it Jubiläen ist es so eine Stockwerk einer alten Grossgarage aus den projekte, Symposien waren an der Tages- ­Sache. Es wird eine Zeit- 1920er-Jahren und wagten ein bis ­dahin un- ordnung. Die Grenze zwischen Mietern spanne zu einem zurücklie- denkbares Experiment. und Gästen war sehr fluid und für Besucher genden Ereignis gefeiert mit Für Künstler und Handwerker war es nicht ohne Weiteres ersichtlich. Meiner Zahl als Anlass, um zurückzublicken. damals schwierig, günstigen Raum zu Der Werkraum Schlotterbeck hat der In diesem Fall sind es 25 Jahre Werkraum ­bekommen. Vielmals überstieg eine markt­ Politik, der Wirtschaft und der kulturellen Schlotterbeck. Am 22. Oktober 1990 wurde übliche Miete die Möglichkeiten der Krea- Öffentlichkeit bewiesen, dass es sich für die erste Basler Zwischennutzung, wie wir tivindustrie, die damals­ noch Kunstgewer- alle Beteiligten lohnt, Zwischennutzungen sie kennen, vertraglich fixiert. Es gibt nun be genannt wurde. und Umnutzungen für brachliegende Flä- kein Fest und doch genug ­Anlass, dieses chen zu wagen. wegweisende Projekt zu beleuchten. Das Wagnis Zwischennutzung lohnt sich So betrachtet war der Werkraum Schlot- Die Tränengasschwaden aus dem Anstelle der Garage Schlotterbeck, wo terbeck ein Wegbereiter für weitere Projek- Kampf um Freiraum in den Achtzigern 60 Jahre lang an Jaguar und Citroën ge- te, die heute noch bestehen (Werkraum ­waren noch nicht ganz verzogen, da erhob schraubt wurde, sollte der neue Sitz der Warteck, Unternehmen Mitte, Gundeldin- sich das Raumschiff Schlotterbeck in das Schweizerischen Volksbank errichtet wer- gerfeld) oder auch schon Geschichte sind Kultur- und Gesellschaftsleben dieser den. Die Bank ermöglichte für die Zeit bis (nt/Areal, @home, Epoque, Bell, Stücki). Stadt. 80 Menschen aus den unterschied- zum Abbruch eine Zwischennutzung mit Diese drei Jahre wirken bis heute nach. lichsten Berufen mieteten für drei Jahre ein der interessierten bunten Nutzerschaft. tageswoche.ch/+g4l39 ×

TagesWoche 41/15 Im Atelier der Malfachklasse: Ruth Buck, Künstlerin. fotos: Walter + Spehr

Der junge Daniel Häni (l.) beim Schachspiel.

Teamwork: Fotografen, Grafiker, Gestalter, Journalisten teilten sich ein Atelier.

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Auch Handwerker fanden Platz: die Schlosserei im Werkstatttrakt.

 Noch mal zur Raumverteilung: Wie Danach entstanden weitere Zwischen- wurde die konkret organisiert? nutzungen, die Idee schien in der Häni: Wir nannten das «Kreidezeit». Die Gesellschaft angekommen zu sein: Interessenten zeichneten mit Kreide ihre Frobenius, Bell, Kiosk AG, Epoque … Wünsche im noch leeren Raum direkt auf Häni: Und es gab die ironische Kompo- den Boden. Bevor wir uns definitiv ent- nente, dass wir uns für den Schlotterbeck schieden, holten wir vom Abbruch der bis auf die Unterhosen ausziehen mussten, Messehalle grosse Fenster mit eingebauten um glaubwürdig zu sein, die Volksbank Rollläden. Damit markierten wir die ersten aber in diesen drei Jahren von der Credit Wände und konnten Transparenz und Suisse aufgekauft wurde. Der geplante ­Intimsphäre simulieren. Es war ein Work in Neubau von Richard Meier sollte die Kon- Progress. zernzentrale Nordwestschweiz werden … Ritter: In der Kreidezeit zeigte sich Ritter: Und wurde dann trotzdem ge- ­unmittelbar, wer wo was für Interessen hat. baut, um einige Jahre nur halb vermietet So gab es Ecken, in die gleich sieben hin- leer zu stehen. wollten. So wurde schnell allen klar, dass Häni: Wer hätte damals gedacht, dass das der Gemeinschaftsraum werden sollte. wir nur sieben Jahre später mit dem Unter- Das ganze Projekt war als auf drei nehmen Mitte in den Hauptsitz der Volks- Jahre begrenztes Provisorium angelegt bank einziehen würden? Das zeigt, dass es und bewilligt. manchmal ganz schnell gehen kann und Ritter: Für mich war es eine Last zu wis- «Wir haben damals sich Sachen grundlegend ändern können. sen: Wenn wir es nicht schaffen, den Aus- Im Werkraum gab es verschiedene zugstermin einzuhalten, dann gibt es gros- bewusst darauf Nutzungen, künstlerische wie auch se Probleme. Darum war es sehr wichtig, wirtschaftliche. Selbstverständlich war sich schon während der Zeit im Schlotter- verzichtet, vom Staat das aber nicht, es herrschten auch beck um Nachfolgeprojekte zu kümmern. gewisse Ressentiments. Häni: Die Nachfolgeprojekte entwickel- etwas zu erwarten, und Häni: Diesen ideologischen Wider- ten nie mehr diese Strahlkraft. spruch zwischen alternativ und kommerzi- Ritter: Die hatten auch nicht diesen waren schon zufrieden, ell haben wir im Schlotterbeck weitgehend Druck, der Schlotterbeck musste einfach aufgehoben. Es wurde klar, alle brauchen gelingen. Eine Besetzung nach dem Ende wenn er uns nicht Geld, auch wenn sie alternativ sind. Das der offiziellen Nutzung hätte ganz viel Thema Geld haben wir übrigens auch mit frisch Aufgebautes kaputt gemacht. behindert.» den Herren der Volksbank ausgiebig disku- Häni: Ich hatte nie Zweifel, dass wir das tiert. (Nachzulesen im Buch «Im Puls der schaffen. Und ich finde die zeitliche Daniel Häni 90er Jahre», Christoph Merian Verlag.) ­Begrenzung hat uns sehr viel Lebendigkeit Ritter: Wir haben ganz bewusst die und Flexibilität gebracht. ­Mischung in den Vordergrund gestellt,

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TagesWoche 41/15 auch der Begriff­ Werkraum sollte eine Idee Häni: Das ist ein spannender Punkt. Der ­geworden ist. Wenn die aus einem linken abbilden – dass man auch ökonomisch eine Staat tut sich schwer, etwas Neues zu unter- Umfeld entstandene Wohngenossenschaft Heimat hat. stützen. Sobald er zu etwas Neuem Ja sagt, Klybeckstrasse eine Baubewilligung für Häni: Und die Idee des Grundeinkom- entstehen daraus Folgeansprüche. Darum das Zwischennutzungsprojekt «Holzpark» mens trat schon damals in den Raum, also sagt er zuerst einfach mal Nein. Was meinst mit einem Rekurs blockiert, werden unsere etwa die Aufhebung der Trennung von du, Markus, du sitzt ja jetzt auf der anderen Autonomen zu Spiessern. ­Arbeit und Leben. Der Werkraum war Seite, beim Staat. Häni: Da kommt mir ein Spruch aus ­Arbeitsraum und Lebensraum. Ritter: (lacht) Ja, wer schon immer an ­dieser Zeit in den Sinn: Kennt ihr den Wie wurde denn das Ganze finanziert? den Schläuchen hing, den kann man nicht ­Unterschied zwischen den Rechten und Ritter: Wir mussten einen Businessplan abschneiden, und die Neuen haben immer den Linken? Die einen sind äusserlich erstellen und zeigen, dass wir die Miete mit den Nachteil, dass sie auch noch etwas kleinkariert, die anderen innerlich. den Nutzern auftreiben können. Es gab ­haben wollen. Wie hat sich nach dem Schlotterbeck Bürgschaften, die das Risiko abfedern soll- Andererseits gibt es aber auch in die Werkraumidee weiterentwickelt? ten. Wir haben eigentlich alles selber orga- linken Kreisen die Tendenz, einmal Wieso hört man nichts mehr von nisiert. Es gab keine staatliche Förderung, Errungenes zu bewahren und Ände- Werkräumen? das wollten wir auch nicht. Dafür aber ein- rungen zu bekämpfen. Häni: Das würde ich so nicht sagen. Der zelne kleine Spenden. Auch später beim Ritter: Aufeinander zugehen, in einer Schlotterbeck war ein Pionierprojekt und Werkraum Warteck war es eine Auflage, ­offenen Gemeinschaft wirken, ist schon hat die Methode der Zwischennutzung eta- dass es den Staat nichts kostet. eine Zeitsignatur, die heute komplexer bliert. Wenn ähnliche Projekte heute nicht

TagesWoche 41/15 foto: Walter + Spehr mehr für Aufregung sorgen, ist das sehr Staat als Hausbesitzer auftritt, steigen Die Liste der Institutionen und Figuren, die ­positiv, denn es zeigt, dass es selbstver­ die Ansprüche der Zwischennutzer. in diesen Werkraum hineinschnupperten, ständlich geworden ist. Ritter: Der Staat hat da ein Doppel­ ist sehr lang. Ritter: Das Gewerbe und die Industrie gesicht: Einerseits ist er Landbesitzer, der Ritter: Wir waren damals halt ausge­ haben sich seit den Neunzigerjahren aus auch ein Interesse an Zwischennutzungen sprochen «in». online den Städten zurückgezogen. In Basel war hat. Andererseits ist der Staat die Bewilli­ Häni: Das ist bei vielen solchen Ideen diese Entwicklung weniger ausgeprägt als gungsbehörde, das ist seine grässlichste und Projekten so – am Anfang ist man dage­ Weitere Bilder, an anderen Orten, sie hat aber auch hier Fratze. Doch um die kommt man nicht her­ gen und nachher sonnt man sich im Erfolg. Videos und eine stattgefunden. Industrielle­ Prozesse wur­ um. Die Verwaltung versucht seit ein paar Ich finde, das ist voll okay. interaktive den aufgegeben, weil sie nicht mehr renta­ Jahren Hilfe zu stellen, um diese Auseinan­ Ich war in diesen drei Jahren nie im Chronologie bel waren. Dieser Strukturwandel in der dersetzungen zu verflüssigen. Ausgang. Der Ausgang war da, wo zum Thema Industrie hat auch dazu geführt, dass Flä­ Häni: Wir haben damals bewusst darauf man wirkte. «Tout Bâle» verkehrte in finden Sie in chen auf den Markt kamen. Das macht das verzichtet, vom Staat etwas zu erwarten, unserer grossen Werkraumstube. unserem Modell Zwischennutzung zu einer interes­ und waren schon zufrieden, wenn er uns Häni: Und dabei hat niemand im Werk­ Dossier: santen Option. I­ nzwischen gibt es Profis, nicht behindert. Doch die Protagonisten raum gewohnt. Das war eine eiserne Regel: tageswoche.ch/ die den Markt nach solchen Objekten von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft wa­ Nicht wohnen. themen/ ­absuchen. ren bald zu Gast im Werkraum. Es war chic, Ritter: Denn das wäre der Anfang einer Werkraum Zwischennutzungen von Privatliegen- dorthin zu kommen, seine Mitarbeiter­ Besetzung gewesen … Schlotterbeck schaften sind das eine, doch wenn der nlässe oder Symposien dort abzuhalten. tageswoche.ch/+11pnv ×

TagesWoche 41/15 14 Integration von Yen Duong Basel profitiere von den Ausländern, eit 1. Juli ist Andreas Räss neuer Leiter der Fachstelle für Diversität findet Andreas Räss, der seit drei und Integration im Präsidial­ departement. In der Basler Verwal­ Monaten die Integrationsstelle leitet. Stung arbeitet der Zürcher aber schon seit 15 Jahren – zuletzt war er stellvertretender Leiter des Amts für Migration. Der 50-Jäh­ rige hat den Job von Nicole von Jacobs übernommen, die sich nach vier Jahren im Amt frühpensionieren liess. Geprägt wur­ «Das ist eine de dieses lange von Thomas Kessler, der heute Räss’ Vorgesetzter ist. Ein Gespräch über Ausländer, die sich nicht integrieren wollen, Expats, die er nicht zur Integration zwingen will, und den riesige Chance» Novartis Campus als Integrationskiller. Andreas Räss, bis vor wenigen Mona- ten arbeiteten Sie beim Migrationsamt foto: Nils fisch und waren dort für Ausschaffungen zuständig. Nun sind Sie Integrations- beauftragter. Der Seitenwechsel sorgte bei den Linken für Kritik. Hat Sie das überrascht? Ich war schon erstaunt darüber. Die Kri­ tik ist unbegründet, zumal Ausschaffungen nur einen kleinen Teil meiner Arbeit beim Migrationsamt ausmachten. Ausserdem hatte ich dort bereits sehr viel mit dem ­Thema Integration zu tun. So habe ich mit Thomas Kessler zusammen das Integra­ tionsgesetz ausgearbeitet. Es gab aber auch durchaus positive Reaktionen auf meine Wahl, dies vornehmlich von Personen, die mich bereits persönlich kennen, wie bei­ spielsweise von SP-Grossrat Mustafa Atici oder diversen Exponenten von Migranten­ vereinen. «Die Themen Migration und Integration positiv zu besetzen, ist unsere grosse ­Herausforderung.» Inwiefern profitieren Sie in Ihrer jetzigen Funktion von den im letzten Job gemachten Erfahrungen? Ich habe schon ein Netzwerk in diesem Bereich. Und ich bin natürlich mit den rechtlichen Grundlagen bestens vertraut. Ihr Vorgesetzter Thomas Kessler wurde in der Funktion, die Sie heute inne­haben, einst schweizweit als «Mister Integration» berühmt. Es wird nicht einfach für Sie, das Amt zu prägen – erst recht, wenn man bedenkt, dass Ihre Vorgängerinnen Elisa Streuli und Nicole von Jacobs nicht gross wahr­genommen wurden und auch nicht wirklich lange im Amt geblieben sind. Thomas Kessler hat als Integrationsbe­ auftragter nie um den heissen Brei geredet, sondern er hat die Chancen, aber auch die Probleme der Migration beim Namen ge­ nannt. Das hat ihn populär gemacht. Ich

TagesWoche 41/15 15 kenne Thomas Kessler seit 15 Jahren und Bewilligung führen können. Aber bevor es Manche bleiben aber auch lange hier. pflege ein freundschaftliches Verhältnis zu so weit kommt, gibt man den Leuten noch- Natürlich würde ich es begrüssen, wenn ihm: Wir ergänzen uns gut. Ich kann sicher mals eine Chance. sie sich integrieren. Ich halte es trotzdem viel von seiner Vorarbeit profitieren. Hier laufen Ihr früherer und Ihr für falsch, sie dazu zu zwingen. Das ist nicht Wie beurteilen Sie die aktuelle jetziger Job zusammen: Wer sich nicht unsere Aufgabe, zumal die Chancenfair- ­Situation für Ausländerinnen und an die Integrationsvereinbarung hält, ness im Fall der Expats gegeben ist. Sie Ausländer in Basel? wird ausgeschafft. Haben Sie viele Aus- kommen bereits aus gut gebildeten Kreisen. Wir haben einen Ausländeranteil von schaffungen dieser Art erlebt? Wir müssen uns auf jene konzentrieren, 35 Prozent. Hinzu kommen rund 35 000 Nein, im Gegenteil. Es gab keinen einzi- bei denen die Chancenfairness gefährdet Grenzgänger. Für Basel ist das eine riesige gen Fall deswegen. ist. Dazu kommt: Diejenigen Expats, die Chance: Basel ist bunt, Basel ist vielfältig. Vor einem Jahr hat das Volk eine länger bleiben, sind oft auch gewillt, Die Themen Migration und Integration SVP-Initiative abgelehnt, die flächen­ Deutsch zu lernen. ­positiv zu besetzen, ist unsere grosse deckend Integrationsvereinbarungen Trotzdem gibt es viele Expats, die in He ­rausforderung. Wir sind gut aufgestellt, mit Ausländern verlangte. Angenom- Parallelgesellschaften leben. Firmen ich profitiere von guter Vorarbeit und fort- men hat es hingegen den Gegenvor- wie Novartis fördern das auch mit schrittlichen Rahmenbedingungen – ich schlag, der Gratis-Deutschkurse und ihrem Campus. übernehme sozusagen ein gemachtes Nest: Begrüssungsgespräche vorsieht. Wie So wie ich es wahrnehme, haben Firmen ­Basel-Stadt hatte schon immer eine Vorrei- weit ist man mit der Umsetzung? wie Novartis oder Roche gar kein Interesse terrolle in der Integration und Migration. Das läuft bereits. Nach den Sommerfe­ am sogenannten Expat Bubble. Aber es Es wurde also schon viel getan. rien wurden die Gratis-Deutschkurse ein- stimmt: Der Campus ist nicht gerade in­ Wo wollen Sie Schwerpunkte setzen? geführt. Bereits seit Mai führt das Einwoh- tegrationsfördernd. Ich stelle jedoch mit Ein Schwerpunkt ist sicher, die bunte neramt Erst-, beziehungsweise Begrüs- Freude fest, dass die Mitarbeiter immer Durchmischung der Bevölkerung aufrecht- sungsgespräche durch. mehr aus dem Campus und weiter in die zuerhalten. Was mir zudem sehr am Herzen Stadt gehen. liegt, ist die Chancenfairness für Kinder «Ein Schwerpunkt Also, Sie meinen um die Ecke. und Jugendliche. ­Beispielsweise in die Bars «Voltabräu» Sie meinen Chancengleichheit? meiner Arbeit ist, die oder «Conto» beim Voltaplatz. Nein, diese Bezeichnung meide ich be- Immerhin verlassen sie den Campus – wusst. Denn Chancengleichheit wird es nie bunte Durchmischung und sie gehen auch in die Cargo Bar. Ich geben – auch unter Schweizern nicht. Wir glaube, wir sind auf einem guten Weg, können nur Rahmenbedingungen schaf- der Bevölkerung ­zumal sich Novartis mit der neuen Rhein­ fen, damit die Chancengleichheit theore- uferpromenade auch der Basler Bevölke- tisch gewährleistet ist. Aber Gleichheit aufrechtzuerhalten.» rung öffnet. Es wird ja ein öffentliches Res- ­selber können wir nie schaffen. Deshalb taurant geben an der Promenade. Das halte ­bevorzuge ich das Wort Chancenfairness. Sind diese Deutschkurse gut besucht? ich für gute Voraussetzungen für eine Basel-Stadt kennt das Instrument der Für eine Bilanz ist es noch zu früh. Das Durchmischung. Integrationsvereinbarungen. Wie viele Ganze muss zuerst evaluiert werden. Ich Die Flüchtlingskrise beschäftigt Vereinbarungen werden jährlich finde es aber ein unglaublich starkes Zei- die Welt. Inwiefern macht sich dies in abgeschlossen? chen, dass die Bevölkerung den Gegenvor- Ihrer Fachstelle bemerkbar? In der Anfangsphase, 2010 und 2011, wa- schlag und damit die Deutschkurse ange- Insofern, dass wir sensibilisiert sind ren es jährlich rund 70. Inzwischen werden nommen hat. Das Angebot ist europaweit und im ständigen Kontakt zur Asylkoordi- pro Jahr zwischen 30 bis 40 Vereinbarun- einzigartig. Die Willkommensgespräche natorin des Kantons, Renata Gäumann, gen abgeschlossen. sind zudem hilfreich, weil man den Leuten ­stehen. Denn bei Leuten, die hier bleiben – Und auf was ist die Abnahme zurück- gezielter und individueller Informationen und momentan haben wir doch eine zuführen? erteilen kann. Man nimmt sich mehr Zeit ­An ­erkennungsquote von gegen 60 Prozent Eine Integrationsvereinbarung hat für sie – das kommt sicher gut an. – besteht irgendwann ein Integrations­ ­einen sehr stark fordernden Charakter. Sie Es ist jedoch schwer vorstellbar, bedarf. Wir müssen sie fit machen für die ist ein Instrument, das nur zielgerichtet dass man mit diesem Angebot auch Teilnahme am Wirtschaftsleben und ihnen und zurückhaltend angewendet werden die Integration von Expats erreicht. die Möglichkeiten eröffnen, am sozialen soll, ein Zwischenschritt, bevor eine Bei Fachkräften, die vorübergehend für und kulturellen Leben aktiv teilzunehmen. Zwangsmassnahme eingeleitet wird. Es ein Projekt in die Schweiz kommen und Haben Sie schon entsprechende muss also viel passieren, bis sie zur Anwen- dann wieder gehen, vertrete ich die klare Massnahmen getroffen? dung kommt. Haltung, dass wir keinen grossen Aufwand Das ist momentan nicht erforderlich, Zum Beispiel? betreiben müssen, sie zu integrieren. denn die Zahlen bewegen sich noch im Die Integrationsvereinbarung wird an- Warum nicht? überschaubaren Bereich, sodass die beste- gewendet, wenn Leute straffällig werden, Weil sie nicht dazu bereit sind, da sie henden Massnahmen ausreichend sind. sich chronisch verschulden oder nicht ko- ­sowieso nur vorübergehend hier weilen Wir beobachten vorerst mal die Situation operativ mit der Sozialhilfe verhalten. Das und die Schweiz nach Beendigung des aufmerksam. sind alles Gründe, die zum Widerruf einer ­Projektes wieder verlassen. tageswoche.ch/+9utz7 ×

ANZEIGE AN WEN GEHT DER MITTE-SITZ? LISTE 10 FÜR EINE LIBERALE GESELL- WÄHLEN SCHAFT UND DIE EHE FÜR ALLE !

TagesWoche 41/15 16 Pappteller-Affäre Gegen den Einsatzleiter wurde deshalb wegen des Verdachts auf Amtsmissbrauch Das Verfahren wegen Amtsmissbrauch und Freiheitsberaubung ermittelt. Perso- nenkontrollen nicht vor Ort durchführen wurde eingestellt. Funksprüche des darf die Polizei nur in Ausnahmefällen, wenn sich etwa eine Person nicht auswei- Einsatzes werfen aber neue Fragen auf. sen kann oder die Lage vor Ort eine Kont- rolle nicht zulässt. Die Staatsanwaltschaft folgte der Argu- mentation von Einsatzleiter G., eine ord- nungsgemässe Kontrolle sei auf dem Mes- seplatz nicht möglich gewesen. Der proto- Was war der Plan kollierte Funkverkehr des Einsatzes lässt einen anderen Schluss zu: Dass das Weg- schaffen der Studenten, Künstler und eini- ger zufällig involvierter Messebesucher von Beginn weg so geplant war. des Einsatzleiters? G. hatte vor der geplanten Aktion auf dem Messeplatz mit Renatus Zürcher ge- sprochen, einem der Organisatoren der als Performance geplanten Erinnerungsakti- von Renato Beck on an die Favela-Ausschreitungen im Vor- jahr. G. stellte Zürcher vor dem Pausenplatz der Schule für Gestaltung zur Rede, in ­unmittelbarer Nachbarschaft zur Messe. Zürcher probte dort mit rund 20 Schülern und Künstlerkollegen für die Aktion auf dem Messeplatz. Mit Tortenböden in den Händen wollten sie die Ästhetik jener Poli- zeiformation nachstellen, die im Vorjahr eine illegale Party auf dem Messeplatz wäh- rend der Art gewaltsam beendete. G. behauptete in seiner Vernehmung ge- genüber der Staatsanwaltschaft, Zürcher habe trotz seiner Warnung, eine Aufführung sei verboten, an der Aktion festgehalten. Zürcher sagt, er habe G. nur zugesichert, die Entscheidung mit der Gruppe zu disku- tieren. G. räumt ein, nicht dabei gewesen zu sein, als Zürcher mit den Kollegen ent- schied, die Choreografie abzublasen. Statt- dessen beschloss die Gruppe, einzeln auf den Messeplatz zu gehen und dort Papptel- ler und Flyer an Passanten zu verteilen.

Geplant oder situativ abgeführt? Beweisanträge der Klägerseite, welche die Aussage Zürchers stützen sollten, lehnt die Staatsanwaltschaft ab. Es steht Aussage gegen Aussage und die Staatsanwaltschaft entscheidet sich, der Version des Einsatz- leiters zu folgen. Für Opferanwalt Christian von Wart- burg belegen die Funksprüche, dass die ­Polizei mit klarem Plan zu Werke ging: «Diese Ausführungen und Funksprüche zeigen unmissverständlich, dass es nie dar- Art Basel 2014: Schwarze Kleider, weisser Karton – mitkommen! foto: hans-jörg walter um ging, dass die Personen nur kontrolliert werden sollten und dass dann kein ordent- as letzte Wort in der Pappteller- 19 Opfer des Einsatzes haben Beschwer- licher Ablauf möglich war, sodass diese in Affäre ist nicht gesprochen. de gegen den Entscheid eingelegt, sie ver- die GESA verbracht werden mussten.» Im Noch liegt der Entscheid der langen einen Prozess. Sie wurden allesamt Zentrum steht folgender Funkspruch: Staatsanwaltschaft, das Verfah- am Freitag der letztjährigen Art Basel auf Dren gegen den Einsatzleiter G. einzustellen dem Messeplatz von der Polizei festgenom- 19.18 Uhr, G. funkt an Polizeikommissar K.: zur Beurteilung beim Appellationsgericht. men und in die Tiefgarage des Stützpunkts «Gilt für alle. Schwarz gekleidete Leute, die Funksprüche der Polizei, die der Tages­ Waaghof verfrachtet, wo sie in einer versuchen, sich jetzt in Splittergruppen in Woche vorliegen, deuten darauf hin, dass ­Gefangensammelzelle (Gesa) teilweise Richtung Messeplatz zu begeben, alle die Staatsanwaltschaft teilweise nicht nach- mehrere Stunden auf ihre Freilassung war- diejenigen, welche einen solchen weissen vollziehbar zugunsten des Kaderpolizisten ten mussten. Die Polizei führte dort Perso- Kartonteller mitführen und schwarz argumentierte. Verfahrenseinstellungen nenkontrollen samt Leibesvisitationen gekleidet sind, die werden alle angehalten sind nur zulässig, wenn ein Vergehen ohne durch. Mehrere Beteiligte sprachen und zwecks Kontrolle nach der Gesa Zweifel ausgeschlossen werden kann. danach von belastenden Erfahrungen. verbracht.» TagesWoche 41/15 17 Pappteller-Affäre Der Funkspruch lässt kaum einen ande­ ren Schluss zu, als dass zu keiner Zeit vorge­ sehen war, die Personenkontrollen vor Ort durchzuführen, sondern die Teilnehmer Die Funksprüche der Polizei – der Performance sofort in den Waaghof ­ zu überführen. Auszüge aus dem Protokoll Die Staatsanwaltschaft sieht das in der Einstellungsverfügung anders. Sie schreibt, G. habe den Befehl erteilt, die Gruppe auf eplant oder spontan? Für die 19.13 Uhr: dem Weg zum Messeplatz, spätestens aber Beurteilung der Rechtmässig­ «Verstanden, jetzt ist der grösste Teil in die dort anzuhalten und zu kontrollieren und keit des Polizeieinsatzes auf Liegenschaft, das heisst in das Schulhaus, dass die Wegschaffung in den Waaghof dem Messeplatz ist diese Frage es könnte sein, dass sie vorne heraus ­situativ entschieden worden sei, mit dem Gzentral. Die Funksprüche zeigen das Vorge­ kommen in Richtung Riehenstrasse und Ziel, die Persönlichkeitsrechte der Fest­ hen der Polizei. Die Orthografie folgt dem dann wurden sie für Dich sein A., ein Teil genommenen zu schützen. schriftlichen Protokoll. ist noch dahinten und ich kann noch nicht Wie G. bereits vor der Aktion auf dem mehr sagen – ja, OK, A. hat dies mit.» Messeplatz gewusst haben will, dass eine Messeplatz, Freitag, 20. Juni 2014. 18.58 Uhr. Kontrolle vor Ort nicht möglich ist, beant­ Einsatzleiter G. funkt mit einem Polizei- Acht Personen treten auf das Weglein vor wortet die Staatsanwaltschaft nicht. offizier: dem Schulhaus. «A. G. – Verstanden – Ich habe nichts mehr 19.17 Uhr: Anzeichen für Amtsmissbrauch gehört – ja, weil ich jetzt gerade mit denen «AP 4 von X., Antwort» – «4 verstanden, Für Einsatzleiter G. und möglicherwei­ diskutiert habe, also ehm, der Verantwort- Antwort» – «hältst du dich bereit, dass se auch seinen Vorgesetzten, Polizeikom­ liche, ein Herr Zürcher, dem fällts ein wenn wir eine statische Situation haben mandant Gerhard Lips, ist die Bewertung bisschen schwer ? ? eher aggress4, er sagt, und diese Leute irgendwo eingekesselt des Funkverkehrs von zentraler Bedeutung. er werde dies mit seinen Leuten da auf dem haben, dass ihr dahinter den Verkehr etwas Amtsmissbrauch und Freiheitsberaubung Platz auf jeden Fall durchführen, mit allen ableiten könnt, Antwort» – «Ja, verstanden können nur geahndet werden, wenn sie Konsequenzen. Er sei ein freier Burger wie – verstanden, ich weiss halt noch nicht wo, vorsätzlich geschehen sind. die anderen auch und er nehme dies zur du musst halt dann entsprechend Kommen die Richter zum Schluss, dass Kenntnis. Aber wie gesagt, sie wollen dies verschieben, merci, fertig» – «Ja das ist B. Festnahme und Wegschaffung der Studen­ jetzt konsequent durchziehen.» (sic) von der Fahndung, wir haben Sicht auf das ten von Beginn weg geplant waren, können Weglein zum Schulhaus, da kommen jetzt sie kaum anders, als auf eine vorsätzliche 19.06 Uhr, unmittelbar nach der Konversa­ 8 hervor, das könnten diese sein.» Handlung zu entscheiden. Dann wird auch tion zwischen G. und Zürcher. G. funkt an der vorgeworfene Amtsmissbrauch wieder Polizeikommissar K.: «Wer einen weissen zum Thema. «Dein Auftrag ist klar, es gibt keinen Das Bundesgericht entschied vor ein Marsch auf den Messeplatz, wird nicht Kartonteller mitführt und paar Jahren gegen einen Solothurner Poli­ toleriert, die halten wir vor dem Messe- zisten, dem Amtsmissbrauch zur Last platz an einem gewissen Ort an, von schwarz gekleidet ist, wird ­gelegt wurde, weil er eine Person, die er mir aus kannst du ohne weiteres OD kontrollieren wollte, auf die Wache brachte Präsenz markieren, sodass sie merken, zwecks Kontrolle nach und dort einer Leibesvisitation unterzog. dass es uns ernst ist.» Ein ähnlicher Vorgang wie jener bei der der GESA verbracht.» Pappteller-Affäre. 19.06 Uhr. Zweiter Funkspruch von G. Das Bundesgericht hielt damals in sei­ an «Kapo»: Renatus Zürcher wird von der Polizei ner Begründung fest: «GESA [Gefangenensammelstelle, die entdeckt und soll mitgenommen werden. «Eine Leibesvisitation ist nur rechtmäs­ Red.] informieren, dass wir eventuell Leute 19.18 Uhr: sig, wenn sie dringend erforderlich und zuführen, etwa 20 Stück.» «OK, Kapo zwei mit dem Velo, schwarz durch die Bedeutung der Übertretung gekleidet, haben sich getrennt, einer fährt ­gerechtfertigt ist, was nur in Ausnahmefäl­ Die nächsten zwölf Minuten verstrei­ Riehenstrasse mit einem Rennvelo, der len zutreffend ist. Der Privatkläger hätte vor chen, ohne dass sich einer aus der Künst­ andere ist Richtung Rosental nach vorne» Ort über den Kleidern auf Waffen oder lergruppe vom Pausenplatz auf den Messe­ – «(Kapo) Ja 8» – «Verstanden» – «X. von G. ­anderen Gegenständen durchsucht wer­ platz begibt. Antwort» – «Verstanden, Antwort» – den können. Der Beschwerdeführer hat [Einsatzleiter G. spricht, d. Red.] «Auftrag: eine unrechtmässige Zwangsmassnahme Weiterer Funkverkehr mit den Polizisten Gilt für alle. Schwarz gekleidete Leute, die veranlasst.» bei der Schule (anonymisiert, d. Red.) versuchen sich jetzt in Splittergruppen in «Mit Blick auf den Umstand, dass kein 19.06 Uhr: Richtung Messeplatz zu begeben, alle Tatvorwurf im Raum stand, waren die Lei­ «Ja, da ist der Volvo, das Grüppchen ist diejenigen, welche einen solchen weissen besvisitationen nicht angezeigt, unange­ immer noch stationär auf dem Platz.» Kartonteller mitführen und schwarz messen, unverhältnismässig und damit gekleidet sind, die werden alle angehalten missbräuchlich», schreibt Anwalt von Die Gruppe ist noch nicht losgelaufen. und zwecks Kontrolle nach der GESA Wartburg in der Beschwerde. 19.09 Uhr: verbracht, Antwort» – «Ich habe dies Die Bundesrichter merkten auch an, der «Verstanden, Antwort» – «Wir haben Pos A verstanden G., merci» – «Ja , da ist der Polizist hätte aufgrund seiner langjährigen auf diese Gruppe und die Riehenstrasse ist Volvo, jetzt brauche ich schnell den Funk, Erfahrung wissen müssen, dass er zu weit gut besetzt, also wir haben genug das ist wichtig, G. sie kommen jetzt aus geht und das Gesetz verletzt. Sie stellten Vorlaufzeit für uns.» – «Das ist richtig C., allen Richtungen, der Chef, mit welchem also Vorsatz fest. Der Basler Einsatzleiter G. ich muss einfach gleich möglichst wissen, du vorhin gesprochen hast, hat eine blaue steht ein paar Jahre vor seiner Pensionie­ wenn sie ablaufen und von welcher Seite Einkaufstasche in der Hand, läuft jetzt in rung, er weist jahrelange Diensterfahrung sie auf den Messeplatz wollen, das ist das Richtung Peter Rot-Strasse, wir bleiben auf. Die Basler Staatsanwaltschaft berück­ A und O für mich.» einmal bei diesem dran» – (G.) «Jawohl, sichtigte auch das in der Einstellungsverfü­ und wenn ihr könnt, zieht gerade ein AP zu, gung nicht. Der grösste Teil der Gruppe geht ins dann wird er angehalten und tageswoche.ch/+u3onk × Schulhaus hinein. anschliessend wird er mitgenommen.» TagesWoche 41/15 18 Wirtschaftskammer BL Mysteriöse Geldflüsse, frisierte Subventionsgesuche und überteuerte Rechnungen – der Unia-Gewerkschafter Hansueli Scheidegger erhöht den Druck auf die Wirtschaftskammer. «Woher das Geld kommt, konnte keiner sagen»

Und wer bezahlt das? In Baselland ist nicht klar, wie Baustellenkontrollen finanziert werden. (Symbolbild) foto: keystone

TagesWoche 41/15 19 von Renato Beck Das müssen Sie ihn fragen. Sollte sich nicht, welche Bedingungen die angebli- herausstellen, was ich im Interesse vom chen Sponsoren gestellt haben könnten. er Druck auf die Wirtschafts- Kampf gegen Lohndumping und Schwarz- Hans Rudolf Gysin hat als Präsident der kammer und ihre Protagonis- arbeit sehr hoffe, dass alles mit rechten ZAK mit sich als Präsident der Firma ten nimmt zu. Nach einer Welle Dingen zu und her ging, hat er seine Auf- AMS Miet-, Arbeits- und Fahrzeugver- von Enthüllungen drohen die sichtspflicht sicher nicht verletzt. träge ausgehandelt. Hätten da nicht alle DGewerkschaften offen mit einer Klage. Im Vielleicht agierte er so passiv, weil der Alarmglocken schrillen müssen? Fokus stehen die Kontrollorgane ZAK (Zen- Gewerkschaftsbund (GBBL) immer Es gab klare Leistungsvereinbarungen trale Arbeitsmarkt-Kontrolle) und ZPK profitiert hat von der ZAK. Sie erhalten zwischen ZAK/ZPK und der AMS, welcher (Zentrale Paritätische Kontrollstelle), wel- 75 000 Franken im Jahr für den Betrieb diese operativen Arbeiten übertragen wur- che Lohndumping und Schwarzarbeit auf einer Kontakt- und Beratungsstelle. den. Die Vereinsmitglieder konnten bis Baselbieter Baustellen bekämpfen sollen. Der Gewerkschaftsbund Baselland hat jetzt davon ausgehen, dass diese Leistungs- Beide Organisationen werden sowohl von mit der ZAK einen klaren Leistungsauftrag vereinbarungen korrekt umgesetzt wurden. den Gewerkschaften wie auch der Wirt- abgeschlossen und diesen auch umgesetzt. Ob dies tatsächlich in allen Teilen so war, schaftskammer mitgetragen. Die Geschäftsführerin des GBBL hat jähr- kann nur eine externe Prüfung abschlies- Zuletzt machte das SRF Regionaljournal lich gegenüber der ZAK rapportiert, wie send klären. publik, dass die ZAK überteuerte Fahrzeu- viele Anfragen, Auskünfte und Schwarz­ Weshalb wurde eine externe Prüfung ge über die der Ausgleichskasse der Wirt- arbeitsmeldungen bearbeitet und weiter- abgelehnt? schaftskammer gehörende Firma AMS geleitet wurden. Im Jahre 2014 wurden Die gesamte Arbeitgeberseite war dage- ­geleast haben soll. Die gleiche Firma soll in ­gemäss Aufstellung knapp 400 Arbeits- gen. Da der Kanton bereits eine Untersu- einen Subventionsschwindel involviert stunden direkt für die Anlaufstelle auf­ chung durchführe und sich auch das Seco sein. Der ehemalige Wirtschaftskammer­ gewendet, und sie ist von Montag bis Don- eingeschaltet hat, sei das unnötig. Deshalb direktor und AMS-Präsident Hans Rudolf nerstag besetzt. wurde die Behandlung meines Antrags auf Gysin bestreitet jedes Fehlverhalten. Die eine Prüfung auf die ordentliche General- AMS beschäftigt die Kontrolleure der ZAK versammlung verschoben. Die findet erst und bezahlte zumindest in einem Fall nur vor Weihnachten statt. Man spielt auf Zeit. rund die Hälfte jener Lohnsumme, die im Ist Hans Rudolf Gysin als Präsident Subventionsgesuch gegenüber dem Bund der ZAK und Vizepräsident der ZPK deklariert wurde. noch tragbar? Ich will einer möglichen Prüfung nicht Kiga und Finanzkontrolle ermitteln vorgreifen. Sollte das Geld nicht dort sein, Mittlerweile untersucht das Gewerbe- wo es hingehört, wäre das sehr problema- amt Kiga die Subventionsaffäre. Im Raum tisch. Sollten tatsächlich überrissene Rech- stehen der Vorwurf der Urkundenfäl- nungen gestellt worden sein, müsste dies schung und des Subventionsbetrugs. Auch sicher Konsequenzen haben. der Bund ist beunruhigt, laut SRF hat sich Sie nehmen auch Wirtschaftskammer- die eidgenössische Finanzkontrolle einge- «Ich forderte Herrn Buser direktor Christoph Buser in die Pflicht. schaltet. Herr Buser ist Mitglied der ZPK, und die Klärung der zahlreichen Vorwürfe auf, ein Machtwort zu AMS ist eine hundertprozentige Tochter ­erhofften sich die Gewerkschaften an einer der Familienausgleichskasse Gefak, wel- ausserordentlichen Generalversammlung sprechen. Er lehnte das ab.» che der Wirtschaftskammer gehört. Somit von ZAK und ZPK Anfang Oktober. Hans­ muss der Direktor hier hinstehen und alles ueli Scheidegger, Sektorleiter Bau der Hansueli Scheidegger, Gewerkschafter Interesse an einer lückenlosen Klärung der Unia-Sektion Nordwestschweiz, ist seit Lage haben. Ich forderte Herrn Buser des- 2013 Mitglied der ZPK. Im Interview Der Beitrag an die Gewerkschaften halb schriftlich auf, Verantwortung zu spricht er über nicht erklärb­ are Buchun- wurde laut der «Schweiz am Sonntag» übernehmen und ein Machtwort zu spre- gen, die Weigerung, Transparenz her­ nie in der Rechnung der ZAK verbucht. chen. Er lehnte das ab. Die Untersuchung zustellen und die umstrittene Rolle der Woher stammt das Geld, wenn nicht durch das Kiga reiche, um die Vorwürfe ­Gewerkschaften in der Affäre. von der ZAK? aufzuklären. Mir reicht das nicht. Denn das Herr Scheidegger, welchen Eindruck Es stammt von einem Konto der ZAK, Kiga prüft nur, ob bei der Beantragung der hatten Sie von der ausserordentlichen das zeigen die Unterlagen. Woher es ur- Bundessubventionen alles richtig lief. Ob Generalversammlung? sprünglich kommt, weiss ich nicht. Laut überrissene Rechnungen, etwa für das Lea- Dass es keinerlei Interesse gibt, schnell Hans Rudolf Gysin sind gewisse Sponso- sing der Smarts, gestellt wurden, ist dort Transparenz zu schaffen. Das wurde schon ren und Stiftungen involviert. In der Buch- nicht Gegenstand. Wir aber müssen mit der Einladung klar. Ich hatte im Vorfeld haltung der ZAK taucht auch ein jährlicher ­Gewissheit haben, dass mit dem Geld haus- schriftlich verlangt, Beschlüsse zu fassen, Strukturbeitrag über 200 000 Franken auf, hälterisch umgegangen wird. Auch weil ein um alle Vorwürfe zu untersuchen. Das woll- der gebraucht wurde, um die Rechnung der Teil des Geldes der ZPK von den Arbeitneh- te man nicht. Die ganze Veranstaltung war ZAK im Gleichgewicht zu halten. Woher mern aufgebracht wird. auf Rechtfertigung angelegt, darauf zu zei- dieses Geld kommt, konnte oder wollte mir Sie drohen nun mit einer Klage. Wen gen, dass alles in Ordnung ist. Mein Anlie- niemand sagen. wollen Sie wegen was verklagen? gen wurde schlicht nicht ernst genommen. Die Strukturbeiträge gab es schon 2013. Wir können privatrechtlich gegen die Wer wollte denn keine Transparenz? Kam Ihnen das nicht seltsam vor? Vereine ZAK und ZPK vorgehen, sollten sie Präsident der ZAK ist Hans Rudolf Die ZAK und ZPK hatten sehr gute Ar- ihrer Rechenschaftspflicht nicht nachkom- ­Gysin, Präsident der ZPK Daniel Münger, beit gemacht. An den Mitgliederversamm- men. So könnten wir eine externe Prüfung beide waren nicht sonderlich bemüht, auf lungen stand dies im Vordergrund und wohl gerichtlich durchsetzen. Ob wir auch meine Anliegen einzugehen und alle Kar- nicht die Rechnungsabschlüsse, welche strafrechtlich vorgehen müssen, klären wir ten auf den Tisch zu legen. Aber das Zepter von der Revision geprüft und abgenom- derzeit ab. Falls diese Abklärungen einen an der GV führte definitiv Gysin. men worden w­ aren. Im Zusammenhang Verdacht auf ungetreue Geschäftsbesor- Münger ist der Vertreter der Gewerk- mit den publik gewordenen Vorwürfen gung oder sogar Urkundenfälschung er- schaften in den beiden Kontrollstellen. steht das nun in ­einem anderen Licht. Eine härten würden, müssten wir wohl Klage Hat er seine Aufsichtspflicht genügend Fremd­finanzierung der Baustellenkontrol- einreichen. wahrgenommen? len kann ich nicht akzeptieren, wir wissen tageswoche.ch/+ m9ih0 ×

TagesWoche 41/15 20 Nobelpreis für Literatur Basels Bäume sprach sie mit mehr als 500 Veteranen des sowjetischen Afghanistan-Feldzugs und Ewige Favoritin Müttern gefallener Soldaten. Genauso be- Stadtgärtner wegend porträtierte sie 1997 Überlebende der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. wird endlich Als ihr Grosswerk gilt «Secondhand-Zeit» greifen zur von 2013 – eine Sammlung von Stimmen zu ­ausgezeichnet den erschütternden Erfahrungen unter Motorsäge dem kommunistischen Experiment in der von Naomi Gregoris Sowjetunion. von Felix Michel

eit Jahren galt sie als Anwärterin: Die Aus Gesprächen schöpfen nsgesamt 169 Bäume muss die Stadt- auch dieses Jahr als Favoritin gehan- Alexijewitsch wurde am 31. Mai 1948 im gärtnerei dieses Jahr fällen. Von 150 S delte 67-jährige Weissrussin Swet­ westukrainischen Stanislaw (heute Iwano- I Bäumen geht ihrer Einschätzung zu- lana Alexijewitsch erhält den Literatur­ Frankowsk) geboren. Nach einem Journa- folge eine Gefahr aus. Entweder sind die nobelpreis 2015. Das gab die Schwedische listik-Studium arbeitete sie zunächst für Bäume nicht mehr stabil oder es könnten Akademie am Donnerstag in Stockholm eine Lokalzeitung sowie als Lehrerin. Da vermehrt Äste abbrechen. Die Ursachen ­bekannt. Die Jury würdigt Alexijewitschs sie unter dem autoritären Regime von sind hohes Alter, Schädlingsbefall, Pilz- «vielstimmiges Werk», das «dem Leid und ­Präsident Lukaschenko in Weissrussland krankheiten oder Spätfolgen von Streusalz. dem Mut unserer Epoche ein Denkmal öffentlich kein Gehör fand und ihre Werke Neun Bäume werden gefällt, weil sie ein setzt». nicht verlegt wurden, hielt sie sich viele Bauwerk beeinträchtigen, weitere zehn, Swetlana Alexijewitsch ist mit einem Jahre im Ausland auf. 2011 zog sie trotz ihrer weil sie das Wachstum anderer Bäume er- ganz eigenen literarischen Stil zum morali- oppositionellen Haltung zurück nach schweren. Ersetzt werden die Bäume im schen Gedächtnis des zerfallenen Sowjet­ Minsk. «Ich will zu Hause leben, unter mei- Frühling oder Herbst 2016 – wenn immer imperiums geworden. Die Schriftstellerin nen Leuten, meinen Enkel aufwachsen möglich an Ort und Stelle. hat mit ihren Collagen das Leid, die Kata­ ­sehen», sagte sie. Ausserdem sei die Quelle Im Schnitt ersetzt die Stadtgärtnerei je- strophen und den harten Alltag der Men- ihres Schaffens immer das Gespräch mit des Jahr rund 1 Prozent der Bäume im öf- schen in ihrer weissrussischen Heimat den Menschen gewesen. «Und das kann ich fentlichen Raum. 169 Bäume entsprechen ­aufgearbeitet. 2013 erhielt sie dafür den am besten hier und in meiner Sprache», dabei einem tiefen Wert. Insgesamt stehen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. meint Alexijewitsch. in Basel aktuell um die 26 000 Bäume. Da- Die mit acht Millionen Kronen (940 000 mit sei die Stadt heute grüner als noch vor Soldatinnen und Tschernobyl-Opfer Franken) dotierte Auszeichnung ging im einigen Jahren, schreibt die Stadtgärtnerei Erstmals wandte die gelernte Journalis- Vorjahr an den Franzosen Patrick Modiano. in ihrer Medienmitteilung. × tin ihre literarische Methode 1983 im Buch Offiziell überreicht wird der Preis zusam- «Der Krieg hat kein weibliches Gesicht» an. men mit den anderen Nobelpreisen in Online sehen Sie auf einer interaktiven Mit Interviews dokumentierte sie das Stockholm am 10. Dezember, dem Todes- Karte, welche Bäume warum gefällt Schicksal sowjetischer Soldatinnen im tag des Stifters Alfred Nobel. werden – und wo die neuen hinkommen: Zweiten Weltkrieg. Für «Zinkjungen» (1989) tageswoche.ch/+4751h × tageswoche.ch/+556y4

Gesehen von Tom Künzli

Tom Künzli ist als Illustrator für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften tätig. Der 41-Jährige wohnt in Bern.

TagesWoche 41/15 21 füsserplatz Richtung Blumenrain fährt, darf im Unterschied zur Gegenrichtung nicht den direktem Weg nehmen. Er muss einen Schlenker via Marktplatz und Eisengasse machen. «Ein Umweg, der aus unserer Sicht nicht nötig wäre», sagt Wüest-Rudin.

Wie lange hält der Burgfrieden? Und tatsächlich: Ursprünglich führte diese Route im Velogegenverkehr durch die untere Schneidergasse in die Spiegel- gasse, wie ein Projektplan von Ende 2014 zeigt (siehe Online-Version des Artikels). Das hätte den Umweg über den Marktplatz überflüssig gemacht. Doch schon kurz nach Einführung des Verkehrsregimes ist die Variante von den Projektplänen und aus der Realität verschwunden. Warum? Das Amt für Mobilität schreibt: «Ein Velo g­ egenverkehr auf dieser Achse war nie vorgesehen. Leider war diese Route auf der ersten Plandarstellung zum Verkehrskon- zept Innenstadt ursprünglich mit Pfeilen missverständlich dargestellt und wurde deshalb umgehend berichtigt.» Warum die andere Richtung befahren werden darf, be- Normalerweise gilt in der Freien Strasse Fahrverbot für Velos – was Pro Velo kritisiert. Foto: Benjamin Schmid gründet das Amt damit, dass der «Umweg Blumenrain – Barfüsserplatz via Marktplatz Reaktionen aus Verkehrsregime Rudin, nennt aber auch zwei Anpassungen, als zu gross beurteilt wird und die Tram­ der Community von denen Velofahrer im Grossbasel mass- achsen zweimal gequert werden müssten.» von Chnuebli geblich profitieren könnten: Entsteht dieser «zu grosse» Umweg also • Inzwischen bin Die Velos fahren nur in einer Richtung? Das Baudeparte- ich so verwirrt, 1. Durchfahrt Freie Strasse ment präzisiert: «Die Aussage im Ausga- wo in der Innen- Heute ist für Velofahrer die Zufahrt in die benbericht bezüglich grossem Umweg und stadt gefahren Umwege, die grösste Einkaufsmeile der Stadt rund um der Querung der Tramgeleise bezieht sich werden darf und die Uhr tabu – mit Ausnahme der aktuellen auf die Verbindung vom Kleinbasel via wo nicht, dass Lobby schweigt Baustellensituation in der Gerbergasse Mittlere Brücke in Richtung Barfüsser- ich – an meinem oder wenn sie während den Anlieferungs- platz.» Nicht gemeint sei der ­Veloverkehr freien Tag immer von Benjamin Schmid zeiten Güter transportieren. Dann dürfen vom Blumenrain in Richtung Barfüsser- mit dem Velo sie wie motorisierte Zulieferer im Schritt­ platz. Zudem seien «aufgrund der engen unterwegs – die ach neun Monaten lässt sich fest- tempo durch die Freie Strasse rollen. Die räumlichen Gegebenheiten in der Verbin- Innenstadt für stellen: Das Verkehrskonzept In- Velo-Lobby würde es begrüssen, würde hier dung Hutgasse–Glockengasse–Sattelgasse meine Einkäufe N nenstadt funktioniert. Die heissen sowie in allen Fussgängerzonen das gene- in Richtung Spiegelgasse die Vorausset- meide. Lieber Diskussionen um das Fahrverbot für den relle Veloverbot ausserhalb der Sperrzeiten zungen für den Veloverkehr nicht gegeben». gebe ich mein motorisierten Verkehr sind weitgehend ab- aufgehoben, so Wüest-Rudin. Während Pro-Velo-Präsident Wüest-­ Geld im Gundeli, gekühlt. Neun Monate gut – alles gut? Beim Amt für Mobilität will man von Rudin den «guten Kontakt zur Verwaltung» Kleinbasel und Nicht ganz. Eine beachtliche Masse der solch einer Lockerung nichts wissen. War betont und sich der Lobbyverband mit For- St. Johann aus. Verkehrsteilnehmer könnte durchaus noch die Freie Strasse vorher eine temporäre derungen zurückhält, suchen sich die Velo- klagen: die Velofahrenden. David Wüest- Fussgängerzone mit vier verschiedenen fahrenden wie Wasser im Gestein selber Rudin, Präsident von Pro Velo beider Basel, Fahrverbotszeiten unter der Woche, ist sie den direktesten Weg – legal oder illegal. zeigt sich mit der Umsetzung aber weitge- seit Anfang Jahr (mit Ausnahme der Anliefe- Während der Recherche für diesen Bei- hend zufrieden. «Es gibt zwar gewisse rungszeiten) eine reine Fussgängerzone. trag begegnet die TagesWoche mehreren punktuelle Anpassungswünsche», sagt er. «Dies soll so beibehalten werden», schreibt Velofahrern, die die beiden beschriebenen Doch sei es «nicht ­opportun, ­bereits Forde- das Amt für Mobilität. Anpassungen bereits jetzt für sich einfor- rungen nach Änderungen ­anzubringen». dern. Ob sie es dereinst offiziell tun dürfen, Diese Zurückhaltung des Velo-Lobby- 2. Gegenverkehr Stadthausgasse hängt in erster Linie davon ab, wie lange der verbands mag erstaunen, doch: «Solange Etwas komplizierter wird es bei der zweiten Burgfrieden bei den Diskussionen um das sich die anderen Anspruchsgruppen zu- Verbesserung, die sich Wüest-Rudin wün- Basler Verkehrsregime noch hält. rückhalten, tun wir es auch», sagt Wüest- schen würde: Wer mit dem Velo vom Bar- tageswoche.ch/+corqu ×

ANZEIGE AN WEN GEHT DER MITTE-SITZ? LISTE 10 FÜR PRAGMATISMUS IN DER WÄHLEN FLÜCHTLINGSPOLITIK !

TagesWoche 41/15 Bildstoff 360° tageswoche.ch/360

Kuala Lumpur Wie grenzenlos die Freiheit wohl in der Wolke ist? Über 100 Menschen kennen die Antwort. Sie sprangen alle vom Kuala Lumpur Tower, der gerade durch Rauch von Brandrodungen dick eingehüllt ist. Andere bevorzugten freie Atemwege und blieben zu Hause. olivia Harris/Reuters

Conway Wenn alle Dämme brechen, müssen alle solidarisch zusammenstehen. Nach Regengüssen in Rekordmengen versinkt der US-Bundesstaat South Carolina im Chaos. randall Hill/ reuters

Mato Grosso Auch wenn es für Sojabohnen und nicht für Rinder- zucht ist: Schöner sieht abgeholzter Amazonas-Regen- wald auf keinen Fall aus. Paulo Whitaker/ reuters

TagesWoche 41/15 23

Paris Oh, là, là! Für die Fashion Week in Paris lässt sich eine Rihanna natürlich nicht lumpen. Bis zum Hals eingedeckt mit frischer Mode zeigt sich der Superstar wieder einmal von der vor- nehmeren Seite. Charles Platiau/ Reuters

Peschawar Diese pakistani- schen Arbeiter sind alles andere als Pfusch-Hand- werker. Des Mau- rers Handwerk beherrschen sie zwar offensichtlich weniger. Dafür holen sie für ihn die Steine aus dem Feuerofen. Fayaz Aziz/Reuters

TagesWoche 41/15 24 Bestattungsanzeigen Basel-Stadt und Region

Allschwil Binetti, Andreas Honegger, Ferdinand 23.09.2015, Elsässer- Wälti-Tanne, Horst, Freitag, 16.10., Ernst-Ehrsam, Alfred Diego, von Basel/BS, Ernst, von Mels/SG, str. 34, Basel, wurde von Arni/BE, 14.00 Uhr, Friedhof Oskar, von Basel/BS, Ponte Capriasca/TI, 19.01.1949–02.10.2015, bestattet. 13.12.1925–02.10.2015, Fiechten, Reinach. (Aufenthalt in Pratteln, Cernier (Val-de-Ruz/ 04.09.1957–24.09.2015, Hagentalerstr. 49, Todaro, Antonino, aus Riehen APH Nägelin-Stif- NE, 17.12.1931– Rheinsprung 16, Basel, Basel, wurde bestattet. Italien, 05.02.1936– tung), Muttenz, Trau- Berger-Ramseier, 03.10.2015, Graben- wurde bestattet. Kade-Graff, Lydie 30.09.2015, Thanner- Erich, von Basel/BS, Esther Myriam, von str. 9, Basel, Trauer- erfeier: Mittwoch, mattweg 35, Allschwil, Bögli, Hanna, von 14.10., 14.00 Uhr, 14.07.1928–29.09.2015, Trauerfeier und Bei- Basel/BS, 19.03.1954– Basel/BS, 17.04.1929– feier: Freitag, 09.10., Dörnliweg 13, Riehen, 04.10.2015, Falken­ 15.30 Uhr, Friedhof Abdankungsraum setzung im engsten 05.10.2015, Strass­ Friedhof Muttenz. wurde bestattet. Familien- und Freun- burgerallee 113, Basel, steinerstr. 30, Basel, am Hörnli. Pratteln Leu-Weber, Charlotte deskreis. Trauerfeier im engs- Trauerfeier: Freitag, Tropschuh Midik, Daisy Rita, von Meris- 09.10., 13.30 Uhr, Franz-Corvini, ten Kreis. Beate, aus Deutsch- Fässler, Bruno Walter, hausen/SH, Friedhof am Hörnli. von Frenkendorf/BL, ­Antoinette, von Basel/ Bürki-Strölin, Hans, land, 22.02.1949– 18.09.1926–15.09.2015, BS, 14.10.1926– Ramponi, Giuseppe, 13.09.2015, Brom­- 05.05.1951–04.10.2015, Albert Oeri-Str. 7, von Langnau im Längitstr. 35, Pratteln, 02.10.2015, Bettenstr. von Basel/BS, bacherstr. 11, Basel, Riehen, wurde bestat- Emmental/BE, Abdankung: Freitag, 51b, Allschwil, Trauer- 21.05.1917–28.09.2015, wurde bestattet. tet. 20.08.1930–01.10.2015, 09.10., 14.00 Uhr, feier und Beisetzung: Byfangweg 7, Basel, Dornacherstr. 142, Würthner-Werren, Righetti-Geiger, Basel, wurde bestattet. Besammlung Friedhof Freitag, 09.10., wurde bestattet. Waltraud, von Plönzig, Blözen, Abdankungs- Heidy Emilie, von 10.30 Uhr, Besamm- Schmeck-Laci, 10.08.1933–28.09.2015, Riehen/BS, 16.11.1926– Eggimann, Gerda kapelle. lung Kapelle Friedhof Horst Karl Erich, Mittlere Str. 15, Basel, 30.09.2015, Inzlinger- Anna Auguste, Allschwil. aus Deutschland, wurde bestattet. Sarkissian-Delfino, str. 230, Riehen, wurde von Gondiswil/BE, 24.02.1944–04.10.2015, Nerses, von Birsfel- bestattet. Glanzmann-Lippi, Zürich/ZH, 17.08.1928– Birsfelden den/BL, 10.11.1922– Hermann, von Hasle Froburgstr. 45, Basel, Ackermann, Gerhard, 26.09.2015, Meret Trauerfeier: Freitag, 03.10.2015, Rank- bei Burgdorf/BE, Oppenheim-Str. 62, von Hendschicken/ ackerweg 2, Pratteln, 19.12.1931–05.10.2015, 09.10., 11.30 Uhr, AG, 06.02.1936– Basel, wurde bestattet. Friedhof am Hörnli. Abdankung: Dienstag, Steinbühlweg 11, 27.09.2015, Hardstr. 71, 13.10., 14.00 Uhr, Grosjean, René Albert, Allschwil, Trauerfeier Schöpfer-Mathis, Birsfelden, wurde Besammlung Fried- und Beisetzung im von Plagne/BE, Jakob, von Escholz- bestattet. hof Birsfelden. 13.10.1940–30.09.2015, Familien- und Freun- matt/LU, 01.02.1936– Cirillo, Andrea, aus deskreis. Hechtliacker 44, Basel, 29.09.2015, Emanuel Reinach Trauerfeier: Dienstag, Italien, 13.07.1969– Anderhub, Xaver, Gobetti-Olibet, Adolf Büchel-Str. 2, Basel, 13.10., 13.30 Uhr, 04.10.2015, Haupt- von Eschenbach/LU, Johann, von Ingen- wurde bestattet. str. 32, Birsfelden, Friedhof am Hörnli. Hohenrain/LU, bohl/SZ, 08.07.1931– Stöckli, Anna, von wurde bestattet. 21.04.1951–05.10.2015, 29.09.2015, Häfliger-Weiss, Anna, Frenkendorf/BL, Frenkendorf Aumattstr. 16, Reinach, Muesmattweg 33, von Fischbach/LU, 07.02.1935–01.10.2015, Castro-Varela, Felisa, Trauerfeier und Allschwil, wurde 09.05.1942–30.09.2015, St. Galler-Ring 54, Urnenbeisetzung: bestattet. Erlenmattstr. 7, Basel, Basel, wurde bestattet. aus Spanien, 01.05.1937–03.10.2015, Freitag, 16.10., Schmidt, Ingeborg Trauerfeier: Freitag, Strebel, Josef, 10.00 Uhr, Friedhof 09.10., 14.00 Uhr, Bahnhofstr. 29, Fren- Sophie Gesine, von Aristau/AG, kendorf, wurde bestat- Fiechten, Reinach. Gottesacker Riehen. von Deutschland, 15.10.1929–07.09.2015, tet. Feigenwinter-Fuchs, Wasgenring 151, Basel, 13.12.1921–30.09.2015, Halter-Steiner, Paul Muttenz Anna, von Reinach/ Muesmattweg 33, Ernst, von Basel/BS, wurde bestattet. BL, 20.07.1917– Hophan, Marie- Allschwil, wurde 02.01.1940–27.09.2015, Stucky-Recher, Hans, 05.10.2015, Birsigtal- bestattet. Allmendstr. 40, Basel, Thérèse, von Basel/ str. 4, Reinach, Trauer- von Basel/BS, BS, Glarus Nord/GL, Basel wurde bestattet. 16.06.1930–29.09.2015, feier und Beisetzung: 21.12.1937–24.08.2015, Montag, 12.10., Berger, Paul, von Henökl-Landolf, Prattelerstr. 1, Basel, (wohnhaft gewesen in 14.00 Uhr, Friedhof Oberlangenegg/BE, Hugo, aus Österreich, wurde bestattet. Allschwil, Dr. Augus- Fiechten, Reinach. 28.10.1930–26.09.2015, 30.03.1922–23.09.2015, Tanner-Engel, tin-Haus), Muttenz, Horburgstr. 54, Basel, Müllheimerstr. 178, ­Marietta, von Basel/ Trauerfeier: Dienstag, Früh-Ballmer, wurde bestattet. Basel, wurde bestattet. BS, 26.08.1925– 13.10., 14.00 Uhr, Martha, von Basel/BS, Abdankungsraum Affeltrangen/TG, Friedhof Muttenz, 16.10.1926–01.10.2015, anschliessend Urnen- Dornacherweg 69, Reinach, Trauerfeier «Ich sah dich, und die milde Freude beisetzung auf dem Friedhof Muttenz. und Urnenbeisetzung: Floss aus dem süssen Blick auf mich. Freitag, 09.10., Ganz war mein Herz an deiner Seite, Ledermann-Nyffen- 14.00 Uhr, Friedhof Und jeder Atemzug für dich.» egger, Gertrud, von Fiechten, Reinach. J.W. Goethe Muttenz/BL, Schwarz- häusern/BE, Niederer-Schmid, 03.12.1927–28.09.2015, Margrit, von Lutzen- Wir nehmen Abschied von Reichensteinerstr. 55, berg/AR, München- APH Käppeli, Mut- stein/BL, 10.06.1927– tenz, wurde bestattet. 06.10.2015, Basel- Renato Senaldi str. 105 (mit Aufenthalt Stegmann-Gonzi, in Münchenstein, (21. 5. 1976; gestorben 18. 9. 2015) Karl, von Muttenz/BL, APH Hofmatt), Rei- Rümlingen/BL, Lebenspartner, Papa, Sohn, Bruder, Freund, Arbeitskollege. nach, Trauerfeier 14.01.1921–04.10.2015, und Urnenbeisetzung: Wir sind dennoch erfüllt und dankbar für die schönen Jahre, Rössligasse 5, Mut- tenz, Urnenbeiset- die uns vergönnt waren. Am Ende zählt, was bleibt. zung: Freitag, 09.10., In Liebe Angelina Koch, 14.00 Uhr, Friedhof Muttenz, anschlies­ seine Kinder Armin und Ella, send Trauerfeier laufend aktualisiert: Familie und Freunde in der ref. Kirche tageswoche.ch/todesanzeigen St. Arbogast Muttenz.

TagesWoche 41/15 25 Andreas Gross Die Wahlen sollten Anlass sein für Diskussionen zu den wichtigen Themen. So wie die Zukunft der Demokratie: hier einige Vorschläge. Mit 10 Schritten zu neuem Glanz

von Andreas Gross

iese eigenartige Entpolitisie- Auf Bundesebene ist das Initiativrecht zu rung der Wahl ins Parlament, grob. Es steht uns nur die grosse Kiste der immerhin ein Kerngeschäft Verfassungsinitiative zur Verfügung. Wie in ­jeder Demokratie, das ist, als den Kantonen benötigen wir die Gesetzes­ Dwürden bei einer Tour de Suisse die Renn- initiative. Und angesichts der zunehmenden fahrer von ihrem Velo steigen, bloss weil Bedeutung der Welt und Europas und der ­ihnen ein speziell steiler Berg bevorsteht. dortigen vorläufigen Dominanz der Dabei sind es gerade die Duelle am Berg, ­Regierungen benötigen wir ein EU-Initiativ- die faszinieren, und weniger die Pedalerei recht, mit welchem dem Bundesrat entspre- des ganzen Feldes in den Ebenen. chende Aufträge erteilt werden können. Es sind nun aber nicht die Kandidieren- Die schweizerische Demokratie muss vom den, die vor der Wahl den Berg scheuen. Die Geld befreit werden. Wer Geld in die Politik Fahrer wären bereit, sich anzustrengen. Die wirft, muss sagen, woher es kommt. Lust dazu scheint vielmehr bei manchen Der politische Wettbewerb muss fairer wer- Rennteams zu fehlen, sprich bei einigen den. Die Werbebudgets vor Wahlen und Ab- Parteien. Oder meiden diese den Streit, weil Andreas Gross ist Politikwissenschaft- stimmungen dürfen nicht zu ungleich sein. sie Angst haben, es könnte ihnen argumen- ler und Mitglied der Parlamentari- Es braucht einen Ausgleichsmechanismus. tativ der Schnauf ausgehen? schen Versammlung im Europarat. Die Demokratie darf nicht länger gegen die Was hinzu kommt: Die Strasse zum Gip- tageswoche.ch/themen/Andi Gross Menschenrechte ausgespielt werden. Es fel ist voller Löcher. Zum Teil ist der Asphalt braucht in der Verfassung einen Schutz der aufgerissen, zum Teil von der Sonne aufge- Ein zentrales Thema, das alle angeht und Menschenrechte. Die Mehrheit darf nicht weicht. Der Veranstalter hat also ein Ren- das uns abhanden zu kommen scheint, fehlt länger über Grundrechte von Minderhei- nen auf einer Strecke versprochen, die sich auch dort, wo zumindest die Parteien noch ten abstimmen können. schlicht nicht befahren lässt. Er hat zu viel versuchen, Themen zu setzen und program- Demokratie will auch gelernt sein. Wir versprochen. Die Voraussetzungen fehlen. matisch zu entwickeln: die Demokratie. müssen die politische Bildung stärken. Für Auch hier scheint das Paradox zu gelten: Je ­jeden Franken, den die Gemeinden und Homestories statt Debatten schlimmer es um ein Thema steht, desto Kantone dafür ausgeben, zahlt ihnen der Genauso bei den Wahlen. Auch hier fehlt ­weniger kommt es vor den Wahlen zur Spra- Bund 90 Rappen zurück. die Grundlage, die Rennstrecke. Nämlich che. Obwohl allen klar ist, dass die Themati- Die politische Öffentlichkeit muss restau- die politische Öffentlichkeit, in der disku- sierung vorher die Voraussetzung ist, dass riert werden, der Service public ist zu er- tiert und gestritten werden kann. Vor allem wir uns danach auch darum kümmern. weitern. Aus dem Topf, den wir heute in in der deutschen Schweiz scheinen die Form der Radio- und TV-Gebühren füllen, wichtigen Medien höchstens noch interes- Je schlimmer es um ein müssen künftig auch Qualitätszeitungen siert an Einzelzeitfahren. Noch lieber zei- unterstützt werden, entsprechend der Sei- gen sie, um beim Bild zu bleiben, Home­ Thema steht, desto ten, die sie für Meinungsbildung und Dis- stories von den Fahrern. Wie sie ihre Jungen kussionen bereitstellen. zur Schule bringen. Was sie kochen. Was sie weniger kommt es vor Demokratie ist keine Wochenend-Sache von der Politik halten. oder des Feierabends. Sie muss auch hinter Ein Streitgespräch unter vier, fünf Sach- den Wahlen zur Sprache. den Bürotüren und Werktoren Einzug neh- verständigen aus verschiedenen Parteien men. In Unternehmen sollten die Arbeiten- zu einem wichtigen Thema wie Europa, Deshalb sei hier das Sanierungspro- den auch Betriebsräte wählen dürfen, die AHV, Krankenversicherung, Verkehrspoli- gramm für unsere erodierende Demokratie ihre Interessen vertreten und bei Investiti- tik, Energiewende, Lohngleichheit, Sied- nachgeliefert. Es beinhaltet zehn Aufträge onen mitreden dürfen. lungspolitik, Bildung, Service public, dies an die Liebhaber des Gesamtkunstwerks – Die Demokratie braucht Europa wie die einmal pro Woche ab Ende der Sommer­ immerhin die Grundlage unserer Freiheit EU die Demokratie. Wir müssen die Demo- ferien, und zusammen mit Belegen über das sowie Bedingung für weniger Ungerechtig- kratie in einer europäischen föderalisti- Schicksal entsprechender Vorlagen in der keit. Es ist ein Vorschlag, wie die dünn und schen Bundesverfassung europäisieren letzten ­Legislatur, ergänzt mit dem Stimm- fragil gewordenen Mosaikteile restauriert und transnationalisieren. verhalten der verschiedenen Fraktionen: und ergänzt werden könnten: Die Globalisierung der Wirtschaft ruft Fehlanzeige! Nicht mehr zu sehen, nicht nach der Globalisierung der Demokratie. mehr zu lesen, nicht mehr zu hören. Die Demokratie muss inklusiver werden. Anders können der Markt und das Kapital Auch die Zeitungen haben aufgehört, Es darf nicht sein, dass fast ein Drittel der- nicht zi­ vilisiert werden. Dazu brauchen wir über Debatten zu berichten, die nicht sie j ­enigen, die von den Entscheiden betroffen die Globalisierung des Strassburger-Mo- ­organisiert haben. Kommentieren heisst: sind, vom Entscheidungsprozess ausge- dells mit einer Globalen Menschenrechts- Argumente erweitern, auch das machen die schlossen werden. Drei Jahre, nachdem sie konvention (GMRK), die jedem Menschen Zeitungen nicht mehr. Zu «aufwendig» sei sich in der Schweiz niedergelassen haben, ­angesichts jeglicher Macht Rechte ver- das. Aber ohne Arbeit gibt es keine Orientie- dürfen auch Menschen ohne Schweizer schafft, die er oder sie im Notfall vor einem rung. Durchblick und Verständnis sind Pass an den National- und Ständeratswah- Weltgerichtshof einklagen kann. nicht auf dem Sofa zu finden. len teilnehmen. tageswoche.ch/+u6tzi ×

TagesWoche 41/15 26 Gesellschaft kann: zum Verhalten bei einem Verkehrs- unfall, bei Büromobbing, Schlägereien, Eine Ausstellung will uns «Mut zu mehr Vandalismus und so weiter. Es geht mehr- heitlich um die Frage, wann und wie man Mut» zureden. Was Zivilcourage aber gegebenenfalls eingreifen soll, wenn man «Zeuge» eines Konflikts wird, in dem ein heisst, bleibt interpretationsbedürftig. ­direkt Betroffener Beistand benötigt. Im Propagieren von Zivilcourage be- steht jedoch die Tendenz, den Begriff zu überdehnen und entsprechend flach zu machen. Betagten ins Tram helfen oder Touristen Orientierungshilfe bieten, sind Ist jetzt alles keine Akte der Zivilcourage. Vielleicht sind sie aber als selbstverständliche Praxis eine gute Voraussetzung für ein anspruchsvolle- res Engagement. Es geht dabei nicht um Hilfe schlechthin. Es geht vielmehr um Hil- Zivilcourage? fe, für die es­ etwas Mut braucht, Hilfe, die öffentlich gegen Handlungen eingesetzt wird, die eine allgemeingültige Werteord- nung verletzen. von Georg Kreis Nichtstun ist auch ein Tun enn nicht ich, wer dann?» So Vielleicht sollte man das Wort Zivilcou- Mit unserem individuellen Handeln set- heisst eine Ausstellung zum rage vermeiden, aber es geht um Schulung zen wir uns nicht nur für einzelne Opfer ein, Thema Zivilcourage, die im zur Selbstschulung. Oder es geht, wie es sondern auch für die Wahrung der gelten- Historischen Museum Basel heute gern heisst, um Sensibilisierung. den Werte. Und wir stärken diese damit Wgezeigt wird. Zu dieser Frage wollen wir Die Ausstellung zeigt Spielszenen, zu ­zugleich. Ob Schutz der Schwachen, Ge- hier ein paar Überlegungen anstellen. Wor- denen man Stellung nehmen und vor de- rechtigkeit, Respektierung der Würde – um geht es da? Warum erhalten wir das jetzt nen man sich mit seinen Reaktionen in die welche Werte auch immer uns wichtig sein vorgesetzt? Was machen wir damit? bisher abgegebenen Antworten einordnen sollen, wird auf vielfältige Weise von Eltern,

Hoch gelobt und tief gefallen: Die Whistleblowerinnen Esther Wyler (l.) und Margrit Zopfi, hier beim «Prix Courage». foto: keystone

TagesWoche 41/15 27 von der Schule, den Kirchen und Medien unter kriminelles Handeln. Es ist entspre- als «Verpfeifen», positiv als Abgeben von vermittelt. Neuerdings werden auch spezi- chend fassbar und wird von Medien regist- Warnsignalen, bezeichnet. Dabei geht es elle Kurse in Zivilcourage angeboten. Es riert und gerne diskutiert. In diesen Fällen darum, internen Missstände in der öffentli- gibt sogar Stadtrundgänge, auf denen man erhalten wir schnell die berechtigte An- chen Verwaltung oder in Privatunterneh- mit gespielten Szenen mit der Problematik schlussempfehlung, keinen falschen Mut men bekannt zu machen. konfrontiert ist. zu entwickeln und unverzüglich die Polizei Der zurzeit berühmteste und doch lang- Und jetzt sind wir auch mit dieser Aus- anzurufen. sam schon wieder in Vergessenheit gera- stellung aufgefordert, «Mut zu mehr Mut» tende Whistleblower ist Edward Snowden, aufzubringen. Wir sollten uns generell und Betagten ins Tram der ehemalige, einst in Genf stationierte quasi im Voraus vergegenwärtigen, dass ein US-Geheimdienstler. Seine Enthüllungen solches, offenbar nicht selbstverständli- helfen oder Touristen gaben Einblicke in das Ausmass der welt- ches, Engagement nötig ist, damit im Akut- weiten Überwachungs- und Spionageprak- fall die nötige Disposition in uns vorhan- Orientierungshilfe bieten, tiken. Wie zu erwarten, wurde er darauf von den ist. Den Rest muss man selber machen. der Spionageagentur selbst der Spionage In allen Varianten sollte man sich bewusst sind keine Akte der angeklagt. sein, dass Nichtstun auch ein Tun ist. In- Auch die Schweiz hat ihre couragierten dem man etwas geschehen lässt, wird man Zivilcourage. Whistleblower: Ganz besonders Malica indirekt zum Komplizen des Täters. Skrijelj, die als Metallarbeiterin gegen dis- Es gibt keine Verpflichtung, jemanden kriminierende Frauenlöhne klagte und Gegen die Gleichgültigkeit vor körperlicher Verletzung durch Dritte deswegen entlassen wurde, sowie Margrit Mittlerweile scheint es ein Fakt zu sein, präventiv zu schützen. Hingegen schreibt Zopfi und Esther Wyler, die Unregelmäs- dass aktive Anteilnahme statt passivem das Strafgesetzbuch mit Artikel 128 vor, sigkeiten in der Zürcher Sozialhilfe publik ­Zuschauen keine Selbstverständlichkeit dass in unmittelbarer Lebensgefahr schwe- machten und darum ebenfalls ihre Stellen (mehr) ist, weil unsere Gesellschaft zuneh- benden Menschen im Rahmen des Zumut- verloren. Diese beiden Engagements wur- mend anonymer wird. In den Städten leben baren und der vorhandenen Kenntnisse den 2002 und 2010 mit dem «Beobachter»- wir ein dichtes, aber im guten Sinn auch und Fähigkeiten Nothilfe geleistet werden Preis gewürdigt. ohne private Aufmerksamkeit auskom- muss und eine Unterlassung der Nothilfe mendes Nebeneinander. Wir leben immer bestraft wird. Kaum Schutz für Whistleblower häufiger in Singlehaushalten – auch das ein In den Diskussionen um Zivilcourage Ein anderer, noch halbwegs bekannter Umstand, der isolierte Privatheit begünsti- gerät eine andere Problematik ebenso Whistleblower war Christoph Meili. Er ver- gen könnte. schnell in den Hintergrund: die Verletzung hinderte 1997 die vermeintliche Vernich- Werden wir plötzlich mit Krisenfällen von Mitmenschen durch unsoziales Ver- tung alter Bankbelege zu nachrichtenlosen konfrontiert, sollten wir rasch den Modus halten, durch Mobbing am Arbeitsplatz, Vermögen von Holocaust-Opfern durch ändern und uns klarmachen, dass diese durch rassistische Herabsetzung, durch die Schweizerische Bankgesellschaft und uns etwas angehen, obwohl sie uns schein- verletzende Witze. Hier ist oder wäre man machte den Vernichtungsversuch bekannt. bar nichts angehen. umgekehrt aufgefordert, mehr Mut aufzu- Die Schweiz ist im Vergleich mit dem Seit 1997 vergibt der «Beobachter» den bringen und nicht sogleich nach der Polizei Ausland in der gesetzlichen Regelung von «Prix Courage». Die Entstehungszeit dieses und dem Kadi zu rufen. Whistleblowing im Rückstand. Man bastelt Preises zeigt vielleicht beides: dass in jenen Was Zivilcourage ist, bleibt aber inter- schon seit einer Weile an einem entspre- Jahren gesellschaftliche Gleichgültigkeit pretationsbedürftig. Kann es des Guten chenden Gesetz. Der Bundesrat schlug vor, grösser geworden sein könnte und dass auch zu viel geben? Wie weit darf Sozial- eine Meldung soll in der Regel nur dann zu- auch das Bestreben zugenommen hat, ihr kontrolle gehen etwa beim Littering oder lässig sein, wenn sie zuerst an den Arbeitge- entgegenzuwirken. Zudem zeigt die Liste angesichts «undisziplinierter» Fussgänger ber und erst dann an eine Behörde erfolgt. der inzwischen verliehenen Preise die in Anwesenheit von Kindern, für die sie Der Gang an die Öffentlichkeit soll nur un- Bandbreite auf, was als Zivilcourage aufge- ­eigentlich Vorbild sein sollten? ter bestimmten Bedingungen als letztmög- fasst werden kann. Sie reicht vom aufge- licher Weg rechtmässig sein. Im Mai dieses deckten Zürcher Klärschlammskandal Verpfeifen oder warnen Jahres wies der Nationalrat die Vorlage je- (1997) bis zur Rettung von Einzelpersonen Ein Blick auf die Wortgeschichte hilft doch als zu kompliziert zurück. vor dem sicheren Tod (2014). beim inhaltlichen Auffüllen des Begriffs Da geht es um die Aufdeckung von Miss- In der bisherigen Auseinandersetzung, ­Zivilcourage auch nicht viel weiter. Der ständen am Arbeitsplatz und um Kündi- wie sie bei der Ausstellungseröffnung und Sprachgebrauch ging offenbar einmal da- gungsschutz. Mehr kann scheinbar nicht in einer Sonntagsmatinée der GGG-Stadt- von aus, dass im Krieg Courage vor dem reglementiert werden. Wer auf gesellschaft­ bibliothek geführt worden ist, fällt auf, dass Feind gefordert war, diese Tugend dann ins liche Missstände hinweist, hat allerdings die Notwendigkeit eines persönlichen En- Zivile übertragen wurde und es dabei weni- ebenfalls Sanktionen informeller Art in gagements vor allem an Fällen diskutiert ger ums Angreifen als ums Verteidigen ging Kauf zu nehmen, weiche Formen der Äch- wird, in denen es um Gewalttätigkeiten und geht. tung, vielleicht sogar die Aussichtslosigkeit geht: um Handtaschen- und Handyraub, Als eine weitere Kategorie ebenso er- bei Stellenbewerbungen. Das ist oder wäre um sexuelle Übergriffe, um Kindsmiss- wünschter wie nötiger Zivilcourage wird eben der Preis für Engagement. handlungen. Solche Tätlichkeiten fallen das sogenannte Whistleblowing, negativ tageswoche.ch/+ 4ss8m ×

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LISTE AN WEN GEHT DER MITTE-SITZ? 10 FÜR EINE GESUNDE UMWELT! WÄHLEN

TagesWoche 41/15 28 Interview Thomas Maissen Thomas Maissen kämpft gegen die Geschichtsdeutung der SVP. Ein Gespräch über Parolen und verzerrte Geschichtsbilder. «Jeder Historiker hat politische

Überzeugungen»

von Simon Jäggi

aum einmal spielte die Schwei­ geschichten», in dem er historische Aussa­ 50 Jahren sagen können. Aber als Histori­ zer Geschichte in der Politik gen von Christoph Blocher und Ueli Mau­ ker bin ich nicht unglücklich, wenn ge­ eine so grosse Rolle wie in die­ rer demontiert. Seither reist der 53-Jährige schichtliche Themen von einem breiten sem Jahr, in dem Wahlkampf von Auftritt zu Auftritt und liefert sich mit Publikum und seriös diskutiert werden. Kund grosse Jubiläen zusammentreffen. Blocher und weiteren Parteivertretern War es denn seriös? 700 Jahre seit der Schlacht von Morgarten, hartnäckige Diskussionen über die Vergan­ Die Berichterstattung der Medien finde 500 Jahre seit jener bei Marignano, 200 Jah­ genheit des Landes. Wir haben ihn an sei­ ich insgesamt gut. Dass auf einer ganzen re seit dem Wiener Kongress. Dabei ver­ nem Arbeitsort in Paris zum Gespräch Seite über ein Thema wie die Schlacht von steht es die SVP besonders gut, heutige Po­ ­getroffen. Im Interview sagt er, was ihn an­ Marignano berichtet wird, welche 500 Jah­ litik mit Nationalgeschichte zu verknüpfen, treibt, weshalb ein Land wie die Schweiz re zurückliegt, das ist doch aussergewöhn­ ­begründet mit Marignano den Ursprung Mythen braucht und weshalb er sich in lich. der Schweizer Neutralität und mit Morgar­ ­Zukunft aus der Diskussion zurückziehen Was ist der Grund für die grosse ten den historischen Widerstand gegen wird. Aufmerksamkeit? fremde Vögte. 2015 wurde so viel über Mythen und Morgarten, Marignano und der Wiener Während die übrigen Parteien die Ge­ den Ursprung der Schweiz diskutiert, Kongress werden stark mit Grunddeutun­ schichte der SVP überlassen, mischen sich wie seit Langem nicht mehr. Ist es gen der Schweizer Aussenpolitik verbunden. Historiker in die Debatte ein. Allen voran ein gutes Jahr für die Schweizer Also Verteidigung der Freiheit, Unabhängig­ Thomas Maissen, der in Basel seine Kind­ Geschichte? keit, Demokratie, Neutralität. Man kann heit und Jugend verbracht hat. Anfang Jahr Ob es für die Geschichte der Schweiz ein grundsätzliche Probleme von heute anhand erschien sein Buch «Schweizer Helden­ gutes Jahr war, wird man erst in 10 oder von historischen Bildern diskutieren.

TagesWoche 41/15 Thomas Maissen, wurde 1962 in Zürich als Sohn eines Schweizer Vaters und einer finnischen Mutter gebo- ren. In Basel besuchte er das Humanistische Gym- nasium. Von 1981 bis 1989 studierte er Geschichte, Latein und Philosophie an der Universität Basel sowie in Rom und Genf. Er war von 2004 bis 2013 Profes- sor für Neuere Geschichte an der Ruprecht-Karls- Universität Heidelberg. Seit 2013 leitet er das Deutsche Historische Institut in Paris. Er ist verheiratet und Vater von vier Kindern.

Thomas Maissen: «Erzählungen über die Vergangenheit sind wichtig. Doch zurzeit findet ein relativ dumpfes Erzählen statt.» Foto: Keystone

TagesWoche 41/15 30 Eine Diskussion, die vor allem von der SVP angeheizt wird. Die Partei beansprucht seit den 1990er- Jahren die Schweizer Geschichte für sich und stützt sich dabei auf veraltete Ge- schichtsbilder, wie sie während der geisti- gen Landesverteidigung verwendet wur- den. Daneben ist es die SP, welche sich um ein moderneres Bild der Schweiz bemüht und die Gründung des schweizerischen Bundesstaates 1848 oder den Landesstreik von 1918 betont. Was ich bedaure, ist, dass die anderen Parteien den Rechtskonserva- tiven dieses Feld als Hüterin der Schweizer Geschichte überlassen. Woher kommen diese Berührungs­ ängste bei den übrigen Parteien, was alte Schweizer Geschichte angeht? Ich kann es mir letztlich nicht erklären. Am wenigsten bei den Freisinnigen, die tra- ditionell die Geschichtsschreibung in der Schweiz geprägt haben. Weshalb die FDP dieses Terrain nicht mehr verteidigt, ist mir ein Rätsel. Vielleicht hat es mit einer gewis- sen Staatsfeindlichkeit zu tun, die im Frei- sinn seit den 1980er-Jahren vorherrscht – eine Feindschaft auch gegen den Staat von 1848, den die Freisinnigen geschaffen und entwickelt haben. Das ist aber nicht mehr als Spekulation. Sind Sie als Historiker der SVP auch dankbar, dass sie die Schweizer Geschichte in diesem Jahr so stark zum Thema gemacht hat? Dankbarkeit wäre vielleicht etwas zu viel der Gefühle, schliesslich wünsche ich mir als Historiker auch einen sachlichen Foto: keystone ­Umgang. Die Partei verfolgt aber kein wis- senschaftliches Interesse, sondern eine Ihnen hat es Spass gemacht? ­politische Polemik. Das ist durchaus legi- «Wenn man mit Blocher Ich habe es lustig gefunden, ja. Aber tim, liegt aber nicht im Interesse von Histo- man muss doch auf eine Art argumentieren, rikern. Da bin ich zu wenig verliebt in die diskutiert, geht es um wie wir es uns nicht gewohnt sind, es geht Schweizer Geschichte, als dass ich mich um Parolen und Schlagwörter. Man muss über jede Gelegenheit für eine Diskussion Parolen und Schlagwörter. ertragen, dass man unterbrochen wird und freuen müsste. man muss auch selber unterbrechen. Das Weshalb haben Sie sich in die Diskus­ Man wird unterbrochen ist eine Art der Diskussion über historische sion eingemischt? Themen, die nicht jedem Wissenschaftler Was mich ärgert, ist die Verzerrung der und muss auch selber gegeben ist. historischen Fakten. Genauso wie ein Sozi- Was machte Ihnen Freude daran? almediziner gefordert ist, korrigierend in unterbrechen.» Zu sehen, dass man Blocher und der die Debatte um die Krankenkassenreform SVP mit historischen Argumenten beikom- einzugreifen, ist es auch der Historiker. Er An Podiumsdiskussionen der «Welt­ men kann. Was die Partei als historische muss nicht bei jedem Stammtischgespräch woche», des «Blick», im Gotthard­ Fakten verkündet, ist zu einem grossen Teil eingreifen. Wenn aber systematisch Ge- massiv vor den Kameras des SRF: ­Seit auf Sand gebaut. Obwohl ich natürlich rhe- schichtsbilder vertreten werden, die nicht Anfang Jahr streiten Sie bei verschie­ torisch und politisch weit unerfahrener bin mehr dem Stand der Forschung entspre- denen öffentlichen Auftritten mit als ein Vollblut-Profi wie Blocher, ist es mir chen, dann gehört es auch zu seiner Auf- Christoph Blocher über die Schweizer gelungen, ihm Paroli zu bieten. Es ist gabe darauf hinzuweisen. Geschichte. Was treibt Sie an? durchaus befriedigend, wenn man mit Also haben Sie das Buch «Schweizer In meinem Buch stelle ich die Ge- ­Argumenten punkten kann und auch Ap- Heldengeschichten und was dahinter­ schichtsdeutung von Christoph Blocher plaus und einige Lacher auf seiner Seite hat. steckt» geschrieben. infrage. Es war ihm wohl ein Bedürfnis, Die laufenden Diskussionen, auch Eigentlich war dieses Buch bereits vor dass er auf diese Vorwürfe reagieren kann, zwischen Ihnen und Blocher, drehen zwei Jahren fast fertiggestellt. Es fehlte da hatte ich gar keine Wahl. Man kann nicht sich immer wieder um die Frage nach noch das grosse Einleitungskapitel zur Ge- ein solches Buch schreiben und sich dann Mythos und Tatsachen. Was unter­ schichtsschreibung, das ich 2013 wegen der Diskussion entziehen. Sonst hätte es scheidet das eine vom anderen? des Umzugs von Heidelberg nach Paris geheissen, Maissen kneift und ist ein Ich habe immer versucht Mythos als nicht mehr schreiben konnte, sondern erst Schreibtischtäter. Christoph Blocher sagte Wort zu vermeiden. im Sommer 2014. Dass das Buch 2015 mir in einem Pausengespräch einmal, er Weshalb? ­erschienen ist, war dem Verlag aber recht, habe immer wieder vergeblich die Diskus- Das Problem ist, dass in die Geschichts- weil das mit den Jubiläen von Morgarten, sion mit Historikern gesucht. Ich kann mir schreibung immer auch die Deutung der Marignano und dem Wiener Kongress vorstellen, dass viele meiner Kollegen an Vergangenheit hineinspielt. Dass am 9. Mai ­zusammenfiel. solchen Auftritten wenig Freude hätten. 1945 der Zweite Weltkrieg vorbei war, das ist

TagesWoche 41/15 31 unbestritten. Sobald es um die Folgen der Ihrer Sicht mit den Mythen und Ihre politischen Gegner werfen Ihnen Ereignisse geht, wird es schwieriger. Den- Fakten? zuweilen vor, Sie verfolgten selber eine noch besteht ein Unterschied zwischen Die Schlacht von Marignano im Jahr politische Agenda. Zu Recht? den kontrollierten Deutungsräumen der 1515 ist ein Ereignis, über das wir viel wis- Jeder Historiker hat politische Überzeu- Geschichtswissenschaft und der Deu- sen. Wir können somit recht genau gungen. Ich habe nie ein Geheimnis daraus tungsreduktion im Mythos. Der Mythos ­beschreiben, wie es zu dieser Schlacht gemacht, dass ich die EU etwas Gutes finde, muss sich um Quellen und Forschungs- ­gekommen ist, was passiert ist und was die auf eine sehr grundsätzliche Art, und einen stand nicht kümmern, da er eine andere unmittelbaren Folgen waren. Das ist ein Beitritt der Schweiz befürworten würde. Aufgabe hat. Er reduziert Vergangenheit klassischer Bereich der militärischen und Aber es fällt meinen nationalkonservativen auf zeitlose Aussagen, welche für die Iden- politischen Ereignisgeschichte. Dazu gibt Gegenspielern offenbar ziemlich schwer, tität einer bestimmten Gruppe wichtig sind. es auch ein 600 Seiten dickes Buch, das ein Beispiel zu finden, wo sich das konkret Es wird von Anhängern einer konservati- Emil Usteri 1974 veröffentlicht hat. auf meine Bücher auswirken würde. Ich ven Schweiz auch deutlich gesagt, dass die So weit die historischen Tatsachen. glaube, was die Schweiz nötig hat, ist auch einzelnen Fakten für sie nicht so wichtig Der Mythos beginnt dort, wo mit der nicht ein EU-Beitritt, sondern eine Diskus- sind und es ihnen um gute Erzählungen Schlacht die Neutralität der Schweiz be- sion über die verschiedenen Möglichkei- geht, die Gemeinschaft stiften. gründet wird. Ein Mythos deshalb, weil kei- ten in der Zukunft, ohne historische Scheu- Braucht denn ein Land wie die ne Quellen diese Aussage stützen. Dagegen klappen. Und deshalb habe ich dieses Buch Schweiz ein mythenbetontes lässt sich gut erklären, weshalb die Neutra- geschrieben. Um zu zeigen, dass uns die Geschichtsbild? lität rund 150 Jahre später zu einem Grund- Vergangenheit nicht einen einzigen Weg Erzählungen über die Vergangenheit satz der Schweizer Politik wurde und so diktiert. sind wichtig. Sie können tatsächlich Spuren in den Quellen hinterlassen hat. Werden Sie erst Ruhe geben, wenn sich ­Zusammenhalt schaffen und Identität stif- dieses Bild in der Öffentlichkeit ten, gerade in einem Land wie der Schweiz «Für viele Basler ist durchsetzt? mit ihrer Sprachenvielfalt. Doch bei uns Ich kann und will nicht die nächsten findet zurzeit ein relativ dumpfes Erzählen bereits die andere Seite Jahre als Wanderprediger durch die darüber statt, was die Schweiz und die Schweiz ziehen. Mein Arbeits- und Lebens- Schweizer ausmacht. Dabei wird einseitig des Juras sehr weit weg ort ist Paris, wo ich ein Institut leite. In auf das Mittelalter und Schlachten fokus- naher Zukunft möchte ich mich wieder siert. Die Westschweiz und das Tessin kom- und die Stadt das ­anderen Themen widmen. men in diesem Geschichtsbild kaum vor, Sie sind in Basel aufgewachsen. Wie Einwanderer haben erst recht keinen Platz. Zentrum der Welt.» hat die Stadt ihr Geschichtsbewusst- Staatsbürgerlich finde ich es problema- sein geprägt? tisch, wenn man ein Geschichtsbild pflegt, Uneinigkeit besteht ja nicht nur bei Das ist jetzt eine sehr baslerische Frage. aus dem ganz grosse Gruppen herausfallen. Marignano. Der Rütlischwur sorgt Sozusagen: Was verdankt die Welt­ Welches Geschichtsbild würden Sie ebenso für Diskussionen wie die geschichte Basel? Für meinen Blick auf die vorziehen? Schlacht von Morgarten oder die Rolle Geschichte sind vor allem Fremdheits­ Die Schweiz ist ein Land, das seit jeher der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. erfahrungen wichtig. Der Blick von aussen im politischen und wirtschaftlichen Aus- Fehlt der Schweiz ein gemeinsames auf das Eigene war für mich früh ein Thema. tausch mit seinen Nachbarn steht. Zuerst Geschichtsverständnis? Meine Mutter ist Finnin, als Kind bin ich als Teil des Heiligen Römischen Reichs Es ist fast unvermeidlich, dass eine von Zürich nach Basel gezogen und habe Deutscher Nation, dann als Teil der Völker- ­demokratische Gesellschaft über solche zwei Jahre in Nordamerika verbracht. Und rechtsordnung nach dem Westfälischen Fragen streitet. Wenn wir sehen, wie sie in dann hat man von Basel aus natürlich auch Frieden, später als ein Staatsgebilde, das Frankreich über die Rolle von Jeanne d’Arc einen eher peripheren Blick auf die Schwei- stark durch Napoleon geprägt wurde. Die diskutieren, dann nimmt die Schweiz da zer Geschichte. kantonalen Strukturen und Aussengrenzen keine Sonderrolle ein. Aussergewöhnlich Die Lage am Rand des Landes prägt kamen massgebend durch ausländische ist bei uns aber der Fokus auf das Mittel­alter, die baslerische Geschichtswahrneh- Interventionen zustande, die Bundesver- während in anderen Ländern das 19. und 20. mung? fassung wurde nach französischem und Jahrhundert ein stärkeres Gewicht haben. Ja, für viele Basler ist bereits die andere amerikanischem Modell entwickelt. All das Ich würde es also nicht als Nachteil betrach- Seite des Juras sehr weit weg und die Stadt sind laufende Austauschbeziehungen mit ten, dass wir kein einheitliches Ge-­ das Zentrum der Welt. Die Schweiz ist eine dem Ausland, die in der Regel positiv ver- schichtsbild haben, sondern als Normalfall. Richtung, wohin man gehen kann, ebenso laufen sind. Die Schweiz hat gegeben und Die meisten Ereignisse in der Schweizer gut aber auch ins Elsass oder Markgräfler- genommen. Wenn man das jetzt auf einen Geschichte sind geschichtswissenschaft- land. Ich glaube, diese Grenzerfahrungen dauernden Abwehrkampf zur Verteidigung lich unumstritten. Es sind vielmehr die schärfen den Blick auf Andersartigkeit. Je von Freiheit und Demokratie reduziert, ­politischen Deutungen, die für Streit­An lass mehr man sein vertrautes Umfeld verlässt, dann versteht man die Schweiz eben nicht. geben. Deshalb geht es bei den Diskussio- in dem man zur Welt gekommen ist, desto Besonders viel diskutiert wurde in nen über die Geschichte auch stark um Zu- mehr neigt man dazu, das, was einem er- diesem Jahr über die Schlacht von kunftsfragen und weniger darum, was vor zählt wird, zu hinterfragen. Marignano. Wie verhält es sich da aus 700 Jahren tatsächlich passiert ist. tageswoche.ch/+g609y ×

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TagesWoche 41/15 32 Kirche Seelsorge mehr Eigenständigkeit bekom­ men und ob die Bischofskonferenzen die Das Pontifikat von Franziskus wurde Leitlinien der Synode auf ihre eigenen ­gesellschaftlichen Umstände anwenden von progressiven Bischöfen angebahnt. dürfen. «Was Franziskus heute umzusetzen versucht, entspricht in hohem Masse den Nun hoffen sie auf Reformen in Rom. Gedanken, die wir damals hatten», sagt der heute 82 Jahre alte Walter Kasper, er ist seit 2001 Kardinal. Ab 1997 kommt die Gruppe stets Anfang Januar in der Schweiz, meist im bischöfli­ chen Palais von St. Gallen zusammen. Der Die Tafelrunde ungeliebte römische Zentralismus wird in den Augen der wechselnden Teilnehmer nicht zuletzt vom damaligen Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger, verkörpert. von St. Gallen Papst Johannes Paul II. ist ständig auf Reisen, die Zügel in Rom hält Ratzinger in der Hand. Dieser hatte in den Neunziger­ jahren insbesondere mit Kasper eine von Julius Müller-Meiningen ­Debatte über das Verhältnis von Orts­ kirchen und Universalkirche geführt, die er ls Papst Franziskus am 13. März Die sieben Männer speisen gemeinsam, als Wächter über den Glauben autoritär 2013 frisch gewählt von der Log­ feiern zusammen die Messe und tauschen z­ugunsten des Vatikans entschied. gia des Petersdoms spricht, sich aus. Knapp zwei Tage verbringen sie ­bezeichnet er sich als Mensch miteinander im Kloster. Die Tafelrunde bestimmt jetzt mit A«vom anderen Ende der Welt». Das ist der Der damalige Weihbischof von Buenos «Ihr gemeinsamer Nenner ist die Über­ eine Teil der Geschichte über diesen Aires, Jorge Mario Bergoglio, ist damals zeugung, dass das Gewicht Ratzingers in ­Aussenseiter auf dem Stuhl Petri, der dabei keinem der Teilnehmer ein Begriff. Aber den letzten Jahren des Pontifikats Wojtylas ist, das Gesicht der katholischen Kirche zu die Themen der in aller Abgeschiedenheit die zentralistischen und restaurativen verändern. und Reserviertheit tagenden Runde könn­ Kräfte stärkt», heisst es über die St.-Gallen- Der andere Teil der Geschichte liegt ten von einem Notizzettel auf dem Schreib­ Gruppe in der autorisierten und gerade auf ­wesentlich näher. Genauer gesagt, hat tisch von Papst Franziskus stammen. Französisch erschienenen Biografie des als Franziskus seinen Aufstieg zum Nachfolger Es geht bei den Gesprächen, die vom besonders liberal bekannten belgischen Petri nicht zuletzt einer Tafelrunde zu ver­ Frühstück bis zum Rotwein spät am Abend Kardinals Godfried Danneels. danken, die über Jahre hinweg in der dauern, unter anderem um den römischen Danneels zählt seit 1999 zum Kreis, der Schweiz zusammenkam. Zentralismus, um die Aufwertung der Rol­ sich im selben Jahr im Benediktinerkloster Es ist im Jahr 1996, als Ivo Fürer, der le der Bischofskonferenzen, um Sexual­ von Fischingen versammelt. Von der Exis­ kurz zuvor ernannte Bischof von St. Gallen, moral, um die Qualität und die Berufung tenz dieser halboffiziellen Männerrunde erstmals ein Treffen unter gleichgesinnten von Bischöfen und um die Kollegialität. erfährt die Öffentlichkeit erst jetzt. Prälaten organisiert. Fürer ist Sekretär des Als Danneels, der ehemalige Primas der Rates der Europäischen Bischofskonferen­ «Was Franziskus heute katholischen Kirche in Belgien, vor Kur­ zen, der seinen Sitz in St. Gallen hat. Dieser zem bei der Präsentation seiner Biografie Rat gründete sich nach dem Zweiten Vati­ umzusetzen versucht, ironisch von den St. Gallern als einer kanischen Konzil, um den europäischen «Mafia»-Gruppe sprach, die in Rom Ver­ Ortskirchen mehr Gewicht zu verleihen. entspricht in hohem dacht weckte, war die Aufregung bei kon­ Aus diesem Geist heraus will Fürer im klei­ servativen ­Katholiken gross. Danneels ist nen Rahmen Gleichgesinnte zusammen­ Masse den Gedanken, die unter anderem wegen seiner Rolle im Miss­ bringen. «Das waren ganz freundschaftli­ brauchsskandal der katholischen Kirche in che und freie Aussprachen. Jeder konnte wir damals hatten.» Belgien umstritten, 2010 riet er einem Op­ sagen, was er denkt. Es gab weder ein Pro­ fer davon ab, seinen sexuellen Missbrauch tokoll noch eine Tagesordnung», erzählt Kardinal Walter Kasper, durch einen­ belgischen Bischof, den Onkel der inzwischen 85 Jahre alte Bischof. Mitglied der «Gruppe St. Gallen» des Opfers, öffentlich zu machen. Franzis­ kus nominierte Danneels nun bereits zum Vom Frühstück bis zum Rotwein Es sind Themen, die auch bei der seit zweiten Mal für eine Synode. Bei ihrem ersten Treffen kommen die Sonntag im Vatikan tagenden Familiensyno­ Auch Kasper, der Wortführer einer Öff­ Mitbrüder ausnahmsweise in Deutschland de mitklingen. Dort sollen sich etwa 250 Bi­ nung bei der Debatte um wiederverheirate­ zusammen. Der damalige Bischof von Rot­ schöfe über das katholische Verständnis te Geschiedene, wurde vom Papst berufen. tenburg-Stuttgart Walter Kasper ist der von Familie und Ehe in der modernen Die Mitglieder der damaligen Tafelrunde Gastgeber, er lädt die Runde in das maleri­ ­Gesellschaft Gedanken machen. bestimmen heute die Agenda der katho- sche, mittelalterliche Zisterzienserkloster Es geht dabei um ganz konkrete Fragen lischen Kirche mit. Heiligkreuztal ein. Mit dabei ist der charis­ wie die Zulassung von wiederverheirateten Bergoglio taucht erst im Jahr 2001 auf matische Jesuit und Erzbischof von Mai­ Geschiedenen zur Kommunion oder den dem Radar der Gruppe auf. Zusammen mit land, Kardinal Carlo Maria Martini, der Umgang mit Homosexuellen – Themen, die Kasper, Lehmann und dem Erzbischof von s ­pirituelle Führer der Gruppe. Der nieder­ auch die «Gruppe St. Gallen» beschäftigten. Westminster, Cormac Murphy-O’Connor, ländische Bischof von Helsinki Paul Ver­ Letztlich bündeln sich in der Synode zahl­ der wie andere Bischöfe neu zur Gruppe schuren kommt, Bischof Jean Vilnet aus reiche Wünsche, die diese Geistlichen gestossen ist, wird Bergoglio im Februar ­Lille, Bischof Johann Weber aus Graz- schon vor knapp 20 Jahren im privaten 2001 zum Kardinal berufen. Im Oktober ist Seckau, zudem Kasper und der damalige Rahmen formulierten. der Argentinier Berichterstatter bei der Vorsitzende der deutschen Bischofskonfe­ Bei dem Bischofstreffen im Vatikan geht ­Synode, die das Wesen des Bischofsamts renz Bischof Karl Lehmann aus Mainz. es darum, ob die Bischöfe in Fragen der zum Thema hat.

TagesWoche 41/15 33 wurden, ohne dass sich die Teilnehmer auf ­einen Kandidaten festlegten. «Auch der Name Bergoglio ist gefallen», sagt Fürer. Kurz vor dem Konklave im April 2005 ­schreiben die Kardinäle ihm, der als Diöze- san-Bischof kein Wahlrecht hat, eine Post- karte aus Rom. Nur ein Satz steht darauf: «Wir sind hier im Geist von St. Gallen.» Acht einflussreiche, der St.-Gallen- Gruppe nahestehende Kardinäle warfen damals ihr Gewicht und ihre Beziehungen in die Waagschale. Martini, Danneels, Kas- per, Lehmann, Murphy-O’Connor, der Ita- liener Achille Silvestrini, der Lissaboner Patriarch José da Cruz Policarpo sowie der Ukrainer Lubomyr Husar. Im Konklave, das den Favoriten Joseph Ratzinger zum Nachfolger Johannes Paul II. kürt, gibt es einen zweiten Protagonisten. Nach einem vom Vatikanjournalisten Lucio Brunelli veröffentlichten Tagebuch eines Kardinals erhält Jorge Mario Bergoglio die meisten Stimmen nach Ratzinger. Im drit- ten Wahlgang stimmen sogar 40 Kardinäle für den Argentinier. Es droht ein Patt, Rat- zinger fehlen Stimmen zur Zweidrittel- mehrheit. Aber Bergoglio zieht sich zurück, der Deutsche wird Papst.

Bergoglio wird eingeweiht Im Januar 2006 kommt die auf vier Mit- glieder geschrumpfte Gruppe letztmals ­zusammen, auch weil Fürer im Oktober ­altersbedingt als Diözesanbischof von St. Gallen zurückgetreten ist. Acht Jahre lang gehen die Bischöfe und Kardinäle des Kreises in eine Art innere Emigration. Dann kündigt Benedikt XVI. am 11. Februar 2013 überraschend seinen Rücktritt an. St. Gallen ist zu diesem Zeitpunkt nur noch eine angenehme Erinnerung für die ehemaligen Mitglieder des Kreises. Aber nun, angesichts einer von Skandalen wie «Vatileaks» gebeutelten Kirche, bietet sich eine neue Chance für die Reformer. Wie Austen Ivereigh, der ehemalige Sprecher von Kardinal Murphy-O’Connor, in seiner Franziskus-Biografie «The Great Refor- mer» aus dem Jahr 2015 schreibt, ­ergreifen die «europäischen Reformer» erneut die Initiative und lancieren mithilfe einiger Kardinäle aus Lateinamerika ein zweites Mal Bergoglio als Kandidaten. Papst Franziskus: Hoffnungsträger der progressiven Katholiken. foto: reuters Schon 2005, so heisst es, habe sich diese Fraktion vergeblich für Bergoglio stark- Die Schweizer Runde wird bei dieser als neuen Papst. «Wir waren eine freund- gemacht. Eine der führenden Figuren der Gelegenheit auf ihn aufmerksam, wegen schaftliche Suchbewegung, die sich über St. Galler Treffen, Kardinal Murphy- seiner geschickten und kollegialen Art die Kirche und ihre Probleme Gedanken O’Connor, weist den Argentinier vor dem ­erweckt der Argentinier Vertrauen. «Die gemacht hat», erzählt der ehemalige Salz- Konklave 2013 ausdrücklich auf den Plan Anerkennung beruht auf Gegenseitigkeit», burger Erzbischof Alois Kothgasser, der ab hin. «Ich verstehe», antwortet Bergoglio. So heisst es in der Danneels-Biografie von Jür- 2002 zur Reform-Gruppe gehörte. zumindest beschreibt Ivereigh die Szene. gen Mettepenningen und Karim Schelkens. Programmatische Aktionen, konkrete Wenig später ist der Argentinier Papst. Als sich der Gesundheitszustand Johan- Aktivitäten oder Seilschaften zur Unter- Die katholische Kirche befindet sich nes Paul II. in den folgenden Jahren rapide stützung eines Kandidaten beim Konklave seither in einem mühsamen Wandlungs- verschlechtert, machen sich die Mitglieder habe es in St. Gallen nie gegeben. Gerüchte, prozess, um den auch auf der Synode ge- der St.-Gallen-Gruppe bei ihren Treffen die Gruppe habe gegen Joseph Ratzinger rungen werden wird. «Ich bin sehr positiv auch Gedanken über die Nachfolge. Na- gearbeitet, entbehrten jeder Grundlage, und dankbar berührt, wie die Kirche jetzt men seien nie gefallen, behaupten einige lässt Kardinal Lehmann wissen, der bereits unter Franziskus ist», sagt ein alter Bischof, Teilnehmer von damals vehement. seit der Jahrtausendwende nicht mehr zum der auch damals in der Schweiz mit dabei Als Johannes Paul II. 2005 stirbt, wird Kreis gehört. Gründungsmitglied Ivo Fürer war. Der Geist von St. Gallen ist längst im die Frage akut. Ratzinger wünschen sich berichtet gleichwohl, dass bei den Diskus- Vatikan zu Hause. die Schweizer Tafelritter offenkundig nicht sionen über die Nachfolge Namen genannt tageswoche.ch/+6vn1p ×

TagesWoche 41/15

35 Sealand Der Radiopirat Paddy Roy Bates gründete vor 50 Jahren auf einer Plattform in der Nordsee den Staat Sealand. Heute kämpft sein Sohn um Anerkennung und Einnahmequellen. Der kleinste Staat der Welt

von Peter Stäuber

ie Geschichte des kleinsten Das Modell funktionierte, weil die zwei hohlen Betontürmen und einer Platt­ Staates der Welt beginnt mit ­Hoheitsgewässer Grossbritanniens damals form, darauf ein flaches Gebäude. Aber ­einem Mann namens Paddy noch gemäss der 300 Jahre alten Kanonen­ Roughs Tower lag unbestreitbar in interna­ Roy Bates, der das Piraten­ kugel -Regel definiert waren: Da man im tionalen Gewässern, zumindest damals. Ddasein ernst nahm. Der ehemalige Major 17. Jahrhundert rund drei Seemeilen weit Also packte Bates seine gesamte Radio- der britischen Armee verhandelte nicht, schiessen konnte, umgerechnet etwa 5,5 Kilo­ ausrüstung in sein Boot und zog um. sondern riss sich unter den Nagel, was er meter, endete an diesem Punkt das Erneut war er nicht der erste Radiopirat haben wollte. Und im September 1965 wollte ­Hoheitsgebiet des Staates. Das Meer dahin­ auf Roughs Tower, aber der erfahrene er das Fort Knock John. ter war Terra nullius, Niemandsland. ­Eroberer schaffte es auch diesmal, die Kon­ Er enterte die Festung – eine verrostete Auch die Maunsell Forts, eine Verteidi­ kurrenten von von der Platt­ Plattform auf zwei grossen hohlen Beton­ gungsanlage aus dem Zweiten Weltkrieg, form zu vertreiben. Brenzlig wurde es erst, türmen in der Themsemündung – und lagen im Niemandsland der Themsemün­ als er einen Versuch der Rückeroberung zwang das Personal des dort residierenden dung. Sie waren 1942 errichtet worden, um nur mithilfe von Schusswaffen und Molo­ Radio City, das Fort zu verlassen. Die dreis­ deutsche Kampfflugzeuge abzuschiessen. tow-Cocktails abzuwehren vermochte. te ­Eroberung fand auf dem Höhepunkt der Nach dem Krieg standen sie verlassen, ei­ britischen Radiopiraterie statt. Und Bates nes sank nach einer Kollision mit einem Schrot gegen die Leuchtturmbehörde war der verwegenste aller Freibeuter. Schiff, ein anderes wurde durch einen Bates sah bald ein, dass die Zeit der Pira­ In den frühen 1960er-Jahren existierte Sturm zerstört. Doch Knock John blieb be­ tensender zu Ende ging und änderte seine in Grossbritannien nur ein Rundfunk­ stehen und bot den Radiopiraten einen Pläne kurzerhand: Er erklärte die Unab­ sender, nämlich die öffentlich-rechtliche perfekten, wenn auch nicht besonders hängigkeit. Am 2. September 1967 wurde BBC. Kommerzielle Radiostationen waren komfortablen Stützpunkt. Roughs Tower zum Fürstentum Sealand, nicht zugelassen – die Behörden befürchte­ Bates wurde als Roy of Sealand zum Allein­ ten, dass diese dem kulturellen Fortschritt Am 2. September 1967 herrscher und seine Frau – es war ihr Ge­ nicht zuträglich seien. Doch das Monopol burtstag – Prinzessin. Um seinem Staat geriet zunehmend in die Kritik. Angeführt wurde Roughs Tower zum ­Anerkennung zu verschaffen, schrieb der wurde der Widerstand von einer Reihe Regent 1975 eine Verfassung. ­libertärer Unternehmer, die im Verbot des Fürstentum. Paddy Roy Ein halbes Jahrhundert später stehen kommerziellen Radios eine skandalöse die zwei Türme von Sealand noch immer in Einschränkung ihrer Freiheit sahen. Diese Bates wurde zum Roy of der Nordsee, und der Herrscher der 0,02 Geschäftsleute kämpften nicht nur an der Quadratkilometer grossen Plattform sieht intellektuellen Front – Friedrich von Sealand und seine Frau sich als das Oberhaupt des kleinsten Staa­ Hayeks Polemiken gegen staatliche Knech­ tes in internationalen Gewässern. Für tung dienten ihnen als Arsenal –, sondern Prinzessin. ­einen Besuch beim heutigen Prinzen muss wollten selbst Tatsachen schaffen. man sich jedoch nicht in ein Boot setzen. Nach der erfolgreichen Eroberung sen­ Michael of Sealand residiert nur 20 Minu­ Musik aus internationalen Gewässern dete Roy Bates’ Radio von Knock ten vom Bahnhof von Leigh-on-Sea ent­ Sie statteten Boote mit Sendeanlagen John aus bis Ende 1966 rund um die Uhr fernt, einem Städtchen an der Küste der und Plattenspielern aus. Dann navigierten Musik, obwohl das Signal seiner veralteten Grafschaft Essex. Vor dem Haus steht ein sie in Gewässer ausserhalb des britischen Sendeanlage kaum bis nach London reich­ knallroter Pick-up, ein Schild am Fenster Hoheitsgebiets und sendeten von dort aus. te. Als die britische Regierung schliesslich warnt vor dem Rottweiler. Der Hund sei Mitte der 1960er-Jahre gab es rund ein Dut­ versuchte, die Piratensender zu schliessen ­jedoch harmlos, versichert Michael Bates zend dieser «Piratensender», die Pop und und deshalb die gesamte Themsemündung sogleich, als er die Tür öffnet. Rhythm’n’Blues spielten sowie die Beatles zu britischem Hoheitsgewässer erklärte, Vierschrötig, mit einem breiten Nacken und Rolling Stones – Musik, die den BBC- suchte Bates nach einer Alternative. und kurz geschorenen Haaren, sieht der Chefs zu unkultiviert war. Insbesondere Weit draussen im Meer, zwölf Kilometer Prinz eher aus wie ein Seemann als wie ein Teenager liebten die Sender, Millionen vor der Küste der Grafschaft , liegt Staatsoberhaupt. Wenn er lacht, entblösst lauschten lieber den nautischen DJs als Roughs Tower, der nördlichste Ableger der er eine grosse Lücke zwischen den Schnei­ dem faden ­Angebot der öffentlich-recht- alten Verteidigungsanlage. Wie Knock dezähnen. Der heute 62-jährige Michael lichen «Beeb». John besteht die Konstruktion lediglich aus Bates, Sohn des Staatsgründers, übernahm

TagesWoche 41/15 36 lichkeiten eines Staates, der aus einer stäh- lernen Plattform besteht, eher beschränkt. Für Paddy Roy Bates war die Unabhängig- keit in erster Linie ein riesiges Abenteuer, aber selbstverständlich wollte er mit seiner Nation auch Geld verdienen. Nach dem Ende seines Piratenradios unternahm er deshalb Vorstösse in verschiedene Wirt- schaftszweige – Sealand als Steueroase, Sealand als Casino, Sealand als Touristen- hotel. Keine dieser Visionen konnte er umsetzen, aber Bates gab nicht auf.

Putschversuch des Premierministers Ende der 1970er-Jahre sei ein deutscher Unternehmer namens Alexander Achen- bach mit «allerhand interessanten Ideen» zu ihm gekommen, erzählt Michael. Achen- bach wurde Bürger von Sealand und dazu Premierminister, aber die Zusammenar- beit nahm ein böses Ende. Der Unterneh- mer lud den Prinzen von Sealand nach Salzburg ein, um ihm eine Geschäftsidee zu unterbreiten – den Aufbau eines Freizeit- zentrums. Vater Paddy Roy wies den Vor- schlag zurück. «Da entschieden sich Achenbach und seine Leute zu einem Putschversuch», sagt Michael. Die Rückeroberung ihres Staates gelang Vater und Sohn mit Helikopter und Seilwinde. «Sie dachten sich: Wer sollte uns schon daran hindern?» Michael bewachte das Fort damals allein. Als er den Helikopter sah, der sich Sealand näherte, wurde er misstrauisch. «Ich deutete dem Piloten an, er solle verschwinden, doch einer von Achenbachs Leuten seilte sich auf die Platt- form ab und sagte mir, mein Vater hätte eine Vereinbarung unterzeichnet, dass er Sealand an den Premierminister abtrete.» Michael glaubte ihm nicht. Sein Verdacht bestätigte sich, als er in einen Raum ging und die schwere Stahltür hinter ihm zuge- schlagen wurde. Vier Tage lang war er gefangen, dann verschleppten ihn Achenbachs Leute mit Staatsgründer: Der Roy of Sealand mit seiner Prinzessin. foto: Getty Images einem Fischerboot nach Holland, wo sie ihn schliesslich gehen liessen. Die Rück- 1999 als Prinzregent das Zepter von Sea- Kommentare, also holte ich eine Schrot- eroberung ihres Staates gelang Vater und land, und seit dem Tod von Paddy Roy Ba- flinte und schoss ihnen vor den Bug.» Sohn auf ebenso hals­brecherische Weise, tes 2012 ist er der neue Machthaber. Prompt wurde er vor Gericht gezerrt. mit Helikopter und Seilwinde. Die Geisel- Er kennt sein Reich: Michael half von Doch bevor die Legitimität des Schusswaf- nahme eines der Putschisten führte zum Anfang an beim Staatsaufbau mit. Nachdem fengebrauchs geprüft werden konnte, Besuch eines Gesandten aus der deutschen viele Mitarbeiter nach Schliessung des musste man die Zuständigkeit klären. Ein Botschaft in London, der die Freilassung ­Radiosenders das Fort verlassen hatten, Richter in Essex urteilte, dass Sealand aus- aushandelte. Für ­Michael war dieser diplo- ­benötigte sein Vater Hilfe. So kehrte Michael serhalb seiner Gerichtsbarkeit liege und er matische Besuch 1978 die zweite De-facto- nach den Frühlingsferien 1968 einfach somit nicht zuständig sei. Laut Michael war Anerkennung Sealands. nicht mehr in die Schule zurück. Im glei- dies die De-facto-Anerkennung seines Die Jahre der Nordseepiraterie haben chen Jahr wurde der rechtliche Status der Staates durch die britische Regierung. Offi- Michael gezeichnet. Er scheint stets wach- Mikronation erstmals geprüft. «Ich und ziell hält Westminster aber an der Bezeich- sam zu sein, während des Gesprächs wan- meine Schwester waren allein auf Sealand, nung Roughs Tower fest, und auch sonst dert sein Blick immer wieder zum Bild- und ein paar Mitarbeiter von Trinity House, anerkennt kein Staat die Mikronation. schirm an der Wand, auf dem Bilder von der Leuchtturmbehörde, näherten sich in Noch kniffliger als das Problem der -Le vier Überwachungskameras zu sehen sind. einem Boot», erzählt Michael. «Sie machten galität ist die Frage, wozu das Fürstentum «Ah, ein Paket für mich», sagt er, noch bevor gegenüber meiner Schwester obszöne eigentlich da ist. Schliesslich sind die Mög- der Postmann geklingelt hat.

TagesWoche 41/15 37 Während er erzählt, sieht Michael auf der Überwachungskamera, dass seine zwei Söhne vorgefahren sind. James und Liam, beide Ende 20, sind im gleichen Geschäft wie ihr Vater – kommerzielle Fischerei. Sealand ist für sie nur ein Hobby, aber ein wichtiges. Zurzeit sind die drei dabei, ­ihrem Staat einen neuen Sinn zu verleihen. Ein wenig Geld machen die Bates mit dem Verkauf von Adelstiteln – für 199,99 Pfund kann man beispielsweise Gräfin oder Graf werden. Sonst ist auf der Insel nicht viel los, obwohl dort immer mindestens zwei Wäch- ter wohnen und oft Reparaturarbeiten anfallen.

Die Währung von Sealand zeigt das Konterfei der Prinzessin. Eine selbstversorgende Gemeinschaft Aber Pläne für die Zukunft gibt es: «Wir Die Jahrzehnte nach dem Putsch waren ­Julian Assange und Edward Snowden eine wollen die Insel für andere Leute öffnen, friedlich auf Sealand, nur gelegentliche zwiespältige Haltung hat: Obwohl er sich eine selbstversorgende Gemeinschaft auf- Stürme sorgten für Aufregung. Dann, mit als libertär bezeichnet, findet Michael: «Es bauen und den Rest der Welt in unser Pro- dem Aufkommen des Internets, eröffneten muss Regulierung geben. Ich bin nicht da- jekt einbeziehen», sagt James. Eine Fisch- sich dem Kleinstaat neue Möglichkeiten. für, dass man alle staatlichen Geheimnisse und Hummerfarm ist geplant, dazu eine In den späten 1990er-Jahren suchten briti- preisgeben darf, wenn das unsere Sicher- Kleinlandwirtschaft, die Erde dafür soll aus sche Behörden nach Wegen, wie sie den heit unterwandert.» Fischexkrementen gewonnen werden. kriminellen Gebrauch des Netzes unter- «Kein Hippie-Zeug», fügt Michael schnell binden konnten. «Queen and country» hinzu. Ihm schwebt eher eine exklusivere So verabschiedete das Parlament in Gemeinschaft vor. London im Jahr 2000 ein Ge­ setz, das alle sind für Michael Bates Auch mehr «Land» soll rund um die Internetanbieter zur Z­ usammenarbeit mit künstliche Insel gebaut werden. Ein Be- den Ermittlungsbehörden­ verpflichtete. von Bedeutung – auch such auf Sealand sei aber auf keinen Fall Andere Länder hatten ähnliche Bestim- möglich, erklärt er. Triftige Gründe dafür mungen. Zur Umgehung dieser Gesetze wenn das paradox wirkt. kann er nicht nennen. Vielleicht hat er ein- war ein Kleinstaat ohne Polizei- oder Über- fach Angst, dass ein Gast ihm seinen Staat wachungsbehörden perfekt geeignet – und Sogar den britischen Staat unterstützt wegnehmen könnte. Es wäre schliesslich Sealand bot sich die Gelegenheit einer er. «Queen and country» sind Werte, die nicht das erste Mal. Rückkehr zur libertären Mentalität der ihm ­etwas bedeuten – ein Paradox, wie er tageswoche.ch/+ iofjg × Radiopiraten: eine Insel der Freiheit im ­zugibt. Zwar wohnte er früher zuweilen zunehmend regulierten elektronischen über mehrere Monate auf Sealand, aber er Dieser Text ist ein Auszug aus dem Datenmeer. hatte stets ein Zuhause auf dem Festland Buch «Unabhängigkeit! Separatisten und fühlt sich deshalb nicht als­lupenr einer verändern die Welt», das im Chris- Datenhafen für Internet-Piraten ­Separatist. toph Links Verlag erschienen ist. Michael Bates wurde von amerikani- schen Unternehmern kontaktiert, die auf Prinz Michael, der amtierende Regent von Sealand, in jüngeren Jahren. dem Fort eine Datenoase errichten wollten. Kunden sollten hier Inhalte im Internet ­publizieren können, jenseits des Zugriffs staatlicher Behörden. «Sie mussten mir das alles erklären – es ging um Server, IP-Ad- ressen und das ganze Zeug, das war neu für mich», sagt Michael. Aber es gefiel ihm. Bald wurden auf Sea­land ganze Reihen von Internetservern aufgestellt, und im Sommer 2000 begann das Unternehmen namens HavenCo sein ­Geschäft. Der Enthusiasmus war gross, man sah HavenCo als Vorkämpfer der Internetfrei- heit. Aber nach nur drei Jahren scheiterte auch dieses Unterfangen. Der CEO beklag- te die übermässige Einmischung der Bates- Familie, während Michael auf finanzielle Schwierigkeiten verweist. «Wir konnten einfach kein Geld damit machen.» Primär war das auf die hohen Kosten des Offshore- Daseins zurückzuführen. Die Idee, Sealand als sicheren Hafen für Daten zu nutzen, lebte noch eine Weile wei- ter – man spekulierte, dass Wikileaks an ­einem Kauf interessiert sei – doch heute sind die Zeiten von Sea­land als Datenoase vorbei. Was auch daran liegt, dass das Staatsoberhaupt gegenüber Leuten wie

TagesWoche 41/15 38 Fotografie von Olivier Christe Die Digitalkamera bedeutete für Kodak ch kam in diese Stadt und spürte, wie etwas zu Ende geht.» Die Lausanner und Rochester das Ende einer Ära. Eine Fotografin Catherine Leutenegger spricht von Rochester im Bundes- Schweizer Fotografin hat es konserviert. Istaat New York, auch Kodak-City genannt. Den gleichen Namen hat ihre Fotoarbeit, die derzeit in der Galerie Oslo 8 zu sehen ist. Es ist eine subjektive Dokumentation über über das Ende der Analog-Fotografie und die Stadt, in der der ehemalige Fotogigant Kodak-City am bis zu seinem Konkurs 2012 seinen Haupt- sitz hatte. Es begann alles vor 130 Jahren. George Eastman, Sohn einer Bauernfamilie, er fand damals zu Hause den ersten Rollfilm Knackpunkt aus beschichteter Zellulose. Später ent- wickelte er die dazu passende Kamera und gründete schliesslich 1892 in Rochester die Eastman Kodak Company. Kodak, weil Eastman den Buchstaben K mochte und «Kodak nach was klang». Vor dieser Erfindung wurden in der Fo- tografie fragile Glasplatten belichtet. Den Entwicklungsprozess musste jeder selbst durchführen. Das war teuer und erforderte Eine Hommage an den Kodak-Gründer Eastman: Catherine Leutenegger. foto: O. christe chemisches Grundwissen. Mit Eastmans Erfindung stand die Fotografie schlagartig jedem zur Verfügung, der zehn Dollar für ein Set bestehend aus Kamera, Rollfilm à 100 Bilder, Entwicklung, Abzügen und ei- nen neuen Film laden aufbringen konnte. Seine Erfindung vermarktete Eastman mit dem Slogan: «You press the button, we do the rest.» Praktisch wie ein Füllfederhal- ter wollte er den Fotoapparat machen. Und entdeckte damit eine Goldgrube. Über 100 Jahre sollte das Wirtschaftsmärchen für Kodak und Rochester dauern. Ende der 1980er-Jahre, der Blütezeit, ar- beiteten über 60 000 Menschen in Roches- ter für Kodak. Die Firma machte Gewinne im zweistelligen Milliardenbereich. Zwei Drittel aller weltweiten Fotodienste liefen über sie. Und damit über die Stadt am Süd- ufer des Lake Ontario mit seinen 250 000 Einwohnern.

Mit Visionen zum Erfolg Es ist aber nicht nur Eastmans Erfinder- und Unternehmergeist, der Leutenegger ins Schwärmen bringt: «Er war ein Philan- throp. Er richtete für seine Arbeiter ein grosszügiges Krankenversicherungs- und Pensionssystem mit Pioniercharakter ein, gründete in Rochester Spitäler, Universitä- ten, Musikkonservatorien und Theater. All dies mit Firmengeldern.» Ihre Arbeit sei auch «eine Hommage an diesen weitsichti- gen Visionär», der noch heute ein Vorbild sein müsse. Zum ersten Mal in Rochester war die ­Fotografin 2007, elf Jahre nach Kodaks Re- kordjahr. Von der Stadt wusste sie damals nur wenig. Sie wollte sich primär erholen von ihrem damaligen Leben in Manhattan. In Rochester angekommen, war vom Wirtschaftsmärchen nur noch wenig zu spüren. Die Strassen wie ausgestorben, er- drückende Leere. Das Gefühl verstärkte sich, als sie vor dem 360-Meter-Turm des

TagesWoche 41/15 39 Kodak-Hauptsitzes stand, auf dem endlo- Arbeiten als Archäologin, die konservierte, Eine Arbeitslosenquote von knapp fünf sen Firmenparkplatz, der höchstens zur was am Verschwinden war.» Prozent, intakte städtische Finanzen und Hälfte besetzt war. Und das an einem Werk- Eine Fotografin, die sich als Konserva- eine stabile Bevölkerungszahl bestätigen tag um 10 Uhr morgens. torin versteht. Eine leere Stadt. Ein stillge- Leuteneggers Eindruck. Sie nahm wahr, was sie dann auch in legter Industriekomplex. All das klingt Das Gefühl der Leere, das offensichtlich Zahlen las. 1985: 60 000 Mitarbeiter in Ro- stark nach den unzähligen Fotobüchern, trügerisch ist, führt Leutenegger auf die chester. 2007: Nur noch 10 000. Und diese die es über Orte mit plötzlichem Bevölke- Umstände ihrer Anreise zurück. Vor ihrer Zahl sollte sich bis 2012, dem Konkursjahr, rungsrückgang wie Detroit oder Tscherno- ersten Reise wohnte sie während mehrerer nochmals halbieren. byl bereits gibt. Fotografen, die lüstern vor Monate in Manhattan. Fast jede Stadt sehe Betonskeletten, den ehemaligen Industrie- danach wohl etwas leer aus, vermutet sie. Manager ohne Sinn für den Wandel tempeln, stehen und das letzte Leben aus Zudem sei sie im Stadtzentrum Rochesters Wie diese Entwicklung zeigt, kam die ihnen fotografieren. «Ruin-Porn» nennen angekommen, einem Finanz- und Verwal- Insolvenz nicht überraschend. Kodak hatte Kritiker dieses Genre. tungsviertel, wo sich die Leute meist entwe- Mühe, sich in der schnelllebigen digitalen Leutenegger hatte aber Glück. Sowohl der in Autos oder in Gebäuden aufhielten. Welt zurechtzufinden, und die Gewinne bei ihrem ersten Besuch 2007 wie bei ihrem stammten auch noch Mitte der 1990er-Jah- zweiten im Jahr 2012 erhielt sie fast keinen Ein mögliches Missverständnis re fast ausschliesslich aus dem traditionel- Zugang zu den ehemaligen Produktions­ «Kodak-City soll aber gar nicht versu- len Analog-Geschäft. anlagen im Kodak-Park, wo sie womöglich chen, das reale Rochester zu zeigen. Es ist Angefangen hat das digitale Zeitalter für der Ruinen-Pornografie verfallen wäre. eine subjektive Interpretation dieser Stadt, Kodak allerdings ganz anders: 1976 war es Durch informelle Kontakte mit Arbei- die den Aufstieg und Fall der analogen Foto- mit Steve Sasson ein eigener Mitarbeiter, tern konnte sie nur in wenige Aufenthalts- grafie miterlebt hat.» der die erste tragbare Digitalkamera ent- räume und Büros des Kodak-Konzerns Leutenegger beschreibt damit die heikle wickelte – mit einer Auflösung von 0.1 Me- vordringen. An diesen Orten entstanden Seite ihrer Serie Kodak-City, denn es könn- gapixel. 1994 entwickelte Kodak für Apple Bilder, in denen die Zeit seit Jahrzehnten te durchaus der Eindruck entstehen, dass gar die erste marktfähige Digitalkamera, stillzustehen schien. es sich dabei um eine dokumentarische Ar- die Apple Quick Take 100. So ist auf einem ihrer Bilder eine Time- beit handelt. line zu sehen mit Schlüsselereignissen des Zwei Drittel aller letzten Jahrhunderts. Sie endet im Jahr «In der ganzen Stadt 2000. Auf einem anderen steht gross Inno- weltweiten Fotodienste vation an einer Wand, Buchstabe für Buch- wimmelt es von Start-ups. stabe auf Einzelblättern gedruckt. Beide liefen über Kodak-City. Bilder stammen aus dem Jahr 2012. Diese Kodak stirbt, zeitlosen Interieurs bilden einen Teil von Doch gerade an diesem Beispiel wird Leuteneggers Arbeit. Rochester aber lebt.» Kodaks Digital-Problem ersichtlich: Statt Der verwehrte Zugang zum Grossteil die Kamera als Kodak zu verkaufen, bevor- des Kodak-Parks animierte Leutenegger In den unzähligen Strassen- und Park- zugte man Apple als offiziellen Hersteller. aber zu mehr. Sie entschied sich, zusätzlich s­zenen kommt ein Gefühl von Alltäglich- Die Digitalkamera sollte nicht das eigene, die Verflechtung von Kodak und Rochester keit und damit eines «so-ist-es» auf. Die damals noch überaus erfolgreiche Filmge- in den Fokus zu rücken. Herausgekommen sehr deutliche Verwendung einiger dieser schäft gefährden. Und in der Chefetage ist ein trauriges, menschenleeres Bild einer Szenen als Metaphern, etwa ein gespalte- konnte sich schlicht niemand vorstellen, verfallenden Stadt. Um Längen komplexer ner Baum oder eine hinter Glas eingesperr- dass die digitale Fotografie je den Fotofilm und interessanter als Industrieruinen. te, miauende Katze, tragen zudem nicht verdrängen könnte. dazu bei, das dokumentarische Gefühl zu Wie sich die beiden Unternehmen seit- Leere Stadt? brechen. So auch nicht die ungewöhnliche her entwickelten, wirkt fast zynisch. Leu- Allerdings hat dieses Bild einen Haken. Starre der Bilder. tenegger fasst zusammen: «Nach Eastman, Es stimme nicht mit dem realen Rochester Dieses potenzielle Missverständnis ver- dem umsichtigen Visionär, kamen nur überein, sagt Leutenegger: «Rochester langt nach Vermittlung, welche die Foto­ noch Manager. Leute, die mit dem Fotofilm ­unterscheidet sich grundlegend von den galerie Oslo 8 in erster Linie in Form eines eine Zauberformel für die Ewigkeit in ihren unweit gelegenen, ehemaligen Zentren der Talks am 22. Oktober anbietet. Dort disku- Händen glaubten.» Automobilindustrie wie Detroit oder Buffa- tieren die Kunsthistorikerin Barbara van Kodaks Untergang steht auch stellver- lo. Diese Städte zogen vor allem schlecht der Meulen und der Fotosammler Peter tretend für das Ende der Analog-Fotografie. ausgebildete Arbeitskräfte an, die nach Herzog über vermeintliche Objektivität, Ein Thema, mit dem sich Leutenegger dem Wegzug der Konzerne vor dem Nichts die Bedeutung Eastmans für die Fotografie schon vor Kodak-City fotografisch ausein- standen. Kodak und Rochester hingegen und das Kodak-Jahrhundert. andergesetzt hat. In einer früheren Arbeit benötigten überdurchschnittlich viele und tageswoche.ch/+ 96wet × dokumentierte sie den Wandel in Fotoateli- gut ausgebildete Fachkräfte. Als diese ihre ers und -labors in der Westschweiz und Stelle verloren, gründeten viele ihre eige- «Kodak-City», Oslo 8, bis 24. Oktober, New York. Und jetzt jenen von Kodak und nen Start-ups. In der Stadt wimmelt es jeden Freitag und Samstag, 14 bis 18 Uhr. Rochester. «Ich verstand mich in beiden ­davon. Kodak stirbt, Rochester aber lebt.» Talk am 22. Oktober, 18 Uhr. Eintritt frei.

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Gefühlskommando im Kinderkopf: Trauer, Angst, Wut, Ekel und Freude bei der Arbeit. foto: outnow

Kino In echt sieht das natürlich etwas anders aus. Oder? Wir haben bei Salome Kornfeld, Doktorandin der Neuropsychologie in Der Film «Inside Out» schaut in den Kopf ­einem Forschungsprojekt an der Kinder­ klinik des Inselspitals Bern, nachgefragt. eines Mädchens. Wie realistisch wirkt das Frau Kornfeld, in «Inside Out» wird das Innenleben des Mädchens Riley von auf eine Neuropsychologin? fünf Emotionen in Form lustiger Figür- chen bestimmt. Wut, Trauer, Freude, Angst und Ekel beeinflussen Rileys Leben – eine realistische Vorstellung? Realistisch ja, wenn auch sehr verein­ facht. Emotionen beeinflussen unser Han­ Zu Besuch im deln, wie viele es sind, ist aber von Theorie zu Theorie unterschiedlich. Die fünf Emo­ tionen, die in Rileys Kopf das Sagen haben, sind angelehnt an das Modell des amerika­ nischen Psychologen Paul Ekman, der von Kinderhirn sieben «Basisemotionen» ausgeht, die in ­allen Kulturen die gleichen sind: Fröhlich­ keit, Wut, Ekel, Furcht, Traurigkeit, Verach­ tung und Überraschung. Die beiden Letzte­ von Naomi Gregoris ren haben die Filmemacher ausgelassen – vielleicht aus Gründen der Vereinfachung. abt ihr euch je gefragt, was in kleinen Mädchens mehr oder weniger im Was ist mit der Kommandozentrale? den Köpfen anderer Men­ Griff haben. Die Emotionen sitzen in den «Head- schen abgeht?», fragt eine Der neue Streifen aus dem Hause Pixar quarters» im Gehirn, wo sie alles mit- Stimme zu Beginn von «Inside liefert nicht nur beste Familienunterhal­ bekommen, was Riley sieht. HOut». Sie gehört einer kleinen gelben Figur tung, er versorgt das Publikum auch mit Genau, und hier hört es dann auch ziem­ mit blauen Haaren und einem so uner­ aufschlussreichen Antworten zur Ein­ lich schnell auf mit der Realität (lacht). Im schütterlich sonnigen Gemüt, wie es nur in gangsfrage: In unseren Köpfen hocken Film wird suggeriert, dass die fünf Emotio­ Kinderfilmen möglich ist. Emotionen, die Erinnerungen horten, nen in der Stirnseite des Gehirns sitzen, Oder in Kinderköpfen: Es spricht Joy, ­Ideen einschrauben, Persönlichkeitsinseln also genau da, wo sich der am weitesten die personifizierte Freude, eine von fünf aufbauen, Traumkino schauen und zudem vorne liegende Teil des Gehirns, der prä­ Emotionen, die im Kopf der elfährigen Pro­ über ein Schaltpult all unsere Handlungen frontale Cortex, befindet. Gewisse Teile des tagonistin Riley sitzen und das Leben des steuern. präfrontalen Cortex kontrollieren und

TagesWoche 41/15 41 FLASH ­regulieren mitunter unsere Emotionen. Das hat wahrscheinlich viel damit zu tun, Von daher macht der Standort der Schalt- dass Riley eine glückliche Kindheit hatte. zentrale durchaus Sinn. Nur werden die Sie ist behütet aufgewachsen und hatte als Emotionen in diesem Teil unseres Hirns Kind wenig einschneidende Veränderun- KULTUR nicht – wie im Film erzählt – produziert, gen in ihrem Leben. Dass die Freude eine Sud Unplugged sondern vielmehr verwertet und in Kontext so wichtige Position einnimmt, hat mit gebracht. Die Emotionsproduktion ge- dem Temperament zu tun, mit Rileys Dis- schieht in viel tiefer liegenden Strukturen position, also mit dem, was sie bereits bei des Gehirns. Das Zusammenspiel stimmt der Geburt­ mitbringt. Aber auch mit dem also, nur der Ort ist vereinfacht dargestellt. Umgang, den ihre Eltern und sie miteinan- Die fünf Figuren sehen nicht nur alles, der hatten, indem sie ihr eine sorglose was «ihr» Mädchen durchlebt, sie Kindheit ermöglichten. Und Riley reagiert steuern auch all ihre Handlungen. entsprechend: Sie ist ein glückliches Kind Haben Emotionen wirklich einen und will das auch bleiben für ihre Eltern, derartigen Einfluss auf unser Verhalten? die sie nur als ihren kleinen Sonnenschein Sie sprechen die zweite Ungenauigkeit kennen. Nach dem Umzug nach San Fran- an: Riley wird im Film nur von ihren Emo- cisco ist dies aber nicht mehr so einfach. tionen gelenkt, dabei gibt es nichts, was Weil Riley gelernt hat, dass sie als glückli- diese Emotionen reguliert. Das wäre in der ches Kind ihre Eltern glücklich macht, lässt ­Realität anders. Wenn Riley also wütend sie vielleicht deshalb die Trauer bis kurz auf jemanden wäre, dann bräuchte es nicht vor Ende des Films gar nicht zu. nur die Emotion Wut, sondern auch eine In anderen Worten: andere Kindheit, Ohneland und Instanz, die diese Emotion bewertet, die in andere Kommandozentrale? die Zukunft blickt und nach den Konse- Absolut. Bei einem anderen Kind würde quenzen von Aktionen fragt. Diese die Schaltzentrale anders aussehen. Hätte Giacun Schmid Vernunfts-­Instanz fehlt aber völlig. Ande- Riley beispielsweise eine streng autoritäre rerseits ist es auch so, dass bei Kindern die Erziehung erlebt, wäre vielleicht der kleine Zum vierten Mal in diesem Jahr geht am Fähigkeit, Emotionen zu regulieren noch Zorn vermehrt am Hebel, die Konsole hätte Sonntag ein Konzert der Reihe Sud Un- ­weniger entwickelt ist als bei Erwachsenen. vielleicht auch nur einen Knopf. Oder die plugged über die Bühne. Als Gäste aus dem Das passt dann wieder durchaus in den Emotionen würden nur dasitzen und sich Ausland begrüsst das Sud das österreichi- Film, in dem ja der Kopf von Riley die kaum bewegen. sche Projekt Ohneland, das aus Johannes Hauptrolle spielt. Was meinen Sie zu Rileys Träumen: Haase (elektrische Geige) und Ingo Bohne Sie werden in einer Art Filmstudio weit (Schlagzeug) besteht. Die beiden mischen unter der Schaltzentrale gedreht und einfache, aber ungewöhnliche Rhythmen dann von den Emotionen zusammen mit sphärischen Klangwelten. Als lokaler mit der schlafenden Riley auf einer Art Künstler tritt der Basler Singer-Songwriter inneren Leinwand betrachtet. Giacun Schmid auf, der vor einem Jahr sein Das Filmstudio ist ein witziges und auch erstes Soloalbum veröffentlichte. × ziemlich akkurates Bild: Während des Schlafens werden im Hirn aus Erinnerun- Sud, Bergweg 7, gen Geschichten oder ­Abfolgen gebaut. Sonntag, 11. Oktober 2015, 18.30 Uhr. Ausserdem wandern die Erinnerungen des · www.sud.ch Tages ins Langzeitgedächtnis – auch das foto: Samuel Stoecklin passiert bei uns im Hirn während wir schla- fen. Das mit der Leinwand ist hingegen Bibliothek Bar «Der Film vereinfacht, ­weniger wirklichkeitsgetreu. Es gibt dazu neuere Forschung, die zeigt, dass beim aber er liefert Stoff für Träumen die Hirnregionen aktiviert wer- Bar und Buch den, die bei der wirklichen Ausführung von spannende Diskussionen Bewegungen zum Zug kommen. Riley soll- te also ihre Träume als aktive Person erle- am Barfi mit Kindern.» ben, nicht bloss als ­Zuschauerin. In einem Interview meinte der Regis- Die Bibliothek Bar am Kohlenberg 7 will Andererseits haben bei den Erwachse- seur Pete Docter, er habe den Film eine neue Barkultur am Barfüsserplatz ein- nen im Film auch nur die Emotionen nicht nur für Kinder gemacht, sondern läuten und lädt Gäste jeglicher Couleur zur etwas zu sagen. auch für Eltern, die verstehen wollten, Eröffnung ein. Neben dem reichhaltigen Genau. Hier bräuchte es tatsächlich was im Kopf ihres Kindes passiert – ist Bar-Angebot will das Lokal ein breites noch eine höhere, eine übergeordnete Ins- ihm das gelungen? Buchsortiment zum Lesen und Verleihen tanz, welche die Emotionen überwacht, Der Film schafft auf jeden Fall eine Ver- anbieten. Zu diesem Zweck sind die Besu- plant und in die Zukunft denkt. Dann wür- einfachung der komplexen Zusammenhän- cher aufgefordert, ein Buch ihrer Wahl zur de auch der Ort des präfrontalen Cortex ge, die unser Handeln und unsere Persön- Eröffnung mitzubringen, das in die haus­ wieder stimmen, der für die Kontextualisie- lichkeit ausmachen, wenn auch auf sehr eigene Bibliothek integriert wird. rung zuständig ist: Was habe ich bisher amerikanische und etwas kitschige Art und ­erlebt, wie setze ich was ein, wie verhalte Weise. Nicht alles in «Inside Out» ist wissen- Bibliothek Bar am Barfi, Kohlenberg 7, ich mich und welche Konsequenzen haben schaftlich stichhaltig, viel wichtiger scheint Samstag, 10. Oktober, ab 17 Uhr. meine Handlungen? mir aber, dass der Film Stoff für spannende · www.bibliothekbar.ch Joy, die Freude, ist zu Beginn des Films Diskussionen mit Kindern lief­ ert: Warum die einflussreichste Emotion in Rileys sind wir alle verschieden? Wieso bin ich Gehirn, sie hat eine klar übergeordnete manchmal ohne Grund ­wütend? Ist es okay, Funktion. Die Trauer hingegen wenn ich mal traurig bin? Und das ist durch- gewinnt erst gegen Ende an Gewicht – aus bemerkenswert. wie erklären Sie sich das? tageswoche.ch/+ s00c2 ×

TagesWoche 41/15 BASEL CAPITOL • JA’MIE: • DRIFTING CLOUDS 42 PRIVATE SCHOOL GIRL [18 J] [12/10 J] Kinoprogramm Steinenvorstadt 36 kitag.com SO: 15.00 E FR: 21.00 Finn/d/f • FACK JU GÖHTE 2 [12/10 J] • MY BEAUTIFUL • ET LA LUMIÈRE FUT [12/10 J] 14.00 D LAUNDRETTE [18 J] SA: 15.15 Ov/d SO: 20.00 E/d/f • [6 J] Basel und Region • THE MARTIAN [12/10 J] Finn/d/f E/d/f SA: 17.30 14.00/17.00/20.15 PATHÉ KÜCHLIN • ALLES STEHT KOPF [6/4 J] •ASTORALI P 9. bis 15. Oktober 17.00 E/d/f Steinenvorstadt 55 pathe.ch SA: 20.00 Georg/d • [16/14 J] • THE INTERN – • EVEREST – 3D [12/10 J] Finn/d/f MAN LERNT NIE AUS [8/6 J] 12.30—FR/SO/DI: 17.30— SA: 22.15 20.00 E/d/f SA/MO/MI: 15.00 D • CHANTRAPAS [16/16 J] FR/DI: 15.00—SA/MO/MI: 17.30 E/d/f SO: 13.00 F/Georg/f/d ANZEIGEN KULT.KINO ATELIER •AN P [10/8 J] • THE MATCH D FACTORY GIRL [12/10 J] Theaterstr. 7 kultkino.ch 12.45 Finn/d/f • PAN – 3D [10/8 J] SO: 15.30 • PURA VIDA – QUER 15.15—FR/SO/DI: 17.45— • MARABUS – ADIEU, DURCH ECUADOR [16/14 J] D Ov/d SA/SO: 10.20—SA/MO/MI: 20.15 PLANCHER DES VACHES! 12.10 FR/SO/DI: 20.15— [12/10 J] •FE LI [12/10 J] E/d/f SO: 17.30 F/e E/d SA/MO/MI: 17.45 13.45/18.00 • REGRESSION [16/14 J] • I HIRED A CONTRACT • THE SECOND MOTHER [16/14 J] 12.45—FR/SA: 22.15— KILLER [12/10 J] 14.15 Port/d/f SA/MO/MI: 20.00 D SO: 20.00 E/d/f • THE FAREWELL PARTY [8/6 J] FR/SO/DI: 20.00 — • 16.00 Hebr/d SA/SO: 10.50 E/d/f GO AMERICA [12/10 J] • THE PROGRAM [6/4 J] • ER IST WIEDER DA [12/10 J] MO: 18.30 Finn/d/f 16.00/18.15/20.45 E/d/f 13.00/15.30/18.00— • JARDINS • DIOR AND I [6/4 J] FR: 20.00/23.30— EN AUTOMNE [10/16 J] E/F/d SA/SO: 10.30—SA-MI: 20.30— F/e 16.30 D MO: 21.00 • EL BOTÓN DE NÁCAR [16/14 J] SA: 22.50 • KURZFILMPROGRAMM Sp/d • MINIONS – 3D [6/4 J] 18.30 D OTAR IOSSELIANI •MY A [10/8 J] 13.10—SA/SO: 10.45 MI: 18.30 Ov/d 20.30 E/d • MAZE RUNNER – • CRIME AND • ICH UND KAMINSKI [12/10 J] DIE AUSERWÄHLTEN IN DER PUNISHMENT [12/10 J] D BRANDWÜSTE – 3D [14/12 J] MI: 21.00 Finn/d/f 20.30 15.00—FR/SO/DI: 17.45— • DÜRRENMATT – EINE FR/SA: 23.15—SA/MO/MI: 20.30 D STUDIO CENTRAL LIEBESGESCHICHTE [10/8 J] FR/SO/DI: 20.30— FR/SA/MO-MI: 12.15 D SA/MO/MI: 17.45 E/d/f Gerbergasse 16 kitag.com • DIE DEMOKRATIE • SICARIO [16/14 J] • EVEREST [12/10 J] IST LOS! [8/6 J] 15.15—FR/SO/DI: 20.30— 14.00/17.00/20.00 E/d/f FR/SA/MO-MI: 12.30— SA/MO/MI: 18.00—SA: 23.00 D SO: 11.00 Dialekt/d/f FR/SO/DI: 18.00—FR: 23.00— FRICK MONTI • HOW TO CHANGE SA/MO/MI: 20.30 E/d/f THE WORLD [12/10 J] • THE VISIT [14/12 J] Kaistenbergstr. 5 fricks-monti.ch FR/MO-MI: 12.45 Ov/d 18.15—FR/SA: 22.45 D • ALLES STEHT KOPF – 3D • 10 MILLIARDEN – WIE WERDEN • FACK JU GÖHTE 2 [12/10 J] [6/4 J] WIR ALLE SATT? [0/0 J] 20.15— FR-SO/MI: 15.00—FR-SO: 20.15 D FR-SO: 13.45 D FR/SA/MO-MI: 15.15/17.45— • FACK JU GÖHTE 2 [12/10 J] • THE WOLFPACK [16/14 J] FR/SA: 22.45—SA: 10.30— SA: 13.00 D FR/SA/MO-MI: 14.15/18.45— SO: 11.30/15.00 D • EVEREST – 3D [12/10 J] SO: 11.30/18.00 E/d/f • ALLES STEHT KOPF [6/4 J] D D SA/SO: 17.30—MO/MI: 20.15 • 45 YEARS [16/14 J] FR/SA/MO-MI: 13.00—SO: 14.00 • MINIONS – 3D [6/4 J] FR/SA/MO-MI: 15.00/17.00/ • ALLES STEHT KOPF – 3D [6/4 J] SO: 13.00 D 19.00/21.00— SA/SO: 10.15 D SO: 12.15/17.45/19.45 E/d/f • THE INTERN – LIESTAL ORIS • DER STAAT GEGEN MAN LERNT NIE AUS [8/6 J] Kanonengasse 15 oris-liestal.ch FRITZ BAUER [12/10 J] FR/SO/DI: 13.10/20.15— FR/SA/MO-MI: 16.15/20.45— SA/MO/MI: 15.40 D • ALLES STEHT KOPF [6/4 J] D FR/SO/DI: 15.40— 18.00—MI: 13.15 D SO: 13.15/20.00 E/d/f • SCHELLEN-URSLI [6/4 J] SA/MO/MI: 13.10/20.15 • ALLES STEHT KOPF – 3D SO: 15.00 IN ANWESENHEIT • DER MARSIANER – RETTET [6/4 J] DER FILMCREW MARK WATNEY – 3D [12/10 J] SA/SO: 13.15 D SO: 15.30 Dialekt FR/SO/MO/MI: 14.00— • MAZE RUNNER – MOVIE & DINE FR/SO/DI: 17.00—FR: 22.30— D DIE AUSERWÄHLTEN IN DER PATHE KÜCHLIN | SAMSTAG, 7. NOVEMBER 2015 KULT.KINO CAMERA SA/MO/MI: 20.00 BRANDWÜSTE – 3D [14/12 J] 1. FILMSTART: 17.15 UHR (Edf) | 2. FILMSTART: 20.30 UHR (D) SA/SO: 11.00—SA/MO/MI: 17.00— D Rebgasse 1 kultkino.ch E/d/f FR-SO: 20.15 SA: 23.00—SO/DI: 20.00 • MAZE RUNNER – ÖFFNUNG CINE DELUXE 30 MIN. VOR FILMSTART •UTH YO [14/12 J] • DER MARSIANER – RETTET DIE AUSERWÄHLTEN E/d/f MARK WATNEY [12/10 J] 15.30/18.00/20.30 D IN DER BRANDWÜSTE • LA ISLA MINIMA [16/14 J] FR: 20.30—SA/DI: 14.00 [14/12 J] Sp/d/f • SOUTHPAW [14/12 J] D 16.45 D MO-MI: 20.15 • GIOVANNI SEGANTINI – FR/SA: 22.40 • FACK JU GÖHTE 2 [12/10 J] MAGIE DES LICHTS [8/6 J] • OOOPS! DIE ARCHE SA/SO/MI: 15.30 D D IST WEG ... – 3D [0/0 J] 19.00 D • KONZERT: JONAS KAUFMANN • TAXI TEHERAN [8/6 J] SA/SO: 11.10 – EIN ABEND MIT PUCCINI 20.45 Ov/d/f • Ballett – GISELLE [10/8 J] SO: 11.00 D SO: 17.00 E NEUES KINO PATHÉ PLAZA SPUTNIK Klybeckstr. 247 neueskinobasel.ch Steinentorstr. 8 pathe.ch Poststr. 2 palazzo.ch • LUSTSTREIFEN – • 45 YEARS [16/14 J] QUEER FILM FESTIVAL • ALLES STEHT KOPF – 3D [6/4 J] 20.15 E/d BASEL: 13.45/16.00— • BOYCHOIR [10/8 J] FR/SA/MO/MI: 20.30— E/d 8. bis 11. Oktober 2015 D FR/SA: 18.00 • LIMBO [18 J] FR/SA: 22.45—SO/DI: 18.15 Dän/e FR/SA/MO/MI: 18.15— • EL BOTÓN DE NÁCAR [16/14 J] FR: 19.00 SO/DI: 20.30 E/d/f SO: 11.00 Sp/d/f • JOVEN Y ALOCADA – • GIOVANNI SEGANTINI – #SPECTRE 007. COM YOUNG AND WILD [18 J] COMING SOON Sp/e REX MAGIE DES LICHTS [8/6 J] IMAX® is a registered trademark of IMAX Corporation FR: 21.00 D Steinenvorstadt 29 kitag.com SO: 13.00 • PORN SHORTS [18 J] • SCHELLEN-URSLI [6/4 J] TICKETS: CHF 89.– PRO PERSON FR: 23.00 Ov • SICARIO [16/14 J] SO/MI: 15.00 Dialekt 14.30/17.30/20.30 E/d/f Der Preis beinhaltet ein mehrgängiges Flying Dinner, Cüpli, Rot- und Weisswein, Bier, • GARDENIA – BEVOR DER • DIE DEMOKRATIE Mineral, Kaffee à discretion und Filmbesuch. LETZTE VORHANG FÄLLT • ALLES STEHT KOPF – 3D [6/4 J] IST LOS! [8/6 J] [18 J] 15.00 D 18.00 E/d/f Dialekt/d/f F/Niederländisch/d SO/MO: 18.00 Tickets sind an der Kinokasse und online erhältlich. Anzahl Plätze limitiert. SA: 17.30 • EVEREST – 3D [12/10 J] • DER STAAT GEGEN • JE SUIS ANNEMARIE 21.00 E/d/f FRITZ BAUER [12/10 J] PATHE KÜCHLIN pathe.ch/basel CATERING BY: SCHWARZENBACH [18 J] DI/MI: 18.00 D SA: 19.30 F/e STADTKINO ANSCHL. GESPRÄCH MIT DER SISSACH PALACE REGISSEURIN VÉRONIQUE Klostergasse 5 stadtkinobasel.ch AUBOUY UND DER DARSTELLERIN • THE MAN WITHOUT A PAST Felsenstrasse 3a palacesissach.ch NINA LANGENSAND FR: 16.15 Finn/d/f • WEGEN DACHSANIERUNG • THE HUNGER [18 J] • BLIND DATES [16/14 J] BLEIBT DAS KINO SA: 22.00 E/d/f FR: 18.30 Georg/d/f GESCHLOSSEN

TagesWoche 41/15 43

Impressum

TagesWoche Chefredaktion/ Naomi Gregoris, Bildredaktion Unterstützen Sie unsere Arbeit 5. Jahrgang, Nr. 41; Geschäftsleitung Jonas Grieder Nils Fisch mit einem Jahresbeitrag verbreitete Auflage: Andreas Schwald (ad interim) (Multimedia-Redaktor), Korrektorat Supporter: 60 Franken pro Jahr 10 800 Exemplare (prov. Wemf- Digitalstratege Christoph Kieslich, Yves Binet, Balint Csontos, Enthusiast: 160 Franken pro Jahr beglaubigt, weitere Infos: Thom Nagy Marc Krebs, Felix Michel, Chiara Paganetti, Gönner: 500 Franken pro Jahr tageswoche.ch/+sbaj6), Creative Director Mike Niederer (Produzent) Irene Schubiger, Mehr dazu: tageswoche.ch/join Gerbergasse 30, Hans-Jörg Walter Hannes Nüsseler (Produzent), Martin Stohler,­ 4001 Basel Redaktion Matthias Oppliger, Dominique Thommen Druck Herausgeber Karen N. Gerig Jeremias Schulthess,­ Verlag und Lesermarkt Zehnder Druck AG, Wil Neue Medien Basel AG (Leiterin Redaktion), Dominique Spirgi, Tobias Gees Designkonzept und Schrift Redaktion Amir Mustedanagić Samuel Waldis, Abodienst Ludovic Balland, Basel Tel. 061 561 61 80, (Leiter Newsdesk), Sebastian Wirz (Praktikant) Tel. 061 561 61 61, [email protected] Reto Aschwanden Redaktionsassistenz [email protected] (Leiter Produk­tion), Béatrice Frefel Anzeigen und Verkauf Die TagesWoche erscheint Renato Beck, Layout/Grafik COVER AD LINE AG täglich online und jeweils am Tino Bruni (Produzent), Petra Geissmann, Tel. 061 366 10 00, Freitag als Wochenzeitung. Yen Duong, Daniel Holliger [email protected] 44 Name war eine Anspielung auf das ambiva- lente Verhältnis zwischen Finnland und dem mächtigen Nachbarn im Osten, der mehrmals die Grenze überschritten hatte. Und er spielte auch auf die damals schon spürbare Verwitterung der Sowjetunion an. Riesen im Niedergang – ein Thema, mit dem Melancholiker Kaurismäki sowie die Elvis-Verschnitte der Cowboys, der­ en ers- tes Album stimmig «1917–1987» heissen sollte, etwas anfangen konnten. «Leningrad Cowboys Go America», der Film, auf den sich der Regisseur und die Cowboys einigten, erzählt eine typische Kaurismäki-Geschichte: Männer wollen woanders ein besseres Leben finden. Und knorzen dabei derart unbeholfen rum, dass man lachen wie heulen muss.

Die schäbigen Seiten der USA Amerika, das versprochene Land, die Wiege des Rock’n’Roll – nachdem die Cow- boys in ihrer Heimat in der Tundra keinen Club, keine Kneipe mehr finden, in der sie noch nicht Hausverbot haben, schickt sie ihr Manager Vladimir auf die grosse Reise. Um ihnen einen Bonus beim Publikum zu verschaffen, steckt er sie in Elvis-Klamot- ten, vergreift sich dabei jedoch etwas in den Dimensionen. Die spitzen Schuhe und die Einhorn- Frisur werden fortan zum Markenzeichen Aki Kaurismäkis Kultfilm mit den tollen Tollen wurde in einer Bar ersonnen. der Band. Als die Cowboys mit ihren Ins- trumenten, Wollmänteln und dem tiefge- Kultwerk #201 frorenen Bassisten in den USA ankommen, heuert sie ein verschlafener Agent für eine Hochzeit in Mexiko an. Auf ihrem Weg Die «Leningrad Cowboys» schrieben nach Süden machen sie Halt an den ver- schiedenen Hinterhöfen des Rock’n’Roll: Filmgeschichte. Das Stadtkino Basel in abgeranzten Billard Bars und verwitter- ten Table Dance Clubs. Dabei spielen sie schlägt das Kapitel jetzt nochmals auf. ironiefrei die Klassiker des Genres wie «Rock’n’Roll Is Here To Stay». Lustig, dieser Culture Clash. Noch lustiger, wie sich die Cowboys ihren Weg nach Süden bahnen und die schäbigen Seiten des verheissenen Landes entdecken. Was für eine «Leningrad Cowboys Go America» war ein derartiger Kassenschlager, dass sich Kaurismäki mit «Leningrad Cowboys Meet Moses» sogar zu einem unausgegorenen Sequel hinreissen liess. Die Cowboys ent- Schnapsidee! wickelten ein Eigenleben und wurden von Filmcharakteren zu einer umherreisenden Band, die ihren Mix aus Rock’n’Roll und Polka immer neu rezyklierten. von Andreas Schneitter Noch ein drittes Mal fand diese unglei- che Kollaboration des dem seelischen s war eine Schnapsidee, und Sketches und ironisierende Cover-Versio- Elend verpflichteten Regisseurs und seiner beim Schnaps wurde sie geboren. nen in ihr Set ein. dem Exzess verfallenen Tundra-Rocker 1986 traf der finnische Regisseur Als Kaurismäki und die ­zusammen: Kaurismäki setzte den Kon- Aki Kaurismäki in einer Bar in zum ersten Mal anstiessen, kannte und zertfilm «» 1994 in EFinnland zwei Trinkgenossen: Sakke Jär- schätzte man sich: Im selben Jahr folgte mit ­Szene, ein Liveauftritt der Cowboys in venpää und . Die waren seit dem Clip zum Song «Rocky VI» der erste ­Helsinki mit Balletttruppe und einem Chor über zehn Jahren Punks avant la lettre, gemeinsame Dreh. der Roten Armee vor 70 000 Menschen. Ein machten als Sleepy Sleepers Rockmusik grandioser Triumph für eine Idee, die am mit skurril-komödiantischem Einschlag Lustige Elvis-Verschnitte Schnapstresen ersonnen war. und regten auf, wo sie konnten. Järvenpää und Valtonen trugen sich be- tageswoche.ch/+885we × In ihrer Heimatstadt erhielten sie bald reits mit dem Gedanken, dass damit die Li- überall Auftrittsverbot. Also spielten sie in aison nicht beendet sein sollte. Sie beab- «Leningrad Cowboys Go America» im fremden Gefilden, und um das Publikum sichtigten die Gründung einer Zweitband Stadtkino Basel: Montag, 12. Oktober, abzuholen, bauten Järvenpää und Valtonen mit dem Namen Leningrad Cowboys. Der 18.30 Uhr.

TagesWoche 41/15 45 Wochenendlich in Tirano Es ist nicht gerade so, dass sich in Tirano Höhepunkt an Höhepunkt reiht. Wer aber genauer hinsieht, stösst auf Trouvaillen. Das Beste ist die Bahnfahrt Die Wallfahrtskirche Madonna di Tirano. fotos: Lukas Mannhart von Lukas Mannhart

ie eigentliche Attraktion erfährt Erfreulich akkurat restauriert wurde man bereits bei der Hinreise hingegen ein alter Palast, der bei einem nach Tirano mit der Rhätischen ­Besuch im Veltlin unbedingt besichtigt Bahn. Ab Thusis wird die Bahn- werden sollte: der Palazzo Salis, erbaut im Dstrecke aussergewöhnlich imposant. Ein 17. Jahrhundert. Höhepunkt jagt den nächsten. Da versteht man, warum es diese Bahn- Prächtige Wallfahrtskirche linie zum Unesco-Weltkulturerbe gebracht Der einstige Herrschersitz der Familie hat. Dafür erwartet man bei der Ankunft in Salis aus Graubünden ist mittlerweile ein Tirano, bloss einen Steinwurf von der Museum, das sich mit der Geschichte des Schweizer Grenze entfernt, nicht mehr Veltlins befasst. Die Hauptsehenswürdig- ernsthaft, dass es hier noch Grossartiges zu keit dabei sind die faszinierenden, optische entdecken­ gäbe. Illusionen erzeugenden Deckengemälde in So wird Tirano von den meisten Touris- den diversen Prunksälen. ten nicht wirklich frequentiert. Die meisten Den Ausgang des Palazzo Salis zu finden sehen – mit der Bahn vom Puschlav her ist gar nicht so leicht. Viele Türen darin sind kommend – nur den Bahnhofplatz, essen nämlich bloss aufgemalt, um das Gebäude dort eine Pizza oder ein Gelato, um sich grösser erscheinen zu lassen, als es tatsäch- dann wieder über denselben Weg vom itali- lich ist. Wer aber den echten Ausgang er- enischen Städtchen zu verabschieden. wischt, sollte gleich noch die Kirche Ma- Dabei würde sich der kurze Marsch über donna di Tirano aufsuchen, die man schon den Fluss Adda in die kleine Innenstadt bei der Hinfahrt mit der Bahn von aussen lohnen. Die schlichten Gassen lassen erah- gesehen hat. Die 1528 geweihte Kirche hat Im Palazzo Salis ist vieles bloss aufgemalt. nen, wie es im Mittelalter war. Allerdings laut der Legende die Jungfrau Maria per- wurde im Hauptort der Provinz Sondrio sönlich bei einem Feigenpflücker in Auf- mit dem kulturellen Erbe leider sehr nach- trag gegeben. Als Gegenleistung erlöste sie lässig umgegangen. Viele Strassenzüge die Stadt und Umgebung von der Pest. sind durch völlig unpassende Neu- oder Die mit reichen Schnitzereien aus dem Anbauten verunstaltet. 17. Jahrhundert verzierte Orgel der Madon- na di Tirano besitzt über 2000 Pfeifen und Essen nimmt das gesamte linke Querschiff ein. In Tirano gilt die alte Regel: Wo Otto Normaltourist isst, isst man selten gut. Spektakel auf der Heimfahrt Also weg vom Bahnhof, dann wirds Obschon andere Gebiete zu dieser Zeit besser und günstiger. Ausser man auch ohne Kirchenbau vom Schwarzen landet im Caffè Merizzi, Viale Italia 65. Tod befreit wurden, verdankt Tirano die- sem Umstand eine aussen und innen sehr Trinken reich geschmückte Basilika. Neben zahl­ Den Grappa der Distillerie Schenatti reichen Fresken und vielen Stuckarbeiten gibts in jedem Laden. Für Gaumen und ist dabei die (nicht zu übersehende) Orgel Italien speziell ist der Lakritzlikör der besonders prunkvoll. Distillerie Riunite Schenatti & Della So habe ich unerwarteterweise das Morte, Via Martiri della Libertà 1. Städtchen Tirano nach einem nur kurzen Besuch sehr lieb gewonnen. Die Heimreise Schlafen anzutreten fällt trotzdem nicht schwer. Einfache Zimmer, mitten in der Alt- Denn eine bessere Bahnstrecke als die der stadt gelegen, mit sehr freundlichem Berninabahn kenne zumindest ich nicht. Personal bietet das Albergo Gusmeroli, Allein die spektakuläre Fahrt bestätigt die Piazza Cavour, 5. alte Regel: Der Weg ist das Ziel. Der Garten des Palazzo Salis ist allerdings echt. tageswoche.ch/+le66j ×

TagesWoche 41/15 46 Zeitmaschine von Hans-Jörg Walter us der «Schweizerischen Bauzei- «Vorbildlich», schrieb die «Bauzeitung» tung» vom 10. November 1928: «Zu den modernen Problemen 1928 über die frisch gebaute Grossgarage des Grossstadt-Verkehrs ­gehört Aunbestreitbar die Anlage von Grossgara- Schlotterbeck. gen, da in den Geschäftszentren, wo Park- plätze für Automobile am nötigsten sind, solche im Allgemeinen nicht in genügen- der Zahl und genügender Ausdehnung zur Verfügung stehen, was unvermeidlich zu Verkehrshemmungen (…) führt. Dazu Ein Bau für ein kommt, dass sich das Auto mehr und mehr zum rein zweckmässigen Verkehrsmittel entwickelt, sodass die Zahl der Autobesit- zer, die weder über einen eigenen Chauf- feur, noch über eine Garage verfügen, stets ­neues Zeitalter grösser wird. Soll eine Grossgarage ihren Zweck vollständig erfüllen, so muss sie ­somit sowohl zum blossen Einstellen der Wagen eingerichtet sein, als auch zum ­Waschen der Wagen, zur Vornahme von ­Revisionen und Reparaturen Gelegenheit bieten, und dazu günstig gelegen und leicht erreichbar sein. Im «sens unique» aufgetrennte Rampen führen zu den Parkdecks. Als vorbildliche Lösung dieser Aufga- ben kann wohl die von den Architekten W. E. Baumgartner und H. Hintermann erstellte Grossgarage der Firma C. Schlotterbeck in Basel angesehen werden. Dieser fünfstö- ckige Bau liegt in unmittelbarer Nähe des Centralbahnhofs (…) und ist von allen Sei- ten gut sichtbar und gut erreichbar. Die Ein- und Ausfahrt der Wagen erfolgt durch eine offene Unterfahrt in der auch eine Tankstelle eingerichtet ist, sodass durchfahrende Wagen sich mit Brenn-Stoff versehen können, ohne den Strassenver- kehr zu behindern. Von dieser Unterfahrt gelangt man über eine geräumige Einfahrt- halle in den Auffahrtsturm, in dem zwei 4 m breite, gegenläufige Rampen eine beque- me Verbindung zwischen den (…) Geschos- sen bewerkstelligen. Auf- und Abfahrt ­erfolgen somit im ‹sens unique› aufge- trennten Rampen, sodass auch bei starkem Verkehr Stauungen ausgeschlossen sind. Rechts der Einfahrthalle liegt ein Aus- stellungs- und Verkaufsraum, links dersel- ben die Reparaturwerkstatt, die ein- schliesslich die Galerie im Zwischenstock 1350 m2 bedeckt. Der übrige Teil des Zwi- schenstocks dient für die Unterbringung von Occasionswagen. Als eigentliche Gara- genräume dienen die beiden Obergeschos- se; das erste enthält 70 Boxen, dazu eine Wagenwäsche für Kunden, während im zweiten Obergeschoss ein offener Einstell- raum zur Verfügung steht; dort befindet sich auch eine Malerwerkstatt. Das Dach ist als Terrasse ausgebildet, wodurch noch ein wertvoller Parkplatz (…) geschaffen ist. Im Kellerraum ist eine grosse Wagenwäsche untergebracht. Nach einer ausserordentlich kurzen Bauzeit, ist hier eine sachliche und in allen Punkten sehr zweckmässige Anlage ent- standen.»

Weitere historische Fotos finden Sie in der Onlineversion dieses Artikels unter: tageswoche.ch/+c2nen ×

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