Kunsthistorisches Institut der Freien Universität Berlin Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaft Koserstr. 20, 14195 Berlin Abschlussarbeit zur Erlangung des Master of Arts (M.A.) im Fach Kunstgeschichte im globalen Kontext Schwerpunkt Europa und Nordamerika

M.A.- Arbeit David Carsons Editorial Design für das Musik-Magazin Ray Gun im Spannungsfeld zwischen Widerstand und Scheinrevolution

Eingereicht von Elisabeth Brörmann Geb.: 16.11.1970 in Damme Matrikelnr.: 4218758, Wühlischstr. 33 A, 10234 Berlin Gliederung

1. Virtuoses Spiel...... 1

2. Vorläufer von Carsons Magazin-Design ...... 9 a) Homogenisierung des Editorial Designs ...... 9 b) Konzentration auf illustrative Elemente ...... 12 c) Neue Impulse durch subkulturelle Ästhetik ...... 13 d) Revision der Geschichte durch Avantgarde ...... 14 c) Digitale Experimentierfreude ...... 18 d) Anstöße durch philosophische Ideen ...... 20

3. Exkurs: Gegenkulturen - Entwicklung der Grunge-Kultur ...... 22 a) Vom Punk zum Hardcore ...... 22 b) Vom Heavy Metal zum Trash-Metal ...... 25 c) Crossover von Hardcore Punk und Trash-Metal zum „Grunge“ ...... 26

4. Bedeutungsebenen in Ray Gun...... 30 4.1. Titelseiten ...... 30 4.1.1. Verkehrte Welt - Titel mit Dinosaur Jr...... 30 4.1.2. Falsche Fährte - Titel mit Jesus and Mary Chain ...... 33 4.1.3. Vexierbild weiblicher Performerin - Titel mit Liz Phair ...... 38

4.2. Interview-Seiten ...... 43 4.2.1. Spiegel der Vorurteile - Interview mit Mark Lanegan ...... 43 4.2.2. Authentische Leere - Interview mit Alice in Chains ...... 48 4.2.3. Spiel mit der Erwartung - Interview mit Deconstruction ...... 53

5. Fazit ...... 59

Abbildungsteil Literaturverzeichnis

1. Erschütterte Lesbarkeit

Die digitale Revolution Mitte der 1980er Jahre schob eine rasante Entwicklung im Bereich des Grafik-Designs an. Der Apple Macintosh Computer ermöglichte mit ersten Layout- und Bildbearbeitungsprogrammen eine freie und vielfältige Art der grafischen Gestaltung, wie sie vorher kaum möglich war. Hinzu kam eine nicht gekannte Vielfalt von digitalen Schrifttypen und trieb die Kreativität und den individuellen Ge- staltungswillen der Designer zusätzlich an. Die neue Technik gestattete es, mehrere Ebenen übereinander zu schichten und diese während des Gestaltungsprozesses editierbar zu halten. Auf diese Weise entstanden weit experimentellere Entwürfe als mit der zuvor üblichen zeitraubenden manuellen Layout- und Satztechnik mithilfe von Letraset-Abreibe-Buchstaben und an- schließender Reprografie. Frühe Anwender des Desktop- Publishing, wie April Greiman (vgl. Abb. 1), Rudy VanderLans und Zuzana Licko erprobten die neue Technologie im Rahmen des Magazins des Schriftenverlages „Emigre" und entwarfen selbst digitale Schriftschnitte, die heute als Klassiker gelten.1

Verstärkt experimentierten auch die Studenten der „Cranbrook Academy of Art“ in Michigan mit dem neuen Medium. Katherine McCoy, die Leiterin des Fachbereichs Design hatte ihre Stu- denten bereits vor der Entwicklung dieser Grafik-Programme dazu ermutigt, die konventionellen Regeln „guten“ reduzierten Designs zu hinterfragen. In ihren Arbeiten kombinierten die Abb. 1: April Greiman, Collage Studenten herkömmliche Layout-Techniken wie handgefertigte mit dem Apple Mac- intosh, 1986 (Quelle: Skizzen, Pinselschriften oder auch gefundene Typografie- Meggs, Purvis 2012) Fetzen mit den neuen Möglichkeiten des computerbasierten Layouts, um zu unkonventionellen Design-Lösungen zu gelangen.2 Damit waren sie Vor- reiter einer neuen Freiheit in der grafischen Gestaltung.

Kaum ein Grafik-Designer ist im Bereich des Editorial Designs, also des Titel- und Maga- zin-Designs jedoch so bekannt für den expressiven Umgang mit Layout und Typografie geworden wie David Carson. Der Kalifornier, der nur einige wenige Wochen dauernde Grafik-Design-Kurse absolviert hatte, nutzte die Ideen der Avantgarde des Grafik- Designs in virtuoser Weise und machte sie populär.3 In erstaunlich vielen Magazinen der Jugendkultur waren klassische Layouts zu dieser Zeit noch verbreitet. Meist wurde eine

1 Vgl. Meggs, Phillip B., Purvis, Alston W., Meggs‘ History of Graphic Design, 5. Aufl., Hoboken/New Jersey 2012, S. 530-533. 2 Vgl. Meggs, Purvis 2012, S. 534. 1

eher dienende visuelle Gestaltung verfolgt, um eine optimale Lesbarkeit von Texten zu garantieren. Carsons Editorial Design dagegen brach die bewährten Gestaltungs- grundsätze von Layout und Typografie auf offensive Weise (vgl. Abb. 2).

Abb. 2: Titel des Magazins „Ray Gun“, Art Director David Carson (Quelle: Blackwell, Carson 1995)

Beispiele für David Carsons Editorial Design für die Zeitschrift „Ray Gun", 1992 So verzichtete er auf eine eindeutige Hierarchie der Elemente einer Seite und orientierte sich nicht an einem Raster, das traditionell die Grundlage der regelmäßigen Struktur ei- nes Magazins ist. Form, Weite und Platzierung von Textspalten variieren bei ihm oft völlig

3 Vgl. Poynor, Rick, Zeichen der Anarchie. Grafik-Design von den Achtzigern bis heute, Basel 2003, S. 61. 2 frei. Darüber hinaus separierte und verdrehte er Buchstaben oder ließ diese überlappen.4 Stark beschnittene und teils zerfetzte Schriftzeichen verteilen sich in seinen Layouts scheinbar wahllos über die Seiten und erschüttern so die Lesbarkeit des Textes. Auch die verwendeten Bilder und grafischen Elemente einer Seite wirken oft wie Fundstücke oder Zufallsprodukte, und bilden mit den typografischen Versatzstücken zunächst oft ein wil- des Durcheinander. Die sich überlagernden Schichten müssen vom Auge erst mühsam entwirrt werden, um den Inhalt einer Seite wahrnehmen zu können. Oft scheint der Inhalt der Seiten unerschließbar.5

Der ehemalige Profi-Surfer und studierte Soziologe David Carson machte seine ersten Gehversuche als Grafik-Designer ab 1983 bei den Zeitschriften „Transworld Skateboar- ding“, „Musician“ und „Surfer“. Diese waren nicht von großem Erfolg gekrönt. Mit dem folgenden Surfer-Magazin „Beach Culture“ gewann er dann zwar überraschend einige Designpreise, doch 1991 musste dieses Heft bereits nach sechs Ausgaben eingestellt werden. Erst die von Marvin Scott Jarrett gegründete Zeitschrift „Ray Gun“ für „Alternati- ve Music“ wurde zu einem großen Erfolg. Von einem kleinen Subkultur-Heft entwickelte sie sich zu einem auch kommerziell erfolgreichen Magazin des „Grunge“ bzw. des „Alter- nativ “ und schließlich zum gesuchten Sammelobjekt. Dies ist nicht zuletzt auf Carsons Gestaltung zurückzuführen, die den Nerv der Zeit und das Lebensgefühl der Counter- culture des Grunge traf.6 Das Heft wurde außerdem schnell zu einer Inspirationsquelle für junge Designer und vielfach kopiert. Carsons Ausdrucksform entwickelte sich so in den 1990er Jahren zum prägenden Stil in Grafik-Design und Typografie.7 Für seine Arbeit hat sich der Stil-Begriff „Dekonstruktion“ etabliert, der aus der Architektur entlehnt ist. Das „Museum of Modern Art“ in New York hatte diese Bezeichnung mit ihrer Ausstellung „De- constructivist Architecture“ im Jahr 1988 für Bauten mit verzerrten und zersplitterten For- men, die den architektonischen Raum unübersichtlich und verschachtelt erscheinen las- sen, geprägt.8

In der Fachwelt werden Carsons Entwürfe sehr unterschiedlich beurteilt. Während sie den einen als Kunst gilt, tun andere sie schlicht als zielgruppengerechtes Design für die Fernseh-Generation ab.9 Albrecht Bangert ist etwa überzeugt, dass der kalifornische Gra- fik-Designer sich künstlerisch mit den Themen des Musik-Magazins auseinandersetzt und hierbei außerdem die Grenzen des Editorial Designs auslotet. So fänden sich darin

4 Vgl. Berger Warren, The Wunderkind of Design. As David Carson breaks all the typograpaphic rules, in: Graphis, 1, 1995, S. 20.

5 Vgl. Meggs, Purvis 2012, S. 535/537.

6 Vgl. Poynor 2003, S. 63/64.

7 Vgl. Berger 1995, S. 19.

8 Vgl. Böhmer, Achim, Hausmann, Sara, Retro Design. Stylelab, Mainz 2009, S. 286.

9 Vgl. Böhmer, Hausmann 2009, S. 286. 3 lyrische und erzählerische Elemente, deren Gehalt sich allerdings nur der kundigen jun- gen Leserschaft offenbare.10 Susan Olcott sieht vor allem in Carsons regelwidriger und schwer lesbarer Typografie den großen Mehrwert. Bewusst bräche er damit die gängigen Regeln des Magazin-Designs, um sich selbst herauszufordern und daran zu wachsen. Er schaffe derart unkonventionelle Lösungen, dass er damit nicht nur ein Erneuerer des Editorial Designs sei, sondern auch ein Künstler. Mit seiner Methode erzeuge er beein- druckende Kompositionen, die teils narrative Qualitäten hätten, teils aber auch an den Dadaismus erinnerten.11 Albert Watson sieht in der instinktiven Herangehensweise des Autodidakten Carson ebenfalls eine besondere Qualität. So „male“ der kalifornische Gra- fik-Designer auf intuitive Weise mit Typografie.12 David Byrne reklamiert für Carsons Ar- beit gar, dass diese gar nicht rational zu verstehen sei. Sie kommuniziere vorbei an den logischen Zentren des Gehirns und werde unbewusst aufgenommen und verstanden.13

Andere sehen in seinen schwer entzifferbaren Layouts lediglich Chaos und Beliebigkeit. Einer seiner größten Kritiker, Rick Poynor, bezeichnet sie als „ikonoklastische car-crash- Typografie“.14 Anders als Carson behaupte, sei dessen Nonkonformität eine rein äußerli- che eine Attitüde der Rebellion.15 Der Grafik-Designer bezeichne seinen Ansatz zwar als konzeptuell, tatsächlich erbrächten seine Layouts aber meist keine neue Lesart. Im Er- gebnis diene seine Gestaltung somit nur der Ansprache einer schwer zu erreichenden Zielgruppe.16 Auch Michael Golec sieht in Carsons Arbeit lediglich eine leere Vielfalt ohne Bedeutung. Sie sei nur eine Herausforderung für das Auge, nicht für den Geist. Da seine Gestaltung keinen Mehrwert erbringe, handele es sich also nicht um avantgardistisches Grafik-Design, sondern um reines „Styling“, so vermutet er. Carson Grenzüberschreitun- gen seien einer krankhaften Lust geschuldet, die durch eine uneingeschränkte ironische Ausschlachtung des Druckmediums gewonnen werde.17

Tatsächlich setzt sich aber kaum einer der Kritiker detailliert mit Carsons Arbeit ausein- ander. In Fachzeitschriften und Büchern findet man allerlei Behauptungen, die selten mit Indizien untermauert werden. Ursache hierfür ist vermutlich die Ausrichtung des Studien- faches Grafik- bzw. Kommunikationsdesign an den Hochschulen. Meist ist die Forschung

10 Vgl. Bangert, Albrecht, Digitale Droge. David Carson – Der umstrittene Superstar der Computer-Grafik, in: Spiegel Spezial, 6, 1995, S. 160. 11 Vgl. Olcott, Susan, Rezension von: Lewis Blackwell, David Carson, The End of Print. The Graphic Design of David Carson, San Franzisco 1995, in: Library Journals 148, 2,1996, S. 148.

12 Vgl. Berger 1995, S. 20.

13 Vgl. Poynor, Rick, Paganini unplugged. David Carson som typografisk popstjerne, in: Bogvennen, 1997, S. 114.

14 Poynor 1997, S. 116.

15 Vgl. Poynor 1997, S. 112.

16 Vgl. Poynor 1997, S. 114/115.

17 Golec, Michael, Rezension von: Lewis Blackwell, David Carson, The End of Print. The Graphic Design of David Carson, San Franzisco 1995, in: Design Issue 13, 2, 1997, S. 81. 4 auf die Praxis und die Zukunft gerichtet und nicht auf die Analyse von bereits entstandem Material und seiner Bedeutung. Somit erstaunt es nicht, dass das polarisierende Editorial Design des kalifornischen Designers noch kaum fundiert untersucht wurde. Auch Poynor, der sich als einer der wenigen detailliert mit der Bedeutung des Grafik-Designs der 1980er und 1990er Jahre auseinandergesetzt hat, belegt seine Kritik an Carsons Arbeit kaum anhand konkreter Beispiele. Björn Ganslandt hingegen, der tatsächlich einige Sei- ten aus Ray Gun semiotisch analysiert, ist der Ansicht, dass der Bezug zwischen Car- sons Layouts und der Musik der 1990er Jahre gering ist. Mittels einer offensiven Störung werfe er den Leser auf den Kontext zurück, in welchem dieser dann nach einer Erklärung suche. Sein Design sei somit keine Visualisierung der Musik.18 Eine Untersuchung des Magazin-Designs Carsons scheint also nach wie vor lohnenswert. Selbst der Kritiker Golec räumt ein, dass in Bezug auf Carsons Werk Nachforschungsbedarf bestehe.19

Es stellt sich also nach wie vor die Frage, was Carson macht. Welchen Mehrwert hat seine Gestaltung gegenüber dem klassischen Editorial Design? Gibt es etwa Hinweise darauf, dass er künstlerische Strategien verfolgt und wird hierdurch ein Subtext erzeugt, der über die vordergründige Aussage der Texte der Zeitschriften hinausgeht? Um dieser Frage nachzu- gehen, sollen Arbeitsproben seines Magazin-Designs in Bezug auf ihr Verhältnis von Form und Inhalt ein- gehender untersucht werden. Hierfür bietet sich das Magazin Ray Gun an, da die Tätigkeit bei der erfolg- reichen Musikzeitschrift zu den längsten und produk- tivsten Phasen in Carsons Zeit als Editorial Designer gehört. Von 1992 bis 1995 verantwortete er als Desi- gner und Art Director zwölf Ausgaben des Heftes pro Jahr. Er erteilte ohne vorherige Freigabe durch den Herausgeber den Druckauftrag.20 Da diese Hefte heu- te jedoch zu begehrten und teuren Sammlerstücken Abb. 3: David Carson und Lewis Blackwell, The End of Print, 1995 gehören, die von hiesigen Bibliotheken nicht vollstän- dig zur Verfügung gestellt werden, werde ich mich bei meiner Untersuchung auf wenige Originalausgaben beschränken und mich ansonsten auf das 1995 von Lewis Blackwell und David Carson selbst veröffentlichte Buch „The End of Print“ (Abb. 3) beziehen. Darin

18 Vgl. Ganslandt, Björn, Widerspenstige Drucksachen. Störung und Diagrammatik in der digitalen Typografie 1985-1995, 2012, S. 141/142. 19 Golec 1997, S. 81. 20 Vgl. Meggs, Purvis 2012, S. 535. 5 werden diverse Arbeitsproben des Designers für verschiedene Zeitschriften dokumen- tiert.21

Anhand von ausgewählten Entwürfen für Ray Gun soll geklärt werden, in wieweit seine Layouts die Konventionen des Magazins sprengen und welche Funktion die erzeugten Brüche haben. Hierfür scheint es sinnvoll, verschiedene journalistische Formen bzw. Typen von Magazinseiten zu untersuchen, denn diese unterliegen jeweils bestimmten Konventionen. So erfordert der Titel ein anderes Layout als ein Interview. Ausgewählte Seiten des Magazins sollen daher zunächst einer formalen Analyse der Abweichungen vom klassischen Editorial Design unterzogen werden und sodann soll geprüft werden, in welchem Zusammenhang diese Gestaltung zum Inhalt der Artikel stehen. Werden weite- re Bedeutungsebenen eröffnet oder bleibt die erzeugte Störung auf rein äußerlicher Ebe- ne? Darüber hinaus soll erforscht werden, ob der Designer möglicherweise auf Strategien zurückgreift, die aus dem Kunstkontext bekannt sind. Nach Ansicht einiger Autoren findet sich in Carsons Arbeit ein experimenteller Umgang mit Typografie, wie er bei den Futuri- sten, den Dadaisten oder auch der surrealistischen OuLiPo-Bewegung zu finden ist.22 Auch deuteten sich Parallelen zu subkulturellen Techniken und der Visuellen Poesie an, die sich in besonderem Maße auf die Schrift als Ausdrucksmittel konzentrierte.23 Dies spricht dafür, dass die Arbeit des Grafik-Designers ebenfalls subversives Potenzial be- sitzt und damit über zielgruppengerechte Gestaltung für die Jugendkultur hinausgeht. Es wird also zu klären sein, ob Carson sich mit seinem Editorial Design bekannte Vorge- hensweisen aus der Kunst zu Nutze macht, um spezifische Brüche zu erzeugen, die wi- derstreitende Sichtweisen aufzeigen und seine Arbeit damit mehr ist als eine rein äußerli- che Zerlegung. Dies soll im Folgenden erörtert werden, indem die Besonderheiten des Layouts im Zusammenhang mit dem Inhalt der Artikel gemeinsam betrachtet werden und hierbei ergänzend Fachliteratur über künstlerische Strategien des 20. Jahrhunderts hin- zugezogen wird.

Um dieser Frage nachzugehen, soll in Kapitel 2 zunächst eine Einführung in das Maga- zin-Design der 1970er und 1980er Jahre gegeben werden. Bestimmte Bedingungen, wie der wirtschaftliche Hintergrund in den USA und Europa und die technischen Entwicklun- gen der Zeit, wie die Einführung des Apple Macintosh Computers hatten Einfluss auf das Editorial Design dieser Periode. Aber auch visuelle Trends, die Bezüge zu philosophi- schen Ideen der Zeit aufweisen, schlagen sich hier nieder, wie ich vor allem mithilfe von Aussagen von William Owens und Rick Poynor darstellen werde. Während Owens in

21 Vgl. Blackwell, Lewis, Carson, David (Hg.), David Carson – Zeichen der Zeit – Grafikdesign aus Kalifornien. David Carson – Schriftbilder – Bildwelten, Aust.-Kat. München, die neue Sammlung München 1995.

22 Vgl. Vandendorpe, Christian, Typographie et rhétorique du lisible. Les créations de David Carson, in: Communication et languages, 137, 2003, S. 17-20.

23 Vgl. Vandendorpe 2003, S. 17-19 6 seiner Geschichte des „Magazine Design“ aus dem Jahr 1991 einen Überblick über die Gestaltung von Zeitschriften im 20. Jahrhundert gibt, konzentriert sich Poynor in seinem Buch „Grafik-Design von den Achtzigern bis heute“ auf die letzten Dekaden des 20. Jahr- hunderts, wobei er aber auch andere Medien grafischer Produktion mit einbezieht. Er- gänzend werde ich auf die Darstellung von R. Roger Remington und Lisa Bodenstedts „American Modernism, Graphic Design, 1920 to 1960“ aus dem Jahr 2003 zurückgreifen, die speziell die in den USA vorausgegangenen Entwicklungen beschreibt. Um Carsons Verbindung zu Vorläufern im Hochschulkontext darzustellen, bietet sich der 1990 von Katherine und Michael McCoy veröffentlichte Katalog „Cranbrook Design - The New Dis- course“ mit Arbeiten der Design-Studenten an. Darin werden die Aktivitäten der US- amerikanischen Design-Hochschule, die einen großen Einfluss auf Carson hatten, im Verlauf der 1980er Jahre dargestellt.

Im dritten Kapitel folgt ein Exkurs in die Entwicklung der Gegenkultur des Grunge bzw. der Alternative Music, da der Inhalt des Magazins Ray Gun ohne vertiefte Kenntnisse der Musikkultur nicht zu verstehen ist. Darum werden die Anfänge des „Punk“ und des „Hea- vy Metal“ und deren jeweilige Weiterentwicklung zum „Hardcore Punk“ und zum „Trash Metal“ hier nachgezeichnet. Aus der Fusion beider Strömungen entwickelte sich in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren schließlich der Grunge. Bei meiner Darstellung werde ich mich in erster Linie auf Ryan Moores „Sells like Teen Spirit, Music Culture and Social Crisis“ aus dem Jahr 2010 stützen. Darin beschreibt der Soziologe die beiden Jugendbewegungen des Punk und des Heavy Metal, die schließlich im Grunge kulminie- ren. Ergänzend werde ich den Aufsatz „Identity Crisis: The Dialectics of Rock, Pop und Grunge“ von Perry Grossman aus dem Jahr 2014 zu Rate ziehen, der sich auf die Vor- läufer des Grunge im Punkrock konzentriert.

Im Hauptteil der Arbeit, dem vierten Kapitel, kann dann das Editorial Design David Car- sons genauer beleuchtet werden und die Frage nach der Art und Bedeutung seiner grafi- schen Umsetzungen geklärt werden. Die Form und Funktion von Arbeitsproben zwei verschiedener journalistischer Formen aus unterschiedlichen Jahren des Erscheinungs- zeitraums von Ray Gun sollen hier analysiert und deren Bedeutung diskutiert werden. Neben William Owens Chronik des Magazin-Designs und Rick Poynors Geschichte des jüngeren Grafik-Designs wird hierbei Nicola Wachsmuths und Heike Gläsers „Editorial Design, Magazin-Gestaltung“, das 2013 in München erschienen ist, wichtige Hinweise aus der Praxis liefern. In diesem „Leitfaden für Grafiker und Journalisten“ beschreiben sie noch heute gültige klassische Konventionen des Editorial Designs. Aufschlussreiche De- tails über den Umgang mit Typografie an der Schnittstelle zwischen Literatur und Kunst dagegen wird das von Phillip B. Meggs und Alston W. Purvis herausgegebene Über- blickswerk „Meggs‘ History of Graphic Design“ beitragen, das im Jahr 2012 erschienen ist. Nicht zuletzt werde ich Björn Ganslandts Dissertation „Widerspenstige Drucksachen. 7

Störung und Diagrammatik in der digitalen Typografie 1985-1995“ aus dem Jahr 2012 auszugsweise in meine Untersuchung einfließen lassen.

Das benötigte Detailwissen über die Geschichte und Kultur des Grunge bzw. der Alterna- tive Music, insbesondere Informationen über einzelne Bands bietet Bob Gulla in „The Greenwood Encyclopedia of Rock History, the Grunge Years, 1991-2005“, die im Jahr 2006 in deutscher Sprache erschienen ist. Daneben werde ich verschiedene Plattenkriti- ken in populären Musik-Portalen nutzen, da nur diese ein authentisches Stimmungsbild der Rezipienten und das benötigte Detailwissen über Gründe des Erfolgs und Misserfolgs einer Band oder eines neuen Albums widerspiegeln. Einen Einblick in die Ästhetik der Fotografie in der Grunge-Kultur bietet Charles Petersons und Michael Azerrads Bildband „Screaming Life, eine Chronik der Musikszene von Seattle“, die Thomas Poll 1995 aus dem Amerikanischen übersetzt hat.

Bei der Erforschung von Carsons Arbeit im Hinblick auf künstlerische Vorgehensweisen wird der Aufsatz "Typographie et rhétorique du lisible. Les créations de David Carson" von Christian Vandendorpe und die Monografie "Digital Culture" von Charlie Gere inter- essante Anhaltspunkte dafür geben, welche künstlerischen Strategien dort möglicherwei- se zum Einsatz kommen. Anja Seiferts kultursoziologische Untersuchung zu Zielen und Methoden der avantgardistischen Jugendbewegungen der Futuristen, Dadaisten, Surrea- listen und Lettristen mit dem Titel „Körper, Maschine, Tod. Zur symbolische Artikulation in Kunst und Jugendkultur des 20. Jahrhunderts“ aus dem Jahr 2004 wird hilfreich sein bei der Entwicklung von genaueren Kriterien zur Beantwortung dieser Frage. Ergänzend werde ich Judi Freemanns Ausstellungskatalog „Bedeutungsschichten: Mehrfache Lesar- ten der Wort-Bilder in Dada und Surrealismus“ aus dem Jahr 1990 hinzuziehen. Schließ- lich wird Gundel Mattenklotts 2009 veröffentlichter Aufsatz „Über einige Spiele in Geor- ges Perecs Roman Das Leben als Gebrauchsanweisung“ Kriterien für den Vergleich mit den Werken der OuLiPo-Literaten liefern, die aus der surrealistischen Bewegung hervor- gegangen sind. Ergänzende Informationen zur Schnittstelle zwischen Grafik-Design und Kunst bietet wiederum „Meggs‘ History of Graphic Design“. Die so gewonnenen Ergeb- nisse werden schließlich in Kapitel fünf zusammen geführt. Auf diese Weise soll das Spannungsfeld zwischen Widerstand und Scheinrevolution sichtbar werden, in dem sich David Carsons Editorial Designs für Ray Gun bewegt.

8

2. Vorläufer von Carsons Magazin-Design

Um David Carsons Arbeit besser einschätzen zu können, soll diese zunächst in die Ge- schichte des Editorial Designs des späten 20. Jahrhunderts eingeordnet werden. Be- stimmte Merkmale in Layout und Typografie dieser Zeit sind auf wirtschaftliche und tech- nische Entwicklungen zurückzuführen, andere auf grafische Trends. In diesem Überblick werden die wichtigsten Strömungen im Bereich des Magazin-Designs vorgestellt, die prägend für diese Zeit waren und daher Einfluss auf Carsons Arbeit hatten.

2.1. Homogenisierung des Editorial Designs

Vor dem Hintergrund einer wirtschaftlichen Rezession in Europa und Nordamerika wen- deten sich Anfang der siebziger Jahre viele Zeitschriften dem Massenmarkt zu. Vormals ambitionierte Magazine besannen sich in der damit einhergehenden Krise der Verlagsin- dustrie auf traditionelle und weniger aufwendige Designlösungen. Sie reduzierten Größe, Seitenanzahl und Qualität des Papiers und setzten auf eine massentauglichere Gestal- tung. Dies führte zu einer Vereinheitlichung des Erscheinungsbildes bei der breiten Mas- se der Magazine.24 Auch viele ehemals unabhängige Zeitschriften der Jugendkultur in den USA retteten sich in die Arme großer Konzerne, um wirtschaftlich zu überleben. In- nerhalb dieses Kommerzialisierungsschubs entwickelten zahlreiche Magazine einen zu- nehmend rückwärtsgewandten und angepassten Stil.25 So wurden Dogmen der Titel- Gestaltung erkennbar wieder eingehalten. Hierzu zählte vor allem die Wahl eines lebens- großen prominenten Gesichts als Titelbild, das dem Betrachter direkt in die Augen blickt. Daneben war der zunehmende Einsatz von Farbbildern zu beobachten, da diese die größte Aufmerksamkeit der Konsumenten am Kiosk genießen.26 Das Titelgesicht sollte dem potentiellen Konsumenten wahlweise eine Projektionsfläche oder ein Sehnsuchts- bild bieten.27 Ein weiteres festes Element ist der Titelkopf, bestehend aus Logo und/oder Signet und gegebenenfalls einer Titelunterzeile. Er prägt die Identität des Magazins und bleibt unveränderlich.28 Als unerlässlich für die Gestaltung eines erfolgreichen Magazins gelten außerdem viele gut lesbare und sich voneinander absetzende Schlagzeilen auf dem Titelblatt, die das Interesse des potentiellen Lesers am Inhalt wecken.29

24 Vgl. Owen, William, Magazine Design, London 1991, S. 102.

25 Vgl. Owen 1991, S. 108.

26 Vgl. Owen 1991, S. 130.

27 Vgl. Owen 1991, S. 160.

28 Vgl. Wachsmuth, Nicola, Gläser, Heike, Editorial Design. Magazingestaltung. Der Leitfaden für Grafiker und Journalisten, München 2013, S. 37. 29 Vgl. Owen 1991, S. 186. 9

Aber auch bei der Gestaltung der Innenseiten setzten viele Magazine auf klassische symmetrische Layouts, die in ihrer ruhigen und sachlichen Anmutung an die Buchgestal- tung erinnern. Text und Bild sind wieder strikt an einem zu Grunde liegenden Gestal- tungsraster ausgerichtet. Überschriften (Headlines) und Unterüberschriften (Subhead- lines) sind zentriert und nach Größe gestaffelt. Darunter gliedert sich der Fließtext (Body- text) in zwei bis drei Spalten, die meist im Blocksatz gesetzt sind.30 Eine solche Gestal- tung bietet den Vorteil, dass die kleinsten bequem lesbaren Schriftgrößen von acht bis neun Punkt (pt) in der sich so ergebenden Spaltenbreite besonders angenehm lesbar sind. Dies gilt zumindest für das übliche Zeitschriften-Format der Größe A4 (210 x 297 mm).31 Darüber hinaus ermöglichte der Verzicht auf große Weißräume in dieser wirt- schaftlich schwierigen Zeit eine ökonomische Ausnutzung des Raumes.

Ein Beispiel für diesen neuen Traditionalismus ist das unabhängige Musik-Magazin „Rol- ling Stone“ (Abb. 4).32 Mit einer handwerklich sauberen Typografie und klassischen Ge- staltungsmerkmalen, wie feinen Spaltentrennlinien,33 wendete sich das ehemals linke Musikmagazin dem Mainstream der Jugendkultur zu. Die Verwendung von Serifen-Schriften, die mit ihren ab- schließenden Quer- strichen am oberen und unteren Ende der Buchstaben das Auge des Lesers stützen, betont die Abb. 4: Magazin „Rolling Stone, 1975, Art Director Roger Black traditionelle Gestal- (Quelle: Owen 1991, S. 107) tung dieser Hefte auf eine optimale Lesbarkeit hin. Illustrierende Bilder erscheinen in diesen klassischen Seitenlayouts meist nur in drei verschiedenen Bildgrößen – über ein, zwei oder drei Spalten hinweg. Auf Anschnitte wird weitgehend verzichtet, was Kosten spart und die ruhige Anmutung unterstreicht. Dergestalt versuchten viele Zeitschriften durch Layout und Typografie, den Eindruck traditioneller Qualität ihrer Redaktion zu illu-

30 Vgl. Owen 1991, S. 162-164.

31 Vgl. Owen 1991, S. 166.

32 Vgl. Owen 1991, S. 108.

33 Vgl. Owen 1991, S. 106/107. 10 strieren,34 um so möglichst viele Leser zu gewinnen und ökonomisch schwierige Jahre zu überstehen.

Neben dem Wunsch, Teile des Mainstreams als Zielgruppe zu erschließen, lag ein weite- rer Antrieb für die Vereinfachung der Seitenlayouts darin, die Produktionskosten zu redu- zieren. Die technischen Möglichkeiten erforderten zu dieser Zeit noch ein aufwendiges Verfahren der Druckvorlagenherstellung. Der Entwurf einer Seite wurde zunächst mit dem Bleistift grob skizziert, um eine erste Idee zu visua- lisieren. Im nächsten Schritt wurde dieses „Scribble“ (Abb. 5) weiter spezifiziert, indem der Text-Umbruch aus so genanntem "Blindtext", also einem Text aus sinnlosen Wortfolgen, in gewünschter Schriftart, Schriftgröße und Zeilenabstand35 zu einem Reinlayout montiert wurde. Die Position von Fotos oder Illustrationen konnte durch meist schwarz-weiße, manchmal auch farbige Filz- Marker-Zeichnungen oft nur simuliert werden.36 Es war im Vorfeld des Drucks also nur möglich, einen groben Eindruck der geplanten Seiten zu erzeugen. Erst wenn Abb. 5: Scribble eines Layouts (Quelle: Calamus 2015) ein Layout verwirklicht werden sollte, wurde der tatsäch- liche Text im Satz- und Belichtungsstudio gesetzt und auf Film ausbelichtet. Enthielten die entworfenen Seiten Bildelemente, war ein weiterer Zwischenschritt notwendig. Dia- positive Vorlagen mussten dem jeweiligen Druckverfahren entsprechend bei einem ex- ternen Dienstleister für die Druckvorstufe gescannt und damit aufgerastert werden. Im Bild enthaltene Grautöne wurden dabei in druckbare Halbtöne verwandelt und Farbtöne zusätzlich in die vier Farben des Offsetdrucks „cyan“, „magenta“, „yellow“ und „black“ separiert. Durch anschließendes "Fotocomposing", also die manuelle Montage der Bild- und Textelemente zu vier kompletten Filmen einer Seite und abermaliges Kopieren ent- standen schließlich die Vorlagen zur Belichtung der Druckplatten. Im Zusammendruck ergeben diese schließlich die farbige Magazin-Seite.37 Anschnitte und Überlagerungen von Text- oder Bildelementen bedeuteten demnach einen beträchtlichen Mehraufwand bei der Komposition der Druckvorlagen. Außerdem war das Druckergebnis nicht exakt vorauszusagen. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass in wirtschaftlich schwie- rigen Zeiten auf komplexe oder gar experimentelle Layouts gern verzichtet wurde.

34 Vgl. Owen 1991, S. 162-164.

35 Vgl. Rösner, Hans, Druckvorlagen. Gestaltung, Herstellung, Anwendung, Frankfurt am Main 1983, S. 139.

36 Vgl. Rösner 1983, S. 170/171.

37 Vgl. Rösner 1983, S. 75-79. 11

2.2. Konzentration auf illustrative Elemente

Neben sachlichen und in ihrer Textlastigkeit an den Buchdruck erinnernden Editorial De- signs gab es auch in den 1970er Jahren Entwürfe, die ein typografisch konservatives Layout durch eine Illustration im Mittelpunkt der Gestaltung optisch aufwerteten. Dabei bezogen sich die Grafik-Designer oft auf vormoderne Stile des 19. und 20. Jahrhunderts. Am bekanntesten ist vermutlich Milton Glasers „Push-Pin-Style“, der mit seinen farben- frohen und linienbetonten Illustrationen in flacher Per- spektive, wie eine Persiflage des Jugendstils wirkt. Zugleich erinnern die stark kontrastierenden Farben und Muster an die psychedelische Kunst.38 In Kombi- nation mit einem ebenfalls zentriert aufgebauten Lay- out und der Verwendung von betont traditionellen Seri- fen-Schriften, wie „Times Roman“ und „Goudy Old Style“ wurde ein Stil kreiert, der die Seriosität eines Nachrichtenmagazins mit der notwendigen Anregung für ein fernsehsozialisiertes Publikum verband. Zusätz- lich waren die Artikel eines Magazins wie beispielswei- se „New York“ (Abb. 6) in leicht rezipierbare „Häpp- Abb. 6: Magazin „New York“, Mai 1975 Design Director Milton Glaser chen“ gegliedert, so dass eine Doppelseite innerhalb (Quelle: Owen 1991, S. 108) von sieben Minuten überblickt werden konnte. Dies entsprach der Dauer des Fernseh- programms zwischen zwei Werbeblöcken und spiegelt damit die Ausrichtung der Maga- zine auf die Aufmerksamkeitsdauer eines TV-Konsumenten wider. Diese Art des Grafik- Designs wurde auch als neuer Formalismus beschrieben, da die Gestaltung weniger aus dem Inhalt entwickelt wurde, sondern vor allem formal auf die Bedürfnisse des Publikums zugeschnitten war.39

Im Editorial Design von Musik-Zeitschriften spielten allerdings weder illustrative Elemente noch die Eleganz vormoderner Layouts eine Rolle. Meist wurde auch auf eine einheitliche Schrifttype und große Weißräume, die Rhythmus und Übersicht erzeugen, verzichtet. Auf den Innenseiten führte dies zu „Bleiwüsten“, die in Ihrer Textlastigkeit und konventionel- len Schriftauswahl grau und langweilig erschienen.40 Ebenso konventionell präsentierten sich die Titelseiten. Stets zeigten sie posierende Stars, die von vielen Schlagzeilen flan- kiert wurden. Zu groß war offenbar die Furcht, Teile der Leserschaft durch ausgefallene Designlösungen zu verprellen, hatten diese doch die Möglichkeit, am Kiosk aus der Flut

38 Vgl. Owen 1991, S. 107/108.

39 Vgl. Owen 1991, S. 107.

40 Vgl. Rüegg, Ruedi, Typografische Grundlagen: Gestaltung mit Schrift, Zürich 1989, S. 48/49. 12

des Angebots auszuwählen.41 Im Ergebnis entstand dementsprechend allerlei unspektakuläres und formel- haftes Design.42 Beispielhaft verdeutlichen dies die etablierten amerikanischen und britischen Musik- Magazine, in denen teilweise bis weit in die 1980er Jahre hinein Gleichförmigkeit und Mittelmaß regierte. Den Zeitschriften „Circus“ (Abb. 7) für Rock und „Creem“ für Punk und Heavy Metal in den USA und den britischen Magazinen „Sounds“ und „NME“ (New Musical Express) für Rock, Punkrock, Hardrock und Alternative Music gelang es kaum noch, sich von ein-

Abb. 7: Magazin „Circus“, Mai 1988 ander abzuheben. Alle zeigten unter dem obligatori- schen Titelkopf ein prominentes Gesicht in Starpose, eingerahmt von einem regelrechten Wald von Schlagzeilen in Schriften unterschiedlicher Art, Größe und Farbe. Damit erfüll- ten sie auf uninspirierte Weise die altbekannten Regeln des guten Cover-Designs.

2.3. Neue Impulse durch subkulturelle Ästhetik

Auftrieb bekam das Layout von Magazinen Ende der 1970er durch das „Design“ der Punk-Bewegung. In selbstgestalteten Underground-Heften der Fans, den so genannten „Fanzines“, tauschte sich die Szene über Bands und Konzerte oder politische Ziele der Protestbewegung aus. Mithilfe von einfachen und für jeden nutzbaren Techniken stellten Hefte wie „Sniffin‘ Glue“ (Abb. 8), „Situation“, „48 Thrills“ oder „Slash“ ihre Anti-Professionalität offensiv heraus, um gegen die kommerzielle Vereinnahmung von Kultur zu prote- stieren. Gekritzelte Handzeichnungen, gefundene Bilder, ausgeschnittene Buchstaben oder mit der

Schreibmaschine geschriebene Zeilen wurden mit dem Abb. 8: Magazin „Sniffin‘ Glue“, Juni 1977 Kopierer zusammengefügt.43 Die so erzeugte rauhe Anmutung des Unperfekten erinnert an Flugblätter und Erpresserbriefe44 und kommuniziert das Lebensgefühl des Punk – Nonkonformismus und Wut. Durch Provokation sollte die Selbstgefälligkeit in Kunst, Mo- de, Grafik und Musik zerstört und sozialer Freiraum geschaffen werden.45

41 Vgl. Owen 1991, S. 110-112.

42 Vgl. Owen 1991, S. 110-112.

43 Vgl. Owen 1991, S. 114-116 13

Entgegen ihrer Intention wurden die grafischen Aus- drucksformen der Punkbewegung aber schnell vom professionellen Magazin-Design aufgenommen.46 Au- genfällig ist diese Adaption der Strategien des Punk- Designs durch professionelle Designer bei dem von Terry Jones herausgegebenen Magazin „I-D“. Jones, der zuvor für das Modemagazin „Vogue“ tätig gewesen war, bezeichnete seine Arbeit für das Mode-, Kunst- und Musik-Heft selbst als Anti-Design. Ausgabe Nr. 28/1985 (Abb. 9) verdeutlicht exemplarisch die Aneignung sub- kultureller Ästhetik durch kommerzielle Magazine des

Abb. 9: Terry Jones, Magazin „I-D“, 1985 Mainstreams. Mit seiner Collage aus einer überbelichte- ten schwarz-weiß-Fotografie und ausgerissenen transparenten Farbfolien, die von einer verzerrten Pixelschrift überlagert werden, simuliert Jones die Spontanität und Impulsivität der Subkultur-Hefte. Die Verwendung von Knallfarben, wie Pink, Gelb und Grün unter- streichen den aggressiven Punk-Look.47

2.4. Revision der Geschichte durch Avantgarde

Ein unkonventioneller Umgang mit Typografie und Layout im Editorial Design war zuvor nur in Fachzeit- schriften für Schriftsetzer und Grafik-Designer zu finden gewesen. So hatte der Schweizer Typograf Wolfgang Weingart in seinen „Typographischen Mo- natsblättern“ (Abb. 10) bereits 1972 mit dem Durch- brechen der Konventionen der Schweizer Moderne experimentiert.48 Diese hat ihren Ursprung im Kon- struktivismus und im Bauhaus. Kennzeichnend für den Schweizer Stil waren die Verwendung von seri- fenlosen Groteskschriften, insbesondere der „Helveti- ca“ und der „Univers“ und ein klarer, asymmetrischer Abb. 10: Wolfgang Weingart, Typographische

Aufbau, der aus dem Inhalt entwickelt und anhand Monatsblätter, 1972 eines Rasters umgesetzt wurde. Auf diese Weise entstanden sachliche und reduzierte Gestaltungslösungen, die bevorzugt bei „Corporate-Design“-Aufgaben, also bei der

44 Vgl. Böhmer 2009, S. 204/205. 45 Vgl. Owen 1991, S. 114.

46 Vgl. Owen 1991, S. 115-116.

47 Vgl. Böhmer, Hausmann 2009, S. 204/205. 48 Vgl. Poynor 2003, S. 20. 14

Schaffung eines einheitlichen Erscheinungsbildes von Unternehmen, zur Anwendung kamen.49 Weingart begann neben anderen Schriftsetzern und Grafikern der Baseler Kunstgewerbeschule die Regeln dieses so genannten „Swiss Style“ zu hinterfragen. Er machte das Raster sichtbar, bezog die Ränder mit ein und arbeitete mit unüblichen Buchstaben- und Zeilenabständen oder schichtete mehrere Ebenen übereinander. Seine Ideen erweiterten das Spektrum grafischer Umsetzungsmöglichkeiten beträchtlich. Damit war er ein Vorläufer des energiegeladenen amerikanischen Grafik-Designs, das später oft mit dem Etikett „New Wave“ oder „Postmoderne“ versehen worden ist.50

Im Verlauf der 1980er Jahre setzte im Grafik-Design eine Revision der eigenen Vergan- genheit ein. Es erschienen Bücher und Artikel zu diesem Thema und 1983 fand das erste Symposium zur Geschichte der Disziplin statt.51 Die Auseinandersetzung mit vergange- nen Epochen führte dazu, dass Designer die Merkmale vergangener Stile wieder aufgrif- fen und verarbeiteten. Das Spektrum der Adaptionen reichte hierbei von nostalgischer Erinnerung bis zu ironischer Aneignung.52 Im Folgenden können lediglich einige der wich- tigsten Figuren und Herangehensweisen dieses manchmal als „Retro-Design“ oder "Ap- propriation" eingeordneten Editorial Designs dieser Zeit angerissen werden.53

Zu den wichtigsten Protagonistinnen dieser Zeit gehört April Greiman, die zuvor an der Kunstgewerbeschule in Basel bei Weingart studiert hatte und daraufhin in Los Angeles ihr eigenes Büro eröffnete. Gemeinsam mit Jayme Odgers gestaltete sie den Titel für das Kunst- und Kulturmagazin „Wet“54 (Abb. 11), wobei sie recht frei auf vergangene Grafik-Design-Stile anspielt. Auf dem Titel ist ein Porträt Ricky Nelsons zu sehen, das umgeben ist von „einer Art Schrein“55, bestehend aus gemusterten geome- trischen Flächen. Greiman erzeugt so einen stilisierten

Abb. 11: Greiman/Odgers, Magazin „Wet“, Prunk-Rahmen in warmen Farben mit blauen Akzenten, 1979 (Quelle: Poynor 2003, S. 23) um den Sänger einzufassen und verdeutlicht damit die fast religiöse Verehrung, die dem Teenie-Star zeitweise entgegengebracht wurde. Gleichzeitig kann die Allusion des plakativen Art-Déco-Stils der Zwischenkriegszeit als

49 Vgl. Schneider, Beat, Design – Eine Einführung. Entwurf im sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontext, Basel 2009, S. 126-131.

50 Vgl. Poynor 2003, S. 20-22.

51 Vgl. Remington, Roger, Bodenstedt, Lisa, American Modernism. 1920-1960, New Haven 2003, S. 177.

52 Vgl. McCoy, Katherine, American Graphic Design Expression, in: Design Quarterly, 148, 1990, S. 15/16.

53 Vgl. Schneider 2009, S. 158

54 Vgl. Poynor 2003, S. 23.

55 Vgl. Poynor 2003, S. 24. 15

Hinweis auf die zeitliche Begrenztheit dieses glanzvollen Daseins gelesen werden.56 Die verklärende Darstellung wird außerdem durch den Bruch der Konventionen des Zeit- schriften-Layouts, wie dem augenverdeckenden schwarzen Balken, der den Star anony- misiert, konterkariert. Ebenso verunsichert die Zusammenstellung von zweidimensiona- len Flächen und dreidimensionalen Gegenständen und schafft einen Widerspruch, der nicht aufgehoben wird.57 Greiman nutzt hier also grafische Mittel und Versatzstücke eines vergangenen Grafik-Design-Stils, um den Inhalt des Titels zu kommentieren.

Ein weiterer bedeutender Vertreter des Grafikdesigns dieser Zeit ist Michael Vanderbyl. Inspiriert durch das italienische Möbel-Design der Gruppe "Memphis" entwickelte er in San Franzisco sehr lebhafte grafische Ausdrucksformen. Er griff auf die leuchtenden Farben und vormodernen Formen der Mailänder Gruppe zurück und transferierte sie ins Grafik-Design. Kennzeichnend sind neben der Kombination von Buntfarben die Vereini- gung von Schrifttypen und die lockere Anordnung auf dem Format. Die Buchstaben der Wörter sind oft stark gesperrt. Auf diese Weise entstanden heitere Entwürfe, deren Ele- mente oft zusätzlich mit symbolischer und struktureller Bedeutung aufgeladen sind.58

Noch weiter führt die New Yorker Grafik-Designerin Paula Scher den Rück- griff auf vergangene Stile. Sie kombiniert, inspiriert von der Arbeit der Push Pin-Studios, verschiede- ne, teils widersprüchliche Formen aus dem frühen 20. Jahrhundert zu einem zitatgesättigten Retro- Design. In einer Broschü- re für das Musiklabel Abb. 12: Koppel & Scher, Selbstdarstellungsbrochüre „Great Beginnings“, 1984 (Quelle: Poynor 2003, S. 79) „Koppel & Scher“ (Abb. 12). vermischt sie Stilmerkmale des russischen Konstruktivismus, des Futurismus und des Dadaismus. In ironischer Weise spielt sie dabei mit den Konventionen der Typogra- fie.

56 Vgl. Meggs, Purvis 2012, S. 297.

57 Vgl. Poynor 2003, S. 23/24.

58 Vgl. Meggs, Purvis 2012, S. 471-473. 16

Der ungarische Grafik-Designer Tibor Kalman kritisierte diese Vorgehensweise als eklektizistische Ausschlach- tung der Vergangenheit. In Ermangelung einer Idee missbrauchten Grafiker wie Scher historische Entwürfe, um sich sofortige Aufmerksamkeit und kommerziellen Erfolg zu sichern. Dessen ungeachtet beginnt der eben- falls in New York ansässige Designer Ende der 1980er Jahre selbst damit, fremdes Quellenmaterial zu verwen- den. Allerdings wählt er nicht die Kunst als Vorbild, son- dern paraphrasiert so genanntes „Vernacular Design“,

Abb. 13: Tibor Kalmann, Anzeige für M&O also historische oder lokale grafische Formen nichtpro- (Quelle: Poynor 2003, S. 23) fessionellen Ursprungs (vgl. Abb. 13). Dazu gehören handgezeichnete Ladenschilder, Verkaufsaussteller oder ähnliche Alltagsgegenstände. Dieses Alltags-Design vermittelte nach jahrelangem Perfektionsstreben im Grafik-Design die gewünschte Authentizität in der visuellen Kommunikation.59

Auch der britische Grafikdesigner Neville Brody ließ sich wie Scher von der Kunstge- schichte inspirieren. Seine Entwürfe für das Musik-, Mode- und Kulturmagazin „The Face“ (Abb. 14) erinnern an die Arbeiten der Konstruktivisten, insbesondere an Alexander Rodchenko,60 der auf der Suche nach der möglichst einfachen Form rein typogra- fische Logos aus blockig eckiger Schablonenschrift entwickelt hatte.61 Doch ver- steht Brody sich nicht in er- ster Linie als Retro-Designer, Abb. 14: Neville Brody, Magazin „The Face“, 1985 der den Inhalt in ein historisches Gewand hüllt, sondern als Künstler-Designer, der teils auf intuitive, teils auf logische Weise verschiedene Facetten des Inhalts aufzeigt,62 indem er verschiedene Aspekte anderer Arbeiten recycelt.63 Die Schriftwahl und sein unkonven- tioneller Umgang mit der Typografie ist dabei integraler Bestandteil seiner Layouts für

59 Vgl. Poynor 2003, S. 81/82.

60 Vgl. Meggs, Purvis 2012, S. 479-481.

61 Vgl. Böhmer, Hausmann 2009, S. 218/219. 62 Vgl. Meggs, Purvis 2012, S. 479-481.

63 Vgl. Poynor 2003, S. 76. 17

"The Face". Viele der von ihm verwendeten Schriften hat er selbst entwickelt,64 darunter die konstruktivistisch anmutende „Industria“.65 Mitte der 1980er Jahre hat sich die Avant- garde des Grafikdesigns also bereits wieder weitgehend von den klassischen Layouts, wie sie in den siebziger Jahren populär waren, losgesagt, auch wenn diese nicht reprä- sentativ für weite Teile des Designs von Musikzeitschriften war.

2.5. Digitale Experimentierfreude

Die Befreiung des Magazin-Designs von den engen Grenzen des Layouts, die um 1980 begonnen hatte, nahm mit der digitalen Revolution deutlich an Fahrt auf.66 Schon 1976 hatte die Firma Apple ihren ersten Personal Computer (PC) vorgestellt und entwickelte diesen im Konkurrenzkampf mit der Firma IBM stetig weiter.67 Im Jahr 1985 brachte Apple mit dem Modell Macintosh M001 (Abb. 15) seinen ersten effektiv nutzbaren Grafik- Computer heraus. Mithilfe einer Maus konnte man pixelbasierte „Bitmap-Grafiken“ auf einer grafischen Oberfläche bearbeiten.68 Begeistert von der einfachen Verfügbarkeit grafischer Effekte und der damit gewonnenen Möglichkeit, Ideen sogleich am Bildschirm zu visualisieren, nahmen viele Grafiker die neue Technik auf. Andere lehnten sie ab oder betrachteten sie als bloße Spielerei.

Die bereits erwähnte Kalifornierin April Greiman war unter den ersten, die die Gestaltungsmöglichkeiten des Apple Computers Abb. 15: Apple Macintosh ausloteten. Sie ließ ihrer Experimentierfreude dabei freien Lauf, M001 (Quelle: Böhmer, Hausmann, S. 285) wie ihre erste mit dem Grafikprogramm „Photoshop“ erstellte Collage auf Pixelbasis dokumentiert (Vgl. Abb. 1).69 Nicht nur darin nutzte sie die grob aufgelösten Grafiken und Pixelschriften, die mit ihren rauhen Konturen nicht den Stan- dards der Druckvorstufe genügten. In ihren experimentellen Entwürfen verwendete sie hybride und modulare Raster, die die althergebrachten Regeln aus Satz- und Drucktech- nik zu Gunsten neuer Ausdrucksmöglichkeiten ignorierten. Daher wurde sie und andere frühe Nutzer der neuen Technik auch als „Neue Primitive“ bezeichnet.70

64 Vgl. Meggs, Purvis 2012, S. 479-481.

65 Vgl. Böhmer, Hausmann 2009, S. 285. 66 Vgl. Owen 1991, S. 228.

67 Vgl. Gere, Charlie, Digital Culture, 2. Erweiterte Auflage, Chippenham 2008, S. 138/139.

68 Vgl. Gere 2008, S. 140/141.

69 Vgl. Meggs, Purvis 2012, S. 532.

70 Vgl. Owen 1991, S. 128. 18

Nach den ersten digitalen Pixelschriften entstanden schnell zahlreiche neue Zeichensätze (Fonts). Rudy VanderLans und Zuzana Licko gründeten 1984 in San Franzisco den Schriftenverlag und das gleichnamige Magazin für experimentelles Grafik-Design Emigre (Abb. 16) .71 Der niederländische Grafik-Designer und die polnische Programmiererin erprobten darin alterna- tive Strukturen des Editorial Designs und entwickelten eigene Schrifttypen für den Apple Macintosh. In Aus- gabe Nr. 9/1988 von Emige (Abb. 17) ließen sie mehre- re redaktionelle Artikel, die nur durch ihre Schrifttype unterscheidbar sind, auf einer Seite beginnen und sich Abb. 16: Rudi VanderLans/ Zuzana Licko, auf den Folgeseiten parallel fortsetzen und stellten so „Emigre", 1986 (emigre.com) übliche Parameter des Magazin-Designs infrage. In einer anderen Ausgabe visualisierten sie in Ko- operation mit Studenten der „Cranbrook Academy of Art“ eine Radioshow, indem sie Text- und Bil- delemente übereinander- schichteten, so dass die Schrift an einigen Stellen kaum mehr lesbar war Abb. 17: Rudi VanderLans/ Zuzana Licko, „Emigre", 1988 (Quelle: Owen 1991, S. 148) und einen illustrativen Charakter annahm. VanderLans setzte in einer weiteren Ausgabe den Inhalt eines Inter- views mittels Variationen in der typografischen Darstellung visuell um. Nicht nur den In- halt der Wörter, sondern auch die Betonung durch den Interviewten gab er durch die Wahl verschiedener Schriftgrößen wieder.72 Dadurch wurde der Text vom vermeintlich neutralen Überträger von Sachinformationen zum sichtbaren Überträger von Emotio- nen.73

71 Vgl. Vgl. Meggs, Purvis 2012, S. 533.

72 Vgl. Owen 1991, S. 126/127.

73 Vgl. Owen 1991, S. 148/149. 19

2.6. Anstöße durch philosophische Ideen

Im Bereich der Hochschulen für Gestaltung haben sich das „California Institute of the Arts“ (CalArts) in Los Angeles und die „Cranbrook Academy of Art“ (Cranbrook) in Bloom- field Hills/Michigan durch avantgardistisches Grafik-Design hervorgetan. Vor allem in Cranbrook gaben philosophische und literaturwissenschaftliche Ideen Anregungen für die Arbeiten der Studenten. Bereits im Jahr 1978 rezipierten die Leiter des Fachbereichs Design Katherine McCoy und Daniel Libeskind mit ihren Studenten Texte der poststruktu- ralistischen Theorie74 und ermutigten sie dazu, ihre Ideen zu den Schriften Martin Hei- deggers oder Jean-Francois Lyotards umzusetzen. Entgegen der Zwänge des „Interna- tional Style“ im Grafik-Design, der sich aus der Schweizer Schule entwickelt hatte, sollten die Studenten zu einem eigenen freien Ausdruck finden.75 In der Typografie-Zeitschrift „Visible Language“ (Abb. 18) veröffentlichten die Studenten eines ihrer Projekte. Es han- delte sich hierbei um eine Sammlung von grafischen Interpreta- tionen76 der Texte in „French Current of the Letter“, einem Essay über die De- signpraktiken der Lettristen.77 Die Auf- gabe, bekannte Stra- Abb. 18: Cranbrook Academy of Art, Magazin "Visible Language", März 1978 tegien der Kommuni- kation hinter sich zu lassen, lösten die Studenten, indem sie mit der Beziehung zwischen der Form und dem Inhalt der Texte spielten. So entstanden poetische Interpretationen der Inhalte.78 Im Verlauf der 1980er Jahre beschäftigten sich weitere Studenten unter Anleitung von Jeffery Keedy mit den Schriften des Poststrukturalismus. In dem 1990 er- schienenen Bildband „The New Cranbrook Design Discourse“ veröffentlicht Hugh Alder- sey-Williams die so entstandenen Arbeiten der Studenten.79

74 Vgl. Remington, Bodenstedt 2003, S. 176.

75 Vgl. McCoy, McCoy, The New Discourse, in: Aldersey-Williams (Hg.); Cranbrook Design. The New Discourse, New York 1990, S. 14.

76 Vgl. Poynor 2003, S. 52.

77 Vgl. Viotti, Veronica, French Current of the Letter. Historical and archival research, 2010, in: Giulia Ciliberto Design & Research, http://www.giuliaciliberto.com/?project=french-current-of-the-letter, Stand: 20.06.2015.

78 Vgl. Lupton, Ellen, Abbott Miller, J., Deconstruction and Graphic Design. History meets Theory, in: Lupton, Ellen, Design Writing Research. Writing on Graphic Design, New York, 1996, S. 3.

79 Vgl. Aldersey-Williams 1990. 20

Katherine McCoy beansprucht für sich und ihre Studenten, „Dekonstruktion“ zu betreiben. Die Theorie der Dekonstruktion ist Teil des Poststrukturalismus und geht auf Jacques Derrida zurück. In seinem 1967 veröffentlichten Buch „De la Grammatologie“80 stellt der französische Philosoph die moderne Literaturkritik infrage, die glaubt, den Gehalt eines Werks aus seiner Form extrahieren zu können. Unter anderem weist er auf die Konstru- iertheit von Gegensätzen, wie Natur/Kultur, Original/Kopie, Körper/Geist in der Sprache der westlichen Kultur hin, die die Verschachtelung dieser Konzepte miteinander ignorie- re.81 Auf einem Plakat für das Graduiertenprogramm der „Cranbrook Academy of Art“ (Abb. 19) illustriert McCoy diese These, indem sie diese Oppositionen einander gegen- überstellt. Ähnlich verfahren auch die Studenten der Hochschule, wie Andrew Blauvelt, Brad Collins, Da- vid Frey, Allen Hori und Edward Fella.82 Die post- strukturalistische Offenheit von Bedeutung wurde hierbei laut Ellen Lupton und J. Abbott Miller jedoch oftmals zu einer romantischen Theorie des individu- ellen Ausdrucks verklärt. Dies führte dazu, dass De- konstruktion schließlich zum Modewort in sämtlichen Bereichen des Designs wurde. Im Jahr 1990 schreibt der Design-Historiker Philipp B. Meggs gar eine An- leitung für die grafische Dekonstruktion. Damit folgt er der Definition des Begriffs durch das Museum of Abb. 19: Katherine McCoy, Plakat „Ausstellung der Arbeiten“, 1989 Modern Art, das im Jahr 1988 die Arbeiten von Frank (Quelle: Poynor 2003) O. Gehry, Daniel Libeskind und Peter Eisenman unter dem Etikett „dekonstruktivistische Architektur“ zeigt. Die Organisatoren der Ausstellung, Philip Johnson und Marc Wigley, hatten den Dekonstruktivismus damit als Gegenbewegung zum russischen Konstrukti- vismus verstanden. Als Merkmale dekonstruktivistischer Architektur galt nun eine „ver- ungeklärte“ Geometrie, die durch Abwesenheit eines eindeutigen Zentrums gekenn- zeichnet ist und die die Verwendung von Metall- und Glasscherben oder ähnlichen Ver- satzstücken einschließt. Im Bereich des Grafik-Designs entwickelte sich eine Definition, die diesem Verständnis folgt.83 Fortan galten ungewöhnliche Layouts mit „fremdartigen, futuristischen, verzerrten und zersplitterten Formen als grafischer Dekonstruktivismus“.84

80 Derrida, Jaques, De la Grammatologie, Paris 1967.

81 Vgl. Lupton, Abbott Miller 1996, S. 1.

82 Vgl. Aldersey-William 1990.

83 Vgl. Lupton, Abbott Miller 1996, S. 4/5.

84 Böhmer, Hausmann 2009, S. 286. 21

3. Exkurs: Gegenkulturen - Entwicklung der Grunge-Kultur

Bevor David Carsons Editorial Design untersucht werden kann, soll eine kurze Einfüh- rung in die Musikkultur des Grunge bzw. der Alternative Music gegeben werden. Das Lebensgefühl und die Codes dieser Gegenkultur (Counterculture) liefern den Hintergrund für das Verständnis der von Carson gestalteten Layouts. Insbesondere die Identitätskon- flikte innerhalb der Kultur des Punks und des Heavy Metals, die im Verlauf der 1980er Jahre zu Abspaltungen dieser beiden Gruppen führen und deren Verbindung den Weg zum Grunge ebnete, ist notwendig, um die Inhalte des Magazins Ray Gun einordnen und das Verhältnis von Form und Inhalt beurteilen zu können.85 Daher soll dieser Entwick- lungsstrang im Folgenden dargestellt werden.

3.1. Vom Punk zum Hardcore

Ein Meilenstein des Punk-Rock war der Auftritt der Gruppe „The Ramones“ (Abb. 20) im New Yorker Club CBGB‘s im Jahr 1975. Mit ihren langen Haaren, dem rotzigen Auftreten und ihrer schnellen und aggressiven Musik setzten sie dem Mainstream des Rock etwas entgegen.86

Abb. 20: „The Ramones“, Club CBGBs, NY, 1975 Hatte die Rockmusik mit ihrem einfachen Aufbau (Quelle: Godlis 2015) und den Texten, die eigene Erfahrungen zum Ausdruck bringen, ursprünglich als ehrlich und authentisch gegolten,87 wurde sie zu Be- ginn der 1970er Jahre zunehmend als erschöpft empfunden. Vereinnahmt durch die Mu- sikindustrie stagniere sie und diene nur noch kommerziellen Interessen, so lautete viel- fach das Urteil.88 Vor diesem Hintergrund setzte der aufkeimende Punk auf schnellere und lautere Songs, die als ironische Imitation des Rock gesehen werden können. Auf diese Weise konfrontierte die Punkbewegung den Rock mit dem Niedergang seiner eige- nen Authentizitätsideale. Mit ihrer simplen Struktur beschworen die Punk-Songs den Ge- danken des „Do-it-yourself“ (DIY). Jeder sollte ohne besonderes Können Musik herstellen und damit die Hilfe von kommerziellen Plattenfirmen überflüssig machen. Auch die Gren- ze zwischen Musikern und dem Publikum sollte auf diese Weise aufgehoben werden.89 Mit ihrem Habitus, ihren Lederjacken und dem rotzigen Auftreten betonten Bands wie die

85 Vgl. Grossmann, Perry, The Dialectics of Rock, Punk and Grunge, in: Berkeley Journal of Sociology, 41, 1996/97, S. 35.

86 Vgl. Moore, Ryan, Sells Like Teen Spirit. Music, Youth Culture and Social Crisis, New York 2010, S. 1/2.

87 Vgl. Grossmann 1996/97, S. 19/20.

88 Vgl. Moore 2010, S. 7/8.

89 Vgl. Grossmann 1996/97, S. 20/21. 22

Ramones zusätzlich ihre Opposition zum Mainstream des Rock, 90 der im Radio gespielt wurde.91

Nicht zuletzt waren es wirtschaftliche und soziale Verwerfungen in den USA92 und in Großbritannien93 infolge der „Reaganomics“ bzw. des „Thatcherism“, die diese Jugend- Bewegung befeuerten. Im Jahr 1980 wurde der Republikaner Ronald Reagan Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Zuvor war er bereits Gouverneur des Bundesstaa- tes Kalifornien gewesen. In der neuen Position setzte er seine politische Agenda fort und kürzte in einer Phase wirtschaftlicher Stagnation viele Sozialleistungen und beendete damit die Politik des „New Deal“. Damit entwickelte er sich zur Hassfigur der Subkultur des Punk.94 Auch in Großbritannien wurden um 1980 von der konservativen Premiermini- sterin Margaret Thatcher radikale Reformen durchgesetzt, um die Wirtschaft zu sanieren. Dies führte zu Entlassungen infolge von Ra- tionalisierungsmaßnahmen der Unternehmen und zog Rassenkonflikte und Massenarbeits- losigkeit unter den Jugendlichen der Arbei- terklasse nach sich.95 Punk war das Sprach- rohr der chancenlosen Jugend dieser Zeit der neoliberalen Umstrukturierung und Deindu- Abb. 21: „The Sex Pistols“, London, um 1980 (Quelle: Singerwallpaper.com) strialisierung.96 Britische Punk-Bands, wie „The Clash“ oder „The Sex Pistols“ (Abb. 21) artikulierten die Wut der jungen Generation und rebellierten gegen das Establishment, indem sie die Provokation und den Exzess feierten.97 Davon zeugen die oft, nur aus drei Gitarren-Akkorden und eher geschrienen als gesungenen Texten bestehenden, kurzen Stücke. Die darin entworfenen dunklen und bedrohlichen Bilder können als Antwort auf die Utopien der Hippies in den 1960er Jahre gelesen werden.98 Der Unmut dieser jungen Menschen angesichts ihrer Arbeits- und Chancenlosigkeit artikulierte sich auch in ihrer Kleidung. Mit zerrissener Hose, grell ge- färbter Stachelfrisur grenzten sie sich demonstrativ von der bürgerlichen Mittelklasse ab. Durch Zweckentfremdung von Alltagsgegenständen, wie der Nutzung von Sicherheitsna-

90 Vgl. Moore 2010, S. 1/2.

91 Vgl. Moore 2010, S. 10.

92 Vgl. Moore 2010, S. 16-18.

93 Vgl. Moore 2010, S. 9.

94 Vgl. Moore 2010, S. 34/35.

95 Vgl. Moore 2010, S. 9.

96 Vgl. Moore 2010, S. 3-6.

97 Vgl. Grossmann 1996/97, S. 20.

98 Vgl. Moore 2010, S. 5-9. 23 deln als Schmuck oder der Aneignung von kulturellen Ikonen, wie beispielsweise einem abgebrochenen Mercedes-Stern, unterstrichen sie ihren Willen zur Nonkonformität.99

Im Verlauf der 1980er Jahre entwickelte sich ausgehend von Südkalifornien der Punk weiter zum Hardcore-Punk. In den Vororten von San Diego, Los Angeles und San Fran- zisco litt die Bevölkerung unter ihrem sozialen Abstieg. Die Jugendlichen der Arbeiter- klasse sahen nun einem niedrigeren Lebensstandard entgegen, als er noch für ihre El- tern erreichbar gewesen war. In der Musik fand sich ein Ventil für diese zukunftslosen Jugendlichen. Sie verliehen ihrer Frustration Ausdruck in noch schnellerer, lauterer und aggressiverer Musik. In den Texten der Stücke thematisierten sie ihre Ablehnung des politischen und wirtschaftlichen Systems und seiner sozialer Normen. Dabei entwickelten sie den Punk weiter und verbanden besonders hohe Geschwindigkeit mit teils melodiöse- rer Musik zum so genannten „Hardcore“. Eine der bekanntesten Bands dieser Richtung ist „Black Flag“ aus Los Angeles. Sie artikulierte auf satiri- sche Weise den sinnlosen Alltag der Jugend zwischen Arbeitslosigkeit, TV-Berieselung und gesellschafts- und selbstschädigendem Verhal- ten.100 Der hierbei mitkommunizierte Nihilismus brachte auf den Konzerten der Band zunehmend Drogenkonsum und gewalttätige Ausschreitungen mit sich.101 Zu den Gruppen, die als eher politisch engagiert gelten, gehören dagegen die „Dead Kennedys“ aus San Franzisco. In ihren provo- kanten ironischen Texten kritisierten sie die Abb. 22: Fanzine „Maximumrocknroll“, 1987 Reagan-Regierung, die Macht großer Konzerne oder den Einfluss der religiösen Rech- ten.102 Neben einer Mehrzahl von Gruppen der Hardcore-Szene, die sich mit linken, kommunistischen oder anarchistischen Positionen auseinandersetzte, gab es aber auch einige Musiker, die soziale oder persönliche Fragen thematisierten. Als Forum des Aus- tauschs dienten den einzelnen „Szenen“ selbstgestaltete Fan-Magazine. In diesen soge- nannten „Fanzines“ wie „Maximum RocknRoll“ (Abb. 22), „Flipside“ oder „Brain Damage“ bauten die verschiedenen Strömungen ihr jeweiliges soziales Netzwerk auf und diskutier- ten politische Positionen.103

99 Vgl. Grossmann 1996/97, S. 21.

100 Vgl. Moore 2010, S. 58-59.

101 Vgl. Moore 2010, S. 50-54.

102 Vgl. Moore 2010, S. 35.

103 Vgl. Grossmann 1996/97, S. 21. 24

In Reaktion auf den in der Punk-Szene verbreiteten Missbrauch von Drogen und Alkohol und der Neigung zu unverbindlichem Sex entwickelte sich Mitte der 1980er Jahre ausge- hend von Washington D.C. die so genannte „Straightedge“-Bewegung.104 So grenzte sich etwa die Band „Minor Threat“ von dem, nun als Mainstream empfundenen Nihilismus und rücksichtslosen Streben nach Rausch und schnellem Vergnügen ab. Dies bedeutete Abstinenz und Unabhängigkeit vom Kommerz durch eine verschärfte Do-it-yourself-Ethik. Dahinter stand aber nicht nur der Wunsch, sich vor der Vereinnahmung zu schützen, sondern auch die Suche nach positiven Werten und moralischen Standards.105 Als Er- kennungszeichen wählten die Anhänger des Straightedge das „X“, das minderjährigen Club-Besuchern, als Zeichen, dass sie keinen Alkohol kaufen durften, beim Betreten einer Veranstaltung auf die Hand gestempelt wurde. Das eigentlich stigmatisierende Zei- chen wurde auf diese Weise positiv umgedeutet. Auch das Outfit, das bereits unter den Hardcore-Fans dunkler und unauffälliger geworden war, führten die Anhänger der Szene zu einer Art Anti-Mode weiter.106 Daneben kam es zu weiteren Abspaltungen von der Hardcore-Punk-Szene, die in unterschiedliche politische Richtungen drifteten. In den Fanzines tobte ein Meinungskampf darüber, welches die authentische Punk-Haltung sei. Während einige Gruppen die Verwässerung politischer Botschaften und den „Ausverkauf“ beklagten, plädierten andere für eine Öffnung der Szene für neue Einflüsse, um eine Weiterentwicklung zu ermöglichen.107

3.2. Vom Heavy Metal zum Trash-Metal

Neben dem Punk ist der Heavy Metal ein weiterer Ausgangspunkt für die Entwicklung des Grunge. Ausgehend von Kalifornien bildete sich in den 1980er Jahren mit dem Hea- vy Metal eine weitere Gegenkultur als Identifikationpunkt für Halbwüchsige der Arbeiter- und unteren Mittelklasse heraus.108 Neben der Politik Reagans stellte auch der Feminis- mus das tradierte Männlichkeitsbild und die Rolle junger Männer als zukünftigem Brot- verdiener und Familienoberhaupt infrage. In dieser Sinnkrise gaben solche Rockbands Halt, die die Männlichkeitsideale der 1960er Jahre aufnahmen und mit dem Bild geset- zesloser Motorrad-Gangs verschmolzen. Vorbild waren unter anderem die „Hells Angels“ und ähnliche Rockergruppen, deren Leitbilder neben Hypermaskulinität und patriarchalen Geschlechterrollen oft auch Militarismus, Homo- und Xenophobie sind. Die Rebellion des Heavy Metal erschöpfte sich allerdings weitgehend in ihren martialischen Texten und ihrer bedrohlichen Musik, auch wenn es einige wenige Gruppen gab, die politische Anlie-

104 Vgl. Grossmann 1996/97, S. 23.

105 Vgl. Moore 2010, S. 61-63.

106 Vgl. Grossmann 1996/97, S. 23.

107 Vgl. Grossmann 1996/97, S. 27.

108 Vgl. Moore 2010, S. 75. 25 gen hatten. „Metallica“ aus Los Angeles und „Iron Maiden“ (Abb. 23) aus London be- schworen mittels großer Lautstärke und verzerrter Gitarrenklänge düstere Bilder. Die auf Überwältigung der Zuhörer angelegte Musik wurde gelegentlich durch Schreie akzentu- iert. Die Konzerte waren Spektakel der Macht, die auf Motive des Okkultismus, Mystizis- mus und der Mythologie zurückgreifen, wie es Ryan Moore anschaulich beschreibt.109

Bedeutsam für die Entwicklung des Grunge ist wiederum eine Aufspaltung des Heavy Metal in unterschiedliche Strömungen. Während im „Glam-Metal“ die in den Texten be- sungene zerstörerische Kraft letztendlich besiegt wird und Reichtum und Hedonis- mus gefeiert werden, siegt im „Trash- Metal“ meist die übermächtige Bedro- hung. In dieser Ikonographie des Heavy Metal werden die bedrohlichen sozioöko- nomischen Strukturen in mythologische Bilder der Zerstörung übersetzt. Ein wie- derkehrendes Motiv ist der Teufel, der sich der menschlichen Kontrolle entzieht Abb. 23: Konzert „Iron Maiden“, USA 1988 (Quelle: wordpress.com) und letztlich Chaos und Verderben bringt.

Die veränderten Lebensbedingungen der Zuhörerschaft werden so „verobjektiviert“, da sie sich jedem Einfluss scheinbar entziehen.110 Musik und Bilder illustrieren somit das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber den lebensverändernden Kräften. Der Horror in den Texten und der Musik wird zur Metapher für die Krise im realen Leben.111 Darin drückt sich ein Verständnis des kapitalistischen Wirtschaftssystems als natürlicher Macht aus, deren zerstörerischer Kraft der Mensch nichts entgegenzusetzen hat.112

3.3. Crossover von Hardcore Punk und Trash-Metal zum Grunge

Traditionell besteht eine Rivalität zwischen den Anhängern des Heavy Metal und des Punk. Während Letztere den Metal-Fans vorwerfen, politisch apathisch zu sein und sich lediglich der Weltflucht durch Rausch hinzugeben, empfinden die Metaller die Punks als selbstgerecht und puritanisch. Trotzdem fand an einigen Orten eine Anäherung beider Szenen statt. Zum Teil wurde sie auch von der fortschreitenden „Gentritifizierung“ der Großstädte erzwungen. Diese reduzierte die Zahl der verfügbaren Auftrittsorte und führte die Fans beider Gegenkulturen in New York City, San Franzisco und anderen Großstäd-

109 Vgl. Moore 2010, S. 77-80.

110 Vgl. Moore 2010, S. 84.

111 Vgl. Moore 2010, S. 87.

112 Vgl. Moore 2010, S. 112. 26 ten an denselben Orten räumlich zusammen. Dass in vielen Musikclubs also Konzerte beider Musikrichtungen stattfanden, beförderte einen Austausch.113 Manche Gruppen begannen zusammenzuarbeiten, einte sie doch trotz aller Gegensätze die Angst, Ent- fremdung und Wut angesichts der politischen Veränderungen.114 In der Folge kam es zu einem „Crossover“ zwischen beiden Musikrichtungen. Der Trash-Metal übernahm die Authentizitätsideale des Punk und beschäftigte sich zunehmend mit Themen der realen Welt. Auch die Distanz zum Publikum löste sich auf und unabhängige Labels gewannen in der Metal-Szene an Bedeutung.115 Der Hardcore-Punk integrierte seinerseits bestimm- te Akkorde aus dem Heavy Metal, sowie dessen komplexere Melodien und Rhythmus- wechsel.

Die so entstandenen ersten Crossover-Bands integrierten Eigenschaften des Hardcore- Punk und des Trash-Metal und besannen sich auch wieder116 auf den klassischen Rock, der persönliche Erfahrungen und Gefühle reflektiert.117 Im Vordergrund stand statt kollek- tiver Wut oder Apathie nun der individuelle Ausdruck von authentischen Erfahrungen. Anstelle von Sozialkritik oder Weltflucht wurden unter Einsatz von Ironie persönliche Be- ziehungen und Lebenssituationen der, nun ebenfalls vom sozialen Abstieg bedrohten, Mittelklasse thematisiert. Neben dem Ausdruck von Zukunftsangst und Gefühlen der Sinnlosigkeit wurde ein romantischer Antikommerzialismus propagiert, der scheinbar die Lösung für die Probleme der Jugend bringen würde, aber doch nicht erreichbar schien.118 Typische Beispiele dieser Crossover-Bands sind „Mudhoney“, „Soundgarden“ oder „Mother Love Bone“.119 Die oft mit gebrochener Stimme120 vorgetragenen121 fragmentier- ten Texte waren offener für Interpretationen, als Punk und Metal es gewesen waren.122 Low-fi-Equipment und Low Budget-Produktion mit absichtlichen Verzerrungen des Gitar- rensounds unterstrichen die Verbindung des so entstandenen Grunge zur DIY-Ethik der Punk-Szene. Weitere Stilmerkmale, wie das Zulassen von Hintergrundgeräuschen ver- deutlichen den Authentizitätsanspruch dieser Gruppen.123

113 Vgl. Moore 2010, S. 96.

114 Vgl. Moore 2010, S. 102.

115 Vgl. Moore 2010, S. 96.

116 Vgl. Grossmann 1996/97, S. 19.

117 Vgl. Grossmann 1996/97, S. 32.

118 Vgl. Moore 2010, S. 116/117.

119 Vgl. Moore 2010, S. 12.

120 Vgl. Moore 2010, S. 116/117.

121 Vgl. Grossmann 1996/97, S. 31/32.

122 Vgl. Grossmann 1996/97, S. 32.

123 Vgl. Moore 2010, S. 116. 27

Die Verbindung und Weiterentwicklung von Punk und Metal wird auch unter dem Sam- melbegriff „Alternative Music" gefasst, da sie sich in Opposition zur Mainstream-Kultur, also alternativ entwickelt hatte. Schnell erkannte das 1986 aus einem Fanzine hervorge- gangene Musiklabel „Sub Pop“ das vermarktbare Potenzial einer speziellen Form des Alternative. Es stilisierte die aus Seattle und der nahen Universitätsstadt Olympia stam- menden Bands dieser Gegenkultur zu einer einheitlichen Bewegung, die es als „Grunge“ (Schmuddel/Dreck) bezeichnete und schuf damit ein Etikett, das sich für diese Musik schnell durchsetzte.

Charakteristisch für das Bild des Grunge ist der Gitarrensound des Produzenten Jack Endino und die verwischten schwarz- weiß Bilder von Live-Auftritten des Foto- grafen Charles Peterson (vgl. Abb. 24). Durch die Gründung eines „Single Clubs“ von Sub Pop, deren Mitglieder regelmäßig

Abb. 24: Kurt Cobain, Vancouver 1991 mit Neuentdeckungen auf Vinyl versorgt (Quelle: Peterson, Azerrad 1995) wurden, wurde eine Musikszene kreiert.124 Mit dieser Strategie erfand Sub Pop für sich eine Art ironischen Kapitalismus, der es ihm erlaubte, den Alternative, der sich eigentlich vom Kommerz abgrenzen woll- te, gewinnbringend zu verkaufen. Um den Grunge auch über den Staat Washington hinaus bekannt zu machen, lud das Label den einflussreichen britischen Musikjour- Abb. 25: „TAD“ posieren als Holzfäller, Washington 1989 nalisten Everett True ein, die „Grunge- (Quelle: Peterson, Azerrad 1995) Szene“ von Seattle kennen zu lernen. Dieser folgte der Einladung und berichtet daraufhin begeistert von der neuen „Bewegung“ und wirkte somit als Multiplikator in Europa.125

Inhaltlich wurde in den Songs des Grunge häufig mit dem Stilmittel des „Deadpan“, also mit schwarzem Humor oder Sarkasmus gearbeitet. So wurden etwa soziale Hierarchien ironisch verkehrt. Damit bot die Musik ein Identifikationsangebot für die frustrierte bürger- liche Jugend im neoliberalen Amerika.126 Diese Generation, der es wirtschaftlich schlech- ter ging als ihren Eltern, war bezüglich der Versprechungen der Werbung desillusioniert

124 Vgl. Moore 2010, S. 121.

125 Vgl. Moore 2010, S. 125.

126 Vgl. Moore 2010, S. 122. 28 und suchte abseits von materiellen Zielen ihre Zuflucht in Andersartigkeit und Rebelli- on.127 Als äußerliches Merkmal der Anhänger des Grunge verbreitete sich ein absichtlich nachlässiges Äußeres, das sich zwischen dem Bild des abgehängten Arbeiters und dem des erfolglosen Bohemiens bewegt. Wichtigstes Kennzeichen dieses offensiv als „Loser- tum“ kultivierten Images ist das karierte Flanellhemd eines Holzfällers in Kombination mit gedeckter Kleidung, einer Wildlederjacke und langen ungepflegten Haaren (vgl. Abb. 25).128 Damit versinnbildlicht Grunge die Anti-These zu Exzess, Gier und Oberflächlich- keit der 1980er Jahre, wie sie etwa die Glam-Metall-Szene von Los Angeles verkörpert hatte.129 Den Gipfel des Erfolgs des Grunge markiert die Gruppe „Nirvana“, die im Jahr 1991 mit „Smells Like Teen Spirit“ den ersten Platz der Billboard-Charts erreichte. In dem Song über die Chance einer Teenager Revolution zeichnet der Frontmann Kurt Cobain ein widersprüchliches Bild seiner Generation. Diese findet die Idee eines Aufstandes zwar reizvoll, aber auch hoffnungslos naiv und wenig Erfolg versprechend. Daher bleibt ihr nichts, als sich mit ironischer Emphase dem Nichtstun hinzugeben.130

Kurz nach Nirvanas Durchbruch werden weitere Gruppen aus Seattle ebenfalls sehr er- folgreich, darunter „Pearl Jam“, „Soundgarden“ und „Alice in Chains“.131 Sie bereiten den Durchbruch für eine Vielzahl weiterer lokaler Alternative-Bands aus dem Raum Seattle vor. In der Folge erkennen auch große, offen kommerzielle Labels das wirtschaftliche Potenzial der mutmaßlichen Subkultur und verkaufen diese offensiv an den Mainstream- Zuhörer.132 Damit wird der Nischenmarkt des Alternative endgültig zum Massenmarkt133 und seine durch das Plattenlabel Sub Pop veredelte und homogenisierte Variante Grun- ge verliert in der Folge seine Glaubwürdigkeit innerhalb der Gegenkultur. Als in den 1990er Jahren sogar die Werbung das Merkmal der Authentizität und die Strategie der Ironie zur Vermarktung von Produkten an die so genannte „Generation X“ übernimmt,134 führt dies zu einem „backlash“. In einer Gegenreaktion lehnten große Teile der ehemali- gen Anhänger den „Hype“ um den Grunge so leidenschaftlich ab, dass dies den Unter- gang der lokalen Alternative-Szenen bedeutete.135

127 Vgl. Moore 2010, S. 118.

128 Vgl. Grossmann 1996/97, S. 34.

129 Vgl. Moore 2010, S. 117.

130 Vgl. Moore 2010, S. 114/115.

131 Vgl. Moore 2010, S. 130.

132 Vgl. Moore 2010, S. 114.

133 Vgl. Moore 2010, S. 119

134 Vgl. Moore 2010, S. 130.

135 Vgl. Moore 2010, S. 132. 29

4. Bedeutungsebenen in Ray Gun

Um der Frage nach der Bedeutung von David Carsons Editorial Design nachzugehen, sollen nun einige Beispiele seiner Arbeit eingehender betrachtet werden. Es soll geklärt werden, in welcher Form seine Layouts klassische Konventionen des Magazin-Designs brechen und welche Wirkung hierdurch erzeugt wird. Form und Inhalt sollen dabei zu- sammen betrachtet werden. Auf diese Weise sollen die verschiedenen Bedeutungsebe- nen, die möglicherweise eröffnet werden, sichtbar werden. Schließlich wird geprüft wer- den, ob in seiner Arbeit künstlerische Strategien zum Einsatz kommen. Da die unter- schiedlichen Seiten eines Magazins jeweils ganz bestimmten gestalterischen Anforde- rungen unterliegen, sollen zwei verschiedene Seitentypen zur Untersuchung herangezo- gen werden. In Ray Gun stechen neben den Titelseiten besonders die Interviews durch ihre aufwändige Gestaltung hervor. Sie bilden jeweils den Höhepunkt innerhalb der Heft- dramaturgie. Deshalb sollen neben drei Titel-Beispielen auch drei Interviews eingehend untersucht werden.

4.1. Titelseiten

4.1.1. Verkehrte Welt - Titel mit Dinosaur Jr.

Der Titel von Ausgabe Nr. 3/1993 (Abb. 26) zeigt Joseph Donald Mascis Junior, den Gitarristen und Songwriter der einflussreichen Alternative-Band „Dinosaur Jr.“. Die Grup- pe aus Massachusetts arbeitet in ihrer Musik mit großer Lautstärke und starken Verzerrungen und gilt als Vorläufer des Seattle-Grunge.141 Carsons Layout verletzt einige Konventionen der Titelge- staltung.142 So ist das Titelbild um 180° gedreht, so dass das Porträt des Künstlers auf dem Kopf steht. Das Logo von Ray Gun erscheint am obe- ren Rand des Magazins, abgetrennt vom Titel- bild. Es handelt sich also um einen Balkentitel. Unter dem Logotype folgen die Informationen zur Nummer der Ausgabe, dem Inhalt und dem Preis des Hefts.143 Carson variiert bei dieser Ausgabe das Logotype, indem er Schrift und Abb. 26: Titel Ray Gun, Nr. 3/1993 mit „Diosaur Jr.“ Satz der Wortmarke verändert. Während sie sich

141 Vgl. Gulla, Bob, The Greenwood Encyclopedia of Rock History. The Grunge Years, 1991-2005, Westport 2006, S. 155.

142 Vgl. Blackwell, Carson 1995, S. 92.

143 Vgl. Blackwell, Carson 1995, S. 92 30

in der ersten und zweiten Ausgabe von Ray Gun aus Klein- und Großbuchstaben zusam- mensetzt und zweizeilig am rechten oberen Rand des Formats positioniert ist (Abb. 27), erscheint sie in Nr. 3 in mageren kursiven Ver- salien, die in einer Zeile angeordnet sind.144 Auch die Titel-Unterzeile „the bible of music + style“, die in den vorangegangenen Ausgaben auf den Inhalt des Magazins verwies, fehlt.145 Damit erschwert Carson die Wiedererkennung des Magazins, wenn auch das übergroße For- mat von 30,5 cm x 25 cm146 den Leser darin

Abb. 27: Titel Ray Gun, Nr. 1/1992 unterstützt, es am Kiosk aufzufinden. Ein Titel- „Preiere Issue“ blatt funktioniert ähnlich wie ein Plakat. Es wirbt für den Inhalt des Magazins und konkurriert dabei mit vielen anderen Heften. Dies gilt insbesondere für Zeitschriften, die nicht im Abonnement vertrieben werden,147 wie Ray Gun. Indem Carson gegen das Design-Gebot verstößt, den Titelkopf einer Zeitschrift gar nicht oder nur sehr behutsam zu verändern, verzichtet er auf die Prägung einer Marke,148 bzw. er macht die Abwesenheit einer festen Marke zur Marke von Ray Gun.

In „The End of Print“ hält Carson fest, dass er mit seinem Entwurf J. Mascis‘ demonstrati- ve Nichtbeachtung von Magazinen zum Ausdruck bringen wollte.149 Der Musiker zeigte sich in Interviews betont einsilbig und unkooperativ. Die entgegengesetzte Positionierung von Titelkopf und Titelbild reflektiert also die Selbstdarstellung des Musikers gegenüber den Medien. Auf das enorme Selbstbewusstsein von J. Mascis verweist außerdem die Tatsache, dass lediglich sein Porträt auf dem Titel abgebildet ist, obwohl die größte Schlagzeile die Band „Dinosaur Jr.“ ankündigt, die zu dieser Zeit auch aus Mike Johnson und einem nicht näher bezeichneten „Murph“ besteht.150 Das Unterschlagen der übrigen Band-Mitglieder auf dem Titel kann also auch als Hinweis auf die egozentrische und we- nig umgängliche Art des Künstlers gelesen werden. Abgesehen von Liveauftritten be- stand er meist darauf, alle Instrumente selbst einzuspielen. Seine Texte sind gespickt mit boshaften Anspielungen auf ehemalige Mitstreiter, mit denen er sich im Laufe der Jahre

144 Vgl. Wachsmuth, Gläser 2013, S. 37-39.

145 Vgl. Wachsmuth, Gläser 2013, S. 47. 146 Ganslandt 2012, S. 135.

147 Vgl. Owen 1991, S. 188.

148 Vgl. Blackwell, Carson 1995, S. 92.

149 Vgl. Blackwell, Carson 1995, S. 92.

150 Vgl. Gulla 2006, S. 234. 31

entzweit hat. Darüber hinaus pflegt der Künstler eine betonte Anti-Coolness. So trägt er oft dicke Hornbrillen und billige Baseball-Mützen und schaut am liebsten Fernsehen. In Interviews gibt er sich einsilbig.151 Damit kultiviert er ein Image des „Losertums“, wie es typisch ist für den Grunge. Sein absichtlich nachlässiges Äußeres und sein unzugängli- ches Gebaren verdeutlichen somit also seine antikommerzielle Einstellung. Die betont desinteressierte Haltung gegenüber den Medien spiegelt sich auch in der Pose des Mu- sikers auf dem Titel von Ray Gun Nr. 3 (vgl. Abb. 26). Mascis ist nicht als strahlender Star porträtiert, sondern als gelangweilter „Nobody“, der keinerlei individuelle Kennzei- chen trägt und keine Ambitionen erkennen lässt. Indem Carson das Porträt des Künstlers auf den Kopf stellt, bringt er also die Einstellung des Künstlers, zum Ausdruck.

Eine weitere Bedeutungsebene des Titels lässt sich mithilfe des Soziologen Dick Hebdige aufzeigen, der sich in den 1990er Jahren mit der Verwendung von Zeichen durch Akteure von Subkulturen beschäftigt hat. Er beobachtete, dass Jugendliche eines bestimmten Lebensstils sich Zeichen der Mediengesellschaft aneignen und diese umdeuten. Mittels Techniken der „Bricolage“ oder des „Sampling“, erklären sie so auf symbolische Art ihre Unabhängigkeit.152 Die mit diesen Techniken erzeugte „Abweichung vom Erwartbaren“153 stellt ein „symbolisches kulturelles Kapital“154 dar. Die Wahl und Positionierung des Titel- bildes in Carsons Entwurf ist eine solche „Abweichung vom Erwartbaren“,155 die für die Mitglieder bestimmter Gruppen der Alternative Music-Szene ein symbolisches kulturelles Kapital darstellt. Folglich bedeutet die Positionierung des Frontmanns von „Dinosaur Jr.“ auf dem Titelbild von Ray Gun innerhalb der Subkultur des Grunge nicht etwa eine Her- absetzung, sondern das Gegenteil - eine Auszeichnung. Die Regeln guten Titel-Designs werden buchstäblich auf den Kopf gestellt. Die Bedeutung wird ironisch verkehrt und Mascis mit dieser Art der Präsentation zum Held der Gegenkultur gekürt.

Daneben besteht für den Betrachter ebenso die Möglichkeit, dass es sich bei dem kopf- stehenden Titelbild um einen Produktionsfehler infolge einer Nachlässigkeit des Grafikers handelt, doch auch diese Deutung stützt den Eindruck offensiver Anti-Professionalität. Ähnlich wie die Fanzines der Punk-Szene erweckt Ray Gun damit den Eindruck, schnell und spontan zusammengefügt worden zu sein, so dass etwaige Fehler nur die Glaub- würdigkeit des Magazins unterstreichen. Fehler erzeugen also ebenfalls symbolisches kulturelles Kapital. Im vorliegenden Beispiel überträgt sich dieses nicht nur auf Mascis und die Band „Dinosaur Jr.“, sondern auch auf die Zeitschrift Ray Gun. Das Musikmaga-

151 Vgl. Biographie „Dinosaur Jr.“, in: Laut, http://www.laut.de/Dinosaur-Jr., Stand: 20.06.2015. 152 Vgl. Jacke, Christoph, John Clarke, Toni Jefferson, Paul Willis und Dick Hebdige. Subkulturen und Jugendstile, in: Hepp, Andreas, Krotz, Friedrich, Thomas, Tanja (Hg.), Schlüsselwerke der Cultural Studies, Wiesbaden 2009, S. 144-146. 153 Jacke 2009, in: Hepp, Krotz, Thomas 2009, S. 145.

154 Jacke 2009, in: Hepp, Krotz, Thomas 2009, S. 145.

155 Jacke 2009, in: Hepp, Krotz, Thomas 2009, S. 145. 32

zin bietet der Subkultur bietet damit ein Mittel, sich vom Mainstream abzugrenzen. Zwar diffundiert diese Art des symbolischen Widerstandes nach einiger Zeit wieder in die Kul- tur der Mehrheitsgesellschaft und erfordert eine neue Abgrenzung dieser Gruppen,156 doch in Ausgabe Nr. 3 von Ray Gun ist dies sicherlich noch nicht der Fall. Zusammen- fassend lässt sich also sagen, dass die ungewöhnliche Positionierung des Titelbildes in Carsons Layout mindestens drei verschiedene Deutungen zulässt. Vordergründig scheint Sie zunächst eine Missachtung des Künstlers J. Mascis zu sein, die sich jedoch in der „Welt des Grunge“ als Auszeichnung entpuppt. Nicht zuletzt kann sie auch als Fehler gedeutet werden, der dem Künstler wie auch dem Musikmagazin Ray Gun indirekt be- sondere Glaubwürdigkeit innerhalb der Subkultur verleiht.

4.1.2. Falsche Fährte – Titel mit Jesus and Mary Chain

Von der dritten Ausgabe an variiert Carson stetig das Logotype von Ray Gun.157 Auf dem Titel von Ausgabe Nr. 19/1994 (Abb. 28) erscheint es nach einem Entwurf von Ed Fella in fetten Versalien mit ausgefransten Konturen und unausgeglichenen Buchstabenabstän- den. Ein überflüssiges angehängtes Komma und die Positionierung der Buchstaben auf einer schiefen Schriftlinie unterstreichen den unregelmäßigen Eindruck. Es handelt sich um einen Ganz-Cover-Titel, bei dem das Logotype nicht in einem abgetrennten Bereich, wie etwa einem farbigen Kasten, sondern auf derselben Fläche steht, wie die übrigen Elemente des Titels. Doch statt ein formatfüllendes Bild ein- zufügen, wie bei dieser Gestaltungslösung sonst üblich, vergrößert Carson das erste Wort der Schlagzeile „Jesus and Mary Chain“, so dass es das ganze Format in der Breite aus- füllt und mehr Raum einnimmt als das Logoty-

pe.158 Die danach folgenden Zeilen sind zen- Abb. 28: Titel Ray Gun, Nr. 19/1994 „Jesus ad Mary Chai“ triert gesetzt und verjüngen sich in der Schrift- größe. Wie der Abspann eines Kinofilms folgen die Namen weiterer Gruppen, die im Heft besprochen werden. Unterhalb der letzten Zeile stehen zunächst der Barcode und erst dann ein briefmarkengroßes Bild der Alternative Band Jesus and Mary Chain. Damit ver-

156 Vgl. Jacke 2009, in: Hepp, Krotz, Thomas 2009, S. 145/146.

157 Vgl. Blackwell, Carson 1995, S. 92.

158 Vgl. Blackwell, Carson 1995, S. 80 33

kehrt Carson die Prioritäten der Titelelemente.159 Nicht das Titelbild steht im Zentrum, sondern eine den Inhalt ankündige Schlagzeile. Sie ist so stark vergrößert, dass sie in Konkurrenz zum Logotype der Zeitschrift tritt. Nur durch die blaugraue Titel-Unterzeile „Issue Number 19 of the Bible of Music + Style and the End of Print“ ist sie von diesem abgetrennt.

Das Wort „JESUS“ überragt das Logotype in der Höhe um etwa ein Drittel und steht da- mit optisch im Vordergrund des ganzen Titels. Direkt darüber sticht das Wort „BIBLE“ ins Auge, da es in einer doppelt so großen Schriftgröße gesetzt ist wie die übrigen Wörter der Titel-Unterzeile. Durch diese beiden Begriffe, die zum Assoziationsfeld „Christentum“ gehören, ist der Leser zunächst irritiert, gehört Religion doch nicht unbedingt zum Le- bensgefühl des Grunge. Statt christlicher Hoffnung regiert dort wie bereits dargestellt ein Gefühl der Sinnlosigkeit gepaart mit Zukunftsangst. Entziffert der Leser die zweite Buch- stabenreihe „ANDMARYCHAIN“ unter dem Wort „JESUS“ und weiß die fehlenden Leer- zeichen zu ergänzen, erschließt sich der Band-Name Jesus and Mary Chain". Für den informierten Leser wird deutlich, dass es sich bei dem Hervorrufen religiöser Assoziatio- nen um eine ironische Fehlleitung handelt. Angekündigt wird nicht etwa eine Beschäfti- gung mit dem Gottessohn, sondern mit der Band der schottischen Brüder Jim und Willi- am Reid und wechselnden Kollegen, die seit Mitte der 1980er Jahre für ihre extrem „noi- sige“ Musik mit exzessiven Rückkopplungen und provokanten Texten und nicht zuletzt gewalttätigen Zwischenfällen auf ihren Konzerten bekannt geworden sind. Da sie nie länger als 25 Minuten spielten, empörten sich die Fans oft in wilder Raserei und demo- lierten den Auftrittsort.160 Carsons Titel erzeugt also einen deutlichen Widerspruch. Dieser besteht zwischen der vordergründigen Anspielung, die die hervorgehobenen Zeilen er- zeugen und dem Inhalt des gesamten Textes der ersten Schlagzeile.

Diese grafische „Intervention“ kann als Anspielung auf den sich verändernden Sound von Jesus and Mary Chain verstanden werden. Auf ihrem zwei Monate zuvor veröffentlichten Album „Stoned & Dethroned“ lassen Sie ihren ursprünglich düsteren Stil vollkommen hinter sich und setzen auf einen massentauglicheren melodischen Pop-Sound. Geradezu süßlich mutet beispielsweise das Duett „Sometimes Always“ von Jim Reid mit Hope Sandoval an. Höchstwahrscheinlich lieferte diese Tatsache den Anstoß für Carson, die Band mit einer Allusion auf die, aus der Hippie-Kultur hervorgegangenen, „Jesus People“ zu kommentieren. Diese christlichen Hippies stellen mit ihren Utopien von einer besseren Welt das Gegenbild zu Punk und Heavy Metal dar, aus deren Fusion sich der Grunge gebildet hat. Diese Deutung ist also durchaus naheliegend. Gestützt wird diese Annahme von dem prominent über dem Bandfoto eingesetzten Barcode, dessen Positionierung als

159 Vgl. Blackwell, Carson 1995, S. 80

160 Biographie „Jesus and Mary Chain“, in: Laut, http://www.laut.de/The-Jesus-And-Mary-Chain, Stand: 20.06.2015 34

zusätzlicher ironischer Verweis auf den kommerziellen Erfolg von Jesus and Mary Chain gelesen werden kann, stellt dieser doch die Glaubwürdigkeit der Band innerhalb der Grunge-Szene infrage. Denn die früheren Konzerte der Gruppe unterschieden sich sehr deutlich von ihrer zuletzt produzierten Musik. Sie waren von düsteren Noise-Attacken geprägt, die die Gruppe oft mit dem Rücken zum Publikum spielte. Die neueren Stücke dagegen zeigen einen starken Pop-Einfluss und sind kommerziell erfolgreicher. Damit entsprechen sie, wie die in der Alternative-Szene verpönte Hippie-Kultur, dem Massen- geschmack, von dem es sich unbedingt abzugrenzen gilt.161 Mit ihrer musikalischen Ent- wicklung setzte die Band sich also dem potentiellen Vorwurf des Ausverkaufs aus. Darauf bezieht sich Carsons grafische Intervention offenkundig. Indem Carson Jesus and Mary Chain in die Nähe der Hippie-Kultur rückt, spielt er auf den in der Punk- und Heavy Metal- Szene vielfach genutzten „Poseur“-Vorwurf an. Zugegebenermaßen ist dieser Hinweis im Jahr 1994 nicht besonders entlarvend, da der sogenannte „Sell Out“, der Ausverkauf der Alternative Music-Szenen in den USA, bereits im Jahr 1990 begonnen hat. Seinen Höhe- punkt erreicht er mit dem großen Erfolg der Single „Smells Like Teen Spirit“ von Nirvana um den Jahreswechsel 1991/1992.162 Ungeachtet dessen ist dies eine mögliche Lesart des Titels.

Darüber hinaus erzeugt Carsons typografische Gestaltung aber auch eine Fokussierung auf das einzige Bildelement. Der gesamte Text der Seite ist zentriert und formt sich zu einer Art Pfeilspitze, die auf die kleine Fotografie der Band Jesus and Mary Chain gerich- tet ist. Der das Foto umgebende Weißraum lenkt die Aufmerksamkeit zusätzlich auf das einzige Bildelement des Titels. Sobald der Leser das typografische Rätsel „JE- SUS/ANDMARYCHAIN“ gelöst und sich die Identität der abgebildeten Gruppe erschlos- sen hat, rückt das Bild ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die kleine und schlecht reprodu- zierte Fotografie macht es fast unmöglich, die gezeigten Personen zu erkennen. Derge- stalt wird kommuniziert, dass die Band keinen Wert auf glanzvolle Medienpräsenz legt. Zusätzlich bekräftigt die Low-Tech-Anmutung selbstgeklebter Punk-Fanzines163 (vgl. Abb. 8 + 22), die Carson hier nutzt, den Authentizitätsanspruch der Band und gleichsam den von Ray Gun. So setzt Carson viele verschiedene Schrifttypen ein, die handgezeichnet wirken und den Eindruck eines schnell zusammengeklebten Do-it-youself-Plakats oder Handzettels erwecken, obwohl er das Layout des Magazins bereits ab Ausgabe Nr. 15 vollständig am Computer erstellt. Die extrem regelwidrige Gestaltung bewirkt eine Stö- rung,164 die eine hohe Aufmerksamkeit erzielt. Sie bremst die eindeutige Wahrnehmung und ruft Assoziationen hervor, die verschiedene Einschätzungen der Grunge-Band Jesus

161 Vgl. Moore 2010, S. 7/8.

162 Vgl. Moore 2010, S. 114.

163 Vgl. Poynor 2003, S. 41.

164 Vgl. Ganslandt 2012, S. 134. 35

and Mary Chain vorschlagen. Carson überlässt aber dem Betrachter die Entscheidung, wie er den Titel liest. Er kann selbst ermessen, ob die erfolgreiche Gruppe der Kommer- zialisierung anheim gefallen ist oder aber die Authentizitätideale des Grunge hochhält.

Die Idee der Umkehrung der Prioritäten des Layouts ist allerdings nicht völlig neu. Sie knüpft an die Einfälle der Studenten der Cranbrook Academy und an das Editorial Design Neville Brodys an. So ist beispielsweise die abweichende Gewichtung von Bild- und Textelementen in Carsons Entwurf bereits in Bro- dys Titel-Layout für „The Face“ Nr. 39 (Abb. 29) aus dem Juli 1983 angelegt.165 Der britische Grafik- Designer setzt das Porträt von Stephen Morris hier so stark in den Anschnitt, dass kaum mehr als des- sen rechtes Auge zu sehen ist. Die erste Schlagzei- le, die Ankündigung eines exklusiven Interviews mit der Band „New Order“, nimmt dagegen fast die volle Breite des Titelblattes ein. Eine inhaltliche Motivation für dieses Layout ist hier allerdings nicht erkennbar. Deutlich wird, dass Carson sich zwar von bekannten Ideen inspirieren lässt, diese aber Abb. 29: Titel The Face, Nr. 39/1983 nicht nur zu neuen Extremen führt, sondern diese „Ne Order“ auch inhaltlich fundiert einsetzt. Seine Gestaltung eröffnet die Möglichkeit von zwei abweichenden Auslegungen, überlässt aber dem Be- trachter die abschließende Deutung.

Nicht zuletzt erinnert Carsons Titel-Entwurf an die Arbeiten der Dadaisten. Auch sie schu- fen Wort-Bilder, die für den Betrachter schwer zu entschlüsseln sind. Ihren Ursprung hat die dadaistische Bewegung um 1916 in Zürich. Im von ihm gegründeten Cabaret Voltaire experimentierte der Dichter Hugo Ball mit Sprache. Mit Nonsens-Wörtern schuf er ironi- sche Sprachspielereien und Klang-Poesie, die die traditionelle Funktion von Sprache als Übermittlerin von Inhalten infrage stellen sollte. Jede Andeutung von Bedeutung wurde wieder verschleiert, so dass die Bedeutung eines dadaistischen Werkes kaum zu fixieren ist.166 Die Dadaisten verletzten die traditionellen Konventionen der Dichtung und der Dar- stellung, um akzeptierte Normen zu hinterfragen und neue Ausdrucksformen zu erfor- schen. In der Bildenden Kunst verzichteten sie auf althergebrachte Ikonographien und setzten vermehrt Schrift- und Textfragmente in ihren Arbeiten ein.167 Einer der bekannte-

165 Vgl. Brody, Neville, Wozencroft, Jon, Brody. The Graphic Language of Neville Brody, München, Berlin 1988, S. 105. 166 Vgl. Freemann, Judi, Bedeutungsschichten: Mehrfache Lesarten der Wort-Bilder in Dada und Surrealismus, in: Diess. (Hg.), Das Wort-Bild in Dada und Surrealismus, Aust. Kat. Frankfurt/Main, Schirn Kunsthalle Frankfurt, 3.3.1990 bis 15.5.1990, München 1990, S. 13/14.

167 Vgl. München 1990, S. 13/14. 36

sten Vertreter des Dadaismus, mit dem Carson immer wieder in Verbindung gebracht wird, ist Kurt Schwitters. In Hannover begründete er 1919 seine eigene dadaistische Be- wegung mit dem Namen „Merz“, abgeleitet vom deutschen Wort “Kommerz“. Seine Merz- Bilder sind Collagen aus Alltagsdrucksachen, Müll und gefundenen Materialien. Gemäß seiner persönlichen Kompositionslehre, der „Kombinatorik“ stellte Schwitters darin kor- respondierende Farben, Formen und Texturen einander gegenüber. So scheinen Beziehungen zwischen gleichartig geformten Elementen zu bestehen. Aber die entstandenen Arbeiten ent- halten auch Elemente des Zufalls. Ein typisches Beispiel für diese Collagen ist „Ohne Titel (Grü- ne Zugabe)“ (Abb. 30), das um 1920 entstanden ist. Darin arrangiert Schwitters schwarze und rote Papierfetzen mit gefundenen Ausschnitten aus Zeitungen zu einer Komposition. Das enthal- tene Textfragment „Grüne Zugabe, liefern. Der Garten-“ erzeugt die Erwartung, Aufschluss über die Bedeutung der Collage geben zu können, Abb. 30: Kurt Schwitters, Ohne Titel hält dieses Versprechen aber nicht. Die im Text (Grüne Zugabe) 1920 benannte Farbe stimmt nicht etwa mit der Farbe der Papierfetzen der Collage überein. Es entstehen freie Assoziationen, die sich aber nicht zu einer Bedeutung verdichten. Schwitters Arbeit erweist sich somit als hermeti- sches Spiel mit Gegensätzen, mit Sinn und Unsinn.168

Ähnlich geht auch Carson bei seinem Titel-Layout für Ray Gun Nr. 19/1994 vor. Auch er nutzt bestehende Elemente und arrangiert diese so, dass scheinbare Verknüpfungen entstehen wie zwischen dem Wort „BIBLE“ und dem Wort „JESUS“. Tatsächlich besteht aber keine inhaltliche Beziehung zwischen diesen Begriffen. Während der erstere zur Titelunterzeile gehört, ist der letztere Teil der ersten Schlagzeile. Der scheinbare Zu- sammenhang entsteht lediglich durch ähnliche Assoziationen, die diese Wörter freiset- zen. Dennoch ist Carsons Rätsel, anders als das von Schwitters, für den informierten Betrachter auflösbar. Carson spielt ironisch auf vermeintlich christliche Inhalte an, die im Gegensatz zum angekündigten Inhalt des Magazins stehen. Damit stellt er die Band Je- sus and Mary Chain in der Vielschichtigkeit dar, in der sie zum Zeitpunkt des Erscheinens von Ray Gun wahrgenommen wird. Der Betrachter kann selbst gewichten, welcher An- spielung er mehr Bedeutung zumisst.169 Anders als vielfach behauptet, spielt Carson also

168 Vgl. Meggs, Purvis 2012, S. 265-267.

169 Vgl. München 1990, S. 31. 37

nicht nur auf formaler Ebene mit der Desorientierung des Lesers,170 sondern auch mit unterschiedlichen inhaltlichen Deutungen. Bei Schwitters dagegen verdichten sich die erzeugten Assoziationen nicht zu einer Aussage. Zu vage und zu flüchtig sind sie. Auch die Entzifferung des Textes in seiner Collage erbringt keine Hinweise zu ihrer Bedeutung. Die ästhetische Gliederung der Elemente steht also offenbar im Vordergrund.171 Die Par- allelen zwischen Carson und Schwitters Kombinatorik erweisen sich also als geringer als vermutet. Gemeinsam ist beiden jedoch, dass sie neue Arten der Bedeutungserzeugung erproben und damit die Ausdruckskraft der Sprache infrage stellen.172

4.1.3. Vexierbild weiblicher Performerin - Titel mit Liz Phair

Auch der dritte Titel von Ray Gun, der hier betrachtet werden soll, verstößt eklatant ge- gen die Konventionen der Titelgestaltung. Bei Ausgabe Nr. 21/1994 (Abb. 31) handelt es sich wiederum um einen Ganz-Cover-Titel. Bildfüllend zeigt er die schwarz-weiß- Fotografie einer jungen Frau im Leoparden- Mini mit schwarzen Boots, die vornüber ge- beugt ihre Strumpfhose rearrangiert. Ihr Ge- sicht ist nicht zu sehen. Der Schriftzug Ray Gun steht oben links im Format und wird er- neut variiert. Die zwei Wörter des Logotypes erscheinen in unterschiedlichen Farben und überlagern einander. Farblich korrespondiert das rot-weiße Wort „Ray“ und das darunter liegende gelbe Wort „gun“ zwar mit der freige- stellten Farbillustration einer Tomate, die etwa in der Mitte rechts im Format steht, inhaltlich

Abb. 31: Titel Ray Gun, Nr. 21/1994 scheint sie zunächst völlig zusammenhanglos. mit „Liz Phair“ (Abb. rechts ergänzt) Auf Schlagzeilen wurde anders als beim vor- angegangenen Titel verzichtet. Die Namen der im Heft besprochenen Bands erscheinen lediglich rechts oben neben dem Logotype. Mit ihrem kleinen Schriftgrad erwecken sie den Eindruck, ein Logo-Zusatz zu sein. Ein eindeutiger Hinweis auf den Inhalt des Heftes wird dem Leser verweigert. Das Titelbild zeigt darüber hinaus weder ein Gesicht noch Heldentum oder eindeutige Prominenz. Keine Schlagzeile weckt das Interesse des Le-

170 Vgl. Vandendorpe 2003, S. 8.

171 vgl. Spies, Werner, der Surrealismus und seine Zeit, Berlin 2008, S. 256-258.

172 Vgl. München 1990, S. 22. 38

sers.173 Die Gestaltung des Heftes mutet auf den er- sten Blick wie ein Zufallsprodukt aus zusammenhang- losen Versatzstücken an. Nur wer die Indizien zu deu- ten weiß, sieht die Widersprüche, die Carson hier wie- derum erzeugt. Die von ihm für den Titel gewählte körnige Fotografie erweckt den Eindruck, ein Schnappschuss zu sein und erinnert an die Ästhetik der Schwarz-weiß-Bilder Charles Petersons. Analog zum rauhen Klang der Grunge-Bands fotografierte dieser in den Clubs von Seattle noch unbekannte Bands demonstrativ ungestellt und mit langer Belich- tungszeit. In Abgrenzung von den typischen Portraits Abb. 32: Titel Faces Rocks, 1988 von Popgruppen, die sich vor einem ausgewählten Hintergrund in Positur werfen (Abb. 32), zeigte er die Musiker oft bei Live-Auftritten. Er mischte sich selbst unters Publikum, um die Stimmung und die aufgelöste Distanz zwi- schen Musiker und Publikum festzuhalten. Die groben Bilder mit den verwaschenen Lich- tern und willkürlich erscheinenden Bildausschnitten zielen darauf, die Energie der Kon- zerte und authentische Gefühle zu vermitteln (vgl. Abb. 24 + 25). Peterson fing so das Lebensgefühl der Gegenkultur ein und formte mit seinem eigenen Stil das einheitliche optische Bild des Grunge für das Label Sub Pop.174

Indem Carson die unscharfe Fotografie einer jungen Frau, die vornüber gebeugt und mit fliegenden Haaren an ihrer Strumpfhose zupft, auf den Titel hebt, reklamiert er zunächst die propagierten Authentizitätsideale des Grunge auch für die Zeitschrift Ray Gun. Die Auswahl des Ausschnitts und die scheinbar nachlässige Positionierung des Motivs oben im Anschnitt verweist auf die Do-it-youself-Methoden des Punks und unterstreicht die „Armutsästhetik“175 des unscharfen Bildes. Es zeigt kein strahlendes Gesicht, sondern eine Frau, die nicht für den Fotografen posiert, sondern augenscheinlich entsprechend ihrer Bedürfnisse agiert. Das ist die Botschaft, die das Bild transportiert. Mit der Auswahl dieses Bildes, das mit seiner mangelnden Schärfe und dem unmotivierten Bildausschnitt den Anforderungen eines Titelbildes eigentlich nicht genügt, präsentiert er das Heft im Stil der Fanzines und macht so deutlich, dass Ray Gun mehr Wert auf die Vermittlung echter Gefühle, als auf ein korrektes Layout oder ein technisch perfektes Bild legt. Damit präsentiert er das Heft als Teil der Gegenkultur.

173 Vgl. Owen, 1991, S. 186.

174 Vgl. Peterson, Charles, Azerrad, Michael, Screaming Life. Eine Chronik der Musikszene von Seattle, aus dem amerikani- schen von Thomas Pöll, St. Andrä-Wörden 1995, S. 12-17. 175 Vgl. Peterson 1995, S. 18. 39

Die auf dem Titel gezeigte junge Frau, die sich entgegen femininer Stereotype in der Öffentlichkeit die Unterkleider ordnet, erinnerte an die Protagonistinnen der „Riot-Grrrl- Bewegung“. Ausgehend von Olympia, einer Kleinstadt in der Nähe von Seattle, entwik- kelte sich um 1991 diese feministische Bewegung. Mit den auf den Punk zurückgehen- den Methoden des DIY und der Provokation setzten weibliche Performerinnen wie Heather Lewis von „The “ der männlich dominierten Grunge-Szene von Seattle etwas entgegen.176 Ihr Ziel war es, das feministische und politische Bewusstsein der Zuhörerinnen zu stärken, indem sie soziale Probleme, wie Missbrauch, selbstzerstö- rerisches Verhalten und sexuelle Belästigung thematisierten und den freien Selbstausdruck propagierten. Anders als andere junge Frauen, die zunehmend von Medien und Gesellschaft domestiziert würden, wollten sie an die Freundschaft und Solidarität unter Mädchen in der

Vorpubertät anknüpfen. Dies ver- Abb. 33: von „, 1994 (Quelle: Moore. 2010, S. 131) deutlicht ihr gewähltes Outfit beste- hend aus kurzem Rock, Kniestrümpfen und Pferdeschwanz. Der Begriff „grrrl“, der den Vokal „i“ durch drei „r“ ersetzt, beschwört einerseits diese sorglose Zeit und ist anderer- seits ironischer Ausdruck der Begrenzungen, die eine junge Frau in der amerikanischen Gesellschaft erfährt.177 Das Streben der „Grrrl-Bands“ nach freiem Selbstausdruck äußer- te sich in den Noise-Elementen der Musik, dem oft geschrienen statt gesungenem Text und nicht zuletzt der Performance, die vom Spaß am Ausdruck der eigenen Wut geprägt ist.178 Typisch ist auch der ironische Umgang mit weiblichen Zuschreibungen, wie die Auftritte von Kathleen Hanna illustrieren. Die Sängerin der Gruppe „Bikini Kill“ (Abb. 33) aus der ebenfalls einflussreichen Szene in Washington D. C. trägt bei Auftritten gern die Aufschrift „slut“ oder „whore“ auf dem Bauch. Mit dieser Aneignung negativer Begriffe mit denen Frauen bezeichnet werden, beansprucht sie die Deutungshoheit über den eigenen Körper zurück. Das unkonforme Verhalten der Riot-Grrrls bedeutet also Widerstand und Selbstermächtigung, angesichts des gesellschaftlichen Drucks auf junge Frauen.

Die Sängerin Liz Phair, die mutmaßlich auf dem Titel von Ray Gun Nr. 21 (vgl. Abb. 31) abgebildet ist, wie die erste der drei kleinen Textzeilen neben dem Logotype nur andeu- ten, setzt in ihren Texten ebenfalls auf explizite Äußerungen. Berühmt geworden ist sie mit ihrem allseits gefeierten Debütalbum „Exile on Guyville“ aus dem Jahr 1993. Im Sep-

176 Vgl. Moore 2010, S. 126.

177 Vgl. Moore 2010, S. 127.

178 Vgl. Moore 2010, S. 129. 40

tember 1994 veröffentlicht sie ihr zweites Indie-Rock Album „Whip-Smart“, auf dem sie erneut über ihr Leben als Frau mittleren Alters aus der Mittelschicht und vor allem unver- blümt über Sex singt.179 Doch während ihr erstes Album von verschiedenen Kritikern als komplex, ironisch und provokant beschrieben wird, driften die Ansichten bei ihrem zwei- ten Werk erheblich auseinander. So bewertet der „Rolling Stone“ auch ihre neue Platte als exzellent. Darin entfalte sie eine komplexe persönliche Abenteuergeschichte, in der sie die Themen Sex, Liebe, Macht und Freiheit verhandele.180 Die Internetseite für Mu- sikrezensionen "pitchfork.com“ hingegen ist der Ansicht, dass Whip-Smart bei weitem nicht an die Qualität des Vorgängeralbums Exile in Guyville heranreiche. Es sei vielmehr eine Ansammlung kalkulierter und geistloser Provokationen, die offensichtlich im Hinblick auf den kommerziellen Erfolg hin zusammengestellt worden seien. Phair gehe es offen- kundig nicht um feministische Ziele und den Ausdruck von authentischen Gefühlen, son- dern um die Erzeugung eines kommerziell verwertbaren Schocks. Dies werde auch in den Texten deutlich. Ablesbar sei dies an den Versen in „H.W.C.“ (Hot White Cum), die im Unterschied zu denen ihres Hits „Flower“ auf dem vorangegangenen Album, nicht dem freien Ausdruck weiblicher Sexualität dienten, sondern ihrer Degradierung.181 Die Meinungen über die Künstlerin gehen also deutlich auseinander. Einige Kritiker sehen Phair in der Tradition der Riot-Grrrl-Bands der frühen 1990er Jahre, andere dagegen sind der Ansicht, sie sei der vornehmlich von der britischen und amerikanischen Musikpresse konstruierten Kategorie der „Angry Women“ zuzurechnen. Hierbei handelt es sich um eine Fortsetzung der Riot-Grrrl-Kultur, die zwar ebenso freizügig ist, doch auf feministi- sche und politische Botschaften weitgehend verzichtet. Anders als bei den vorangegan- genen Künstlerinnen sind ihre Texte und Bühnen-Performances bald nur noch aufrühreri- sche Attitüde, die sich gut verkaufen lässt.182

Die in Carsons Titel-Layout eingefügte farbige Illustration einer Tomate zielt auf diese Ambivalenz. Denn „Hot Tomato“ ist im US-amerikanischen Englisch ein Slang-Ausdruck für eine sexuell aktive Frau, die als Sexobjekt leicht verfügbar ist.183 So beschrieb etwa ein Journalist im Jahr 1950 die noch unbekannte 24jährige Marilyn Monroe als „Hot To- mato“, um sie dem LIFE-Magazine (Abb. 34) für Fotoaufnahmen zu empfehlen. Indem Carson das Bild einer farbigen Tomate als „Eye-Catcher“184 auf dem Schwarz-weiß-Bild

179 Vgl. Biographie „Liz Phair“, in: Laut, http://www.laut.de/Liz-Phair, Stand: 20.06.2015:

180 Vgl. ODair, Barbara, Whip-Smart - Liz Phair, in: Rolling Stone, http://www.rollingstone.com/music/albumreviews/whip-smart -19940922Whip-Smart, Stand: 22.07.201.

181 Vgl. LeMay, Matt, Liz Phair, in: Pitchfork, http://pitchfork.com/reviews/albums/6255-liz-phair/, Stand: 22.07.2015.

182 Vgl. Schilt, Kristen, A little too ironic.The Appropriation and Packaging of Politics by Mainstream Female Musicians, in: Popular Music and Society, 26, 1/2003, S. 9-11.

183 Vgl. Definition „Hot Tomato“, in: Urban Dictionary, 2, 2011, http://www.urbandictionary.com/define.php?term=Hot+Tomato, Stand: 23.07.2015.

184 Wachsmuth, Gläser 2013, S. 72. 41

des Ganz-Cover-Titels plaziert, kürt er das gezeigte „Riot-Grrrl“, das möglicherweise Liz Phair ist, im Namen von Ray Gun zu einer „Hot Tomato“, also zu einem leicht verfügba- ren Sexobjekt. Auf irritierende Weise weicht diese aber von der üblichen Darstellung von Frauen in den Printmedien ab, denn das Bild zeigt eine Frau, die sich nicht feminin präsentiert, sondern auf buschiko- se Art und Weise in der Öffentlichkeit ihren Körper herrichtet, was sonst der Konvention gemäß nur im privaten Innenraum üblich ist. Damit übertritt sie geltende weibliche Verhaltensnormen und demon- striert ihre Ablehnung traditioneller Geschlechterrol- len.185 Dabei bleibt dem Leser überlassen, ob er die auf dem Titelbild plazierte Tomate ironisch deutet oder nicht. Einerseits kann sie als abwertender Abb. 34: LIFE Magazine, Nr. 4/1952 Kommentar auf die mangelnden musikalischen Qua- mit Marilyn Monroe litäten der Künstlerin gelesen werden, die lediglich mit expliziten Texten von sich reden macht, andererseits kann sie auch als ironische An- eignung und damit als Verweis darauf verstanden werden, dass Phair sich in der Traditi- on der Riot-Grrrls eben nicht gängigen Konventionen von weiblichem Verhalten unterord- net, sondern sich die Freiheit nimmt, sich zu verhalten und auszudrücken wie sie will.

Die auf den ersten Blick zusammenhanglose Collage des Titels aus scheinbar willkürlich ausgewählten Fundstücken stellt also eine Art Bilderrätsel dar, das die widerstreitenden Sichtweisen auf die Künstlerin Liz Phair zum Ausdruck bringt. Der Leser kann selbst ent- scheiden, wie er die Collage deutet. Carson erzeugt eine Störung, die vom informierten Lesern aufgelöst werden kann. Gelingt dies, dann weicht der anfänglichen visuellen Desorientierung die Befriedigung des Lesers darüber, das zunächst unverständliche Lay- out entschlüsselt zu haben.186 Er kann sich entscheiden, welcher der beiden Deutungen er sich anschließt und sich damit als Angehöriger einer auserlesenen Gruppe fühlen. Denn auch dieses Titelbild fungiert als visueller Code der Gegenkultur – der „Riot Grrrls“,187 die im Jahr 1994 als Teil der Alternative Szene im Begriff ist, kommerziell aus- geschlachtet zu werden, wie an zahllosen Nachahmern der Riot-Grrrl-Bands ablesbar ist, deren Auftritte frei von politischen Zielen waren.188

185 Vgl. Schößler, Franziska, Einführung in die Gender Studies, Berlin 2008, S. 10. 186 Vgl. Vandendorpe 2003, S. 4-24.

187 Vgl. Gere 2008, S. 170.

188 Vgl. Moore 2010, S. 140. 42

Daneben weist auch dieser Titel-Entwurf Carsons Analogien zu den Arbeiten der Dada- isten auf. Denn Carson verwendet zufällig gefundene Bildelemente,189 wie das unscharfe Schwarz-weiß-Foto und die offenbar aus einem anderen Magazin ausgeschnittene Illu- stration einer Tomate190 und fügt sie in einen neuen Zusammenhang ein.191 Dadurch stellt er eine Verknüpfung her, die verschiedene Assoziationen ermöglicht. Diese Vorge- hensweise erinnert wiederum an die Collagen von Kurt Schwitters, die normativen Deu- tungen eine Absage erteilen und dem Betrachter die Interpretation seiner Arbeiten über- ließen.192 Wie diese zieht auch Carson auf ironische Weise bisher gültige Werte und Ideen in Zweifel. Auf formaler Ebene ignoriert er die Gebote der klassischen Titelgestal- tung und stellt auf inhaltlicher Ebene die Bedeutung der Sängerin Liz Phair zur Diskussi- on. Carson greift die für Schwitters Kombinatorik typische Gegenüberstellung von Ele- menten gleicher Form oder Farbe auf. So findet sich etwa das Rot der Tomate im Schat- ten des Wortes „Ray“ wieder. (vgl. Abb. 30). Im Unterschied zu Schwitters bietet Carson aber mit der als Logozusatz getarnten Zeile „Liz Phair“ im Titelkopf von Ray Gun Nr. 21 wiederum einen Schlüssel zur Lösung seines Bilderrätsels an. Während Schwitters Col- lagen also undurchdringliche Rätsel sind (vgl. Abb. 30), handelt es sich bei Carson Bild- sprache um eine lesbare Rhetorik.193

4.2. Interview - Seiten

4.2.1. Spiegel der Vorurteile – Interview mit Mark Lanegan

Besonders großen Gestaltungsaufwand betreibt Carson beim Layout der Interviews. Sie stellen oftmals den Höhepunkt innerhalb der Heftdramaturgie von Ray Gun dar und ver- laufen über eine oder mehrere Doppelseiten. Ein besonders spannungsreiches Layout ist das doppelseitige Interview mit Mark Lanegan in Ray Gun Nr. 13/1994 (Abb. 35). Das lebensgroße Porträt auf der rechten Seite fällt sofort ins Auge. Es zeigt den Sänger der „Screaming Trees“194 in Denkerpose, den Kopf auf die rechte Hand gestützt. Der starke Anschnitt des Portraits wirkt wie ein Fehler. Nahezu die Hälfte des Gesichts ist abge- schnitten, so dass sich die rechte Hand des Sängers in Zentrum des Bildes befindet. Seine lässig zwischen Mittel- und Zeigefinger gehaltene Zigarette unterstreicht den Ein-

189 Vgl. Seifert, Anja, Körper, Maschine, Tod. Zur symbolischen Artikulation in Kunst und Jugendkultur des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 2004, S. 138.

190 Vgl. Scott Jarrett, Marvin, Kuipers, Dean (Hg.) Ray Gun. Out of Control, London 1997.

191 Vgl. Seifert 2004, S. 137.

192 Vgl. Seifert 2004, S. 137.

193 Vgl. Vandendorpe 2003, S. 12.

194 Vgl. Biographie „Mark Lanegan“, in: Laut, http://www.laut.de/Mark-Lanegan, Stand: 10.08.2015. 43

druck eines grüblerischen und melancholischen Künstlers, den das Bild erzeugt. Obwohl es einerseits so stark vergrößert ist, dass die Poren der Haut zu sehen sind, zeigen eini- ge Partien des Gesichts keine Zeichnung. So sind die untere Wange und das Auge des Künstlers vollkommen schwarz. Auf diese Weise wird versprochen, dem Sänger im Inter- view besonders nahe zu kommen und im gleichen Zuge wird ein geheimnisvoller Ein- druck erweckt. Die rote Tonung der Fotografie unterstreicht ebenso wie der drastische Beschnitt des Gesichts die dramatische Wirkung. Eine gestürzte Zeile links neben dem Bild mit dem Text „I think that probably it would be a blood red“195 unterstützt den unheil- schwangeren Eindruck, den das Bild hinterlässt, indem sie das Wortfeld „Blut“ aufruft, das an Krankheit und Tod denken lässt. Die Neugier des Lesers wird geweckt, denn es stellt sich die Vermutung ein, dass der Künstler Mark Lanegan ein dunkles Geheimnis besitzt.

Die Headline auf der rechten Doppelseite zeigt an, dass der Artikel wider die Konventio- nen auf der rechten Seite beginnt. Die sieben Zeilen der Überschrift sind in Versalien und mit negativem Zeilenabstand gesetzt, was die Schrift schwer lesbar macht. Zusätzlich scheint sie, wie das Bild, das Format sprengen zu wollen, da einige Zeilen auf der linken Seite über den Bund laufen und auf der rechten Seite teilweise abgeschnitten sind. Die so erzeugte Dramatik der Seite wird kontrastiert vom Inhalt der Zeilen: „Contrary to popu- lar suspicion, Mark Lanegan is not a suicidal supremely depressed, pained and woeful sole.“196 Lässt der Leser sich vom Eindruck, den das Layout erzeugt, leiten und überliest das aussageverneinende Wort „not“, wird er annehmen, dass der Sänger depressiv und selbstmordgefährdet ist. Die Gestaltung erzeugt einen Gegensatz zum Inhalt der Über- schrift. Der Fließtext darunter bestätigt dies. Im rechtsbündigen Formsatz führt er in das Interview mit Lanegan ein, der einen Monat zuvor im Januar 2014 sein zweites Soloal- bum „Whisky for the Holy Ghost“ veröffentlicht hat.197 Im heiteren Plauderton berichtet die Journalistin Tatyana Mishel im Text von einem entspannten Zusammentreffen mit dem höflichen und freundlichen Sänger in einem Restaurant Seattles. Bei einem mexikani- schen Essen gibt er ihr Auskunft über seine jüngste Platten-Veröffentlichung. Im Gegen- satz zu dem Unheil verheißenden Eindruck, den das Layout erzeugt, ist der Inhalt frei von dramatischen Enthüllungen. Auf der linken Doppelseite folgt in zwei weiteren Spalten, die wiederum in Form und Schriftbild variieren, das eigentliche Interview. Mit den beiden Textspalten und einem kleineren eingerahmten Porträt-Foto Lanegans in der linken obe- ren Ecke wirkt die Seite beinahe wie ein Lebenslauf. Doch auch auf diesem Bild blickt der Sänger nicht in die Kamera, sondern wendet ihr sein Profil zu, so dass nur seine langen Haare zu sehen sind. Ein direkter Blick in die Augen des Künstlers wird also auch hier

195 Ray Gun 13/1994.

196 Ray Gun 13/1994.

197 Vgl. Laut.de/Mark-Lanegan 2015. 44

verweigert. Zunächst ist unklar, wo der Fließtext sich auf dieser Seite fortsetzt. Entgegen der Erwartung des Lesers, dass Text nun von rechts nach links verläuft, da die rechte Spalte die gleiche Schrifttype zeigt wie der einführende Formsatz, beginnt das eigentliche Interview in der linken Spalte.

Im Interview berichtet Lanegan von seiner Vorliebe für christliche Zeremonien. Obwohl er nicht aus einer religiösen Familie stamme, interessiere er sich sehr für diese. Einzig seine Großmutter sei eine fromme Quäkerin gewesen. Die Tatsache, dass auf ihrer Beerdigung viele Hunderte Menschen gewesen seien, habe ihn zu einem Song inspiriert. Es sei aber vermutlich nicht möglich, seine Texte zu analysieren, da er oft selbst nicht wisse, was er genau ausdrücken wolle. Sein Soloprojekt habe er gestartet, um anders als mit seiner angestammten Band Screeming Trees auch leise und melancholische Songs produzie- ren zu können. Er beschreibt seine Stücke als Klagelieder, die er sehr liebe. Gleichzeitig macht er deutlich, dass diese Tatsache nicht bedeutete, dass er depressiv sei. Vielmehr wolle er nur alle musikalischen Möglichkeiten ausloten. Danach berichtet er von seinem Werdegang und den Vor- und Nachteilen des Künstler-Daseins. Abschließend fragt die Interviewerin ihn, ohne dass seine Aussagen Anlass dazu gegeben hätten, auf welche Weise er Selbstmord begehen würde. Daraufhin antwortet Lanegan, er würde recht un- spektakulär Tabletten schlucken, dazu eine schöne Flasche Wein trinken und sich ins Bett legen. Mishel hakt nach, ob dies roter oder weißer Wein sein würde. Seine Antwort findet sich auf der gegenüberliegenden Doppelseite in der gestürzten Textzeile „I think that probably it would be a blood red.“ und löst damit das Rätsel dieser zu Beginn noch unverständlichen Aussage.198

Mit seinem Layout evoziert Carson also zunächst den Eindruck, dass der frühere Front- mann der Screeming Trees, ein dunkles Geheimnis besitzt und möglicherweise depressiv und selbstmordgefährdet ist. Mit dem Lesen des Textes, erweisen sich diese Hinweise jedoch schnell als falsche Fährten, die konträr zur Realität stehen. In seinem zweiten Soloprojekt erprobt Lanegan lediglich ein anderes Register klanglicher und textlicher Möglichkeiten, die im Gegensatz zu der bei dem Label Sub Pop unter Vertrag stehenden extrem lauten Band Screeming Trees stehen.199 Statt „jaulender Sologitarre“200 und ei- nem „Gesangsstil zwischen heiserer Kopfstimme und Flüsterton“201, stehen beim Solo- Projekt Lanegans sanftere Melodien und nachdenklichere Töne im Vordergrund.202 Die Erwartung einer dramatischen Enthüllung, die das regelwidrige Layout Carsons erzeugt,

198 Vgl. Ray Gun 13/1994.

199 Vgl. Laut.de/Mark-Lanegan 2015.

200 Laut.de/Mark-Lanegan 2015.

201 Laut.de/Mark-Lanegan 2015.

202 Vgl. Laut.de/Mark-Lanegan 2015. 45

wird nicht erfüllt. So entpuppt sich die anfangs noch unverständliche gestürzte Textzeile „I think that probably it would be a blood red.“ als banale Aussage, die in keiner Bezie- hung zum Seelenzustand Lanegans steht. Der Künstler ist nicht depressiv und ver- schlossen oder gar Selbstmord gefährdet, sondern zeigt sich freundlich und auskunfts- freudig. Die von Carson erzeugten Brüche und Störungen des Leseflusses spielen also lediglich mit der vermeintlichen Kenntnis des Lesers über den Künstler. Dessen Veröf- fentlichung eines überraschend „sentimentalen“203 und „balladengeschwängerten“204 Al- bums hatte zu Spekulationen über dessen Seelenzustand geführt.205 Durch die unge- wöhnliche und regelwidrige Positionierung des „Aufmacherbildes“ des Artikels und die unleserliche aber sehr prominente Überschrift wird das Interesse des Lesers gefesselt, so dass er motiviert wird, sich die nicht unmittelbar entzifferbaren Zeilen zu erlesen und das vermeintliche Geheimnis, das den gezeigten Künstler zu umgeben scheint, zu ent- schlüsseln. Die Auflösung des Rätsels, also das Erlesen des Textes, ist mit einem Er- kenntnisgewinn verbunden. Sie offenbart die ruhige und gefühlvolle Seite Lanegans, der melancholische und leise Töne ebenso liebt wie den druckvollen Grunge.

Der gezielte und offenbar systematische Regelübertritt Carsons in diesem Layout ähnelt den Strategien der literarischen Gruppe „OuLiPo – Ouvroir de Littérature Potentielle“. Diese Abspaltung der surrealistischen Bewegung, die man übersetzt als „Werkstatt po- tentieller Literatur“ bezeichnen könnte, wurde 1960 von dem französischen Dichter Ray- mond Queneau und dem Ingenieur Francois Le Lionnais gegründet. Anders als die sur- realistischen Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts wollten sie aber nicht aus dem Zufall und dem Unterbewussten schöpfen, sondern gezielt Spielregeln für den Schaf- fensprozess erfinden. Diese sollten durch ihre beschränkende Wirkung die Kreativität befördern. Bestimmte Einschränkungen oder Transformationsregeln, so genannten „con- traintes“ (frz. Zwänge), führten zu Metamorphosen bei der Produktion von Texten, die die Eigendynamik der Sprache offen legten.206 Ein Beispiel für eine solche Vorgehensweise sind Queneaus bereits 1947 veröffentlichten „Exercises de style“ (Abb. 36), in denen der französische Dichter dasselbe banale Ereignis auf 117 verschiedene Arten erzählt. Er variiert darin etwa die Erzählperspektive, ahmt verschiedene literarische oder journalisti- sche Formen nach oder vermeidet bestimmte Buchstaben, wie etwa das im Französi- schen häufig vorkommende „e“. Sein Spiel besteht darin, diese künstlich gesetzten Schwierigkeiten bei der Produktion von Texten zu meistern.207

203 Laut.de/Mark-Lanegan 2015

204 Laut.de/Mark-Lanegan 2015

205 Vgl. Laut.de/Mark-Lanegan 2015.

206 Vgl. Mattenklott, Gundel, Über einige Spiele in Georges Perecs Roman das Leben Gebrauchsanweisung, in: Zeitschrift ästhetische Bildung, 1, 2009, S. 1-3, http://zaeb.net/index.php/zaeb/article/view/10/7, Stand: 11.08.2015.

207 Vgl. Quenau, Raymond, Stilübungen, aus dem Französischen von Ludwig Hartwig und Eugen Helmlé, Berlin 1983. 46

Ebenso verfährt auch Carson. In seinem Layout des Mark Lanegan-Artikels in Ray Gun Nr. 13 unterwirft er sich offensichtlich gezielt der „contrainte“, gegen alle Regeln des klassischen Magazin-Designs zu verstoßen. Er kehrt die Reihenfolge der Seiten um und lässt den Artikel auf der rechten Doppelseite beginnen und ver- schleiert den weiteren Verlauf des Textes. Das einführende Bild positioniert er so, dass es wie irrtümlich verschoben wirkt. Wäh- rend der Beschnitt am rechten Rand quer durch das Gesicht des Porträtierten verläuft, bleibt links und oben ein weißer Rand. Die unscharfe und zu kontrastreiche Fotografie ist rot eingefärbt und erzeugt Assoziationen, die der Atmosphäre des Interviews ent- gegenstehen. Ferner ist die Überschrift mit zu geringem Zeilen- abstand gesetzt und ragt zudem über das Format hinaus, so dass sie nur schwer zu erfassen ist. Der Satz des Fließtextes

variiert in Schrift, Zeilenabstand und Ausrichtung. Hierdurch wird Abb. 36: Raymond Quenau Exercises de style, 1947 n die Regeln guten das Lesen erschwert. Seine Verstöße gege Layouts sind nicht durch den Inhalt des Textes motiviert, sondern spielen mit der Erwar- tung des Lesers. Nach Maßgabe des klassischen Editorial Design sind sie als Fehler zu werten, da sie den Leser in die Irre führen.208 Dennoch meistert Carson die Aufgabe, ein optisch anregendes und kontrastreiches Layout zu entwerfen. Offenkundig erfreut sich Carson ebenfalls an einem kreativen Spiel. Wie die Sprachspiele der OuLiPo-Literaten beinhaltet sein Spiel selbstgesetzte Regeln, die keinen Sinn ergeben, also das Element „ludus“ (griech. das Spiel) enthalten.209 Dieses besteht bei Carsons Arbeit im Erforschen der Entwurfsmöglichkeiten eines Layouts unter der drastischen Vorgabe, dass gegen alle klassischen Regeln der Magazingestaltung zu verstoßen ist. Zweifelsohne enthält seine Arbeit auch das, was die Mitglieder von OuLiPo „Paidia“ (griech. pais = das Kind) nen- nen, also ein kindliches Element, das die gewählten Regeln durchbricht und so ihre Will- kürlichkeit erkennen lässt.210 So ist ersichtlich, dass obwohl sämtliche Layout-Regeln durchbrochen werden, in Carsons Layout trotzdem Spannung entsteht. So erzeugt er auf konventionelle Weise Kontrast, indem er zwei unterschiedlich große Bildmotive an den entgegengesetzten Seiten des Layouts positioniert, diese aber durch ihre Farbigkeit ver- bindet. Schließlich enthält Carsons Arbeit auch die für OuLiPo kennzeichnenden „blancs“ (frz. blanc = die Lücke/die Leerstelle). Die Augen Lanegans werden in den zwei Portraits nie gezeigt. Auf der linken Seite wird es von den Haaren des Künstlers verdeckt, auf der rechten Seite verschwindet es in der Schwärze des kontrastreichen Bildes. Auf diese Weise wird dem Betrachter die Sicht auf „das Fenster zur Seele“ des Künstlers verwehrt,

208 Vgl. Wachsmuth, Gläser 2013, S. 113-151. 209 Vgl. Mattenklott 2009, S. 3.

210 Vgl. Mattenklott 2009, S. 3/4. 47

obwohl er doch scheinbar so nah an ihn herangerückt ist. Carson schafft hier also eine Leerstelle, die der Betrachter füllen kann. Im Ergebnis zeigt sein Spiel die aufbauende und zerstörende Funktion der von ihm gewählten contrainte. Die Wirkung des Inhalts wird durch die Art der Gestaltung teils verstärkt, teils aber auch gestört. Damit stellt Carsons Layout eine Metapher für die Willkürlichkeit von Regeln dar 211 – etwa derer des klassi- schen Magazin-Designs.

Nicht zuletzt ähnelt Carsons Arbeit auch darin dem Werk der Gruppe OuLiPo, dass er - zumindest zunächst - kein Werk hervorbringt,212 denn eine Zeitschrift ist ein ephemeres Druckerzeugnis, das nicht auf dauerhaften Bestand angelegt ist. Damit folgt er auch in diesem Punkt den Dichtern der französischen Literatur-Avantgarde. Diese wollten abge- sehen von ihrem Spiel nichts erreichen, ihre Regeln waren streng aber zweckfrei. Sie wollten kein Werk erschaffen, sondern die mal generative, mal zerstörende Kraft des Spiels erproben.213 Ähnlich verhält es sich bei Carson. Er setzt die Schrift verschiedenen Torturen214 aus und erprobt die „Grenze zwischen Störung und Zerstörung“215. Das Werk der OuLiPoten war häufig sogar auf seine eigene Vernichtung hin angelegt.216 In diesem Punkt weicht Carson zugegebenermaßen von deren Strategie ab. Auch ist seine Regel- widrigkeit nicht gänzlich funktionslos. Sie erreicht ihre Zielgruppe, die Hörer des Grunge. Zudem veröffentlicht Carson seine Arbeiten in Buchform und verleiht ihnen so Werkcha- rakter.217 Ab diesem Zeitpunkt verliert sein Editorial Design den flüchtigen Charakter.218

4.2.2. Authentische Leere – Interview mit Alice in Chains

Eines der bekanntesten Layouts von Carson ist das vierseitige Interview mit der Gruppe „Alice in Chains“ in Ray Gun Nr. 16/1994 (Abb. 37 + 38). Die erste Doppelseite verzichtet auf ein Aufmacherbild. Einziges illustrierendes Element ist der Schriftzug „Alice in Chains“ von Frank Young, der auf der ersten Seite plaziert ist. Er ähnelt dem Logo der Band (Abb. 39), Abb. 39: Logotype „Alie i Chais“ stimmt aber nicht vollkommen mit diesem überein. Der zweizeilige Schriftzug setzt sich

211 Vgl. Mattenklott 2009, S. 10.

212 Vgl. Mattenklott 2009, S. 8.

213 Vgl. Mattenklott 2009, S. 8-10

214 Vgl. Vandendorpe 2003, S. 6.

215 Vgl. Ganslandt 2012, S. 136.

216 Vgl. Mattenklott 2009, S. 8.

217 Vgl. Blackwell, Carson 1995.

218 Vgl. Mattenklott 2009, S. 2. 48

aus handgemalten Groß- und Kleinbuchstaben zusammen, die kaum lesbar sind, da sie teil- weise im Anschnitt stehen, ihre Reihenfolge vertauscht wurde oder sie zusammengezogen wurden. Jeder Buchstabe scheint einer ande- ren Handschrift zu entstammen, so dass die beiden Zeilen nur für den zu entziffern sind, dem das Logo und der Name der Band be- kannt sind. Deutlich sichtbare Deckweiß- Korrekturen an den Rändern des Schriftzuges Abb. 40: Ausschnitt mit Deckweiss-Spuren, (Abb. 40) deuten darauf hin, dass es sich um Ray Gun Nr. 16/1994 erste Entwurfszeichnungen für das Logo han- delt. Auffällig ist der große Weißraum im rechten oberen Bereich der linken Seite, der von dem langgezogenen „c“ des Wortes „Alice“ begrenzt wird.219 Auf der rechten Doppelseite beginnt der Fließtext des Interviews in zweispaltigem Formsatz, der die Flächenaufteilung der linken Seite nachahmt. In weitem Bogen umrahmt die Kontur des Textes den Weiß- raum, der den größten Teil dieser Seite einnimmt. Auf eine einführende Headline oder Subheadline verzichtet Carson. Weder ein Rubrikentitel noch eine Seitenzahl gibt Auf- schluss über den Inhalt des Artikels oder seine Position im Heft. Auf diese Weise wird große Spannung erzeugt, die das Interesse des Lesers weckt. Dieser ist zunächst desorientiert. Denn auch wenn er in der Lage ist, sich das Buchstaben-Konglomerat der linken Seite zu erlesen, erfährt er nicht viel mehr, als dass der Artikel vermutlich von der Band Alice in Chains handelt und ist auf den Fließtext zurückgeworfen, will er Näheres erfahren.

Im Text gibt die Interviewerin Tatjana Mishel ihr Gespräch mit den Mitgliedern der Grun- ge-Band aus Seattle wieder.220 In der Einführung des Interviews schildert sie zunächst ihr Zusammentreffen mit Schlagzeuger Sean Kinney, Gitarrist Jerry Cantrell, Sänger Layne Staley und dem erst kürzlich dazugestoßenen Bassisten Mike Ines in einem Park der Stadt. Die Mitglieder der Gruppe weigern sich auf die Fragen der Journalistin einzugehen und übertreffen sich stattdessen mit Albernheiten und ironischen Bemerkungen. So ant- wortet der Schlagzeuger auf die Frage nach ihrem Antrieb zu der neuen Platte: „We had no intention. We had no songs. We faked it. Were trying to rip kids off with it. Were using that grunge-edge – from Seattle? – we‘re ridin‘ that fuckin‘ wave.“ Mittels Ironie versuchen Alice in Chains dem Vorwurf zuvor zu kommen, nur am Geschäft interessiert zu sein. Nach ihrem überaus erfolgreichen Album „Dirt“ aus dem Jahr 1992, in dem sie ihre per- sönlichen Erfahrungen der Depression und des Drogenmissbrauchs auf musikalisch an-

219 Vgl. Ray Gun 16/1994.

220 Vgl. Thießies, Frank, Küppers, Tom, Rock & Metal. Die Chronik des Krachs, Königswinter 2011, S. 236. 49

spruchsvolle Art verarbeiteten,221 erreichte auch ihre folgende EP „Jar of Flies“ im Januar 1994 sofort Platz eins der Billboard Charts.222 Zusätzlich zu diesem Erfolg hatte die Band Songs als Soundtracks zu Cameron Crowes Film „Singles“ und zu Jon Mc Tiernans „Last Action Hero“ beigesteuert. Fraglos stand die Gruppe nach diesem großen Erfolg im Kon- flikt mit dem Ideal des Antikommerzialismus des Grunge und versuchte mit dem geschil- derten betont unengagierten Verhalten im Interview, dem Verdacht des Ausverkaufs und „Poseurtums“ zuvor zu kommen. Mit schwarzem Humor und Sarkasmus versuchen sie sich vom „Hype“ abzugrenzen. Besonders deutlich wird dies im weiteren Verlauf des Interviews, wenn Kinney scherzhaft behauptet, Scott Weiland, der Sänger der Band „Sto- ne Temple Pilots“ habe das Album in Wahrheit geschrieben und sie seien nur gemietete Interpreten von dessen Musik.223 Die Stone Temple Pilots waren im Jahr 1993 erstmals auf MTV zu sehen und wiesen eine verdächtige Ähnlichkeit mit der Band Pearl Jam auf, die zu diesem Zeitpunkt bereits überaus erfolgreich war. Die offensichtlichen Nachahmer erbosten die Szene und wurden in der Folge zur Metapher für einen offensichtlichen Mangel an Originalität und Authentizität.224 Indem Kinney mit deutlicher Ironie auf diese Band verweist, versucht er, Alice in Chains als authentischen Gegenpart in Stellung zu bringen. Unterstrichen wird dieser Versuch von Staley, der kurz darauf mitten im Inter- view ankündigt, dass er gehen muss. Er hat kein Interesse an Werbung durch die Medi- en, so lautet der Subtext. Diese Verweigerungsstrategie der Band zieht sich durch das gesamte Interview, so dass es kaum substantiellen Inhalt hat. Nichtiges Geplauder über Nebensächlichkeiten wechselt mit ironischen Bemerkungen, so dass der Leser kaum Neues über die Musiker oder die aktuelle EP der Band erfährt. Mit seinem Layout, das auf Headline und Subheadline verzichtet, die den Inhalt ankündigen, illustriert Carson die Inhaltsleere des Interviews. Die hohe Aufmerksamkeit, die der Band Alice in Chains sei- tens des Magazins Ray Gun eingeräumt wird, bleibt von dieser ungenutzt, verdeutlicht das Layout. Angesichts der Ansammlung von ironischen Bemerkungen und Banalitäten, die jeden tieferen Einblick in die Motivation ihrer Arbeit verhindern, bleibt der Leser ge- langweilt und enttäuscht zurück. Diesen Verlauf der Leseerfahrung spiegelt Carsons Layout. Die erste Doppelseite erzeugt eine große Spannung, die auf der folgenden Dop- pelseite nicht eingelöst wird. So zeigt die dritte Seite des Interviews lediglich eine Variati-

221 Vgl. Thießies, Küppers 2011, S. 236. 222 Laut.de/Alice-In-Chains.2015.

223 Vgl. Ray Gun 16/1994.

224 Vgl. Moore 2010, S. 149/150. 50

on des handgemalten Logos, welches schon auf der er- sten Seite zu sehen war. Die vierte Seite ist dann zur Enttäuschung des Lesers eine wahrhafte „Bleiwüste“, die kaum zum Lesen des Interview-Textes animiert. Unter- brochenen wird der eng gesetzte Text nur von einem unscharfen Schnappschuss, der die Bandmitglieder aus der Froschperspektive zeigt, die gelangweilt auf einer städtischen Parkbank sitzen.225 Damit zeigt sie die Merk- male des Fotografie-Stils Petersons. Das Bild wurde sichtbar nachlässig im Layout positioniert, da es einen nur als unmotiviert zu bezeichnenden Abstand zur oberen Abb. 41: Hans Haacke, MoMA-Poll, Begrenzung des Formats zeigt und am linken und unte- MoMA New York, 1970 (Quelle: Düsseldorf 2006) ren Rand fast gar keinen Abstand zum Text lässt. Auf eine Bildunterschrift, die über den genauen Ort, die Namen der einzelnen Bandmitglieder oder über den Autor des Bildes informiert, wurde vollkommen verzichtet. Unverkennbar widmet Carson dem Interview der Gruppe Alice in Chains die gleiche Aufmerksamkeit, wie diese den Fragen der Journalistin Mishel zuteil werden ließ. Gleichzeitig wird durch diese Merkmale des Unperfekten aber auch der Geist des Grunge beschworen. Das Layout präsentiert die Musiker als spröde und unzugänglich und damit wiederum als au- thentische Vertreter des Genres und nicht zuletzt Ray Gun als Medium, das Zugang zu diesem Kosmos besitzt.226

In Interviews deutet Carson an verschiedener Stelle an, dass sich seine Arbeit auf die „Conceptual Art“ beziehe.227 Diese Kunstrichtung, die Mitte der 1960er Jahre entstanden ist, verzichtet auf Metaphern oder traditionelle Ausdrucksformen zu Gunsten einer direk- ten Kommunikation. Ein bekanntes Beispiel ist Hans Haackes „MoMA-Poll“ (Abb. 41) aus dem Jahr 1970. Darin fordert der Künstler die Besucher des Museum of Modern Art zu einer Stimmabgabe über ein politisches Thema auf. Eine sachlich gestaltete Texttafel instruiert die Besucher, ihren Stimmzettel entsprechend ihrer Meinung in die aufgestellten Behälter zu werfen.228 Die Arbeit hat damit keinen expressiven Charakter. Nicht das Werk, sondern das Konzept steht im Vordergrund. Ideen werden hauptsächlich durch den Text kommuniziert.229 Mit ihrer exzessiven Reduktion der Gestaltungsmerkmale erinnert zu-

225 Vgl. Ray Gun 16/1994.

226 Vgl. Ray Gun 16/1994.

227 Vgl. Poynor 1997, S. 114.

228 Vgl. Flügge, Matthias, Fleck, Robert (Hg.) Hans Haacke - wirklich. Werke 1959-2006, Aust. Kat. Berlin, Akademie der Künste,18.11.2006 – 14.01.2007, Hamburg, Deichtorhallen, 17.11.2007 – 04.02.2007, Düsseldorf 2006, S. 66-73.

229 Vgl. Schneider, Dunja, Worträume. Studien zu Funktion von Typografie in Installateuren Werken von der Conceptual Art bis heute, Münster 2011, S. 46. 51

mindest die erste Doppelseite von Carsons Entwurf ein wenig an die Conceptual Art.230 So scheint der sparsame Einsatz des Fließtextes auf der rechten Seite des Layouts auf eine Entmaterialisierung des Werkes hinzudeuten. Zudem verwendet Carson hier keine Bildelemente,231 sondern greift einzig auf Typografie als Ausdrucksmittel zurück.232 Statt eines Bildes erscheint auch auf der linken Seite nur Text. Doch diese Variation des Schriftzuges Alice in Chains ist keineswegs von individuellem Ausdruck befreit. Anders als die Conceptual Art, die die Schrift gern als bloßes Medium der Vermittlung verwendet, da dies die „Verlagerung der Kunstwerke vom Materiellen zum Intellektuellen“ beförde- re,233 erinnern die groben Pinselstriche des Schriftzuges viel eher an den impulsiven Ausdruck des Abstrakten Expressionismus.234 Während die Conceptual Art Schrift, Land- karten und Diagramme als Medium der sachlichen Vermittlung nutzte und zumeist im nüchternen Gewand der Minimal Art auftrat,235 sind die Buchstaben in Carsons Entwurf offenkundig expressiv gemeint.236 Mit dem Einsatz des unregelmäßigen und mit Korrektu- ren behafteten Logo-Entwurfs von Young, veranschaulicht er die Arbeitsweise der Grun- ge-Band Alice in Chains und den Charakter ihrer neuen EP. Diese ist, wie die Band im Interview berichtet, ein strikt improvisierter Mix. Da sie innerhalb von nur einer Woche aufgenommen wurde, zeigt sie eine rohe spontane Kraft,237 ganz so wie das Rohlayout Youngs für das Logo von Alice in Chains, das dicke Deckweißspuren zeigt (vgl. Abb. 40). Damit unterscheidet sich Carsons Entwurf in Ästhetik und Intention deutlich von der klas- sischen Conceptual Art. Auch den großen Weißraum auf der ersten Doppelseite setzt Carson anders als die Künstler dieser Richtung metaphorisch ein. Er ist die optische Ma- nifestation des inhaltsleeren Interviews mit Alice in Chains, das sich fast ausschließlich in der Demonstration grunge-gemäßem Losertums der Band erschöpft. Damit steht der Weißraum nicht für eine Entmaterialisierung, sondern ist gestisch subjektiv zu lesen.238 Die Negativform, die über dem Formsatz der rechten Doppelseite verbleibt, besitzt also eine Bedeutung und ist kein neutraler Hintergrund.

Ein letztes Merkmal, das zunächst auf Carsons Entwurf zuzutreffen scheint, erweist sich ebenfalls als nicht haltbar. Die Künstler der Conceptual Art sind angetreten, um traditio- nelle Formen aufzubrechen und ästhetische Dogmen infrage zu stellen.239 Auch Carson

230 Vgl. Honour, Hugh, Fleming, John, Weltgeschichte der Kunst, erweiterte u. neugestalt. Aufl., München 1999, S. 765. 231 Vgl. Schneider 2011, S. 38.

232 Vgl. Schneider 2011, S. 44.

233 Lee zitiert nach Schneider 1996, S. 121.

234 Vgl. Vgl. Honour, Fleming 1999, S. 752/753.

235 Vgl. Schneider 2011, S. 39/40.

236 Vgl. Schneider 2011, S. 38/39.

237 Vgl. Ray Gun 16/1994.

238 Vgl. Vandendorpe 2003, S. 16/17.

239 Vgl. Schneider 2011, S. 38/39. 52

gibt sich als Rebell, der die Konventionen des Zeitschriftendesigns bricht, wie er in „The End of Print“ darlegt.240 Aber wie ein Blick auf seine Vorläufer Wolfgang Weingart (vgl. Abb. 9) und April Greiman (vgl. Abb. 10) zeigt, nutzte er auf geschickte und virtuose Wei- se Ideen, die bereits da waren. So können viele der Gestaltungsideen, die Carson als plötzliche Eingebung präsentiert, auf die Avantgarde des Grafikdesigns der 1970er und 1980er Jahre zurückgeführt werden.241 Er hat die Ideen der Avantgarde in der Realität erprobt.242 Zusammengenommen lassen sich also keine Indizien in Carson Arbeit finden, die auf eine Verwandtschaft mit der klassischen Conceptual Art hinweisen.

4.2.3. Spiel mit der Erwartung – Interview mit Deconstruction

Das doppelseitige Interview in Ausgabe Nr. 19/1994 (Abb. 42) zeichnet sich durch eine besonders spannungsreiche Gestaltung aus. Während die rechte Seite von unregelmä- ßigen Textblöcken dominiert wird, zeigt die linke Seite zwei monochrome Fotografien, die einen Komplementärkontrast bilden. Im unteren Drittel der linken Seite ist die Aufnahme einer tristen amerikanischen Straßenszene mit leeren Ladenlokalen und einer Bar im Zentrum zu sehen. Sie wurde mit einem Fischaugenobjektiv aufgenommen. Die rote To- nung der Aufnahme und die verzerrten Ränder erzeugen eine albtraumhafte bedrohliche Atmosphäre. Der obere Bereich des Bildes wird von einer anderen Aufnahme mit grüner Tonung überlagert, die die Halbfigur eines jungen Mannes mit nacktem Oberkörper zeigt. Wie ein Flaschengeist scheint er aus der „American BAR“ der darunter liegenden Stra- ßenszene aufzusteigen.243 Die Arme vor dem nackten Oberkörper verschränkt blickt er mit emporgerecktem Kinn stolz rechts aus dem Bild. Es ist Dave Navarro, der ehemalige Leadgitarrist der Band „Janes Addiction“, die als Wegbereiter des Grunge gilt. Nachdem Perry Farrall, der Mastermind der Gruppe, mit dem Schlagzeuger Stephen Perkins 1993 eine zweite Band namens „Porno for Pyros“ gegründet hatte, emanzipierten sich die übri- gen Mitglieder der Band mit einem eigenen Projekt. Im Jahr 1993 gründeten auch Dave Navarro und Bassist Eric Avery von Janes Addiction, gemeinsam mit Michael Murphy als Schlagzeuger ein eigenes Projekt namens „deconstruction“.244 Mit ihrem ersten und ein- zigen Album gleichen Namens erzielten sie einen Achtungserfolg. Vor allem die überra- schend experimentelle Herangehensweise beeindruckte viele Kritiker und untermauerte

240 Vgl. Blackwell, Carson 1995, S. 30.

241 Vgl. Poynor 1997, S. 108.

242 Vgl. Poynor 2003, S. 58.

243 Vgl. Ray Gun 19/1994.

244 Vgl. Raggett, Ned, Review deconstruction, in: Allmusic, http://www.allmusic.com/album/deconstruction-mw0000115354, Stand: 22.07.2015. 53

Navarros und Averys Status als eigenständige Künstler.245 Diesen Aufstieg veranschau- licht Carsons Collage. Die beiden gegeneinander gesetzten Bilder in den Komplementär- farben Rot und Grün steigern einander und illustrieren den Aufstieg des Gitarristen Na- varro von einem „Nobody“ in der Hölle der Vorstadt zu einem respektierten Künstler.

Da Bildunterschriften, die näheren Aufschluss über den Inhalt des Artikels geben könn- ten, in Carsons Layout vollkommen fehlen, sucht der Betrachter weitergehende Informa- tion in den Überschriften. Die Headline, bestehend nur aus dem Wort „deconstruction“, verweist auf das Album der gleichnamigen Band. Die vier Textzeilen der hellgrauen Sub- headline „the unworthy become rich, the /unhappy are medicated and the /unheard are asked to choke /on their rage.“246 überlagern den Kopf Navarros und implizieren damit, Gedankenstrom des Künstlers zu sein. Die Zeilen scheinen sein Gefühl der Ungerechtig- keit der Welt wiederzugeben. Auf diese Weise wird die Neugier des Lesers angeregt, der nun hofft, im Fließtext einen genaueren Einblick in die Gedankenwelt Navarros zu be- kommen. Ein direkter Einstieg in den folgenden Text wird allerdings zunächst unterbun- den. Der Fließtext in der schmalen ersten Textspalte, die räumlich unangebunden neben der farbigen Collage plaziert wurde, beginnt mitten im Satz mit den Worten „hair and green hair years.“ und ist damit zunächst unverständlich. Auch das darunter eingefügte unscharfe kleine Schwarz-weiß-Bild, das eine Straßenszene bei Nacht darstellen könnte, gibt keinerlei Hinweis auf den Inhalt. Somit wandert das Auge auf die rechte Doppelseite, wo das Interview tatsächlich beginnt. Unterbrochen von zwei kleineren Bildern, die die Farben Grün und Rot wieder aufgreifen und damit die Zusammengehörigkeit beider Sei- ten anzeigen, folgt nun die Wiedergabe eines Interviews in fünf extrem unregelmäßig gesetzten Textspalten. Beginnend mit einer breiten rechtwinkligen Spalte, die sich gegen Ende der Seite stark verjüngt, setzt sich der Interviewtext in chaotisch und zerstückelt wirkenden Spalten fort. Sie sind unrechtwinklig verformt und teilweise ineinander ge- schoben. Am Ende der ersten Spalte ist demzufolge unklar, wo der Text sich fortsetzt. Das Auge des Lesers muss mehrere Versuche unternehmen, bis es den richtigen An- schluss gefunden hat. Die letzte Spalte der Seite ist teilweise aus dem Format gerückt, so dass nur noch der linke Teil lesbar ist. Auch das Schriftbild ist disharmonisch. Die Buchstabenabstände und der Zeilenabstand der schmalen Groteskschrift sind teilweise sehr unausgeglichen. Einzelne Sätze und Worte erscheinen gesperrt und die Schriftlinie variiert von Spalte zu Spalte.

Im Text wird ein Interview von Chuck Crisafully mit Eric Avery und nicht etwa mit Dave Navarro, wie das große Einführungsbild vermuten lässt, wiedergegeben. Es beginnt mit

245 Vgl. Sinclair, Tom, Deconstruction by Deconstruction, in: Rolling Stone, 10/1994, http://somediverswhistle.com/decon- reviews.html, Stand: 22.07.2015.

246 Vgl. Ray Gun 19/1994. 54 einer Art Exposition, die die Stadt Los Angeles als zwiespältigen Ort beschreibt, der vor- dergründig Lebensfreude ausstrahlt, in Wahrheit aber ein Ort des trivialen Amüsements und des Scheiterns ist. Daraufhin folgt die Wiedergabe einiger Interview-Passagen mit Avery, der nicht nur der Bassist, sondern auch der Songschreiber von deconstruction ist. Er beschreibt seinen eigenen Werdegang, der eine Wandlung seiner Lebensführung und seiner Einstellung herbeigeführt habe. Wie andere habe er seine Heimatstadt früher ge- ring geschätzt und dies bejammert. Heute sei ihm dagegen klar, dass er ein Teil von Los Angeles sei und einiges zur Verteidigung dieser Stadt zu sagen habe. Freilich sei es viel schwieriger, ehrliche Erfahrungen in seinen Texten auszudrücken als stetig die Überzeu- gung zu wiederholen, dass die kalifornische Stadt zu nichts nutze sei und das Leben hier keinen Sinn habe. Das Album deconstruction spiegelt nach eigener Aussage seine wechselvollen Erfahrungen in Los Angeles. Hierzu gehören sein persönlicher Drogenent- zug und seine Entwicklung zu einem sich selbst reflektierenden Künstler.

Indem Carson den Text des Interviews in zerrissenen Spalten mit unausgeglichenem Text präsentiert, illustriert er die Aussage Averys im Interview. Ähnlich wie die Summe der unregelmäßigen Textspalten mit ihren ungewöhnlich geformten Leerräumen ein op- tisch reizvolles und kontrastreiches Layout bilden, so ermöglichten erst die persönlichen Niederlagen und Irrwege in Averys Leben die Produktion eines so authentischen und abwechslungsreichen Albums, wie es deconstruction ist, wird hier nahe gelegt. Der un- gewöhnliche Satz des Textes illustriert also die unerwartet authentische und daher im Ergebnis überraschende Dynamik der Musik und Texte des Albums. Ob alle Eingriffe in den Text sich auf konkrete Inhalte beziehen, muss allerdings bezweifelt werden, oft steht ihre ästheti- sche Wirkung im Vordergrund. Einige Textspalten enthalten Einschnitte und fehlerhafte Trennungen, die nur lose inhaltlich motiviert sind. Einzelne Wörter samt Interpunktion hebt Carson durch einen extrem großen Buchstabenabstand hervor. Beispiele sind das Wort „own.“ (Abb. 43) in der ersten Spalte und das Wort „cool.“ im rechten Teil der zweiten Spalte. Abb. 43: Ausschnitt deconstruction- Diese Hervorhebungen konterkarieren den Inhalt Interview, Ray Gun Nr. 19/1994 des Interviews, da Avery sich ja gerade nicht mög- lichst cool präsentieren möchte, sondern Kontakt zu seinen Hörern herstellen und sein Leben und seine Gefühle aufrichtig und ehrlich reflektieren möchte. Daneben werden innerhalb des Artikels auch einzelne Wörter hervorgehoben, die inhaltlich unbedeutend sind, wie das Wort „and“ in der zweiten Spalte. Bei den Einschnitten in den Fließtext han- delt es sich meist nur um ein ästhetisch motiviertes Spiel mit dem Satz, in einigen Fällen aber auch um konzeptuelle Hervorhebungen, die den Inhalt des Interviews infrage stel-

55

len. Zu Letzteren zählt der Umgang mit der letzten Textspalte auf der rechten Seite. Car- son schiebt diese so aus dem Format, dass ein Teil des Interviews abgeschnitten ist. Auf diese Weise wird auch der Inhalt des noch lesbaren Textes infrage gestellt. Dem gezeig- ten Teil lässt sich zwar entnehmen, dass es Averys erklärtes Ziel ist, nicht „cool“ zu sein, sondern zu riskieren, authentische Gefühle zu äußern und damit etwas „Uncooles“ zu sagen,247 dadurch, dass ein Teil der Botschaft aber abgeschnitten ist, wird die Bedeutung wieder infrage gestellt. Denn es ist selbstverständlich nicht ausgeschlossen, dass der abgeschnittene Teil ein sinnumkehrendes Verneinungswort enthält. Diese Restunsicher- heit des Lesers wird durch das in den Text eingeschobene Porträtfoto des Bassisten und Texters der Gruppe verstärkt. Es zeigt Avery in betont unnahbarer, „cooler“ Pose mit Kapuzenjacke und Zigarette im Mund, den Blick gleichgültig aus dem Bild gewandt. Da- mit konterkariert es den Inhalt des Interviews.

Aufgelöst wird diese durch Satz und Bildwahl erzeugte Widersprüchlichkeit erst in dem letzten Textblock, der sich auf der vorangegangenen Seite befindet und eingangs zu- sammenhanglos erschien. Darin betont Avery sein Bestreben, ehrliche Texte zu schrei- ben, die frei von Sarkasmus und falschen Gefühlen sind. Hier wird die durch Carsons Layout erzeugte Doppeldeutigkeit wieder aufgelöst und die eigentliche Kernaussage des Interviews an den Anfang des Textes gestellt. Avery berichtet in den ersten Zeilen von seinen Anfängen als Musiker, als er noch glaubte, mit blauen oder grünen Haaren auffal- len zu müssen, um Jemand zu sein. Hier wird das Rätsel gelöst. Die Mehrdeutigkeit, die durch das Layout des Artikels entsteht, hat die Funktion, Hörer der Band anzuziehen. Indem sie die verbreitete Vermutung, Text und Musik der Band deconstruction sei vor allem nihilistisch und ironisch gemeint, zunächst scheinbar bestätigt, motiviert sie die Rezipienten von Ray Gun zum Lesen des Artikels. Im Verlauf der Lektüre wird diese Sichtweise infrage gestellt und schließlich als falsch entlarvt. Das Layout hat also die Funktion, die Aufmerksamkeit des Konsumenten der Zeitschrift zu binden und die Gruppe in ihrer Ambivalenz darzustellen. Das Erlesen des Artikels wird mit der Auflösung des anfänglich schwer verständlich erscheinenden Layouts und einem überraschenden Er- kenntnisgewinn über die Band belohnt.

Carsons virtuoser Umgang mit der Typografie weist Parallelen zur „Visuellen Poesie“ auf. Er strapaziert gültige Regeln der Syntax und des Schriftsatzes und verlangsamt auf diese Weise die Wahrnehmung des Textes zu Gunsten seiner optischen Wirkung. Wie der französische Dichter Stéphane Mallarmé spielt er mit der Typografie, um routiniertes Lesen zu verhindern.248 Mag die Ästhetik Carsons auch stark von der Mallarmés abwei- chen, so eint beide doch die Nutzung der Schrift als grafischem Element, mit dem Ziel,

247 Vgl. Ray Gun 19/1994.

248 Vgl. Vandendorpe 2003, S. 17. 56

ihre Wirkung auf die Sin- ne zu steigern.249 In sei- nem Gedicht „Un coup de dés jamais nabolira le hasard“ (Abb. 44) ver- streut Mallarmé Text über die Seiten, um verschie- dene Ideen hervorzurufen und Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Der gewähl- ten Schrift, ihrem Satz und dem sie umgebenden

Abb. 44: Stéphane Mallarmé, Seite aus „Un coup de dés jamais n'abolira Weißraum kommt hierbei le hasard“, 1897 Quelle: Megg’s, Puris , S. 6 besondere Bedeutung zu.250 Dass sich auch Carson der Wirkung dieser Elemente bewusst ist und diese gezielt einsetzt, ist in seinem Layout des Interviews mit Avery augenfällig. Es illustriert neben dem wechselvollen Lebensweg Averys die Beschaffenheit von Musik und Texten der Stücke des Albums deconstruction. Tom Sinclair beschreibt diese im Rolling Stone als „elaborately constructed tone poems that unfold in a loopy manner characterized by ab- rupt instrumental mood swings“251. Carsons Entwurf mit seinen unregelmäßigen Spalten, optischen Einschnitten und gesperrten Wörtern wirkt chaotisch und gleichzeitig raffiniert und illustriert so den Reiz der Musik und Texte von deconstruction, die wiederum von den unerwarteten Wendungen in Averys Leben inspiriert sind. Im Ganzen betrachtet ergibt die von Carson gestaltete Doppelseite, ebenso wie die nonlineare Musik von de- construction aber wieder ein harmonisches Ganzes, wird hier verdeutlicht.

Die kantigen Weißräume zwischen den ineinander verschachtelten Textblöcken steigern die Wirkung der Komposition noch. Fast glaubt der Betrachter in den massiven Textspal- ten riesige Versalien erkennen zu können wie etwa die Initiale „N“. Sie könnte für den Gitarristen der Band Navarro stehen (vgl. Abb. 42). Hierdurch könnte der Betrachter sich veranlasst sehen, darüber zu spekulieren, wer der eigentliche Kopf von deconstruction ist, der schillernde Navarro oder der weniger selbstbewusste aber begabte Songwriter Eric Avery.252 Doch die letzte Textspalte, die rechts im Anschnitt steht, durchkreuzt die

249 Vgl. Vandendorpe 2003, S. 19.

250 Vgl. Meggs, Purvis 2012, S. 262/263.

251 Sinclair 2014.

252 Vgl. Davis, Daniel Orion, AMG Rating. 4 stars (out of 5), in: All Music Guide, http://somediverswhistle.com /decon- reviews.html, Stand: 06.08.2015. 57

Deutung der Textblöcke als Buchstaben.253 Carson legt also falsche Fährten, die dem Inhalt entgegenstehen. Streng genommen gibt der Artikel ein Interview mit Erik Avery wieder und nicht mit Dave Navarro, wie es das Layout der Doppelseite auf den ersten Blick impliziert. Ähnlich wie Mallarmé in seinem symbolistischen Werk erzeugt Carson also bewusst Unklarheiten und Doppeldeutigkeit innerhalb seines Layouts, so dass der Leser seine eigenen Schlüsse ziehen muss.254 In Abgrenzung zu diesem illustriert Car- son allerdings spezifische persönliche Erfahrungen und bietet hier zudem anders als der französische Dichter eine abschließende Auflösung an, die abweichende Deutungen nachträglich als Irrweg sichtbar macht. Mallarmé dagegen schuf eine „subjektfreie Dich- tung“, die „nicht Ausdruck von irgendwas“ sein will, „sondern ein selbstbezügliches Gebil- de aus Sprache“ ist.255 Sein Antrieb war das Misstrauen gegenüber der Sprache ange- sichts der Entstehung von Massenmedien in der Mitte des 19. Jahrhunderts.256 Carson dagegen geht es nach eigener Aussage um die visuelle Interpretation der Texte.257 Seine Gestaltung ist also Ausdruck von etwas. Er illustriert abweichende Sichtweisen auf die interviewten Künstler. Damit unterscheidet sich seine Zielsetzung von den Vertretern der Visuellen Poesie. Während diese die Abbildfunktion der Sprache infrage stellten,258 nutzt Carson die Typografie, um die Ausdrucksformen der Sprache zu erweitern.

Besonders große Übereinstimmung weisen Carsons Layouts in diesem Punkt mit den Arbeiten der Futuristen auf, von denen viele ebenfalls Gebrauchsgrafiker waren.259 Auch sie schufen eine Visuelle Poesie fern der korrekten Syntax und Grammatik, um ihre Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern. Sie verwendeten mehrere Farben und viele verschiedene Schrif- typen auf einer Seite, um bestimmte Dispositionen und Emotionen auszu- drücken.260 So wählten sie beispiels- weise eine kursive Schrift zur Darstel-

lung hoher Geschwindigkeit oder eine Abb. 45: Filippo Marietti, Magazi „)ag Tu Tu“ 9 Quelle: Megg’s, Puris , S. 6 fette Schrift, um großen Lärm auszu-

253 Vgl. Ray Gun 19/1994.

254 Vgl. Vandendorpe 2003, S. 17.

255 Vgl. Jeßling, Benedikt, Köhnen, Ralph, Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft, Stuttgart 2007, S. 153. 256 Vgl. Vandendorpe 2003, S. 18.

257 Vgl. Blackwell, Carson 1995.

258 Vgl. Jeßling, Köhnen 2007, S. 153. 259 Vgl. Vandendorpe 2003, S. 19.

260 Vgl. Meggs, Purvis 2012, S. 259. 58

drücken. Wie Carson setzten sie Texte im Formsatz oder verstreuten Buchstaben über das ganze Format.261 Filippo Marinetti, der Kopf dieser revolutionären Bewegung, veröf- fentlichte 1909 in der Zeitung „Le Figaro“ sein Manifest, in dem er eine neue aggressive Kunst propagierte, die Gefahr, Energie und Furchtlosigkeit ausstrahlen sollte. Mit dieser Provokation lehnte er sich gegen die herrschende bürgerliche Ordnung auf. Er und seine Mitstreiter verherrlichten den Krieg, die Geschwindigkeit, das Maschinenzeitalter und das moderne Leben zu Beginn des 20. Jahrhunderts.262 Daher forderten sie auch eine typo- grafische Revolution, die sich zu Gunsten des Ausdrucks gegen klassische Traditionen und Harmonie wendet, wie der Titelentwurf Marinettis für sein futuristisches Magazin „Zang Tumb Tumb“ aus dem Jahr 1912 zeigt (Abb. 45). Ähnlich geht Carson vor. Er rich- tet sich bei der Schriftwahl nach dem Inhalt. So verwendet er nach eigener Aussage „für brutale Themen eine eiserne Schrift und für sanfte Sujets lyrische Kompositionen“.263 Fehler und Korrekturzeichen setzt er als Stilmittel ein,264 um Emotionen auszulösen. Im Gegensatz zum Futurismus propagiert Carson aber nicht eine Wahrheit. Er bringt in sei- nen Layouts verschiedene Sichtweisen zum Ausdruck. Mit seiner Gestaltung reflektiert er widerstreitende Einschätzungen der Musiker. Statt der Fortschrittsgläubigkeit des frühen 20. Jahrhunderts transportiert er so er das unsichere Lebensgefühl der chancenlosen Jugend im neoliberalen Amerika der 1980er und 1990er Jahre, das zwischen Zukunfts- angst, Wut und Depression schwankt.

261 Vgl. Meggs, Purvis 2012, S. 261.

262 Vgl. Meggs, Purvis 2012, S. 259.

263 Blackwell, Carson 1995, S. 30.

264 Vgl. Blackwell, Carson 1995, S. 31. 59

5. Sinnreiches Spiel

Ziel dieser Arbeit war es, das Editorial Design David Carsons für die Zeitschrift Ray Gun eingehender zu analysieren als dies bisher geschehen ist. Zu diesem Zweck wurden Beispiele der wichtigsten journalistischen Formen des Hefts hinsichtlich ihres Zusam- menhangs zwischen Form und Inhalt untersucht. Hierbei ist deutlich geworden, dass der kalifornische Grafik-Designer die Konventionen des Magazin-Designs systematisch igno- riert und so Brüche erzeugt, die anders als vielfach behauptet nicht nur Styling sind, son- dern auch inhaltliche Bedeutung haben. Erwecken die von Carson gestalteten Seiten auf den ersten Blick auch den Eindruck, jeglichen Sinn lediglich zerstören zu wollen, so lässt sich bei gemeinsamer Betrachtung von Form und Inhalt und dessen Kontext feststellen, dass in den Layouts spezifische Widersprüche enthalten sind, die eine Funktion besitzen. Mittels äußerer Zerlegung werden inhaltliche Gegensätze erzeugt oder Fehlleitungen ausgelöst, welche die im Magazin vorgestellten Musiker in ihrer Widersprüchlichkeit dar- stellen und dadurch den Betrachter auffordern, sich eine eigene Meinung zu bilden. Car- son schafft nicht nur große Spannung, die den Leser fesselt, sondern auch verschiedene Bedeutungsebenen, die der kundige Rezipent entschlüsseln kann. Ironische Fehlleitun- gen bringen dabei die konträren Einschätzungen verschiedener Musiker innerhalb der Mainstream-Öffentlichkeit und der Gegenkultur des Grunge oder die voneinander abwei- chenden Positionen zu einem Künstler innerhalb der Gegenkultur zum Ausdruck. Damit stellt Carson die jeweiligen Künstler oder die Bands in ihrer Komplexität dar.

Darüber hinaus konnte festgestellt werden, dass Carson bekannte künstlerische Strate- gien anwendet. So konnten Übereinstimmungen mit dem Dadaismus nachgewiesen wer- den, insbesondere mit der Kombinatorik Schwitters. Es hat sich allerdings auch gezeigt, dass Carsons Layouts weit weniger hermetisch sind als etwa die Kompositionen Schwit- ters. Die einzelnen Elemente können je nach Wissensstand vom Leser zusammengefügt werden, so dass sich dieser die verschiedene Bedeutungsschichten der Layouts er- schließen kann. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Parallelen zur Visuellen Poesie. Während der Grafik-Designer ähnliche Techniken wie die Avantgarde nutzt, so unter- scheidet sich seine Arbeit darin von Künstlern wie Mallarmé, dass er Hinweise zur Ent- schlüsselung des Kontextes und damit der Bedeutung integriert. Carsons Rätsel sind lösbar. Damit ähnelt seine Arbeit eher der Vorgehensweise der Futuristen, die sich zu Gunsten des Ausdrucks von Emotionen gegen klassische Formen aufgelehnt hatten. Allerdings besitzt die Arbeit des kalifornischen Designers nicht deren eindimensionalen und propagandistischen Charakter. Während die Futuristen zu Revolution und Gewalt aufriefen, gibt Carson das zwiespältige Lebensgefühl des Grunge wieder, das zwischen Wut und Apathie changiert.

60

Zur Conceptual Art ergaben sich nur spärliche Bezüge. Obwohl der Grafik-Designer selbst immer wieder auf eine Verbindung seiner Arbeit zu dieser Kunstrichtung der 1960er Jahre hinweist, lassen sich kaum Übereinstimmungen mit deren Vorgehensweise nachweisen. Zwar spielt auch Carson unter Einbeziehung des Betrachters mit Kontexten und Assoziationen, doch zeigen seine Arbeiten deutlich gestische Elemente und lassen obendrein die charakteristische Entmaterialisierung vermissen. Weit größere Parallelen bestehen zu gegenkulturellen Praktiken, wie der Bricolage, mit der Carson auf symboli- sche Weise die Unabhängigkeit des noch jungen Musik-Magazins Ray Gun unterstreicht. Die größte Nähe weist sein Editorial Design aber eindeutig mit einer Abspaltung der sur- realistischen Bewegung auf – der Gruppe OuLiPo - Ouvroir de Littérature Potentielle. Genau wie diese erprobt er die Auswirkungen einer selbstgesetzten Einschränkung zur Beförderung der Kreativität. Carson überträgt deren Methode des Spiels auf eine andere Disziplin. Statt auf die Literatur wendet er ihre Techniken auf das Grafik-Design eines Magazins an und gelangt so zu überraschenden Lösungen, die die aufbauende und ab- bauende Kraft von Regeln aufzeigen. Damit reflektiert er auf künstlerische Weise die Konventionen des Editorial Designs.

Es bleibt festzuhalten, dass Carson Layouts weder an den logischen Zentren des Ge- hirns vorbei kommunizieren, wie Byrne behauptet, noch bloßes Styling sind, wie Poynor vermutet. Vielmehr handelt es sich dabei um Bilderrätsel, die durchdachte Mehrfach- codierungen enthalten und so verschiedene Sichtweisen auf die Inhalte von Ray Gun aufzeigen. Dabei greift Carson auf bekannte Ideen der Avantgarde zurück und erprobt sie im Alltag des Magazin-Designs. Darin besteht sein Verdienst. Insgesamt lässt sich der Schluss ziehen, dass sein umstrittenes Werk keineswegs als leeres Marketing-Tool ab- getan werden kann, sondern die Schwelle zur Kunst überschreitet.

Nachdem deutlich geworden ist, dass die Arbeit Carsons sich nicht in der Störung oder dem Styling erschöpft, stellt sich die Frage, mit welchem Instrumentarium sich sein Werk noch genauer untersuchen ließe. Aufgrund der Beschränkung der Zeit und der offenen Fragestellung war es in dieser Arbeit nicht möglich, genauer auf die Verweisrelationen zwischen den enthaltenen Zeichen und ihren Bezugsgrößen einzugehen. Zukünftige Nachforschungen sollten sich darauf konzentrieren, diese genauer zu beschreiben und hierfür gegebenenfalls semiotische Kategorien heranziehen, wie Ganslandt es bereits begonnen hat. Eine solche Analyse verspricht exaktere Erkenntnisse über die Beschaf- fenheit und den Einsatz von Zeichen in Carsons Layout und ermöglicht so tiefere Einsich- ten in die Funktionsweise seiner alternativen Kommunikationsstrategien. Im Anschluss ließe sich auch ein Vergleich von Carsons Editorial Design mit den Entwürfen der Cran- brook-Studenten anstellen. Diese akademischen Vorläufer der 1980er Jahre werden stets als Messlatte zur Beurteilung des Autodidakten herangezogen, sind aber ebenfalls noch kaum wissenschaftlich untersucht. Nachforschungen in diesem Bereich könnten 61 also bei der Analyse der Sprachfähigkeit von Carsons Layout hilfreich sein. Überdies könnten die so gewonnenen Erkenntnisse bei der Einordnung des vielfältigen Grafik- Designs wertvoll sein, das in der produktiven Phase der digitalen Revolution entstanden ist. ca. 19.100 Wörter

62

Ab b i l d u n g st e i l

Abb. 35: Doppelseite aus Ray Gun Nr. 13/1994, Interview mit Mark Lanegan Doppelseite aus „Ray Gun“ Nr. 13/1994, Interview mit Mark Lanegan (keine Seitennummerierung)

Abb. 37: Doppelseite 1 aus Ray Gun Nr. 16/1994, Interview mit Alice in Chains

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