Mitteilungen

Nr. 20 (2009)

Beiträge H.-W. Schütt: Noch ein ‚Vorentdecker’ des Sauerstoffs: Abraham Eleazar ...... 3 H. Andreas: Friedlieb Ferdinand Runge: Wegbereiter der Teerfarbenchemie? ...... 9 M. Haustein, J. Zaun: Die Sammlung chemischer Präparate der TU Berg- akademie Freiberg – Clemens Winklers materielle Spuren ...... 23 W. Scheinert: Triphenylmethanfarbstoffe bei den Chemischen Fabriken vorm. Weiler-ter Meer und ihren Vorläuferfirmen ...... 43 K.-D. Röker: Vulkanisation – chemische Reaktion oder Absorptions- vorgang? Eine Kontroverse zu Beginn des 20. Jhdts ...... 68 R. Aust, Der schwierige Weg zum synthetischen Kautschuk – ein Weg mit Zufällen und Forschungsimpulsen ...... 83 H. Gilch: Die Erfinder von und Perlon: Wallace H. Carothers und Paul Schlack ...... 98 S. Niese: Mottenkugeln zum Nachweis der Kernstrahlung: Hartmut Kallmann (1896-1978) und die organischen Szintillatoren ...... 116 P. Löhnert: Richard May, Theodor Mariam, Oskar Falek: Schicksale jüdischer Chemiker in der Farbenfabrik Wolfen nach 1933 ...... 137

Dokumentation und Information G. Boeck: Ernst August Geitner (1783-1852) – Arzt, Chemiker, Metallurge, Erfinder und Unternehmer ...... 173 H. Stegemeyer: Vom Cholesterin zum Flachbildschirm: Eine Ausstellung zur Geschichte der Flüssigkristall-Forschung in Gießen ...... 175 G. Boeck, M. Lehmann: Julius Adolph Stöckhardt zum 200. Geburtstag .. 180

Aus dem Fachgebiet ...... 184 Stipendien und Preise ...... 187 Eingesandte Neuerscheinungen ...... 189

Gesamt-Inhaltsverzeichnis 1 (1988) – 20 (2008) ...... 192

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Mitteilungen Nr. 20 (2009)

Herausgegeben von der Fachgruppe "Geschichte der Chemie" in der Gesellschaft Deutscher Chemiker ISSN 0934-8506 Varrentrappstraße 40-42, D-60486 Frankfurt am Main Postfach 900440, D-60444 Frankfurt am Main

Vorstand:

Prof. Dr. Carsten Reinhardt (Bielefeld), Vorsitzender Prof. Dr. Dietmar Linke (Cottbus), stellv. Vorsitzender

Dr. Helmut Bode (Dessau) Dr. Gisela Boeck (Rostock) Ralf Hahn (Berlin) Dr. Heinrich Schönemann (Moers)

Schriftleitung:

Prof. Dr. Christoph Meinel, Universität Regensburg, Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte, D-93040 Regensburg Tel. (0941) 943-3661/3659, Fax (0941) 943-1985 E-Mail [email protected]

Redaktion: Julia Böttcher, Regensburg

Die Mitteilungen der Fachgruppe "Geschichte der Chemie" erscheinen in loser Folge etwa einmal im Jahr. Fachgruppenmitglieder erhalten die Mitteilungen kostenlos, Nicht- mitglieder und Institutionen können sie gegen eine Unkostenbeteiligung (€ 10 für GDCh-Mitglieder, sonst € 20) von der Geschäftsstelle anfordern. Autoren der Mitteilungen erhalten Belegexemplare des jeweiligen Heftes, jedoch keine Sonderdrucke. Sie haben das Recht, ihren Beitrag für eigene Zwecke zu vervielfältigen, sofern dies unter Nennung der Quelle geschieht. Die Beiträge der Mitteilungen werden in Chemical Abstracts sowie der Isis Current Bibliography on the History of Science regelmäßig referiert.

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Noch ein ‚Vorentdecker’ des Sauerstoffs: Abraham Eleazar

Prof. Dr. Hans-Werner Schütt, Institut für Philosophie, Wissenschaftstheorie, Wissen- schafts- und Technikgeschichte, TU Berlin, Straße des 17. Juni 135, 10623 Berlin

Eberhard Knobloch in Dankbarkeit gewidmet

In Kuchenstücken, die gewiss nicht der Rosinen wegen gebacken wurden, findet sich manchmal dennoch eine Rosine, die es wert ist, besonders genossen zu wer- den. Das Kuchenstück, das ich meine, ist die Geschichte der Alchemie, die Rosi- ne eine Ausführung über die Entdeckung einer Wundersubstanz, die ihren Entdecker zu einem weithin unbekannten Vorläufer Carl Wilhelm Scheeles (Ent- deckung des Sauerstoffs 1771/2, veröffentlicht 1777) und Joseph Priestleys (Ent- deckung und Veröffentlichung 1774) gemacht hat.

Gemeint ist Abraham Eleazar, ein Alchemist, der in der Geschichte der ‘Göttli- chen Kunst’ nur als Autor eines einzigen Buches mit dem Titel ‘Uraltes Chymi- sches Werk’ bekannt ist. Das ‘Werk’ ist 1735 in Erfurt unter seinem Namen erschienen. Als Herausgeber und Autor eines Vorworts ein gewisser Julius Ger- vasius von Schwarzburg genannt. In der zweiten Auflage des Buches, sie er- schien 1760 in Leipzig, ist dem ursprünglichen Text von 1735, als dessen Autor Julius Gervasius den Rabbi Eleazar nennt, ein zweiter angefügt, der – wiederum nach Gervasius – von einem Rabbi Samuel Baruch stamme, doch später von Ab- raham Eleazar aufgefunden worden sei. Über keine der drei genannten Personen gibt es nähere Angaben außerhalb des Buches, in dem sie genannt sind.1

1994 hat der bekannte Ethnologe und Anthropologe Raphael Patai (1910-1996)2 das ‘Uralte Chymische Werk’ eingehend geprüft3 und ist zu folgendem Ergebnis gekommen: Abfällige Bemerkungen über die Juden als Christusleugner4 sowie Fehler in der Wiedergabe hebräischer Wörter deuten daraufhin, dass Gervasius ein christlicher Autor gewesen ist, während der Haupttext eindeutig von einem jüdischen Alchemisten stammt. So beklagt Eleazar an vielen Stellen das Schick- sal der Juden und behauptet, seine chemischen Erkenntnisse könnten den Juden ermöglichen, sich von den Steuerlasten zu befreien, die ihnen der ‘Römische

– 3 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Kaiser’, gemeint ist gewiss der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, aufge- bürdet habe.5

Das ‘Uralte Chymische Werk’ war wohl stets eine Rarität auf dem Buchmarkt.6 Dennoch haben ihm im 18. und 19. Jahrhundert zwei Chemiker und Chemiehi- storiker kurze Ausführungen gewidmet.

Der erste von ihnen ist Johann Friedrich Gmelin (1748-1804) aus der berühmten Tübinger Chemikerdynastie.7 1797-1799 schrieb Gmelin eine dreibändige ‘Ge- schichte der Chemie’, in der auch Abraham Eleazar erwähnt wird. Wahrschein- lich hat seinen Bemerkungen die erste Ausgabe des ‘Uralten Chymischen Werkes’ zugrunde gelegen. Jedenfalls gibt er sie als einzige Quelle an.8

Ohne seine Ansicht, die schon von Gervasius in dessen ‘Vorrede’ geäußert wor- den war, näher zu belegen, datiert Gmelin das ‘Uralte Chymische Werk’ in eine Zeit vor dem Auftreten von Nicolas Flamel. Ganz unbegründet ist diese Ansicht allerdings nicht, weil im Zentrum der in Alchemistenkreisen weithin als authen- tisch angesehenen Biographie Flamels das Buch eines jüdischen Autos namens Abraham steht.9 Flamel, der wahrscheinlich wirklich gelebt hat, und zwar von etwa 1360-1413 (1418), behauptet in seiner Biographie, er habe das geheimnis- volle Buch gekauft, und mit dessen Hilfe sei es ihm nach vielen vergeblichen Bemühungen gelungen, den Stein der Weisen herzustellen. Berührungspunkte zwischen dem Buch, das angeblich in Flamels Besitz war, und dem ‘Uralten Chymischen Werk’ sind die Tatsache, dass der Autor im ersten Fall als ‘Abra- ham der Jude, Fürst, Priester, Levit’ bezeichnet wird, im zweiten als ‘Abraham Eleazar der Jude, ein Fürst, Priester und Levit’.10 Außerdem ist in beiden Fällen fast immer das Wesentliche einer alchemischen Aussage in allegorischen Bildern dargestellt.

Der zweite Chemiehistoriker, der hier erwähnt werden muss, ist der Liebig- Schüler Hermann Kopp (1817-1892).11 Neben mehreren anderen Werken zur Geschichte der Chemie veröffentlichte er 1886 ein zweibändiges Werk über ‘Die Alchemie in älterer und neuerer Zeit’.12 Ihm war nur die zweite Auflage des ‘Ur- alten Chymischen Werkes’, die aus dem Jahr 1760, zugänglich. Aus ähnlichen Gründen wie Patai, d.h. wegen deutlicher Fehler in der Wiedergabe „semitischer Worte und Sätze“ und falscher Zitate aus dem Alten Testament13 war Kopp der Ansicht, das ‘Werk’ stamme aus dem 17. Jahrhundert, und ein gewisser Julius Gervasius, über den ja sonst nichts bekannt ist, sei der eigentliche Autor.14 Aus den schon genannten Gründen lehnt Patai jedoch die Ansicht Kopps ab.

In Chemiegeschichten des 20. Jahrhunderts, genannt seien vor allem James R. Partingtons Standardwerk: ‘A History of Chemistry’ und William H. Brocks:

– 4 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 ‘The Fontana History of Chemistry’ kommt das Thema ‘Eleazar’ nicht mehr zur Sprache.15

Alle genannten Chemiehistoriker waren oder sind Chemiker. So ist es doch er- staunlich, dass bisher niemandem eine Textstelle unter chemischem Blickwinkel aufgefallen ist, die Raphael Patai immerhin interessant genug findet, sie zu zitie- ren, die er aber für eines der „alchmical-mystical pronouncements which are dif- ficult to understand“, erklärt.16 Die Textstelle lautet:

Denn unser Vater Hermes sagt: Pater eius est sol, Mater luna. Ventus portavit il- lum in ventro suo.17 Sal ri nostrum in mari mundus versans aeris invisibilem, congelatum coelum nostrum, m manus non madefacientem.

Denn unser Vater Hermes sagt: Sein Vater ist die Sonne, die Mutter der Mond, der Wind trägt es in seinem Bauch. Die Welt bewegend unser Sal nitri im Meer, den unsichtbaren Geist der Luft, unseren fest gewordenen Him- mel, das Wasser, das die Hände nicht befeuchtet.

Dass in dieser ziemlich sperrigen Textstelle, die wohl vor allem die Ubiquität der Wundersubstanz betonen soll,18 Salpeter gemeint ist, der bekanntlich wasserlös- lich ist und außerdem beim Erhitzen Sauerstoff freisetzt19, zeigt sich an seiner auf Deutsch gegebenen Beschreibung:

Denn es ist der Geist des Herrn unergründlich. Er schwebt in der Luft, er bedeutet die geflügelte Schlange und durchdringet Menschen und alle Creaturen, so ge- schaffen sind auf der Erde, denn die geflügelte Schlange bedeutet den mundi , und durchdringet alle Dinge unter dem Himmel, dieser ist unsere Materia, so wir aus der coagulierten Luft repariren. Dieses ist der so aus dem Thau ausgezogen, und mit welchem wir unser bereiten. Die unter- ste Schlange aber bedeutet unsere Materiam, so allenthalben gefunden wird, und ist irdisch und auch himmlisch, denn es ist eine rechte Virginis Adamica. Daß man aber wisse, was ist, so ist solche unter den vegetabiblischen Wurzeln an- zutreffen. Diese besitzet den universalem, und ist weder animalisch, mineralisch, noch vegetabilisch. Sie ist ein Magnet so an sich ziehet den Protmus (?) universi und wird dadurch zum Chaos der Weisen Meister.20

Salpeter ist also Geist und Materie zugleich, was durch den Doppel-Ouroboros aus dem geflügelten Drachen und dem ungeflügelten Drachen symbolisiert wird, aus dem der spiritus mundi universalis, der universale Geist der Welt ausgezogen wird. Der Hinweis auf den Tau und seine Wirkung kommt in alchemischer Lite- ratur häufiger vor. Die empirische Grundlage dieses Hinweises stammt mögli- cherweise aus der Rasenbleiche.21

– 5 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Im weiteren wird nahe gelegt, dass es sich bei der Substanz, die aus sich heraus den allumfassenden Geist bildet, um materia prima, die hier, wie dies gelegent- lich auch in anderen Texten geschieht, adamitische oder jungfräuliche Erde ge- nannt wird, handelt und damit um den Ursprung des lapis philosophorum und damit in gewisser Weise um den Stein selbst. Auch diese Gleichsetzung ist nicht neu und wird hier nahe gelegt durch die Ubiquität eben dieser Erde, die weder Tier, noch Mineral, noch Pflanze ist, aber wie ein Magnet den Weltgeist an sich zieht und sich gerade dadurch als ursprüngliches Chaos, auch massa confusa ge- nannt, das heißt, als prima materia, zu erkennen gibt. Der wahre Meister nun, der Adept, ist in der Lage, den aus der geflügelten und der ungeflügelten Schlange gebildeten Ouroboros, den ‘Schwanzfresser’, der, indem jedes seiner Mäuler den Schwanz des anderen Tieres fasst und so unter anderem dem die Ubiquität und den ewigen Kreislauf der Materia repräsentiert, aufzulösen. Chemisch gesehen setzt dieser Auflösungsprozess Sauerstoff mit seinen bekannten Wirkungen frei, die hier nur im Gewande alchemischen Denkens beschrieben sind.

Selbst wenn nicht definitiv zu entscheiden ist, ob das ‘Uralte Chymische Werk’ aus dem Spätmittelalter oder aus den Jahren 1735 beziehungsweise 1760 stammt, reiht sich Abraham Eleazar mit seiner Beschreibung der Darstellung des Sauer- stoffs und seiner Wirkungen in die Gruppe der ‘Vorentdecker’ des Sauerstoffs ein, zu der unter anderen Jean Rey (1630), Ralph Bathurst (1654), Robert Hooke (1665) und John Mayow (1668/1674) gehören.

Der Begriff ‘Vorentdecker’ wirft natürlich die alte Frage auf, was eigentlich un- ter einer Entdeckung in der Chemie zu verstehen ist. Hier sei nur etwas holz- schnittartig gesagt, dass derjenige, der ein Phänomen, das er beobachtet oder gar selbst hervorbringt, in seiner Bedeutung innerhalb eines gegebenen empirischen Umfeldes erkennt und entsprechend beschreibt, mit gewissem Recht als Entdec- ker, zumindest aber als Vorentdecker bezeichnet werden kann. Wie andere Wis- senschaften findet die Chemie bekanntlich „ihren Gegenstand nicht einfach in der Natur fertig vor“.22 Natürlich ist Eleazars Wundersubstanz kein Element der Ordnungszahl 8 und der relativen Atommasse 15,9994, sondern eine Substanz, die im Rahmen seines alchemischen Denkens einen besonderen Platz einnimmt. Genau auf diese Substanz und ihren herausragenden Platz hat Eleazar hingewie- sen, und es ist deshalb m. E. durchaus legitim, den Rabbi in einem weiten Sinne, der aber alchemischem Denken gerecht wird, als einen der Vorentdecker des Sauerstoffs zu bezeichnen.

Auch die oben genannten Forscher und andere haben alle mehr oder weniger deutlich die Rolle einer bestimmten Substanz, die wir aus heutiger Sicht mit Sau- erstoff in Verbindung bringen, erkannt und beschrieben. Meist ging es dabei um

– 6 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 die physiologische Wirkung der Substanz bzw. um ein universales Lebensprin- zip.

Scheele und Priestley werden gewöhnlich als ‘eigentliche’ Entdecker genannt, weil ihre Beschreibung des Sauerstoffs als Baustein in die moderne Chemie eines Antoine Lavoisier eingebaut werden konnte.23 Abraham Eleazar aber gebührt das Verdienst, die eminent wichtige Rolle des Phänomens, das wir heute mit Sauer- stoff bezeichnen, noch vor ihnen erkannt und im Rahmen seines, des alchemi- schen Weltbildes, zutreffend beschrieben zu haben.

1 R. Abrahami Eleazaris Uraltes Chymisches Werck,/ welches ehedessen von dem Autore/ Theils in Lateinischer und Arabischer, theils auch in Chaldischer und syrischer Sprache ge- schrieben,/ nochmals von einem Anonymo in unsre deutsche Muttersprache übersetzet,/Nun aber nebst zugehörigen Kupfern, Figuren, Gefäßen, Oefen, einer kurzen Vorrede, nöthigen Registern,/ wie auf beygefügtem Schlüssel derer in selbigen vorkommenden fremden Wör- ter, ingleich einigen philosophischen Regeln von dem Steine der Weisen/ zu Nutz und Ge- brauch aller Liebhaber der edlen Hermetischen Philosophie, in II. Theilen zum öffentlichen Druck befördert worden durch Iulium Gervasium Schwartzburgicum, P.M. I.P.E./ Zweyte Auflage/ Leipzig, in Lankischens Buchhandlung 1760. 2 Patai war Professor für Ethnologie und Anthropologie in Haifa und an verschiedenen ameri- kanischen Universitäten. Zu seinen Hauptwerken gehören: The Seed of Abraham: Jews and Arabs in Contact and Conflict. Salt Lake City 1988; The Hebrew Goddess. 3. Aufl. Detroit 1990; The Jewish Mind. Detroit 1996. 3 Raphael Patai: The Jewish Alchemists. A History and Source Book. Princeton 1994. Hier S. 238-257. 4 Z.B. redet Gervasius von „angeborener jüdischer Unart“ (Vorrede Blatt 15), behauptet aber auch „dass dieser Rabbi, Abraham Eleazar, mitten in der jüdischen Blindheit eine noch ziem- lich Erkenntnis von Jesu Christo, als dem wahren Messias, müsse gehabt haben“ (Vorrede Blatt 14). Alle Zitate nach der in der Harvard Library befindlichen 2. Ausgabe von 1760. 5 Eleazar, Anm. 1, 1. Teil, S. 6. 6 Hermann Kopp hat in allen ihm bekannten Bibliographien gesucht und kaum einen Hinweis gefunden. Vgl. H. Kopp: Die Alchemie in älterer und neuerer Zeit. Ein Beitrag zur Culturge- schichte. 2 Bde, Heidelberg 1886. Hier Bd. 2, 315 f. 7 Ein Stammbaum der wichtigsten Mitglieder findet sich bei J. R. Partington. A History of Chemistry. 4 Bde 1961-1970. Hier Bd. 3, 180. - J. F. Gmelin war u.a. Professor für Medizin in Tübingen, später für Medizin und Chemie in Göttingen. 8 J. F. Gmelin: Geschichte der Chemie. 3 Bde Göttingen 1797-1799. Hier Bd. 1, 64. 9 1612 kam unter Flamels Namen das Werk ‘Livre des figures hieroglyphiques’ heraus. 1681 erschien eine deutsche Ausgabe. Beide Ausgaben umfassen die genannte Biographie.

– 7 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

10 Nach Patai, Anm. 3, 256 11 Kopp war Professor für Physik und Chemie in Giessen, danach in Heidelberg. 12 Vgl. Kopp, Anm. 6. 13 Kopp befragte dazu den Orientalisten Gustav Weil (vgl. Kopp, Anm. 6, 317) 14 Vgl. Kopp, Anm. 6, 314-317. 15 Kopp weist daraufhin, dass bereits Schmieder in seiner einflussreichen ‘Geschichte der Al- chemie’ von 1832 den Alchemisten Eleazar nicht zu Kenntnis genommen hat. Patai erwähnt noch Moritz Steinschneider (Pseudo-Juden und zweifelhafte Autoren. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 38 (1894), 41.), ferner John Ferguson (Biblio- theca chemica. Glasgow 1906) und den an der Alchemie interessierten, bekannten Psychiater Carl Gustav Jung (Mysterium coniunctionis. Ges. Werke, Bd. 14. Bollingen 1955). Steinschneider behaupt kategorisch ‘Das Uralte Chymische Werk’ sei eine Fälschung. Fer- guson hielt es für eine freie Nachdichtung älterer Manuskripte. Jung schloss sich dieser Mei- nung an, vgl. Patai, Anm. 3, 240. 16 Patai, Anm. 3, 245. 17 Dies ein bekanntes Zitat aus der ‘Tabula Smaragdina’. 18 Zur Ubiquität des Lapis philosophorum u.a. H.-W. Schütt: Auf der Suche nach dem Stein der Weisen. München 2000. Hier S. 65 et passim.

19 KNO3, vielleicht auch Chilesalpeter, NaNO3. 20 Eleazar Anm. 1. Teil 1, 10 f. 21 Zur Rolle des Taus und des Spiritus universalis vgl. Schütt, Anm. 18, 167, 397, 466. Späte- stens seit dem 16. Jh. wurde immer wieder behauptet (Fludd, Seton, Sendigovius, Becher, Glauber), es gäbe ein ‘Luftsalz’ als ein ‘Universales Salz’, das alle Lebensvorgänge unterhal- te, vgl. S. 579, Anm. 58. 22 H. Laitko: Chemie und Philosophie. In: N. Psarros, J. Schummer (Hrsg.): Philosophie der Chemie: Bestandaufnahme und Ausblick. Philosophie der Chemie. Würzburg 1996, S. 32- 56, hier S. 53. 23 Vermutlich ist allgemein akzeptiert, dass nicht die Sauerstofftheorie Lavoisiers sondern Stahls Phlogistontheorie die erste empirisch begründete, paradigmatische Theorie im Kuhn- schen Sinn gewesen ist. Sowohl Scheele als auch Priestley waren Anhänger dieser Theorie.

– 8 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Friedlieb Ferdinand Runge: Wegbereiter der Teerfarbenchemie?

Dr. Holger Andreas, Mierendorfstr. 5, 64625 Bensheim

Kann man Friedlieb Ferdinand Runge wirklich als Wegbereiter der Teerfarben- chemie bezeichnen, wie es im Brockhaus1 steht, sowie in einigen Veröffentli- chungen der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts? Im RÖMPP2 wird bei Runges Arbeitsgebieten sogar die Synthese von Teerfarbstoffen aufgeführt, was aufgrund der folgenden Ausführungen nicht zutrifft. Wurde Runge nicht vielmehr auf ein Podest gehoben, wie bei Paul Walden in seiner Chemiegeschichte3, und was wa- ren die Gründe dafür?

Diese Fragen sollen im folgenden auf der Basis der Veröffentlichungen von Run- ge und seines Schriftwechsels mit der Direktion der Preußischen Seehandlung diskutiert werden.

Lebenslauf

Friedlieb Ferdinand Runge wurde 1794 als drittes Kind des Pastors Joh. Gerhard Runge in dem kleinen Dorf Billwärder östlich von Hamburg (heute ein Stadtteil von Hamburg) geboren. Er hatte noch drei Brüder und vier Schwestern, und es herrschte häufig finanzielle Not im Pfarrhaus. Deshalb konnte Friedlieb Ferdi- nand auch kein Gymnasium, z.B. das Johanneum in Hamburg, sondern nur die Elementarschule im nahe gelegenen Schiffbeck besuchen. Ab 1810 absolvierte Runge eine Apothekerlehre bei einem Verwandten in Lübeck. In den Jahren 1810/12 machte er am eigenen Auge die Erfahrung der Pupillenerweiterung durch Bilsenkrautextrakt4. 1816 beginnt er ein Medizinstudium in Berlin, wech- selt 1818 für ein Semester nach Göttingen und geht dann nach Jena. Er interes- siert sich hauptsächlich für Chemie und belegt deshalb Vorlesungen bei Döbereiner, aber auch Vorlesungen über Naturphilosophie bei Lorenz Oken, ei- nem Schüler Wilhelm Schellings.

Seine Beobachtung der Pupillenerweiterung mit Bilsenkraut macht Runge zur Grundlage weiterer Untersuchungen. Er findet gleiche Wirkung auch bei Tollkir- sche und Granatapfel und benutzt das Auge einer Katze zum Nachweis. Döberei- ner ist von diesem Tierexperiment so beeindruckt, dass er einen Besuch bei

– 9 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Goethe zwecks Vorführung arrangiert, der entsprechend angetan ist. Goethe schenkt Runge eine Schachtel mit Kaffeebohnen mit der Anregung, die darin enthaltenen Bestandteile zu untersuchen5. Er isoliert daraus das Coffein. Runge promoviert mit dieser Anwendung eines Katzenauges zum Nachweis von Atro- pin6 im Jahre 1819. Er kehrt nach Berlin zurück und promoviert ein zweites Mal 1822 in der philosophischen Fakultät, um Privatdozent zu werden7. 1824 gibt er die Lehrtätigkeit in Berlin auf und geht nach Breslau. Er wird Mitglied der Schle- sischen Gesellschaft für vaterländische Cultur und der von Fallersleben gegrün- deten Zwecklosen Gesellschaft; er hält Vorlesungen in der Schlesischen Gesellschaft über technische Chemie für Gewerbetreibende, Handwerker, Phar- mazeuten .1828 wird er außerordentlicher Professor für technische Chemie.

Runge beginnt 1831 seine Tätigkeit für die Chemische Produktenfabrik Oranien- burg im Norden von Berlin. Der Besitzer Dr. Hempel veranlasst ihn, das Abfall- produkt Steinkohlenteer zu untersuchen. Die Fabrik wird 1832 nach dem Tod des Inhabers Dr. Hempel durch die Königliche Seehandlungs-Societät8 übernommen und auf Betreiben des liberalen Politikers Jakoby an den Geschäftsführer E.E. Cochius verkauft. Runge erhält 1851 die Kündigung und bezieht eine Firmen- pension von 400 Thl/Jahr, wozu noch eine staatliche Pension von 350 Thl/Jahr kommt9. Nach dem Freitod von Cochius verweigert die Witwe die Pensionszah- lung. Auf Veranlassung von A.W. Hofmann wird Runge 1863 eine Preisdenk- münze der großen Industrie-Ausstellung in London an seinem Wohnort Oranienburg überreicht. Dort stirbt Runge im Jahr 1867 nach kurzer Krankheit.10

F.F. Runges Untersuchungen des Steinkohlenteers

Unbestritten ist Runge der Entdecker des Anilins im Steinkohlenteer; das Anilin selbst hatte allerdings vor ihm bereits Otto Unverdorben 1826 durch trockene Destillation von Indigo entdeckt. Außerdem fand Runge im Steinkohlenteer Pyr- rol, Chinolin, Karbolsäure und Rosolsäure, d.h. den Farbstoff Methylaurin. Den Teer hatte er auf Anregung von Dr. Hempel, dem Besitzer der Chemischen Pro- duktenfabrik Oranienburg11 untersucht. Hempel sagte zu Runge:

Wie wär's, wenn Sie … den Teer gründlich untersuchten? Vielleicht lohnt sich's die Mühe und Sie entdecken etwas Nützliches, und wenn's weiter nichts wäre als ein schwarzer Firnis, der nicht so übel riecht wie der Teer und schneller trocknet? Ich will Ihnen den ganzen Teer und zwei Arbeiter überlassen.12

Runge entwickelte tatsächlich einen schwarzen Firnis und pries diesen 1837 in seiner Schrift Das flache Lehmdach und der elastische Teerfirniß an.

– 10 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Runge ging so vor, wie man in der Phytochemie Alkaloide aus Pflanzen zu seiner Zeit isolierte und wie er auch das Coffein dargestellt hatte. Er destillierte zu- nächst etwa die Hälfte des Teers ab und behandelte das Destillat, das Steinkoh- lenöl, mit Säuren und Basen. Er isolierte also nicht etwa durch eine fraktionierte Destillation die von ihm gefundenen Stoffe Anilin, Karbolsäure etc., wie man es in einigen chemiehistorischen Darstellungen lesen kann.13 Seine Ergebnisse ver- öffentlichte er 1834 in mehreren Artikeln in Poggendorffs Annalen, der Zeit- schrift seines Freundes und Mitbewohners; der erste erschien unter dem Titel Über einige Produkte der Steinkohlendestillation.14 Die Arbeit beginnt mit dem Satz:

Aus dem über Kupferoxyd rektifizirten Steinkohlenöl lassen sich drei Basen und drei Säuren theils scheiden, theils bilden, die in ihrem chemischen Verhalten von allen bekannten organischen Stoffen sich auf eine sehr auffallende Weise unter- scheiden. Kyanol oder Blauöl ist ein flüchtiger basischer Stoff, … der mit Säuren farblose Salze bildet. Kyanol oder seine Salze bilden mit Chlorkalk eine schöne veilchen- blaue Farbe. Die farblose Lösung der Salze verleiht dem Fichtenholz eine intensi- ve gelbe Färbung, die von Chlor nicht zerstört wird. [sinngemäß zitiert; es handelt sich hier um Anilin, Anm. H.A.] Pyrrol oder Rotöl … ist in reinem Zustande gasförmig [was nicht stimmt, H.A.] und besitzt einen angenehmen Geruch nach Märkschen Rüben. Taucht man einen mit Salzsäure befeuchteten Fichtenholzspan in die Luft einer Flasche, welche et- was Pyrrol enthält, so färbt er sich dunkel purpurrot, eine Färbung, die nicht durch Chlor zerstört wird. Leukol oder Weißöl habe ich die dritte Base genannt, weil sie keine farbigen Re- aktionen zeigt.

Später wurde diese Base von A.W. Hofmann als ein Gemisch von vorwiegend Chinolin mit Isochinolin und Chinaldin identifiziert.

Karbolsäure oder Kohlenölsäure ist ein farbenloser, sauer reagierender, ölartiger Stoff, der im Wasser untersinkt und ein großes Lichtbrechungsvermögen besitzt. Auf die Haut äußert die Karbolsäure eine starke Wirkung: erst weißer Fleck, dann rot, dann schuppt sie sich. Ähnlich dem Kreosot15. Ein mit Karbolsäure benetzter Fichtenholzspan nimmt durch Befeuchten mit Salzsäure nach einiger Zeit eine schöne blaue Farbe an. Karbolsäure schützt organische Stoffe vor der Fäulnis. Rosolsäure oder Rosaölsäure ist ein Erzeugnis der chemischen Zerlegungsweise des Steinkohlenöls und verhält sich wie ein wirkliches Pigment. Sie gibt mit ge- eigneten Beizen rote Farben und Lacke, die an Schönheit dem Saflor, Cochenille und Krapp an die Seite gestellt werden können. Den Stoff, aus dem sich die Ro- solsäure bildet, habe ich nicht auffinden können. Brunolsäure ist ein Begleiter der Rosolsäure. Sie ist glasig, glänzend, leicht zu pülvern und sieht dem Asphalt ähnlich.

– 11 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Die chemische Natur der letzteren Verbindung ist bisher unbekannt. Runge be- schreibt Farbe, Geruch und Geschmack seiner im Steinkohlenteer aufgefundenen Substanzen, ihre Löslichkeiten in Wasser, Alkohol und Äther, sowie ihr Verhal- ten gegen Säuren und Basen und die Farbreaktionen mit Chlorkalk und mit dem Fichtenholzspan. Dies sind Entdeckungen von Farbreaktionen, und ist nicht die Herstellung von Farbstoffen! Der einzige Farbstoff, den Runge isolierte, war die Rosolsäre, das Methylaurin, das sich als Farbstoff für Textilien aber nicht durch- setzte.

Auch toxikologische Eigenschaften werden beobachtet, wobei aus Gründen der Kuriosität das unterschiedliche Verhalten von Anilin und Chinolin, bzw. Kyanol und Leukol zitiert sei:

Das Kyanol hat einen schwachen, eigenthümlichen Geruch, … sein Dunst ist ohne nachtheilige Wirkung für Kopf und Lungen. In wässriger Auflösung tötet es aber Blutegel unter Erscheinungen, die auf eine eigenthümliche Wirkung schließen las- sen. Der Egel dehnt sich anfangs unter nur schwachen Bewegungen zu einem lan- gen Faden aus, ohne sich mit dem Schwanz am Glas festzuhalten, und wälzt sich herum, dann dreht er sich spiralförmig zusammen und stirbt endlich unter immer schwächer werdenden Bewegungen. Das Leukol wirkt ganz entgegengesetzt, in- dem dies den Blutegel unter den allerheftigsten Zuckungen tötet.

Runge gibt auch an, dass das Kyanol Stickstoff enthalte, das bei der Zersetzung als Ammoniak abgegeben werde.16 Dass Karbolsäure wirklich eine Säure ist, demonstrierte er durch die Reaktion mit metallischem Kalium:

Ich brachte in eine kleine Flasche mit gläsernem Stöpsel, welche zur Hälfte mit Karbolsäure gefüllt war, bei 22° C ein Stück Kalium. Die Wasserstoffgasentwick- lung ging rasch vor sich, und beim Umschütteln entstand ein Blitz mit einem Knall, der Stöpsel wurde mit Heftigkeit gegen die Decke geworfen und karbolsau- res Kali überall herumgespritzt.

Nun zur Frage, ob Runge außer der Rosolsäure andere „Teerfarben“ hergestellt hat. In seiner letzten Veröffentlichung in Poggendorffs Annalen 1834 heißt es:

Bestreicht man eine 100°C heiße Porzellanplatte mit einer Auflösung von salzsau- rem Kupferoxyd und bringt nachdem sie eingetrocknet ist, einen Tropfen salpeter- saurer Kyanollösung darauf, so entsteht auf der Stelle ein dunkel grünschwarzer Fleck. 17

Etwas weiter schreibt Runge:

Auf einer heißen, mit doppelt-chromsauren Kali bestrichenen Porcellanplatte bringt ein Tropfen salzsaure Kyanolauflösung einen dunkelschwarzen Fleck her-

– 12 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 vor.18 Druckt man ferner auf Kattun, welcher mit chromsaurem Bleioxyd gelb ge- färbt ist, dasselbe Salz, so entstehen innerhalb zwölf Stunden grüne Muster.

Bei seinem Biografen Max Rehberg19 liest sich diese Literaturstelle so:

Runge ist ferner derjenige gewesen, der die ersten Anilinfarbstoffe hergestellt hat... Als er Kupferchlorid und salzsaures Anilin auf einer bis zu 100°C erhitzten Porzellanplatte zusammenbrachte, entstand eine dunkelgrün-schwarze Färbung. Damit war das Emeraldin entdeckt... Die heiße, mit doppeltchromsauren Kali be- strichene Platte ließ einen dunkelschwarzen Fleck entstehen, als ein Tropfen salz- saures Anilin darauf gebracht wurde. Hier hatte Runge das wichtige Anilinschwarz vor sich.

Dann folgt der Kommentar zum Bedrucken auf Kattun: „So war Runge auch der erste, der die Anilinfarben in der Zeugdruckerei anwandte.“ Kann man hier wirk- lich von Herstellung der Anilinfarben oder von der Anwendung in der Zeug- druckerei sprechen? Der Originaltext dürfte eine derartige Auslegung nicht rechtfertigen.

Ganz erstaunlich ist, dass es kein Hinweis existiert, in welcher Form Runge sei- nem Auftraggeber, Dr. Hempel, bzw. der Direktion der Seehandlung, über seine Entdeckungen berichtete. Ebenso ist unklar, welche Vorschläge er zur kommer- ziellen Auswertung machte, zumal er ja durch seine Bekanntschaft mit dem Tex- tilfabrikanten Carl Milde in Breslau und seinem Buch über das Färben mit der Materie vertraut war.

Da in der Biografie von Berthold Anft20 aus einer „Personalakte Prof. Dr. Run- ge“ zitiert wird, die der Autor in der Preußischen Staatsbank (Seehandlung) auf- gefunden hatte, hoffte ich, diese Akte im Geheimen Staatsarchiv in Berlin- Dahlem einsehen zu können. Es gibt dort mehrere Akten, die die chemische Fa- brik in Oranienburg betreffen und auch die Personalakten für den Zeitraum von 1841 – 1863. Überraschend fand ich zu Beginn einen handschriftlichen Vermerk auf einem Zettel: „Die Schriftstücke über den Professor Runge zu Oranienburg sind diesen Akten entnommen und (zu) Special Acten formiert“. Ohne Datum, ohne Unterschrift, ohne Signatur, ohne Fundort. Alle Bemühungen der Archivare im Staatsarchiv, diese „Special Acte“ zu finden, waren vergebens. Verschwand die Akte durch Kriegseinwirkung zufällig oder wurde sie gezielt entwendet?21

Es gibt aber Hinweise, die den Schluss zulassen, dass Runge zum Zeitpunkt sei- ner Entdeckungen keinen entsprechenden schriftlichen Bericht an seine Vorge- setzten verfasst hat. A.W. Hofmann22 erwähnt ausdrücklich die Arbeiten von Runge, die neun Jahre zurückliegen. Hofmann wird durch die Arbeit aber nur zur Untersuchung der organischen Basen im Steinkohlenteer angeregt, nicht zur Her-

– 13 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 stellung von Teerfarben. Er gibt ja auch seinem Schüler und Assistenten William Perkin den Auftrag, Chinin aus dem Anilin zu synthetisieren, nicht etwa Anilin- farbstoffe. Perkin entdeckte dann zufällig statt des Chinins den Anilinfarbstoff Mauvein, den er auch im Großen herstellte und an Textilfärber erfolgreich ver- marktete.

10 Jahre nach Perkins Entdeckung bezieht sich Runge in seinen Hauswirtschaft- lichen Briefen, die 1866 in Berlin erschienen, auf diese Veröffentlichung von A.W. Hofmann in Liebigs Annalen von 1843. Runge schreibt rückblickend:

Endlich nach 10 Jahren kam Dr. A.W. Hofman und zeigte in seiner Schrift … daß alle meine Angaben über diesen Färbestoff durchaus richtig seien … Hierdurch nun von Neuem dem fast aufgegebenen Gegenstande zugewendet und fest von der Wichtigkeit fürs chemische Gewerbe überzeugt, machte ich der königlichen See- handlung den Vorschlag, in ihrer, von mir damals verwalteten Fabrik in Oranien- burg den Steinkohlenteer auf alle die neuen chemischen Stoffe, … verarbeiten zu lassen und im Großen zu verwerten. Mein Bemühen scheiterte an dem Gutachten eines unwissenden Beamten.

Man müsste also nach 1843 einen Hinweis über den Steinkohlenteer und seine Produkte in der Korrespondenz Runges mit der Direktion der Seehandlung fin- den. Einen solchen findet man nur in der Runge-Biographie von Max Rehberg, der zum Glück einen Bericht Runges von 1847 an die Seehandlung wörtlich wie- dergab:

Alles Terpentinöl, das im Zollverein verbraucht wird, … kommt vom Ausland. Ebenso werden jetzt große Mengen Asphalt eingeführt. Beide Stoffe, oder wenig- stens die Stellvertreter dafür, können hier erzeugt werden, nämlich aus Steinkoh- lenteer. Wird derselbe der Destillation unterworfen, so bleiben von 500 Zentner Steinkohlentheer 240 Ztr. Steinkohlenpech als Rückstand, die sich ganz so wie Asphalt verhalten. Aus dem flüssigen Destillat lassen sich 30 – 40 Ztr. Steinkoh- lenöl gewinnen, das in jeder Hinsicht das Terpentinöl ersetzen kann und noch dar- um vorzüglicher ist, weil es, anstatt wie Terpentinöl zu stinken, einen Wohlgeruch hat (Es handelt sich hierbei wohl um Benzol/Toluol, Anm. H.A.) … Die noch üb- rigen 200 Ztr. stellen sich als eine fettartige Masse dar, aus der man Karbolsäure, Naphthalin und verschiedene andere sehr merkwürdige Stoffe scheiden könnte, wenn dafür Absatz zu gewinnen wäre; wo nicht, so verbrennt man das Ganze in Öfen mit waagerecht liegenden Schornsteine, wodurch es sich in den reinsten und schönsten Kienruß verwandelt, den es nur geben kann … Ich enthalte mich hier jetzt jeder besonderen Angabe und Berechnung.

Kann man diese Ausführungen Runges als einen Vorschlag zur Gewinnung von Anilin und irgendwelcher Teerfarben werten?

– 14 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Berthold Anft zitiert in seiner Veröffentlichung aus dem Jahr 1937 aus der heute verschwundenen „Personalakte Prof. Dr. Runge“ einige Briefe, die Runge an die General-Direktion der Seehandlungs-Societät schrieb. Darin beschreibt Runge bis ins Detail seine Erfindungen und Verbesserungen in der Fabrikation von Palmwachslichte (Stearinkerzen), von Sodaseife, blausaurem Kali und Salmiak, den Hauptprodukten der Fabrik, um im letzten Absatz die Bitte um Erhöhung seines Gehalts auszusprechen. So zum Beispiel in einem Brief vom 3. Jan.1844. Warum weist er darin nicht auch auf seine inzwischen von A.W. Hofmann bestä- tigten Entdeckungen des Anilins und möglicher Teerfarben hin? Ein Jahr später im Januar und im Dezember 1845 wiederholt Runge seine Tätigkeitsberichte oh- ne Erwähnung seiner Entdeckungen im Steinkohlenteer, obwohl er doch dazu ursprünglich beauftragt worden war. Im gleichen Jahr bittet Runge auch noch- mals den „Hochgebietenden Herrn Geheimen Staatsminister“ Rother ihn endlich in ein festes Anstellungsverhältnis mit Pensionsberechtigung zu übernehmen. Auch in diesem Brief weist Runge auf seine Verdienste um die Fabrik hin, wie groß die von ihm bewirkten Ersparnisse bei der Herstellung der Seife, des Kali- umcyanids und der sog. Palmwachslichte in den vergangenen 10 Jahren waren, ohne ein Wort über die Basen im Steinkohlenteer zu verlieren!

Am 21. Nov. 1846 bedankt sich Runge für eine Gratifikation von 200 Thl. bei der Direktion der Seehandlung. Diesen Brief habe ich noch im Geheimen Staats- archiv Berlin-Dahlem gefunden

…wenn ich auch wenig Gelegenheit hatte, etwas Neues zum Nutzen der Fabrik zu erfinden, so habe ich doch mit regem Eifer dahin gestrebt, jede nützliche Verbes- serung anzubringen und Unvollkommenheiten zu beseitigen und werde auch in Zukunft mit regstem Eifer bemüht sein, das mir anvertraute Amt würdig zu ver- walten. Einer hohen Generaldirektion dankbar ergebener Runge.23

Auch hier ist es unverständlich, dass er den Steinkohlenteer und seine Möglich- keiten nicht zusätzlich erwähnt. Auch in seiner Einleitung in die Technische Chemie für Jedermann, die Runge 1836 veröffentlichte, findet man in dem Kapi- tel „Kohlenstoff und seine Verbindungen“ (18 Seiten von insgesamt 551!) keine Erwähnung der sauren und basischen Bestandteile des Steinkohlenteers, des Kya- nols oder der Karbolsäure. Hatte er die Bedeutung seiner Entdeckungen viel- leicht doch nicht richtig erkannt? Oder war zu dieser Zeit die geringe Aussicht auf eine wirtschaftliche Verwendung des Anilins, des Pyrrols oder der Karbol- säure der Grund? Oder war es die umständliche Isolierung des mit nur ca. 0,5% im Steinkohlenteer enthaltenen Anilins gewesen?

– 15 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Runge hat die Isolierung des Kyanols (Anilins) in seiner Veröffentlichung in Poggendorffs Annalen ausführlich beschrieben:

Isolierung des Kyanols (Anilins) aus dem Steinkohlenöl Extraktion „Man schüttelt 12 Steinkohlenöl, 2 Kalk und 50 Wasser wäh- rend 6 bis 8 Stunden abwechselnd mit einander, und scheidet sorgfältig die wässrige Auflösung von Kalk und Öl durch's Fil- trieren. Erstere, welche bräunlich gelb gefärbt ist, wird der 1. Destillation Destillation unterworfen und bis zur Hälfte abdestilliert. Das Destillat, welches aus einem dicken Öle und der Auflösung des- selben in Wasser besteht, enthält Karbolsäure in Verbindung mit Ammoniak, Leukol, Pyrrol und Kyanol. Es sind 5 Destilla- tionen nöthig, um aus diesem Gemenge das Kyanol und Leukol zu scheiden. 2. Destillation Mit einem Überschuss an Salzsäure: Pyrrol und Karbolsäure gehen in die Vorlage. 3. Destillation Rückstand der 2. Dest. wird mit NaOH im Überschuss destil- liert. Ammoniak, Leukol und Kyanol gehen über. 4. Destillation Obiges Destillat wird mit Überschuss Essigsäure versetzt und wieder destilliert: Kyanol und Leukol gehen über, Ammoniak bleibt als Ammoniumacetat im Rückstand. 5. Destillation Das essigsaure Destillat wird mit Kleesäure (Oxalsäure) versetzt und solange destilliert, bis die übergehende Essigsäure „das Fichtenholz gelb färbt“ (zeigt Kyanol an), Rückstand zur Troc- kene Eindampfen. Extraktion des Rückstands obiger Destillation mit wenig 85%igem Wein- geist, um die kleesauren Basen von Farbstoffen zu befreien. Umkristallisation des Rückstandes mit 85%igem Weingeist. Es kristallisiert zuerst in feinen Nadeln kleesaures Leukol, nach längerer Zeit auch breite Blättchen von kleesaurem Kyanol. Sortieren der unterschiedlichen Kristalle von Hand. Umkristallisieren des kleesauren Kyanols aus Wasser / Weingeist 6. Destillation kleesaures Kyanol mit Überschuss an NaOH versetzen und das Kyanol abdestillieren.

Die Fabrik in Oranienburg besaß wahrscheinlich keine Apparate, um den Stein- kohlenteer nach Runge aufzuarbeiten, es hätte alles erst entwickelt und installiert werden müssen. Ohne aussichtsreiche Verwendung, Absatz und Markt war das aussichtslos.

– 16 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 A.W. Hofmann bemerkt in seiner Veröffentlichung von 1843 zu diesem um- ständlichen Trennungsgang:

Ich ging im Anfang bei der Darstellung denselben Weg, den Runge bei seiner Un- tersuchung betreten hat; allein diese Methode ist außerordentlich langwierig, es ist des Destillierens kein Ende, und ich glaube fest, daß diese Umständlichkeit, wel- che von der Wiederdarstellung abschreckte, der Grund gewesen ist, daß diesen Körper lange Zeit nicht in so hohem Grade beachtet worden sind.

Hofmann begann gleich mit einer sauren Extraktion des schweren Teeröls mittels konzentrierter Salzsäure;24 die saure Phase wurde mit Kalkmilch alkalisch ge- macht und destilliert. Hier schon nahm er zwei deutlich verschieden Fraktionen ab, wodurch eine Trennung des Kyanols von den anderen Basen durch fraktio- nierte Destillation möglich war.

Bewertung

Kann man nun Runge aufgrund seiner Veröffentlichung wirklich als Wegbereiter der Teerfarbenchemie bezeichnen, oder gebührt diese Ehre nicht vielmehr A.W. Hofmann, der eine erste Elementar-Analyse der Steinkohlenteerprodukte vor- nahm, oder seinem Assistenten William Perkin, der den ersten Teerfarbstoff zwar zufällig entdeckte, ihn aber erfolgreich herstellte und vermarktete oder aber den Russen Nikolaj Zinin, der den Weg aufzeichnete zur einfacheren Herstellung größerer Mengen an Anilin durch Reduktion des Nitrobenzols? Benzol und To- luol sind in erheblich größerer Menge im Steinkohlenteer enthalten und geben nach Nitrieren und Reduktion ein Gemische von Anilin und Toluidin, das die Voraussetzung bot zur Herstellung der Triphenylmethanfarbstoffe, wie z.B. Fuchsin.

Man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass auch nationale Empfindlich- keiten oder Eitelkeiten bei der Bewertung der Leistungen von Runge eine Rolle spielen, bzw. spielten. Das tritt schon bei seinem ersten Biographen, Hermann Schelenz, 1907 deutlich hervor25:

Die Verherrlichung des Engländers Perkin als den Entdecker des Anilins [Falsch! H.A.] veranlaßte mich im vorigen Jahre im Interesse des deutschen und durch die Schule der Pharmazie gegangenen Chemikers Runge, des tatsächlichen Entdec- kers des Anilin [falsch, H.A.] und damit, da von einer Anilinindustrie ohne Ani- lin, da von einer Teerfarbenindustrie nicht gut ohne Phenol, das ebenfalls Runge neben einigen anderen basischen und sauren Destillationsprodukten im Jahre 1834 entdeckte, die Rede sein kann, auch seine hierher gehörigen Verdienste ans Ta- geslicht zu ziehen. Also schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine nationalisti- sche Bewertung der Arbeiten Runges.

– 17 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Besonders in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts mehren sich nationalistische Würdigungen Runges. Besonders tritt dies in der Biographie von Max Rehberg 1935 hervor, die den Untertitel „Entdecker der Teerfarben“ trägt. In dieser Bio- graphie findet sich auch ein Kapitel „Der Deutsche“, in dem es heißt:

Daß Friedlieb Ferdinand Runge ein durch und durch deutscher Mann war, haben wir bereits aus seiner Lebensgeschichte gesehen. Wie kämpfte er in seiner Schrift „Das Gift in der deutschen Sprache“ gegen Fremdwörter, wie wurmte es ihn, sei- ne Doktorthesen lateinisch verteidigen zu müssen. [Runge hatte nie Latein ge- lernt! H.A.]

Diese Biographie hat Aloys Schenzinger wohl für seinen Roman Anilin 1937 benutzt, wie aus vielen Details im des Werkes im Vergleich zur Biographie von Rehberg hervorgeht. In Schenzingers26 Roman steht Runge ganz im Mittelpunkt als der verkannte, deutsche Forscher, dem Anerkennung erst spät und spärlich zuteil wurde.

Die Runge-Biographie von Berthold Anft 1937 ist sehr aufschlußreich, da er als erster die Quellen an der Humboldt-Universität und der Seehandlung ausschöpft. Daraus geht u.a. die beschwerliche Prüfung zur Promotion in der philosophi- schen Fakultät wegen Runges fehlender Lateinkenntnisse hervor, als auch die schlechte Behandlung und Beurteilung durch den Geschäftsdirigenten Cochius. Ansonsten ist die Biographie recht sachlich in der Beurteilung Runges.

G. Kränzlein, Direktor der IG Farbenindustrie Werk Höchst, schreibt 1935:

Es ist Ehrenpflicht deutscher Chemiker, sich des Mannes zu erinnern, der vor 100 Jahren, im Jahre 1834, durch seine Untersuchungen am Steinkohlenteer Grundla- gen geschaffen hat, denen die deutsche Teerfarbenindustrie ihr wirtschaftliches Dasein verdankt.27

Das ist wirklich übertrieben. Und weiter:

Durch die Blaufärbung des Anilins mit Chlorkalk hat Runge zum erstenmal den Weg gewiesen, aus einem Begleitstoff des Steinkolhlenteers einen künstlichen Farbstoff darzustellen. Runge ging aber noch weiter: … (als) er erstmalig das Emeraldin und das auch noch heute ungemein wichtige Anilinschwarz in den Händen hatte.

Er hatte nichts in den Händen, nur einen Fleck vor Augen, und Kränzlein kann die Arbeiten Runges wohl nicht gelesen haben.

An Runges „Geburtshaus“28 in Billwerder befindet sich eine Gedenktafel, die der Verein Deutscher Chemiker 1936 anbringen ließ. Sie hat folgende Inschrift:

– 18 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Chemiker Friedlieb Ferdinand Runge wurde hier am 2. Februar 1794 geboren. Durch seine Entdeckung des Anilins und anderer wertvoller Stoffe im Steinkoh- lenteer hat er die Grundlagen der Deutschen chemischen Industrie mitgeschaffen. Er hat die Naturwissenschaften durch zahlreiche Werke und Forschungen geför- dert.

Kann man nun nach den obigen Ausführungen P. Walden29 zustimmen, der 1944 schreibt:

Im Jahre 1833 hatte … Runge die Destillation des Steinkohlenteers in Angriff ge- nommen … und eine Reihe neuer Körper isoliert … War nun hierdurch nicht dem Sinne und dem Ausgangsmaterial nach die Grundlage für eine technische Darstel- lung künstlicher Teerfarbstoffe gegeben? Man wird die Frage bejahen, zumal auch der farbenfreudige Runge selbst die volkswirtschaftliche Bedeutung seiner Entdeckungen erfaßt und seiner Fabrikleitung Vorschläge gemacht hatte, doch die kaufmännische Leitung lehnte aus Mangel an Unternehmungsgeist alle Vorschlä- ge ab und … siegten auch bei Runges Plänen Geschäftsinteressen und Kurzsich- tigkeit über nationale Belange. Was der Absicht des Erfinders Runge in Berlin versagt wurde, gelang 1856 dem Zufall und der persönlichen Initiative W.H. Perkin, der Chinin künstlich darstellen wollte und statt dessen Erfinder des ersten synthetischen Teerfarbstoffes … und damit zum Initator der großen Teerfarbenindustrie wurde.

Aufgrund der Originalarbeiten muss man die eingangs gestellte Frage, ob Fried- lieb Ferdinand Runge Wegbereiter der Teerfarbenchemie war, verneinen.

Vielmehr muss man den Eindruck bekommen, dass sich die so erfolgreiche deut- sche chemische Industrie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen deut- schen Ahnherrn der Teerfarbenindustrie wünschte und ihn in Runge unbedingt sehen wollte.

Es ist auch bemerkenswert, dass in englischen, chemiehistorischen Werken Run- ge entweder gar nicht erwähnt wird, wie bei William Brock30 oder bei Eduard Farber31, oder nur sehr kurz, wie beim vierbändigen Partington mit gerade 14 Zeilen. Auch im Buch der großen Chemiker von Bugge32 vermissen wir ein Ka- pitel über Runge, nur gelegentlich wird er hier erwähnt und sein Lebenslauf er- scheint als Fußnote!

Immerhin sind die Verdienste Runges durch die Verleihung der Preisgedenk- münze der Londoner Gewerbeausstelung 1863 durch Vermittlung A.W. Hof- manns gewürdigt worden, worüber sich Runge sehr gefreut hat. Dem Überbringer der Auszeichnung sagte Runge: „Spät kommt Ihr – doch Ihr kommt!

– 19 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Es ist nur gut , dass mich dies Anerkennung noch am Leben getroffen hat.“33 Vier Jahre danach ist er nach kurzem Krankenlager gestorben.

Friedlieb Ferdinand Runge war ein sehr vielseitiger Forscher: einerseits der Phy- tochemiker, von der romantischen Naturphilosophie Lorenz Okens geprägt, auf der anderen Seite der praktische, auf Anwendung für das chemische Gewerbe orientierte Chemiker. Besonders hervorgetan hat er sich durch allgemein ver- ständliche Werke.

Die Standard-Biographien F.F. Runges sind: Hermann Schelenz, "Friedlieb Ferdinand Runge," Pharmazeutische Centralhalle (1907), 301-312, u. 342; Max Rehberg, Friedlieb Ferdinand Runge: Entdecker der Teerfarben –sein Leben und sein Werk, Oranienburg 1935; Berthold Anft, "Friedlieb Ferdinand Runge – sein Leben und Werk," Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 23 (1937), 1-207; Karl Aloys Schenzinger, Anilin, Berlin 1937, vgl. dazu Michael N. Keas, "Schenzingers Novel Anilin," Ambix 39 (1992), 127-140 1 Brockhaus Lexikon dtv Bd.15; München 1984, S. 292. 2 H. Römpp, Chemie Lexikon Bd. 5, Stuttgart 1975, S. 3021. 3 Paul Walden, Drei Jahrtausende Chemie, Berlin 1944. 4 F.F. Runge, Hauswirtschaftliche Briefe; Reprint der Orig.-Ausg. von 1866, Weinheim 1988, S. 164. 5 F.F. Runge, ebd. S. 153. 6 F.F. Runge, De nova methodo veneficium belladonnae, daturae, nec non hyoscyami explorandi (gewidmet Fiedler in Schiffbeck und Wohlfahrt, Berlin) Diss. zum Dr. med. 1819. 7 F.F. Runge, De pigmento indico ejusque connubiis cum metallorum nonnullorum oxydis, Diss. zum Dr. phil. 1822. 8 Die preußische Seehandlungs-Gesellschaft wurde 1772 durch Friedrich den Großen gegründet, um unter preußischer Flagge Seehandel zu betreiben, später wurde sie preußische Staatsbank und übernahm die Kontrolle über staatliche Manufakturen. 9 K.A. Schenzinger , Anilin; Berlin 1938; S. 190 : „die Fabrik hat ihn vor Jahren schon einfach auf die Straße gesetzt. Die Seehandlung hatte ihm zwar eine Pension zugesagt, doch trotz großer Verdienste hat er nie einen Groschen bekommen. Wenn unser gnädiger König nicht die paar Thaler Rente zukommen ließe, könnte er glatt verhungern.“ 10 Berthold Anft, Friedlieb Ferdinand Runge – sein Leben und sein Werk; Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften Heft 23, Berlin 1937; Max Rehberg, Friedlieb Ferdinand Runge - Entdecker der Teerfarben; Oranienburg 1935; Reprint Oranienburg 1993. 11 Die Chemische Produktenfabrik in Oranienburg des Commerzienrats Dr. Hempel. Der große

– 20 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Kurfürst ließ im Jahre 1652 für seine aus Holland stammende Gemahlin Louise-Henriette von Oranien ein Schloss erbauen, das nach ihr Oranienburg genannt wurde. Der Apotheker Hempel erwarb 1802 dieses Schloss mit der Auflage, darin eine Baumwollmanufaktur zu errichten. Durch den Krieg gegen Napoleon wurde sie kein Erfolg. Dafür erbaute sein Sohn in den Räumen 1814 eine Schwefelsäurefabrik nach dem Bleikammerverfahren und für Oleum. Damit war auch die Voraussetzung für die Produktion von Soda, Salzsäure, Sodaseife und Natriumsulfat gegeben. Die zweite Produktlinie gründete sich auf die Verarbeitung tierischer Abfälle sowie des Gaswassers aus den Berliner Gasanstalten, d.h. es wurde Salmiak und Ammonsulfat, Kaliumcyanid und gelbes Blutlaugensalz hergestellt. Mit dem Gaswasser gelangten auch große Mengen an Steinkohlenteer in die Fabrik, den die Gasanstalten auf diesem Wege loswerden wollten. In manchen Fässern war mehr Teer als Gaswasser. Den Teer ließ man in offene Gruben auf dem Fabrikgelände laufen. Die chemische Fabrik wurde bis 1848 im Schloss betrieben, danach verlegt. 1861–1926 war das Schloss Lehrerseminar, ab 1933 SS-Kaserne, Zentrale der Konzentrationslager, Polizeischule, nach 1945 Kaserne der DDR-Grenztruppen, nach 1990 restauriert, heute im Besitz des Landes Brandenburg und Museum, u.a. beherbergt es ein Porzellanmuseum und ein Runge-Zimmer. 12 Die Teerarten; Illustriertes Panorama (Zeitschrift) Berlin 1863; zitiert nach Berthold Anft: Friedlieb Ferdinand Runge – sein Leben und sein Werk; Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften Heft 23, Berlin 1937. 13 S. Neufeldt, Chronologie Chemie 1800-1980, VCH, Weinheim 1987; S.25. P. Walden, Drei Jahrtausende Chemie, Berlin 1944; S. 180. 14 Ann.Phys.Chem. XXXI (1834) 65. 15 Kresole und Guajakol aus dem Holzteer. 16 Man vermisst eine Elementar-Analyse der neu gefundenen Substanzen, um durch den Gehalt an C, H und N zu einer Summenformel zu gelangen. Aber auch Otto Unverdorben gibt 1826 keine CH-Analyse an für den eigentümlichen Stoff, den er Kristallin nannte und durch trockene Destillation von Indigo gewonnen hatte. Erst J. Fritsche analysiert das Öl, das er Anilin nannte und das er bei der Einwirkung von konz. NaOH in der Hitze aus Indigo erhielt und gibt ihm die richtige Summenformel C12 H14N2 mit dem Atomgewicht 6 für C. 17 Ann. Phys. Chem. XXXI, 1834, S. 520. 18 Ebd. S. 523. 19 Max Rehberg, Friedlieb Ferdinand Runge, der Entdecker der Teerfarben (Oranienburg 1993), S. 30 20 Berthold Anft, Friedlieb Ferdinand Runge – sein Leben und Werk, Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 23, Berlin 1937. 21 Brief des Geheimen Staatsarchivs, Berlin-Dahlem, an den Autor vom 15.3.2007. 22 A.W. Hofmann, Chemische Untersuchungen der organischen Basen im Steinkohlen-Theeröl, Ann. Chem.Pharm.XLVII (1843), 37. 23 Geheimes Staatsarchiv PK, Archivstraße 12-14, 14195 Berlin (Dahlem), Akte 109 A.

– 21 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

24 Bei der Firma Sell, Teerdestillation, Offenbach. 25 Hermann Schelenz, Friedlieb Ferdinand Runge , Pharmazeutische Centralhalle, Dresden 1907, S. 301 -312, 342. 26 Schenzinger ist auch der Autor des Romans „Der Hitlerjunge Quex“. 27 G. Kränzlein, Zum 100jährigen Gedächtnis der Arbeiten von Runge, Angew. Chem. 48 (1935), 1. 28 Sein Geburtshaus wurde an derselben Stelle 1840 durch einen Neubau ersetzt mit der Gedenktafel. 29 Paul Walden, Drei Jahrtausende Chemie, Berlin 1944. 30 William H. Brock, The Fontana History of Chemistry, London 1992. 31 Eduard Farber, Great Chemists, New York/London 1961. 32 G. Bugge, Das Buch der großen Chemiker [1929], Reprint Weinheim 1984. 33 Max Rehberg, Friedlieb Ferdinand Runge, der Entdecker der Teerfarben (Oranienburg 1993), S. 95.

– 22 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Die Sammlung chemischer Präparate der TU Bergakademie Freiberg – Clemens Winklers materielle Spuren

Dr. rer. nat. Mike Haustein, Curt-Engelhorn-Zentrum für Archäometrie, D6, 3, 68159 Mannheim Dr. Jörg Zaun, Kustodie der TU Bergakademie Freiberg, Lessingstr. 45, 09596 Freiberg

Die Präparatesammlung des Instituts für Anorganische Chemie der TU Bergaka- demie Freiberg ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Nach aktuellem Er- kenntnisstand ist sie mit 1395 Einzelstücken die umfangreichste Sammlung historischer anorganischer Präparate im deutschsprachigen Raum. Hinsichtlich der darin vertretenen Elemente ist sie fast vollständig, d.h. bis auf wenige Aus- nahmen sind alle Grundstoffe des Periodensystems in der Sammlung zu finden. Die überwiegende Zahl der Präparate stammt aus dem Zeitraum Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts und wurde im Laboratorium der Bergakademie her- gestellt.

Der Begründer der Sammlung ist Clemens Alexander Winkler (1838-1904), ei- ner der bedeutendsten Vertreter der Anorganischen Chemie seiner Zeit (Abb. 1). Sein umfangreiches Schaffen zerfällt in zwei Abschnitte, nämlich in sein Wirken in der Sächsischen Montanindustrie und in die Zeit, als er Professor für Anorga- nische Chemie an der Königlichen Bergakademie Freiberg war. Während seiner Anstellung im Blaufarbenwerk Niederpfannenstiel1 bei Aue von 1859 bis 1873, bearbeitete Winkler verschiedene analytische Fragestellungen, führte Untersu- chungen des Bleikammerprozesses zur Schwefelsäuregewinnung durch und ent- wickelte Verfahren zur Rauchgasentschwefelung, die als die ersten ihrer Art gelten. Im Jahre 1864 wurde er auf der Grundlage zweier von ihm eingereichter analytischer Arbeiten an der Universität Leipzig zum Dr. phil. promoviert.2 Von 1873 bis 1902 hatte Winkler den Lehrstuhl für Anorganische Chemie an der Kö- niglichen Bergakademie Freiberg inne. In dieser Zeit führte er grundlegende Ar- beiten zum Schwefelsäure-Kontaktverfahren und zur technischen Gasanalyse durch. Seine bekannteste wissenschaftliche Leistung aber war die Entdeckung des Germaniums im Jahre 1886, wodurch die Theorie von der Periodizität der

– 23 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Elemente, die von Dmitri Mendeleeff3 und Lothar Meyer aufgestellt worden war, bestätigt werden konnte.4,5

Während seiner Professur in Freiberg entstand die überwiegende Anzahl der Prä- parate. Aber auch aus den Jahren 1862 bis 1873, also der Zeit seiner Anstellung als Hüttenchemiker im Blaufarbenwesen, sind einige bedeutende Stücke vorhan- den. Oftmals findet man auf den Gefäßen Etiketten, die Winklers Handschrift tragen. So kann man schlussfolgern, dass viele der Präparate von ihm selbst her- gestellt wurden. Diese Annahme wird dadurch untermauert, dass Winkler erst ab etwa 1890 fest angestellte Assistenten hatte, die ihn bei der Lehre unterstützten. Im Übrigen war er dafür bekannt, dass er mit Vorliebe auch die einfachen Dinge selbst erledigte und nur ungern Arbeit aus der Hand gab.6

Abb. 1: Clemens Alexander Winkler im Jahre 1900.

Der eigentliche Zweck der Sammlung war und ist die Bereitstellung von An- schauungsmaterial für Vorlesungen, Übungen und Praktika. Winklers Vorlesung über Anorganische Chemie wurde stets von Experimenten begleitet und war überhaupt sehr praxisnah und anschaulich gestaltet. Er legte großen Wert darauf, sein stoffkundliches Wissen an die Studenten weiterzugeben, ihnen quasi ein Ge- fühl für die Materie zu vermitteln. Zu diesem Zweck waren die Präparate unent- behrlich und wurden oft als Anschauungsmaterial verwendet. Winklers Vorlesungs-Aufzeichnungen legen davon Zeugnis ab.4 Es ist charakteristisch für Clemens Winkler, dass er dabei stets um Aktualität bemüht war. Besonders dann, wenn neue Elemente entdeckt wurden, war es sein Ergeiz, diese in die Sammlung einzufügen. Bemerkenswert ist, dass der Lehrwert der Sammlung bis heute be-

– 24 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 stehen geblieben ist. Regelmäßig werden viele der Präparate in den Vorlesungen über Anorganische und Analytische Chemie an der TU Bergakademie Freiberg als Anschauungsmaterial verwendet.7 Weiterhin ist das Institut für Anorganische Chemie, in dessen Besitz die Sammlung ist, nicht selten Leihgeber von Präpara- ten für verschiedene Ausstellungen außerhalb der Universität. Heute bedient die Sammlung noch ein weiteres Anliegen, sie verkörpert ein bedeutendes Stück Wissenschaftsgeschichte, das z.T. weit über die Belange der Bergakademie hin- ausreicht. Als Beispiel seien nur die Präparate erwähnt, die im Zusammenhang mit der Entdeckung des Germaniums oder der Entwicklung des Schwefelsäure- Kontaktverfahrens stehen.

Die wissenschaftlichen Leistungen von Clemens Winkler sind sehr umfangreich. So hinterlässt er uns in etwa 140 Veröffentlichungen, worunter sich mehrere Bü- cher befinden, ein umfangreiches Abbild seiner Forschungstätigkeit.8 Die Samm- lung chemischer Präparate, die man durchaus als sein materielles Vermächtnis bezeichnen kann, ist mit 1395 Einzelstücken nicht weniger beeindruckend. Sie gibt uns einen Einblick in die Wissenschaftsgeschichte jener Zeit. So erscheint es besonders reizvoll, den Versuch zu wagen, Verbindungen zwischen den vorhan- denen Präparaten und Winklers Forschungen herzustellen, was in vielen Fällen auf verblüffende Weise gelingt.

Fragen, Zahlen und Fakten

Zur überwiegenden Zahl der insgesamt 1395 inventarisierten Präparate sind kei- ne näheren Angaben verfügbar. Auf den Etiketten findet man meist nur die Be- zeichnung der jeweiligen Substanz, Fragen zur Herkunft und zum Alter der einzelnen Stücke sind daher nicht immer leicht zu beantworten. Dennoch gibt es einige Möglichkeiten, derer man sich bedienen kann, um Informationen zu erhal- ten.

Zunächst kann die Ausführung der Behältnisse und die Art der Etiketten zur zeit- lichen Eingrenzung herangezogen werden. Der oft zu findende Aufdruck „Che- misches Laboratorium der Kgl. Bergakademie Freiberg“ macht sowohl eine eigene Herstellung als auch eine Entstehung vor 1918, dem Jahr als der Zusatz „Königlich“ aufgrund der veränderten politischen Verhältnisse wegfiel, wahr- scheinlich. Allerdings ist in Betracht zu ziehen, dass alte Etiketten natürlich auch noch nach der Abschaffung der Monarchie in Sachsen verwendet worden sind. Als Beispiel hierfür sei das in der Sammlung vorhandene Rhenium genannt, dass zwar erst 1925 entdeckt wurde, aber dennoch ein altes Etikett trägt. Aufgrund der Tatsache, dass das Präparat von Otto Brunck, der von 1902 bis 1931 Professor für Chemie an der Bergakademie war, beschriftet wurde, lässt es sich zwischen

– 25 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 1925 und 1931 datieren. In diesem Zusammenhang muss noch erwähnt werden, dass auf den meisten der alten Etiketten, die Abkürzung „Kgl.“ (Königlich) ge- schwärzt wurde (vgl. Abb. 4). Diese aus heutiger Sicht sinnlose und den histori- schen Wert der Präparate herabwürdigende Maßnahme wurde vermutlich bei der Verlegung der Sammlung vom alten chemischen Institut der Bergakademie in der Brennhausgasse in den Neubau an der Leipziger Straße im Jahre 1956 durch- geführt. Die Aktion ist als Ausdruck der damals herrschenden politischen Ver- hältnisse zu verstehen und damit heute wiederum als historisches Zeugnis zu bewerten.

Überhaupt ergeben sich durch die Verknüpfung möglichst vieler Anhaltspunkte wie Auswertung bekannter Handschriften, Einbeziehung des Wissenstandes zu jener Zeit oder das Ziehen von Parallelen insbesondere zu Clemens Winklers Forschungstätigkeit, die sichersten und interessantesten Informationen zu den vorhandenen Objekten. So finden sich in der Sammlung zahlreiche Präparate, die als Didymsalze bezeichnet werden. Clemens Winkler schreibt dazu:

Dass das Didym kein einfacher Stoff sein könne, hat man schon lange vermuthet, aber erst Carl Auer von Welsbach, ist es 1885 gelungen, dasselbe in zwei Elemen- te, das Praseodym und das Neodym zu zerlegen.9

Abb. 2: Didym-Präparate vor 1885, von Clemens Winkler beschriftet.

Daraus lässt sich schlussfolgern, dass alle als Didymverbindungen bezeichneten Präparate, die sich in der Sammlung befinden, vor 1885 entstanden sein müssen, während die vorhandenen Neodym- und Praseodymsalze in die Zeit danach ein-

– 26 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 zuordnen sind. Zusätzlich ist bekannt, dass sich Winkler im Jahre 1865, als er noch Hüttenchemiker in Niederpfannenstiel war, intensiv mit Didymverbindun- gen befasste.10 Es ist also anzunehmen, dass viele der Didym-Präparate aus die- sem Jahr stammen, zumal sie noch nicht die Etiketten der Königl.-Sächs. Bergakademie tragen (Abb. 2).

Auf diese und ähnliche Weise kann man nach und nach Informationen sammeln. Daraus ergibt sich, dass etwa ¾ der Präparate aus eigener Herstellung stammen. Nur wenige Substanzen wurden angekauft oder auf ähnliche Weise beschafft. Die meisten Präparate, schätzungsweise über 90%, stammen nach derzeitigen Erkenntnissen aus dem Zeitraum 1870 bis 1920, das Gros davon wiederum dürfte zwischen 1890 und 1900 entstanden sein. Dabei mangelt es nicht an Gefäßen, die von Clemens Winkler selbst beschriftet wurden. Bei den wenigen jüngeren Prä- paraten handelt es sich oft um Gastgeschenke, beispielsweise aus Anlass der jährlich stattfindenden Clemens-Winkler-Kolloquien.

Bemerkenswert ist die Vollständigkeit der Sammlung. Zweifellos war es Wink- lers Ehrgeiz, möglichst alle der damals bekannten Elemente zu besitzen. Tatsäch- lich spiegelt die Sammlung fast das gesamte Periodensystem wider. Dabei sind in den meisten Fällen sowohl das jeweilige Element selbst, als auch viele seiner Verbindungen vorhanden. Besonders zahlreich sind dabei die Präparate, die Ele- mente beinhalten, welche Schwerpunkte von Winklers Forschungen bildeten. Das trifft z.B. auf Kobalt und Nickel (46 bzw. 33 Stück), Kupfer (62 Stück) und natürlich auf das Germanium (37 Stück) zu. Bis zur Ordnungszahl 83 (Wismut), dem letzten stabilen Element, fehlen lediglich einige Lanthanide und die Edelga- se, was damit begründbar ist, dass die letzteren kaum zu Ausstellungszwecken geeignet sind. Von den Actiniden, die alle mehr oder minder radioaktiv sind, be- finden sich Uran und Thorium in der Sammlung. Stellt man darüber hinaus die Frage, welche Elemente erst in der jüngeren Vergangenheit, etwa nach 1920, ih- ren Platz in den Vitrinen fanden, so sind nur das Rhenium (zwischen 1925 und 1931), Technetium (1980), Hafnium (1995) und Scandium (2007) zu nennen. Zieht man in Betracht, dass von diesen Elementen vor 1920 nur das Scandium11 bekannt war, so wird klar, dass es allem Anschein nach bereits Clemens Winkler gelungen war, eine vollständige Sammlung anorganischer Präparate anzulegen. Es ist daher durchaus angemessen, Winkler nicht nur als Begründer, sondern auch als Vollender der Präparatesammlung zu bezeichnen.

Die Spuren aus der Blaufarbenzeit

Nach seinem Studium an der Königl.-Sächs. Bergakademie in Freiberg (1857- 1859), begann Winkler seine Laufbahn im Sächsischen Blaufarbenwesen mit

– 27 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 einer Anstellung im fiskalischen Blaufarbenwerk Oberschlema.12 Einige Zeit später wechselte er in das privatwirtschaftliche Werk Niederpfannenstiel bei Aue über, wo er bis zu seiner Berufung als Professor an die Bergakademie im Jahre 1873 als Hüttenchemiker tätig war. In dem dort vorhandenen, gut ausgestatteten Labor fand er Möglichkeiten, seinen eigenen Forschungen nachzugehen. Hilf- reich war dabei, dass sich seine Interessen fast immer irgendwie mit den Belan- gen des Hüttenwerkes kreuzten. So sind seine Arbeiten zu Kobalt und Nickel, den klassischen Blaufarbenmetallen, besonders umfangreich.4

Winklers Wirken im Sächsischen Blaufarbenwesen fällt in eine Zeit, als dieser traditionelle Industriezweig in einer substanziellen Krise steckte und dringend der Erneuerung bedurfte. Innovationen, vor allem die Einführung neuer Produkte war zwingend erforderlich. So musste die traditionelle Kobalt-Farbenproduktion, die kaum mehr Gewinn erbrachte, stetig zurückgefahren werden. An die Stelle der Farbe trat die Produktion von Metallen, vor allem von Nickel, Kobalt und Kupfer. Winkler erwarb sich vielfältige Verdienste in diesem Bereich, u.a. ge- lang es ihm, erstmals größere Gussstücke von Nickel und Kobalt herzustellen, die 1867 auf der Weltausstellung in Paris der Öffentlichkeit präsentiert wurden.4 Diese beiden Barren finden wir heute in der Sammlung wieder, sie sind ohne Zweifel die bedeutendsten Stücke aus Winklers Blaufarbenzeit (Abb. 3).

Abb. 3: Erste größere Gussstücke von Kobalt und Nickel, hergestellt von C. Winkler für die Weltausstellung 1867 in Paris.

– 28 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Es erschien besonders reizvoll, diese beiden wertvollen Symbole der Innovatio- nen im Sächsischen Blaufarbenwesen, näher zu untersuchen. Der Nickelbarren hat eine Masse von 780g, während das Gegenstück aus Kobalt nur 570g wiegt. Beide Barren wurden poliert und weisen einige Gussfehler auf. Eine Röntgen- Fluoreszenz-Analyse (RFA) ergab folgende Zusammensetzung für den Nickel- Barren: 88,9% Ni, 0,8% Co, 9,3% Cu und 1,0% Fe sowie für den Kobalt-Barren: 98,5% Co, 0,6% Ni, 0,6% Cu und 0,3% Fe. Daraus lässt sich zunächst schluss- folgern, dass Winkler die überaus schwierige Trennung von Nickel und Kobalt außerordentlich gut gelungen ist. Das Kobalt-Gussstück ist bemerkenswert rein, dagegen fällt der hohe Kupfer-Anteil des Nickels auf, was auf die Verarbeitung von Kupfer-Nickel-Erz schließen lässt. Eine Reinigung des Nickels auf elektroly- tischem Wege oder nach Mond wurde erst ab ca. 1890 praktiziert.

Abb. 4: Das Würfel-Nickel war seit Mitte des 19. Jahrhunderts eines der wichtigsten Erzeugnisse der Sächsischen Blaufarbenwerke.

– 29 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Neben diesen beiden bemerkenswerten Stücken finden sich in der Sammlung noch weitere Artefakte bzw. Präparate, die Winkler bei seinem Eintritt in die Akademie aus dem Blaufarbenwerk mitbrachte. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang vor allem das erste gewalzte Kobaltblech, das Würfel-Nickel (Abb. 4), verschiedene Kobalt-Farbstoffe und einige Glasproben, wie z.B. die weißen und halbweißen Hohlgläser (Abb.5).

Abb. 5: Weiße und halbweiße Hohlgläser aus der Produktpalette der Blaufarbenwerke. Die Flaschen wurden von Winkler beschriftet und dürften wie das aus Venedig stammende Aventuringlas aus dem Jahre 1869 stammen.

Von den Präparaten, die zwar einen Bezug zum Sächsischen Blaufarbenwesen aufweisen, aber nach 1873 hergestellt wurden, sollen noch die von Winkler selbst beschrifteten Gefäße mit dem Elektrolyt-Kobalt und dem Mond-Nickel (Abb. 6), die beide aus der Zeit um 1890 stammen dürften, erwähnt werden. Das Mond-Verfahren zur Reinigung von Nickel über dessen Carbonyl-Verbindung wurde 1890 von Ludwig Mond entwickelt. Zur Reinheit des Präparates hat Winkler auf dem Etikett „99,85 Ni, Fe 0,15 und C Spur“ vermerkt. Es handelt sich dabei zweifelsfrei um das Ergebnis einer von Winkler an dieser Probe durchgeführten quantitativen Analyse.

– 30 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Abb. 6: Mond-Nickel um 1890, Beschriftung mit Analysendaten von Clemens Winkler.

Besonders interessant sind auch die vermutlich von Winkler selbst in ein Glas- röhrchen eingeschmolzenen 20-Pfennig-Stücke des Deutschen Reiches aus einer Nickel-Kupfer-Legierung. Die Datierung fällt hier nicht schwer, die fünf Münzen tragen die Jahreszahl 1887 (Abb. 7).

Abb. 7: Nickel-Münzen, vermutlich Erstprägung 1887 aus der Münze Muldenhütten.

Da die Glasampulle völlig unbeschädigt die Zeit überdauert hat, sind die Geldstücke in hervorragendem Erhaltungszustand, vielleicht handelt es sich so- gar um das am besten erhaltene Präparat dieser Art. Außergewöhnlich ist es al- lerdings aus anderen Gründen. Zunächst war 1887 das Jahr, als in der Münze Muldenhütten bei Freiberg die Prägung von Zahlungsmitteln nach jahrhunderte-

– 31 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 langer Pause wieder aufgenommen wurde.13 Es dürfte sich also vermutlich sogar um eine Erstprägung handeln, die Winkler zu Anschauungszwecken übergeben wurde. Weiterhin ist die Verwendung von Münzmetallen eine Thematik, mit der sich Winkler bereits früher beschäftigt hatte. In seiner Abhandlung „Ein techni- scher Beitrag zur deutschen Münzfrage“14 äußert er sich auch zu Nickel als mög- lichem Münzmetall, allerdings favorisiert er das zu dieser Zeit noch sehr exotische Aluminium. Ein Vorschlag, mit dem er seiner Zeit weit voraus war, Aluminium-Münzen wurden in Deutschland erst während und nach dem ersten Weltkrieg gebräuchlich. Auf jeden Fall sind die 20-Pfennig-Münzen ein anschau- liches Beispiel für die Verwendung des in den Blaufarbenwerken erzeugten Nic- kels.

Was blieb von der Kontakt-Schwefelsäure?

Im Oktober 1875, Clemens Winkler war bereits seit zwei Jahren Professor an der Königl.-Sächs. Bergakademie, veröffentlichte er in Dinglers polytechnischem Journal eine Abhandlung, die großes Aufsehen erregte. In seinem Artikel „Ver- suche über die Überführung der schwefligen Säure in Schwefelsäureanhydrid durch Contactwirkung behufs Darstellung von rauchender Schwefelsäure“15, zeigte er einen neuen Weg zur Herstellung von Oleum auf. Diese überkonzen- trierte Schwefelsäure wurde besonders in der Teerfarbenchemie zur Sulfonierung benötigt, durch die bisherige Produktionsweise, der jahrhundertealten Oleum- brennerei16, konnte der Bedarf nicht mehr gedeckt werden. Winkler zeigte, wie man die durch Zersetzung von niedrig konzentrierter Schwefelsäure erhaltenen Gase Schwefeldioxid und Sauerstoff durch einen Platinkontakt erneut zu Schwe- felsäureanhydrid vereinigen konnte. Da er das in der Schwefelsäure enthaltene Wasser kondensieren konnte, erhielt er auf diese Weise das begehrte Oleum. Nach und nach entwickelte sich aus diesem Ansatz das Kontaktverfahren, das die billigen Röstgase der Metallhütten als Rohstoffquelle nutzte und das aufgrund seiner hohen Effizienz schließlich auch zur Produktion der konventionellen Schwefelsäure herangezogen wurde.

Winkler beschreibt sehr anschaulich die Herstellung des Kontaktes15, insbeson- dere auch die Abscheidung des Edelmetalls auf Asbest. Er hatte aber auch mit Bimsstein als Trägermaterial, bzw. mit Iridium und Palladium als Kontaktsub- stanzen experimentiert. Besonders die Frage nach der Quantität des Platins, wel- ches auf dem Asbest abgeschieden werden müsse, um die größtmögliche Wirksamkeit des Katalysators zu erreichen, bedurfte der Klärung. Als optimal erwiesen sich letztlich 8,5% des Edelmetalls. All diese Experimente aus den Jah- ren 1874 und 1875 lassen sich anhand der in der Sammlung vorhandenen Kon- taktsubstanzen nachvollziehen. Vorhanden ist ein Platin-Bimsstein-Kontakt,

– 32 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 sieben Platin-Asbest-Katalysatoren mit 3-25% des Edelmetalls, sowie Iridium- und Palladium-Substanzen. Es handelt sich dabei um Präparate, die nicht vorder- gründig für Ausstellungszwecke hergestellt wurden. Die Gefäße tragen meist einfache Etiketten mit Handschriften (vgl. Abb. 8). Mit großer Wahrscheinlich- keit handelt es sich um die Reste der Kontaktsubstanzen, die Winkler für seine Versuche benötigte. Es scheint daher nicht übertrieben, wenn man feststellt, dass die Ursprünge der modernen Schwefelsäureproduktion bis heute in der Samm- lung chemischer Präparate aufbewahrt werden.

Abb. 8: Platin-Asbest-Kontaktsubstanzen, die Winkler 1875 bei der Entwicklung des Schwefelsäure- Kontaktverfahrens einsetzte.

Das berühmteste Präparat

Oftmals wird Winklers Name ausschließlich mit der Entdeckung des Germani- ums in Verbindung gebracht, was seine anderen Arbeiten wie z.B. zur Gasanaly- se oder dem Kontaktverfahren, die von weit größerem wirtschaftlichen Nutzen waren, herabwürdigt. Trotzdem war es seine bedeutendste Leistung mit großer

– 33 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Tragweite für den Erkenntnisfortschritt in der Wissenschaft, denn durch die Ent- deckung des Germaniums wurde nicht nur ein neuer Grundstoff gefunden, son- dern das Periodische System der Elemente, diese wunderbare und erstaunliche Ordnung, als richtig erkannt. Man sollte nicht vergessen, dass die Bestätigung der Theorie von der Periodizität die Grundlage für unsere heutigen Vorstellungen vom Atombau und somit dem Verständnis chemischer Reaktionen ist.

Anfang September des Jahres 1885 wurde in der Himmelsfürst Fundgrube bei Freiberg ein neues Mineral aufgefunden, dem der Mineraloge Albin Weisbach den Namen „Argyrodit“ gab. Weisbach bat seinen Freund und Cousin Clemens Winkler um eine chemische Analyse der neuen Spezies. Er setzte damit einen Automatismus in Gang, der sich schon bei der Bestimmung anderer Minerale bewährt hatte.17 Immerhin galt Winkler als Meister der Mineralanalyse.4 Aller- dings verlief die quantitative Analyse diesmal nicht zufrieden stellend, da sich bei der Aufsummierung der Bestandteile Silber und Schwefel ein Fehlbetrag von etwa 7% ergab. Winkler wiederholte die Analyse mehrfach, doch das Ergebnis blieb immer das gleiche. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass sich ein neues Element in dem Mineral befinden müsse, dass durch die bekannten analytischen Reaktionen nicht zu fassen war. Da er nun gezielt nach dem neuen Grundstoff suchte, gelang ihm einige Wochen später, am 6. Februar 1886 die Ausfällung des neuen Elementes.18 Einen Teil des Germaniumsulfid-Niederschlages schmolz Winkler in ein Glasrörchen ein, welches sich bis heute in der Sammlung befindet und gewissermaßen das berühmteste Präparat darstellt. Das Gefäß wurde von Winkler mit der Aufschrift „Germaniumsulfid 6. Febr. 1886“ versehen (Abb. 9).

Abb. 9: Erste Fällung von Germaniumsulfid vom 6. Februar 1886, beschriftet von Clemens Winkler.

Bei näherer Betrachtung des in einer wässrigen Flüssigkeit, vermutlich Salzsäure, befindlichen Niederschlages, der sicherlich nicht mehr als 0,1g ausmacht, lässt sich eine gelbliche Verfärbung der Substanz nicht ableugnen. Da reines Germa- niumsulfid weiß ist, kann vermutet werden, dass noch gewisse Mengen an Anti- mon und Arsen enthalten sind. Das ist nicht verwunderlich, denn Winkler selbst beschreibt ja die Schwierigkeiten bei der Abtrennung dieser beiden Begleitstof-

– 34 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 fe.18,19 Leider ist eine Analyse der Fällung nicht möglich, da das zu geschmolze- ne Röhrchen selbstverständlich nicht aufgebrochen werden darf.

Abb. 10: Probe des Argyrodits, aus dem Winkler das Germanium isolierte.

Auch von dem Argyrodit, aus dem die Isolation des neuen Elements gelang, ist eine Probe erhalten geblieben. Das Gefäß trägt die Aufschrift „Argyrodit aus dem Nachlass von Cl. Winkler, Eigenthum von O. Brunck, Eine Probe ergab 3,8% Germanium“ (Abb. 10). Es handelt sich um die Handschrift von Otto Brunck und es ist anzunehmen, dass dieser das Präparat nach Winklers Tod pri- vat übernommen hat und später in die Sammlung gab.20 Es ist bekannt, dass nach 1886 kein Argyrodit im Freiberger Revier mehr aufgefunden wurde, das Vor- kommen blieb somit eine einzigartige Laune der Natur. Demnach ist sicher, dass dieses Präparat einen Teil des Argyrodits von der Himmelsfürst Fundgrube bein- haltet, aus dem das Germanium isoliert wurde.

Nach der Entdeckung des neuen Elements war dessen Charakterisierung die dringlichste Aufgabe. Schon Ende Februar stand fest, dass das Germanium mit dem von Mendeleeff vorausgesagten Eka-Silizium identisch ist.21 Victor von

– 35 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Richter (Breslau) und Lothar Meyer (Tübingen) waren die ersten, die diesen wichtigen Sachverhalt erkannten. Kurioserweise war Mendeleeff selbst erst eini- ge Zeit später von dieser Tatsache überzeugt.4 Auf jeden Fall ergaben sich bei der näheren Untersuchung des Germaniums und von dessen Verbindungen prä- gnante Übereinstimmungen mit den von Mendeleeff für das Eka-Silizium getrof- fenen Vorhersagen. Die vor der Entdeckung des Gemaniums noch zahlreich geäußerten Zweifel an der Richtigkeit der Lehre von der Periodizität verstumm- ten.

Winkler hatte auch Kontakt zu Paul Emile Lecoq de Boisbaudran in Paris, dem 1875 die Entdeckung des Galliums gelungen war.22 Er fertigte mit Winklers Ein- verständnis ein Germanium-Spektrum an, und bestimmte nach einer von ihm entwickelten Methode aus der Lage der Spektrallinien die Atommasse des neuen Elements. Für das Germanium, das er dafür von Winkler erhalten hatte, revan- chierte er sich mit der Übersendung von 0,15g Gallium. Clemens Winkler, der ohne Zweifel hoch erfreut war über dieses Geschenk, beließ die winzige Metall- probe in ihrem Originalpapier und legte sie in eine kleine Pappschachtel, die er persönlich mit „Gallium. Geschenk von Lecoq de Boisbaudran in Paris, Juni 1886, Werth 150-200 M. Winkler“ beschriftete (Abb. 11). Dieses Präparat ist wohl das bedeutendste Geschenk, das wir heute in der Sammlung finden. Erwäh- nenswert ist außerdem, dass die umfangreiche Korrespondenz, die Winkler aus Anlass der Entdeckung des Germaniums mit namhaften Wissenschaftlern seiner Zeit führte, an der TU Bergakademie noch im Original vorhanden ist und damit eine wissenschaftshistorisch sehr interessante Peripherie um die Germaniumprä- parate bildet.

Abb. 11: Gallium, das Winkler im Juni 1886 von Lecoq de Boisbaudran geschenkt wurde. Das Behältnis wurde von Clemens Winkler beschriftet.

– 36 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Insgesamt befinden sich in der Sammlung 37 Germaniumpräparate, wovon nur vier aus der Zeit nach 1920 stammen. Von den restlichen 33 Stück wurden sechs auf der Weltausstellung 1904 in St. Louis (USA) ausgestellt.23 Bei den restlichen 27 Präparaten stellt sich nunmehr die Frage, ob es sich um Proben jener Substan- zen handelt, die Winkler in den Jahren 1886 und 1887 zur Charakterisierung des neuen Elementes synthetisiert hat. Stellt man einen Vergleich zwischen den von Winkler in zwei Veröffentlichungen beschriebenen19,24 und den in der Sammlung vorhandenen Germaniumverbindungen her, so ergibt sich eine lückenlose Über- einstimmung (Tab. 1). Es kann demnach kein Zweifel bestehen, dass diese Ger- maniumpräparate authentisch sind und aus der Zeit der Entdeckung des neuen Elements stammen. Es sollte noch erwähnt werden, dass eine Probe elementaren Germaniums mit der Beschriftung „Germanium von Cl. Winkler hergestellt“ (Abb. 12), einer RFA-Analyse unterzogen wurde. Das Ergebnis belegt die hohe Reinheit der Substanz. Der Germaniumgehalt beträgt über 99%. Eisen, Silber, Zinn und Antimon sind nur in Spuren vorhanden.

Veröffentlichung Juli 1886 Vorhandene „alte“ Präparate Germanium 3x Ge Germaniumoxydul/ Oxid GeO / 2x GeO2 Germaniumhydroxydul Ge(OH)2 Germaniumsulfür/ Sulfid 2x GeS / 7x GeS2 Germaniumchlorür/ Chlorid GeCl2 / GeCl4 Germaniumbromid/ Jodid GeBr4 / GeJ4 Germaniumchloroform GeHCl3 Germaniumoxychlorid GeOCl2 Veröffentlichung 1887 Germaniumtetraetyl Ge(Et)4 Kaliumgermaniumfluorid K2GeF6

Tab. 1: Gegenüberstellung der von Winkler in den Jahren 1886 und 1887 hergestellten und veröffentlichten und den in der Sammlung vorhandenen Germaniumverbindungen.

Kuriositäten

Mit der Entdeckung des Germaniums war das Periodische System der Elemente von einer Hypothese zur wissenschaftlichen Tatsache geworden. Neben vielen wertvollen Impulsen für den weiteren Fortschritt in der Forschung, wurden damit aber auch einige, heute kurios anmutende Erscheinungen impliziert. Denn noch hatte das System Lücken, und wer wollte nicht ein Stück Berühmtheit durch die Entdeckung eines neuen Elementes nach dem Beispiel von Clemens Winkler er-

– 37 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 langen. So häufen sich nach 1886 die Meldungen über die Auffindung vermeint- licher neuer Elemente. Als Beispiele sein nur das Austrium, Jargonium, Norwe- gium und Damarium genannt. Das letztere stellte sich allerdings als Aprilscherz der Redaktion der Chemikerzeitung in der Ausgabe vom 2. April 1890 heraus, der wohl auf die blinde Entdeckungswut einiger Wissenschaftler abzielte.25

Abb. 12: Bei diesem Gefäß mit der Aufschrift „Germanium von Cl. Winkler hergestellt“ dürfte es sich um eines der ersten Präparate handeln, die aus elementarem Germanium bestehen.

Real sind dagegen drei kleine Glasflaschen, die sich in der Sammlung befinden und Substanzen enthalten, die als „Russium“, „Kosmium“ und „Neokosmium“ bezeichnet werden. Das Gefäß mit der Aufschrift „Russium (Nitr.)“ trägt zusätz- lich die Jahreszahl 1889 und den Namen des vermeintlichen Entdeckers „Chrustschof, S. Petersburg“ (Abb. 13). Angeblich sollte es sich bei dieser Sub- stanz um ein neues Element mit dem Atomgewicht 220 handeln. In einem Sit- zungsbericht der Kaiserl. mineralogischen Gesellschaft zu St. Petersburg vom 18. Februar 1890 finden sich dann auch einige Mitteilungen, die die Eigenschaften des angeblich 1889 entdeckten Russiums betreffen.26 Die merkwürdige Substanz geisterte wohl noch fast zehn Jahre durch die wissenschaftliche Welt, Winkler stellte 1897 fest, dass die Existenz des Russiums noch nicht geklärt sei.9

– 38 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Abb. 13: Behältnisse mit den vermeintlich neuen Elementen „Russium“, „Kosmium“ und „Neokosmium“.

Etwas anders verhält es sich beim Kosmium und Neokosmium, von denen wohl kaum einer glaubte, dass es sich wirklich um neue Elemente handelte. Die Be- zeichnungen rühren auch nicht, wie man zunächst meinen könnte, vom Kosmos her, sondern von „Kosmann“, dem Namen des vermeintlichen Entdeckers. Tat- sächlich meldet dieser die Darstellung zweier neuer Edelerden, wie er die angeb- lichen Elemente nannte, am 26. November 1896 zum Patent an.27 Winkler schreibt hierzu: „Wenn Patente nicht Geld kosten würden, so könnte man hier- durch an einen Aprilscherz erinnert werden, …“.9 Jedenfalls kommt es nicht zur Erteilung des Patents, es muss also ziemlich schnell klar gewesen sein, dass es sich um einen Irrtum handelte.

Bleibt einerseits die Frage um was es sich bei den merkwürdigen Präparaten wirklich handelt, andererseits ist unklar, wie sie in die Sammlung gelangt sind. Eine Analyse der wasserlöslichen Substanzen mittels Massenspektrometrie ent- larvte das Russium als mit Barium (6%) und Cer (1%) verunreinigtes Thorium. Kosmium und Neokosmium bestehen aus Lanthan als Hauptbestandteil (90 bzw. 82%) und wechselnden Anteilen an Barium, Neodym und Praseodym. Es sind keine allzu überraschenden Ergebnisse, zumal beim Russium im Vorfeld der massenspektrometrischen Untersuchung eine geringe Radioaktivität festgestellt wurde und Kosmann seine beiden Substanzen selbst im Bereich der Seltenen Er- den ansiedelt.

– 39 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Die Frage nach der Herkunft ist sehr viel schwieriger zu beantworten. Dass die Substanzen von außen an die Bergakademie gelangt sein müssen, ist relativ klar, dafür sprechen die Gefäße und deren Etikettierung, die sich völlig von den ande- ren Präparaten unterscheiden. Möglicherweise wurde Winkler vom „Entdecker“ oder auch vom Kaiserlichen Patentamt zu einer Stellungnahme zum Kosmium und Neokosmium gebeten, wobei ihm die Proben übergeben wurden. Auch das Russium könnte ihm vom „Entdecker“ übersandt worden sein. Allerdings konn- ten bisher keine Unterlagen aufgefunden werden, die diese Vermutungen unter- mauern könnten.

So bleiben diese drei merkwürdigen Exponate ohne nachvollziehbare Verbin- dung zu den anderen Präparaten der Sammlung, also gewissermaßen isoliert be- stehen. Trotz ihres augenscheinlich fehlenden wissenschaftlichen Wertes, kann ihnen doch eine gewisse historische Aussagekraft nicht abgesprochen werden. Sie gewähren uns immerhin einen Einblick in die wissenschaftliche Welt jener Zeit, zeigen die Irrwege, die beschritten wurden und bereichern die Sammlung durch ihre Skurrilität. Sie sind seltene materielle Zeugnisse des wissenschaftli- chen Irrtums, der mindestens so häufig aber auch eben so notwendig, wie der wirkliche Fortschritt ist.

Zusammenfassung

Die TU Bergakademie Freiberg besitzt mit 1395 inventarisierten Einzelstücken die größte Sammlung historischer anorganischer Präparate in Deutschland. Die Sammlung wurde von Clemens Winkler begründet, der im Jahre 1886 das Ger- manium entdeckte. Er war von 1873 bis 1902 Professor für Chemie an der Kö- nigl.-Sächs. Bergakademie. Die Präparate belegen den Stand der Wissenschaft vor über 100 Jahren, einige der Exponate zeugen von Meilensteinen der For- schung, wie der Entdeckung des Germaniums oder der Entwicklung des Schwe- felsäure-Kontaktverfahrens. Somit ist die Sammlung als materielles Erbe von Clemens Winkler mit hohem wissenschafts-geschichtlichem Wert zu betrachten.

Summary

With 1395 pieces the Technical University Bergakademie Freiberg is the owner of the largest collection of historical inorganic chemicals in Germany. The col- lection was founded by Clemens Winkler, who discovered Germanium in 1886. He was Professor for Chemistry at the “Königlich-Sächsische Bergakademie” from 1873 to 1902. Some of the collection items can be considered as milestones of chemical research, e.g. the first isolated Germanium or the platinum samples

– 40 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 used for the development of the contact process. Thus, the collection can be con- sidered as the material heritage of Clemens Winkler.

Kontaktadresse der Sammlung: Prof. Dr. Edwin Kroke, Institut für Anorganische Chemie, TU Bergakademie Freiberg, Leipziger- Str. 29, 09596 Freiberg 1 Das Blaufarbenwerk Niederpfannenstiel war das Hauptwerk des Sächsischen Privat- Blaufarbenwerksvereins, siehe Mike Haustein, Clemens Winkler - Chemie war sein Leben, Verlag Harri Deutsch (Frankfurt/M. 2004). 2 Lothar Beyer, Vom Doktoranden zum berühmten Chemiker, Passage Verlag (Leipzig 2005). 3 Die Schreibweise des Namens „Mendeleeff“ erscheint zwar ungewöhnlich, sie findet sich aber auf den zeitgenössischen Visitenkarten des russischen Gelehrten, die in französischer Sprache abgefasst wurden, wieder und ist daher als historisch korrekt zu betrachten. 4 Mike Haustein, Clemens Winkler, op. cit. 5 Hanns Winkler, Anton Lissner, Alfred Lange, Rudolf Prokop, Clemens Winkler: Gedenk- schrift zur 50. Wiederkehr seines Todestages, Freiberger Forschungshefte, D8 (Freiberg 1954). 6 Otto Brunck, Clemens Winkler, Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft, 39 (1907), S. 1-58. 7 Aufgrund der weiteren Nutzung in Lehrveranstaltungen mussten die Präparate entsprechend der Gefahrstoffverordnung gekennzeichnet werden. Es wurde versucht diese Kennzeichnung so anzubringen, dass sie das historische Erscheinungsbild der Präparate möglichst wenig stört. 8 Eine vollständige Liste von Winklers Veröffentlichungen findet sich in Mike Haustein, Cle- mens Winkler, op. cit. 9 Clemens Winkler, Über die Entdeckung neuer Elemente im Laufe der letzten 25 Jahre und damit zusammenhängende Fragen, Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft, 30 (1897), S.1-16. 10 Clemens Winkler, Über die Trennung von Lanthan und Didym, Journal für praktische Che- mie, 95 (1865), S. 410-413. 11 Scandium wurde 1879 von Lars Frederic Nilson entdeckt. 12 Das Blaufarbenwerk Oberschlema war ein staatliches Unternehmen und gehörte daher nicht dem Privat-Blaufarbenwerksverein an. Unter der Dachorganisation aller Sächsischen Blau- farbenwerke, dem Blaufarbenwerks-Konsortium, stand es aber mit den Privatwerken in en- ger Verbindung. Siehe auch Mike Haustein, Clemens Winkler, op. cit. 13 In der Münze in Muldenhütten bei Freiberg wurden in der neueren Zeit von 1887 bis 1953 Münzen geprägt. Erkennbar sind sie am Buchstaben E.

– 41 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 14 Clemens Winkler, Ein technischer Beitrag zur deutschen Münzfrage, Journal für praktische Chemie, NF 7 (1873), S. 132-135. 15 Clemens Winkler, Versuche über die Überführung der schwefligen Säure in Schwefelsäu- reanhydrid durch Contactwirkung behufs Darstellung von rauchender Schwefelsäure, Ding- lers polytechnisches Journal, 218 (1875), S. 128-139. 16 Die Oleumbrennerei wurde seit 1778 auf den Johann-David-Starck´schen Werken bei Pilsen betrieben. Als Rohstoff diente der dort vorkommende Vitriolschiefer. 17 Clemens Winkler, Rhagit und Roselit, Journal für praktische Chemie, 10 (1874), S. 190-198. Siehe auch Mike Haustein, Clemens Winkler, op. cit. 18 Clemens Winkler, Germanium, Ge, ein neues, nichtmetallisches Element, Berichte der Deut- schen Chemischen Gesellschaft, 19 (1886), S. 210-211. 19 Clemens Winkler, Mitteilungen über das Germanium, Journal für praktische Chemie, 34 (1886), S. 177-229. 20 Otto Brunck folgte Clemens Winkler auf dessen Lehrstuhl nach, er war gleichsam sein Schwiegersohn. 21 Dmitri Mendeleeff machte 1871 Vorraussagen zu den Eigenschaften der von ihm erwarteten neuen Elemente. Seine Angaben zum Eka-Silicium (Germanium) waren besonders umfang- reich. Die Charakterisierung des Germaniums lieferte daher den Beweis für die Richtigkeit der Lehre von der Periodizität der Elemente. 22 Auch das Gallium wurde von Mendeleeff als Eka-Aluminium vorausgesagt. Seine Angaben zu den Eigenschaften des Elements waren aber wenig umfangreich, so dass von einer Aner- kennung des Periodensystems um 1875 noch keine Rede sein konnte. Auch hatte Lecoq de Boisbaudran nach eigenen Angaben zum Zeitpunkt der Auffindung des Galliums keine Kenntnis von Mendeleeffs Voraussagen. 23 Weltausstellung 1904, Führer durch die Deutsche Unterrichtsausstellung in St. Louis, Ver- lag Büxenstein (Berlin 1904) 24 Clemens Winkler, Mitteilungen über das Germanium, 2. Abhandlung, Journal für praktische Chemie, 36 (1887), S. 117-138. 25 Redaktion der Chemiker-Zeitung, Ein neues gasförmiges Element, Chemiker-Zeitung, 27 (1890), S. 435. 26 Kaiserl. mineralogische Gesellschaft zu St. Petersburg, Sitzungsbericht vom 6./18. Februar 1890, Chemiker-Zeitung, 19 (1890), S. 272. 27 Kosmann, Verfahren zur Darstellung einer neuen Edelerde, Kosmiumoxyd und einer ande- ren neuen Edelerde, Neokosmiumoxyd, Patentanmeldungen am Kaiserlichen Patentamt, aus- gelegt am 26. November 1896. Zeitschrift für Elektrochemie (1896/97), S. 279.

– 42 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Triphenylmethanfarbstoffe bei den Chemischen Fabriken vorm. Weiler-ter Meer und ihren Vorläuferfirmen in Krefeld und Uerdingen

Dr. Wolfgang Scheinert, Emil-Nolde-Str. 41, 51375 Leverkusen

1862 rief der Liebig-Schüler Dr. Heinrich Tillmanns (1831-1907) (1) in der Tex- tilstadt Krefeld ein Unternehmen ins Leben, das sich mit der Herstellung von Teerfarben befasste (2, 3). Damit wurde die viele Jahrzehnte währende Herstel- lung von Triphenylmethanfarbstoffen an den Standorten Krefeld und Uerdingen der Chemischen Fabriken vorm. Weiler-ter Meer initiiert, die später in der I.G. Farbenindustrie AG aufgingen. A.bb. 1 zeigt, wie die Chemischen Fabriken vorm. Weiler-ter Meer durch Zusammenschlüsse entstanden sind, ausgehend von den drei Einzelgründungen, nämlich der Anilinölfabrik von Weiler, die 1861 in Ehrenfeld bei Köln den Betrieb aufnahm (4), der Anilinfarbenfabrik von Hein- rich Tillmanns, die 1862 in Krefeld startete, und dem 1877 in Uerdingen gegrün- deten Farbwerk seines Neffen Edmund ter Meer. Nach dem 1916 erfolgten Beitritt der Chemischen Fabriken vorm. Weiler-ter Meer zur Interessengemein- schaft der deutschen Teerfarbenfabriken und Aufgehen in der I.G. Farbenindu- strie 1925 wurde das Werk Uerdingen im Zuge der Auflösung der I.G. nach dem Zweiten Weltkrieg in die neu gegründete Farbenfabriken Bayer Aktiengesell- schaft eingegliedert (5, 6).

Farbwerk Krefeld

Die 1862 von Tillmanns gegründete Fabrik lag am Fütingsweg südöstlich des damaligen Krefelder Wohnsiedlungsgebietes. Das erste Produkt war Fuchsin, das nach dem in jenen Jahren verbreiteten Verfahren durch Verschmelzen von Rotöl – einem Gemisch von Anilin und Toluidinen – und einer wässrigen, hochkonzen- trierten Arsensäurelösung gewonnen wurde. Die ersten Schmelzen wurden noch in kleinen Kesseln von etwa 50 Litern Inhalt vorgenommen. Ein 3-bar- Dampfkessel von 13 Fuß Länge erzeugte Dampf für Koch- und Kraftzwecke. Die

– 43 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Abb. 1: Unternehmensentwicklung Weiler-rer Meer (vereinfacht)

– 44 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Ansätze wurden im direkten Feuer so lange erhitzt, bis die Schmelze grünglän- zend und teigartig geworden war. Das Ausschöpfen erfolgte von Hand „unter Beachtung der notwendigen Vorsichtsmaßregeln“. Nachdem die Seidenfärbe- reienin der ersten Zeit die Rohschmelze ohne jede Reinigung von Arsenverbin- dungen verwendeten, führte man bald die Kristallisation des Fuchsins in Spritfässern ein. Bis in die 1880er Jahre hinein wurde die primitive Verfahrens- weise – zuletzt unter Verwendung von 350 L-Schmelzkesseln – beibehalten. Tillmanns war ebenso wie andere Fuchsinhersteller in die Pflicht genommen, die giftigen, Arsen und auch wesentliche Anteile der chemischen Ausbeute enthal- tenden Rückstände aus der Produktion „ordnungsgemäß“ zu entsorgen bzw. auf- zuarbeiten. Von der in der behördlichen Konzession vorgesehenen Entsorgung dieser Rückstände im Meer (!) machte Tillmanns offenbar keinen oder kaum Ge- brauch, denn es wird berichtet, dass sie sich in „immer größeren Halden“ anhäuf- ten. Später soll sich aber noch eine „industrielle Verwendung“ der Rückstände gefunden haben (2, 7). Ob sich hinter dieser Formulierung die Nutzung der von mehreren Fuchsinherstellern gemeinsam gegründeten Arsensäureregenerations- fabrik an der Bahnstation Haan verbirgt, ist unklar (8).

NH2

H2N X

CH3

NH2 Abb. 2: Strukturformel des Fuchsins

Sehr bald nimmt Tillmanns die von Girard und de Laire aufgefundenen blauen und violetten Phenylabkömmlinge des Fuchsins ins Programm auf und bringt 1863 Farbstoffe unter den Bezeichnungen Imperial Blue und Regina Purple auf den Markt. Das Regina Purple (Reginaviolett) wird in dem bekannten Lehrbuch „Die Chemie des Steinkohlentheers“ von G. Schultz 1901 als noch im Handel befindlich beschrieben – eines von vielen Beispielen jahrzehntelang und oft von zahlreichen Herstellern angebotener Triphenylmethanfarbstoffe. Es wurde durch „Einwirkung der Echappés des Arsensäurefuchsinverfahrens auf ein Gemenge von Fuchsinbase und Essigsäure bei ca. 120 °C dargestellt“ und bestand „dem- nach wohl grösstentheils aus dem Acetat des Monophenyl- und Mono-o- tolylrosanilins, gemengt mit den entsprechenden Derivaten des p-Rosanilins“ (9), s. Abb. 3.

– 45 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 R

N H

H3C

R

N X H

N H

R Abb. 3: Aryl- und Alkylderivate des Rosanilins (Beispiel: dreifache Substitution; R = C6H5 oder CH3 oder C2H5)

1864 begann Tillmanns mit der Herstellung des Aldehydgrüns (2, 10). Hinter den damals häufig synonym verwendeten Bezeichnungen „Aldehydgrün“, „Licht- grün“ oder auch „Anilingrün“ verbargen sich zwei chemische Varianten, die bei- de vom Umsetzungsprodukt von Fuchsin mit Acetaldehyd ausgehen, einem 1861 von Charles Lauth entdeckten blauen, aber lichtunechten Farbstoff, der in der alten Literatur Aldehydblau genannt wird: Beim älteren, auf den Werkführer Cherpin in der Färberei von Usèbe zu Paris zurück gehenden Verfahren gewann man durch Umsetzung des Aldehydblaus in situ mit Natriumthiosulfat ein licht- beständige(re)s Grün. Usèbe nahm 1862 auf diese Entdeckung ein französisches Patent (11, 12, 13). Dieser erste grüne Teerfarbstoff wurde für einige wenige Jah- re in beträchtlichen Mengen hergestellt, bis er durch das Iodgrün verdrängt wur- de, s. u. Nach diesem Verfahren produzierte auch Tillmanns. Eine zweite Variante wurde Eugen Lucius Anfang 1864 durch englische Patente geschützt (14). Sie verwendet anstelle des Natriumthiosulfats Schwefelwasserstoff und an- schließend schweflige Säure, woraus ebenfalls ein grüner Farbstoff resultierte. Otto Fischer vermutete, dass Aldehydgrün als Chinaldin-Derivat anzusehen sei (15). Nachdem dann Gattermann und Wichmann 1889 die Natur des Aldehyd- blaus als mutmaßliches Trichinaldinderivat identifiziert hatten (16), beschäftigten sich schließlich v. Miller und Plöchl an der Technischen Hochschule München mit der Struktur des Aldehydgrüns und bestätigten 1891 bzw. 1896 die Anwe- senheit eines Chinaldinringes in beiden Farbstoffen (17, 18). Die Bildung des Chinaldinsystems kann man sich nach dem Schema der Doebner-von Miller-

– 46 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 schen Chinaldinsynthese vorstellen (19). Nachdem sie Aldolanilin als Modell- verbindung den Schwefelungsverfahren nach Cherpin bzw. Lucius unterworfen und die resultierenden Produkte analysiert hatten, ordneten v. Miller und Plöchl 1896 dem Cherpinschen Farbstoff ein Schwefelatom, dem Farbstoff von Lucius dagegen zwei Schwefelatome im Molekül zu (18). Die seinerzeitigen Struktur- vorschläge für beide Farbstoffe – von den Autoren auf die Grundstruktur des p- Rosanilins bezogen – sind jedoch aus heutiger Sicht hypothetisch, s. Abb. 4.

R1

H3C

N C X

Grundmolekül

R2

a) Strukturvorschlag nach v. Miller und Plöchl (18):

Cherpin:

-R1 oder -R2: -R2 oder -R1:

N N

S OH OH Lucius:

-R1 und -R2:

N

S OH

b) Strukturvorschlag unter Berücksichtigung von Mloston et al. (20):

Cherpin:

-R1 oder -R2:-R2 oder -R1: H N N

S OH OH Lucius:

-R1 und -R2: H N

S OH Abb. 4: Aldehydgrün (hypothetische Strukturen)

Nach neueren am Aldolanilin durchgeführten Untersuchungen von G. Mloston et al. könnte in den nicht ringgeschlossenen Seitenketten statt der Thiaziridin- Struktur die isomere Thiamid-Gruppe vorliegen (20). Für die Untersuchungen

– 47 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 des Cherpinschen Aldehydgrüns schickte Dr. Heinrich Buff, der 1870 als Teilha- ber bei Tillmanns eingetreten war (s. u.), sowohl die seinerzeit von Tillmanns verwendete Betriebsvorschrift als auch nach dieser Vorschrift hergestellte Mu- stermengen dieses Farbstoffes in „einer respectablen Quantität“ nach München, wofür man sich gebührend bedankte (17). Dem Diarium von Lucius aus dem Jahre 1874 entnimmt man allerdings, dass man zur Herstellung des Aldehyd- grüns Hoechster Provenienz – zumindest in der zuletzt, d.h. 1867, ausgeübten Verfahrensweise – das Aldehydblau mit „unterschwefligsaurem Natron“, also Natriumthiosulfat, behandelte und den Farbstoff nach Klärfiltration mit Tannin und Natriumacetat ausfällte (21). Hier beschrieb Lucius also das ursprüngliche Schwefelungsmittel in Kombination mit modifizierter Fällung und nicht die ihm patentierte, alternative Schwefelungsmethode. Wie bei Meister, Lucius & Co. muss das Aldehydgrün auch bei Tillmanns für einige Jahre ein bedeutender Um- satzträger gewesen sein (10).

Tillmanns nahm 1865 die auf August Wilhelm Hofmann zurückgehenden violet- ten Alkylderivate des Fuchsins in das Verkaufssortiment auf (10). In den Mutter- laugen von „Hofmann’s Violet“, das durch Alkylierung von Rosanilin mit Alkyliodid (vorzugsweise mit Ethyliodid) hergestellt wurde (22), fand Tillmanns das „Jodgrün“, s. Abb. 5. Lt. Uerdinger Werksgeschichte hatte er diese Entdec- kung als Erster gemacht.

R1

N R1

R2

R1

N X

R1

N R1 X

R1 R1 Abb. 5: Iodgrün und Methylgrün Iodgrün: R1 = CH3, R2 = CH3 Methylgrün: R1 = CH3, R2 = H

Tillmanns brachte diesen Farbstoff 1866 anstelle des Aldehydgrüns in den Han- del. Das Produkt brachte ihm auf der Pariser Weltausstellung 1867 eine besonde- re Hervorhebung in den Ausstellungsberichten und die Verleihung der goldenen

– 48 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Medaille ein (23). Nach Girard und de Laire mussten sich Tillmanns einerseits und Meister, Lucius & Co. andererseits die Ehre der Erstfabrikation teilen (24). Wie man im Diarium von Lucius aus dem Jahre 1874 nachlesen kann, zeigte sich der Farbstoff bei der Filtration des Zielproduktes (Hofmanns Violett) an den Rändern des Filtermediums (vermutlich eine Papierlage auf mehreren Tuchla- gen), also gewissermaßen als Resultat eines chromatographischen Effektes. Weil man diesen Farbstoff für „sehr unächt“ hielt und wegen des laufenden Aldehyd- grüngeschäftes ignorierte man in Hoechst die Entdeckung zunächst. Man war überrascht, als im Frühjahr 1866 grün gefärbte Muster, von der Krefelder Färbe- rei Minhorst & Schultes stammend, „von hervorragender Schönheit“ eingesandt wurden. Lucius erkannte „sofort deren Ursprung“. Schließt man einen dritten Hersteller zu diesem Zeitpunkt aus, folgt aus dieser Schilderung die zeitliche Pri- orität von Tillmanns. Innerhalb weniger Tage wurde lt. Lucius in Hoechst ein eigenes Fabrikationsverfahren für diesen Farbstoff entwickelt (25).

1866 holte sich Tillmanns seinen Schwager Ludwig Georg Küchler (1843-1904) als kaufmännischen Associé in das Unternehmen (26).

Mit dem bereits erwähnten Dr. Heinrich Buff (1844-1902) kommt im Dezember 1870 offenbar der erste „fremde“ Chemiker in das kleine Unternehmen (26). Buff, Sohn des bekannten Giessener Physikprofessors gleichen Namens, hatte nach seiner Promotion, die er in Gießen absolvierte, als „post doc“ bei seinem Onkel August Wilhelm Hofmann in Berlin an einem Verfahren zur gezielten Herstellung des Iodgrüns gearbeitet (27), das er nach Krefeld mitbrachte. Die Herstellung beruhte auf der Behandlung von „Hofmann’s Violet“ mit Methylio- did, wobei ein Gemenge blauer und grüner Farbstoffe entstand, aus dem neben Iodgrün auch ein Blauviolett 7B gewonnen wurde (28). Mit Buff nahm das Kre- felder Farbwerk einen deutlichen Aufschwung, wobei er durch die „rührige und sachkundige Arbeit“ von Küchler unterstützt wurde. Wesentlichen Anteil an die- sem Aufschwung hatte das „Jodgrün“, dessen Fabrikation zu einiger Bedeutung gelangte (2). Buff ersetzte sehr bald das auf Rosanilin basierende Iodgrün durch Methylgrün, das durch Quaternisierung von Methylviolett gebildet wird und sich durch die am aromatischen Kern fehlende Methylgruppe vom Rosanilin unter- scheidet (2, 29), s. Abb. 5. Das 1872 bei Tillmanns eingeführte Methylgrün hatte das „Jodgrün“ bereits im folgenden Jahr vollständig ersetzt (30, 31). Schließlich wurde auch dieser Grünfarbstoff bei Tillmanns ab 1881 durch das billigere Ma- lachitgrün im Verein mit dem Brillantgrün verdrängt (2, 32). Im Unterschied zu den bisher behandelten Grüntypen waren bei diesen beiden Farbstoffen die Sub- stituenten bereits Bestandteil der zur Synthese eingesetzten Anilinderivate und wurden nicht nachträglich in das Farbstoffmolekül eingeführt, s. Abb. 6. Till- manns griff das auf Otto Fischer zurück gehende Verfahren auf (33), bei dem

– 49 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Benzaldehyd mit Dimethylanilin bzw. Diethylanilin kondensiert und das Tetraal- kyldiaminotriphenylmethan zum Farbstoff oxidiert wird. Die zum Malachit- bzw. Brillantgrün erforderlichen Vorstufen, Dimethyl- und Diethylanilin, wurden lt. Werksgeschichte von dem 1872 bei Tillmanns eingetretenen Dr. Carl Eberhardt (1844-1927) und seinen Mitarbeitern in Krefeld eingeführt (32). Nach einem Beitrag zur Geschichte der Barmer Betriebe in der sog. Böttingerschrift soll Bay- er allerdings Dimethylanilin bereits 1868 von Tillmanns für die schon damals begonnene Methylviolettfabrikation in Barmen bezogen haben (34).

R

N X

R

N R

R Abb. 6: Malachitgrün / Brillantgrün Malachitgrün: R = CH3 Brillantgrün: R = C2H5

1872 erfolgte die Einführung des Methylvioletts bei Tillmanns durch den neu eingetretenen Dr. Erhardt, dem späteren Mitbegründer der Firma Remy, Erhardt & Co. in Weissenthurm nahe Koblenz (30, 35). Die Produktion war 1873 voll angelaufen (36). Dieses Methylviolett ist von den früheren Hofmannschen Vio- lett-Typen streng zu unterscheiden, da es auf der oxidativen Behandlung von Dimethylanilin beruht. Dabei wandert eine Methylgruppe in die Parastellung des aromatischen Kerns und bildet so das zentrale C-Atom des Triphenylmethansy- stems. 1861 hatte Lauth diesen Farbstoff entdeckt, zunächst jedoch keinen Erfolg bei der Industrie gehabt. In einem zweiten Anlauf arbeitete Lauth 1866 gemein- sam mit Bardy, Chemiker bei Poirrier & Chappat in Paris, ein Verfahren zur Herstellung des bis dahin schwer zugänglichem Dimethylanilins aus, was schließlich im Verein mit milderen Oxidationsbedingungen zur erfolgreichen Markteinführung des Methylvioletts („Pariser Violet“) führte (37). Das neue Di- methylanilin-Verfahren beruhte lt. Wurtz auf der Umsetzung von Anilinhydro- chlorid mit Methanol bei Temperaturen von 250 °C unter Druck, Versetzen mit Alkali und weiteren Aufarbeitungsschritten (38). Das aus reinem Dimethylanilin hergestellte Methylviolett war nach Otto Fischer et al. ein Gemisch aus fünf- und

– 50 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 sechsfach methyliertem Pararosanilin (39) und stellte in der Regel ein amorphes Produkt dar, s. Abb. 7.

R

N H

R

N X

R

N R

R Abb. 7: Methylviolett R = CH3

Für die Einführung sowohl des Methylvioletts als auch des darauf basierenden Methylgrüns in Krefeld könnte eine in den „Chemischen Berichten“ 1873 doku- mentierte Kooperation zwischen A.W. Hofmann und Tillmanns bzw. Buff ent- scheidend gewesen sein (40): Hofmann hatte sich zum Beweis der von ihm vermuteten (erhofften oder befürchteten?) Identität des aus Rosanilin gewonne- nen und des aus Dimethylanilin hergestellten Violetts der Mithilfe nicht nur – wie häufig geschehen – von Martius (AGFA) und von Girard, sondern auch des Tillmannsschen Unternehmens bedient. So hatte er sich von Buff ein Labormu- ster von – wie wir heute annehmen müssen – Methylgrün schicken lassen, das durch Quaternisierung eines Methylvioletts auf der Basis sehr reinen Dimethyl- anilins hergestellt wurde (41). Er stellte z.B. fest, dass sich dieses Präparat bei thermischer Belastung (unter Abspaltung von Methyliodid) sich „gerade so wie das aus Rosanilin entstandene Grün“ in das Violett umwandelte, die er beide für identisch hielt. Seine Summenformel wies 24 C-Atome auf. Hofmann begründete diese Identität plausiblerweise mit der von ihm entdeckten „Methylwanderung“, die man bei der Bildung des Methylvioletts aus Dimethylanilin annehmen muss, um das zentrale C-Atom zu erklären. Sehr wahrscheinlich sah sich Buff auf dem Weg beim Ersatz des Hofmannschen Violetts durch das Pariser Violett durch die Feststellungen seines akademischen Lehrers und Onkels bestätigt, die ja besag- ten, dass er nach Verfahrensumstellung das gleiche Violett bzw. Grün erhalten würde wie vorher. Erst in seiner letzten einschlägigen, 1885 erschienenen Publi- kation mit dem Titel „Zur Kenntnis des krystallisirten Methylvioletts“ (42)

– 51 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 schliesst sich Hofmann „rückhaltlos der neuen Auffassung des Rosanilins als eines Triphenylmethanabkömmlings und des Methylviolets als eines Hexa- methylpararosanilins an“ (43).

Ein weiterer Beleg für die Kooperation zwischen Hofmann und dem Krefelder Farbwerk in den Jahren nach Eintritt von Buff bei Tillmanns ist die ebenfalls in den „Chemischen Berichten“ von Hofmann publizierte Analyse des von Ho- brecker in Krefeld entdeckten „tribenzylirten Rosanilins“, das durch Einwirkung einer Mischung aus Benzylchlorid und Methyliodid in Methanol bei „Wasser- badtemperatur“ auf Rosanilin erhalten wurde (44).

Heinrich Tillmanns schied 1882 aus dem von ihm gegründeten Unternehmen aus und wurde Kommanditist bei Edmund ter Meer (1852-1931), der seit 1878 in Uerdingen erfolgreich Azofarbstoffe, aber auch Fluorescein und -derivate sowie Farbstoffe aus der Indulingruppe herstellte und international vermarktete. Wie es scheint, suchte E. ter Meer nicht nur einen Kapitalgeber, sondern auch Knowhow für die weitere Diversifizierung seines jedenfalls bis dahin Gewinn bringenden Farbstoffgeschäftes, das allerdings 1883 Verluste schrieb und auch in den Folge- jahren ertragsschwach blieb (45). Bereits am 13. November 1880 war ter Meer eine Konzession zum Betrieb von Autoklaven (die er damals u.a. für Alkali- schmelzen von Sulfonsäuren benötigte und prinzipiell auch als Reaktionsappara- te für die Herstellung alkylierter Aniline geeignet waren) erteilt worden (46). 1881 hatte er mit Versuchen zur Herstellung von Malachit- und Brillantgrün so- wie von Methylviolett begonnen. Die familiäre Beziehung – Heinrich Tillmanns war der Bruder von Edmund ter Meers Mutter – sollte in dieser Situation Loyali- tät und Unterstützung sichern. Der Wechsel von Tillmanns zu ter Meer bedeutete aber keineswegs das Ende der Triphenylmethanfarben in seiner ehemaligen Fir- ma. Diese übergab er 1882 seinen Teilhabern Ludwig Georg Küchler und Hein- rich Buff, die nun unter dem Namen „Küchler & Buff“ firmierten und das übernommene Sortiment fortführten. Der 1880 in Uerdingen begonnene Aufbau von Anlagen zur Herstellung von Methylviolett, Malachit- und Brillantgrün so- wie von Dimethyl- und Diethylanilin kam 1885 zu einem ersten Abschluss. Da- mit war allerdings eine Konkurrenzsituation geschaffen worden, die Tillmanns und ter Meer vermutlich so nicht gewollt hatten. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass Tillmanns bereits 1887 bei ter Meer ausschied, offensichtlich ohne sich wieder seinem alten Unternehmen zuzuwenden (45).

Es sei ergänzt, dass Heinrich Tillmanns 1877 zu den konstituierenden Mitglie- dern des „Vereins zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutsch- lands e.V.“ gehörte (47).

– 52 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 1884 besaß das Farbwerk Krefeld folgende Betriebe (32):  Methylviolett und Benzylviolett (Leitung: Dr. M. Wüsten)  Malachit- und Brillantgrün (Leitung: Dr. Ernst Emil Istel)  substituierte Aniline, Fuchsine, Anilinblautypen (Leitung: Dr. Carl Eber- hardt / Max Beysel)

Es wird berichtet, dass Dr. Istel bei der Ausarbeitung des Malachitgrüns wenig Glück hatte: Er soll anstelle großer Kristalle meist „rote Schmieren“ erhalten ha- ben und ist nicht zuletzt wohl deshalb 1885 ausgeschieden. Er gründete dann die Firma Rupp, Istel & Co. in Griesheim. Sein Nachfolger war 1885 der von der Technischen Hochschule München gekommene Dr. Friedrich Blümlein, der die Probleme rasch löste. Das Geschäft nahm daraufhin einen großen Aufschwung, der bis in die 1890er Jahre hinein andauerte (48). Zunehmende Konkurrenz bei den Triphenylmethanfarbstoffen und deren effizienterer Einsatz vor allem in den Exportländern, zu denen nicht zuletzt China zählte, führten allerdings dann zum starken Mengenrückgang (49).

1885 wurde bei Küchler & Buff die überfällige Modernisierung der Fuchsinfa- brikation mit der Aufstellung des ersten 2000 L-Schmelzkessels mit Ablassvor- richtung eingeleitet (50). In einem zweiten Schritt führte Max Beysel 1889 die Umstellung vom Arsensäure- auf das Coupiersche Nitrobenzolverfahren ein, die anderenorts schon längst vollzogen war (51). Damit fielen auch in Krefeld keine hochgiftigen, Arsen haltigen Rückstände aus dieser Produktion mehr an.

In die zweite Hälfte der 1880er Jahre scheint der von Dr. Buff angestoßene Grün- dungsversuch eines wissenschaftlichen Laboratoriums zu fallen, das in Personal- union vom Leiter des Betriebes für die alkylierten Aniline (Dr. A. Welter) geführt wurde. Ziel war offenbar die Erfindung von pharmazeutischen Präpara- ten, eine Aktivität, die allerdings erfolglos blieb (49).

1880, in einem konjunkturell guten Jahr, wurden lt. Handelskammerbericht Kre- feld 166 t Anilinfarben verkauft, im wirtschaftlich schwierigen Jahr 1884 wurden nur noch 120 t Farben hergestellt. Dementsprechend ging auch die Arbeiterzahl von 75 (1880) auf 60 (1884) zurück. Danach besserte sich die Geschäftslage wie- der, vor allem durch das kräftige Wachstum bei Malachit- und Brillantgrün, s.o. Es sei hier erwähnt, dass die Anilinfarbenfabrik von ter Meer in Uerdingen 1880 und 1884 lediglich 19 bzw. 87 t Farben herstellte (52, 53), um später jedoch an Krefeld vorbeizuziehen. So waren im Jahre 1900 im Uerdinger Werk 336 Perso- nen tätig, in Krefeld waren es nur 124 Personen (54).

– 53 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Das Krefelder Farbwerk deckte von Anfang an seinen Bedarf an Anilinöl und -salz weitgehend bei Weiler in (Köln-)Ehrenfeld (49, 55).

Mit der Einbeziehung von Dr. Carl Eberhardt (1844 – 1927) als Teilhaber wurde Küchler & Buff 1895 zur GmbH (56).

Mit der Übernahme durch die Chemischen Fabriken vorm. Weiler-ter Meer ver- lor Küchler & Buff 1900 seine rechtliche Selbständigkeit. Der das kleine Unter- nehmen seit 1872 vor allem in wissenschaftlicher und technischer Hinsicht prägende Chemiker Dr. Carl Eberhardt gehörte von 1900 bis 1924 dem Auf- sichtsrat der Chemischen Fabriken vorm. Weiler-ter Meer an (26).

In das Jahr 1900 fällt auch der Abschluss eines Konventionsvertrages, den Küch- ler & Buff zur Begrenzung der Konkurrenz beim Methylviolett mit der Firma Dr. Remy & Co. (Weissenthurm bei Koblenz) und dem Farbwerk Griesheim Nötzel, Istel & Co. abschlossen, die beide auf Gründungen ehemaliger Krefelder Be- triebsleiter zurückgehen (57). Darin könnte man die Begleichung einer lange of- fenen Rechnung mit den „Abtrünnigen“ erblicken.

Br Br

O O O

2 Na

Br Br

COO

Abb. 8: Eosin

Triphenylmethanfarbstoffe im Werk Uerdingen

Zu den ersten, ab Juli 1878 regelmäßig produzierten Farbstoffen im ter Meer- schen Farbwerk gehörte das Fluorescein, aus dem durch Bromierung Eosin her- gestellt wurde (58), s. Abb. 8. Ab 1880 traf Edmund ter Meer vorbereitende Schritte zur Produktion weiterer Triphenylmethanfarbstoffe in seinem kleinen Werk in Uerdingen. 1881 nahm er Versuche zur Herstellung von Malachit- und Brillantgrün sowie violetter Marken auf. Die reguläre Fabrikation der Grünmar- ken startete 1882 in einem neuen Betrieb, dem die zunächst noch kleine Fabrika- tion des Methylvioletts angegliedert war (59). Dessen Leitung übernahm 1883 Dr. Carl Meyer, späterer Compagnon des Uerdinger Unternehmers Büttner und

– 54 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Erfinder der Büttnerschen Trockenapparate, für die er gemeinsam mit Büttner 1886 eine eigene Firma gründete (60). Qualitätsprobleme mit den Grünmarken schienen lange Jahre bis 1896 bestanden zu haben, bis es schließlich in einem neuen Grünbetrieb unter der Leitung von Dr. Damerow erstmalig gelang, große Kristalle herzustellen.

1890 begann man mit Versuchen zur Herstellung von Methylviolett in starker Anlehnung an das Verfahren, das Otto Mühlhäuser 1887 publizierte (59, 61). Dementsprechend bekam der Uerdinger Violettbetrieb 1894 durch Transmissio- nen angetriebene, rotierende Mischapparate für die Oxidation, die über Thermo- meter, Rückflusskühler und eine Einrichtung zum Durchsaugen von Luft durch den Ansatz verfügten (59).

Abb. 9: Autoklav

An dieser Stelle sei ein kurzer Blick auf die Technologie der Dimethylanilinher- stellung in Uerdingen erlaubt: Die Abb. 9 und 10 zeigen aus einem Genehmi- gungsantrag von 1885 den Aufbau eines der zur Alkylierung vorgesehenen

– 55 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Autoklaven (62) und die Teilansicht einer Apparatur zur destillativen Aufarbei- tung des Reaktionsgemisches (63). Zu den Autoklaven ist anzumerken, dass sie für einen Betriebsdruck von 40 bis 50 bar gedacht waren, die Behörden schrieben allerdings die wiederkehrende Prüfung mit dem 4 bis 5 fachen Betriebsdruck (bis 200 bar) nach einer vorgeschriebenen Anzahl der Aufheizvorgänge vor (64).

Abb. 10: Aufarbeitungsapparatur

1899 wurden zwei selbst entwickelte Triphenylmethanfarbstoffe ins Sortiment aufgenommen, die durch Kondensation substituierter Benzaldehyde mit Ethyl- benzylanilinsulfonsäure und anschließende Oxidation hergestellt wurden, s. Abb. 11. Beim Nachtgrün B wird 2-Chlor-5-nitro-benzaldehyd eingesetzt, beim Nacht- grün 2B 2-Chlorbenzaldehyd (65). Als „Ahnherr“ dieser Farbstoffe kann man das Lichtgrün SF gelblich ansehen, das 1879 von der BASF auf den Markt ge- bracht wurde und lt. den Farbstofftabellen von Schultz/Julius 1902 ebenfalls zum Sortiment von Weiler-ter Meer gehörte (66). In das Jahr 1899 fällt auch die Gründung eines eigenständigen wissenschaftlichen Laboratoriums im Uerdinger Werk (67). Erster Leiter war Dr. Richard Lauch, der sich um 1890 bei Bayer in Elberfeld Verdienste um die Entwicklung von Azofarbstoffen erworben hatte (68).

– 56 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 H5C2

N

SO3Na H5C2

N R3 X

R1 R2

SO3Na Abb. 11: Nachtgrün- / Lichtgrün-Typen Lichtgrün SF gelbl.: 1879 Köhler/BASF; R1 = H, R2 = SO3Na, R3 = H Nachtgrün B: 1899 Weiler-ter Meer; R1 = NO2, R2 = H, R3 = Cl Nachtgrün 2B: 1899 Weiler-ter Meer; R1 = H, R2 = H, R3 = Cl

Neuordnung der Produktion nach Übernahme von Küchler & Buff durch die Chemischen Fabriken vorm. Weiler-ter Meer

Um nach der Übernahme Doppelfabrikationen zu vermeiden, verlegte man 1903 die Uerdinger Farbstoffe Malachit- und Brillantgrün, die Säuregrünmarken sowie Induline und Nigrosine nach Krefeld. Im frei gewordenen Uerdinger Grünbe- trieb, der dann die Bezeichnung Methanbetrieb führte, sollten hauptsächlich Triphenylmethanfarbstoffe nach der Hydrolsynthese in Kooperation mit Dr. Hu- go Weil, München, aufgenommen werden, die bisher noch nicht zum Sortiment gehörten. Die Kapazität des Betriebes von 120 t/a verteilte sich in erster Linie auf Methylenblau, Methylengrün und Neublau, Kristallviolett und verschiedene Säu- reviolette (69).

Die Krefelder Fabrikationen von Methylviolett sowie Dimethyl- und Diethylani- lin wurden mit den Uerdinger Fabrikationen vereinigt. Ebenso wurde die Krefel- der Methylviolettproduktion übernommen und 1903 in einen Neubau verlegt (70, 71). Er war mit großen Oxidationsapparaten für Chargen von nunmehr 100-200 kg Dimethylanilin ausgestattet, während die ursprünglichen Apparate nur 20-25 kg fassten. In den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg lag die durch- schnittliche Produktion des Betriebes bei ca. 240 t/a (darin sind auch 10 t/a Ben- zylviolett enthalten) (59).

Als weitere wesentliche Optimierungsmaßnahme wurde 1905 die Fuchsin- Fabrikation von Krefeld in das Uerdinger Werk in einen neuen Betrieb verlegt.

– 57 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Unter der Leitung des bekannten Fuchsin-Fachmannes Mühlhäuser, der damals im Krefelder Farbwerk tätig war, entstand eine moderne Anlage (72). Die Aufar- beitung der Fuchsinschmelze erfolgte in der „klassischen“ langen Schrittfolge. Man gewann zwei Cerise-Fraktionen, Kristallfuchsin als Hauptprodukt, außer- dem noch ein geringwertiges Fuchsin (73). 1907 bis 1912 stiegen die Fuchsin- Produktionszahlen unaufhörlich, und 1912 musste man die Kapazität auf 350 t/a Fuchsin vergrößern. 1913 war diese Kapazität bereits voll ausgelastet. Mit eini- gem Stolz wird vermerkt, dass es dem damaligen Betriebsleiter, Dr. Otte, gelang, „die Kristallisation so zu leiten, dass Uerdingen die schönsten und größten Fuch- sinkristalle in der I.G. hatte“ (74). Auch bei den Kristallmarken des Malachit- und Brillantgrüns sowie des Kristallvioletts genoss Uerdingen besonders in asia- tischen Ländern einen ausgezeichneten Ruf, der sogar Cassella, Bayer und AG- FA dazu veranlasste, diese Produkte aus Uerdingen zu beziehen (75).

1912/13 stellte Weiler-ter Meer folgende Mengen an Triphenylmethanfarbstoffen her (76):

Fuchsin und Rosanilin 330 t Spritblau und wasserlösliche Blaumarken 225 t Methyl- und Kristallviolett 260 t Malachit- und Brillantgrün 330 t Naphtholblau, Methylenblau 80 t Säureviolett, Säuregrün 75 t Induline, Nigrosine 200 t Summe 1.500 t Der Gesamtabsatz an Farbstoffen für 1912/13 ist wie folgt auf die Haupterzeug- nisgruppen verteilt:

Azofarbstoffe 2.000 t Triphenylmethanfarbstoffe etc. 1.500 t Schwefelfarben 500 t Summe 4.000 t Dazu kamen noch beträchtliche Mengen an anorganischen Grundchemikalien und organischen Zwischenprodukten sowie chemische Spezialitäten.

Erster Weltkrieg und Neuordnung der Triphenylmethanfarbenproduktion im Rahmen der I.G. Farbenindustrie AG

Während des Ersten Weltkrieges lag der Uerdinger Fuchsinbetrieb still. 1919 wurde die Fabrikation wieder aufgenommen. Nach Weng hatte die Produktion an Kristallfuchsin und Parafuchsin während der Kriegszeit in der „I.G.“ – d.h. der

– 58 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 später in der I.G. Farbenindustrie aufgegangenen Unternehmen – von 900 auf 360 t/a abgenommen (74). Zudem sank der Uerdinger Anteil 1919 bis 1924 von 31,8% auf 22,7%, und die Uerdinger Produktion ruhte infolgedessen erneut 1925 und 1926.

Der 1923 und 1924 vorgenommene Verfahrensvergleich aller Fuchsinproduzen- ten innerhalb der Interessengemeinschaft der deutschen Teerfarbenfabriken führ- te dazu, dass Uerdingen noch im Juli 1924 eine wichtige Verfahrensverbesserung von Wolfen und Ludwigshafen übernahm. Dort hatte man seit vielen Jahren in der Schmelze die Salzsäure vollständig durch Eisen-(II)-chlorid und eine gegen- über dem Uerdinger Verfahren sehr viel größere Menge Zinkchlorid ersetzt, wo- durch der Ausbeuteanteil an Kristallfuchsin als wertvollste Fraktion wesentlich stieg. Den zweijährigen Stillstand nutzte man, um die Vorteile dieses verbesser- ten Coupier-Verfahrens auf die o-Toluidin-Schmelze für Neufuchsin zu übertra- gen, eine Verfahrensweise, die in Offenbach bereits seit 1892 ausgeübt wurde. Wie beim Fuchsin fand man auch hier eine deutliche Ausbeutesteigerung der Hauptfraktion. Damit war das Homolkasche Verfahren der Neufuchsin- Herstellung durch gezielten Aufbau des Moleküls, ausgehend von Formaldehyd und o-Toluidin, abgelöst. Die 1927 in Uerdingen wieder aufgenommene Fabrika- tion schloss außer der verbesserten Schmelze auch ein von Ludwigshafen über- nommenes Aufarbeitungsverfahren unter Einsatz von Schwefeldioxid ein. Bei der Neuordnung der Fuchsinproduktion verblieben zunächst von ehemals sechs Standorten Hoechst und Uerdingen als Fabrikationsstätten für Kristallfuchsin und Neufuchsin, während Offenbach vorläufig Pararosanilin nach Homolka bis zur Entscheidung über die Verlegung der Apparatur weiter produzierte. Nach viel- versprechenden Versuchen in Hoechst, Pararosanilin nach dem Coupier- Verfahren herzustellen, übernahm Uerdingen die weitere Bearbeitung und nahm ab Juli 1931 die reguläre Produktion auf, die Fabrikation in Offenbach wurde stillgelegt. In der Folgezeit produzierte Uerdingen nur noch Neufuchsin und Pa- rarosanilin nach dem Coupier-Verfahren, Hoechst fiel die Herstellung von Kri- stallfuchsin zu (77, 78).

Bei der 1926 erfolgten ersten Zusammenlegung der Methylviolett-Fabrikationen von Griesheim, Hoechst, Ludwigshafen und Uerdingen wurden die beiden Letz- teren als alleinige Produktionsstandorte bestimmt mit 55% bzw. 45% Anteil. Der Verfahrensaustausch mit Ludwigshafen führte zur verbesserten Ausbeute des Blauanteils. Zusätzlich zu den liegenden Uerdinger Rührapparaten wurden Pfan- nen nach Ludwigshafener Vorbild eingeführt. Wegen starken Mengenrückganges der gesamten Methylviolettfabrikation in der I.G. wurde dann allerdings der Uer- dinger Betrieb 1930 stillgelegt. Wohl zum Ausgleich wurde Uerdingen zum al- leinigen Hersteller von Malachitgrün und Brillantgrün in der I.G. bestimmt (79).

– 59 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Als weitere Folge der Rationalisierung war bereits 1926 das Werk Krefeld ge- schlossen worden, nachdem man Malachit- und Brillantgrün wieder nach Uer- dingen verlegt hatte. Die Fabrikationen des Methanbetriebes wurden an andere I.G.-Werke abgegeben (69). Schließlich gab Uerdingen im Zuge der 1930 be- schlossenen zweiten Zusammenlegung der Farbenbetriebe in der I.G. alle Azo- farbstoffe ab (80).

Der Spesenanteil der Herstellung organischer Farbstoffe machte in Uerdingen 1929 einen Anteil von etwa 4% am entsprechenden Gesamtvolumen in der I.G. aus (81). Von 1927 bis 1937 stieg die Uerdinger Produktionsmenge an Triphe- nylmethanfarben von 213 auf 557 t, ihr Anteil am Verkaufswert der Uerdinger Produktion ging aber in den 1930er Jahren stetig zurück und fiel Ende des Jahr- zehnts auf unter 15% (82). Die technisch-wirtschaftliche Entwicklung in Uerdin- gen stand längst im Zeichen der in den 1920er Jahren neu aufgegriffenen Arbeitsgebiete, vor allem der hochwertigen Eisenoxidpigmente als Kuppelpro- dukt der Anilinherstellung, der Chromprodukte, der Kunstharze (Alkydale), or- ganischer Zwischenprodukte und Spezialchemikalien (83).

Überlegungen zum Innovationsgeschehen bei den Chemischen Fabriken vorm. Weiler-ter Meer und ihren Vorläuferfirmen

In den 1860er Jahren brachte Heinrich Tillmanns seine Triphenylmethanfarbstof- fe zwei bis fünf Jahre nach deren Bekanntwerden auf den Markt und lag damit gleichauf mit seinen deutschen Konkurrenten. Mit durchschnittlich einem neu aufgenommenen Farbstoff pro Jahr entfaltete das kleine Unternehmen, bei dem der Firmeninhaber sehr wahrscheinlich der einzige Chemiker war, bis 1867 eine beachtliche Dynamik. Die Einstellung von Chemikern ab 1870 sorgte für den Zufluss von aktuellem chemischen und verfahrenstechnischen Knowhow für Produktneuaufnahmen. Das Wachstum des Tillmansschen Unternehmens blieb in der Folgezeit jedoch weit hinter demjenigen der Konkurrenten – mit der BASF in der Vorreiterrolle – zurück: Während die späteren Marktführer sich anschickten, die chemische Forschung eigenständig zu organisieren und das so generierte, meist durch Patente geschützte Wissen zum wesentlichen Wachstumstreiber wur- de, blieb „Forschung“ bei Tillmanns und später bei Küchler & Buff im Wesentli- chen auf Verfahrensentwicklungen und -verbesserungen beschränkt, die in Betriebslaboratorien ausgearbeitet wurden. Dies änderte sich auch lange Jahre nach dem Eintritt von Heinrich Buff junior nicht, für den trotz enger Verbindung zu seinem Onkel August Wilhelm Hofmann keine innovativen Durchbrüche be- legt sind – unbeschadet seiner soliden Beiträge zur Aufwärtsentwicklung des Un- ternehmens. Hofmanns Einfluss auf die Entwicklung bei Tillmanns bzw. Küchler & Buff kommt zweifelsfrei in der Fokussierung auf Triphenylmethanfarbstoffe

– 60 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 zum Ausdruck. Tillmanns trug die Früchte der Kooperation Hofmanns mit dem Krefelder Farbwerk zu Edmund ter Meer weiter und unterstützte damit die Di- versifikationsbestrebungen dieses relativ spät in den Markt eingetretenen Teer- farbenherstellers. Ter Meer hatte seine Unternehmensgründung wohl nur aufgrund transferierten Wissens wagen können, in dessen Besitz er bei einem Aufenthalt 1876/77 bei der BASF gelangt war (84). Aber auch mit der erweiter- ten Wissensbasis konnte sein Unternehmen den Vorsprung der inzwischen stark gewachsenen Konkurrenten mit ihrer großen Innovationskraft nicht mehr einho- len. Für Krefeld und Uerdingen sind somit bis 1900 nur wenige Patente bzw. Pa- tentanmeldungen nachweisbar (85). So blieben bei Weiler-ter Meer und Vorgängern die überwiegend vor Inkrafttreten des Reichspatentgesetzes (1877) aufgefundenen „patentfreien“ Grundmarken das Rückgrat des Geschäfts mit Triphenyl-methanfarbstoffen, das einer hohen Wettbewerbsintensität ausgesetzt blieb (86). Vermutlich in klarer Erkenntnis dieser Lage hatte man sich sowohl in Krefeld als auch in Uerdingen schon frühzeitig und durchaus erfolgreich auf die Optimierung der Produktqualität und der Verfahren konzentriert. Erst durch die Integration von Küchler & Buff erreichten die Chemischen Fabriken vorm. Wei- ler-ter Meer die kritische Größe, die eine systematische Bearbeitung neuer Ge- biete ermöglichte, was sich auch in allmählich steigenden Patentanmeldungen niederschlug. Die Ausweitung der Triphenylmethanfarbstoff-Produktpalette nach 1900 kann dennoch nicht als durchschlagende Maßnahme zum Aufschließen an die Marktführer gewertet werden, da das Gewicht der neuen Produkte bis zur Rationalisierung innerhalb der I.G. Farbenindustrie gering blieb. Wie der „Fabri- kations-Austausch“ der I.G.-Farben-Zeit aber zeigte, war es den Chemischen Fa- briken vorm. Weiler-ter Meer durch Zusammenlegung der Fabrikationen bis 1913 jedoch insgesamt gelungen, bei den „alten“ Triphenylmethanfarbstoffen (Fuchsin, Methylviolett, Grünmarken) in modernen Betrieben ähnliche Produkti- onszahlen und Herstellungskosten zu erreichen wie die Branchenführer.

Überarbeitete Langfassung eines Vortrages, gehalten in der Tagung der GDCh-Fachgruppe "Geschichte der Chemie" am 25.05.2007 in Bad Langensalza, erscheint parallel leicht verändert in der Festschrift des Naturwissenschaftlichen Vereins Krefeld e.V. anlässlich seines 150- jährigen Bestehens (Krefeld 2008). Der Autor dankt Lanxess Deutschland GmbH für die Frei- gabe dieser Veröffentlichung. Da die von Heinrich Tillmanns bzw. von Edmund ter Meer gegründeten Unternehmen nicht als börsennotierte, publizitätspflichtige Aktiengesellschaften gegründet wurden, erschwert eine teilweise unbefriedigende Quellenlage die Erzeugung eines dichten historischen Bildes, wie dies bei den großen Teerfarbenherstellern vielfach möglich ist. So bestehen deutliche Defizite bei Daten zur Beurteilung der wirtschaftlichen Lage jener Unternehmen. Aber auch im technischen

– 61 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Bereich gibt es empfindliche Lücken. Es mussten u.a. einige Widersprüche bei den in den ver- schiedenen Quellen angetroffenen Jahreszahlen zur Einführung neuer Produkte ungeklärt blei- ben. Den „roten Faden“ der vorliegenden Darstellung bilden vor allem nicht veröffentlichte, teilweise nur als Entwürfe vorliegende Ausarbeitungen zur Geschichte des Werkes Uerdingen der nachmaligen Bayer AG, die allerdings ebenfalls Ungenauigkeiten enthalten. Desöfteren fehlen in den Beständen des Bayer-Archivs die jeweils korrelierenden Primärquellen. Einige ergänzende Informationen wurden in den Jahresberichten der Handelskammer Krefeld gefun- den. Andere Fundstellen sind das Hauptstaatsarchiv Düsseldorf mit den behördenseitig gesam- melten Konzessionsunterlagen sowie die Genehmigungsstelle Uerdingen der Bayer Industry Services. Den in Anspruch genommenen Stellen, vor allem dem Bayer-Archiv – hier insbeson- dere Herrn Rüdiger Borstel, M.A. – sowie der Genehmigungsstelle Uerdingen sei für ihre be- reitwillige und interessierte Unterstützung gedankt. Mein Dank gilt außerdem Herrn Dr. Wolfram Buff, Biberach a. d. Riß, für freundliche Hinweise zu den Verwandtschaftsverhältnis- sen innerhalb der Familie Buff und zwischen den Familien Buff und Hofmann, s. a. Anm. (27).

Die Formelbilder beziehen sich jeweils auf die Hauptkomponente des als Gemisch vorliegenden technischen Farbstoffes und zeigen eine der mesomeren Grenzstrukturen. Die Abkürzung „BAL“ steht im Folgenden für „Bayer-Archiv Leverkusen“. 1 Georg Schwedt, Liebig und seine Schüler (Berlin u.a. 2002), S. 277. 2 (Carl Eberhardt), 1861-1911, Chemische Fabriken vorm. Weiler-ter Meer, Jubiläumsschrift (Uerdingen 1911), o. P. 3 Frühe, nicht präzisierte Hinweise auf Anilinfarbstoffe aus Krefelder Fabriken finden sich in: Jahresbericht der Handelskammer zu Crefeld pro 1860, S. 9; Jahresbericht der Handelskam- mer zu Crefeld pro 1861, S. 8f.; Jahresbericht der Handelskammer zu Crefeld pro 1863, S. 15. Man darf davon ausgehen, dass diese Erwähnungen auch Tillmanns implizieren. So könnte nach Travis Tillmanns 1858/59 Hersteller des Perkinschen Mauveins gewesen sein, vgl. Anthony S. Travis, The Rainbow Makers (Bethlehem, Pa. 1993), S. 51, 265. 4 W. Scheinert, Joseph Wilhelm Weiler, Julius Weiler und das Anilin. Zur Entwicklungsge- schichte der deutschen Teerfarbenindustrie und der chemischen Technik vor dem Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 33 (1988), S. 217ff. 5 Formal wurde das Werk Uerdingen bereits ab 1. Juli 1947 unter dem für die Werke der ehe- maligen Betriebsgemeinschaft Niederrhein der I.G. geschaffenen Namen „Farbenfabriken Bayer“ geführt und am 24. März 1953 zusammen mit dem Werk Leverkusen sowie weiteren Beteiligungen in die am 19. Dezember 1951 gegründete „Farbenfabriken Bayer Aktienge- sellschaft“ eingebracht unter der Auflage eines ab 1. Januar 1952 rückwirkenden Betriebes auf Rechnung der Farbenfabriken Bayer Aktiengesellschaft. Siehe Farbenfabriken Bayer Ak- tiengesellschaft, Agfa Aktiengesellschaft und Agfa Camera Werk, Eröffnungsbilanzen zum 1. Januar 1952 (Leverkusen 1953), S. 9ff., und Farbenfabriken Bayer Aktiengesellschaft, Geschäftsbericht für das Geschäftsjahr 1952 (Leverkusen 1953), S. 5f. 6 Grundlegend zur I.G. Farbenindustrie Gottfried Plumpe, Die I.G. Farbenindustrie AG. Wirt- schaft, Technik und Politik 1904-1945 (Berlin 1990), hier: S. 98, 131f. 7 E. Weng, Uerdinger Werksgeschichte (Uerdingen, o. J. [um 1936]), S. 17ff.; BAL 800-111- 239. 8 Lt. Duisberg hat Tillmanns gemeinsam mit Oehler und Bayer die Arsensäureregenerations- fabrik gebaut, s. Carl Duisberg, Selbsterlebtes und Schlussbetrachtungen, in: Geschichte der

– 62 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Entwicklung der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. Elberfeld in den ersten 50 Jahren (Leverkusen 1918), S. 586ff., hier: S. 594. Auffallend ist allerdings, dass Duisberg den in den Quellen belegten eigentlichen Initiator der seit Herbst 1871 in eine Aktiengesellschaft umgewandelten Arsensäureregenerationsfabrik, den Barmer Teerfarbenhersteller Carl Jäger, in seiner Aufzählung nicht erwähnt, möglicherweise Folge einer Verwechselung von Till- manns mit Jäger. Weitere Belege für eine Verbindung von Tillmanns zu diesem Unterneh- men wurden bisher nicht gefunden. – Ausführliches zu dem mit technischen Schwierigkeiten verbundenen und mit Umweltproblemen behafteten Betrieb der Haaner Fabrik außer bei Duisberg (s. o.) bei Ralf Henneking, Chemische Industrie und Umwelt, Zeitschrift für Unter- nehmensgeschichte, Beiheft 86 (Stuttgart 1994), S. 244-276, 444. 9 Gustav Schultz, Die Chemie des Steinkohlentheers, 3. Aufl., Bd II (Braunschweig 1901), S. 193. Vgl. auch Charles Girard, Georges de Laire, Traité des Dérivées de la Houille (Paris 1873), S. 594ff. 10 Weng (Anm. 7), S. 18. 11 Französisches Patent Nr. 56109 vom 28. Oktober 1862; vgl. Adolphe Wurtz, Dictionnaire de Chimie Pure et Appliqué, Bd I (Paris 1874), S. 324f. 12 Karl Heumann, Die Anilinfarben und ihre Fabrikation, erster Theil: Triphenylmethan- Farbstoffe (Braunschweig 1888), S. 299f. 13 Girard, de Laire (Anm. 9), S. 621. 14 Englische Patente Nr. 200 vom 23. Januar 1864 und Nr. 301 vom 5. Februar 1864; s. Wurtz (Anm. 11), ibid. 15 O. Fischer, Ber. dtsch. chem. Ges. 19 (1886), S. 749f. 16 L. Gattermann, G. Wichmann, Ber. dtsch. chem. Ges. 22 (1889), S. 227ff. 17 W. v. Miller, J. Plöchl, Ber. dtsch. chem. Ges. 24 (1891), S. 1700ff. 18 W. v. Miller, J. Plöchl, Ber. dtsch. chem. Ges. 29 (1896), S. 59ff. 19 O. Doebner, W. v. Miller, Ber. dtsch. chem. Ges. 14 (1881), S. 2812ff.; vgl. Helmut Krauch, Werner Kunz, Reaktionen der organischen Chemie, 5. Aufl. (Heidelberg 1960), S. 256f. 20 Der Verfasser verdankt Herrn Prof. Dr. Laur diesen nachträglichen Hinweis auf mögliche und plausible Strukturen der beiden nicht zum Chinaldinring geschlossenen Seitenketten, be- schrieben in: G. Mloston, R. Depczynski, M. Woznicka, P. Laur, U. Englert, Ch. Hu, H. Heimgartner, J. Sulfur Chemistry 26 (2005), S. 111ff. Im Unterschied zu der hier nur er- schlossenen und nicht bestätigten Struktur eines alten Teerfarbstoffes sei auf das Beispiel des Mauveins verwiesen, dessen korrekte Struktur 1994 publiziert wurde, vgl. O. Meth-Cohn, M. Smith, J. Chem. Soc., Perkin Trans. 1 (1994), S. 5ff. – Schwierigkeiten bei den frühen Strukturbestimmungen von Teerfarbstoffen sind teilweise durch unbekannte Nebenprodukte in den technischen Farbstoffen zu erklären, die häufig zu widersprüchlichen Ergebnissen führten. Dass man sich dieser Problematik bewusst war, zeigt der Artikel „Verts d’Aniline“ in: Wurtz (Anm. 11), ibid. Nietzki bezweifelte später die bis dahin publizierten Bruttofor- meln und Konstitutionsformeln des Aldehydgrüns, da sie auf den Analysen nicht kristalli- sierter Substanzen beruhten, vgl. Rudolf Nietzki, Chemie der organischen Farbstoffe (Berlin 1906), S. 172.

– 63 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 21 Eugen Lucius, Geschichte der Fabrication mit Ausschluß der augenblicklichen Betriebsme- thode, Ende Juni 1874, Aus dem Diarium von Eugen Lucius, in: Dokumente aus Hoechster Archiven, Heft 3 (Hoechst 1965), S. 9-29, hier: S. 18-21. – Der kurze Marktzyklus des Al- dehydgrüns war nach Lucius durch starken Preisverfall gekennzeichnet, verursacht durch den Übergang der Färbereien zur Eigenherstellung des Farbstoffes. 22 Schultz (Anm. 9), S. 171ff. 23 Weng (Anm. 7), S. 18f. 24 Girard, de Laire (Anm. 9), S. 606. Sie legen die Erstfabrikation jedoch mangels besseren Wissens in das Jahr 1865 (Originalzitat: „MM. Tillmanns de Crefeld, Meister, Lucius, et Brüning, semblent devoir se partager l’honneur de l’avoir les premiers fabriqué en 1865.“). 25 Lucius (Anm. 21), S. 22f. 26 Weng (Anm. 7), S. 201. 27 Heinrich (Friedrich Adalbert Johannes) Buff, geb. 6. April 1844 in Gießen, gest. 14. Juli 1902 in Krefeld, hatte einen Teil seiner Studienjahre in Gießen verbracht. Danach ging er zu Wöhler nach Göttingen und siedelte anschließend nach London über, wo er mehrere Seme- ster in A.W. Hofmanns Privatlaboratorium tätig war. Nach seiner Promotion in Gießen ging er 1867 nach Berlin, um sich als Hofmanns Privatassistent fast ausschließlich mit Anilinfar- ben, vor allem Methylviolett und „Jodgrün“, zu befassen, vgl. Nachruf, in: Ber. dtsch. chem. Ges. 35 (1902), S. 2763f. Zu Hofmanns Arbeiten am „Jodgrün“ und der Mithilfe Buffs vgl. auch: A.W. Hofmann, Ch. Girard, Comptes rendus de l’Académie des Sciences 69 (1869), S. 593ff.; und A. W. Hofmann, Ch. Girard: Ber. dtsch. chem. Ges. 2 (1869), S. 440ff. Heinrich Buff (junior) ist Großneffe von Charlotte Buff (1753-1828), Vorbild zur „Lotte“ in Goethes „Werther“, vgl. Siegfried Rösch: Die Familie Buff (Neustadt an der Aisch 1953), S. 59. 28 Weng (Anm. 7), S. 19f. 29 Gustav Schultz, Paul Julius, Tabellarische Übersicht der künstlichen organischen Farbstoffe, 4. Aufl. (Berlin 1902), S. 172f. (Farbstoff Nr. 455). 30 Jahresbericht der Handelskammer zu Crefeld pro 1872, S. 49. 31 Jahresbericht der Handelskammer zu Crefeld pro 1873, S. 20. 32 Weng (Anm. 7), S. 20. 33 O. Fischer, Ber. dtsch. chem. Ges. 10 (1877), S. 1623ff.; O. Fischer, Ber. dtsch. chem. Ges. 11 (1878), S. 950ff.; E. und O. Fischer, Ber. dtsch. chem. Ges. 11 (1878), S. 2095ff.; E. und O. Fischer, Liebigs Ann. Chem. 194 (1878), S. 242ff.; E. und O. Fischer, Ber. dtsch. chem. Ges. 12 (1879), S. 791ff., S. 796ff., S. 2344ff.; O. Fischer, Ber. dtsch. chem. Ges. 14 (1881), S. 2520ff. 34 Schlösser, Geschichte der Barmer Betriebe, in: Geschichte der Entwicklung der Farbenfabri- ken (Anm. 8), S. 246ff., hier S. 248. Die unterschiedlichen Einführungszeitpunkte lassen sich vielleicht durch die Annahme erklären, dass Tillmanns Dimethylanilin zunächst durch Umsetzung von Anilin mit Methylhalogenid herstellte. 35 Weng (Anm. 7), S. 19. 36 Jahresbericht der Handelskammer zu Crefeld pro 1873, S. 19f. 37 Schultz (Anm. 9), S. 172.

– 64 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 38 Wurtz (Anm. 11), S. 313. Eine präzisere Beschreibung des (weiterentwickelten) Verfahrens findet man bei Gustav Schultz: Die Chemie des Steinkohlentheers, 2. Aufl., Bd I (Braun- schweig 1886), S. 402f. 39 O. Fischer, W. Körner: Ber. dtsch. chem. Ges. 16 (1883), S. 2904ff.; O. Fischer, W. Körner, Ber. dtsch. chem. Ges. 17 (1884), S. 100f.; O. Fischer, L. German: Ber. dtsch. chem. Ges. 17 (1884), S. 706ff.; vgl. Heumann (Anm. 12), S. 253ff. 40 A.W. Hofmann, Ber. dtsch. chem. Ges. 6 (1873), S. 353ff. 41 Hofmann (Anm. 40), S. 364. 42 A.W. Hofmann, Ber. dtsch. chem. Ges. 18, (1885), S. 767ff. 43 E. Fischer, in: Jacob Volhard und Emil Fischer, August Wilhelm von Hofmann: Ein Lebens- bild, Ber. dtsch. chem. Ges. 35, Sonderheft (Berlin 1902), S. 237-246, hier S. 242. Vgl. dazu S. Dähne, in: Christoph Meinel, Hartmut Scholz (Hg.), Die Allianz von Wissenschaft und Industrie: August Wilhelm Hofmann (1818-1892) (1992), S. 257-286, hier: S. 258. 44 A.W. Hofmann, Ber. dtsch. chem. Ges. 6 (1873), S. 263f.; nach G. Schultz handelt es sich bei dem violetten, wasserunlöslichen Farbstoff möglicherweise um das iodwasserstoffsaure Salz des Methyltribenzylrosanilins, s. Gustav Schultz, Die Chemie des Steinkohlentheers, 2. Aufl., Bd II (Braunschweig 1887-1890), S. 469f. – Es bleibt unklar, ob Hobrecker nur zeit- weise bei Tillmanns beschäftigt oder dauerhaft angestellt war. Möglicherweise kam er auf Betreiben Buffs nach Krefeld. Auch ist die wirtschaftliche Bedeutung dieses Farbstoffes un- klar, zumal (durchschnittlich) einfach benzylierte Rosaniline bereits 1868 von Lauth ent- deckt wurden und in den Farbstofftabellen von Schultz/Julius erwähnt werden, s. Schultz, Julius (Anm. 29), S. 158f. (Farbstoff Nr. 430). – Ausführlich zu Hofmanns Verhältnis zur Farbstoffindustrie: W.H. Hornix, in: Meinel, Scholz (Hg.) (Anm. 43), S. 151-165. 45 Geschichte des Werkes Uerdingen der Farbenfabriken Bayer Aktiengesellschaft (Uerdingen 1956), S. 34, 36. 46 Vgl. Schreiben Tillmanns, E. ter Meer & Co. an Bürgermeister Uerdingen (22. September 1885) bezüglich Erleichterung von Auflagen beim Autoklavenbetrieb, die am 13. November 1880 gemacht wurden, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Reg. Düsseldorf, Nr. 24609, o. fol. 47 Claus Ungewitter, Ausgewählte Kapitel aus der chemisch-industriellen Wirtschaftspolitik 1877-1927 (Berlin 1927), S. 10; Tillmanns wurde in der konstituierenden Sitzung des Ver- eins am 25. November 1877 in Frankfurt a. M. zum Beisitzer gewählt, s. Chemische Indu- strie 1 (1878), S. 1ff. 48 Bei Weng (Anm. 7) finden sich unterschiedliche Mengenangaben für die im Zeitraum er- reichte maximale Malachitgrünfabrikation. S. 21: über 1000 t/a; S. 92: ca. 800 t/a. 49 Weng (Anm. 7), S. 21. 50 Weng (Anm. 7), S. 19. Der Antrag vom 4. November 1885 wurde am 31. Januar 1886 ge- nehmigt, dem beantragten Aufschub für die Aufstellung eines zweiten Fuchsin- Schmelzkessels um zwei Jahre wurde am 11. Dezember 1886 zugestimmt, s. Hauptstaatsar- chiv Düsseldorf, Reg. Düsseldorf, Nr. 24609, o. fol. 51 Weng (Anm. 7), S. 19. Der Antrag vom 5. Februar 1889 wurde am 26. März 1889 geneh- migt, s. Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Reg. Düsseldorf, Nr. 24609, o. fol. Meister, Lucius und Brüning gelang die Umstellung bereits 1872, s. A. Brüning, Ber. dtsch. chem. Ges. 6,

– 65 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 25f. (1873). – Eine auffallend späte Einführung des Coupier-Verfahrens zur Fuchsin- Herstellung ist allerdings auch für Bayer belegt, die in Elberfeld erst nach der im Juni 1885 erfolgten Einstellung von Dr. Oscar Gürke gelang, der auf vermutlich einschlägige Erfah- rungen bei Meister Lucius & Brüning zurückblicken konnte, s. Carl Duisberg: Meine Le- benserinnerungen (Leipzig 1933), S. 58, und Beitrag Dr. A. Hausdörfer, Geschichte der Grünfabrik, in: Geschichte der Entwicklung der Farbenfabriken (Anm. 8), S. 193, sowie Bei- trag Carl Duisberg, Selbsterlebtes und Schlussbetrachtungen, ibid., S. 594. Lt. Duisberg wurde die Fuchsinherstellung in Elberfeld wegen starker Konkurrenz durch die BASF, Mei- ster Lucius & Brüning, AGFA sowie Oehler wenig später aufgegeben. Gürke war nach sei- ner Anstellung bei Meister, Lucius & Brüning bei der Hoechster Gelatinefabrik beschäftigt, bevor er bei Bayer in Elberfeld eintrat, s. Carsten Reinhardt, Forschung in der chemischen Industrie: Die Entwicklung synthetischer Farbstoffe bei BASF und Hoechst, 1863 bis 1914 (Freiberg 1997), S. 257. 52 Jahresbericht der Handelskammer Crefeld pro 1880, S. 25f. 53 Jahresbericht der Handelskammer Crefeld pro 1884, S. 43. 54 Weng (Anm. 7), S. 25; s. auch Scheinert (Anm. 4): S. 227. 55 Anilin-Verkäufe Weiler 1873-1879, BAL 5-G-5-33. 56 Weng (Anm. 7), S. 21f. 57 Violet-Vertrag vom 18. Juli 1900, BAL 5-G-5-30. 58 Geschichte des Werkes Uerdingen (Anm. 45), S. 29. 59 Weng (Anm. 7), S. 101f. 60 Zu Büttner und Meyer s. Walter Kordt, Die Krefeld-Uerdinger Rhein- und Hafenindustrie, Teil 1: Die Uerdinger Industrie bis zum Jahre 1900 (Krefeld 1963), S. 67-77. 61 O. Mühlhäuser, Dinglers polytechnisches Journal 264 (1887), S. 37ff.; s. auch Heumann (Anm. 12), S. 280ff. 62 Bayer Industry Services, Genehmigungsstelle Uerdingen, Hauptkonzession 3, I (13. Novem- ber 1880). Die Autoklavenzeichnung ist dem Antrag vom 22. September 1885 auf Erleichte- rungen bei der Druckprüfung zuzuordnen. 63 Bayer Industry Services, Genehmigungsstelle Uerdingen, Hauptkonzession 7, I, Genehmi- gung vom 3. Dezember 1885. 64 Weitere Auflagen bestanden in der Sichtprüfung vor jeder Befüllung und der Verpflichtung, die Druckprüfung durch einen unabhängigen Sachverständigen vornehmen zu lassen. In der technischen Beschreibung wurden folgende Spielarten genannt, deren Realisierung sich der Antragsteller vorbehielt: Direkte oder indirekte Befeuerung, Eisen ohne und mit Emaillie- rung als Werkstoff, mit oder ohne auswechselbare Einsätze. Die Genehmigungsbehörde nahm im Zuge der Entscheidung über die am 22. September 1885 von Tillmanns & ter Meer beantragten Erleichterungen beim Autoklavenbetrieb einen Abgleich der Auflagen zwischen Küchler & Buff, Bayer und Tillmanns & ter Meer vor., s. Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Reg. Düsseldorf, Nr. 24609, o. fol. 65 Schultz, Julius (Anm. 29), S. 150f. (Farbstoffe Nr. 413 und 414). 66 Schultz, Julius (Anm. 29), S. 148f. (Farbstoff Nr. 411).

– 66 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 67 Weng (Anm. 7), S. 42, 125. 68 Lauch trat 1887 bei Bayer in Elberfeld ein, s. Beitrag Bernhard Heymann: Die erfinderische Tätigkeit der Farbenfabriken auf dem Gebiete der Teerfarbenindustrie, in: Geschichte der Entwicklung der Farbenfabriken (Anm. 8): S. 10ff., hier: S. 16. Zu Lauchs für Bayer wichti- gen Erfindungen gehörte das gemeinsam mit Carl Krekeler entwickelte Diamantschwarz F, s. Schultz, Julius (Anm. 29): S. 72f. (Farbstoff Nr. 203). 69 Weng (Anm. 7), S. 104. 70 75 Jahre Werk Uerdingen der Farbenfabriken Bayer 1877-1952 (Entwurf zu einer Fest- schrift, Typoskript), S. 118f. BAL 800-111-259. 71 Weng (Anm. 7), S. 102. 72 Weng (Anm. 7), S. 44, 98. 73 Bayer Industry Services, Genehmigungsstelle Uerdingen, Hauptkonzession 26, I, Genehmi- gungs-Urkunde v. 10. Januar 1905 betr. Fuchsin-Betrieb. 74 Weng (Anm. 7), S. 98. 75 75 Jahre Werk Uerdingen (Anm. 70), S. 119 und Geschichte des Werkes Uerdingen (Anm. 45), S. 61. 76 Geschichte des Werkes Uerdingen (Anm. 45), S. 66. 77 Weng (Anm. 7), S. 99f. 78 Niederschrift über die 23. Trikositzung am 25. Februar 1935 in Hoechst, Referat Hoechst (Voss), S. 2. BAL 800-111-88. 79 Weng (Anm. 7); S. 102f. 80 Geschichte des Werkes Uerdingen (Anm. 45), S. 90. 81 Zusammenstellung Tea-Büro vom 18. Juni 1931. BAL 800-111-164. 82 Werksbericht Uerdingen 1939, 2. Teil. BAL 800-111-238. 83 Bayer AG (Hg.), 100 Jahre Werk Uerdingen der Bayer AG (Uerdingen 1977), o. P., passim. 84 Carsten Reinhardt, Anthony S. Travis, Heinrich Caro and the Creation of Modern Chemical Industry (Dordrecht u.a. 2000), S. 228, 230, und Geschichte des Werkes Uerdingen (Anm. 45), S. 20. 85 Zur Bedeutung systematischer Patentstrategien in der Teerfarbenindustrie s. Johann Peter Murmann, Knowledge and Competitive Advantage: The Coevolution of Firms, Technology, and National Institutions (Cambridge 2003), S. 133ff. 86 Ein aufschlussreicher Beleg dafür, dass Farbstoffhersteller auch von der Abnehmerseite her mit Wettbewerb zu rechnen hatten, findet sich in: Minhorst & Schultes (Hg.), 100 Jahre Minhorst & Schultes, Färberei und Appretur, 1863-1963 (Krefeld, o. J.), S. 24ff. – Die Kre- felder Färberei stellte von 1868 bis 1891 Triphenylmethanfarbstoffe zum Selbstverbrauch, aber auch zum Verkauf her. Das Knowhow besorgte man sich aus der Literatur, durch Ei- genentwicklungen und über Lizenznahmen. Hierzu auch Hans-Karl Rouette, Seide & Samt in der Textilstadt Krefeld (Frankfurt a. M. 2004), S. 238f.

– 67 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Vulkanisation – chemische Reaktion oder Adsorptionsvorgang? Eine Kontroverse zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Dr. Klaus-D. Röker, Schuhmachers Weg 11, 30826 Garbsen

Naturkautschuk gelangte 1736 erstmals durch den französischen Entdecker de la Codamine nach Europa, der im Auftrag der französischen Akademie der Wissen- schaften eine Expedition nach Südamerika zur exakten Messung eines Breiten- grades unter dem Äquator unternommen hatte. Naturkautschuk galt zunächst als Kuriosität, obwohl seine vorteilhaften Eigenschaften wie Elastizität und Wasser- beständigkeit durchaus bekannt waren. Naturkautschuk fand in Einzelfällen auch bereits praktische Verwendung. Gegen seine breitere Verwendung als Werkstoff sprachen allerdings insbesondere seine Brüchigkeit bei tiefen und seine Klebrig- keit sowie der Verlust der elastischen Eigenschaften bei höheren Temperaturen. Im Rahmen ausgedehnter Versuche fand Charles Goodyear schließlich durch einen glücklichen Zufall im Jahre 1839, dass beim Erhitzen einer Mischung von Naturkautschuk mit Schwefel über dessen Schmelzpunkt hinweg die Materialei- genschaften deutlich verbessert werden (Heißvulkanisation). Das nach Goodyear „metallisierte“ Produkt erhält seine Elastizitätseigenschaften über einen weiten Temperaturbereich und die für viele Anwendungen lästige Klebrigkeit ver- schwindet.

Abb.1: Abb. 2: Abb. 3: Charles M. de la Condamine Charles Goodyear Thomas Hancock (1701-1774) (1800-1860) (1819-1875)

– 68 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Um das Verfahren entwickelte sich ein heftiger Patentstreit, da Goodyear zu- nächst keine Anmeldung vorgenommen hatte und das Verfahren geheim halten wollte. Nachdem der Brite Thomas Hancock, der Erfinder der Mastikation des Kautschuks, aber Goodyearsche Produkte analysiert hatte und selbst 1843 ein Patent auf ein von ihm entwickeltes Vulkanisationsverfahren (Eintauchen von Kautschuk in ein Bad von geschmolzenem Schwefel) erhalten hatte, meldete auch Goodyear seine Erfindung zum Patent an. Er erhielt es am 30. Januar 1844.1

Der Begriff „Vulkanisation“ wurde vom Maler, Schriftsteller und Wissenschaft- ler William Brockedon, einem Partner Hancocks, geprägt. Der Grund hierfür war der Wunsch, einen prägnanten kurzen Namen für das Verfahren zu schaffen. Der Name wies mit dem Bezug zum römischen Gott des Feuers und der Vulkane auch auf die Quellen hin, die den Schwefel lieferten.

Im Jahre 1847 erhielt Alexander Parkes (1813-1890) ein Patent für das Verfahren der sog. Kaltvulkanisation, hierbei werden dünne Kautschukplatten Schwefel- dichlorid-Dämpfen ausgesetzt. Auf dieses Verfahren wird in der vorliegenden Arbeit nicht weiter eingegangen.

Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: William Brockedon Anselme Payen William T. Brande (1787-1854) (1795-1871) (1788-1866)

Erste wissenschaftliche Untersuchungen unternahm Anselme Payen2, der in vul- kanisierten Proben extrahierbare und nicht extrahierbare Schwefelanteile nach- weisen konnte. Über das Wesen des Vulkanisationsvorgangs bestanden zunächst sehr unterschiedliche Meinungen: Brande3 z.B. vermutete eine allotrope Form des Kautschuks, Burghardt4 sah eine chemische Bindung, Donath5 hingegen eine Art Legierung zwischen Schwefel und Kautschuk. Auch hinsichtlich der Menge des für die Vulkanisation notwendigen Schwefels gab es deutlich differierende Versuchsergebnisse. Für die allgemeine Auffassung vom Wesen des Vulkanisa- tionsprozesses wurden schließlich ab 1892 Arbeiten zur Analyse von Kautschuk

– 69 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 von R. Henriques6 (1857-1902) und deren Anwendung auf das Vulkanisations- problem insbesondere von C.O. Weber7 (1860-1904) ab 1894 wegweisend.

Zunächst gab es nach wie vor noch sehr unterschiedliche Auffassungen. Die Dis- kussion um die Chemie der Vulkanisation wurde sehr kontrovers und persönlich geführt. J. B. Höhn vertrat z.B. die Ansicht,

dass die Vulkanisation einen chemischen Vorgang überhaupt nicht darstellt, son- dern der Schwefel im geschmolzenem Zustande von den Zellen des Kautschuks lediglich physikalisch aufgenommen wird, und daß diese Legierung … auch ande- re physikalische Eigenschaften zeigt.8

C.O. Weber empfand in einer Replik diese Ansichten „als an die sonderbarsten Episoden in Hegel’s Naturphilosophie erinnernd“ und polemisierte:

In welch bedauerlichem Zustande sich die Chemie des Kautschuks noch befindet, zeigt nichts besser als die Tatsache, daß Ansichten, wie die vorstehend bekämpf- ten, sich noch an die Oeffentlichkeit wagen.9

Das 1902 erschienene Buch „The Chemistry of India Rubber, including the Out- lines of a Theory on Vulcanisation“ von Carl Otto Weber10 brachte schließlich den Durchbruch für die Ansicht, dass bei der Vulkanisation eine chemische Ein- bindung des Schwefels erfolge.

C.O. Weber hatte in ausgedehnten Versuchen mit unterschiedlichen Naturkau- tschuksorten Vulkanisationszeitreihen bei unterschiedlichen Temperaturen unter streng definierten Bedingungen durchgeführt. Hierbei vulkanisierte er 3 mm star- ke kalandrierte Streifen von Mischungen von 100 Teilen Parakautschuk mit 10 Teilen gefällten Schwefels in einem speziell entwickelten Autoklaven. Die quan- titative Bestimmung des Schwefels erfolgte nach Extraktion der Vulkanisate mit Aceton.

C.O. Weber konnte nachweisen, dass mit zunehmender Zeit und Temperatur die Menge des im Vulkanisat gebundenen, d.h. nicht mehr extrahierbaren Schwefels bis zu einer Sättigung zunimmt. C.O. Weber nahm an, dass sich bei der Vulkani- sation eine

kontinuierliche Reihe von Additionsprodukten von Schwefel und Polypren [bil- den]. Die obere Grenze dieser Reihe wird durch den Körper C100H160S20, die unte- 11 re Grenze sehr wahrscheinlich durch den Körper C100H160S repräsentiert.

– 70 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Manometer Thermometer

Ablassventil

Heizung mittels Bunsenbrenner

Abb. 7: Vulkanisationsautoklav von C.O. Weber (Quelle: s. Anm. 10, S. 84)

Abb.8: Die Vulkanisationskurven von C. O. Weber (Quelle: s. Anm. 10, S. 86)

– 71 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Die Verläufe der Vulkanisationskurven wiesen einige Merkwürdigkeiten auf. Für C.O. Weber war das Ergebnis eindeutig:

Jedenfalls lassen obige Zahlenreihen nicht mehr den geringsten Zweifel, daß es sich bei der Vulkanisation des Kautschuks um die Bildung einer aus Kautschuk und Schwefel bestehenden Verbindung, eines Polyprensulfids, handelt und daß mithin der Vulkanisationsvorgang tatsächlich als ein chemischer Prozeß betrach- tet werden muß, der in erster Linie durch seinen langsamen zeitlichen Verlauf charakterisiert ist.11

C.O. Weber schreibt hierzu:

Sehr auffällig in diesen Kurven ist das Auftreten von „Knicksen“ an gewissen Stellen derselben … ueber deren Bedeutung und Ursache fehlt mir bislang jede Vorstellung. Als ich dieselben zuerst beobachtete, hielt ich sie einfach für Ver- suchsfehIer, einem unbeachtet gebliebenen zeitweisen Ueberhitzen entspringend. Sämtliche obigen Versuchsreihen wurden wesentlich aus diesem Grunde dreimal wiederholt, wobei sich zunächst eine ganz vorzügliche Uebereinstimmung der Vulkanisationszahlen (Schwefelprozente) der iso-thermischen Serien ergab, wäh- rend in jeder Serie wieder dieselben Knickse und zwar stets an genau denselben Stellen auftraten. Es ist dies um so merkwürdiger, als keine der verschiedenen an- deren Kautschuksorten, deren Vulkanisationszahlen in gleicher Weise bestimmt wurden, diese Eigentümlichkeit aufweisen.11

Die zeitgenössische Fachliteratur zu Beginn des 20. Jahrhunderts sah nun die chemische Einbindung des Schwefels in den Kautschuk als gesichert an12. C.O. Weber definierte die Vulkanisation als Herstellung von pektinisierten13 Schwe- feladditionsderivaten des Kautschuks.

Abb. 9: Wolfgang Ostwald (1883-1943) Abb. 10: Carl Harries (1865-1923)

Auch der chemische Aufbau des Naturkautschuks galt als geklärt. C. Harries hat- te aus den Abbauprodukten der Ozonolyse von Kautschuk14 abgeleitet, dass die-

– 72 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 ser aus Dimethylcycloaoctadien-Molekülen aufgebaut sei. Diese sollten sich „un- ter gegenseitiger Absättigung der Partialvalenzen nach J. Thiele“15 zum Kau- tschuk polymerisieren.

Abb. 11: Das Harriessche Modell des Naturkautschuks: 1,5-Dimethylcyclooctadien (1,5) Einheiten, die über Nebenvalenzbindungen (gepunktet) aggregiert sind.15

Ditmar legte einen Strukturvorschlag für vulkanisierten Kautschuk vor, der für niedrige und hohe Schwefelgehalte der Vulkanisate unterschiedliche Verknüp- fungen der 8er-Ringe beinhaltete16.

Die Harriessche Strukturvorstellung erwies sich als außerordentlich erfolgreich und wurde allgemein akzeptiert. Eine in Konkurrenz stehende makromolekulare Auffassung von Pickles17, die der tatsächlichen Naturkautschukstruktur weitge- hend nahe kommt, konnte sich nicht durchsetzen.18 Noch 1920 sah Harries die von ihm vorgeschlagene Struktur als zutreffend an:

Pickles … hat eine Hypothese entwickelt, dass der Kohlenwasserstoff aus einem sehr großen Ring, der durch den Zusammentritt vieler Pentadienylreste gebildet wird, besteht. Dieser Ring entspreche seiner wahren Molekülgröße. Diese Auffas- sung kann nicht richtig sein. Sie erklärt nicht die leichte Depolymerisiationsfähig- keit des Kautschuks …19

– 73 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Abb. 12: Vulkanisierter Kautschuk nach Ditmar20

Die nahezu allgemein akzeptierte Vorstellung der chemischen Einbindung des Schwefels wurde 1910 von Wolfgang Ostwald, dem Verfasser der „Welt der ver- nachlässigten Dimensionen“21, der seiner Zeit außerordentlich populären Einfüh- rung in die Kolloidchemie, mit einer völlig neuen Sichtweise in Frage gestellt22,23. Wo. Ostwald sah in den Vulkanisationsvorgängen weder einen rein physikalischen noch einen rein chemischen Vorgang, sondern einen kolloidche- mischen, nämlich einen Adsorptionsprozess. Wo. Ostwald hatte selbst keinerlei eigene Versuche durchgeführt, sondern interpretierte vorliegende Vulkanisati- onsdaten von E.O. Weber, G. Hübener24 und E. Stern25 unter kolloidchemischen Gesichtspunkten neu.

Ausgangspunkt für Wo. Ostwald waren folgende Befunde von E.O. Weber:

 Die Schwefelaufnahme ist ein additiver Vorgang, bei welchem kei- ne Zersetzungen oder Substitutionen während des Vulkanisations- vorgangs stattfinden.  Der Kautschuk bildet mit dem Schwefel eine Reihe von Additions- produkten, aber keine identifizierbaren Reaktionsprodukte.

– 74 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Deutliche Belege für das Vorliegen eines Adsorptionsprozesses sah Wo. Ostwald in folgenden Feststellungen:

 Ein konkretes Reaktionsprodukt für eine Umsetzung des Kautschuks mit maximaler Schwefelsättigung kann nicht angegeben werden.  Aus allen Vulkanisaten kann noch unumgesetzter Schwefel extrahiert werden.  Die Eigenschaften des Kautschuks verändern sich in Abhängigkeit von ih- rer Vorbehandlung (Walzen etc.).  Die van’t Hoffsche Temperaturregel besagt, dass die Reaktionsgeschwin- digkeit chemischer Reaktionen bei einer Temperaturerhöhung um 10° sich um das 2 bis 3,5fache erhöht. Bei der Vulkanisation werden aber im Mit- tel Werte zwischen 1,5 und 2 gefunden. Dieses weise eher auf die Tempe- raturkoeffizienten für Adsorptionsprozesse hin.26  Die von C.O. Weber veröffentlichten Vulkanisationskurven (s. Abb. 8) weisen charakteristische „Knicks“ auf, die phänomenologisch Adsorpti- onskurven entsprechen.  Eine Auswertung der Versuchsdaten von Stern und Hübener im Sinne ei- nes adsorptiven Prozesses x x: Menge des adsorbierten Stoffs = kcm a: Menge des Adsorbats a c: Anfangskonzentration k: Konstante m: Konstante führt zu besseren Korrelationen als die Auswertungen von Stern und Hü- bener, die lineare Zusammenhänge zwischen gebundenem und zugesetz- tem Schwefel angenommen hatten.

In seiner Veröffentlichung greift Wo. Ostwald die Vertreter der Vorstellung einer chemischen Schwefeleinbindung scharf an und kritisiert deren Erkenntnisstand:

Es ist nicht nur die Ansicht des Verfassers, dass die Ergebnisse zunächst der ganz überwiegend gepflegten konstitutionschemischen Betrachtungsweise (trotz ihrer überaus großen Erfolge auf anderen Gebieten der organischen Chemie) gerade für die Kernfragen der Kautschukchemie zurzeit noch relativ spärlich sind.22

Wo. Ostwald hofft, dass aus seinem Beitrag

– 75 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 die große Einfachheit und Durchsichtigkeit der adsorptionstheoretischen Darstel- lung hervorgehen [werde] im Gegensatz zu den Resultaten der konstitutionsche- mischen Auffassung, die auch von ihren Vertretern als äußerst kompliziert bezeichnet wird.22

Durch die gesamte Veröffentlichung zieht sich vehemente Kritik an der Verhal- tensweise des 1904 verstorbenen C.O. Weber, der seinerzeit gegenüber den Kri- tikern des Modells der chemischen Einbindung recht polemisch argumentiert hatte (s.o.).

Abb.13: Ostwalds Darstellung der Ergebnisse der Versuche von Hübener und Stern im Sin- ne eines Adsorptionsprozesses (Fig. 4), Auswertungen von Stern und Hübener (Fig. 5, 6).22

Wohl auch aufgrund der hohen persönlichen Autorität von Wo. Ostwald wurde die neue Theorie zwar sehr schnell aufgenommen27, nahezu gleichzeitig entwic- kelte sich aber auch eine scharfe und emotionsgeladene Diskussion28. Im Laufe der Zeit nahmen die Zweifel an der Richtigkeit der Ostwaldschen Theorie zu.

– 76 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 F.W. Hinrichsen hatte zunächst der kolloidchemischen Sichtweise nahegestan- den29, wies dann aber zunehmend auf Widersprüche hin.30

D. Spence und J. Young et al. setzten sich 1912 mit den von Wo. Oswald für sei- ne Adsorptionstheorie genutzten Quellen kritisch auseinander:

Es ist bemerkenswert, dass niemand die in der Literatur veröffentlichten Behaup- tungen und experimentellen Befunde, auf denen sich so viele theoretische Ausfüh- rungen aufbauen, nachgeprüft hat. Die bisher angewandten Methoden erschienen uns so unexakt und die erhaltenen Resultate so unvollständig, daß wir uns ent- schlossen, den Gegenstand einer Untersuchung zu unterziehen und die Ergebnisse der heißen Vulkanisation mittels exakterer Methoden … eingehend und vollstän- dig zu studieren.31

D. Spence und J. Young wiederholten die Weberschen Versuche unter exakt de- finierten Bedingungen. Die wichtigsten experimentellen Verbesserungen waren die Verwendung von gereinigtem (extrahiertem) Kautschuk und die Vermeidung der Temperaturschwankungen im Autoklaven beim Öffnen und Schließen durch Verwendung eines mit Xyloldämpfen geheizten Glycerinbads, in welchem die Kautschukstreifen sich befanden. Die Versuchsergebnisse waren eindeutig: Spence und Young widerlegten Wo. Ostwald in nahezu allen seiner Argumente:

 Spence und Young fanden in ihren Versuchen einen Maximalwert für die Schwefelaufnahme in Kautschuk, der einer empirischen Formel C10H16S entsprach. Dieser Wert konnte auch durch die Verwendung von über- schüssigem Schwefel nicht übertroffen werden. Damit glaubten Spence und Young das Reaktionsprodukt für eine Umsetzung bei maximaler Sät- tigung gefunden zu haben.  Nach Vervollständigung der Schwefelreaktion blieb kein extrahierbarer Schwefel in den Vulkanisaten zurück. Ein Adsorptions-/Desorptions- Gleichgewicht lag demnach nicht vor.  Der Temperaturkoeffizient (Anmerkung: Beschleunigung der Reaktions- geschwindigkeit bei 10° Temperaturerhöhung) betrug nicht 1,5 - 2,0 wie von Wo. Ostwald angeführt, sondern 2,65. Damit konnte der Temperatur- koeffizient nicht als Hinweis auf einen Adsorptionsprozess gewertet wer- den.

 Die von Ostwald als so bedeutsam und als Beleg von Adsorptionscharak- teristiken angesehenen Knicke in den Vulkanisationsverläufen von C.O. Weber erwiesen sich als experimentelle Fehlergebnisse, die Vulkanisati-

– 77 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 onskurven verlaufen stetig und ohne interpretationsbedürftige Plateaus (Abb. 14).

Abb.14: Die Vulkanisationsverläufe nach Spence und Young32

 Die Schwefelaufnahme erfolgt bei gegebener Temperatur linear mit der Vulkanisationszeit und nicht entsprechend den von Wo. Ostwald angeführten Adsorptionsgesetzen.

Als Ergebnis ihrer Arbeit führen D. Spence und J. Young aus:

Damit haben wir, wie wir glauben, nicht allein zur Erweiterung unserer Kenntnis- se der Chemie der Vulkanisation beigetragen, sondern haben damit auch die Hauptstützen, auf die sich die Adsorptionstheorie gründete, zu Fall gebracht. Wir hoffen in der Tat, ein für allemal jeden Zweifel, der hinsichtlich der chemischen Natur der heißen Vulkanisation bestand, behoben zu haben. Wir zögern nicht im geringsten mit der Behauptung, dass dieser Prozeß ein chemischer ist … Es gibt wahrlich so wenige chemische Reaktionen, die eine so genaue Messung gestatten und dem physikalischen Chemiker so großartige Gelegenheiten bieten, wie die vorliegende.

– 78 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Der Beitrag von Spence und Young erschien in der „Zeitschrift für Chemie und Industrie der Kolloide“, deren Herausgeber seit 1907 pikanterweise der angegrif- fene Wo. Ostwald war. Dieser fügte dem Artikel eine „Bemerkung zur vorste- henden Arbeit“ an33: Darin bat er

die Interessenten auf diesem Gebiete, ehe sie z.B. den ziemlich radikalen Schluß- folgerungen der vorliegenden Arbeit von D. Spence restlos beistimmen, noch et- was warten zu wollen, bis auch die vom Schreiber aufgestellte und von D. Spence seiner Meinung nach endgültig widerlegte adsorptions-theoretische Auffassung der Schwefelaufnahme bei der Vulkanisation ihre Stellung zu den vorliegenden Versuchen hat nehmen können. Nur soviel sei mit Nachdruck hervorgehoben, daß trotz aller Anerkennung der Fortschritte in der experimentellen Behandlung des Problems speziell die Deutung, Berechnung und Interpretation der Versuche der- artig viel und mannigfaltigen Anlaß zur Kritik gibt, daß der Schreiber ganz und gar nicht davon überzeugt ist, daß die Adsorptionstheorie … auch nur in irgendei- nem wesentlichen Punkte durch die Spenceschen Arbeiten erschüttert worden ist.

Die angekündigten Inhalte sollten nicht mehr folgen.

Im gleichen Jahre erschien noch eine weitere, äußerst kritische Untersuchung der Grundlagen der Adsorptionstheorie: H. Loewen34 wies darin u.a. auf erhebliche Unstimmigkeiten bei der Zahlenbasis und bei den Berechnungen von Wo. Ost- wald hin:

[Es] zeigt sich, daß auch nicht ein zwingendes Argument für die adsorptionstheo- retische Auffassung der Vulkanisation bestehen bleibt, und daß tatsächlich keine der beobachteten Erscheinungen der rein chemischen Auffassung nennenswerte Schwierigkeiten bereitet. Daß Ostwald zu dem entgegen gesetzten Ergebnis ge- langt ist, scheint mir auf einer nicht genügend kritischen Bewertung der Literatur zu beruhen… Man darf nach den jüngsten Veröffentlichungen den Versuch Ost- walds, die Bindung des Schwefels bei der Vulkanisation als Adsorption zu erklä- ren, als gescheitert betrachten.

Die Vulkanisation blieb auch weiterhin Thema wissenschaftlicher und technisch- praktischer Untersuchungen. Es wurde weithin diskutiert, ob neben der nunmehr nachgewiesenen chemischen Reaktion parallel physikalisch-chemische Adsorp- tionen stattfinden könnten.35 Das Bekanntwerden der Vulkanisationsbeschleuni- gung durch organische Verbindungen war ein weiteres Argument gegen die Adsorptionshypothese. Dennoch definierte P. Schidrowitz, eine der Kautschuk- Autoritäten seiner Zeit, 1922 das Wesen der Vulkanisation bemerkenswert vor- sichtig: Er bezeichnet die Vulkanisation als „einen Prozess, der die Reaktion von Kautschuk und Schwefel betrifft und der die thermischen und physikalischen Eigenschaften des Kautschuks erheblich verändert und verbessert“.36

– 79 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Wo. Ostwald schadete die Kontroverse nicht: Sein wenige Jahre später erschie- nenes Buch „Die Welt der vernachlässigten Dimensionen“ wurde außerordent- lich populär. 1922 erhielt Wo. Ostwald das erste planmäßige Extraordinariat für Kolloidchemie, 1935 wurde er Ordinarius.

David Spence war weiterhin auf dem Gebiet der Vulkanisation tätig – er arbeitete insbesondere über Beschleuniger. 1941 wurde er erster Preisträger der Goodyear- Medaille der Rubber Division der American Chemical Society.

Erst Ende der 20er Jahre lagen mit den Staudingerschen makromolekularen Vor- stellungen die Voraussetzungen für das wirkliche Verständnis der Vulkanisation vor. Der Blick in das schwefelvernetzte Makromolekül eröffnete sich dann Ende des 20. Jahrhunderts: Mit der Festkörper-Kernresonanzspektroskopie wurden die Bindungsverhältnisse des Schwefels direkt sichtbar: Schwefel ist wirklich direkt an das Polymer gebunden.

Abstract

Vulcanization – a chemical reaction or an adsorption process? A controversy at the beginning of the 20th century

Until the end of the 19th century the chemical process of the vulcanization of natural rubber with sulphur was unclear. The development of suitable methods for the chemical analysis of vulcanized materials by Robert Henriques since 1892 was the key for scien- tific investigations. In 1902 Carl Otto Weber published a comprehensive study accord- ing to which he concluded that the vulcanisation is a chemical reaction. 1910 Wolfgang Ostwald reinterpreted the results from C.O. Weber and other authors and saw decisive arguments for an adsorption process. An emotional dispute between the supporters of the dissenting theories took place. 1912 David Spence et al. repeated the experiments of C.O. Weber with increased precision. They could prove that Wo. Ostwald’s arguments against the chemical theory were based on experimental artefacts within C.O. Weber’s investigations. The adsorption theory was refuted.

Erweiterte Fassung eines Beitrags auf der Vortragstagung „Geschichte der Materialforschung“ am 26. 03. 2009 in Göttingen. Einzelne Beiträge zum zeitgenössischen Stand der Vulkanisation

– 80 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 finden sich bei: A. Slingervoet Ramondt, Zur Geschichte der Naturkautschukforschung: Zu- sammenstellung der wissenschaftlichen Veröffentlichungen aus dem Gesamtgebiet des Kau- tschuks, (Dresden 1907); Rudolf Ditmar, Die Analyse des Kautschuks, der Guttapercha, Balata und deren Zusätze, (Wien und Leipzig 1909); Jakob Fritschi, Die Konstitution des Kautschuks und das Wesen der Vulkanisation, (Zürich 1923); B.D.W. Luff, Die Chemie des Kautschuks, (Berlin 1925); Kurt Gottlob, Technologie der Kautschukwaren, 2. Auflage, (Braunschweig 1925). 1 A. Slingervoet Ramondt, Zur Geschichte der Naturkautschukforschung: Zusammenstellung der wissenschaftlichen Veröffentlichungen aus dem Gesamtgebiet des Kautschuks, (Dresden 1907), S. 38. 2 Anselme Payen, „Über die Schwefelung des Caoutchouk´s und über einige Eigenschaften des Schwefels,“ Journal für praktische Chemie 56 (1852), 196-203. 3 Thomas Hancock, Personal Narrative of the Origin an Progress of the Caoutchouc or India- Rubber Manufacture in England (London 1857), S. 134, 139. 4 Carl Otto Weber, The Chemistry of India Rubber, including the Outlines of a Theory on Vul- canisation (London 1902), S. 47. 5 Carl Otto Weber, The Chemistry of India Rubber, including the Outlines of a Theory on Vul- canisation, loc. cit., S. 48. 6 Robert Henriques, Chemiker-Zeitung, (1892), 1595 (nach A. Slingervoet Ramondt1 loc. cit., S.45). 7 Carl Otto Weber, „Über die Vulcanisirung des Kautschuks,“ Zeitschrift für angewandte Chemie 7 (1894), 142-147. 8 J. B. Höhn, Gummiztg. (1899), 14, 17 und 33 (nach Wo. Ostwald23, loc. cit., S. 138). 9 Carl Otto Weber, Gummiztg. (1899), 14, 79 und 100 (nach Wo. Ostwald23, loc. cit., S. 139). 10 Carl Otto Weber, The Chemistry of India Rubber, including the Outlines of a Theory on Vul- canisation, loc. cit. 11 Carl Otto Weber, „Grundzüge einer Theorie der Kautschukvulkanisation,“ Kolloid-Zeitschr. 1 (1906), 65-71. 12 A. Slingervoet Ramondt, loc. cit., S. 42; Rudolf Ditmar, Die Analyse des Kautschuk, der Guttapercha, Balata und deren Zusätze (Wien / Leipzig 1909), S. 62. 13 Unter Pektinisierung verstand man in der Kolloidchemie das Unlöslichwerden. 14 C. Harries, „Ueber den Abbau des Parakautschuks vermittelst Ozon,“ Ber. 37 (1904), 2708- 2011. 15 Carl Harries, Untersuchungen über die natürlichen und künstlichen Kautschukarten (Berlin 1919), S. 225. 16 Rudolf Ditmar, Die Analyse des Kautschuk, der Guttapercha, Balata und deren Zusätze, loc. cit., S. 65-66.

– 81 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

17 Samuel Shrowder Pickles, “The constitution and synthesis of caoutchouc,” Journal of the Chemical Society, Transactions 97 (1910), 1085-1090. 18 Erst in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts legte H. Staudinger die Grundlagen für die mo- dernen makromolekularen Strukturvorstellungen. 19 Carl Harries, Untersuchungen über die natürlichen und künstlichen Kautschukarten, loc. cit., S. 231. 20 Rudolf Ditmar, Die Analyse des Kautschuk, der Guttapercha, Balata und deren Zusätze, loc. cit., S. 65. 21 Wolfgang Ostwald, Die Welt der vernachlässigten Dimensionen (Dresden / Leipzig 1915). 22 Wo. Ostwald, „Beiträge zur Kolloidchemie des Kautschuks, I., Zur Theorie der Vulkanisati- on,“ Kolloid-Zeitschr. 6 (1910), 136-155. 23 Wo. Ostwald, „Beiträge zur Kolloidchemie des Kautschuks, II.: Weitere Be-merkungen zur Theorie der Vulkanisation,“ Kolloid-Zeitschr. 7 (1911), 45-49. 24 Gerhard Hübener, „Über hartvulkanisierten Kautschuk,“ Gummizeitung 24 (1909), 213- 214. 25 E. Stern, Chem.-Ztg. 33 (1909), 757 (nach Wo. Ostwald23, loc. cit., S. 150). 26 Temperaturkoeffizient für Adsorption von Kongorot an Filterpapier: 1,36 (nach Wo. Os- wald23 loc. cit., S. 146). 27 Boris Bysow, „Zur Theorie der Heißvulkanisation,“ Kolloid-Zeitschr. 6 (1910), 160-161. 28 Jakob Frischi, Die Konstitution des Kautschuks und das Wesen der Vulkanisation (Zürich 1923), S.48. 29 F. Willy Hinrichsen, „Physikalisch-chemische Kautschukstudien,“ Kolloid-Zeitschr. 7 (1910), 65-67. 30 F. Willy Hinrichsen, E. Kindscher, „Zur Theorie der Vulkanisation,“ Kolloid-Zeitschr. 11 (1912), 191-193. 31 David Spence, J. Young, „Beiträge zur Chemie des Kautschuks, V.: zur Theorie der Vulka- nisation, III.,“ Kolloid Zeitschr. 11 (1912), 28-34. 32 K. Gottlob, Technologie der Gummiwaren, 2. Auflage (Braunschweig 1925), S. 147. 33 Wolfgang Ostwald, „Bemerkungen zur vorstehenden Arbeit,“ Kolloid-Zeitschr. 11 (1912), 34-36. 34 Heinrich Loewen, „Zur Theorie der Vulkanisation des Kautschuks,“ Zeitschrift für ange- wandte Chemie 25 (1912), 1553-1560. 35 B.D.W. Luff, Die Chemie des Kautschuks, loc. cit., S. 80. 36 K. Gottlob, Technologie der Gummiwaren, loc. cit., S. 136.

– 82 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Der schwierige Weg zum synthetischen Kautschuk – ein Weg mit Zufällen und Forschungsimpulsen

Dr. Rudolf Aust, Ludwigshafenstraße 6, 06258 Schkopau

Betrachtet man die Entwicklung des Synthesekautschuks im Vergleich zu der anderer Polymerwerkstoffe wie z.B. des Polystyrols, so fällt auf, dass die Ent- wicklungsgeschichte dieses Werkstoffs von der Entdeckung des Apothekers Si- mon bis zur Großproduktion wesentlich problemloser verlaufen ist. Es wurde mir bewusst, dass der Weg zum synthetischen Kautschuk geprägt war von zahlrei- chen Schwierigkeiten und Hindernissen, gleichzeitig aber auch von Zufällen, die von erheblichem Einfluss auf die Entwicklung der Kautschuksynthese waren. So erschien es mir reizvoll, diese Entwicklungsgeschichte aus der Sicht dieser Viel- zahl erforderlicher Problemlösungen zu schildern.

Der zweite Aspekt, der mir auffiel, war die Tatsache, dass auf dem schwierigen Weg zum synthetischen Kautschuk eine große Anzahl von Impulsen ausging, sozusagen nach dem Prinzip ,,actio gleich reactio", die sowohl die Forschung als auch die Technologieentwicklung stark beflügelt haben und die es wert sind, in die Betrachtung einbezogen zu werden.

Naturkautschuk

Will man die Geschichte des synthetischen Kautschuks beschreiben, so ist es un- erlässlich, zunächst über den Naturkautschuk zu sprechen und zwar aus zwei Gründen: Zum einen handelt es sich hier im Unterschied zu anderen Polymersyn- thesen um die Nachbildung eines Naturstoffes, was von vornherein für den Che- miker eine ungleich schwierigere Aufgabe ist; zum anderen steht und fällt das Eigenschaftsbild aller elastischen Werkstoffe generell mit der Kenntnis und den Möglichkeiten des gezielten Aufbaus makromolekularer Strukturen.

Am Beginn der Chronologie steht kein anderer als Christoph Kolumbus. Im Jahr 1492 beobachtete er bei den Mayas kultische Spiele mit Bällen, die über die Fall- höhe hinaus zurückspringen können. Aus dem Saft der Pflanze Hevea brasilien- sis gewannen die Ureinwohner bereits seit dem 11. Jahrhundert ein elastisches

– 83 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Harz, aus dem sie einfache Gegenstände herstellen konnten. Den milchigen Pflanzensaft nannten sie CAHACHU, dies bedeutet „Träne des Holzes". Die Entdeckung von Columbus blieb in Europa lange Zeit ohne Konsequenzen. Nachdem im Jahr 1745 der französischer Forscher de Condamine von einer Me- ridianvermessung aus Südamerika zurückgekehrt war, veröffentlichte er einen Reisebericht, und 1751 berichtete er vor der Akademie der Wissenschaften in Paris über seine Entdeckungen. Dabei wies er schon auf erste Schwierigkeiten hin: man konnte den Latex nicht in flüssiger Form nach Europa verschiffen. Dies war nur mit getrocknetem Kautschuk möglich. So musste der König von Portugal seine Stiefel nach Brasilien schicken, um sie dort mit Latex wasserdicht machen zu lassen. Im Jahr 1770 entdeckte John Priestley, dass Kautschuk an Stelle von Brotkrumen zum Radieren verwendet werden kann. Dem englischen Wort to rub (reiben) verdanken wir den englischen Begriff RUBBER für Kautschuk. Von nun an befassten sich mehrere Forscher mit Kautschuk und seinen Anwen- dungsmöglichkeiten. Diese bestanden z.B. in Beschichtungen mit Kautschuklö- sungen in Terpentin und Äther, Formartikeln oder Gummischuhen, von denen Friedrich der Große ein Paar als Geschenk erhielt. Bald erkannte man aber auch die drei wesentlichen Nachteile des Naturkautschuks: seine Klebrigkeit, die Ver- steifung bei Kälte und die Alterung, die zur Versprödung führt.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man noch keine brauchbare Methode für die Form- gebung des Kautschuks. Im Jahr 1824 beobachtete der Engländer Thomas Han- cock, dass der Kautschuk nach einer mechanischen Zerkleinerung weich und pla- stisch wurde. Heute wissen wir, dass die Makromoleküle des Kautschuks ver- kürzt werden müssen, um eine Verarbeitbarkeit zu ermöglichen. Aber nun kam das nächste Problem: Nach der Mastikation, wie wir heute diese Zerkleinerung nennen, wurde der Kautschuk klebrig. Eine neue Herausforderung! Die Suche nach Puderungsmitteln führte zum Schwefel, der sich als sehr geeignet erwies.

An dieser Stelle soll an das Stichwort Zufall erinnert werden, denn der Schwefel sollte die Brücke schlagen zu einer fundamentalen Entdeckung auf dem Kau- tschukgebiet, nämlich der Vulkanisation. Nachdem im Jahr 1838 Hayward ent- deckt hatte, dass Kautschuk-Schwefel-Mischungen durch Sonnenlicht auf der Oberfläche erhärten, baute der amerikanische Erfinder Charles Goodyear diese Erkenntnis weiter aus. Nach fünfjährigen Forschungen gelang es ihm 1839, das Verfahren endgültig auszuarbeiten. Im Küchenofen seiner Frau wurden die Er- hitzungsversuche durchgeführt, bei denen dem Kautschuk Schwefel und Blei- weiß zugemischt wurden. Goodyear steckte sein gesamtes Vermögen in die Kau- tschukversuche. Schädliche Chemikalien ruinierten seine Gesundheit und er wur- de ein Gefangener seiner Schulden. Auch mit Patenten hatte er keine glückliche Hand: ein englischer Industrieller arbeitete den Prozess aus und patentierte ihn

– 84 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 noch vor Goodyear, ein Amerikaner verletzte sein amerikanisches Patent und der Gerichtsprozess verschlang die Patenterlöse. Es ist überliefert, dass Napoleon III. ihn im Jahr 1855 für sein großes Werk geehrt hat. Der Zeremonie konnte Good- year allerdings nicht beiwohnen, weil er zu dieser Zeit in Clichy saß, dem Schuldgefängnis von Paris. Als er im Jahr 1861 starb, hinterließ er Schulden in Höhe von 191.000 Dollar.

Die heute als Vulkanisation bezeichnete Methode brachte erst die vollständige Lösung dieser Probleme. – Aber was war eigentlich mit dem Kautschuk gesche- hen? Die langen Kettenmoleküle waren untereinander vernetzt worden, wodurch ihre freie Beweglichkeit, die zur Klebrigkeit führte, aufgehoben wurde. Seit die- ser Zeit kennen wir den Unterschied zwischen Kautschuk und Gummi. Erst in Form des vernetzten Kautschuks entsteht aus dem Ausgangsmaterial ein brauch- barer Werkstoff. Nach dieser bahnbrechenden Erfindung war nun der Weg frei für die weiteren Entwicklungen.

Noch einmal war es Thomas Hancock, der etwas Neues fand. Es gelang ihm, die Vulkanisation so zu steuern, dass Hartgummi entstand, der dann auch unter dem Namen EBONIT bekannt wurde. Er schenkte das erste Stück des Hartgummis Königin Victoria als Amulett.

Einen Höhepunkt in den Anwendungsmöglichkeiten des Kautschuks setzte im Jahr 1845 William Thomson mit der Entwicklung des Luftreifens für Fahrräder. Zwar war es, wie man heute weiß, ein gummierter Leinenschlauch, aber das Prin- zip seiner Idee war von großer Bedeutung. Erst der Belfaster Tierarzt John Boyd Dunlop patentierte im Jahr 1888 den pneumatischen Reifen. Er entwickelte ihn für das Fahrrad seines Sohnes. Die Erfindung war zu diesem Zeitpunkt für die noch in den Kinderschuhen steckende Kraftfahrzeugindustrie von enormer Be- deutung. Sie kam im richtigen Moment, denn 1885 hatte Carl Friedrich Benz das erste Automobil gebaut. Dies war der entscheidende Impuls für die Entwicklung der Reifenindustrie und ist ein Beispiel für das Wechselspiel zwischen Zufall, Problemlösung und Ausstrahlung auf andere Gebiete, wie ich es im Titel meiner Arbeit formuliert habe. Weitere Pioniere in der Entwicklung des Autoreifens wa- ren der Franzose Michelin und der Amerikaner Goodrich. Die ersten Autorennen mit Gummireifen fanden 1894 statt. Die Erschließung von weiteren Anwendun- gen für den Kautschuk führte nun zu einer weltweiten Verknappung. Im Jahr 1890 lag der Weltkautschukverbrauch bei 2.300 Tonnen, 1900 schon bei 50.000.

An dieser Stelle muss aber zunächst noch etwas zur Verbreitung der Kautschuk- gewinnung gesagt werden. Das Monopol der Kautschukproduktion lag zunächst bei den Indianern am Ufer des Amazonas. Die britische Regierung beschloss,

– 85 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 dieses Monopol zu brechen, was Henry Wickham durch eine abenteuerliche Ak- tion im Jahr 1876 gelang. Unter Lebensgefahr schmuggelte er 70.000 Kau- tschuksamen aus Brasilien heraus, wofür er später geadelt wurde. Von diesen Samen gingen 2.600 auf, Sie wurden sofort im botanischen Garten in Kew bei London verpflanzt. 1876 wurden die Keimlinge nach Ceylon gebracht, 1.800 davon wuchsen an. Es mussten aber erst noch zwei Baumgenerationen heran- wachsen, bevor genügend Samen zur Verfügung standen. Erst sieben Jahre nach der Aussaat können die Bäume angezapft werden. Zur Jahrhundertwende kamen die ersten vier Tonnen Plantagenkautschuk auf den Markt.

Die Frühentwicklung der Kautschuksynthese

Wie schon erwähnt, war Kautschuk auf dem Weltmarkt knapp geworden. So sah sich der englische Botaniker Dunstan veranlasst, in einer Kolonialzeitung einen Aufruf zu erlassen, sich mit der Synthese von Kautschuk zu befassen. Ein Exem- plar dieser Zeitschrift wurde dem Chemiker Fritz Hofmann zugesandt. Hofmann griff diese Anregung sofort auf. Hofmann arbeitete bei BAYER, und es kam ihm zugute, dass es erste Hinweise auf die bis dahin völlig unbekannte chemische Struktur schon gegeben hatte. Michael Faraday hatte schon 1826 anhand von Analysen gezeigt, dass Kautschuk ein Kohlenwasserstoff ist, dem die Grundfor- mel C5H8 zukommt. Bereits 1860 hatte Williams durch trockene Destillation von Kautschuk einen Stoff gefunden, der dieser Formel entsprach und den er als ISOPREN bezeichnete. Dem Franzosen Bouchardat, dem Engländer Tilden und dem Deutschen Wallach gelang es, in mehrere Monate dauernden Prozessen Iso- pren in eine gummiartige Substanz zu verwandeln. Aufbauend auf diesen Er- kenntnissen gelang es Fritz Hofmann im Jahr 1909, eine Vollsynthese im techni- schen Maßstab zu realisieren. Die nächste Etappe in der Entwicklung des synthe- tischen Kautschuks sollte ganz wesentlich durch den Ersten Weltkrieg geprägt sein. Schon im Jahr 1900 hatte der russische Chemiker Kondakow einen weiteren Kohlenwasserstoff gefunden, der sich zu Kautschuk polymerisieren ließ und der synthetisch leichter zugänglich war. Es war das Dimethylbutadien, also das Me- thyl-Homologe des Isoprens.

Im Jahr 1910 entdeckten Matthews und Strange und der deutsche Forscher Harr- ries, dass durch den Einsatz von Natrium die Polymerisation wesentlich be- schleunigt werden konnte. Diese Forschungsergebnisse lieferten die Grundlagen dafür, dass zu Beginn des Ersten Weltkrieges Aussichten bestanden, das Problem der Versorgung mit Kautschuk zu lösen, nachdem Deutschland infolge der See- blockade keinen Naturkautschuk mehr importieren konnte.

– 86 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 In England wurde zu dieser Zeit die Kautschuksynthese nicht weiter verfolgt, aber für Deutschland war sie hochaktuell. Da es damals noch nicht gelang, Kau- tschuk aus Isopren wirtschaftlich herzustellen, musste vom Dimethylbutadien ausgegangen werden. Diese Aufgabe war aber nun wiederum von mehreren Pro- blemen gekennzeichnet: es mussten große Mengen des Monomeren hergestellt werden, die Raum-Zeit-Ausbeute der Polymerisation war äußerst schlecht (sie dauerte in geschlossenen Behältern 3 bis 6 Monate), außerdem mussten die zur Synthese des Zwischenprodukts Pinakol benötigten Ausgangsstoffe Aceton, Quecksilber und Aluminium importiert werden.

Die Tatsache, dass trotz dieser widrigen Umstände dieser Syntheseweg interes- sant blieb, ist wieder einem Zufall zu verdanken. In der Kölner Gummifabrik Clouth war es 1914 gelungen, aus dem Methylkautschuk Hartgummi zu machen, der für die Elektrotechnik von großer Bedeutung war. Große Auswirkungen hatte die Erfindung für den U-Boot-Krieg. Der Strom kam bei Unterwasserfahrten aus mit Schwefelsäure gefüllten Bleiakkus. Ein Auslaufen von Schwefelsäure war nicht ganz zu verhindern, wodurch Löcher in die eiserne Beplankung gefressen wurden. Das heißt, ohne den Hartgummi wäre der U-Boot-Krieg nicht durch- führbar gewesen.

In diese Zeit fielen zwei weitere Erfindungen als Reaktion auf die zwei wesentli- chen Nachteile des Methylkautschuks: diese bestanden zum einen in der mangel- haften Lagerfähigkeit infolge der eintretenden Autoxidation und damit der Ver- härtung, zum anderen in der größeren Vulkanisationsträgheit im Vergleich zum Naturkautschuk. Es galt, geeignete Alterungsschutzmittel und Stabilisatoren so- wie Vulkanisationsbeschleuniger zu finden. Die Thiocarbamate erwiesen sich hierfür als optimal.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nahm die Bedeutung des Synthesekau- tschuks wieder ab, weil das Herstellungsverfahren noch immer unausgereift war und weil der Naturkautschuk infolge der Preisentwicklung und des immer stärke- ren Plantagenanbaus in Malaysia, Indonesien, Ceylon und Thailand wieder inter- essant wurde. Wegen des nun eintretenden Preisverfalls entschlossen sich auf Initiative des Engländers Stevenson die englischen und holländischen Pflanzer, die Produktion zu drosseln, wodurch der Preis von 3 Mark pro Kilogramm auf 6 Mark erhöht wurde. Diese als Stevensonscher Restriktionsplan bezeichnete Maß- nahme sollte aber unerwarteter Weise von großer Bedeutung für die Weiterent- wicklung des Synthesekautschuks werden. Die Preisentwicklung beim Naturkau- tschuk führte nämlich dazu, dass die IG-Farbenindustrie den Entschluss fasste, sich erneut und auf breiter Grundlage mit der Kautschuksynthese zu beschäfti- gen. Aber es kam ein neuer Rückschlag. Im Jahr 1930 berichtete Dr. Otto Am-

– 87 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 bros, der Kautschukverantwortliche der IG-Farben, nach der Rückkehr von einer Indienreise, dass in Indonesien neue riesige Plantagen entstehen, was einen er- neuten Preisverfall bis auf 50 Pfennig pro Kilogramm zur Folge hatte. Daraufhin stoppte Carl Bosch die weitere Forschung am Synthesekautschuk, wodurch wert- volle Jahre verloren gingen. Hier wird deutlich, wie stark der schwierige Weg zum synthetischen Kautschuk vom Wechselspiel zwischen Plantagenwirtschaft und lndustrieforschung geprägt war.

Erst 1933 wurde die Forschung intensiv wieder aufgenommen. Dabei waren drei Aspekte zu bedenken: (1) Die Ausgangsstoffe mussten in ausreichenden Mengen technisch und ökonomisch vertretbar hergestellt werden; (2) es waren geeignete Syntheseverfahren zu entwickeln, und (3) aus verschiedenen Syntheseprodukten musste der am besten geeignete Kautschuk ausgewählt werden.

Ende 1932 verfügte die IG noch nicht über ein ausgereiftes Verfahren zur Kau- tschuksynthese. Weder die Monomerenverfahren noch die Polymerisationstech- niken waren ausgearbeitet. Die Entscheidung für die erneute Intensivierung der Forschung hatte zwei Gründe. Zum einen wollte man das vielversprechende Bu- na-N-Verfahren ausarbeiten und zum anderen signalisierte bereits im Mai 1933 die Reichswehr ihr Interesse an der Entwicklung des Synthesekautschuks. Ge- genüber dem Stand von 1926/27 gab es zwar wesentliche Fortschritte, und man besaß mit den Mischpolymeren des Butadiens mit Styrol und Acrylnitril vielver- sprechende Ansätze. Technisch aber war die Kautschuksynthese 1932 ebenso ungelöst wie 1912 bzw. 1926.

Die Erfolge der nun intensiven Forschungsarbeiten waren ganz wesentlich durch eine Zufallsentdeckung begründet. lm heißen Sommer 1936 musste bei BAYER in Leverkusen der fertige Kautschuk in einer Baracke gestapelt werden. Zum Er- staunen der Fachleute wurde festgestellt, dass der Kautschuk viel weicher ge- worden war. Schnell erkannte man als Ursache den eingetretenen thermooxidati- ven Abbau. Ebenso schnell wurde der Effekt technisch genutzt und ein wesentli- cher Nachteil gegenüber dem Naturkautschuk, nämlich die größere Härte, konnte bedeutend abgemildert werden.

Dann wurde von Hitler wegen der inzwischen angelaufenen Kriegsvorbereitun- gen immer mehr Druck auf die IG-Farben ausgeübt, die Produktion von Kau- tschuk vorzubereiten. Auch an dieser Stelle ist „König Zufall" der Industrie zu Hilfe gekommen, da buchstäblich in letzter Minute der Buna S erfunden worden war. Erst dieser erwies sich zur Reifenherstellung als voll geeignet, was nicht vorhersehbar war. Man kann es auch so formulieren: Mit dem bisherigen Butadi- en-Natrium-Kautschuk hätte man keinen Krieg führen können.

– 88 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Die Wege zur Strukturaufklärung

Bevor ich auf die Fortsetzung der Syntheseforschungen zu sprechen komme, soll an dieser Stelle noch kurz die Problematik der Strukturaufklärung behandelt wer- den, weil sie zu den größten Impulsen gehört, die jemals auf die Grundlagenfor- schung in der organischen Chemie eingewirkt haben.

In der Geschichte der Kautschuksynthese haben wir die Besonderheit, dass die Arbeiten zur Synthese schon zu einer Zeit im vollen Gange waren, als die chemi- schen Strukturen sowohl des Naturkautschuks als auch des Synthesekautschuks noch gar nicht bekannt waren. Es lag auf der Hand, dass die Kenntnis der chemi- schen Struktur von Kautschuk die Voraussetzung für eine erfolgreiche Synthese war. Aber der besondere Charakter der Kautschukmoleküle bildete wieder eine der vielen Schwierigkeiten, die zu schildern das Ziel meiner Arbeit ist.

Das Hauptproblem der Strukturaufklärung bestand darin, dass sich der Kau- tschuk den klassischen Untersuchungsmethoden der Analytik weitgehend ent- zieht, weil er kolloide Lösungen bildet und sich aus Lösungen nicht in kristalli- ner Form gewinnen lässt. Bekannt war nur seine quantitative Zusammensetzung. Nur durch trockene Destillation ließen sich niedermolekulare Abbauprodukte identifizieren, die Rückschlüsse auf die Struktur ermöglichten. Auch ließ sich die Molmasse nicht bestimmen. So konnte der Kautschuk Ende des 19. Jahrhunderts lediglich als hochmolekularer Kohlenwasserstoff mit der Formel (C10H16)n ange- sehen und in die Stoffklasse der Terpene eingeordnet werden. Doch zunächst möchte ich noch zeigen, wie nach den Arbeiten von Lynen der Syntheseweg des Naturkautschuks in der Hevea-Planze aussieht.

Naturkautschuk-Synthese im Heveabaum (nach Feodor Lynen)

– 89 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Anfang des 20. Jahrhunderts bestand ein starkes Bedürfnis nach der Strukur- aufklärung, das hauptsächlich von der chemischen Industrie ausging. Große Ver- dienste in der Auffindung neuer Untersuchungsmethoden erwarb sich Carl D. Harries, Professor für Chemie an den Universitäten Berlin und Kiel. Er war der Schwiegersohn von Werner von Siemens, der Mitte des 19. Jahrhunderts bereits Untersuchungen über die Zusammensetzung des Kautschuks durchgeführt hatte, was vielleicht Einfluss auf Harries ausgeübt hat. Ein weiterer Pionier der Kau- tschukanalyse war Samuel S. Pickles, der am Imperial Institute in London arbei- tete.

Wie schon gesagt, sind auf dem schwierigen Weg zum synthetischen Kautschuk bedeutende Impulse für die Forschung ausgegangen. Einer der größten dürfte die Herausbildung der Makromolekularchemie gewesen sein. Die Hinwendung der Chemiker zu solchen Substanzen, die keinen definierten Schmelz- oder Siede- punkt hatten, begann erst sehr zögerlich am Anfang des 20. Jahrhunderts. Bis dahin war dieses Gebiet als „Schmierenchemie“ verpönt und ebenso die Chemi- ker, die sich damit befassten. So hat zum Beispiel Adolf von Baeyer im Jahr 1872 beim Experimentieren mit Phenol und Formaldehyd bereits Phenolharze in den Händen gehabt, ohne auf Grund der damaligen Betrachtungsweise das Aus- maß seiner Entdeckung einschätzen zu können. In Liebigs Annalen berichtete er über das Scheitern seiner Versuche mit den Worten: „Man erhält nur ein Harz". Später dann hat Baekeland die Phenolharze sozusagen neu erfunden.

Erste Impulse für die Strukturaufklärung kamen aus den Elberfelder Farbwerken, die sich für die Polymerenchemie interessierten, denn die Kenntnisse vom Wesen der Polymerisation waren noch sehr unbefriedigend. Nach theoretischen Vorstel- lungen von Kekulé, der von einer „Molekular-Attraktion“ sprach und Carl von Nägeli, der annahm, dass hochmolekulare Naturstoffe aus Verbindungen beste- hen, die durch sogenannte Micellarkräfte zusammengehalten werden, verfestigte sich die Meinung, dass große Moleküle eine Molmasse von nur maximal 5000 haben können, was wohl darauf zurückzuführen ist, dass durch physikalische Methoden höhere Werte nicht bestimmt werden konnten. Hermann Staudinger postulierte im Jahr 1912, dass es sich beim Kautschuk und anderen kolloiden Stoffen um Verbindungen handelt, deren Moleküle aus ungeheuer vielen Atomen zusammengesetzt sind. Es war das Verdienst Staudingers, mit der begrifflichen Erfassung der Makromoleküle die praktische Bedeutung der Molekulardimen- sionen dieser Stoffe erkannt zu haben. Erst dadurch konnten auf dem Weg zur Strukturaufklärung des Kautschuks die erforderlichen wissenschaftlichen Grund- lagen geschaffen werden.

– 90 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Die Etappen der Strukturaufklärung des Kautschuks

Die Wege zur effektiven Monomersynthese

Ein ähnlich schwieriger Weg war der zur effektiven Synthese des Monomeren. Nachdem Williams im Jahr 1860 durch trockene Destillation gefunden hatte, dass der Naturkautschuk aus Isoprenmolekülen besteht, war es naheliegend, zu- nächst von Isopren auszugehen. Fritz Hofmann hydrierte p-Kresol zu Methylcy- clohexanol. Nach Ringspaltung und Aminierung zu ß- Methyltetramethylendiamin gelangte er durch Desaminierung zum Isopren. Es liegt auf der Hand, dass solch ein Syntheseweg für eine Großproduktion nicht in Frage kommen konnte. Viel einfacher war die Synthese des Homologen Di- methylbutadien. Aceton wurde zu Pinakol reduziert und durch Wasserabspaltung erhält man das Dimethylbutadien. Die erforderliche Synthese von Aceton war wiederum ein starker Impuls für die Entwicklung der Acetylenchemie.

– 91 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Es war klar, dass auch die Variante erprobt wurde, bei der die Methylgruppe des Isoprens weggelassen wurde. Dies war das Butadien, das sich schließlich als das optimale Monomere erweisen sollte. Die erfolgreiche Verwendung von Butadien führte dann auch zur Entstehung der Bezeichnung BUNA aus den Komponenten Butadien und Natrium, wobei das Natrium der Initiator für die Blockpolymerisa- tion war. Heute steht in Deutschland der Name BUNA allgemein für syntheti- schen Kautschuk.

Die inzwischen entwickelte großtechnische Synthese von Acetylen aus Calcium- carbid schuf erstmalig die Voraussetzungen dafür, Butadien wirtschaftlich herzu- stellen. Ein weiterer Weg war die Acetylensynthese aus Methan nach dem Licht- bogenverfahren. Aber auch auf andere Weise wurde Butadien hergestellt. Von den in Frage kommenden Synthesewegen gehen drei vom Acetylen aus. Der am einfachsten erscheinende ist die Zusammenlagerung zweier Acetylenmoleküle, wobei eine Dreifachbindung erhalten bleibt, die in der zweiten Stufe partiell zur Doppelbindung hydriert werden muss. Dieser Weg ist jedoch wegen der großen Gefährlichkeit dieses Prozesses nicht weiter verfolgt worden. Das Verfahren von Reppe, bei dem zwei Formaldehydmoleküle an Acetylen angelagert werden, hat sich ebenfalls nicht durchgesetzt. Schließlich erwies sich in Deutschland das 4- Stufen-Verfahren als das praktikabelste für eine Großproduktion. Aber auch aus Ethanol kann Butadien hergestellt werden. Diese Synthese wurde vom russischen Chemiker Lebedew erfunden und in den Synthesewerken in Jaroslawl und WIa- dimir angewendet. In den USA ist im Zweiten Weltkrieg ebenfalls Butadien aus Alkohol hergestellt worden.

An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, warum die Amerikaner überhaupt be- schlossen haben, synthetischen Kautschuk herzustellen, wo sie doch Zugang zu den ostasiatischen Naturkautschukmärkten hatten. Hier zeigt sich eine historische Analogie zu Deutschland. So wie Hitler die strategische Bedeutung des Kau- tschuks erkannt hatte, erging es dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt im Jahr 1941. Seine Vorahnung sollte sich bestätigen. Nach dem Überfall der Japa- ner auf Pearl Harbour waren die Amerikaner plötzlich von den asiatischen Kau- tschukplantagen abgeschnitten. In großer Eile wurde William Jeffers zum ,,Kautschukzaren“ ernannt mit dem Auftrag, einen dem deutschen Synthesekau- tschuk Buna S entsprechenden Kautschuk zu produzieren. Das GR-Programm (Gouvernment Rubber) stand unter der Kontrolle der Regierung. 1945 lag die Produktion bei 750.000 Tonnen. Durch die Lieferung von Getreidealkohol haben die amerikanischen Farmer in dieser Zeit gut verdient.

Die Wege zum Butadien

– 92 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Bekanntlich ist der Syntheseweg für Butadien, der vom Acetylen ausgeht, inzwi- schen weitgehend verlassen worden. So wurden im Buna-Werk Schkopau im Jahr 1990 die Carbidproduktion eingestellt und die Anlagen abgerissen. Dies ge-

– 93 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 schah sowohl aus Gründen des Umweltschutzes als auch im Hinblick auf den immer dringender werdenden Übergang auf die petrochemische Synthese, die sich in der DDR nicht durchsetzen konnte. Heute wird Butadien fast ausschließ- lich aus der C4-Fraktion der Erdölraffination hergestellt.

Die Polymerisationsverfahren

Der Aufschwung des synthetischen Kautschuks wäre nicht möglich gewesen, wenn es nicht gelungen wäre, neben der durch Alkalimetall initiierten Blockpo- lymerisation weitere Polymerisationsverfahren aufzufinden. Dies gilt insbesonde- re für die Emulsionspolymerisation. Als ihre Erfinder gelten die Chemiker Bock und Tschunkur bei den Bayerwerken im Jahr 1929. Doch mussten hierzu zu- nächst wiederum völlig neue Probleme gelöst werden. Dies betraf zunächst das Auffinden von geeigneten Emulgatoren, um das Monomere zu Seifenmizellen zu zerteilen. Diese Forschungsarbeiten haben als Nebenergebnis wichtige Impulse für die Waschmittelindustrie ausgelöst. Als Aktivatoren wurden besonders Hy- droperoxide eingesetzt, die aber erst bei höheren Temperaturen wirksam waren, daher entstand die Bezeichnung Warmkautschuk. Weil die Einheitlichkeit der Makromoleküle stark von der Polymerisationstemperatur abhängt, war es erstre- benswert, bei möglichst niedrigen Temperaturen zu polymerisieren. Dies geschah durch die Erfindung der Redox-Polymerisation, bei der der Zerfall des Peroxids durch reduzierende Substanzen so angeregt wird, dass der Prozess bei tiefen Temperaturen um 5°C durchgeführt werden kann.

Auf dem Weg zur Nachahmung der Molekülstruktur des Naturkautschuks waren aber noch weitere Hürden zu überwinden. So bilden sich gegen Ende der Poly- merisation verstärkt Verzweigungen aus durch die immer geringer werdende Beweglichkeit der Butadienmoleküle. Diese Verzweigungen beeinträchtigen die Verarbeitbarkeit des Kautschuks. Erst durch die Erfindung von Reglern auf Basis von Schwefelverbindungen können diese Verzweigungen reduziert werden. Trotzdem kann die diskontinuierlich verlaufende Polymerisation nicht bis zu 100% Umsatz getrieben werden. Sie muss bei 60% abgebrochen werden. Die optimalen Regler wurden im Jahr 1937 von Meisenburg, Dennstedt und Zaucker gefunden. Einen Erfolg gab es in den 50er Jahren durch den Einsatz von Ziegler- Katalysatoren, die zunächst die Erfindung des Niederdruck-Polyethylens ermög- licht hatten. Der als Lösungspolymerisation durchgeführte Prozess führt zu weit- gehend einheitlichen Molekülstrukturen mit vorwiegend 1,4-Verknüpfungen, wie sie beim Naturkautschuk vorliegen. Nachdem dies auch für die Polymerisation von Isopren gelungen war, konnte nun nach 60-jähriger Forschungsarbeit der Traum von der Synthese des Naturkautschuks nahezu vollständig verwirklicht werden.

– 94 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Die Entwicklung der Großproduktion in Deutschland

Selbstverständlich war die Errichtung der deutschen Produktionsstätten ebenfalls mit großen Schwierigkeiten verbunden. Die Probleme beruhten vor allem darauf, dass die Errichtung der Großproduktion im Hinblick auf den bevorstehenden Zweiten Weltkrieg unter großem Zeitdruck erfolgen musste. Die Kautschuk- großproduktion in Deutschland begann 1936 mit der Errichtung des Bunawerkes in Schkopau. Etwas später entstand das zweite Bunawerk in Marl, wobei hier das Acetylen durch das Lichtbogenverfahren erzeugt wurde, weil als Nebenprodukt der Kohlehydrierung Methan verfügbar war, was auch den Ausschlag zur Stand- ortentscheidung gegeben hatte. Wegen der großen Schwankungen im Kau- tschukweltmarktpreis wollten die IG-Farben keine reinen Kautschukwerke er- richten. Deshalb wurden weitere Produktionen eingegliedert, in Schkopau das PVC und in Marl Chlor, H2S und chemische Kampfstoffe.

Die Entwicklung des Typensortiments

Betrachtet man die Geschichte des synthetischen Kautschuks vor allem vom As- pekt der zu lösenden Probleme aus, so stellen sich die 1930er Jahre als eine er- folgreiche Epoche dar. Dies hatte seine Ursachen darin, dass nun die wesentlich- sten Probleme gelöst waren, und zwar: Die Struktur der Polymeren war aufge- klärt, die Technologie der Polymerisation war entwickelt und die Möglichkeiten zur gezielten Veränderung des Eigenschaftsbildes waren gefunden.

Schließlich gelang es, über die bisher verwendeten Monomeren hinaus Elastome- re herzustellen, die aus ganz anderen Ausgangsstoffen bestehen und auch auf anderen Polymerisationstechniken beruhen. So konnten die ursprünglichen Er- kenntnisse aus dem schwierigen Weg zum synthetischen Kautschuk auf die wei- teren Entwicklungen elastomerer Werkstoffe erfolgreich übertragen werden.

Schlussbemerkungen

Nachdem ich in meinen Ausführungen die Rolle des Zufalls in der Forschung besonders hervorgehoben habe, möchte ich hierzu noch einige Worte anmerken. Es zeigt sich in der Wissenschaftsgeschichte, dass dem Zufall allein keine eigene kreative Kraft innewohnt. Einstein soll bekanntlich gesagt haben, „dass eine Ent- deckung zu 1% aus Inspiration und zu 99% aus Transpiration besteht". Der Me- dizin-Nobelpreisträger Albert Szent-Gyorgiy hat formuliert: „Entdeckung bedeu- tet, zu sehen, was jeder gesehen hat, aber zu denken, was bisher noch keiner ge- dacht hat.“ Louis Pasteur brachte es auf den Punkt mit den Worten: „Der Zufall begünstigt nur den vorbereiteten Geist." Aus diesen Erkenntnissen bedeutender Wissenschaftler wird aber auch klar, dass der wissenschaftliche Fortschritt nur

– 95 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 bedingt planbar ist. Nur selten wird in der geplanten Forschung das Unerwartete entdeckt. Aber nur eine ergebnisoffene Grundlagenforschung, die sich mit Din- gen beschäftigt, die wir zur Zeit noch nicht verstehen, bereitet den Boden für künftige Innovationen. Max Planck sagte: „Dem Anwenden muss immer das Er- kennen vorausgehen." [Zitate nach: Martin Schneider, Teflon, Post-it und Viagra, Große Entdeckungen durch kleine Zufälle, Weinheim: Wiley-VCH, 2002, S. 3-5]

Chronologischer Überblick

1492 Christoph Kolumbus Entdeckung des Naturkautschuks 1751 C. de la Condamine Reisebericht (Paris) 1770 Joseph Priestley Radiergummi-Effekt 1826 Michael Faraday (C5H8)x für Naturkautschuk 1835 Thomas Hancock Hartgummi, Mastikation 1841 Charles Goodyear Vulkanisation 1845 William Thomson Luftreifen für Fahrräder 1860 G. Williams Isopren-Baustein 1876 Henry Wickham Heveasamen nach England 1885 Carl Friedrich Benz erstes Automobil 1888 John Boyd Dunlop pneumatischer Reifen 1894 Michelin, Dunlop u. Goodrich Luftreifen für Autos 1909 Fritz Hofmann Wärmepolymerisation 1910 Carl Dietrich Harries Alkalimetall-Initiierung 1910 J. Kondakow Dimethylbutadien 1910 W.H. Carothers Chloropren-Polymerisation 1925 Hermann Staudinger Strukturaufklärung 1926 Stevenson Restriktion Naturkautschuk-Anbau 1926 G. Ebert Zahlenbuna-Verfahren 1929 Erich Konrad Emulsionspolymerisation 1929 W. Bock, E. Tschunkur Buna-S-Verfahren 1930 E. Konrad, E. Tschunkur NBR-Kautschuk 1937 A. Koch, E. Gärtner ThermischerAbbau 1938 K. Meisenburg, J. Dennstedt, E. Zaucker Diproxid-Regler 1939 Heino Logemann Redox-Polymerisation

Literatur Ulrich Giersch, Ulrich Kubisch, Gummi: Die elastische Faszination, Berlin 1995. Walter Greiling, Chemie erobert die Welt, Berlin 1943.

– 96 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Heinz Gröne, Der Weg nach Hüls, Daten zur Geschichte von Hüls, Marl 1988. Vernon Herbert, Attilio Bisio, Synthetic rubber: A project that had to succeed, Westport, Conn. 1985. Otto Krätz, 7000 Jahre Chemie, München 1990. Bettina Löser, „Der Einfluß der Arbeiten zur technischen Kautschuksynthese auf die Her- ausbildung der makromolekularen Chemie,“ NTM 20 (1983), 45-55. Hans Luttropp, CAHACHU, Buna-Betriebszeitschrift „Du und dein Werk“ 2 (1964). Reinhold Meyer, BUNA-Werk Schkopau, Erinnerungsbericht (unveröffentlicht), Exem- plar im Besitz von Rudolf Aust. Peter J.T. Morris, The American Synthetic Rubber Research Program, Philadelphia 1989. Gottfried Plumpe, Die IG-Farben-AG, Berlin 1990. Klaus-D. Röker, „Die ersten Versuche zum Einsatz von künstlichem Kautschuk,“ Mittei- lungen, GDCh-Fachgruppe Geschichte der Chemie 19 (2007), 199-216. Martin Schneider, Teflon, Post-it und Viagra, Große Entdeckungen durch kleine Zufälle, Weinheim 2002, S. 3-5. Walter Teltschik, Geschichte der deutschen Großchemie, Weinheim 1992. Fritz Welsch, Geschichte der Chemischen Industrie, Berlin 1980.

– 97 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Die Erfinder von Nylon und Perlon: Wallace H. Carothers und Paul Schlack

Dr. Heinz Gilch, Hölderlinweg 17 A, 61350 Bad Homburg

Zum Entdecken gehört Glück, zum Erfinden Geist und beide können beides nicht entbehren. 1 J.W. Goethe

Chemiefaserforschung vor 1920

Die Anfänge der makromolekularen Chemie bis 1920 waren fast nur praxisbezo- gene Entwicklungen; chemische Struktur und Molekulargewicht spielten so gut wie keine Rolle. Das Ziel war die Entwicklung von Produkten mit guten anwen- dungstechnischen Eigenschaften und nicht theoretisches Verständnis. Trotzdem waren die Entwicklungen wie z.B. bei Phenol-Formaldehyd-Harzen oft erstaun- lich erfolgreich. Das Gleiche gilt für das Gebiet der Chemiefaser. Wirtschaftlich erfolgreich waren besonders Entwicklungen, die Zellulose als Ausgangsmaterial verwendeten. Auf dieses Gebiet soll hier kurz eingegangen werden.

Kurzfaserige Baumwollabfälle dienten oft als billige Rohstoffe für die neue „künstliche Seide“. Zellulose ist in den üblichen Lösungsmitteln unlöslich. Um Fasern aus Lösungen spinnen zu können, wurden zwei Wege beschritten: 1. Herstellung von löslichen Zellulosederivaten durch chemische Umsetzungen 2. Suche nach exotischen Lösungsmitteln.

Fasern aus Zellulosederivaten:

„Schießwolle“ Schönbein (1799-1868), Professor in Basel, stellte 1848 durch Veresterung von Zellulose mit Salpetersäure die „Nitrozellulose“, den Salpetersäure-Zellulose- Ester her2, den er Schießwolle nannte. Er war der erste, dem es gelang, Zellulose durch Nitrierung in Lösung zu bringen. Schönbein, ein, wie Paul Schlack schrieb, „sehr vielseitiger auch unruhiger Kopf war an Fäden nicht besonders interessiert. Ihm war Knallen und Schießen wichtiger“3. Erst 1883 löste Svan die „Schießwolle“ in Essigsäure und presste die viskose Lösung durch eine Düse in Alkohol. Durch Ausfällung bildete sich ein fester Faden, der gute textile Eigen-

– 98 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 schaften zeigte („artificial silk“)4. Graf Chardonnet entwickelte 1885 daraus ei- nen kommerziellen Prozess5. Wegen der hohen Feuergefährlichkeit erreichten die Produkte keine größere wirtschaftliche Bedeutung.

Zellulosetriazetat (Azetat-Zellulose) Durch Umsetzung von Zellulose mit Essigsäureanhydrid stellte Schützenberger 1865 das lösliche Zellulosetriaztat her. Daraus spann Eichengrün 1904 Fäden. Sie haben bis zum heutigen Tag immer noch eine gewisse wirtschaftliche Bedeu- tung6.

Fasern aus Zellulose:

Lösungen in „Schweizer Reagenz“ Schweizer (1818-1860) gelang 1857, Zellulose in einem Gemisch aus Kupfer- oxid und wässerigem Ammoniak zu lösen. Diese viskose Lösung spritzte er in angesäuertes Wasser, dabei bildete sich die Zellulose als Faser zurück7.

Viscose 1892 löste Cross und Bevan Zellulose in einem Gemisch aus Natronlauge und Schwefelkohlenstoff. Es bildete sich ein Xanthogenat. Beim Abspinnen in ange- säuertem Wasser bildete sich die Zellulose zurück. Das Xanthogenatverfahren hat große technische und wirtschaftliche Bedeutung erreicht8.

Gibt es Makromoleküle?

Hermann Staudinger (1881-1965), der 1953 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, hatte sich durch seine Arbeiten auf dem Gebiet der Ketenchemie9 einen Namen in der organischen Chemie gemacht. So war die Fachwelt erstaunt, als er sich noch während des ersten Weltkriegs mit der „Schmierenchemie“ befasste. Diese „Schmieren“ waren harzartige Substanzen, die sich weder durch Kristalli- sation noch durch Destillation reinigen ließen. Staudinger behauptete 1920, dass diese Substanzen hochmolekulare Verbindungen seien, die, wie niedermolekula- re Verbindungen, durch ganz normale „Kekulé“-Bindungen zusammengehalten würden. Diese Makromoleküle, ein Ausdruck, den Staudinger prägte, könnten 103 bis 109 Atome enthalten10. Fast alle Chemiker von Rang und Namen wider- sprachen: Diese „Schmieren“ seien Kolloide, die durch Zusammenschluss von niedermolekularen Substanzen über Nebenvalenzbindungen zustande gekommen seien. Obwohl Staudinger seine Theorie durch Experimente untermauerte, ging die oft erbitterte Diskussion noch 15 Jahre weiter. Emil Fischer, der erste deut- sche Chemie-Nobelpreisträger, hatte versucht, aus Aminosäuren hochmolekulare Polyamide herzustellen, erreichte aber nur ein Molekulargewicht von etwa 4 300. Er und seine Kollegen glaubten, dass höhere Molekulargewichte nicht möglich

– 99 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 seien11. Typisch für die damalige Situation ist ein „freundschaftlicher Rat“12 von Professor Heinrich Wieland an seinen Kollegen Staudinger, seit 1925 Nachfolger von Wieland in Freiburg: „Lassen Sie doch die Idee mit den großen Molekülen; organische Moleküle mit einem Molekulargewicht über 5 000 gibt es nicht. Rei- nigen Sie Ihre Produkte, wie z.B. Gummi, dann werden sie kristallisieren und sich als niedermolekulare Verbindungen erweisen“. Diese magische Grenze reiz- te Wallace H. Carothers zu seinen Arbeiten bei Du Pont.

Wallace H. Carothers (1896-1937), der Erfinder von Nylon

Carothers wurde am 27. April 1896 in Des Moines, Iowa, USA in eine typische presbyterianische Familie des Mittelwestens hineingeboren. Sein Vater war Lehrer und Verwalter von Capital City Commercial College. Nach der Highschool studierte er auf Wunsch des Vaters Buchhaltung am Tarkio College, Missouri, danach lehrte er Buchhaltung am selben College. Gleichzeitig begann er das Studium der Naturwissenschaften. Schon bevor er 1920 zum Bachelor of Science graduierte, wurde er Chef des kleinen Chemiedepartments. Der Master of Science von der University of Illinois folgte 1921 und 1924 die Promotion bei Adams, einem angesehenen Professor. Schon 1925 wurde er In- structor in Havard, sein Vorgesetzter war J.B. Conant, der spätere Präsident von Havard und Hoher Kommissar in Deutschland.

Wallace Carothers hatte sich an allen Universitäten als ausgezeichneter Chemiker bewährt. Hervorgehoben wurden seine Kenntnisse, sein Einfallsreichtum, seine experimentelle Geschicklichkeit und sein Arbeitseifer13.

– 100 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Du Pont entdeckt die Grundlagenforschung14

Vor und auch noch nach dem ersten Weltkrieg wurde in USA die deutsche Che- mie bewundert und galt als Vorbild. So warb Du Pont z.B. in den 1920er Jahren mit sehr hohen Gehältern Farbstoffchemiker von Bayer ab; denn Du Pont hatte den Eindruck, dass man durch eigene Entwicklung den Vorsprung von Bayer nicht aufholen könne. Man machte sich bei Du Pont Gedanken, was den Erfolg der deutschen Chemie bewirkte. Schließlich wurde Charles A. Stine beauftragt, herauszufinden, was die Deutschen anders machten als Du Pont. Die beiden Hauptaspekte bestanden seiner Ansicht nach 1. in der Grundlagenforschung (fundamental research) in der Industrie sowie 2. in der engen Zusammenarbeit der Industrie mit den Universitäten.

1926 schlug Charles A. Stine dem Präsidenten von Du Pont, Lammot du Pont, eine „radikale Abkehr von der bisherigen Politik“ und die Ausführung obiger Punkte vor. Nachdem sich unter Führungskräften Opposition gegen das Pro- gramm zeigte, wurde es erweitert durch „fundamental und pioneering research“ und schließlich „pioneering applied research“. Als Beispiel wurde die Untersu- chung der Reaktion von Wasserstoff mit Kohlenmonoxid bei der BASF aufge- führt15.

In der Experimental Station wurde daraufhin ein Labor für Grundlagenforschung gebaut, die spöttisch „Purity Hall“ genannt wurde, weil dort nur „pure fundamen- tal research“ betrieben werden sollte.

Nun ging Du Pont auf Talentsuche. Stine machte den besten Chemieprofessoren an den amerikanischen Universitäten verlockende Angebote. Zwar akzeptierte niemand, doch viele waren bereit, Du Pont zu beraten. Zahlreiche Professoren haben später Du Pont langfristig beraten, z.B. die Professoren Adams und Speed Marvel 40 bzw. 50 Jahre lang. Andere amerikanische Firmen folgten dem Bei- spiel mit Erfolg. Nach diesem Fehlschlag versuchte Stine nun sein Glück mit der „zweiten Garnitur“. Er nahm Kontakt mit Havard auf und bat Professor Conant um Vorschläge: dieserr empfahl Carothers. Nach langen Verhandlungen und Zu- sicherung von absoluter Forschungsfreiheit akzeptierte Carothers und begann seine Arbeit bei Du Pont am 6. Februar 1928 für $ 6 000 / Jahr.

Carothers entschied sich nach sorgfältiger Literaturrecherche für ein hochriskan- tes Projekt: Da er gut deutsch sprach, war es ihm möglich, den Kampf Staudin- gers gegen die wissenschaftliche Elite genau zu verfolgen. Carothers vertrat Staudingers Standpunkt und wollte nun in seiner neuen Position beweisen, dass es große Moleküle gibt, die durch die gleichen Bindungen zusammengehalten werden, wie kleine Moleküle. Er glaubte nicht, wie viele angesehene Chemiker,

– 101 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 dass natürliche Stoffe wie Baumwolle, Wolle oder Seide nur Zusammenlagerun- gen von kleinen Molekülen sind. Der Eiweißforscher Emil Fischer hatte, wie oben erwähnt, Polyamide bis zu einem Molekulargewicht von etwa 4 300 herge- stellt und wie viele seiner berühmten Kollegen behauptet, Moleküle über M 5 000 gebe es nicht. Carothers wollte das überbieten. Dies wurde sein großes Pro- jekt und Lebenswerk bei Du Pont. Bei der Einstellung seiner Mitarbeiter bewies Carothers eine recht glückliche Hand. Viele von ihnen erreichten nationale, ja weltweite Anerkennung, einer erhielt sogar den Nobelpreis.

Carothers plant das Makromolekül

Das Ziel seiner Forschung war die Synthese eines Polyesters mit einem Moleku- largewicht von über 5 00016. Ausgangsmaterialien waren Diole und Dikarbon- säuren. Durch Wasserabspaltung bei höherer Temperatur sollte das Makromole- kül hergestellt werden:

n HOR1OH + n HOOCR2COOH → HO(R1OCOOR2COO)nH + n H2O

Eine große Anzahl von Diolen und Dikarbonsäuren wurden auf diese Weise po- lykondensiert17. Ein Molekulargewicht von mehr als 4 000 wurde in keinem Fall erreicht. Hatte Emil Fischer doch Recht?

Grundsätzliche Überlegungen von Carothers und seinen Mitarbeitern waren schließlich erfolgreich: Nur bei sehr hohen Umsätzen können sich hohe Moleku- largewichte bilden. Die Zahl der Kondensationen im Makromolekül, n, wird be- stimmt durch

n = 1/1-U

U ist der Umsatz zwischen 1 (100%) und 0. Diese Regel gilt nur, wenn Nebenre- aktionen nicht ins Gewicht fallen. Da die Veresterung eine Gleichgewichtsreak- tion ist, muss dafür gesorgt werden, dass das sich bildende Wasser aus dem Gleichgewicht, z. B. durch Hochvakuum, entfernt wird. Es muss aber vermieden werden, dass Ausgangsmaterial mit dem Wasser abdestilliert wird. Nebenreak- tionen, wie z. B. Ringbildung, müssen vermieden werden. Reinste Ausgangsma- terialien und genaue Einwaagen sind wichtig. All diese Regeln sind für den heu- tigen Polymerchemiker selbstverständlich, mussten aber damals erarbeitet wer- den.

Die Probleme sollen an einem praktischen Beispiel demonstriert werden. Bei der Polykondensation von Hexandiol mit Adipinsäure entsteht ein Polyester der all- gemeinen Formel

– 102 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 HO[OC(CH2)4COO(CH2)6O]nH

Nach der obigen Formel entsteht erst bei einem Umsatz von 96% ein Polyester mit einem Molekulargewicht von 5 718 und n = 25, erst bei 99% Umsatz erreicht das Molekulargewicht 22 818.

Experimentum Crucis18

J.W. Hill setzte nach Angaben von Carothers eine C16-Dicarbonsäure mit einem Überschuss von Propylenglykol um. Der resultierende Polyester (M 3 300) wur- de in dünner Schicht auf eine Metallplatte aufgetragen und im Hochvakuum auf 200° erhitzt. Durch Umesterung wurde Propylenglykol gebildet, das sich an einer gekühlten Metallplatte niederschlug. Nach fünf Tagen wurde ein Polyester mit einem Molekulargewicht von 12 000 isoliert. Aus der Schmelze ließen sich Fä- den ziehen, die sich kalt verstrecken ließen und so eine hohe Festigkeit erreich- ten. Das Ziel war erreicht, Staudinger glänzend bestätigt!

Theorie der Polykondensation

Von August 1929 an veröffentlichte Carothers seine Forschungsergebnisse in einer langen Publikationsreihe unter dem Titel „Studien über Polymerisation und Ringbildung“. Ringbildung war eine wichtige Nebenreaktion. Wenn die Bildung von 5- oder 6-gliederigen Ringen möglich ist, kann die Polymerisation zur Ne- benreaktion werden19.

Carothers Mitarbeiter, Paul Flory (1910–1985), zeigte durch statistische Berech- nungen, dass bei der Polykondensation kein einheitliches Molekulargewicht ent- steht, sondern eine bestimmte Molekulargewichtsverteilung (Poisson- Verteilung). Es stellte sich heraus, dass die Reaktivität der reaktiven Gruppen z.B. OH oder COOH unabhängig vom Molekulargewicht war. Schon in der er- sten Stufe entstand neben Dimerem auch Trimerem und höhere Polymere. Diese Theorie ist durch viele praktische Messungen bestätigt worden. Paul F. Flory hat in vielen Veröffentlichungen nicht nur das Gebiet der Polykondensation erfasst, sondern die gesamte makromolekulare Chemie. Sein Buch, „Principles of Poly- mer Chemistry“20, beinhaltet die mathematischen Grundlagen der gesamten ma- kromolekularen Chemie. Flory erhielt 1974 den Nobelpreis für Chemie.

Mit all diesen Erfahrungen gelang nun auch die Herstellung größerer Mengen von Polyester in den üblichen Laborgeräten. Eine große Zahl von aliphatischen Diolen und Dikarbonsäuren wurden zu Polyestern mit Molekulargewichten über 10 000 verarbeitet. Mechanische und textile Eigenschaften mancher Polyester

– 103 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 waren ausgezeichnet, aber niedere Schmelzpunkte und gute Löslichkeit in den damals üblichen Reinigungsmitteln schlossen eine praktische Anwendung aus.

In seiner ersten von sehr vielen Veröffentlichungen über Polyester berichteten Carothers und Arvin über eine Polykondensation von Phthalsäreanhydrid und Glykol, erreichten aber nur ein Molekulargewicht von 4 000. Über Versuche mit Terephthalsäure wurde nicht berichtet. So verpasste man die Herstellung von Polyethylenterephthalat aus Terephthalsäureester und Glykol (Terylen, Trevira etc.). Das viel später von ICI genutzte Umesterungsverfahren hatte Carothers und Hill schon damals entwickelt.

Es ist erstaunlich, dass die vielen Veröffentlichungen von Carothers ab 1929 in Europa wenig Beachtung fanden. Dabei wurde Staudinger durch diese experi- mentellen Ergebnisse glänzend bestätigt. Es muss darauf hingewiesen werden, dass in Amerika viele Chemiker durch die Arbeit von Carothers von der makro- molekularen Idee überzeugt wurden und nicht durch Staudingers Argumente. Darunter sind berühmte Namen wie Marvel, Conant und Flory21.

Polyamide

Am 23. März 1934 beauftragte Carothers Don Coffmann den Äthylester der Aminononoiksäure herzustellen und bei höherer Temperatur zum Polyamid um- zusetzen:

n H2N ( CH2 )8 COOC2H5 → H ( NH ( CH2 )8 CO )n OC2H5 + n C2 H5 OH

Es bildete sich eine hochviskose Schmelze, aus der sich Fäden ziehen ließen, die nach der Kaltverstreckung sehr hohe Festigkeiten erreichten. Das Polyamid hatte einen viel höheren Schmelzpunkt als die aliphatischen Polyester und war in den üblichen Lösungsmitteln nicht löslich. Der einzige Nachteil war die komplizierte und damit teure Herstellung des Ausgangsmaterials. Gab es einen einfacheren Weg?

Petersen gelang es, aus Dikarbonsäuren und Diaminen interessante Polyamide herzustellen. Schließlich fand Berchet das ideale Polyamid22, d.h. das optimale Diamin und die optimale Dicarbonsäure. Am 28. Februar 1935 schrieb er in sein Laborjournal:

7 g Hexamethylendiamin und 8,8 g Adipinsäure werden in 20 ccm Kresol 3 h auf 200° erhitzt. Das Reaktionwasser wird abdestilliert und anschließend das Kresol im Vakuum abgezogen. Übrig bleibt eine hornartige Masse, die bei 255° schmilzt und leicht verspinnbar ist. Die verstreckten Fäden haben außerordentlich gute Eigen- schaften.

– 104 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Das Polyamid 66, das Nylon war erfunden.

Kommerzialisierung von Nylon (Polyamid 66)

Nylon zeigte in allen Tests sehr gute textile Eigenschaften. Sowohl Adipinsäure als auch Hexamethylendiamin sind aus Benzol oder Phenol relativ leicht zugäng- lich. Elmer Bolton, Leiter des Chemical Departments, entschied, alle weiteren Versuche zur Optimierung abzubrechen und mit dem „Scale up“ sofort zu begin- nen. Eine „Task Force“ unternahm unter Bolton diese Aufgabe. Mitglieder der Arbeitsgruppe Carothers, die ja der reinen Wissenschaft dienen sollten (Purity Hall), wurden ausgeschlossen.

Eine Vielzahl schwieriger technischer Probleme musste nun gelöst werden. Aus- gangsmaterial für die Polykondensation war das Salz aus Adipinsäure und He- xamethylendiamin, das durch Umkristallisation gereinigt wurde. Organische Großchemikalien mit derart hohen Reinheitsanforderungen waren bis dato nicht bekannt gewesen. Die Polykondensation wurde zunächst in Gegenwart von Was- ser unter Druck durchgeführt und später im Vakuum beendet. Das Rühren der viskosen Schmelze im Vakuum bereitete einige Schwierigkeiten. Man musste lernen, aus der Schmelze Granulat herzustellen. Das Granulat wurde durch ein beheiztes Gitter in der Spinnmaschine bei 270-280°C unter Stickstoff aufge- schmolzen und anschließend mit Hilfe einer Zahnradpumpe bei Drücken von 200-300 atü durch ein Sandfilter gedrückt und versponnen. Anschließend wurde das Garn auf das Drei- bis Fünffache verstreckt. Man musste außerdem ermitteln, wie sich ein derartiges Produkt färben und durch Stricken und Weben weiterver- arbeiten ließ. Eine enorme Aufgabe! 1939 war es schließlich soweit: Der erste Fabrikationsanlage in Seaford (Del) wurde in Betrieb genommen.

Krankheit und Tod von Wallace Carothers23

Carothers hat sein Leben lang unter „Melancholie“ gelitten. Nach heutigem me- dizinischem Kenntnisstand würde er wohl als manisch depressiv oder bipolar depressiv eingestuft werden. Zu seiner Zeit gab es keine Heilungsmöglichkeiten, selbst Lithium war noch nicht als Medikament bekannt. Der Versuch, seine Qua- len zu lindern, führte Carothers in die Alkoholabhängigkeit. Während seiner letz- ten Jahre erschien er oft wochen-, ja monatelang nicht am Arbeitsplatz. Seine Vorgesetzten tolerierten es, weil sie die Gründe kannten. Über 60% dieser Kran- ken endete zu jener Zeit durch Suizid. Auch Carothers trug immer eine Kapsel mit Kaliumcyanid bei sich. Am 29. April 1937 vergiftete er sich in einem Hotel- zimmer in Philadelphia.

– 105 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Elmer Bolton hielt „Carothers für den besten Chemiker, den Du Pont je hatte“. Er starb, als die wissenschaftliche Welt ihn mit Ehrungen überhäufte, als sich der wirtschaftliche Erfolg von Nylon schon abzeichnete. Dass er daneben auch noch Neopren, den ersten vollsynthetischen Gummi erfunden hat, wird oft vergessen. Es war in der Tat „enough for one lifetime“, wie er einem Freund schrieb. Sein deutscher „Konkurrent“ Paul Schlack stellte fest:

Carothers hat in 10 knappen Jahren eine erstaunlich vielseitige, zukunftsträchtige Grundlagenforschung betrieben, für die ihm der Nobelpreis sicher gewesen wäre, hätte er den gewaltigen Erfolg des noch erlebt.

H. Mark und G.S. Whitby erklärten gemeinsam:

Kein Forscher hat je unser Wissen auf dem Gebiet der makromolekularen Chemie mehr bereichert als W. H. Carothers. Bei ihm vereinigte sich ein Reichtum von Ideen mit brillanter Experimentaltechnik. Seine Publikationen sind Klassiker24.

Du Pont und IG Farben

1938 fand im Verwaltungsgebäude des deutschen Chemiekonzerns IG Farben eine Unterredung von hochrangigen Persönlichkeiten beider Firmen statt. Die Amerikaner hatten um das Gespräch gebeten, es sollte sich um eine interessante Lizenz handeln. Die Amerikaner agierten recht geheimnisvoll. Schließlich holten sie Textilmuster aus ihrem Gepäck und zeigten sie den deutschen Fachleuten: „Glatte Damenstrümpfe, Schals, zarte Wäsche, ein hauchdünnes Nachthemd, Vorhangstoffe und Meterware“ so wurde berichtet. Sie erzählten nun, was ihre Faser alles kann: „Es ist die Faser der Zukunft und Dupont hat alle Patente in der Tasche“. Man sei hierher gekommen, um IG Farben eine Lizenz auf die Herstel- lung und den Vertrieb von Polyamidfasern anzubieten. Gespannte Stille im Raum. Daraufhin ging einer der Deutschen an einen Panzerschrank, nahm Tex- tilproben und Patentschriften heraus und legte sie den Amerikanern vor. Die Überraschung war geglückt. Diese Überraschung verdankte IG Farben Paul Schlack, über den wir im folgenden berichten werden.

Um es vorweg zu nehmen, Dupont und IG Farben verständigten sich am 23. Mai 193925 nach zähen Verhandlungen auf eine „Cross Licencing“: Beide Seiten durften Polyamid 6 (Perlon) und Polyamid 66 (Nylon) herstellen und vertreiben. Es wurde ein Erfahrungsaustausch vereinbart, der auch noch vor Kriegsausbruch stattfand. Deutsche Delegationen besuchten Labors und Werke in USA und Amerikaner Labors und Werke in Deutschland. Für die Verspinnung und Ver- streckung mussten die Deutschen Lizenzgebühren bezahlen. Während Du Pont in Seaford 1938 mit der Nylonproduktion begann und 1940 schon 2 000 t Nylon

– 106 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 produzierte, lief in Berlin-Lichtenfeld erst 1939 die halbtechnische Produktion an. Die erste großtechnische Anlage in Landsberg/Warthe wurde 1943 in Betrieb genommen.

Paul Schlack (1897–1987), der Erfinder von Perlon

Paul Schlack wurde am 22. Dezember 1897 in Stuttgart geboren. 1915 bestand er das Abitur und begann im gleichen Jahr das Chemiestudium an der T.H. Stuttgart. Trotz einer Unterbrechung durch drei Jahre Kriegsdienst legte er sein Di- plomexamen schon 1921 ab. Danach nahm er eine Stelle in Kopenhagen im Privatlabor Troensegard an. Er arbeitete dort auf dem Gebiet der Proteine, was für seinen zukünftigen Lebenslauf von großer Bedeutung sein sollte. Schlack wechselte 1924 zur AG für Anilinfarben und 1926 zur Aceta GmbH in Berlin, die Fasern aus Zellulosetriacetat herstellten. In dieser Firma wurde er 1928 zum stell- vertretenden Geschäftsführer beför- dert.

Eine wichtige Arbeitsrichtung war zu dieser Zeit die „Animalisierung“ der Che- miefasern, d.h. man wollte Chemiefasern herstellen, die Ähnlichkeiten mit Wolle und Seide haben26. Schlack setzte sofort auf Polyamide, im Gegensatz zu Ca- rothers, der sich zunächst auf Polyester konzentrierte. Sicher waren ihm seine Erfahrungen in Kopenhagen bei dieser Entscheidung nützlich. Schon damals wählte er als Ausgangsmaterial Aminocapronsäure, aber das erhaltene Polymere war nicht faserbildend. „Erstaunlicherweise experimentierten Carothers und Ber- chert mit der gleichen Aminosäure und mit keinem besseren Ergebnis“, berichte- te Schlack. Auch Versuche mit Sebazinsäure und Äthylendiamin brachten keine besseren Resultate. Das Projekt der „Animalisierung“ wurde beendet. „Die schlechte wirtschaftliche Lage in Deutschland begünstigte derartige dubiose Ex- perimente nicht gerade“, wie Schlack weiter berichtete.

– 107 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Er versuchte 1932, in der schlimmsten wirtschaftlichen Depression, seine Kolle- gen bei IG Farben in Leuna und Ludwigshafen zur Herstellung von Hexamethy- lendiamin und Adipinsäure zu überreden, aber ohne Erfolg. Auch sein einfluss- reicher Freund Dr. Hopf (später Prof. an der ETH) lehnte ab. So wurde eine gro- ße Chance verpasst.

Wie können Carothers Patente umgangen werden?27

Die Polyamidpatente Carothers wurden 1937 bei IG Farben bekannt. Die Gene- raldirektion in Wolfen startete danach sofort eine eigene Forschung auf diesem Gebiet. Schlack, als Spezialist für Zelluloseazetatfaser, gehörte dieser allerdings Abteilung nicht an. Obwohl er nicht beauftragt war, machte er sich Gedanken, wie die Situation zu retten sei. Nahezu alle aussichtsreichen Wege schienen blockiert. Schlack schrieb:

Es blieb kein anderer Weg, als Carothers Linie zu folgen, eventuell mit neuen Me- thoden oder Ausgangsmaterialien. Der tatsächliche Ausgangspunkt war dann eine von uns gemachte Beobachtung, als wir N-Methoxy-Carboxy-Aminocapronsäure polycondensierten, die wir aus roher Aminocapronsäure durch Acylierung mit Chlorameisensäuremethylester erhalten hatten. Diese Reaktion führte über ein Zwi- schenprodukt direkt zu einem fadenziehenden Nylon 6, zusammen mit einem signi- fikanten Anteil an Caprolctam als Nebenprodukt. Daraus schlossen wir, dass Capro- lactam in Gegenwart eines geeigneten Initiators polymerisierbar sein müsste.

H3COOCCl + H2N (CH2)5COOH → H3COOC HN(CH2)5COOH (1) + HCl

n (1) → H3COOCH[ NH (CH2)5CO]nOH + n H3COH + n CO2

Daraus folgte das entscheidende Experiment: Caprolactam und Initiator wurden über Nacht bei 240°C in einem geschlossenen Rohr erhitzt:

Als wir am Morgen des 29. Januar 1938 das Glasrohr öffneten, fanden wir ein leicht lohfarbenes Stück Polymeres, hoch elastisch und vollkommen löslich in konzentrier- ter Essigsäure. Aus der Schmelze konnte man Fäden ziehen, die nach der Kaltver- streckung eine Festigkeit von 4,3g/den besaß. Es war kaum zu bezweifeln, dass die- ser neue Prozess auch für eine technische Produktion praktikabel sein würde.

So beschrieb Schlack seine große Erfindung. Später zeigte sich, dass auch einfa- che Substanzen wie Aminocapronsäure, ja sogar Wasser, die Polymerisation von Caprolactam initiieren können28.

Schlacks Geheimforschung wird bekannt

– 108 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Bei zwei Polyamid-Forschungsgruppen war es zu Prioritätsstreitigkeiten ge- kommen. Der Leiter dieser Gruppen bat Schlack, als neutraler und unabhängiger Azetatmann zu schlichten. Nun musste Schlack bekennen, dass er selbst viele Versuche auf dem Polyamidgebiet gemacht hatte, ohne dass er von der Ge- schäftsleitung darum gebeten worden war. Sein Gegenüber stutzte einen Augen- blick, entschied aber dann recht weise: „Dieses Gebiet ist von außerordentlicher Bedeutung. Machen Sie weiter, alle drei.“ So wurde das Ganze zu einer Art „Pferderennen“, wie Schlack berichtete.

Aus Phenol bzw. Benzol wurde durch Hydrierung und anschließende Oxydation Cyclohexanon hergestellt, das mit Hydroxylamin zum Oxim umgesetzt wurde. Durch die Beckmannsche Umlagerung in Schwefelsäure entstand das Caprolac- tam. Damit hatte Schlack nicht nur für das Labor die Rohstoffe gesichert, son- dern auch einen Weg ausgearbeitet, der sich auch in der Großtechnik bewähren sollte.

Nun lud Schlack den Generaldirektor von Wolfen in die Berliner Labors ein. Schlack berichtete:

Nie habe ich einen Vorgesetzten so verblüfft gesehen, als ihm die Laborproduktion der Rohstoffe, des Polyamids und dessen Verspinnung aus der Schmelze vorgeführt wurde. Sein spontanes Urteil lautete: „Sie haben eine ganz ausgezeichnete Leistung vollbracht, um die wir Sie nicht ersucht haben. Sicherlich wird das nun Ihre Lebens- aufgabe werden.“

Eine ungewöhnlich rasche Entwicklung folgte. Schon ein halbes Jahr nach der Erfindung lag der erste, freilich noch mangelhafte Damenstrumpf, vor. Nach ei- nem Jahr wurden bereits Perlondraht und Perlonborsten an die Verbraucher ver- kauft.

Die Umsetzung der Laborergebnisse in den halbtechnischen Maßstab und schließlich in die Produktion war eine technische Meisterleistung. Nur durch en- ge Zusammenarbeit von Chemikern mit Ingenieuren konnte das so schnell er- reicht werden. Das galt für die Herstellung des Caprolactams, bei denen so schwierige Reaktionen wie die Beckmannsche Umlagerung in Schwefelsäure zu meistern waren, wie auch die Polymerisation. Neue Wege mussten gegangen werden, um das Polyamid zu granulieren und in den Spinnmaschinen wieder auf- zuschmelzen. Zahnradspinnpumpen mussten entwickelt werden, die die Polya- midschmelze bei Temperaturen über 240°C durch Filter in die Spinnköpfe press- ten. Das geschmolzene Polyamid, das aus dem Spinnkopf austrat, musste im frei- en Fall so weit gekühlt werden, dass es aufgewickelt und verstreckt werden konnte. Hinter all diesen Entwicklungen stand Paul Schlack. Er war nicht nur ein

– 109 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 sehr guter Chemiker, sondern auch ein exzellenter Techniker. Neben seinem gro- ßen Können hatte Schlack auch Glück, das Glück des Tüchtigen: Carothers und Berchet berichteten in einer Veröffentlichung ausdrücklich über missglückte Versuche, Caprolactam zu polymerisieren. Im Allgemeinen wird ja nur über ge- glückte Versuche berichtet. Diese Veröffentlichung machte die Schlackpatente unangreifbar. Schlack hatte diese Veröffentlichung selbst nicht gelesen. Er schrieb: „Ich hätte den Versuch nicht gemacht, wenn ich das gelesen hätte.“

Die Kriegszeit

Während des Krieges lief die Polyamidforschung auf Hochtouren. IG Farben baute für Schlack ein neues großes Laboratorium für 70 Mitarbeiter. (Carothers hatte nie mehr als 13.) 1943 ging die erste großtechnische Anlage zur Herstel- lung von Perlon in Landsberg/Warthe in Betrieb. Später folgten noch Werke in Berlin, Wolfen und Premnitz. Noch 1944 wurden von Schlacks Labor 44 Patente angemeldet. Um der russischen Front auszuweichen, wurde Schlack mit seinen Mitarbeitern im März 1945 nach Wolfen verlegt. Am 6. März 1945 erhielt er eine Bescheinigung der Universität Jena über seine bestandene Doktorprüfung. Als Wolfen später von den Amerikanern erobert wurde, brachten diese Schlack nach Bobingen bei Augsburg.

Nach dem Krieg

Schlack wurde 1946 zum Werksleiter der Kunstseidefabrik Bobingen befördert, zwei Jahre später zum zweiten Geschäftsführer und Leiter der wissenschaftlichen Arbeiten. In einem Organisationsdiagramm von 1952 ist er außerdem als stellver- tretender Treuhänder aufgeführt. Im gleichen Jahr wurde er Vorstandsmitglied der Bobingen AG. Nach deren Aufkauf durch Farbwerke Höchst wurde Schlack zum Abteilungsdirektor der Farbwerke Höchst ernannt und war verantwortlich für die gesamte Faserforschung. Nach seiner Pensionierung war er von 1961 bis 1968 Honorarprofessor an der TH Stuttgart. Am 19. August 1987 starb Professor Dr. Paul Schlack in Stetten bei Stuttgart fast neunzigjährig.

Die wirtschaftlichen Resultate

Wegen des Krieges verzögerte sich die wirtschaftliche Entwicklung von Perlon und Nylon etwas. Während des Krieges wurden Polyamide sowohl Nylon als auch Perlon fast nur für militärische Zwecke eingesetzt, etwa als Fallschirmseide, in Form von Seilen oder als Borsten für Bürsten zur Geschützreinigung. In den darauf folgenden Jahrzehnten stieg die Produktion jedoch steil an, wie folgende Tabelle zeigt:

– 110 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Weltproduktion von Perlon und Nylon in 1000 t Perlon Nylon Gesamt Anteil Perlon in % 1940 0,14 1,2 1,34 10,4 1950 7,7 48,0 55,7 13,8 1961 179,4 292,6 472,0 38,0 1963 314,4 416,7 731,1 43,0 1965 467,9 549,1 1017,0 46,0 1966 569,0 634,2 1203,2 47,3 1994 1900,0 1596,0 3496,0 54,3

Während in den vierziger und fünfziger Jahren die Produktion von Nylon ein Vielfaches der Perlonproduktion war, glichen sich die Produktionszahlen immer weiter an. 1994 wurde sogar mehr Perlon als Nylon produziert. Über 70% der Weltproduktion wurde 1994 zu Fasern verarbeitet, der Rest zu Formmassen. Caprolactam kann bei Temperaturen weit unter dem Schmelzpunkt von Perlon anionisch polymerisiert werden. Bei dieser Polymerisation entsteht in wenigen Minuten festes Perlon. Damit lassen sich auch sehr große Formkörper ohne inne- re Spannungen produzieren. Dadurch konnte sich die Produktion von Perlon noch weiter ausgeweitet werden.

Versuch eines Vergleiches von Carothers und Schlack

Es ist interessant, die Lebenswege von zwei großen Chemikern zu verfolgen und zu vergleichen, die beide durch Arbeiten auf dem Polyamidgebiet berühmt wur- den und deren Geburtstage nur ein Jahr und acht Monate auseinander lagen: Ca- rothers am 27. April 1896, Schlack am 22. Dezember 1897 geboren, der eine in einem Provinzstädtchen in Iowa, USA, der andere in der Hauptstadt des König- reiches Württemberg, Stuttgart, im kaiserlichen Deutschland. Beide interessierten sich schon sehr früh für Technik und Naturwissenschaft und ihre Eltern legten großen Wert auf eine gute Schulausbildung. Schlack, Sohn von Theodor Gottlieb Schlack, Direktor am Finanzministerium in Stuttgart29, besuchte von 1903 bis 1906 zunächst die Privatschule Hager in Stuttgart und kam anschließend in die damals beste Schule in Stuttgart, in das Eberhard-Ludwigs-Gymnasium, wo er 1915 das Abitur bestand und sofort mit dem Chemiestudium an der TH Stuttgart begann. Carothers musste nach der Highschool auf Anweisung seines Vaters, Ira Hume Carothers, Dozent an einem kleinen „Commercial College“, zunächst den Brotberuf des Buchhalters in einem zweijährigen Collegekurs erlernen. Erst da- nach konnte er mit dem Chemiestudium wie Schlack 1915 anfangen. Im März 1916 wurde Schlack zum Kriegsdienst eingezogen und konnte sein Studium im

– 111 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Januar 1919 wieder aufnehmen. Beide waren ausgezeichnete Studenten, die bei ihren Lehrern hochangesehen waren. Beide wurden in ihrer beruflichen Laufbahn von ihren Lehrern unterstützt und weiterempfohlen; Carothers von seinem Dok- torvater Roger Adams als Dozent nach Havard und Schlack von seinem akade- mischen Lehrer William Küster in ein Privatlabor nach Kopenhagen. Dass beide sehr harte und zähe Arbeiter waren, ist nicht überraschend. Bis zu diesem Zeit- punkt können sehr viele Ähnlichkeiten festgestellt werden.

In einem Punkt aber unterschieden sie sich sehr stark: Carothers war nur an der reinen Wissenschaft interessiert, Schlack wollte auch den wirtschaftlichen Erfolg seiner Arbeit vorantreiben. Carothers ließ sich von Du Pont vertraglich völlige Forschungsfreiheit garantieren. Sein Vorgesetzter Charles M. A. Stine hielt sich an diesen Vertrag. Als Stine aber befördert wurde und durch Elmer K. Bolton ersetzt wurde, änderte sich die Situation. Bolton drängte auf eine schnelle Kom- merzialisierung der Forschungsergebnisse, Carothers pochte auf seinen Vertrag. Dadurch kam es zu ständigen Reibereien, die sich mit dem Fortschreiten der wirtschaftlichen Depression in den USA verstärkten. Sicher war Carothers Rea- list genug, um auch Kompromisse einzugehen, allerdings immer erst nach harten Kämpfen. Er versuchte, seine Linie zu halten. Sein Ziel waren wissenschaftliche Veröffentlichungen, auch um sein hohes wissenschaftliches Ansehen weiter zu stärken. Carothers hat des Öfteren überlegt, wieder an die Universität zurückzu- kehren. Ihm war das wirtschaftliche Denken lästig.

Ganz anders bei Schlack: Wo immer ihn das Leben hinstellte, machte er das Op- timale daraus. Er arbeitete für den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens. Er fragte nicht lange danach, was erlaubt und von den Vorgesetzten erwünscht wur- de, sondern machte das, was er für vernünftig hielt. So hatte Schlack das Grund- gerüst der Perlonentwicklung schon erarbeitet, bevor er offiziell mit dieser For- schung betraut wurde. Wenn er jedoch sah, dass die Richtung falsch war, war er durchaus im Stande, schnell die Konsequenzen daraus zu ziehen: Als er z.B. in Kopenhagen sah, dass die Forschungsziele unsinnig waren, kündigte er nach kur- zer Zeit. Schlack wollte eigentlich in der Photochemie arbeiten. Als das nicht möglich war, landete er in der Faserindustrie und machte aber auch dort wichtige Beiträge und rasch Karriere. Wie alle guten Industriechemiker verfolgte Schlack seine eigenen Forschungsprojekte „unter dem Tisch“. Erst als der Erfolg sich abzeichnete, sprach er darüber mit seinen Vorgesetzten. Schlack war der typische industrielle Macher. Für ihn war die Chemie, die er sehr gut beherrschte, Mittel zum Zweck: Er wollte den wirtschaftlichen Erfolg. Er war sich auch nicht zu schade, über technische Probleme z.B. beim „Scale-up“ nachzudenken und an deren Lösung mitzuarbeiten. Dabei hatte ich den Eindruck, dass persönliche Vor- teile wie Karriere und Geld bei Schlack keine große Rolle spielten. Als ich ihn

– 112 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 fragte, ob der große Erfolg von Perlon ihm persönlich auch etwas gebracht habe, musste er lange nachdenken. Schließlich meinte er:

Im Krieg produzierten wir nur für das Militär und da gibt’s nichts für den Erfinder. Später haben die Amerikaner alle Patente freigegeben, also wieder nichts. Als Aus- gleich habe ich dann doch soviel bekommen, dass es für ein Häuschen gereicht hat.

Recht bescheiden für die Millionen Tonnen von Perlon, die weltweit produziert wurden! Trotzdem schien er zufrieden zu sein.

Würdigung

1974 lernte ich Professor Schlack bei der Dornbirner Internationalen Textilta- gung kennen, einen sehr bescheidenen, klugen und sympathischen Mann, der ein begeisterter Naturwissenschaftler und Forscher war. Seine Kenntnisse in der Po- lymerchemie, der Textilchemie und der Technik waren beeindruckend.

Auch hochverdiente Industriechemiker werden im Allgemeinen schnell verges- sen. Ziel dieser Veröffentlichung ist es, an die Verdienste von zwei Männern zu erinnern, die Großartiges geleistet haben, Carothers und Schlack. Das tragische Leben von Carothers wurde in der amerikanischen Literatur eindrucksvoll be- schrieben30, sein großer Beitrag zur makromolekularen Chemie wird aber m. E. in Europa zu wenig gewürdigt. Schlacks Verdienste sind noch weniger bekannt. IG Farben hatte die Polyamidentwicklung verpasst. Schlack hat den großen Rückstand in kurzer Zeit aufgeholt und der IG Farben eine große Blamage er- spart.

Hätte IG Farben auf Schlack gehört, wäre man als erster durchs Ziel gegangen. Ich glaube, man kann ohne Einschränkung sagen, beide, sowohl Wallace Hume Carothers als auch Paul Schlack haben sich um die Polymerchemie und die che- mische Industrie sehr verdient gemacht.

Summary

With his idea of very large molecules Staudinger started worldwide discussions in1920. Most top chemists assumed molecules larger than M 5 000 were not pos- sible. Carothers, however, supported Staudinger’s theory. With his team he de- veloped polyesters with M > 10 000 in the laboratories of Du Pont. His work on polyamids resulted in his great invention of Nylon. His team investigated a large number of amino acids, dicarbonic acids and diamines. Optimum results were achieved with adipic acid and hexamethylene-diamin. The German IG Farben

– 113 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 saw the Nylon patents in 1937 and started their own research immediately. Paul Schlack found a way to polymerize caprolactam. Subsequently, he showed how to synthesize caprolactam in four steps. Under his supervision the chemical proc- esses including polymerisation of caprolactam and fiber spinning and stretching were scaled up. The basic approaches of the two inventors are compared.

1 J.W. Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft, Allgemeine Naturlehre, Erfinden und Ent- decken, Stuttgart: Cotta, 1833, S. 159. 2 C. Graebe, Geschichte der organischen Chemie (Berlin 1920), Bd I, S. 123ff.; “Herstellung von Schießwolle,” Ber. Naturforsch. Ges. Basel 7 (1847), 27. 3 Hermann Klare, Geschichte der Chemiefaserforschung (Berlin 1985), S. 23. 4 Kenneth R. Svan, Artificial Silk, Z. F. Ges. Text. Ind. 56 (1954), 775ff. 5 Chardonnet, Franz. Pat. 165-349. 6 P. Schützenberger, Herstellung von Zellulosetriazetat, Compt. Rend. De l’Acad. des Scien- ces 61 (1865), 485; “Acetylierung von Zellulose,” Ber. Dtsch. Chem. Ges. (1869), 163. 7 E. Schweizer, Lösung von Zellulose in Mischung aus Kupferoxid und wässerigem Ammo- niak, J. pr. Chem. 72 (1857), 109; 76 (1859), 344. 8 Ch.F. Cross, E.I. Bevan und C. Beadle, Brit. Patent 8700 vom 7.5. 1892. 9 H. Staudinger, Die Ketene (Stuttgart 1912). 10 H. Staudinger, Über Polymerisation, Ber. 53 (1920), 1073-1085. 11 H. Staudinger, Arbeitserinnerungen, Dr. A. Hüthig, Heidelberg 1961, S. 77-79. 12 H. Staudinger, 1970, S. 79. 13 Matthew E. Hermes, Enough for one Lifetime, Philadelphia 1996. 14 John K. Smith, David A. Hounshell, “Wallace H. Carothers and fundamental research at Du Pont”, Science 229 (1985), 436-442. 15 Yasu Furukawa, Inventing Polymer Science (Philadelphia 1998), S.105ff. 16 Carothers to Stine, “Proposed Research on condensed or polymerized Substances”, 1928, Hagley Museum and Library Wilmington, Delaware, Acc. 1784, Box 24. 17 Carothers, Wallace H., “An Introduction to the General Theory of Condensation Polymers, a Landmark Paper.” Journal of the American Chemical Society 1929, 4-17. 18 W.H. Carothers and J.W. Hill, “Artificial Fibers from Synthetics, Linear Condensation Syperpolymers“,JACS 1932, 156-79.

– 114 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

19 W.H., Carothers, “An Introduction to the General Theory of Condensed Polymers”, J. Am. Chem. Soc. 51 (1929), 25-48; Mark, H., G.S. Whitby, Collected papers of W.H. Carothers on high polymeric substances (New York 1940). 20 Paul J. Flory, Principles of Polymer Chemistry (Ithaca/New York 1953). 21 Interview with Flory by Ovwerberger, Flory on Carothers and Du Pont, CHOC news 1 (1982), no. 9-10. 22 Gerard J. Berchet, “Adipate of Hexamethylen Diamine” (experimental record in possession of Berchet) February 28, 1935. 23 Matthew E. Hermes, Enough for one lifetime: , inventor of nylon, Ameri- can Chemical Society and the Chemical Heritage Foundation, (Washington D.C. 1996). 24 H. Mark, G.S. Withby, Vorwort zu „Collected papers of W. H. Carothers on high polymeric substances” interscience publ., Inc. New York. 25 Archiv VEB Fiilmfabrik Wolfen: AW 57, Lizenzvertrag vom 23.5.1939. 26 P. Schlack, „My way to Perlon,“ Vortrag bei Fa. Teijin in Hino 27.9.1966. 27 P. Schlack, Vortrag vor der VDI – Fachgruppe Technik-Geschichte im Dt. Museum zu Mün- chen am 21.3.1967. P. Schlack, Pure and Applied Chemistry 15 (1967) 508; Text. Prax. 8 (1953), 1055. 28 P. Schlack, Chemiefaser 26 (1976), 961. 29 Stefan Winneke, Paul Schlack: Perlonzeit, Schwäbische Forscher und Gelehrte, Lebensbil- der aus sechs Jahrhunderten, Stuttgart 1992. 30 Yasu Furukawa, Inventing polymer Science. University of Pennsylvania Press. 1998. Mat- thew E. Hermes, Enough for one Lifetime. ACS and the Chemical Heritage Foundation, (Washington D.C. 1996).

– 115 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Mottenkugeln zum Nachweis der Kern- strahlung: Hartmut Kallmann (1896–1978) und die organischen Szintillatoren

Prof. Dr. Siegfried Niese, 01723 Wilsdruff, Am Silberblick 9

Hartmut Kallmann (1896-1978) war ein außergewöhnlicher Wissenschaftler, dessen Arbeitsgebiete im Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem von der theoretischen über die experimentelle Physik bis zur Chemie reichten. Er wurde 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft entlassen. Nach misslungenen Emigrationsversuchen stellten ihm die IG Farben und die AEG ein Labor für die Weiterführung seiner Arbeiten zur Verfügung. Nach der Befreiung begann er mit großem Elan wieder in seinem alten Institut mit der Arbeit und entdeckte die organischen Szintillatoren. Angesichts der Igno- ranz seines akademischen Umfeldes gegenüber den Verbrechen des Naziregimes fühlte er sich in Deutschland wieder fremd und emigrierte 1948 in die USA, wo er die in Berlin begonnenen Forschungen fortführte.

Im Bericht wird die die Radioaktivitätsmessung revolutionierende Entdeckung der organischen Szintillatoren im Kontext mit seinem Leben und Wirken behan- delt. Grace Marmor Spruch würdigte sein Wirken in einem Nachruf.1 Einen aus- führlichen Überblick über sein Leben und Werk mit besonderer Berücksichtigung der Wirkung seines politischen Umfeldes gibt Stefan Wolff.2 Einen lebendigen Eindruck von der Zeit, in der die Szintillationszähler erfunden wurden, vermitteln Kallmanns Doktoranden Immanuel Broser3 und Liselott Her- forth.4 Ihren Beitrag zur Untersuchung organischer Szintillatoren habe ich auch an anderer Stelle gewürdigt.5 Mit einem historischen Abriss der Entwicklung der Flüssigszintillationszählung beginnt auch Hans-Jörg Rheinberger einen Beitrag zur Geschichte der kommerziellen Entwicklung entsprechender Geräte.6

– 116 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Herkunft und Ausbildung

Hartmut Kallmann wurde am 5. Februar 1896 in Berlin geboren. Seine Eltern stammen aus jüdischen Familien, die sich schon vor längerer Zeit zum Protestan- tismus bekannten. Kallmann selbst erfuhr erst während der Nazizeit von seiner jüdischen Herkunft. Sein Vater Felix Kallmann war Rechtsanwalt und bis 1913 als Direktor der Auergesellschaft für deren wirtschaftliche Leitung zuständig. In Kallmanns Elternhaus verkehrten auch Walter Nernst und Fritz Haber. Hartmut Kallmann wuchs in einer wohlhabenden Familie auf. Er verlor jedoch mehrere Schuljahre durch eine langwierige Erkrankung. 1916 begann er an der TH Ber- lin-Charlottenburg ein Chemiestudium, wechselte nach einem Jahr zur Physik an die Universität Berlin und promovierte 1920 bei Max Planck über die spezifische Wärme von Wasserstoffmolekülen.

Forschung zur Molekül- und Kernphysik und Aufbau eines Tandem-Beschleunigers im KWI bei Fritz Haber

Kallmann war nach seinem Studium kurze Zeit bei Otto Hahn im Kaiser- Wilhelm-Institut (KWI) für Chemie und wurde dann Assistent in dem von Fritz Haber geleiteten KWI für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin- Dahlem. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit betätigte er sich auch auf den Gebieten Organisation, Verwaltung und Finanzen.

Er untersuchte zuerst gemeinsam mit verschiedenen Kollegen theoretisch und experimentell den Energietransfer bei Molekülreaktionen in der Gasphase und habilitierte sich 1927 auf diesem Gebiet. Dafür entwickelten Kallmann und Ro- sen eine Methode für das Abstreifen der Ladung mit anschließender Umladung von Molekülionen.7 Dieses für Molekülionen bei Spannungen von ca. 300 V an- gewandte Tandem-Prinzip hat er später auch zur Umladung von mit einer 1000fachen Spannung beschleunigten Ionen angewandt, um für Kernreaktionen die doppelte Energie im Vergleich zu einfachen Beschleunigern zu erreichen. Mit Fritz London entwickelte er eine Theorie der Übertragung von Energie und La- dung über relativ große Entfernungen auf der Grundlage der kurz zuvor entdeck- ten Quantenmechanik.8

Obwohl er im KWI zuerst an Molekülreaktion experimentierte, interessierte er sich von Anfang an auch für die Kernphysik.9, 10 Der Direktor des KWI Fritz Ha- ber interessierte sich ebenfalls für die Kernforschung. Deshalb wurde im Institut der Aufbau eines Beschleunigers für kernphysikalische Experimente geplant, der

– 117 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 dann zu einem großen Teil von der Rockefeller-Stiftung finanziert wurde. Die Hochspannungsanlage lieferte die Fa. Siemens.11 Kallmann und Kuhn konstruier- ten und fertigten einen Entladungstopf, bei dem in der Mitte zwischen der Ionen- quelle und dem Target eine gasdurchspülte Umladungskammer oder eine Folie angebracht war, an die eine positive Hochspannung von 300 keV angelegt wur- de. Mit dieser Tandemanordnung konnten die gleich hinter der Ionenquelle durch Umladung erzeugten negativen Ionen nach einer Beschleunigung und erneuten Umladung auf die doppelte Energie beschleunigt werden.12 Über den erfolgrei- chen Aufbau und erste Messergebnisse berichtete Fritz Haber am 6. April 1933 der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Die Anlage war Mitte 1933 voll einsatzbereit.

Entlassung, misslungene Emigration, kernphysikalische Forschung und Erfindung der Neutronenradiografie in einem ehemaligen Pferdestall

Nach dem Gesetz zum Berufsbeamtentum vom April 1933 verlor Kallmann durch Bescheid vom 15. Juli am 30. September seine Stelle am KWI und mit Schreiben vom 2. September die Venia Legendi an der Berliner Universität. Trotzdem sich Haber sehr für ihn eingesetzt hatte, scheiterten alle Bemühungen für Kallmann mit seinem Beschleuniger eine Stelle im Ausland zu finden.

Der Vorstandsvorsitzende der IG-Farben Carl Bosch ermöglichte Kallmann zu- sammen mit Ernst Kuhn auf dem Gebiet der Kernphysik in einem von der AEG in einem umgebauten Pferdestall zur Verfügung gestellten speziellen Labor zwar ohne Anstellung aber mit Stipendien weiterzuarbeiten. Sie untersuchten die Bil- dung von Neutronen bei der D-D-Reaktion und die Reaktion von schnellen Neu- tronen mit Aluminium.13 In einem von der AEG mit den Erfindern Dr. phil. Hartmut Israel Kallmann und Dr. phil. Ernst Kuhn am 5.9.1940 vom Reichspa- tentamt erteilten Patent „Zur Erzeugung großer Mengen negativer Ionen“ wird der Umladungsprozess von positiven Kanalstrahlen in negative Ionen beschrie- ben. Den zusätzlichen Vornamen Israel musste Kallmann auf Grund seiner jüdi- schen Herkunft und der NS-Rassengesetze tragen.

Kallmann erfand die Neutronenradiografie, bei der nicht wie bei den Röntgen- und Gammastrahlen die schweren Elemente, sondern Wasserstoff und andere leichten Elemente die Strahlung auf dem Weg zum Film absorbieren bzw. streu- en. Eine erste Mitteilung war in den Naturwissenschaften in Druck gegangen, durfte aber aus „rassischen Gründen“ nicht erscheinen und kam erst 1948 an die Öffentlichkeit.14 Seine Erfindungen zur Neutronenradiografie sind in einer gro-

– 118 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 ßen Zahl von US-Patenten festgehalten und Kallmann wird als ihr Erfinder aner- kannt, wie es eine Reihe von Publikationen z.B. von Harold Berger15 belegen.

Kallmann war besonders nach der Reichskristallnacht 1938 zahlreichen Repres- salien ausgesetzt. Einer in jenen Tagen drohenden Verhaftung entging er durch Flucht. Sein Vater starb dabei nach einer Herzattacke. Es folgte das Verbot, Kol- loquien, Bibliotheken und andere Einrichtungen der Universität zu besuchen. Er durfte noch bis 1939 die AEG-Firmenbibliothek besuchen, musste aber im glei- chen Jahr auch seine Arbeit beenden und aus der Deutschen Physikalischen Ge- sellschaft austreten. Erst 1943 konnte Kallmann seine Versuche zur Neutronenradiografie für die AEG fortsetzen, weil diese dafür vom Heereswaf- fenamt Aufträge erhalten hatte.

Bei seiner jahrelangen Beschäftigung mit Neutronen erwuchs der Wunsch, auch diese ungeladenen Teilchen direkt zu zählen. Kallmann sah eine Möglichkeit, die beim Stoß von Neutronen auf Wasserstoffkerne erzeugten energiereichen Proto- nen wie Alphateilchen durch Szintillation einer fluoreszierenden wasserstoffhal- tigen organischen Substanz nachzuweisen. Da bekannt war, dass die ebenen mehrkernigen aromatischen Verbindungen fluoreszieren, dachte er zuerst an Naphthalin. Diese Idee verfolgte er während des Krieges nicht weiter, weil er keinen Beitrag zur Entwicklung einer Kernwaffe leisten wollte.

Kallmann wird Professor für Theoretische Physik, richtet im KWI ein La- bor ein und beginnt mit Arbeiten zum Szintillationszähler

Bereits drei Monate nach der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus beteiligte sich Kallmann am Wiederaufbau des physikalisch-chemischen Instituts der Kaiser-Wilhelm Gesellschaft, wurde Abteilungsleiter und als einer der weni- gen „Unbelasteten“ ordentlicher Professor für theoretische Physik an der TH Berlin. Mit großem Enthusiasmus begann er nach den unter den Nationalsoziali- sten zu erduldenden Diskriminierungen und Beschränkungen mit den noch im Krieg geplanten Experimenten. War ihm in den Jahren der NS-Herrschaft der Zugang zu wissenschaftlichen Einrichtungen, Bibliotheken und Publikations- möglichkeiten verwehrt, so fand er sich jetzt in leitender Position in einem völlig ausgeräumten Labor wieder. Alle nicht schon vor Kriegsende nach Südwest- deutschland verlagerten Ausrüstungen waren von den sowjetischen Truppen kon- fisziert worden. Bei der Entwicklung seines geplanten Verfahrens zur Messung von Kernstrahlen ging er schrittweise vor. Er musste sich dabei auch nach der Verfügbarkeit der notwendigen Geräte und Chemikalien richten.

– 119 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Kallmann finanzierte Geräte, Chemikalien und anfangs auch zeitweise seine Mit- arbeiter mit dem Verkauf von Zigaretten, die ihm ein amerikanischer Freund zu- kommen ließ. Die elektronischen Bauelemente stammten auch zu einem Teil aus ehemaligen Wehrmachtsgeräten. Baugruppen aus Rundfunkgeräten konnte man gut für Verstärker in Zählgeräten nutzen. Im KWI für Chemie fand er noch ein radioaktives Präparat, das bei der Institutsverlagerung in den letzten Kriegsjahren nach Hechingen liegen geblieben war. Nach Broser16 besaß Kallmann privat auch noch eine Ra-Be-Neutronenquelle. Kallmann hatte schon bei seinen Arbeiten, die er als Habilitationsschrift zusammengefasst hatte, gezeigt, dass er gut mit vielen Kollegen arbeitsteilig zusammenarbeiten konnte. Seine jungen Doktoranden mo- tivierte er, indem er sie sehr selbständig arbeiten ließ und ihren Anteil an den Arbeiten als Erst-, bzw. Mitautoren oder in entsprechenden Hinweisen in den Publikationen besonders zum Ausdruck brachte und ihre zügige Promotion för- derte.

Als Kallmann in Berlin seine Arbeiten zur Kernstrahlungsmesstechnik durch- führte, galt das vom Alliierten Kontrollrat der vier Besatzungsmächte erlassene Gesetz Nr.25, dass „neben allen militärischen Zwecken dienenden Untersuchun- gen auch generell die Arbeiten auf dem Gebiet der angewandten Kernforschung“ verbot. Wir dürfen annehmen, dass seine Arbeiten von kernphysikalisch ausge- bildeten US-Kontrolloffizieren geduldet und auch gefördert wurden.

Erfindung eines Szintillationszählers

Unter Szintillation verstehen wir einen Vorgang, bei dem Materie durch hoch- energetische Teilchen angeregt wird und einen Teil der Energie als sichtbare Strahlung wieder abgibt. Der Szintillationsvorgang selbst ist schon seit den Un- tersuchungen von Elster, Geitel und Crookes im Jahre 190317 bekannt. Seitdem wurde zur Messung von α-Strahlen ein Zinksulfid-Leuchtschirm benutzt, wobei die schwachen Lichtblitze auf dem Leuchtstoff mit einer Lupe beobachtet wur- den.

Es gab verschiedene Bemühungen, die visuelle Zählung durch ein physikalisches Verfahren zu ersetzen. Dazu musste der Lichtblitz in ein elektrisches Signal um- gewandelt und dieses vor dem Zählvorgang verstärkt werden. Für die Verstär- kung schien ein Geiger-Müller-Zählrohr geeignet zu sein. Dazu hat Boris Rajewsky18 an der Innenseite des Zählrohres eine fotoelektrische Substanz aufge- tragen und auf der gegenüberliegenden Seite ein Quarzfenster angebracht, durch das Licht auf die Fotokathode gelangen kann. Adolf Krebs vom KWI für Bio-

– 120 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 physik in Frankfurt/M. hat eine entsprechende Apparatur zur Demonstration der Diffusion von Emanation aufgebaut.19

Kallmann erwartete oder hat schon bei entsprechenden Vorversuchen während des Krieges festgestellt, dass die bei der von ihm geplanten Zählung von Neutro- nen durch Szintillation einer aromatischen Verbindung erzeugte Lichtintensität wesentlich geringer als beim Nachweis von α-Stahlen mit ZnS ist. Deshalb hielt er eine besonders hohe Signalverstärkung für notwendig. Auch ihm erschien für die Erhöhung der Zahl der Elektronen das Geigerzählrohr als Vorbild, bei dem sich unter der Wirkung der angelegten Hochspannung die Zahl der von der Foto- kathode erzeugten Elektronen durch Mehrfahrstöße lawinenartig erhöht. Deshalb wolle er den Szintillator mit einer Fotokathode kombinieren und die Zahl der erzeugten Elektronen in einem Zählrohr erhöhen.

Bei Kallmann arbeitete seit Ende 1945 Immanuel Broser, der bei dem Schüler von Hans Geiger, Otto Haxel, über Zählrohre diplomiert hatte. Die Versuche von Kallmann und Broser, ein solches lichtempfindliches Zählrohr zum Verstärken der Zahl der Photoelektronen für die Szintillationszählung zu bauen, führten je- doch nicht zum gewünschten Ergebnis. Das erwies sich aber als Vorteil. Denn die daraufhin begonnenen Experimente mit dem seit einiger Zeit in der Fernseh- technik eingesetzten Sekundärelektronenvervielfacher (SEV) leiteten eine stür- mische Entwicklung der Kernstrahlungsmesstechnik ein. Mit einem SEV wird die Zahl der in einer Photozelle aus Lichtquanten entstehenden Elektronen ver- vielfacht, um anschließend elektronisch registriert und vermessen zu werden.

Broser erinnerte sich, in den Semesterferien mit einem Gerät zur Geschwindig- keitsmessung von Leuchtspurgeschossen gearbeitet zu haben, in dem ein Weiss- scher Fotovervielfacher mit etwa zwanzig Prallgittern enthalten war. Ein solcher SEV konnte aus den Resten der nach dem Krieg stillgelegten Fabrik erworben werden. Kallmann ließ dann ein Zählgerät mit einem ZnS-Schirm und einem SEV an Stelle eines Zählrohres aufbauen. Daran konnten sie sowohl einen me- chanischen Telefongesprächszähler als auch ein Oszilloskop anschließen, mit dem sie Impulse nach ihrer emittierten Lichtenergie unterscheiden konnten. Mit dem Gerät wurde die Lichtanregung eines polykristallinen Cu-aktivierten ZnS- Leuchtschirms durch einzelne α-Teilchen, die Dauer und Form des Abklingens der Szintillationserscheinung und das Verhältnis von Lichtintensität und α- Energie untersucht. Da die emittierte Photonenzahl der im Szintillator absorbier- ten Energie proportional ist, konnten sie so auch bequem die Energie der Strah- lung bestimmen.20

– 121 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Mit einer Versuchsanordnung, bei der vor das Zählwerk ein Thyratron geschaltet war, zählen sie nur Impulse, die noch bei einer gewissen Sperrspannung am Thy- ratron zum Zählwerk gelangten. Die durch die Spaltung von Uran beim Beschuss von Neutronen erzeugen hochenergetischen Spaltprodukte konnten sie noch bei einer Sperrspannung von 35 V nachweisen, aber ohne Neutronenquelle nur bis zu einer Sperrspannung von 13 V die von der α-Strahlung des Urans herrühren- den Impulse zählen.21

Für die Messung der Alphastrahler wurde die Radioaktivität anfangs dem poly- kristallinen ZnS-Pulver direkt zugemischt. Dabei fand man für die Verteilung der Pulshöhen eine breite Bande. Die in der von Rudolf Frerichs geleiteten und auf dem Gebiet der Photoleitung arbeitenden benachbarten Arbeitsgruppe tätige Ruth Warminsky, die spätere Ehefrau von Immanuel Broser, stellte CdS-Kristalle her, mit denen die vom SEV erzeugten Stromimpulse der absorbierten Energie der Alphateilchen proportional waren.22

Über diese Arbeiten fertigte Broser seine Dissertation an.23 Er blieb noch einige Jahre im Institut und wurde dann Professor an der TH Berlin, wo er sich vor al- lem mit den elektronischen und optischen Eigenschaften von ZnS, CdS und an- deren AIIBVI-Halbleitern beschäftigte.24

Für die Messung der Aktivität von α-Strahlern wurde die Kombination von ZnS- Szintillator und SEV noch viele Jahre angewandt. Kallmann hatte schon in sei- nem Refugium geplant, eine chemische Verbindung, die sowohl genügend Was- serstoff enthielt, als auch wie Naphthalin fluoreszierte, für die direkte Messung von Neutronen als Szintillator zu nutzen. Nachdem die Szintillationsmessung von α-Strahlen mit Zinksulfid zufriedenstellend funktionierte, erinnerte sich Kallmann an seine damalige Idee. Doch zuvor wollte er mit Naphthalin als Szin- tillator erst einmal Beta- und Gammastrahlung messen. Naphthalin fand sich im Institutskeller in Gestalt von Mottenkugeln.

Die Entdeckung eines organischen Szintillators

Über die erfolgreichen Versuche zur Szintillationsmessung, wobei er auch die ersten Ergebnisse mit Naphthalin vorstellte, hatte Kallmann auf einem Kolloqu- ium im Juni 1947 im KWI vorgetragen.25 Werner Bloch berichtete darüber in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift „Natur und Technik“.26 So kam es, dass die erste Nachricht über einen organischen Szintillator zuerst in einer populärwissen- schaftlichen Zeitschrift erschien. Als Zitat finden wir dann in der amerikanischen

– 122 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Literatur „Kallmann, Natur und Technik, Juli 1947“.27 Gleichzeitig wurde über die Versuche auf einer kleinen Ausstellung im Institut informiert.28

Im Institut herrschte eine sehr produktive Arbeitsatmosphäre. Die erste bereits oben zitierte Arbeit über den Szintillationszähler wurde von Broser und Kall- mann bereits am 2. Mai 1947 wenige Wochen vor dem Vortrag von Kallmann in Dahlem eingereicht.29 Darin war das Naphthalin noch nicht erwähnt worden. In zwei ausführlichen Arbeiten berichteten sie auch über die Ergebnisse mit anderen Szintillatorsubstanzen wie Zn2SiO4, CaWO3 und organischen Szintillatoren und reichten diese am 27. Juni 1947 ein.30 In beiden zitierten Arbeiten wird in Zu- sammenhang mit den organischen Szintillatoren darauf hingewiesen, dass Lise- lott Herforth und Ursula Martius Messungen durchgeführt haben und dazu bereits eine weitere Arbeit im Druck sei.

Zur gleichen Zeit wurden auch in den USA Arbeiten zum Szintillationszähler durchgeführt. Auf dem Meeting der American Physical Society vom 19.-21. Juni 1947 hielten Marshall und Coltman vom Westinghouse Research Laboratory zwei Vorträge, deren Kurzreferate in den Physical Reviews publiziert wurden. Sie schrieben, dass dieser Detektor dem Geiger-Müller-Zählrohr überlegen sei, man α-, β-, γ-Strahlen und hochenergetische Elektronen, Protonen und Neutro- nen messen und dabei sowohl einzelne Impulse registrieren als auch bei hohen Intensitäten Ströme messen könne. Über das Detektormaterial wird in den Kurz- referaten noch nichts geschrieben. Ausführlicher publizierten sie im ersten Heft der im November 1947 neu herausgegebenen Zeitschrift Nucleonics31, wobei sie besonders auf die elektronische Schaltung, die Analyse der Pulshöhen und den Dunkelstrom eingingen und als Szintillator einen ZnS-Fluoreszenzschirm er- wähnten.

Im September des gleichen Jahres wurde auch ein Report der US- Atomenergiekommission von Curran und Baker vom 17.11.1944 mit dem Titel „A photoelectric alpha particle detector“ deklassifiziert und damit der Öffent- lichkeit zugänglich gemacht.32 Auch darin wird als Szintillator nur ZnS genannt. Somit wurde das Prinzip des Szintillationszählers mit SEV von Kallmann und den o.g. Autoren unabhängig voneinander erfunden, aber ein organischer Szintil- lator wurde erstmalig von Kallmann verwendet.

Es erscheint verblüffend, dass nach dem Kriege bei der Überführung der großen wissenschaftlichen Kapazitäten der USA in die zivile Kernforschung der die Messung von Radioaktivität revolutionierende organische Szintillator nicht dort, sondern unter den extrem ungünstigen Bedingungen im KWI von Kallmann ent- deckt wurde. Seine breiten wissenschaftlichen Kenntnisse ermöglichten ihm eine

– 123 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 intensive geistige Durchdringung der von ihm erkannten Probleme, wobei ihn die beschränkten experimentellen Möglichkeiten zwangen, die einzelnen Versuche sehr intensiv zu durchdenken.

Martin Deutsch sichert in den USA Kallmanns Priorität

Ein amerikanischer Chemiker brachte die Nachricht über den Vortrag und wahr- scheinlich noch weitere Informationen zu dem im Massachusetts Institute of Technology (M.I.T) tätigen Kernphysiker Martin Deutsch.33 Dieser wiederholte umgehend die Versuche von Kallmann, bestätigte die Ergebnisse und fasste an- gesichts der großen Bedeutung dieser Entdeckung darüber einen internen Insti- tutsbericht ab, den er persönlich an interessierte Kollegen verteilte. Um die Priorität der Entdeckung durch Kallmann nicht zu gefährden, hat er, bevor er seine Ergebnisse in der Zeitschrift Nucleonics publizierte, die Publikation von Kallmann in einer Fachzeitschrift abgewartet.34 Martin Deutsch schrieb mir:

Vielen Dank für Ihre Arbeit über den Beitrag von L. Herforth zu der Entwicklung der Szintillationszähler. Sie haben sicher Recht, dass sie nicht genug Anerken- nung gefunden hat. Das ist wohl zum Teil das Resultat der politischen Entwick- lung in Mitteleuropa nach 1933. Mein Laboratoriumsbericht, den Sie erbeten, wurde geschrieben, um eben solchen Situationen vorzugreifen. Ich werde versu- chen ein Exemplar für Sie aufzutreiben. … Eines Tages, in 1947, sprach mich ein Kollege im Korridor des M.I.T an. Er war Chemiker, Ordinarius, beträchtlich älter als ich und arbeitete gelegentlich als wissenschaftlicher Berater für die U.S. Be- satzungskräfte in Deutschland. Er zeigte mir ein hektographiertes Manuskript mit der Erklärung, dass jemand in Deutschland wissen wollte ‚ob da was dran ist’.

Es war die Arbeit von Kallmann, die Sie zitieren. Zu der Zeit arbeitete ich gerade an dem Problem, Detektoren mit kürzerer Zeitauflösung als die üblichen Gaszäh- ler zu entwickeln und hatte einen Studenten der mit Photomultiplikatoren arbeite- te. Ich ging sofort zum Drugstore und kaufte eine Schachtel Mottenkugeln. In zwei Wochen hatten wir uns überzeugt, dass die Ausbeute für typische Gamma- strahlen die von Geigerröhren um eine Größenordnung überstieg und dass die Zeitauflösung besser als 0.1 Mikrosekunde war. Ich sah sofort die große Nütz- lichkeit des Instruments und wollte so schnell wie möglich die Aufmerksamkeit anderer Kernphysiker darauf lenken. Das Einfachste wäre ein "letter to the editor" in der Physical Review gewesen, aber ich fürchtete, dass das dann routinemäßig als Quelle für die Entdeckung zitiert würde. Ich schrieb und hektographierte (lan- ge bevor es Xerox gab) daher einen internen Laboratoriumsbericht, der ja nicht als Veröffentlichung zählt, da er nicht automatisch allgemein erhältlich ist. Das wur- de dann, zusammen mit einer Kopie von Kallmanns Dokument, welches ich von meinem Kollegen bekommen hatte, an alle mir bekannten interessierten amerika-

– 124 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 nischen Physiker (damals eine kleine Zahl) geschickt. Das Manöver war erfolg- reich: Obwohl ich in den folgenden Monaten mehrere, nicht ganz unbedeutende kernphysikalische Resultate unter Anwendung von Szintillationszählern veröf- fentlichte, verstanden die Leute doch, dass Kallmann und nicht ich die Methode eingeführt hatte.

Viel später – ich glaube es war in den siebziger Jahren – gab es noch eine uner- wünschte Sequäla. Der Gebrauch von organischen Szintillatoren wurde nämlich in den USA (ich glaube von Pringl und Standil) patentiert und prinzipiell müsste jeder, der einen solchen Zähler herstellt, den Patentinhabern etwas zahlen. Natür- lich wurde dieses Patent angefochten, hauptsächlich auf Grund der früheren Ver- öffentlichung. Da mein Rundschreiben nicht eine Veröffentlichung darstellte, suchte man das früheste Dokument von Kallmann. Ich verfolgte diese Sache nicht weiter. Auf jeden Fall war die Anfechtung erfolglos.35

Detaillierte Untersuchungen organischer Szintillatoren

Im Jahre 1947 war Liselott Herforth, die bei Hans Geiger über Zählrohre diplo- miert hatte, mit der Messung der Radioaktivität Erfahrung besaß und in den Kriegsjahren in verschiedenen Industriebetrieben und Universitätsinstituten tätig gewesen war, zu Kallmann gekommen. Sie sollte die Vorgänge bei der Szintilla- tion von fluoreszierenden aromatischen Verbindungen systematisch untersuchen und die Bedingung für eine möglichst hohe Lichtausbeute ermitteln.

Sie suchten erst nach der Ursache für die unterschiedlichen Lichtausbeuten bei Naphthalin verschiedener Herstellerfirmen, erkannten dabei, dass die Lichtaus- beute von der Reinheit des Naphthalins abhängt und stellten durch bestimmte Beimengungen eine Szintillationslöschung fest, die in der Folgezeit Quenchung genannt wurde. Diese spielt eine große Rolle in der Flüssigszintillationsspektro- metrie (LSC). Da das ursprünglich zum Umkristallisieren benutzte Tetrachlorme- than, wegen dessen starken Löschwirkung ungeeignet war, benutzten sie stattdessen Methanol und Glykol. Für die Aufnahme von Quenchkurven wird noch heute Tetrachlormethan wegen dessen starken Löschwirkung verwendet.

Da im Vergleich zum ZnS(Ag) die relative Lichtausbeute von Naphthalin für α- Strahlen nur 1.4%, aber für β-Strahlen 233% beträgt, ist das Naphthalin beson- ders zur Messung der β-Strahlung geeignet. Die im Vergleich zur absorbierten Energie geringere Lichtausbeute des Naphthalins bei Anregung durch α- Strahlung erklärten sie mit einer durch die höhere Ionisationsdichte verursachte Eigenlöschung. Sie fanden, dass außer Naphthalin auch andere aromatische Koh- lenwasserstoffe als Szintillatormaterial geeignet sind. In gemeinsamen Experi-

– 125 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 menten bestimmten Broser, Herforth, Martius und Kallmann36 das unterschiedli- che Abklingverhalten der Photonenemission nach Absorption von α- und β- Strahlung. Auf diesem Unterschied beruht die in den letzten Jahren in kommerzi- elle Geräte eingeführte α/β-Diskriminierung, die eine selektive Messung α- strahlender Nuklide ermöglicht.

Herforth fand heraus, das die Photonenausbeute mit der Temperatur stetig ab- nimmt, beim Schmelzen auf einen sehr geringen Wert absinkt und beim Wieder- erstarren nur einen Bruchteil des Ursprungswertes erreicht. Bei der Messung der Szintillationsausbeute der flüssigen Verbindungen Diphenyl und Phenanthren fand sie nur ungefähr 6% bzw. 15% der Ausbeute der sublimierten Substanzen.37 Die geringere Lichtausbeute in der Schmelze erkannten sie als Folge einer Kon- zentrationslöschung wie sie schon bei der Fluoreszenzanregung mit UV-Licht gefunden wurde. Bei optisch angeregter Fluoreszenz dieser Stoffe in Lösung war bei wachsender Konzentration der arteigenen Moleküle bereits eine starke Auslö- schung beobachtet worden.38 Auf diese Weise erklärten sie die geringere Licht- ausbeute von geschmolzenen reinen Szintillatoren und zeigten den Weg zur Erhöhung der Lichtausbeute bei flüssigen Szintillatoren. Das Problem wurde spä- ter von Kallmann durch geeignete Verdünnung der fluoreszierenden Substanz gelöst.

Liselott Herforth fasste die Arbeiten zu den organischen Szintillatoren in ihrer Dissertation zusammen.39 In einer Arbeit, die sie nach ihrer Dissertation und dem Weggang von Kallmann anfertigte, bestimmte sie Fluoreszenzspektren und Lichtausbeuten weiterer kondensierter aromatischer Verbindungen.40 Lieselott Herforth hat bald nach ihrer Promotion das Institut verlassen und danach auf den Gebieten angewandte Radioaktivität und Strahlenschutz gearbeitet. Sie hat viele Jahre als Direktorin des Institutes für Strahlenschutzphysik der Technischen Uni- versität Dresden gewirkt und sich besonders mit der Weiterentwicklung von Thermolumineszenzdetektoren beschäftigt. Daneben war sie von 1965-1968 Rektorin der TU Dresden.41

Kallmann hat die mit seinen Mitarbeitern im KWI durchgeführten Arbeiten in einem Beitrag in den Physical Reviews42 zusammengefasst, durch weitere Unter- suchungen ergänzt und dabei auch die inzwischen von seinen amerikanischen Kollegen auf diesem Gebiet publizierten Arbeiten zitiert.

Die SEVs haben auch einen Nachteil. Unter der Wirkung der angelegten Span- nung werden von der Fotokathode auch dann Elektronen freigesetzt, wenn auf sie kein Licht fällt. Dieser mit der Temperatur ansteigende Dunkelstrom liefert einen lästigen Untergrund, der vor allem die Messung niederenergetischer Strah-

– 126 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 ler stört. Sie behalfen sich im KWI damit, dass sie den SEV kühlten, um die durch thermische Bewegung verursachte spontane Freisetzung von Elektronen zu verringern. Eine bessere Lösung demonstrierte Kallmann dann nach seiner Emi- gration in die USA.

Die Resonanz von Kallmanns Arbeiten in den USA

Unmittelbar nach dem Deutsch die Arbeiten von Kallmann und seiner Mitarbei- ter in den USA bekannt gemacht hatte, wurden sie in verschiedenen Instituten der USA sehr schnell aufgegriffen. Es wurden nicht nur andere organische Ver- bindungen ausprobiert, sondern auch fluoreszierende anorganische Stoffe auf ihre Eignung als Szintillator geprüft. P.R. Bell vom Oak Ridge National Labora- tory beginnt einen Artikel über den Einsatz von Anthrazen als Szintillationszäh- ler, den er am 19.4.1948 eingereicht hatte:

Die Methode der Zählung ionisierender Strahlung durch photoelektrische Mes- sung von Fluoreszenzlichtimpulsen, die durch verschiedene organische Substan- zen ausgesandt werden, hat als erstes H. Kallmann gezeigt und M. Deutsch bestätigt.43

Er bemerkte, dass beide in erster Linie Naphthalin als Szintillatoren verwende- ten, als Alternative aber unter anderen Aromaten auch Anthrazen vorgeschlagen hatten. Er hat auch die von schnellen Neutronen produzierten Rückstoßprotonen nachgewiesen und damit jenes Experiment durchgeführt, das Kallmann schon während des Krieges vorschwebte. Feazel und Smith vom Applied Physics Labo- ratory der John Hopkins University beschrieben ausführlich eine Vorschrift zur Herstellung von Kristallen aus Naphthalin und Anthrazen für Szintillationszäh- ler, was darauf hinweist, dass auch in diesem Institut am gleichem Thema gear- beitet wurde.44 Kommerziell erhältliche Szintillationszähler mit Anthrazenkristallen gehörten mehrere Jahre zur Standardausrüstung radiochemi- scher Laboratorien, bis sie durch Flüssigszintillationszähler bzw. in Polystyren gelöste stärker fluoreszierende Substanzen abgelöst wurden. Über einen Vortrag von Collins und Hoyt auf dem Jahresmeeting der Amerikanischen Physikali- schen Gesellschaft 1948 lesen wir im Kurzreferat, dass mit den Betastrahlen des Radiums die Szintillatormaterialien BaSO4 mit 5% PbSO4, Anthrazen, Naphtha- lin und Biphenyl erprobt wurden 45

Robert Hofstadter hat 1948 den mit Thallium aktivierten Natriumiodidkristall in die Gammastrahlungsmesssung eingeführt.46 Auf einem Szintillations- und Halb- leiter-Symposium im Dezember 1974 sprach er über “25 Jahre Szintillationszäh-

– 127 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 ler”47 und würdigte Kallmann, der den ersten Szintillationszähler mit Naphthalin entwickelte. Hofstadter hatte von Kallmanns Arbeit mit Naphthalin auf einem Vortrag von Martin Deutsch gehört. Hofstadter besaß einen Kaliumiodidkristall mit einer geringen Thalliumverunreinigung, der bereits 1938 hergestellt worden war. Er hielt ihn wegen der hohen Dichte besonders für die Messung von γ- Strahlen als Szintillator für günstig und hatte auch sofort Erfolg. Wegen der Ra- dioaktivität des Kaliums stellte er daraufhin thalliumhaltige NaI-Kristalle her. NaI(Tl)-Szintillationsdetektoren wurden in den Laboratorien viele Jahre zur Gammaspektrometrie benutzt. Jetzt finden sie vorwiegend in Gammakameras Anwendung. Nicht immer wurde in der Folgezeit Kallmann zitiert. In einem Vor- trag von C.-T. Peng über die Geschichte der Flüssigszinillationsspektrometrie (LSC) wurde Kallmann nicht erwähnt.48

Die Entdeckung der organischen Szintillatoren hinterließ in den USA einen star- ken Eindruck. Sie war Anlass vom folgenden Jahr an, aller zwei Jahre ein Sym- posium über Szintillationszähler durchzuführen, das später als Symposium für Kernforschung weitergeführt wurde.

Kallmanns Forschungen in den USA

Kallmann war von der Haltung seiner Kollegen zu den Verbrechen der national- sozialistischen Herrschaft so enttäuscht, dass er nicht mehr in Deutschland blei- ben wollte.49 In einer Biographie über James Franck schreibt Jost Lemmerich, dass Kallmann „empört über den wiederaufkommenden Antisemitismus nach Amerika gegangen“ ist.50 Klaus Hentschel schreibt von einer „Persilscheininfla- tion“ zu jener Zeit.51

Kallmann ging im November 1948 unmittelbar nach der Promotionsprüfung von Liselott Herforth in die USA. Seine Mitarbeiterin Ursula Martius ging nach ihrer Promotion 1949 nach Kanada, wo sie als Professorin so erfolgreich wirkte, dass man eine Akademie nach ihr benannte. Aus Kallmanns Umgebung ging auch Rudolf Frerichs in die USA, wo er in Illinois CdS nicht als Szintillatormaterial, sondern direkt als Halbleiter zur Strahlungsmessung verwendete.

Die große Beachtung der Entdeckung der organischen Szintillatoren bewog das U.S. Signal Corps, Kallmann auf Empfehlung von Martin Deutsch in die USA einzuladen. Er war daraufhin ein Jahr in den Signal Corps Engineering Laborato- ries der US Army, New Jersey (SCEL) tätig, wo er mit Carl A. Accardo ein Ko- inzidenzverfahren entwickelte.52 Sie ordneten an einen Stilbenkristall als Strahlungsdetektor drei SEVs an und akzeptierten im Zähler nur solche Signale,

– 128 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 die gleichzeitig in allen drei SEVs registriert wurden und demnach in erster Linie aus dem Szintillationskristall und nur mit geringster Wahrscheinlichkeit von zu- fällig in allen drei SEVs gleichzeitig erfolgten elektronischen Rauschereignissen stammen konnten. Damit konnte der Untergrund, dessen Signale größtenteils vom Rauschen stammen, um drei Größenordnungen unterdrückt und auch die lichtschwache Szintillation niederenergetischer Betastrahler gemessen werden.

Flüssigszintillationszählung

1950 ging Kallmann an die New Yorker Universität (Washington Square College of Arts and Science, New York University, New York), wo er ein Labor für Strahlung und Festkörper einrichtete. Da er mit Herforth festgestellt hatte, dass geschmolzene Aromaten prinzipiell zur Szintillation geeignet, aber wegen starker Selbstlöschung die Lichtausbeuten geringer als die der festen Verbindungen sind, untersuchte er Lösungen von höheren in niederen Aromaten und fand dabei wie erwartet höhere Lichtausbeuten.53 Damit war der Weg für die Entwicklung der Flüssigszintillationszählung (Liquid Scintillation Counting, LSC) frei.

Kallmann bearbeitete dieses Gebiet mit Milton Furst umfassend. Die Arbeiten wurden weiterhin von den SCEL finanziert. Sie bestimmten die Szintillatoreigen- schaften einer großen Zahl von Flüssigkeiten und Lösungen. Die in Berlin von Kallmann und seinen Mitarbeiten bereits angesprochenen Prozesse, die beim Energietransport von der ionisierenden und anregenden Strahlung über ionisierte und angeregte Moleküle bis zur Emission der Fluoreszenzstrahlung stattfinden, hat er mit Milton Furst ausführlich behandelt.54 Er untersuchte reine Flüssigkei- ten als auch Lösungen, denen höhere Aromaten in geringen Konzentrationen zu- gesetzt waren. Er zitiert dabei auch eine kleine kurz zuvor publizierte Arbeit von Reynolds und Mitarbeitern über die Messungen einiger aromatischen Flüssigkei- ten und Lösungen mit einer Koinzidenzeinrichtung.55 Über Lichtausbeuten von weiteren Lösungsmitteln und Lösungen im Vergleich mit einem Anthrazenkri- stall berichteten Kallmann und Furst 1951 in Nucleonics. In den folgenden Ar- beiten beschäftigte sich Kallmann verstärkt mit dem Mechanismus des Energietransports in Flüssigkeiten, wobei er als Lösungsmittel Toluen und Xylen am geeignetesten hielt.56

In der Folgezeit wurde die Lichtausbeute flüssiger Szintillatoren derart gestei- gert, dass sie die der reinen festen Szintillatoren übertraf, was dazu führte, dass heute mehr Betastrahlungsmessungen mit flüssigen Szintillatoren als mit Zähl- rohren durchgeführt werden. Auch Raben und Bloembergen verwendeten Lö- sungen höherer Aromaten in niederen Aromaten als Szintillationsflüssigkeit,

– 129 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 erreichten mit 5g/l Terphenyl in Xylol die Lichtausbeuten von kristallisiertem kondensierten Aromaten und konnten damit 14C direkt in der Lösung messen.57 Mit einem Gemisch von Toluen und Ethanol, in dem geringe Mengen Wasser löslich sind, konnten Hayes und R.C.Gould 3H-markierte wässrige Proben direkt mit dem organischen Szintillator mischen.58 Kallmann führte dann Dioxan als Scintillatorlösungsmittel für die Messung wässriger Proben ein.59

In mehreren Arbeitsgruppen in den USA wurden neue Lösungsgemische erprobt. Eine neue Qualität wurde mit einer Lösung von Diphenyloxazol (POP) in Xylen erreicht.60 In den frühen fünfziger Jahren synthetisierten Hayes und Mitarbeiter vom Los Alamos Scientific Laboratory Hunderte von arylsubstituierten Hetero- cyclen, studierten ausführlich die Beziehung zwischen chemischer Struktur und Szintillationseigenschaften und sie fanden die höchste Lichtausbeute mit einem ternären Gemisch aus 2,5-Diphenyloxazol (POP) und 1,4- bis 2-(5- Phenyloxazolyl)-Benzene (POPOP) in Toluen oder Xylen. Diese Gemische wa- ren bis das giftige Toluen abgelöst wurde über Jahrzehnte die am häufigsten ver- wendete Szintillatorlösungen.

Grundlagen der organischen Licht emittierenden Dioden (OLED)

In seinem Laboratorium beschäftigte sich Kallmann auch mit den optischen und elektrischen Eigenschaften von anorganischen und organischen Substanzen. Mit Pope entdeckte er 1960 die energetischen Bedingungen für Kontaktelektroden zur Injektion von Löchern und Elektronen in organischen Substanzen. Diese Elektrodenkontakte sind die Grundlage aller molekularen und polymeren organi- schen Licht emittierenden Dioden, wobei die energetischen Bedingungen für die Konstruktion der OLEDs eingehalten werden müssen. Mit Magnante untersuch- ten sie auch die Elektrolumineszenz von mit Tetrazene dotierten Anthrazenkri- stallen.61

1968 ging Kallmann nach seiner Pensionierung wieder nach Deutschland und bekam eine Gastprofessur und Arbeitsmöglichkeiten an der TU München. Auf Initiative seines Schülers Broser wurde er 1971 Ehrendoktor der FU Berlin. 1978 starb Kallmann in München im Alter von 82 Jahren.

– 130 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Entwicklung kommerzieller Geräte für die LSC

Die große Zahl der zu messenden Proben und die Möglichkeit, das Messvolumen zu standardisieren, stimulierte die Entwicklung von automatischen Probenwechs- lern. Es kamen bald mehrere Firmen auf den Markt, die mit Probenwechslern versehene hochentwickelte LSC-Geräte anboten. Nachdem auf dem Markt eine gewisse Sättigung eingetreten war, verringerte sich die Zahl solcher Firmen wie- der. Die Entwicklung einer dieser Firmen beschreibt Rheinberger am Beispiel der Fa. Packard.62

Breite Anwendung der Szintillatoren auch nach der Entwicklung von Halb- leiterdetektoren

Ein organischer Szintillator in Kombination mit einem Gammastrahlungsdetektor eignet sich besonders gut für die Messung von Nukliden, die gleichzeitig β- und γ-Strahlen emittieren. Nach diesem Prinzip der β,γ-Koinzidenzspektrometrie kann gleichzeitig der Umgebungsuntergrund um zwei bis drei Größenordnungen verringert werden. Das Wissen um den Energietransport bei den flüssigen Szin- tillatoren wird auch für die Herstellung fester Lösungen der Szintillatorsubstan- zen POP und Dimethyl-POPOP in Polymeren genutzt, aus denen man Folien und Körper in verschiedenen Formen herstellt.

In der Gammaspektrometrie werden Platten aus einem solchen Polymer um die Bleiabschirmung herum angeordnet, um den Einfluss der Myonen als intensivste Komponente der Höhenstrahlung zu reduzieren, indem alle gleichzeitig im Szin- tillatormantel und im Germaniumdetektor registrierten Ereignisse mit Hilfe einer Antikoinzidenzschaltung ignoriert werden. Aus besonders großen Platten von ca. 10 cm Dicke und mehreren Metern Länge und Höhe werden Freimessanlagen und LKW-Schleusen aufgebaut, um zu sichern, dass Material, welches eine An- lage verlässt, vorgegebene Grenzwerte der Radioaktivität nicht überschreitet.

Für extrem empfindliche Messungen im Rahmen der Elementarteilchenphysik werden eine Vielzahl großer LSC-Einheiten zusammengestellt, wobei alle Mate- rialien so ausgewählt werden, dass sie recht wenig natürliche Radioaktivität ent- halten. Um die Wirkung der Höhenstrahlung auszuschließen, werden sie in Messlabors mit kilometerdicker Gesteinsabschirmung untergebracht. An solchen unter dem Namen BOREXINO bekannten Experimenten hat auch M. Deutsch bis zuletzt mitgearbeitet.

– 131 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Summary

Hartmut Kallmann with his colleagues and assistants did a number of pioneering work in physics: quantum mechanic description on transfer of energy and charge over relatively long distances, the tandem-principle of accelerators, neutron radi- ography, organic scintillators, and organic light emitting diodes. This paper is focused on his discovery of organic scintillators. Working with neutron radiogra- phy during World War II he had the idea of direct counting of neutrons using an organic fluorescent compound like naphthalene as scintillator. After the war, he created independently with scientists from the USA the scintillation counter with a photo multiplier tube. After successfully testing with ZnS(Ag), he demon- strated the possibility of counting β- and γ-radiation with naphthalene and other aromatic compounds as scintillators.

1 Grace Marmor Spruch, „obitaries Hartmut Kallmann,“ Physics Today, October 1978, 76. 2 Stefan Wolff, „Hartmut Kallmann (1896-1978) – ein während des Nationalsozialismus ver- hinderter Emigrant verlässt Deutschland nach dem Krieg,“ in: Dieter Hoffmann, Mark Wal- ter (Hg.), „Ausländische und rassistisch verfolgte Wissenschaftler im Dienst des Dritten Reiches,“ Göttingen (Wallstein) i.D. 3 Immanuel Broser, „50 Jahre Szintillationszähler,“ Phys. Blätter. 54 (1998), 935-937; sowie persönliche Mitteilungen. 4 Werner Stolz, Liselott Herforth, „Sechzig Jahre Geiger-Müller Zählrohr – Vierzig Jahre Szintillationszähler,“ Isotopenpraxis 24 (1988), 394-398. 5 Siegfried Niese, “The first paper about fluorescence of liquid biphenyl and phenanthren by fast electrons by Liselott Herforth and Hartmut Kallmann,” Radiocarbon 43 (2001), 125-126. 6 Hans-Jörg Rheinberger, „Putting Isotopes to work: liquid scintillation counters 1950-1970,” in: B. Joerges, T. Shin (ed.) “Instrumentation: between science, state, and industry” (Dor- trecht 2001), S. 143-174. 7 Hartmut Kallmann, B. Rosen, „Über den Durchgang von Ionen durch verdünnte Gase,“ Na- turwissenschaften 17 (1929), 709-710; dies., „Über den direkten Nachweis der durch Umla- dung entstanden Ionen,“ Naturwissenschaften 18 (1930), 355; dies., „Über die Bildung neutraler Teilchen hoher Geschwindigkeit durch Umladung“, Naturwissenschaften 18 (1930), 867-868. 8 Hartmut Kallmann, Fritz London, „Quantenmechanische Theorie der anormal großen Wir- kungsquerschnitte bei der Energieübertragung zwischen atomaren Systemen“, Naturwissen- schaften 17 (1929), 226-227. 9 Hartmut Kallmann, „Neue Versuche über den Durchgang von α-Teilchen durch Materie,“ Referat in Naturwissenschaften 9 (1921), 417-418.

– 132 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 10 Hartmut Kallmann, „Zur Theorie der Atomzertrümmerung durch Resonanz,“ Naturwissen- schaften, 20 (1931), 393-396. 11 Burghard Weiss, „Höchste Spannung – Fritz Haber, Hartmut Kallmann und das Tandem- Prinzip – Ein frühes Kapitel der Beschleuniger – Geschichte,“ Kultur & Technik, 1 (1997), 42-49. 12 Hartmut Kallmann, Ernst Kuhn, „Untersuchungen über die D-D-Kernreaktion,“ Naturwis- senschaften 25 (1937), 231-232. 13 Hartmut Kallmann, Ernst Kuhn, „Über die D-D-Kernreaktion,“ Naturwissenschaften 26 (1938), 106; dies., „Kernanregung durch schnelle Neutronen,“ Naturwissenschaften 26 (1938), 107-108. 14 Hartmut Kallmann, “Neutron Radiographie,” Research 1 (1948), March 1 (6), 254-260. 15 Harold Berger, “Neutron radiography,” Annual Review of Nuclear Science, 21 (1971), 335- 364; ders., “Advances in neutron radiographic techniques and applications: a method for nondestructive testing,” Applied Radiation and Isotopes, 61 (2004), 347-442. 16 Immanuel Broser, persönliche Mitteilung, Februar 2009. 17 Julius Elster, Hans Geitel, „Über die durch radioaktive Emanation erregte scintillierende Fluoreszenz der Sidot-Blende,“ Phys. Z. 4 (1903), 439-440; William Crookes, “The emana- tion of Radium,“ Proc. Royal Soc. A71 (1903), 405-408. 18 Boris Rajewski, „Anordnung zur Messung kleinster Lichtintensitäten,“ Z. Physik 63 (1930), 576; ders., „Weitere Erfahrungen mit dem Lichtzähler I. Teil. Beschreibung verschiedner Lichtzählertypen,“ Ann. Physik 20 (1934), 13. In den USA kombinierte Locher eine Fotoka- thode aus einem Alkalimetall und Anilinfarbstoff mit einem Zählrohr und konnte damit schwache Lichtintensitäten messen. Das Gerät fand in der Astronomie Anwendung (Gordeon L. Locher, “Photoelectric Quantum Counters for Visible and Ultraviolet Light. Part I,” Phys. Rev. 42 (1932), 525). Eine Kombination von Szintillator, Fotokathode und Zählrohr wurde auch von M.V. Scherb vorgestellt (Phys. Rev. 73 (1948), 86). 19 Adolf Krebs, „Ein Demonstrationsversuch zur Emanationsdiffusion,“ Ann. Physik 39, 5 (1941), 330-332. 20 Immanuel Broser, Hartmut Kallmann, „Über die Anregung von Leuchtstoffe durch schnelle Korpuskularteilchen I (Eine neue Methode zur Registrierung und Energiemessung schwerer geladener Teilchen),“ Z. Naturforschung, 2a (1947), 439-440; dies., „Die Bestimmung der Energie von α-Teilchen mit dem Kristall-Leuchtmassenzähler,“ Ann. Physik 6.3 (1948), 317-321). 21 Immanuel Broser, Hartmut Kallmann, „Anregung von Leuchtstoffen durch die energierei- chen Kerntrümmer der Uranspaltung,“ Ann. Physik 6.4 (1948), 85-89. 22 Hartmut Kallmann, Ruth Warminsky, „Über den Verstärkungseffekt der elektrischen Leitfä- higkeit von Cadmiumsulfid-Kristallen bei Bestrahlung mit α-Teilchen, Elektronen und γ- Quanten,“ Ann. Physik 6.4 (1948), 69. 23 Immanuel Broser, „Über die Anregung von Leuchtstoffen durch α-Teilchen,“ Dissertation TU Berlin-Charlottenburg, eingereicht 5.4.1948. 24 Als AIIIBVI-Halbleiter werden Kristalle aus chemischen Verbindungen je eines Elementes der 2. und der 6. Gruppe des Periodischen Systems der Elemente bezeichnet. Dazu zählt ne-

– 133 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 ben den altbekannten ZnO, ZnS und CdS auch das neuerdings für Halbleiterdetektoren und Fotovoltaikschichten eingesetzte CdTe. 25 Hartmut Kallmann, „Der Elementarprozess der Lichtanregung in Leuchtstoffen. – Über eine neue Methode der Zählung und Energiemessung geladener Teilchen.“ Vortrag auf dem Dah- lemer Kolloquium, 5. Juni 1947. Der Titel ist in Kallmanns Publikationsliste in der Personal- akte des KWI für physikalische Chemie und Elektrochemie / Fritz-Haber-Institut der MPG (Signatur: II. Abt., Rep. 22, PA Kallmann, 1947-48) angegeben. 26 Werner Bloch, „Kann man Elektronen sehen,“ Natur und Technik, 13 (1947), 15-17. 27 Hartmut Kallmann, Natur und Technik, Juli 1947, zit. nach Anm. 25 und 26. 28 Immanuel Broser, persönl. Mitteilung. 29 s. Anm. 20. 30 Immanuel Broser, Hartmut Kallmann, „Über den Elementarprozess der Lichtanregung in Leuchtstoffen durch α-Teilchen, schnelle Elektronen und γ-Quanten II,“ Z. Naturforschung, 2a (1947), 642-650; ders., „Die Bestimmung der Energie von Alphateilchen mit dem Kri- stall-Leuchtmassenzähler,“ Ann. Physik 6.3 (1948), 317-321. 31 Hugh Marshall, J.W. Coltman, “The Photo-Multiplier Radiation Detector,” Phys. Rev. 72 (1947) 528; J.W. Coltman, Hugh Marshall, “Some Characteristics of the Photo-Multiplier Radiation Detector,“ Phys. Rev. 72 (1947), 528; J.W. Coltman, Hugh Marshall, “Photo- Multiplier Radiation Detector,” Nucleonics, 1 (1947), 58-64. 32 Samuel Crowe Curran, W.R. Baker, “A photoelectric alpha particle detector,” US Atomic Energy Commission, Report MDDDC 1296, 17. November 1944, declassified 23. September 1947. 33 Martin Deutsch (29.1.1917-16.8.2002), Professor für Physik und führender Elementarteil- chenphysiker war 1935 mit seinen Eltern, den Psychoanalytikern Felix und Helene Deutsch aus Österreich in die USA emigriert. Aus Wolfgang L. Reiter, „1938 und die Folgen für die Naturwissenschaften,“ in: Friedrich Stadler (Hg.), „Vertriebene Vernunft, Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930-1940,“ (Münster 2004), S. 664-680, hier S. 671; Anonym, “Martin Deutsch, MIT physicist who discovered positronium, dies at 85,“ Nachruf des M.I.T vom 20. August 2002, M.I.T news office, http://web.mit.edu/newsoffice/2002/deutsch.html. 34 Martin Deutsch, “Naphthalin as Scintillator,” Mass. Inst. of Technology, Inst. of Nuclear Sciences, M.I.T. - I.N.S. Rept. No.3, Dez. 1947, “Naphthalin counters for β- und γ- radiation,” Nucleonics 2, 3 (1948) 58. 35 Martin Deutsch, E-Mail vom 23. April 2000. 36 Immanuel Broser, Liselott Herforth, Hartmut Kallmann, Ursula Maria Martius, „Über den Elementarprozess der Lichtanregung von Leuchtstoffen III: Die Anregung des Naphthalins (weitere Versuche mit dem Leuchtmassenzähler)“, Z. Naturforschung 3a, (1948) 6. 37 Liselott Herforth, Hartmut Kallmann, „Die Fluoreszenzanregung von festem und flüssigem Naphthalin, Diphenyl und Phenanthren durch Alphateilchen, schnelle Elektronen und Gam- mastrahlung,“ Annalen der Physik 6. 4 (1949), 231-245. 38 Theodor Förster, „Energiewanderung und Fluoreszenz,“ Naturwissenschaften 33 (1946), 166-175.

– 134 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 39 Liselott Herforth, „Die Fluoreszensanregung organischer Substanzen mit Alphateilchen, schnellen Elektronen und Gammastrahlen,“ Dissertation, Berlin-Charlottenburg, vorgelegt am 13.9.1948. 40 Liselott Herforth, „Die Fluoreszenzanregung organischer Substanzen durch Alphateilchen und Gammastrahlen,“ Ann. Physik, 6.7 (1950), 312-320. 41 Volker Schuricht, „Laudatio für das Festkolloquium anläßlich des 60. Geburtstages von Frau Prof. Dr.-Ing. habil. Dr. h. c. Liselott Herforth,” TU Dresden 1976. 42 Hartmut Kallmann, “Quantitative Measurements with Scintillation Counters,” Phys. Rev. 75 (1949), 623-626. 43 Persa Raymond Bell, “The Use of Anthracene as a Scintillation Counter,” Phys. Rev. 73 (1948), 1405-1406. 44 C.E. Feazel, C.D. Smith, “Production of Large Crystals of Naphthalene and Anthracene,” Rev. Sci. Instruments 19 (1948), 817-818. 45 George B. Collins, Rosalie C. Hoyt, “Detection of Beta-Rays by Scintillation,” Phys. Rev. 73 (1948), 1259-1260. 46 Robert Hofstadter, “Alkali Halid Scintillation Counters,“ Phys. Rev. 74 (1948), 100-101, eingereicht 20. Mai 1948. 47 Robert Hofstadter, “Twenty five years of scintillation couting,“ IEEE Trans Nucl. Sci 22 (1975), 13-35. 48 C.-T.Peng, “The History of Liquid Scintillation Counting,” 13th Int. Conf. on Advances in Liquid Scintillation Spectrometry, Vienna, 1992, edited by J. E. Noakes, F. Schönhofer, Ra- diocarbon, Tucson, Arizona 1993. 49 s. Anm. 2. 50 Jost Lemmerich, Aufrecht im Sturm der Zeit, der Physiker James Franck 1882-1964 (Diep- holz 2007), hier S. 303. 51 Klaus Hentschel, Die Mentalität deutscher Physiker in der frühen Nachkriegszeit (Heidel- berg 2005). 52 Hartmut Kallmann, Carl A. Accordo, “Coincidence Experiments for Noise Reduction in Scintillation Counting,” The Review of Scientific Instruments 21, 1, (1950), 48-51, Received August 1, 1949. 53 Hartmut Kallmann, “Scintillations counting with solutions,” Phys. Rev. 74 (1950), 621. 54 Hartmut Kallmann, Milton Furst, “Fluorescence of Solutions Bombarded with High Energy Radiation I (Energy-Transport in Liquids),” Phys.Rev. 79 (1950), 857-870. 55 George T. Reynolds, F. B. Harrison, G. Salvini, “Liquid Scintillation Counters,” Phys. Rev. Letters to the Editor, 79 (1950), 488. 56 Hartmut Kallmann, Milton Furst, “Fluorescent Liquids for Scintillation Counters”, Nucleon- ics, 8, March (1951), 32-39; dies., “Fluorescence of Solutions Bombarded with High Energy Radiation II (Energy-Transport in Liquids)”, Phys. Rev. 81 (1951), 853-864; dies., Nucleon- ics 8,3 (1951), 32; Milton Furst, Hartmut Kallmann, “High Energy induces Fluorescence in Organic Liquid Solutions III (Energy-Transport in Liquids),” Phys. Rev. 85 (1952), 816-825;

– 135 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 dies., “Energy Transfer by Means of Collision in Liquid Organic Solutions under High- Energy and Ultraviolet Excitations,” Phys. Rev. 94 (1954), 503. 57 M. S. Raben, Nicolas Bloembergen, “Determination of Radioactivity by Solution in a Liquid Scintillator,” Science 114 (1951), 363. 58 F. Newton Hayes, R.C.Gould, “Liquid scintillation counting of H-3 labeled water and or- ganic compounds,” Science 117 (1953), 480. 59 Hartmut Kallmann, Milton Furst, F. H. Brown, ”Increasing Fluorescence Efficiency of Liq- uid Scintillation Solutions,” Nucleonics 13, 4 (1955), 58. 60 F. Newton Hayes, Betty S. Rogers, Phylline C. Sanders, “Importance of Solvent in Liquid Scintillations,” Nucleonics, 13, 1 (1955), 46-48. Dazu auch Milton Furst, Helmut Kallmann, Felix H. Brown, “Increasing Fluorescence Efficiency of Liquid Scintillation Solution,” Nu- cleonics 13, 4 (1955), 58-60; sowie Helmut Kallmann, Milton Furst, “The Basic Processes Occurring in the Liquid Scintillators,” in: Carlos G. Bell Jr., and F. Newton Hayes (ed.), Liquid Scintillation Counting, Oxford 1958. 61 Hartmut Kallmann, Martin Pope, “Surface controlled Bulk Conductivity in Organic Crys- tals,” Nature, 31 (1960) 753; Martin Pope, Hartmut Kallmann, P. Magnante, „Electrolumi- nescence in Organic Crystals,“ Journal of Chemical Physics, 38 (1963), 2042-2043. 62 Hans-Jörg Rheinberger, “Putting Isotopes to Work: Liquid scintillation counters 1950- 1970,” in: B. Joerges, T. Shin (ed.), Instrumentation between science, state, and industry (Dortrecht 2001), S. 143-174.

– 136 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Richard May, Theodor Mariam, Oskar Falek: Schicksale jüdischer Chemiker in der Farbenfabrik Wolfen nach 1933

Dr. Peter Löhnert, Alte Leipziger Straße 70, 06849 Dessau-Roßlau,

Unsere bisherigen Untersuchungen aus den Jahren 1995 bis 1998 über die Be- schäftigung angestellter jüdischer Chemiker während der NS-Zeit in der Filmfa- brik Wolfen1 haben zur Erkenntnis geführt, dass in der Filmfabrik Wolfen trotz starken antisemitischen Drucks durch die NSDAP sehr lange an den jüdischen Mitarbeitern festgehalten wurde. Wir hatten herausgearbeitet, dass dieses bemer- kenswerte Verhalten im Zusammenhang zu sehen ist a) mit der Firmengeschichte. Die Farbenfabrik Wolfen (1895) und die Filmfabrik Wolfen (1909) sind Gründungen der Berliner Actien-Gesellschaft für Anilin- Fabrikation. Die Gründung der Actien-Gesellschaft selbst erfolgte 1873 auf der Basis von zwei Vorgängerunternehmen durch Carl Alexander Martius und Paul Mendelssohn-Bartholdy2. Das Kapital der Agfa wurde in hohem Maße von jüdischen Banken und Bürgern gehalten. Starke persönliche und gesell- schaftliche Beziehungen waren innerhalb der Agfa prägend. Durch Heirat in verschiedenen Generationen sind die jüdischen Familien Mendelssohn, Men- delssohn-Bartholdy, Oppenheim, Simson, Veit und Warschauer verwandt- schaftlich und finanziell verbunden. Diese Zusammenhänge können aber im Rahmen dieses Beitrages nicht dargestellt werden, hier muss auf ausgewählte Literatur verwiesen werden.3 Als 1933 die Nationalsozialisten die Macht über- nahmen, waren ehemalige jüdische Führungspersönlichkeiten aus der Agfa- Historie noch sehr bekannt, hatten hohes Ansehen und waren zum Teil für die I.G. noch tätig b) mit einer starken Persönlichkeit an der Spitze der Filmfabrik Wolfen, um anti- semitische NS-Provokationen abzuwehren. Das war seit 1932 Dr. Fritz Ga- jewski (1885-1965) in Personalunion4 mit mehreren Leitungsfunktionen in der verzweigten I.G.- Struktur. Gajewski hatte den 1929 verstorbenen Franz Opp- penheim, langjähriger Generaldirektor der Agfa, noch sehr gut gekannt und als Persönlichkeit geschätzt. Gajewski hatte auch in Königsberg bei einem jüdi-

– 137 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

schen Apotheker eine Lehre absolviert und hatte somit auch viele jüdische Mitbürger kennen und achten gelernt. Das mag der Hintergrund gewesen sein, für Gajewskis tolerante, aber auch ambivalente Haltung gegenüber seinen jü- dischen Mitarbeitern und der Distanziertheit zur antisemitischen Propaganda der Naziherrschaft5.

Nach unseren Arbeiten erschien eine Publikation über die Tätigkeit von Juden in der BASF6. In dieser ist auch Ernst Schwarz („Freund und Sekretär von Carl Bosch“) mit gewürdigt. Dieser ist wohl als erster Jude nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten aus einer hohen Führungsposition (Direktor und Vorsitzender der Sozialkommission) in der I.G. schon Ende 1933 in die USA zur I.G. Toch- tergesellschaft Agfa-Ansco Corporation emigriert. Dort hat er bis zum Kriegsein- tritt der USA gegen Deutschland im Dezember 1941 als Präsident der Gesellschaft gewirkt und sich hohes Ansehen erworben7. Von einer ähnlich frü- hen Emigration des jüdischen Vorstandsmitgliedes der Schering-Kahlbaum AG Berlin, Paul Neumann, im Jahre 1933 und dem Gesamtverhalten der Schering AG gegenüber jüdischen Führungskräften wird in einer neueren Arbeit berich- tet8.

In der hier vorgelegten Arbeit wird der Umgang der I.G.-Führung mit ihren lei- tenden jüdischen Mitarbeitern in der Farbenfabrik Wolfen vorgestellt. Möglich wurde diese Arbeit durch neue Aktenfunde im Landeshauptarchiv Sachsen- Anhalt, Abt. Merseburg (LHASA, MER) und insbesondere im Hoechster Werks- archiv.

Den unmittelbaren Anstoß zur Wiederaufnahme der Untersuchungen an dem Themenkreis erhielt der Verfasser durch die Publikationen von Stephan H. Lind- ner, der in seinen Veröffentlichungen sich sehr detailliert mit der Ausgrenzung und Verfolgung von jüdischen leitenden Angestellten im I.G Farben Werk Hoechst im Dritten Reich auseinandersetzt9 und eine gründliche Bewertung der Haltung und Motivation der I.G.-Führung für diese Zeit gibt.

Lindner verweist auch auf den jüdischen Direktor Dr. May der Farbenfabrik Wolfen und auf eine Akte im Werksarchiv Hoechst10, welche einen ausführlichen Briefwechsel zum Fall Dr. May enthält. Das war insofern überraschend, da in den Wolfen/Bitterfelder Archiven Akten zu Dr. May weitgehend fehlen und im LHASA, MER nur noch kleiner Bestand „Büro Dr. May“ existiert11. Dieser lässt nur wenige Aussagen über Mays Wirken zu.

Die Sammlung der Schriftstücke über Dr. May im Hoechster Archiv steht in dem Zusammenhang, dass die Farbenfabrik Wolfen in der I.G.-Struktur zur Sparte II gehörte. Diese stand unter Führung von Dr. Fritz ter Meer, welcher auch die

– 138 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Technische Kommission (Tea) leitete. Das für die Farbenfabrik Wolfen zustän- dige Vorstandsmitglied war Dr. Gustav Pistor, welcher sich in einer solchen wichtigen Frage, wie die Ablösung eines jüdischen Werkdirektors, mit dem Spar- tenführer ter Meer abstimmte. Das Auffinden der Hoechster Akte mit dem Schriftverkehr über Dr. May durch Stephan H. Lindner und sein Hinweis darauf in seinem Buch kann als ausgemachter Glücksfall gesehen werden.

Im Rahmen der hier vorgelegten Arbeit konnten auch drei Aktenhefter mit Per- sonalunterlagen über den jüdischen Chemiker Dr. Mariam im LHASA, MER gefunden und ausgewertet werden. Bei dieser Aktendurchsicht gab es einen Hinweis auf die Entlassung des jüdischen Chemikers Dr. Oskar Falek aus der Farbenfabrik Wolfen. Hierzu wurden nur wenige Informationen gefunden. Wie schon in unseren oben erwähnten Arbeiten können auch in diesem Beitrag keine kompletten Biographien wiedergegeben werden, die persönlichen Angaben blei- ben aufgrund der Quellenlage fragmentarisch. Die Betroffenen mussten sich mit dem Antisemitismus sowohl im Heimatort als auch an ihrer Arbeitsstelle ausein- andersetzen, allerdings in jeweils anderer Weise.

Vorliegender Artikel kann keine Gesamtdarstellung der antisemitischen Entwick- lung in Deutschland geben. Es wird auf die umfangreiche Literatur zu dieser Thematik verwiesen12.

Dr. Richard May

Richard May wurde am 17. September 1885 in Gerolshofen (Bayern) geboren. Seine Eltern waren der Kaufmann Levi May und Fanny May, geborene Hirsch13. Richard May studierte an der Technischen Hochschule in Aachen und schloss am 8. Juli 1908 mit dem Diplom ab. Am 5. Oktober 1910 erfolgte an der TH Aachen die Promotion zum Dr. Ing. mit einer Arbeit zum Thema „Die Beziehungen des Kamphers zur Apokamphersäure“, welche bei Professor Dannenberg angefertigt wurde14.

Am 1. April 1913 trat May eine Stelle in der Agfa Farbenfabrik Wolfen im Labor der Farbenabteilung an, in der Folge wurde er auch im Betrieb Triphenylmethan- farben eingesetzt15. Während des ersten Weltkrieges war er Leiter eines Farb- stoffbetriebes; nach dem Kriege Leiter einer Unterabteilung der Zwischenprodukte (Zwipro)-Abteilung und war mit der Umstellung auf Frie- densproduktion beauftragt. Zum Produktionsprofil gehörten Zwipros für Farb- stoffe und fotografische Entwickler. Im Weiteren wurde er auch Leiter des Chloralkali-Elektrolyse-Betriebes.

– 139 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

1922 wurde ihm die Leitung aller Zwipro-Betriebe und des Wissenschaftlichen Labors dieser Abteilung übertragen. Er erhielt Prokura (Löschung am 22. Mai 1936). 1923 wurde May zum stellvertretenden Direktor in der Agfa bestellt. Dr. May wurde später in einem Zeugnis bescheinigt, dass er „sowohl in wissen- schaftlicher als technischer Beziehung ein außerordentlich begabter Chemiker ist.“

Zum Ende des Jahres 1929 wurde der jüdische Direktor der Farbenfabrik Wol- fen, zugleich Vorstandmitglied der I.G, Dr. Arnold Erlenbach16, pensioniert. In seiner Abschiedsrede formulierte Erlenbach, dass nunmehr die Farbenfabrik Wolfen

unter die Leitung des hierfür vorgesehenen Herrn Direktor Dr. May kommt, wel- cher mit der ihm inne wohnenden Tatkraft und Sachkenntnis das Werksschiff si- cher weitersteuern wird, unter Aufrechterhaltung der bisher geübten wissenschaftlichen, technischen und sozialen Tradition.17

Damit wurde der Kompetenz von May Rechnung getragen und keine Führungs- persönlichkeit aus anderen I.G. Werken als Chef in Wolfen eingesetzt.

Abb. 1: Foto Dr. May in seinem Büro, ifm (Bildarchiv).

– 140 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Zum 1. Januar 1930 wurde Dr. May zum Direktor der Farbenfabrik Wolfen er- nannt, ohne dass er den Vorstandplatz in der I.G. von Dr. Erlenbach erben konn- te18. Nach der Pensionierung von Direktor Dr. Zacharias in Bitterfeld wurde May auch die Leitung der organischen Zwipro-Betriebe des I.G.-Werkes Bitterfeld zugeordnet. Die Farbenfabrik Wolfen wurde dem I.G.-Vorstandsmitglied Dr. Gustav Pistor in Bitterfeld unterstellt. Dr. May war Mitglied in zentralen Kom- missionen19 der I.G.: Zwiproprodukte-Kommission (Zetko), Lösungsmittel-Kom- mission (Löko) und Pflanzenschutzmittel-Kommission.

Dr. May war familiär nicht gebunden, war ein gut situierter Single und wohnte im Leipziger Norden in der Nähe des Gohliser Schlösschens.

Nach dem Amtsantritt wurde Dr. May relativ schnell mit Wünschen der Militärs der Weimarer Republik konfrontiert nach Chemieprodukten für eine eventuelle Kriegsführung. Eine Delegation des Heereswaffenamtes besuchte die Farbenfa- brik im März 1932 und interessierte für Verwendungsmöglichkeiten der Pro- duktpalette der Farbenfabrik.

Delegationsmitglied war auch ein Ministerialrat Dr. Zahn. Speziell die Besichti- gung der Nitrieranlagen fand Interesse und die Militärs äußerten sich sehr zufrie- den zu den Gesprächen. Der Chef des Heereswaffenamtes, Generalleutnant Bockelberg, schrieb am 31. März 1932 an die Direktion der Farbenfabrik:

Das Reichswehrministerium beehrt sich Ihnen für die freundliche Aufnahme und die reiche Belehrung, die sie den Offizieren anlässlich der Besichtigung Ihrer An- lagen am 14. 15. und 16. III. geboten haben, seinen verbindlichsten Dank auszu- sprechen.20

Nach der Machtergreifung durch die Nazis im Jahre 1933 geriet Dr. May in ex- ponierter Stellung sehr schnell in deren Blickfeld. Anfangs schien er noch Hoff- nung zu haben, ein klärendes Gespräch mit Nazifunktionären führen zu können. In einem von der Nationalsozialistische Betriebsorganisation (NSBO) Bitterfeld an ihn gerichtetes Schreiben vom 23.8.1933 hieß es:

Sehr geehrter Herr Direktor! Die in Aussicht genommene Unterredung zwischen Ihnen und Herrn Dr. Saenger kann erst stattfinden, wenn Herr Dir. Dr. Pistor vom Urlaub zurückgekehrt ist. Eine Mitteilung wird Ihnen von Herrn Dir. Dr. Pistor zugehen.21

Ob eine solche Unterredung stattfand, blieb offen. Der Vorgang ist aber bemer- kenswert. Dr. Saenger war Kreisleiter der NSBO Bitterfeld und als Chemiker in der Farbenfabrik beschäftigt. Er stand in der Firmenhierarchie sicher weit weg von Direktor May. Aber als politischer Funktionär der NSDAP konnte er sich

– 141 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

einem persönlichen Gespräch mit dem Firmenchef verweigern und wartete lieber auf das Vorstandsmitglied Pistor.

Auch an diesem Vorgang muss May stark empfunden haben, wie die neue Zeit in seinem beruflichen Umfeld wirkte. Es ist vorstellbar, dass er Verlust an Loyalität verspürte, vielleicht noch nicht in seinem Vorzimmer, aber bei verschiedenen Mitarbeitern und Führungskräften.

Um diese Zeit entschloss er sich, an seine Vorgesetzten heranzutreten mit dem Vorschlag, ihn von seinen Vertragsverpflichtungen zu entheben. Es hatte sich für ihn die Gelegenheit ergeben, sich an einer elektrotechnischen Firma in England vorteilhaft zu beteiligen. Sein Wunsch wurde abgelehnt und ihm wurde die feste Zusicherung gegeben, dass seine Stellung durch den Umbruch in keiner Weise gefährdet sei.

Hier war die I.G.-Führung in Bitterfeld/Wolfen noch optimistisch, die Propagan- da der NSDAP in den Werken und die Versuche, sich in die Führungsangelegen- heiten des Unternehmens einzumischen, in den Griff zu bekommen. Man hatte allen Anlass, sich mit Dr. Saenger zu beschäftigen. Dieser war in verschiedenen offiziellen Besprechungen Wortführer der nationalsozialistischen Sache. So auch am 7. August 1933 auf einer Beratung des kommissarisch amtierenden Nazi- Landrates Habild, in der es in großer Runde um Maßnahmen zur Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit22 ging. Saenger griff in seiner Funktion als NSBO- Führer mit Vorwürfen in polemischer und Ruf schädigender Weise die I.G. an. Seine Schlagworte waren u.a.: o Insgesamt verfehlte Personalpolitik der I.G. durch Entlassungen bei Arbeitern und Chemikern aus Profitstreben. Die vorhandenen Arbeitskräfte müssten zu viele Überstunden machen, statt bei der hohen Arbeitslosigkeit Neueinstellun- gen zu tätigen. o Falsche Strategie der I.G. bei Verkauf von Verfahren in das Ausland (Bezug- nahme auf die Standard-Oil-Verträge), deshalb Arbeitsplatzabbau. o Forderung nach Rückgängigmachung der Rationalisierungen der letzten Jahre zugunsten von Einstellungen

Die anwesenden Führungskräfte aus den Bitterfelder und Wolfen Werken (Dr. Bürgin, Dr. Kleine, Prof. Curschmann) trauten ihren Ohren kaum, was da Saen- ger vor großem Publikum vortrug. Der Vorstand der Bitterfelder/Wolfener I.G.- Werke hatte schriftlich und persönlich großen Aufwand zu treiben, diese An- schuldigungen bei allen möglichen Stellen in der Folgezeit wieder zu berichti- gen. War das Verhältnis zu Saenger bereits schon angeknackst, so ließen dessen

– 142 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

weitere Aktivitäten das Fass überlaufen. Ende September 1933 war man fest ent- schlossen, diesen Mann – um Ruhe zu bekommen – nach Döberitz bei Premnitz zu versetzen. Falls Dr. Saenger dem nicht zustimmen sollte, bliebe nur seine Ent- lassung übrig. Das gelang zunächst nicht, sondern zur Überwindung einer Ver- trauenskrise wurde Saenger in einen dreimonatigen Urlaub geschickt23.

Nun nutzte er eine NSBO-Führungsschule am 28. November 1933 und verbreite- te dort eine Art Denkschrift und startete damit neue Angriffe sowohl gegen die I.G. als auch gegen Persönlichkeiten. Er formulierte u.a.24:

Es wird für die Parteidienststellen von Interesse sein, zu wissen, dass ein Jude ei- nen sehr einflußreichen Direktorposten bei der I.G. Farbenindustrie inne hat. Es handelt um Direktor Dr. May. Er hatte in der vormals jüdischen Gründung „Agfa“ nicht nur die technische Leitung der Farbenfabrik Wolfen und der organischen Werke der Bitterfelder I.G. inne, sondern er ist einer der drei Männer der I.G., welche die Kalkulation des Leunabenzins zu überprüfen und zu überwachen ha- ben.25

Dieses Papier war selbst dem stellvertretenden Leiter der NSBO in Bitterfeld zu- viel. Er stellte es dem Sozialdirektor, Prof. Curschmann, zur Verfügung.

Saenger ließ keine Veranstaltung aus, um sich zu profilieren. Auf einer Bespre- chung beim Leiter des Sozialamtes der Arbeitsfront in Berlin kurz vor Weihnach- ten 1933 äußerte er sich über Dr. Pistor: Es sei zu empfehlen, die Post dieses „Schweinehunds“ polizeilich überwachen zu lassen. Die I.G. und auch Pistor seien verdächtig, Auslandsspionage (Wirtschaftsspionage) zu dulden26.

Bei den antisemitischen Querelen um seine Person als Direktor des Werkes mag es Dr. May sicher als besonderen Vertrauensbeweis durch die Ministerialbüro- kratie angesehen haben, dass Dr. Zahn im November 1933 bei ihm konkrete Rü- stungswünsche äußerte. Dr. Zahn trug eine Reihe Positionen vor. Es erfolgte eine Prüfung der Machbarkeit in der Farbenfabrik. Das Ergebnis wird in folgender Zusammenstellung verdichtet:

Ergebnis für Wolfen Fabrikbau für Oxol (Thioglykol = Vorprodukt für Lost) nicht realisiert Verfahren für Chlorazetophenon und Fabrikbau nicht realisiert Dokumente für Clarkherstellung an Auergesellschaft realisiert 1934 und Diskussion mit dieser über Perstoff, Oxol und Lost realisiert 1934 Fabrik für Stabilisatoren für Pulvermischungen (Zentralit I und II) realisiert 1936

Im Oktober 1934 gab es eine weitere Besprechung zwischen den Herren Zahn und May. Darin wurde der Bau einer Anlage für Diglykol in Wolfen vorange-

– 143 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

bracht. Diglykol wurde bereits in Ludwigshafen hergestellt und war unter dem Namen Glysantin als Kühlerschutzmittel auf dem Markt. Diglykol sollte als Er- satzstoff für Glycerin verwendet werden, das in Deutschland aus der Fettspaltung nicht in ausreichendem Maße für Nitrierzwecke zur Sprengstoffherstellung zur Verfügung stand. Diese Anlage wurde im Zeitraum März 1936-1938 gebaut. Di- nitrodiglykol kam als brisantes Mittel bei der Herstellung von Treib- und Spreng- ladungen zum Einsatz27. Was Dr. May damals nicht ahnen konnte: diese Kontakte zu Militärdienstellen sollten später noch eine ganz besondere Rolle spielen.

Dr. May blieb dennoch weiter in bedrängter Situation. Auch in anderen I.G.- Werken hatten Juden 1933/1934 mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. Beispiele bringt Stephan H. Lindner in seinem bereits erwähnten Buch über das I.G.-Werk Hoechst.

Auf Druck der Parteidienststellen hatte sich Dr. Pistor entschlossen, aus dem Verantwortungsbereich von Dr. May als Direktor alle Personal-Angelegenheiten herauszunehmen und diese in die Hände eines arischen Herrn zu legen. Das war Dr. Schöner, welcher schon seit 1930 die Stellvertretung von May inne hatte.

Dr. May sollte nun auch zeitweise aus der Schusslinie genommen werden. Dr. Fritz ter Meer beauftragte May im Zusammenhang mit der nächsten Ostasienrei- se des Kommerzienrates Hermann Waibel28 die Produktionsverhältnisse der chemischen Industrie in Japan und China zu betrachten. Insbesondere sollten die Fertigung von Schwefelschwarz und Indigofarben sowie deren Vorprodukte vor Ort und Stelle geprüft werden. Die Planungen gingen von einer fünfmonatigen Reise ab etwa Dezember 1934 aus. Im August 1934 wurde berichtet, dass May Vorbereitungsmaterialien studierte und Tea-Akten über Japan erhalten hatte. Am 7. November 1934 ging ein Schreiben von Dr. May an die Deutsche Länderbank:

Da ich heute eine größere Auslandsreise antrete, bitte ich sie, alle Mitteilungen an mich an meine Adresse nach Wolfen, Farbenfabrik zu richten, welche deren Wei- terleitung an mich wahrnimmt.29

Kurz vor der Reise erklärte er am 23.10.1934 noch seinen Austritt aus dem Ver- ein Deutscher Chemiker (VDCh) zum 31.12.193430. Die Reise dauerte bis Juli 1935. Die Ingenieurabteilung der Farbenfabrik hatte die Zeit der Abwesenheit von May genutzt, um sein Büro für einen Preis von RM 11.441,-- gründlich zu renovieren und modernisieren. Das wird ihn sicher erfreut haben, aber nicht lan- ge. Am 3. Oktober erschien im „Stürmer“ folgende Notiz:

– 144 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Bitterfeld. Der jüdische Direktor Dr. May von der Farbenfabrik Wolfen ist aus Ja- pan zurückgekehrt. Er hat in der Fabrik seine frühere Stelle wieder inne. Um ihm zu zeigen, wie hoch ihn die Firma schätzt, hat sie RM 10.000.-- zum Aus- und Umbau seines Büros ausgegeben. Die Arbeiter und Angestellten sind der Ansicht, dass dieses Geld nutzbringender angewandt hätte werden können.

Anfang Oktober 1935 lief im Hintergrund schon eine Kampagne gegen Dr. May. Das auf einer Sondersitzung des Reichstages anlässlich des Reichsparteitages der NSDAP in Nürnberg am 15. September 1935 erlassene „Reichsbürgergesetz“ und das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ zeigten schon Auswirkungen.

Ausgelöst wurde die Kampagne durch eine Anfrage aus dem Büro vom Beauf- tragten für Wirtschaftsfragen, Wilhelm Keppler31, aus der Reichskanzlei. Aktiv war hier der Adjudant Kepplers namens Kranefuß32. Dieser schrieb streng ver- traulich an Dr. Bütefisch, dem Geschäftsführer des Ammoniakwerkes Merseburg in Leuna. In dem Brief ging es um den eventuellen Einsatz des Juden Dr. May in der Farbenfabrik Wolfen bei strategischen Projekten der Kriegswirtschaft, insbe- sondere sei er als Leiter der geplanten Kampfgasfabrik vorgesehen. Bütefisch wurde gebeten, das nachzuprüfen und recht bald vertraulich das Ergebnis mitzu- teilen. Diese Verfahrensweise ist interessant. Bütefisch war strammes NSDAP- Mitglied und Mitglied der SS33. Es war klar, dass Bütefisch, das nicht ohne Pistor beantworten konnte. Über den Weg von Partei- und SS-Freund Bütefisch wurde das Problem breitgetreten.

So musste Dr. Pistor richtig stellen, dass in Wolfen keine Kampfgasfabrik ge- plant war und somit auch Dr. May nicht mit dem Aufbau befasst sein könnte. Allerdings würden in der Farbenfabrik Wolfen Vorbereitungen im Auftrage des Heereswaffenamtes laufen für geeignete Vorstufen und Zwischenprodukte. Als Leiter der Farbenfabrik und der Zwipro-Abteilung in Bitterfeld sei May mit der Überwachung der vorbereitenden Arbeiten aber einbezogen. Das betraf auch die Vorbereitung einer Anlage zu Diglykol-Herstellung. Auch kam von der Abwehr- stelle Berlin, Wehrkreiskommando III, die Anfrage ob es richtig sei, dass May als Volljude in den Vorstand der I.G. berufen werden solle und den Vorsitz der Zwischenprodukte-Kommission übertragen bekommt. Das war aber nicht ge- plant. Dr. Pistor musste erheblichen Aufwand zur Klar- und Richtigstellung der mündlich und schriftlich vorgetragenen Angriffe, die sich nicht nur gegen den Juden Dr. May richteten, sondern auch permanent den Vorwurf gegen die I.G.– Führung und natürlich auch gegen Pistor enthielten, Juden in Schutz zu nehmen.

Pistor hat sehr viele Gesprächsnotizen verfasst über seine Diskussionen mit den NS- und Militär-Dienststellen sowie auch über seine Besprechungen mit Dr.

– 145 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

May, die fast wörtlichen Charakter haben. Diese Informationen hat er auch in Vorstandskreise weiter gegeben, ein Indiz darauf, dass er doch unsicher war in der Behandlung des Problems.

In einer Denunziation war auch formuliert, dass May deshalb nach Japan ge- schickt worden sei, um ihn für die I.G. unentbehrlich zu machen. Besonders be- unruhigt war Pistor, dass Denunziationen zur Person May mit sehr detaillierten Kenntnissen unterlegt waren und er sehr im Zweifel war, ob Dr. S.34 der Infor- mant sei. Das wurde aber verneint. Pistor äußerte sich so, dass ein solcher De- nunziant ein großer Schädling der I.G. sei.

Das alles konnte Dr. May nicht verborgen bleiben. Es kam zu einem Gespräch zwischen Pistor und May am 1. Oktober 1935, in welchem May sehr offen seine Gemütslage ausbreitete. Das hat Pistor in einer längeren Notiz festgehalten, wel- che hier teilweise zitiert wird:

Herr Dr. May glaubt, dass die Lage der nichtarischen Rasse sich auf die Dauer in Deutschland immer mehr verschlechtern wird, und er weiß auch nicht, ob er dem seelischen Druck, den die hiermit im Zusammenhang stehenden Ereignisse auf ihn ausüben, auf die Dauer gewachsen ist. … Er sähe die Lage sehr schwarz.

Pistor informierte nun May über seine Gespräche mit Ministerialrat Dr. Zahn vom Heereswaffenamt. Aus diesen Gesprächen über militärische Anlagen ginge hervor, dass durch die gesetzlichen Maßnahmen der Einsatz von Dr. May sehr erschwert wäre und er seine Zweifel hätte, ob die Regelung bezüglich der Be- handlung der militärischen Fragen durch Herrn Dr. May so bleiben könnten, wie bisher geregelt.

Herr Dr. May meinte, dass er es mit seinem Stolz und seinem Selbstbewußtsein nicht vereinbaren könne, dass er eine Tätigkeit in zweiter Linie ausübe und sich von Aufgaben, die er heute hätte, zurückzöge.

Pistor stellte dar, dass die I.G. May als Person mit seinen Kenntnissen gern hal- ten wolle. May betonte aber, das durch dieses Bestreben durch seine Person kei- ne Schwierigkeiten entstehen sollten. May versicherte Loyalität gegenüber der I.G., auch wenn er nicht mehr in deren Diensten stehen würde.

Pistor erkundigte sich, zu welchem Schluss May aus dieser Situation gekommen sei.

May sagte, er könne nur zwei Möglichkeiten sehen, einmal, dass er in Pension ginge oder dass er sonst irgendwie für die I.G. im Ausland, wenn seine Stellung hier nicht mehr zu halten wäre, tätig sei. Er dächte dabei an eine Vertretung oder

– 146 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

an einen Beobachterposten und an sonstige Sonderaufgaben im Ausland. Vor al- lem schwebe ihm England, die Schweiz oder Amerika vor.

Pistor versicherte, Mays Kenntnisse wären am besten in demselben Wirkungs- kreis fruchtbar zu machen. Die I.G. würde zu ihm stehen und sich erkenntlich zeigen für die Dienste die May in langjähriger Aufbauarbeit geleistet hat.

Herr Dr. May war sehr dankbar und erleichtert über die Aussprache, die ich in dieser Weise mit ihm geführt habe. Wir beide sind der Ansicht, dass bei der etwas schwierigen Situation, die für beide Teile existiert, die offene Aussprache das richtigste sei.

Im Verlaufe des Monats Oktober 1935 führte Dr. Pistor weiter zahlreiche Ge- spräche mit militärischen Stellen, lobte Dr. May als einen der fähigsten Chemi- ker, verwies auf dessen Verdienste bei der Lösung schwieriger Aufgaben und suchte Verständnis bei diesen Gesprächspartnern für den weiteren Einsatz von Dr. May bei qualifizierten Aufgaben. Je weiter diese Bemühungen zeitlich fort- schritten, umso deutlicher wurde ihm gesagt, dass die Zeit für den Juden May vorbei sei, seine leitende Stellung fortzusetzen. Man sei entschlossen, mit der „Judenfrage“ aufzuräumen. Der Führer wünsche ausdrücklich, dass Juden keine leitenden Stellen hätten. Als Mitarbeiter in nach geordneten Stellen sei das denk- bar.

Auf der anderen Seite suchte Pistor Hilfe bei seinen Vorstandskollegen, infor- mierte diese über den Stand der Dinge und suchte nach Lösungsmöglichkeiten. So konsultierte er u.a. den Vorstandsvorsitzenden Dr. Schmitz und informierte den Aufsichtsratsvorsitzenden Prof. Dr. Bosch. Pistor wurde von Schmitz einge- weiht, dass der Posten eines technischen Beraters in Ostasien mit dem Sitz in Shanghai zu besetzen sei. Dabei sei auch der Name von Dr. May gefallen, der dafür für sehr befähigt gehalten würde. Dr. Pistor befragte daraufhin Dr. May, ob er bereit sei nach China zu gehen. Von dort aus sei der ostasiatischen Markt zu bearbeiten.

Herr Dr. May erwiderte, dass er einen solchen Vorschlag nicht annehmen könne, erstens wegen seiner alten Mutter, die einen solchen Entschluß nicht überleben würde, zweitens wegen der klimatischen Verhältnisse, die ihm nicht gut bekom- men wären, drittens weil er nicht glaubt, dass er bei einer Beschäftigung auf ei- nem solche Posten Befriedigung findet. Am liebsten würde er z.B in die Schweiz ziehen, um dort im Laboratorium für uns zu arbeiten und auf diese Weise seine Kraft für uns zur Verfügung zu stellen.

Pistor versuchte nun, Brücken zu bauen: Er meinte, dass auch für die Ostasien- aufgabe die Schweiz als Wohnsitz in Frage käme, da die ständige Anwesenheit

– 147 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

dort vielleicht nicht notwendig wäre. Bei einer Anwesenheit in Europa könnte auch ein Labor für ihn in Wolfen oder Bitterfeld und eine Unterkunft zur Verfü- gung gestellt werden. Dr. May lehnte das aber ab, da er selbstverständlich nicht gern, wenn er die Leitung niederlege, in Bitterfeld oder Wolfen bliebe. Pistor war sicher enttäuscht, dass er das Problem nicht vom Tisch bekam. Auch die Reakti- on von Vorstandskollegen war entsprechend. Hatte man doch gedacht, einen Su- pervorschlag gemacht zu haben.

Aus dem Vorstandskreis kam aber immerhin der Vorschlag, Dr. May in der Schweiz bei der befreundeten Firma Durand & Huguenin unterzubringen. Die Schweiz hatte aber ca. ein Jahr vorher die Vorschriften erschwert für die Ertei- lung von Aufenthaltsbescheinigungen für in der Schweiz arbeitende Ausländer. So musste sogar die Fa. Durand & Huguenin zum Zeitpunkt der Anfrage von Pistor einen ausländischen Mitarbeiter entlassen, dessen Bescheinigung abgelau- fen war und nicht verlängert wurde. Praktisch war nur die Niederlassung als Rentner in der Schweiz noch möglich. Wie sollte es nun im Falle May weiterge- hen?

Ab Mitte Oktober 1935 trat eine Scheinruhe bei den Aktionen gegen Dr. May ein, aber die Aktionen der Nazis gegen Juden zeigten auch bei Dr. May und beim I.G.-Vorstand Wirkung. Am 21. Dezember 1935 schrieb May an Pistor einen Brief:

Sehr geehrter Herr Doktor, Unter Bezugnahme auf die verschiedenen Unterredungen, welche ich in den letz- ten Wochen mit Ihnen und Herrn Dr. ter Meer gehabt habe, möchte ich Sie nach reiflicher Überlegung bitten, mich von meinem Posten zu entbinden. Ich benutze gern die Gelegenheit, um Ihnen für das mir jederzeit entgegenge- brachte Wohlwollen und die Förderung meiner Arbeit bestens zu danken. Mit freundlichen Grüßen bin ich Ihr ergebener R. May Ø Dr. ter Meer, Dr. Buhl

Das letzte dieser Gespräche fand am 20. Dezember 1935 in Frankfurt a. M. statt und führte zu dieser Einigung.

Als Antwort auf Mays Brief entwarf Pistor nun einen Brief an May. Diesen Ent- wurf sandte er am 23. 12. an Ministerialrat Dr. Buhl35 in Frankfurt a. M. Buhl wurde gebeten, diesen Entwurf zu prüfen und bald mit Herrn Dr. ter Meer zu be- sprechen. Der Briefentwurf enthielt u.a. folgende Passage:

Es wird uns außerordentlich schwer, daß Sie Ihre Tätigkeit in Wolfen, die Sie jetzt seit 23 Jahren in vorbildlicher und pflichtgetreuer Weise mit großem Erfolg aus- geübt haben, aufgeben, aber wir glauben Ihnen, daß die Gründe, die Sie und uns

– 148 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

zu dem Entschluß geführt haben, so schwerwiegend sind, daß wir diese Regelung für die beste Lösung halten. Auf jeden Fall möchten wir Ihnen im Namen unserer Gesellschaft herzlichsten Dank sagen für das, was Sie für uns und im besonderen für unsere Werke Wolfen und Bitterfeld getan haben, und der Hoffnung Ausdruck geben, daß auch das neue zwischen Ihnen und uns geschaffene Arbeitsverhältnis fruchtbringend sein möge.

Im Weiteren waren die Eckpunkte der Besprechung vom 20.12. festgehalten, die zu einem Vertragswerk ausgestaltet werden sollten.

Die Erarbeitung der nunmehr erforderlichen Papiere (Endfassung des o.g. Brie- fes, Entwürfe des Mitarbeitervertrages und Karenzschreiben) erfolgte ganz schnell, aber die Abstimmung innerhalb der I.G. und auch die Abstimmung mit Dr. May brauchte doch noch etliche Zeit, so dass das offizielle Ausscheiden von Dr. May aus der Direktorenfunktion und die Übergabe des Werkes an Herrn Dr. Schöner erst zum 1. März 1936 erfolgte36.

Herr Dr. May tritt nach freundschaftlicher Vereinbarung am 1. März d. J. von der Leitung der Farbenfabrik Wolfen und der Mainthal-Betriebe zu- rück, wird uns aber seine wertvollen Kenntnisse und Erfahrungen auch wei- terhin als Mitarbeiter zur Verfügung stellen. Bis auf weiteres wird die Leitung der Farbenfabrik Wolfen Herr Dr. Schö- ner übernehmen, und mit seiner Vertretung wird Herr Dr. Petersen betraut. Nach Vereinbarung mit der Zwischenprodukteabteilung Wolfen wird ab 1. März d. J. die Chlorelektrolyse und die Chlorverflüssigung der anorgani- schen Abteilung zugeteilt. gez. Dr. G. Pistor

Das Vertragswerk mit Dr. May (Mitarbeitervertrag und begleitende Schreiben) wurde auf den 31.1./15.2.1936 (hier Unterschrift Dr. May) datiert und von Dr. Pistor und Dr. Buhl unterzeichnet. Es waren fixiert:

A. Mitarbeitervertrag als technischer und wissenschaftlicher Mitarbeiter. Aufga- benstellungen sollten speziell die Betriebsgemeinschaft Mitteldeutschland be- treffen. Die I.G. behielt sich vor, auch weitere Aufgaben im In- und –Ausland zu übertragen. Dr. May behält seine Bezüge von 1935, die sich aufteilen in Jahresgehalt RM 25.000.-- Sondervergütung RM 39.500.-- Gesamt RM 64.500.-- Der Vertrag war fest auf unbestimmte Zeit abgeschlossen. Die Kündigung war erstmals möglich am 30.6.1938 zum 31.12.1938.

– 149 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

B. Nach Beendigung des Mitarbeitervertrages tritt der Karenzvertrag in Kraft, der bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres gilt. Das beinhaltete Geheimhaltung, die bei der I.G. üblich war und die Verpflichtung, in keine Dienste einer in- oder ausländischen Firma zu treten. In der Karenzzeit steht Dr. May bis zum Erreichen des Pensionsalters als Berater für besondere Aufgaben auf Anforde- rung zur Verfügung. Die Karenzvergütung sollte für die ersten 5 Jahre nach Beendigung des Mitarbeitervertrages RM 36.300.--/Jahr, für die restlichen Jahre bis zur Pensionierung RM 15.000,--/Jahr betragen. Mit Erreichung des 60. Lebensjahres tritt der Pensionsvertrag in Kraft unter Geltung der üblichen Karenzverpflichtungen. Pensionsanspruch: RM 15.000,- - pro Jahr.

Das waren komfortable Bedingungen und sollten Mays Schmerzen über die erlit- tenen Demütigungen lindern. Die vorliegende Akte „atmet“, dass die beteiligten Vorstandsmitglieder an dem Vorgang May diese Demütigungen durchaus nach- vollziehen konnten.

Dr. May nahm die Aufgaben des Mitarbeitervertrages sehr ernst und kam regel- mäßig nach Wolfen, um dort zu arbeiten. Das fiel missliebigen Parteigenossen natürlich auf. Ende September 1936 legte der Herr Kranefuß bei einer Bespre- chung in Berlin mit Pistor ein Schreiben der Geheimen Staatspolizei mit einer beiliegenden Anzeige vor. Darin war angezeigt, dass May auch jetzt noch diesel- ben Arbeiten erledige wie vorher, also auch kriegswichtige Angelegenheiten.

Pistor führte aus, dass May sehr eifrig wäre und jeden Tag in die Fabrik käme. Er habe ihm empfohlen, dass er ruhig einen Teil seiner Arbeit zuhause erledigen könne. May habe ihm gesagt, dass die gestellten Aufgaben noch nicht seinen Ar- beitseifer ausfüllten37. May habe den Wunsch geäußert, für die I.G. ins Ausland zu gehen.

Pistor beklagte die neuerliche Anzeige und würde es besser finden, wenn sich der Anzeigende direkt an ihn wenden würde. Er fand es unerträglich, jemand in der Fabrik zu wissen der hinter dem Rücken etwas zu erreichen suche. Kranefuß meinte, dass unter den Bedrohungen für das Vaterland von heute man von sol- chen Methoden nicht abgehen könne.

Pistor führte nun am 16.10.1936 wieder ein Gespräch mit May und teilte ihm die neuen anonymen Anschwärzungen und die geführte Diskussion mit. In Abstim- mung mit Herrn ter Meer legte Pistor Herrn May eine gewisse Zurückhaltung in seinem Kommen nach Bitterfeld und seiner Mitarbeit nahe. Das tägliche Hiersein hätte wahrscheinlich zu der falschen Auffassung über die Art der Arbeit von May geführt. Außerdem empfahl Pistor etwas mehr Zurückhaltung bei der Benutzung

– 150 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

des Autos. Weiterhin hatte Pistor mit ter Meer über Mays Wunsch gesprochen, für die I.G. in England zu arbeiten. Ter Meer würde aber kaum an eine solche Möglichkeit glauben. Dagegen wolle man an dem Mitarbeiterverhältnis festhal- ten. Dr. May beklagte, dass „Herren von anderen I.G.-Werken, z.B. Dr. Schwarz, Dr. Jacobi und Dr. Müller von der I.G. nach dem Ausland geschickt worden sind, während für ihn eine gleiche Regelung nicht möglich sein solle.“

Pistor blieb aktiv. Er suchte am 1. Dezember 1936 Kranefuß in seinem Büro in der Reichskanzlei auf und trug dort vor, dass in China sich die wirtschaftliche Lage, auch der chemischen Industrie sowie die politische Lage in den letzten zwei Jahren wesentlich verbessert haben. Die technische und kaufmännische Sparte der I.G. würden es als dringend geboten sehen, dass nochmals eine genaue Untersuchung der chemischen, insbesondere Farbenindustrie in China stattfindet. Alle Herren, die für eine solche Aufgabe in Frage kämen, sind wegen des Vier- jahresplanes unabkömmlich. Er brachte den Namen von Dr. May ins Spiel und zog alle Register, diesen als exzellenten Fachmann mit langjähriger Praxis für eine solche Aufgabe zu empfehlen. Es solle sich um eine zeitlich begrenzte Auf- gabe handeln. Kranefuß konnte sich diesen Argumenten nicht verschließen und wollte mit seinen Freunden, insbesondere mit Herrn Keppler, darüber sprechen. Nach drei Wochen erfuhr Pistor von Kranefuß das Resultat:

Danach würde eine unerfreulich lange Liste über die Beschäftigung von Juden aus der I.G. im Ausland vorliegen, obwohl die amtlichen Stellen dauernd gegen die Besetzung wichtiger Posten durch Juden vorgehen würden. Und jetzt stelle die I.G. wieder den Antrag „einen Volljuden mit eigenartigen Eigenschaften nach dem Ausland zu entsenden.“ Die Sache sei von grundsätzlicher Bedeutung und Staatssekretär Körner werde das dem Ministerpräsidenten vortragen.

So geschah es dann auch Anfang Februar 1937. Körner ließ über Kranefuß wis- sen, dass Göring es nach wie vor nicht gut heißen könne, wenn die I.G. Juden ins Ausland schicke, wie er überhaupt grundsätzlich gegen so ein Vorhaben sei. Aber er wolle keine unnötigen Hindernisse aufbauen, wenn es wirklich keinen Ausweg gebe. Körner glaubte herausgehört zu haben, dass Göring zwar bereit sei, der I.G. zu helfen, wenn aber etwas schief ginge, werde er allein der I.G. die Verantwortung zuschreiben.

Am 25. November 1937 bat Dr. May bei Dr. Pistor um ein Zeugnis über seine bisherige Tätigkeit bei der I.G. mit gleichzeitiger Angabe der Gründe, welche zur Enthebung von der innegehabten Stellung geführt hatten.

Dr. May wollte sich damit um eine Arbeitstelle bei einer englischen Firma be- mühen. Das belegen in der Tea-Akte die anliegenden Blätter mit Informationen

– 151 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

einer englischen Wirtschaftsauskunftei über die Fa. Union Rubber Co. Ltd. Nel- son Works, Lancashire. Diese Firma stellte Fahrradschläuche, Gummisohlen und -absätze usw. her

Ein solches von Pistor verfasstes, sehr gutes Zeugnis liegt im Entwurf in der Tea- Akte. Darin sind die fachlichen Leistungen und das langjährige Wirken sachlich richtig gewürdigt. Es steht auch darin, „da Herr Dr. May Nichtarier ist, haben wir in gegenseitiger Übereinkunft ihn von seinen Aufgaben als Leiter der Farbenfa- brik Wolfen entbunden, …“ Ob Dr. May dieses Zeugnis so erhalten hat und je verwenden konnte, ist nicht bekannt.

Pistor bezog andere Vorstandskollegen in das Auswanderanliegen von May ein. Er weihte in einem Schreiben vom 21.12.1937 Direktor Dr. Max Ilgner in Berlin in alle Vertragsverhältnisse mit Dr. May ein und erläuterte die Anliegen von May. Danach sollte ermittelt werden, ob die finanziellen Verpflichtungen der I.G. gegenüber May kapitalisiert werden könnten und er das ganze oder ein Teil des Kapitals nach England ausführen könne. Voraussetzung sei, er hielte seine Karenzverpflichtungen ein. Diese Prüfung führte aber zu keinem fassbaren Er- gebnis.

Erst vom 13. Mai 1938 gibt es wieder ein Schriftstück in der Tea-Akte: Ein Brief von Dr Bürgin38 an Dr. ter Meer. In diesem wird dargestellt, mit welchen Betrie- ben Dr. May nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst am 1. März 1936 noch in Berührung gekommen ist. Hier ist zu vermuten, dass diese Zusammen- stellung für die Militärbehörden benötigt wurde, da diese offensichtlich über die Ausreisewilligkeit von Dr. May informiert wurden. Darin wurde ausgewiesen, dass dieser bis ca. Februar 1938 an den Besprechungen der wissenschaftlichen Arbeiten der Farben- und Zwischenprodukte-Abteilung teilgenommen hatte. Weiterhin war die Beratung der Versuchsarbeiten auf verschiedenen Fachgebie- ten der Zwischenprodukte- und anorganischen Abteilung auch bis ca. Febru- ar/März 1938 ausgewiesen. Es waren keine Themen aus dem militärischen Komplex mehr dabei.

Am 2. Juni 1938 führte Dr. ter Meer in Frankfurt eine Besprechung mit Dr. May. Darin stellte ter Meer in Aussicht, die Übersiedelung von May bei den Behörden zu befürworten, falls zwei Voraussetzungen erfüllt werden:

 Die Union Rubber Co. Ltd. schließt mit May einen mindestens dreijähri- gen Vertrag ab, der ihm eine sichere Existenzmöglichkeit in England schafft.

– 152 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

 Die deutschen Devisenbehörden geben ihre unwiderrufliche für fünf Jahre gültige Zustimmung zur Transferierung einer Karenzzahlung an May für den Fall, dass May aus irgendwelchen Gründen seine Stellung bei Union Rubber verliert. Die Höhe der Karenzzahlung muss so bemessen sein, dass Mays Existenzmöglichkeit in England erhalten bleibt.

Von der Festlegung bestimmter Geldbeträge war in der Besprechung Abstand genommen worden, da es am notwendigsten war, dass von den zuständigen Be- hörden Zustimmung erreicht wird. Dr. ter Meer sagte zu, sich persönlich in Ber- lin dafür zu verwenden.

Am 27. Juni 1938 kündigte die I.G. Farbenindustrie AG die mit Dr. May unter dem 31.1./10.2.1936 abgeschlossenen Verträge zum 31. Dezember 1938. Danach sollte das Karenzabkommen in Kraft treten.

Dr. May ließ bei Dr. ter Meer nicht locker und drängte darauf, dass die Verhand- lungen fortgeführt werden, die ihm das Verlassen Deutschlands ermöglichen sol- len. So geht es aus einem Brief ter Meers an Dr. von der Heyde hervor. Von der Heyde war Abwehrbeauftragter der I.G. mit Sitz in Berlin. Für solche Verhand- lungen wurde am 5. September 1938 ein umfangreiches Dokument erarbeitet, welches den Titel trägt: „Beteiligung von Herrn Dr. Richard May an den in der Farbenfabrik Wolfen bei Bitterfeld durch geführten wissenschaftlichen und tech- nischen wehrwirtschaftlichen Arbeiten“.

Verfasser waren Dr. Pistor, Dr. Schöner und Dr. Virck; letztere waren beide be- reits im 1.Weltkrieg mit Giftgasangelegenheiten in der Farbenfabrik befasst. Ad- ressat dieser Ausarbeitung war Dr. ter Meer zur Verwendung bei kommenden Besprechungen über Dr. May bei den Behörden.

Das Papier listete alle Themen seit 1914 auf, mit denen May befasst war: von den verschiedenen Sprengstoffen, über Stabilisatoren für Sprengladungsmischungen und Aktivkohle für Gasmaskeneinsätze. Es wurde herausgearbeitet, dass das alles Stand der Technik sei. An der Herstellung der Giftgase Clark I und Clark II sei May nicht beteiligt gewesen. Nach dem 1. Weltkrieg seien in der Farbenfabrik keine wehrwirtschaftlich wichtigen Produkte hergestellt oder bearbeitet worden. Erstmalig im März 1932 hätten Persönlichkeiten aus Dienststellen für die Ver- sorgung des Heeres Kontakt mit der Farbenfabrik aufgenommen, die ja unter der Leitung von Dr. May stand, und hätten sich nach den Möglichkeiten der Beliefe- rung des Heers im Kriegsfalle interessiert. (Im weiteren Text erfolgte die Darstel- lung des zeitlichen Ablaufes der Diskussionen mit Dr. Zahn und die erzielten Ergebnisse. Dieses ist bereits weiter vorn in diesem Artikel dargestellt).

– 153 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Beim Lesen dieser Zusammenstellung konnte durchaus der Eindruck gewonnen werden, dass die Beteiligung von Dr. May an kriegswichtigen Projekten doch nicht so umfassend war und die lange Ostasienreise sowie die Herausnahme aus dem Tagesgeschäft seit zwei Jahren zu einem Wissensverlust bei May geführt hatten. Das „Kleinschreiben“ war vielleicht auch ein Mittel, um seine Chancen für eine Übersiedlung nach England nicht gleich zunichte zu machen.

Diese Zusammenstellung erhielt auch Dr. von der Heyde, der es mit Ministerial- rat Dr. Zahn besprach. Dieser wollte in kurzer Frist eine Stellungnahme abgeben. Weitere Stellungnahmen, wie die von Generalmajor Thomas sollten noch einge- holt werden. Das spielte sich alles im Oktober 1938 ab.

Die Jagd auf Juden trieb auch den Stellvertreter des Führers an, sich auch im Ok- tober 1938 nach den noch bei der I.G. beschäftigten jüdischen Direktoren Dr. May und Dr. Marx zu erkundigen und forderte vom SD-Hauptamt bei der Reichsführung SS entsprechende Ermittlungen in der Angelegenheit. Es läge ein umfangreicher Bericht vor und es solle bereits aus der Belegschaft heraus die Forderung gestellt worden sein, dass sich die I.G. von diesen beiden jüdischen Direktoren trennt.

Dr. ter Meer stellte die Dinge richtig und zur Anfrage Marx schrieb er:

Ein Direktor Dr. Marx ist in Wolfen nicht beschäftigt; hier liegt wohl eine Ver- wechslung mit dem Prokuristen Dr. Karl Marx vor, dessen Abstammung bereits früher nachgeprüft wurde mit dem Ergebnis, dass Herr Dr. Marx arischer Ab- stammung ist.

Dann kam die „Reichsprogromnacht“ 9./10. November 1938. Was wird Dr. May nach der Progromnacht gedacht und getan haben? In Leipzig lief, wie in anderen Städten Deutschlands eine große Verhaftungswelle39 an, die für viele Juden in ein KZ führte. Es gibt keine Nachricht und keinen Beleg darüber, wo sich Dr. May aufhielt und welche Konsequenzen er zunächst aus der aktuellen Situation zog. Auf jeden Fall war er von allen durch die Nazis erlassene Gesetze auch be- troffen. Das waren 1938 zahlreiche weitere erniedrigende Regelungen40.

Es kam so, wie erwartet. Die Stellungnahmen des Heereswaffenamtes und des Wehrwirtschaftsstabes waren ablehnend. Danach erhob das Oberkommando der Wehrmacht gegen die beabsichtigte Auswanderung von Dr. May schwere Be- denken. Andere damit befasste Dienststellen nahmen keinen anderen Standpunkt ein. Diese glatte Ablehnung musste nun Dr. May vermittelt werden. Da Dr. Pi- stor auch seinen Wohnsitz in Leipzig hatte, bat von der Heyde diesen mit einem Schreiben vom 16. Dezember, die unangenehme Aufgabe zu übernehmen. Pistor

– 154 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

hatte aber gar keine Lust dazu und empfahl auf die Rückkehr ter Meers zu war- ten, welcher auf einer Dienstreise in den USA war.

Mit Dr. May brauchte aber niemand mehr zu sprechen, denn dieser war weg und ohne Pass, wie sich herausstellte! Die Wirtschafterin von Dr. May, Fräulein Brückner, erhielt 30. Dezember 1938 Post von Dr. May, welche dieser auf den 21. 12. datiert hatte, mit der Bitte, ihm einige Sachen an die Adresse seines Schwagers nach England zu senden und die Polizei von seinem Verschwinden zu verständigen. Fräulein Brückner hatte von Dr. May seit dem 17. Dezember nichts mehr gehört und leitete diese Information nach Wolfen weiter. Nun kam Hektik im NS-Apparat auf. Viele Dienststellen wollten Informationen. Sogar die Frage kam auf, wer für die gelungene Flucht verantwortlich sei.

Am 7. Januar 1939 sandte Dr. May aus London einen Einschreibebrief an I.G. Zentrale nach Frankfurt, zu Hd. Direktor Dr. ter Meer mit einer kurzen Mittei- lung:

Das verschärfte Herangehen gegen Juden in Deutschland in den letzten Monaten veranlassen mich, meinen Wohnsitz nach hier zu verlegen. Ich bemerke, dass ich nach wie vor bereit bin, das Karenzabkommen einzuhalten und erwarte diesbe- zügliche Vorschläge.

Die Zollfahndungsstelle Leipzig erließ eine „Vorläufige Sicherungsanordnung“ über Mays gesamtes Vermögen. Die Dresdner Bank wurde ermächtigt, unmittel- bar an das Finanzamt „zugunsten“ des Betroffenen Überweisungen auszuführen, d.h. die „Sühneabgabe“, welche als Folge der Progromnacht von den Juden abzu- führen war, von Mays Konto abzuführen.

Dr. May ließ sich nun von Rechtsanwalt Eduard Cruesemann, London vertreten. Cruesemann informierte die I.G. dass Mays potentielle Arbeitsstelle bei Nelson hinfällig sei und dieser nun anfragte, was aus den Karenzzahlungen wird, denn May wolle seine Verpflichtungen einhalten. Am 17. Februar 1939 antwortete die I.G. an Dr. May, dass wegen der Karenzzahlungen Verhandlungen mit den be- hördlichen Stellen geführt würden und man sich nach Abschluss derselben wie- der mit ihm in Verbindung setzen wolle.

Von der Heyde nahm nun Kontakt auf mit dem Reichswirtschaftsministerium, das auf das Erfordernis einer vorherigen Stellungnahme des Oberkommandos des Heeres verwies. Von der Heyde führte nun ein Sondierungsgespräch mit Dr. Zahn. Zahn kannte ja den „Fall“ Dr. May auch persönlich. Die Herren stimmten sich nun in der Vorgehensweise ab.

– 155 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Von der Heyde produzierte nun ein „Streng Vertrauliches“ Papier, dieses wurde adressiert an das Oberkommando des Heeres (28.2.1939) zu Händen Ministerial- rat Zahn. Es bezog sich auf die gehabte Besprechung mit Zahn. Dieses Schreiben war gar nicht lang und enthielt auch argumentativ keine neuen Fakten. Im Schreiben wurde aufgeführt, dass die von Dr. May in England angestrebte Stel- lung sich offensichtlich zerschlagen hat und May darauf drängt, eine seiner Stel- lung in Deutschland entsprechende andere Position im Ausland anzunehmen, wenn er nicht an die Karenzvereinbarung mit der I.G. gebunden wird. Diese Bin- dung wäre aber nicht nur im Interesse der I.G., sondern auch im deutschen Inter- esse. Dr. May sei einer der kenntnisreichsten Techniker auf dem Gebiet der Farbstoffzwischenprodukte und Fachmann auf dem Gebiet der organischen Che- mie. Die frühere Beschäftigung von May auch mit solchen Fragen, die für die Wehrmacht von Bedeutung sind, seien Dr. Zahn ja bekannt. Deshalb werde hier nicht darauf eingegangen. May könnte außerhalb einer Karenzverpflichtung im Ausland von geheim zuhaltenden Fragen Mitteilung machen. Eine befriedigende Karenzzahlung könnte ihn doch von derartigen Mitteilungen abhalten. Man sei sich bewusst, dass es sich doch um eine beträchtliche Summe handele, die in De- visen aufgebracht werden müsse. Es wurde um baldigen Bescheid gebeten.

Was lange Zeit nicht für möglich gehalten wurde, trat jetzt ein. Das Oberkom- mando des schrieb am 6. März 1939 mit dem Vermerk „Geheim“, dass

die Möglichkeit einer Karenzzahlung nicht nur im Interesse der I.G. und der deut- schen Volkswirtschaft wäre, sondern auch die Möglichkeit böte, Dr. May zum Schweigen über eine Reihe militärischer Vorbereitungen zu veranlassen, von de- nen er Kenntnis hat. Ihm sind sowohl die Verhandlungen bekannt, die seit 1933 über Kampfstofffragen geführt wurden, als auch über vorbereitende Schritte, die an verschiedenen Stellen für fabrikatorische technische Ausführung solcher Anla- gen seitens des Heeres ergriffen wurden .Es kennt zum Teil sogar die Pläne und Fertigungsstätten als solche und ist auch über die Errichtung von Diglykolfabri- ken, Anlagen zur Herstellung von Stabilisatoren für rauchloses Pulver u dgl. wie alles, was mit dem Kampfstoffgebiete in Verbindung steht, informiert. Die Bindung des Dr. May durch eine Karenzverpflichtung liegt daher in dringen- dem militärischen Interesse und das O.K.H. befürwortet alle Ihre Bestrebungen, die in diese Richtung laufen. Sie werden auch ermächtigt, von diesem Schreiben gegenüber dem Reichswirtschaftsministerium (RWM) und Reichsfinanzministeri- um (RFM) Gebrauch zu machen.

Dieses Schreiben war der Türöffner. Vom RWM kam die Genehmigung mit der Auflassung, mit Dr. May Abmachungen über eine Karenzvereinbarung zu tref- fen, die den Devisenaufwand möglichst gering hält.

– 156 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Direktor Dr. Krüger aus einer Berliner Abteilung der Zentralen Finanzverwal- tung der I.G. wurde zur weiteren Abklärung im März 1939 nach London gesandt. Er führte mit Dr. May im Büro von RA Cruesemann in dessen Anwesenheit ein Gespräch zur Ausgestaltung einer Karenzvereinbarung. Krüger informierte May über die Auflagen des RWI zur Minderung der aufzuwendenden Devisen. Da die Verhandlungen Zeit brauchen würden, bot Krüger an, eine Vorauszahlung von £1200 zu leisten, die dann mit den sich aus der Vereinbarung ergebenden Zah- lungen zu verrechnen wäre. Dr. May sollte dagegen erklären, dass er sich nicht mehr frei für andere Angebote, sondern an die I.G. gebunden fühle. May aber sagte, so gut er das Geld gebrauchen könne, er sich nicht darauf einlassen würde, gegen Empfangnahme einer Vorauszahlung endgültig an die I.G. zu binden. May äußerte Zweifel, ob die Verhandlungen zu einem für ihn befriedigenden Ergebnis in einem für ihn entscheidenden Punkt führen würden. Seinen Vertrag betrachte er als Minimum. Aber er erwarte, dass die I.G. ihn nicht mit 53 Jahren „einsar- ge“, sondern ihm die Möglichkeit gebe, sich noch zu betätigen und noch etwas Geld zu verdienen.

Intern unterbreitete Dr. Krüger seinem Vorstand den Vorschlag: Überweisung von RM 7554,-- und weiterhin RM 2518,-- monatliche Zahlung in englischen Pfund zum jeweiligen Tageskurs, sobald May die Bestätigung gebe, dass er ge- gen diese Zahlung für die Zeit der Verhandlungen über eine neue Regelung an die I.G. gebunden sei und keinerlei Angebote von anderer Seite annehme.

Aus dem Büro von Dr. Buhl ging am 28.3.1939 ein Brief an RA Cruesemann heraus, welcher die von Krüger vorgeschlagenen Zahlungen zusagte. Von Dr. May wurde loyales Verhalten erwartet. Die I.G. signalisierte, dass man hinsicht- lich von Arbeitsfeldern, auf denen May arbeiten könne, Lösungen finden könne. Unverzüglich würden Verhandlungen mit dem RWM zur Transferierung der vor- gesehenen Zahlungen aufgenommen. Die erste Rate in Höhe von RM 7554,-- wurde in englischen Pfund am 13.4.1939 überwiesen41.

Das RWI erteilte am 27. Mai 1939 einen Genehmigungsbescheid über die weite- re Vorgehensweise: Der Reichswirtschaftsminister sei einverstanden, dass Dr. May auf den abgeschlossenen Karenzvertrag und den anschließenden Pensions- vertrag Zahlungen in englischen Pfunden, umgerechnet zum Tageskurs, erhalte. Es erging Auflage, Dr. May zu veranlassen, sich außerhalb des durch die Ka- renzvereinbarung ausgeschlossenen Arbeitsgebietes nach einer geeigneten Be- schäftigung umzusehen. Die I.G. habe ihn dabei zu unterstützen. Es sei zu versuchen, dass Dr. May sich die Einnahmen aus einer anderweitigen Tätigkeit weitestgehend auf die Karenzvergütung anrechnen lasse. Hinsichtlich der Pensi- onsansprüche sei Dr. May darauf hinzuweisen, dass ein Transfer nur mit dem für

– 157 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

alle I.G. Pensionäre gültigen Höchstsatz (z. Zt. 700.--RM monatlich) stattfinden könne. Eine Sicherstellung der Ansprüche von May durch eine ausländische Bankbürgschaft wurde abgelehnt. Die weiteren Verhandlungen mit Dr. May führten nun die Herren Vorstandsmit- glieder Dr. ter Meer und Dr. Buhl. Man traf sich am 20. Juni 1939 in Paris. Das war nun wirklich ein bemerkenswerter Vorgang. Diese beiden Herren nah- men im Führungszirkel der I.G. nach dem Vorstandsvorsitzenden, Geheimrat Schmitz, mit die wichtigsten Funktionen ein. Sie unterzogen sich der Mühe, nach Paris zu Verhandlungen mit einem entwichenen Juden zu führen. Wahrscheinlich war es die Erkenntnis, dass May doch vielmehr über kriegswichtige Aktivitäten in der Farbenfabrik erfahren hatte und diese Dinge im Ausland ausbreiten könn- te. Die NS-Dienststellen könnten auch die Frage stellen, wer verantwortlich für die mangelnde Ausschaltung von Dr. May in den letzten Jahren war. Das würde Ärger geben, wie ihn auch Dr. Gajewski im Sommer 1938 nach der Flucht Dr. Goldackers (Filmfabrik) nach Palästina hatte42. Das wollte man sich ersparen und May ruhig stellen.

In der Besprechung wurden Dr. May die Auflagen des RWI erläutert. Die Dis- kussion war außerordentlich schwierig, vor allem wegen der Beschränkung des Transfers bei der Pension auf 700,-- RM pro Monat. Auch die von May geforder- te Bankgarantie war eine schwere Hürde. Zwar hatte May einem Rechenmodell zur Anrechnung eines Einkommens auf die Karenzvergütung noch nicht seine volle Zustimmung gegeben, aber die Herren aus Frankfurt kamen mit einem Er- gebnis nach Hause, mit welchem der Entwurf einer neuen Vereinbarung mit May ausgearbeitet werden konnte. Danach sollte der neue Vertrag mit Rückwirkung vom 1.1.1939 anstelle des Karenzabkommens und an Stelle der Pensionsbestim- mungen treten. Der Entwurf wurde dem RWI zugestellt; dieses gab mit Schrei- ben vom 12.7.1939 seine prinzipielle Zustimmung. Parallel dazu und in den folgenden Wochen gab es etliche Telefonate und Schreiben an das Büro Cuese- mann / Dr. May und zurück, in denen um Details der Ausgestaltung des neuen Vertragswerkes gerungen wurde.

Es kam der 1. September 1939, Kriegsausbruch – alles wurde anders. Damit war auch die vorbereitete Karenzzahlung für August nicht mehr realisiert worden. Eine gültige neue Vereinbarung war (durch Nichtannahme seitens Dr. May – so die I.G.-Formulierung) nicht zustande gekommen und der alte Vertrag sei infolge des Kriegsausbruches mit Ende des Monat August erloschen, so die I.G.- Interpretation in einem internen Papier vom 25.10.1939. Es wurden Überlegun- gen angestellt, ob May versuchen würde, durch Beschlagnahme von I.G.- Vermögen in England die Zahlung einer Karenzvergütung zu erzwingen. Im Fal-

– 158 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

le einer rechtlichen Auseinandersetzung würde die I.G. wohl von May den Nach- weis der Karenzeinhaltung fordern. Es sei eher wahrscheinlich, dass May seine Dienste in England anbiete, sei es aus Selbsterhaltungstrieb oder auch um einer Internierung zu entgehen. Deshalb wurde beschlossen, an Dr. May keine Zahlun- gen mehr zu leisten, weil auch jede Möglichkeit der Kontrolle fehle, ob May die Karenz einhalte. Von dieser Sachlage wurden das RWM und das Oberkomman- do des Heeres unterrichtet.

Die Nazis haben Dr. May aus Deutschland vertrieben. Nach dem Kriege erfolg- ten in Wolfen zahlreiche Straßenumbenennungen, bei denen Nazi-Namen getilgt und unter anderem mit Namen von verdienstvollen Persönlichkeiten aus der Ag- fa-Zeit ersetzt wurden. Hierbei erhielt Dr. May auch eine Würdigung. Eine Stra- ße in einer Agfa-Wohnsiedlung erhielt den Namen Richard-May-Straße43.

Zur Zeit der DDR gelang es erneut, Dr. May aus Wolfen zu vertreiben, dieses Mal symbolisch: Der Rat der Stadt Wolfen beschloß in seiner Sitzung am 16.11.1961 auf der Grundlage des Gesetzes über die örtlichen Organe der Staatsmacht vom 17.1.1961 folgende Straßenumbenennungen im Stadtgebiet von Wolfen: Die nach den ehemaligen IG-Farbenkonzern-Direktoren der Anilinfabrik Wolfen Dr. Streng, Dr. Clausius, Dr. Bode und Richard May benannten Straßen werden infolge des volksfeindlichen Wirkens derselben wie folgt umbenannt: Stengstraße in Gutenbergstraße Clausiusstraße in Rembrandtstraße Bodestraße in Guts-Muths-Straße und Richard-May-Straße in John-Scheer-Straße.44 Dabei ist es auch nach der politischen Wende in der DDR nach 1989 geblieben.

– 159 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Dr. Theodor Mariam

Theodor Mariam wurde am 18. Dezember 1884 in Frankfurt a. M. geboren45. Er besuchte dort die Oberrealschule und erreichte das Reifezeugnis Ostern 1903. Das Studium absolvierte er an der Technischen Hochschule Darmstadt und an der Universität Bonn von 1903 bis 1907. Nach Abschluss seiner Dissertations- schrift „Ueber Methionsäuresynthesen“ im Sommer 1907 arbeitete er ab 1. No- vember 1907 als Assistent im Labor des Geheimrates Prof. Dr. Claisen in Godesberg. Am 11. Mai 1908 wurde er an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zum Dr. phil. promoviert. Da er seinen Berufsweg in der Chemischen Industrie gestalten wollte, trat er aus dem Labor von Prof. Claisen aus, der ihn gerne weiterbeschäftigt hätte. Mit einem sehr guten Zeugnis und besten Wünschen und Empfehlungen seines Professors wechselte er im August 1908 zum Chemikalienwerk Griesheim GmbH. Dort ar- beitete er bis Juli 1916 zunächst als Assistent des Betriebsleiters und später als Leiter verschiedener Abteilungen mit organischen Synthesen (Zwischenproduk- te). Ab 1916 bis 1920 leitete er die Teer- und Benzoldestillation der Chemischen Fabriken Worms AG in Worms. Dieses Unternehmen war die Muttergesellschaft des Chemiewerkes Griesheim.

Abb. 2: Dr. Mariam, Deckblatt Personalakte; LHASA, MER., IG Farbenfabrik Wolfen Nr. 1681.

– 160 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Ende des Jahres 1919 bewarb sich Mariam um eine Anstellung in der Agfa. Zum 15. Juli 1920 wurde er in der Benzidinfabrik der Agfa Farbenfabrik Wolfen ein- gestellt. Mariam war verheiratet und hatte zwei Kinder (Sohn Rudolph und Toch- ter Hortense). Er zog schon am 15. Juni 1920 mit der Familie von Worms nach Dessau um. Dr. Mariam erhielt einen auf zwei Jahre befristeten Vertrag, der – wie damals üblich – vor dem Fälligkeitstermin überprüft, immer wieder verlän- gert sowie hinsichtlich Arbeitsaufgaben und Vergütung angepasst wurde. Der Start in der Farbenfabrik Wolfen verlief offenbar auch erfolgreich, wie zwei Pa- tentanmeldungen vom November 1920 belegen, an denen Mariam beteiligt war46. Dr. Mariam zog zum 1. Oktober 1922 nach Wolfen in die Krüllsstraße 6a, in eine große Dienstwohnung in gehobener Lage in Wolfen. Diese Wolfener Wohnsied- lung für leitende Angestellte war gerade neu erbaut worden. Dr. Mariam gehörte in der Wolfener Zeit der Jüdischen Gemeinde Delitzsch-Bitterfeld-Eilenburg47 an, da Bitterfeld/Wolfen keine eigene Jüdische Gemeinde hatte.

Die letzte in den Akten befindliche Ausfertigung des Dienstvertrages datiert vom 21. Januar 1931. Dieser Vertrag wurde auch immer wieder verlängert.

Am 1. April 1932 zog Familie Mariam in eine preiswertere Wohnung nach Des- sau in die Albrechtstraße 13. So ist es aus seinem Antrag an die Personalabtei- lung der I.G. auf Fahrgeldzuschuss für die Eisenbahnfahrt 2. Klasse zwischen Dessau und Wolfen zu entnehmen.

In den Personalunterlagen von Dr. Mariam finden sich bis Mai 1938 keine Hin- weise auf Drangsalierungen, weil er Jude war. Das muss aber nicht heißen, dass seine berufliche Tätigkeit hinsichtlich antisemitischer Anfeindungen spannungs- frei war. Aber der Umgang in der Farbenfabrik zwischen Direktion und Dr. Ma- riam schien normal zu sein. Mit Schreiben vom 24. Dezember 1934 bedankte sich Mariam bei Direktor Dr. Schöner für die übermittelten Glückwünsche zu seinem 50. Geburtstag und am 10. Juli 1936 dankt das Ehepaar Mariam mit ei- nem Schreiben aus Cortina d’Ampezzo an die Direktion der Farbenfabrik für die Glückwünsche zur Silberhochzeit. Vom August 1937 ist in den Direktionsakten ein Gruß von Dr. Mariam aus Bad Kissingen, wo er zur Badekur wegen Gicht weilte.

Der NS-Staat erhöhte im Jahre 1938 mit umfangreicher Gesetzgebung den Druck auf Juden. In diesem Zusammenhang stieg auch der Druck auf Unternehmen, die noch jüdische Mitarbeiter beschäftigten. Auf einer Sitzung des Zentralausschus- ses der I.G. am 25. April 1938 in Heidelberg in der Villa von Carl Bosch wurde beschlossen, alle noch in der I.G. beschäftigten Juden zu entlassen48. Nun erga- ben sich auch Konsequenzen für Dr. Mariam. Anfang Mai 1938 fand mit ihm ein

– 161 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Gespräch statt, welches leider nicht dokumentiert ist. Am 14. Mai bat Mariam in einem sehr eindringlichen Schreiben an den Direktor der Farbenfabrik um Ver- besserungen der Konditionen anlässlich seiner in Vorbereitung befindlichen Kündigung: Ich möchte sie noch einmal dringlichst darum bitten, sich dafür einzusetzen zu wollen, dass mir, wenn es irgend ermöglicht werden könnte, bis zur Erreichung des pensionspflichtigen Alters von 60 Jahren doch Wartegeld gewährt wird. Sollte dies aber gar nicht durchführbar sein, so bitte ich herzlichst darum, mir doch we- nigstens das volle bisherige vertragliche Einkommen noch für ein volles Vertrags- jahr, d.h. bis zum 30. Juni 1939 zu gewähren. Ich richte diese Bitte an Sie im Interesse meiner heutigen Lage mit ungenügend versorgten beiden Kindern und ich hoffe zuversichtlich, sowohl bei Ihnen wie auch bei Herrn Dr. Bürgin volles Verständnis für meine – selbst unverschuldete – Lage zu finden. Ergebenst Dr. Theodor Mariam

Die Beurlaubung vom Arbeitsplatz erfolgte am 17. Mai 1938. Das eigentliche Kündi- gungs- und Pensionierungsschreiben kam am 29. Juni 1938. Darin wurde auf die kürz- lich stattgefundene Unterredung Bezug genommen, auf der wir verabredeten, daß der zwischen Ihnen und uns bestehende Anstellungsvertrag vom 21. Januar 1931 im beiderseitigen Einvernehmen vorzeitig, und zwar zum 31. Dezember 1938 sein Ende erreicht und Sie mit dem 1. Januar 1939 in den Ru- hestand treten. … Demgemäß kündigen wir das zwischen Ihnen und uns bestehende Anstellungs- verhältnis hiermit fristgemäß zum 31. Dezember 1938 auf und beurlauben sie gleichzeitig bis zum Ablauf Ihres Anstellungsvertrages. Entgegenkommender Weise erklären wir uns bereit, Ihre vertragsmäßigen Bezüge ab 1.1.1939 auf die Dauer eines weiteren Jahres, also bis zum 31.12.1939 unter Einbeziehung der Ihnen aus der Pensionskasse zufließenden Pensionskassenrente für dieses Jahr weiterzuzahlen, wogegen sie zur Einhaltung des mit Ihnen verein- barten Wettbewerbsverbotes in vollem Umfang verpflichtet sind.

Mit dieser Regelung sollten dann auch alle Ansprüche für die von Mariam aus- gearbeiteten Verfahren oder Verbesserungen von Verfahren, an denen er beteiligt war, abgegolten sein. Das Wettbewerbsverbot für Mariam wurde im Juli 1938 ausdrücklich noch erneuert.

Das Einkommen von Dr. Mariam im Jahre 1938 betrug RM 12.168.--. Von der Pensionskasse erhielt er ein Schreiben, dass ab 1. Januar 1939 seine monatliche Pension RM 446,90 betragen wird. Mit der vom Unternehmen zugesagten Auf- stockung in Höhe von RM 567,10 pro Monat ergab sich eine Monatssumme von

– 162 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

RM1.014,--. Damit sollten die Bezüge 1939 eine Gesamtsumme von RM 12.168,-- erreichen. Ab 1. Januar 1940 sollten lediglich die Pensionsbezüge ge- zahlt werden: RM 5.362,80 pro Jahr.

Auch in Dessau wütete der braune Mob in der Nacht vom 9. auf den 10. Novem- ber 1938. Damit auch alle willigen Nazis Bescheid wussten, wo sie aktiv werden konnten, veröffentlichte die Zeitung „Der Mitteldeutsche“ in den Dessauer Stadt- nachrichten am 9. November 1939 eine Adressenauflistung der in Dessau noch lebenden Juden. Die Namen von Dr. Theodor Mariam, Ehefrau Käthe und Toch- ter Hortense waren auch in der Liste.

Die braunen Horden zogen in der Nacht durch Dessau. Jüdische Geschäfte wur- den zerstört und geplündert, Wohnungen beschädigt und die Synagoge niederge- brannt. Am folgenden Tag wurde der jüdische Friedhof geschändet und das Moses-Mendelssohn-Denkmal zerstört. 85 jüdische Männer wurden z.T. unter Misshandlungen in Haft genommen und in das KZ Buchenwald verschleppt49.

Ab Januar 1939 trat die Pensionsvereinbarung in Kraft und die zugesagten Zah- lungen flossen auch an Dr. Mariam, wie einer Zusammenstellung der I.G. zu ent- nehmen ist. Dr. Mariam bereitete seine Auswanderung vor. Hierzu brauchte von der I.G. Dokumente, die er verschiedenen Behörden vorzulegen hatte.

Im Frühjahr 1939 gab die Familie Mariam die Wohnung in der Dessauer Al- brechtstraße 13 auf. Ab 1. April 1939 teilte Dr. Mariam als Adresse Rabestraße 8, im Parterre bei Steinbock mit50. Die Familie Steinbock (Vornamen: Betty, Hirsch und Minna, geb. Lewkowitz) war ebenfalls in der Liste der noch im No- vember 1938 in Dessau 204 lebenden Juden genannt.

Aus einer Publikation der Moses-Mendelssohn-Gesellschaft mit Berichten von überlebenden ehemaligen jüdischen Dessauer Bürgern geht hervor, dass sich das Haus Rabestraße 8 im Eigentum des jüdischen Besitzers Steinbock befand. In diesem Haus hatten weiterhin Mitglieder der Familien Fein und Goldmann, ehe- mals angesehene Dessauer Geschäftsleute, Quartier gefunden51. Deren Geschäfte waren zur „Arisierung“ gekommen und sie bereiteten sich auf die Auswanderung vor.

Der Schriftverkehr im Sommer des Jahres 1939 enthält die Informationen, dass beide Kinder Mariams bereits nach Amerika ausgewandert waren. Dr. Mariam selbst hatte inzwischen die Auswanderungsgenehmigung erhalten. Die Einwan- derungsquote in die USA war jedoch sehr gering, so dass – auch bei Vorliegen der Einwanderungsgenehmigung – mit Wartezeiten von 2 Jahren zu rechnen war. Dr. Mariam plante deshalb vorerst im September 1939 zu seiner Schwester nach

– 163 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

England überzusiedeln. Er bat die I.G. darum, die ihm monatlich zustehenden Beträge für das Jahr 1939 oder zumindest die ihm bis August zustehenden Beträ- ge aus Pension und Karenzvergütung in einer Summe zu überweisen. Er verwies darauf, dass er Barmittel brauche zur Vorbereitung seiner Auswanderung und zur Befriedigung der Forderungen des Finanzamtes. Er verpflichtete sich ausdrück- lich zur Einhaltung der Karenz in England; verwies aber auch darauf, dass er oh- nehin keine Arbeitserlaubnis dort erhalten würde und auf Kosten der Verwandten und Garanten leben müsse. Er bat auch um die Ausstellung eines Zeugnisses für die Zeit bei der Agfa bzw. in der I.G. Dieses erhielt er auch. Es war ein gutes Zeugnis und war auf den 31. Dezember 1938 datiert. Als entlassende Struktur- einheit in der Farbenfabrik war das Wissenschaftliche Laboratorium angegeben, wo er die Aufgabe hatte, neue Verfahren auszuarbeiten.

Nach rechtlicher Prüfung teilte die Devisenstelle der Zentralfinanzverwaltung der I.G. mit, dass eine Vorauszahlung möglich wäre, ohne dass eine Genehmigung des Reichswirtschaftsministeriums erforderlich sei. Sogar die Karenzvergütung ein Jahr im Voraus sei im Inland auszahlbar, allerdings ein Transfer von Karenz- bezügen nach erfolgter Auswanderung nicht mehr. Nach erfolgter Auswanderung müssten Beträge auf ein Auswandererguthaben eingezahlt werden.

Ende August 1939 konnte Dr. Mariam Deutschland verlassen. Seiner Frau war das offensichtlich nicht möglich. Die Akten belegen, dass diese nunmehr in Ber- lin wohnte und im Auftrage von Dr. Mariam von der Pensionskasse der Ange- stellten der I.G. Wolfen-Bitterfeld Überweisungen erhielt. Nach der Satzung der Pensionskasse betrug Mariams Pension 446,90 RM. Davon wurde in der Steuer- klasse 3 nach Anordnung des Finanzamtes RM 57,72 einbehalten, so dass die Nettopension 389,18 RM betrug. An Frau Käthe Sara Mariam wurde 289,18 RM überwiesen. Die restlichen 100 RM erhielt die Jüdische Kultusvereinigung zu Berlin e.V. Beide Zahlungen erfolgten mit Genehmigung der Devisenstelle Ber- lin.

Am 22. August 1941 verfügte die Geheime Staatspolizei, Dienststelle Halle in einem Schreiben an die Sozialabteilung der I.G. in Wolfen auf Grund des Para- graphen 1 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28.2.1933 (noch aus der Zeit von Hindenburg), dass die Vermögens- werte des ausgewanderten Theodor Israel Mariam vorläufig staatspolizeilich be- schlagnahmt seien. Die Zahlungen seien einzustellen und der Gestapo der bisherige Empfänger namhaft zu machen. Die I.G. stellte die Zahlungen ab 1. September 1941 ein. Wovon sollte Frau Mariam nun leben?

– 164 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Ergänzende Informationen zum Schicksal von Dr. Mariam konnte die Moses- Mendelssohn-Gesellschaft e.V. (MMG) beisteuern. Diese hatte im Jahre 1995 eine Anzeige in der New Yorker deutschsprachigen jüdischen Zeitung „Aufbau“ geschaltet, in der sie zwecks Erforschung der Geschichte der Juden in den Jahren 1932-1945 Namen und Kontaktadressen von Juden suchte, die in dieser Zeit in Dessau lebten. Dieser Aktion war ein großer Erfolg beschieden und sie führte zu umfangreichem Schriftverkehr. Im Resultat konnte die schon zitierte Broschüre „Verfolgt, Vertrieben…“ erscheinen. Die Kinder von Dr. Mariam hatten sich auch gemeldet und wertvolle ergänzende Informationen vermittelt52. Ein Bericht von Rudolph Mariam ist in der erwähnten Broschüre auf Seite 110 abgedruckt.

Weitere Informationen enthalten auch die in der MMG vorliegenden Briefe von Frau Hortense Lewin, geborene Mariam. Diese waren bisher noch nicht mit in die Veröffentlichung von persönlichen Daten einbezogen, da Frau Lewin bislang keine Zustimmung dazu gegeben hatte. Das ist jetzt erfolgt53.

Frau Lewin beschrieb ihre Kindheit in Wolfen als unbeschwert. Die Wohnung lag in einer vorzüglichen Lage mit einem großen Garten voller Blumen. Die Nachbarn waren leitende Angestellte der Film- und Farbenfabrik Wolfen, bis zur Direktorenebene. Die Kinder spielten gemeinsam in den großen Gärten; sie war völlig akzeptiert als einziges jüdisches Kind. Sie ging vier Jahre lang zur I.G.- Privat-Schule in Wolfen, anschließend nach Bitterfeld auf das Lyzeum. Während der Wolfener Jahre brachte ihre Mutter sie nach Dessau zum jüdischen Religi- onsunterricht zum Kantor, dessen Familie mit der Familie Mariam gut bekannt war. Sie erinnerte sich aber auch an ein Zeichen von Antisemitismus, denn in die Hauswand hatte eines Tages ein Kind eingekratzt: „Juden geht nach Palästina“. Das war vor 1933. Sie hatte das damals gar nicht verstanden. Sie musste ihre Mutter fragen, was das bedeuten solle. Frau Mariam forderte von der I.G.- Hausverwaltung die sofortige Beseitigung der Schmiererei, was auch unverzüg- lich geschah.

Im Zusammenhang mit dem Umzug der Familie nach Dessau im Jahre 1932 hat Hortense Lewin in Erinnerung, dass ihre Eltern das Gefühl hatten, nicht mehr in die Wolfener Wohngegend zu passen. Auch hätte man ihnen den Umzug nahe gelegt. Sie ging nun auf das Dessauer Antoinetten-Lyzeum, hatte aber keine Freunde mehr. Es gab keine persönlichen Feindseligkeiten, man übersah sie ein- fach und sie war sehr isoliert. Sie durfte das Lyzeum aber nicht abschließen, da jüdischen Kindern durch die Nazis der weitere Schulbesuch nach 1933 dort ver- boten wurde. In Berlin fand sie die Möglichkeit, an einer privaten Kunstschule (Reimann-Schule) sich zur Modezeichnerin ausbilden zu lassen. Da gab es in Berlin einen großen Freundeskreis bis auch diese Schule arisiert wurde. Aber an

– 165 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

eine Anstellung im Beruf war nicht zu denken. Sie kehrte nach Dessau in ihr El- ternhaus zurück. Ihr Bruder musste in Leipzig sein Jura-Studium im Jahre 1933 aufgeben. Er konnte im November 1938 in die USA auswandern.

In der „Reichskristallnacht“ wurden auch bei Mariams in der Erdgeschosswoh- nung die Fenster eingeschlagen, ihr Vater in das KZ Buchenwald verbracht. Während der Inhaftierung von Dr. Mariam leitete seine Frau die Auswanderung ein, um die Entlassung ihres Mannes zu bewirken. Viele Papiere waren erforder- lich. Jedes Auswandererzielland hatte andere Vorschriften. Nach Rückkehr ihres Vaters hätte Hortense Mariam ihn bald nicht wieder erkannt.

Die Wohnung wurde aufgegeben, ihre Eltern wohnten möbliert bei Familie Steinbock. Hortense Mariam kam bei der Frau Lewkowitz54 unter. Das tägliche Leben war angsterfüllt, die Beschaffung der Mahlzeiten ein Problem. Die Fami- lie Mariam ging einzeln oder zu zweit in ein Restaurant weit hinten, um nicht gesehen zu werden.

Hortense Mariam emigrierte im Mai 1939 nach England. In Bremerhaven nahm sie Abschied von ihren Eltern, ihre Mutter sah sie hier zum letzten Mal. Die Aus- reisekontrollen waren scharf. Mit strengen Leibesvisitationen wurde gesucht, dass ja keiner Geld oder Schmuck mitnehmen würde. Sie erhielt in England ein “Permit“, welches ihr die Arbeit als Hausangestellte bei einer freundlichen Fami- lie ermöglichte. Das sei eine gute Schule gewesen, sie konnte ihre Sprachkennt- nisse sehr vertiefen. Ab Herbst 1939 konnte sie auch ihren Vater einmal pro Woche treffen, obwohl die Ausländer in ihrer Bewegung stark eingeschränkt wa- ren. Ihr Vater war Ende August nur mit Handgepäck, ohne warme Kleidung nach England gekommen, was in dem kalten Winter ein Problem war. Dr. Mariam fand nach einigen Monaten Arbeit in der Chemischen Industrie bei ICI und ent- ging damit der Internierung. Probleme im täglichen Leben hatte er aber auch als „feindlicher deutscher Ausländer“.

Hortense Mariam hatte ein Auswanderervisum in die USA und landete im Au- gust 1940 dort an. Die gefährliche Überfahrt erfolgte unter Geleitschutz von Truppen im Konvoi. Die Abreise fiel ihr nicht leicht, wegen des zurückbleiben- den Vaters aber auch wegen ihres Freundes, den sie erst im Jahre 1946 in Ameri- ka heiraten konnte. Der Start in den USA war auch nicht leicht. Die Arbeitssuche war schwer, da zu diesem Zeitpunkt die Arbeitslosigkeit auch relativ hoch war.

Über verschiedene Jobs konnte sie später als Modezeichnerin arbeiten. Aus Ame- rika konnte sie auch mit ihrer Mutter korrespondieren und auch vorsichtig über ihren Vater in England berichten (Kriegseintritt der USA erst Dezember 1941). Es war bekannt, dass die Post in Deutschland kontrolliert wurde. Sie beschrieb

– 166 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

das Leben in den USA, trotz materieller Einschränkungen, als wunderbar mit Freiheit und Toleranz. Überschattet wurde das von der Unsicherheit über das Schicksal ihrer Mutter, über die man ab 1942 keine Informationen mehr hatte. Ihre Mutter wollte 1939 zur Ausreise ein Schiff nehmen, konnte England wegen des Kriegsausbruches aber nicht mehr erreichen. Sie kümmerte sich noch um die Expedierung des „Liftes“. Der Lift war im Hafen von Rotterdam von den Nazis beschlagnahmt worden und der Inhalt mit zur Einrichtung eines deutschen Offi- zierskasinos genutzt wurde55. Eine Entschädigung für den Verlust des Eigentums hat es nach dem Krieg nicht gegeben. Nach dem Kriege erfuhr die Familie Mari- am von dem Schicksal der Mutter. Diese wurde von Berlin aus deportiert und kam im KZ Kowno (Kaunas, Litauen) um.56

Ihr Vater kam 1947 in die USA und konnte weiter in der Chemischen Industrie (Allied Chemical Co. in Buffalo) tätig sein und war als Konsultant gefragt. Be- merkenswert ist noch, dass die Amerikanische Armee 1945 bei ihrem Einmarsch in der Farbenfabrik Wolfen Dokumente von ihm fand. Diese übersetzte er, so dass sie in den USA bekannt wurden. Dr. Theodor Mariam wurde 92 Jahre alt und verstarb 1977 in Buffalo57.

Dr. Oskar Falek

Von diesem Chemiker der Farbenfabrik wissen wir nur aus den Akten von Dr. Mariam, da Falek in einem Schreiben an die Pensionskasse als im Ausland le- bend mit genannt war.

Dr. Falek wurde am 24. Oktober 1889 geboren. Er war am 1. März 1921 in das Analytische Labor der Zwipro-Abteilung eingetreten; Er wohnte in Wiederitzsch bei Leipzig. Zu seinem Wirken in der Farbenfabrik liegen gar keine Kenntnisse vor. Lediglich die Liste der deutschen und US-Patente weist auf erfolgreiche wis- senschaftliche Arbeit hin58. Er wurde, wie Dr. Mariam, am 17. Mai 1938 beur- laubt und 31. Dezember 1938 pensioniert.

Die Entlassungskonditionen waren hier wie folgt: Auf der Basis seines Einkom- mens des Jahres 1938 mit RM 15.960,-- wurden ihm Pensionszahlungen für das Jahr 1939 zugesichert, welche mit einer Differenzzahlung des Unternehmens bis zur Höhe der früheren vertraglichen Bezüge aufgestockt wurden, d.h. er sollte 1939 RM 14.664,-- erhalten. Ab 1. Januar 1940 stand ihm die lediglich die Pen- sion aus der Pensionskasse zu.

– 167 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Teil eines Kurzvortrages, gehalten auf der Tagung der Fachgruppe Geschichte der Chemie in der Gesellschaft Deutscher Chemiker in Bad Langensalza am 24. 5. 2007 unter dem Titel: „Ein Beitrag zu Schicksalen jüdischer Chemiker in den I.G.- Werken Bitterfeld und Farbenfabrik Wolfen nach 1933: Biographische Fragmente“. Da nunmehr noch weitere Akten zu Bitterfelder jüdischen Chemikern gefunden wurden, erfolgt die Darstellung hier in diesem Artikel nur zur Farbenfabrik Wolfen. Über die Bitterfelder Chemiker wird als Fortsetzung eine gesonderte Ar- beit vorbereitet. 1 Manfred Gill, Peter Löhnert, „Jüdische Chemiker aus Dessau in der Filmfabrik Wolfen“, Schriftenreihe der Moses-Mendelssohn-Gesellschaft e.V. Dessau, Heft 5 (1996); Dies., „Ein Beitrag zu Schicksalen jüdischer Chemiker in der Filmfabrik Wolfen nach 1933“, FG Geschichte der Chemie der GDCh Mitteilungen Nr. 14 (1998), S.110; Dies., „The relationship of I.G. Farben´s Agfa Filmfabrik Wolfen to its Jewish scientists and to scientists married to Jews, 1933-1939“, The German Chemical Industry in the Twentieth Century, edited by John E. Lesch, (Kluwer Academic Publishers, Dordrecht 2000), p. 123-145. 2 Fritz Haber, „Franz Oppenheim zum Gedächtnis am Jahrestag seines Todes (Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Actien-Gesellschaft für Anilin-Fabrikation)“, Z. für Angew. Chemie 43 (1930), 141-145; Richard Willstätter, „Franz Oppenheim zum Gedächtnis“, Ber. Deutsch. Chem. Ges.1931 A, 133-149. 3 Herbert Teichmann, „Die Mendelssohns und die Naturwissenschaften“, spektrum 17 (1986) H. 2, S.30. Zur Familiengeschichte des weit verzweigten Mendelssohn-Clans sind zahlreiche Veröffentlichungen erschienen. Eine neuere Publikation ist: Thomas Lackmann, „Das Glück der Mendelssohns – Geschichte einer deutschen Familie“, Aufbau-Verlag (Berlin 2005). Darin ist auch ein Auszug aus dem Stammbaum zu finden. 4 Personaldaten Dr. Gajewski und zu weiteren in diesem Artikel genannten Vorstandsmitgliedern in J.U. Heine, „Verstand und Schicksal. Die Männer der I.G. Farbenindustrie AG in 161 Kurzbiographien“, VCH Verlagsgesellschaft (Weinheim 1990). 5 Im Detail ist das in den erwähnten Literaturstellen (Anm. 1) dargestellt. 6 Friedhelm Borggräfe, „Juden in der BASF“, Veröffentlichungen des Stadtarchivs Ludwigshafen a. Rhein 27 (2000). 7 Fritz Wentzel, “Memoirs of a Photochemist“, American Museum of Photography, Philadelphia 2, Pa. 1960. Wentzel beschreibt seine 20-jährige Tätigkeit in der Agfa-Ansco Corporation und würdigt die Tätigkeit von Schwarz (S. 106): „Schwarz war im Dezember 1941 zurückgetreten, wahrscheinlich wegen des internen Druckes. Das wurde von allen Mitarbeitern sehr bedauert, da er eine außerordentliche Persönlichkeit war. Er war nicht nur ein sehr tüchtiger Chef, sondern zeigte auch ein aufrichtiges persönliches Interesse für jene unter ihm …“. 8 Martin Münzel, „Die jüdischen Mitglieder der deutschen Wirtschaftselite 1927-1955”, Ferdinand Schöningh (Paderborn 2006), S. 380. 9 St.H. Lindner, “Die IG Farben und ihre jüdischen und jüdisch geltenden Mitarbeiter in leitenden Positionen während des Dritten Reiches – Das Beispiel des IG Werkes Hoechst“, Jüdische Unternehmer und Führungskräfte in Südwestdeutschland 1800-1950, hrsg. vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Stuttgart 2004), S. 193ff; Ders., „Hoechst – Ein

– 168 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

I.G. Farben Werk im Dritten Reich“, Verlag C.H. Beck (München 2005). 10 HistoCom GmbH, Industriepark Höchst, Frankfurt a. M.. Zentral Archiv, Tea Nr. 832. (Tea = Technische Kommission). Herrn Dr. Metternich von HistoCom danke ich für die Kopie der Akte. 11 LHASA, MER, IG Farben Wolfen Nr. 396-402, 408. In Nr. 402 Aufstellung (12 Seiten) vom 9.12.1938 über die Akten von Dr. May und deren Verbleib; sowohl Vernichtungen als auch Abgabe an andere Struktureinheiten. 12 Als ein Beispiel sei hier das Buch von Friedländer genannt: Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden – Die Jahre der Verfolgung 1933-1939 (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2007). 13 Karteikarte aus dem Leipziger Meldeamt, Sächsisches Staatsarchiv Leipzig. 14 Schreiben des Historischen Instituts (Hochschularchiv) der RWTH Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen vom 13. 12. 2006 an den Verfasser. 15 Alle folgenden Angaben zum beruflichen Werdegang von Dr. May und seiner Ausgrenzung als jüdischer Bürger sind der bereits erwähnten Tea-Akte „Dr. May“ aus dem Werksarchiv Hoechst (bei HistoCom in Höchst) Zentralarchiv-Nr. 832 entnommen. Andere Quellen sind extra aufgeführt. 16 Peter Löhnert, „Das frühere Vorstandsmitglied der I.G. Farben wurde von den Nazis verfolgt – Zum 60. Todestag von Dr. Arnold Erlenbach“, CPforum – Das Journal für den Chemiestandort Bitterfeld-Wolfen 6 (1998), 20. 17 Werkszeitung „Der Feierabend“ 1930, Heft 1/3, S. 18, im Archiv der Industrie- und Filmmuseums Wolfen (ifm). 18 Das war aber kein ungewöhnlicher Vorgang, denn die I.G. verringerte Ende der Zwanziger/Anfang der Dreißiger Jahre gezielt die Anzahl der Vorstandsmitglieder. 19 Zentral-Ausschuss-Büro der I.G., Frankfurt a. M., September 1931: Zusammenstellung der Kommissionen der I.G. 20 LHASA, MER: IG Farben Wolfen, Nr. 781, Rubrik Nr. 118. 21 LHASA, MER; IG Farben Wolfen, Nr. 400. 22 Unternehmensarchiv (UA) Filmfabrik Wolfen im ifm, im folgenden genannt: ifm UA. Hier: ifm UA A 5659, S. 152 ff, Aktennotiz von Professor Curschmann. 23 Dr. Saenger wurde nicht entlassen. Er verblieb in der Farbenfabrik in der Zwiproabteilung. Im Jahre 1936 wird er auch als Kreisbetriebszellenobmann und Kreiswalter der D.A.F. Bitterfeld benannt (ifm UA A 1640). In einer „Denkschrift über die Vorgänge in der Ortspolizei Wolfen“ vom 30. 4. 1945 wird berichtet, dass Major Saenger während der Kämpfe um Wolfen im April 1945 zu Tode kam (ifm UA A 5124). 24 ifm, UA A 5659, S. 178. 25 Ein Hinweis auf die Mitarbeit von Dr. May in diesem Kontrollgremium für Leunabenzin ergibt sich aus dem Vorhandensein zahlreicher Benzinkalkulationen für das Jahr 1931 aus dem Ammoniakwerk Merseburg GmbH (Leuna-Werk) im Bestand der Akten der I.G.

– 169 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Farbenfabrik Wolfen im LHASA, MER.. 26 Ifm UA A 5669, S. 174. 27 Diglykol kam zum Einsatz bei der Pulverherstellung u. a. für Haubitzen-Treibladungen, während Diglykolnitrat bei der Pulverherstellung in Sprengladungen für Hochbrisanz- Granaten zum Einsatz kam. Dokument NI-10580 im Nürnberger I.G. Farbenprozess, veröffentlicht in H. Radandt, „Fall 6 – Ausgewählte Dokumente und Urteil“, S. 112, Deutscher Verlag der Wissenschaften (Berlin 1970). 28 Hermann Waibel, Vorstandsmitglied, Leiter der Exportabteilung Fernost und zuständig für Verkehrsfragen. 29 Alle Informationen zu dieser Reise aus LHASA, MER, IG Farbenfabrik Wolfen, Nr. 401. 30 LHASA, MER, I.G. Farbenfabrik Wolfen, Nr. 401 Eine Rückfrage des Verfassers in der Geschäftsstelle der Gesellschaft Deutscher Chemiker in Frankfurt a. M. ergab, dass May von 1915 bis noch im Jahre 1935 als Mitglied des VDCh geführt wurde. Der Austritt von Dr. May steht im Zusammenhang mit der Gleichschaltung des VDCh durch die Nationalsozialisten. Seit 1933 galt im Verein das Führerprinzip und ab 1934 enthielt die Satzung politisch-ideologische Ziele, welche die Mitgliedschaft von Juden ausschloss (s. Arno Simon, „140 Jahre chemische Gesellschaften in Deutschland“, in: Nachr. Chem. 55 (2007) Heft 11, S. 1099; Helmut Maier, „Die chemischen Gesellschaften im Dritten Reich,“ in: Nachr. Chem. 57 (2009) Heft 3, S. 349). 31 Ernst Klee, „Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945“, Weltbild (Augsburg 2005), S. 304. 32 Kranefuß bearbeitete im Stabe Himmler die Angelegenheiten der Industrie. Klee, Personenlexikon, S. 335. 33 Radandt, Fall 6, S. 284. 34 Es ist zu vermuten, dass Pistor mit Dr. S. = Dr. Saenger hinterfragte. 35 Dr. Bernhard Buhl, Vorstandsmitglied der I.G., zuständig u .a. für juristische Fragen. 36 Rundschreiben von Dr. Pistor vom 18. 2. 1936. LHASA, MER, IG Farben Wolfen, Nr.1611, Rubrik Nr.27, Dr. Schöner. 37 Das entsprach wahrscheinlich der Wahrheit. Pistor hatte nämlich auch Vorstandskollegen angeschrieben und um Vorschläge für Aufgaben für Dr. May gebeten. 38 Dr. Pistor war zum Ende des Jahres pensioniert worden und 1938 in den Aufsichtsrat der I.G. gewechselt. Dr. Bürgin trat die Nachfolge für Dr. Pistor an und wurde 1938 Vorstandsmitglied. 39 Manfred Unger (Archivmitteilungen 5/1988, S. 15) zitiert aus dem Bericht des Internationalen Buchenwaldkomitees - Weimar 1945 – (3. Aufl. 1988), dass 270 Häftlinge aus Leipzig unter den 10500 eingelieferten Juden gewesen sind. 40 Z.B. Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden (26. 4. 38); Einführung einer Kennkarte für Juden ab 1.1.1939 (23. 7.1938); Einführung Jüdischer Vornamen (Sarah bzw. Israel) ab 1.1.1939 (17. 8.1938); Reisepässe der Juden werden mit „J“ gekennzeichnet

– 170 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

(5.10.1938); Sühneleistung der Juden in Höhe von eine Milliarde Mark (12.11.1938). 41 Am 6. 6. 1939 erfolgten Zahlungen für die Monate April und Mai. Die Juni-Karenzzahlung war für Ende des Monats Juni veranlasst. 42 Dr. Goldacker war mit einer Jüdin verheiratet und kehrte mit dieser von einer Auslandsurlaubsreise nicht nach Deutschland zurück. Vgl. Manfred Gill, Peter Löhnert, „Ein Beitrag zu Schicksalen jüdischer Chemiker in der Filmfabrik Wolfen nach 1933“, FG Geschichte der Chemie der GDCh Mitteilungen Nr. 14 (1998), S.110. 43 Bekanntmachung des Bürgermeisters der Gemeinde Wolfen vom 9. 6. 1945 über die Neubezeichnung von Straßen und Plätzen, Archiv des ifm, Materialsammlung Wolfener Straßennamen, UA, BA 593. 44 Presseveröffentlichung in der Lokalzeitung „Freiheit“ am 24.11.1961, Archiv des ifm, Zeitungssammlung. 45 Persönliche Angaben über Dr. Mariam sind entnommen aus LHASA, MER. IG Farbenfabrik Wolfen, Nr.1680 und 1681 (Personalakten) und Nr. 1611 (Personalabteilung/Schriftverkehr, Rubrik Nr. 39, Dr. Mariam). 46 Internet-Patentrecherche im Deutschen Patent- und Markenamt München (dpma, DEPATISnet). DRP 416277 und 427999 „Verfahren zur Herstellung gerbender Stoffe“. 47 Günter Wagner, „Die Jüdische Gemeinde in Delitzsch-Bitterfeld-Eilenburg 1861-1945,“ Veröffentlichungen zur Delitzscher Geschichte Heft 15 (1998), hrsg. v. Landratsamt und Stadtverwaltung Delitzsch. 48 Ausführungen zu dieser Sitzung wurden von uns bereits publiziert in: P. Löhnert, M. Gill: „Ein Beitrag zu Schicksalen jüdischer Chemiker in der Filmfabrik Wolfen nach 1933“, FG Geschichte der Chemie der GDCh, Mitteilungen Nr. 14 (1998), S.110. 49 Bernd G. Ulbrich, „Antisemitismus in Dessau – Eine Spurensuche in den Jahren 1924 bis 1939“, edition RK (Dessau 2004). 50 Das Haus in der Albrechtstraße 13 wurde im März 1945 zerbombt. Die Ruine wurde beräumt. 51 Eva-Maria Herz-Michl, Dagmar Mäbert, „Verfolgt…Vertrieben…Erinnerungen ehemaliger jüdischer Bürger aus Dessau“, Hrsg.: Moses-Mendelssohn-Gesellschaft (MMG) Dessau e.V., Heft 6 (1998), S. 71. Dieses Heft enthält 30 Erinnerungsberichte von ehemaligen jüdischen Bürgern aus Dessau bzw. deren Nachkommen, die heute in Australien, England, Frankreich, Israel, USA oder Deutschland leben. Die Berichte enthalten in unterschiedlichem Umfang sehr eindringliche Beschreibungen des Lebens als Jude in Dessau. Durch die Unterschiedlichkeit der Lebensumstände und Erlebnisse wird in den Berichten ein sehr detailliertes Bild der Verhältnisse in Dessau in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts vermittelt. 52 Briefe von Rudolph Mariam und Hortense Lewin, geb. Mariam im Archiv der MMG, Ordner: Vorbereitung Heft 6 der Broschürenreihe, Rubrik Mariam. 53 Frau Hortense Lewin (geb. 1918), jetzt wohnhaft in New York, hat mit Schreiben vom 7. Februar 2008 an den Verfasser die Genehmigung erteilt, ihre persönlichen Erinnerungen für

– 171 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

diese Veröffentlichung mit zu verwenden. Kopie dieses Briefes im Archiv der MMG, Ordner Schriftverkehr 2008. 54 Frau Dorothea Lewkowitz, geb. Singer, Witwe, Moltkestr. 10 (Aus: „Der Mitteldeutsche“ vom 9.11.1938, Namensliste der in Dessau noch 204 lebenden Juden). 55 Zu Beginn des Krieges am 1. September 1939 waren Tausende von Containern (Liftvans) mit Auswanderergut jüdischer Bürger in den Häfen Antwerpen, Rotterdam, Marseille usw. und auch im Freihafen Hamburg verblieben. Die Nazis betrachteten nach dem Einmarsch in die jeweiligen Länder solche Fracht als deutsches Staatseigentum und verwerteten dieses Raubgut. Es kam z.T. sofort auf den deutschen Markt und wurde verkauft bzw. als „Katastrophenreserve“ eingelagert. Die Katastrophen traten mit den Bombenangriffen auf deutsche Städte ja auch ein. Der Historiker Götz Aly hat diese Vorgänge in seinem Buch: „Hitlers Volksstaat – Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus“, S. Fischer Verlag (Frankfurt/M. 2005), S. 139ff. ausführlich dargestellt. 56 An Frau Mariam wird auch ehrend gedacht im „Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Ju- den unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945,“ Bundes- archiv Koblenz 1986, S. 976. 57 Frau Lewin teilte mir mit, dass die I.G. Farbenindustrie AG. i. L: nach dem Kriege an Dr. Mariam bis zu seinem Tode Pensionszahlungen geleistet hat. 58 Internet-Patentrecherche im Deutschen Patent- und Markenamt (dpma, DEPATISnet). 12 Patente mit unterschiedlichen Miterfindern auf verschiedenen Spezialgebieten der Chemie.

– 172 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Ernst August Geitner (1783-1852) – Arzt, Chemiker, Metallurge, Erfinder und Unternehmer

Dr. Gisela Boeck, Universität Rostock, Institut für Chemie, Albert-Einstein-Str. 3a,18059 Rostock

Am 12. und 13. Juni 2008 fand in Olbernhau eine wissenschaftshistorische Ta- gung statt, die dem Leben und Wirken Ernst August Geitners gewidmet war. Die wissenschaftliche und technische Vorbereitung lag in den bewährten Händen von Dr. sc. phil. Dr. rer. nat. Hans-Henning Walter (Freiberg). 34 Teilnehmerinnen und Teilnehmer reisten aus Deutschland und Österreich an. In 23 Vorträgen wur- den die Facetten des Schaffens von Geitner beleuchtet und diskutiert.

Geitners Name ist vor allem mit der 1822 mitgeteilten Erfindung des Argentans, genauer gesagt, der Nacherfindung des chinesischen Pakfongs verbunden, einer Legierung aus Nickel, Kupfer und Zink, die wie Silber zu vielerlei Gebrauchsge- genständen verarbeitet wurde. Geitner, am 12. Juni 1783 in Gera geboren, als Arzt ausgebildet, eröffnete 1810 in Lößnitz eine chemische Fabrik, in der Textil- und keramische Farben sowie Lebensmittelersatzstoffe hergestellt wurden, die 8 Jahre später nach Schneeberg verlegt wurde. 1829 kaufte Geitner das Metallwerk „Auerhammer“ als Argentan-Fabrik. Die Spuren seiner industriellen Unterneh- mungen lassen sich bis in das 20. bzw. 21. Jahrhundert verfolgen: Z. B. stellt die Auerhammer Metallwerke GmbH heute nickelhaltige Speziallegierungen her. Später legte Geitner auch Gewächshäuser mit tropischen Pflanzen in Planitz un- ter Nutzung unterirdisch brennender Kohleflöze an.

Über diese Aspekte Geitners als technischer Chemiker, Metallurge und Unter- nehmer berichteten u.a. Horst Remane (Leipzig), Heiner Kaden (Meinsberg), Robert Walter (Jülich), Gerhard Görmar (Leipzig), Lothar Suhling (Hocken- heim), Hans Jörg Köstler (Leoben), Alfred Weiß (Wien), Peter Lange (Orlamün- de), Wolfgang Uhlig (Aue) Günter Zorn (Zwickau) und Jürgen Luh (Potsdam).

Auf die Biografie und die Persönlichkeit des Jubilars gingen Hans-Henning Wal- ter und Ursula Walter in ihren Beiträgen ein. Um die medizinische Ausbildung Geitners in die Zeit einordnen zu können, berichtete Ingrid Kästner (Leipzig)

– 173 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

über das Medizinstudium und die medizinische Praxis im 19. Jahrhundert. Geit- ner hinterließ eine Reihe von Schriften, die Christel Grau (Freiberg) zusammen- gestellt hatte. Die meisten seiner Artikel widmeten sich Fragen der Farben- und Keramikherstellung, aber auch über eigene Versuche der Zuckergewinnung aus Stärke wusste Geitner schon 1812 zu berichten. Bereits in seiner Studienzeit hat- te sich Geitner mit der Abfassung populärwissenschaftlicher Schriften befasst, u.a. auch mit speziell an Frauen gerichteten Briefen über die Chemie. Darauf ging Gisela Boeck (Rostock) näher ein. Da Geitner auch ein Gutachten zu dem „Guten Brunnen“ bei Zwönitz verfasst hatte, widmeten sich die Beiträge von Uwe Schneider (Zwönitz) und Oliver Humberg (Wuppertal) dieser Quelle und deren frühneuzeitlichen Beschreibung von Johann Thölde (um 1565-1614).

Hans-Heinz Emons (Goslar) zeigte auf, dass Blaufarben in der sächsisch- norwegischen Zusammenarbeit eine Rolle spielten, Eberhard Auer (Erfstadt), dass Geitner auch in der Numismatik seine Spuren hinterlassen hat. Peter Hohei- sel (Freiberg) beschrieb die Arbeit des Bergarchivs Freiberg und dessen Bestand zu Geitner, Jörg Zaun (Freiberg) stellte die historische Modellsammlung der Technischen Universität Bergakademie Freiberg vor, Angelika Lampadius (Hartha) sprach über ihren Vorfahren Wilhelm August Lampadius (1772-1842), um die Aktivitäten beider sächsischen Chemiker vergleichen zu können.

Am Ende der Tagung wurde die Möglichkeit geboten, Geitners Wirkungsstätten kennenzulernen. Die Exkursion am 14. Juni 2008 führte in die Nickelhütte in Aue und nach Lößnitz, wo Steffi Rathe (Aue) mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern auf Geitners Spuren wandelte. Dieser Tag war ein gelungener Ab- schluss der von Hans-Henning Walter sehr gut vorbereiteten und mit der techni- schen Unterstützung seiner Familie und Christel Grau erfolgreich durchgeführten Konferenz im sächsischen Erzgebirge. Der Tagungsort – die Saigerhütte Grün- thal – bot nicht nur den historischen Rahmen, sondern auch ein gastfreundliches Ambiente.

Die Vorträge der Tagung werden im Drei-Birken-Verlag (ISBN 978-3-936980- 25-7, Preis 50 €) Anfang 2009 veröffentlicht. Außerdem kann eine Gedenkme- daille aus Neusilber (CuNi12Zn24, patiniert, polierte Platte, 30 g, Durchmesser 40 mm, Dicke 3,5 mm, Preis 25 €) mit dem Bildnis Geitners, die anlässlich der Tagung geprägt wurde, beim Organisator (E-Mail: [email protected]) bezogen werden.

– 174 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Vom Cholesterin zum Flachbildschirm: Eine Ausstellung zur Geschichte der Flüssigkristall- Forschung im Bunsen-Archiv Gießen

Prof. Dr. Horst Stegemeyer, Department für Chemie, Fakultät für Naturwissenschaften, Universität Paderborn; privat: Erwin-Pfefferle-Weg 10, 79244 Münster

Man liest eine SMS-Nachricht auf dem Mobiltelefon, schaut einem Fußballspiel auf einem großen Flachbildschirm zu – wer weiß dabei schon, dass diese Infor- mationen durch Flüssigkristalle erzeugt werden? Um einem solchen Wissensde- fizit abzuhelfen, wurde in den letzten Jahren im Bunsen-Archiv in Gießen eine Ausstellung „Vom Cholesterin zum Flachbildschirm“ über die Geschichte der Flüssigkristallforschung, von ihren Anfängen im Jahr 1888 bis heute, eingerich- tet. Die Aufbauarbeit wurde erbracht von Horst Stegemeyer, Universität Pader- born, und Ludwig Pohl, früher bei Merck Darmstadt. Die Ausstellung bietet einen Rundgang durch 120 Jahre Flüssigkristallforschung anhand von Schauta- feln und Vitrinen, in denen historische Exponate und Muster heutiger Flüssigkri- stall-Displays präsentiert werden (Abb. 1). Anhand eines großflächigen Flachbildschirms können historische Filme aus der frühen Jahren der Forschung gezeigt werden. Zum Motto der Ausstellung: Warum begann’s mit dem Cholesterin? Eigentlich fing die Flüssigkristall-Forschung mit Karotten an! Denn der Botaniker (!) Fried- rich Reinitzer in Prag isolierte 1888 einen damals unbekannten Stoff aus den Ka- rotten, den man später Cholesterin nannte. Um die Bruttoformel mit Hilfe der Elementaranalyse zu ermitteln, stellte er Derivate her, u.a. das Acetat und Benzo- at. Unter dem Mikroskop beobachtete er, dass diese Verbindungen beim Schmel- zen zunächst in eine trübe Flüssigkeit übergingen; erst bei höherer Temperatur wurde diese völlig klar. Da sich ein solcher bisher nie beobachteter Prozess beim Abkühlen umkehrte, sprach Reinitzer von „zwei Schmelzpunkten“1. Er fragte einen Physiker um Rat: Otto Lehmann, der in Karlsruhe als Nachfolger des No- belpreisträgers Heinrich Hertz Physik lehrte. Lehmann, Erfinder eines Kristallisationsmikroskopes, erkannte sehr bald, dass Reinitzers Substanzen zwischen den „beiden Schmelzpunkten“ in einem bisher unbekannten Aggregatzustand vorliegen – er sprach zunächst von „fließenden

– 175 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Kristallen“, die sowohl eine Anisotropie physikalischer Eigenschaften wie eine Fluidität auszeichnet.2

Abb. 1: Längs eines Zeitbandes zeigen Schautafeln die Geschichte der Flüssigkristall-Forschung; historische Exponate begleiten diesen Weg in Vitrinen.

Kurze Zeit später, im Jahr 1890, fand Ludwig Gattermann bei Arbeiten über Azoxyphenolether analoge Eigenschaften wie von Reinitzer und Lehmann be- schrieben. Damit war auch offenkundig geworden, dass das neue Phänomen nicht auf Derivate eines Naturstoffs (Cholesterol) beschränkt war. Gattermann verwendete in seiner Publikation erstmals den Begriff „Flüssige Kristalle“. Sein p-Azoxyansisol war jahrzehntelang das Objekt par excellence für physikalische Studien.

Anfang des 20. Jahrhunderts begann Daniel Vorländer in Halle mit systemati- schen Synthesen flüssig-kristalliner Substanzen, um die Zusammenhänge zwi- schen Molekülstruktur und physikalischen Eigenschaften aufzuklären. Eine Vielzahl seiner Präparate ist bis heute erhalten, gesammelt in illustren Zigarren- kisten (Abb. 2).

Die Firma Merck Darmstadt nahm auf Anregung von Otto Lehmann um 1910 einige Flüssigkristall-Substanzen in ihr Sortiment auf, ohne dass sich natürlich ein Verkaufserfolg einstellte (s. Abb. 2).

Die Kernfrage, ob Materie in einem Zustand existieren kann, der gleichzeitig kristallin und flüssig ist, hat die wissenschaftliche Szene im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts beherrscht. Lange Zeit wurde die Existenz eines „vierten

– 176 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Aggregatzustandes“ bezweifelt: Gustav Tammann vor allem hielt Lehmanns flie- ßende Kristalle für Emulsionen unreiner Stoffe.

Nachdem diese Frage als geklärt galt, wurde die Flüssigkristallforschung lange Jahre als l’art pour l’art betrieben. Die Schwarmtheorie von Wilhelm Kast ver- suchte die Anisotropie durch mikroskopische Aggregation stäbchenförmiger Mo- leküle zu erklären, musste aber der Kontinuitätstheorie weichen. In der Ausstellung kann ein Film mit den klassischen Schüttelversuchen Kasts vorge- führt werden, in denen er die Aggregation mit kleinen Magnetstäbchen simuliert.

Otto Lehmann führte um 1910 einen intensiven Gedankenaustausch mit dem Na- turphilosophen Ernst Haeckel, der in den Flüssigkristallen ein Brückenglied zwi- schen lebender und unorganischer Materie zu finden glaubte. Haeckel sprach von „Lebenswundern“, Lehmann dagegen nur von „scheinbarem Leben“. Dieser in- teressante Gedankenaustausch ist in der Ausstellung durch historische Bücher dokumentiert (s. Abb. 2, rechts).

Abb. 2: Blick in eine der Vitrinen. Links: alte Flüssigkristall-Präparate von Vorländer und Merck; rechts: historische Bücher über scheinbares Leben der Flüssigkristalle. (Foto: Jens Riedel, Gießen)

Neben den „einfachen“ Flüssigkristallen, den nematischen, die nur eine Orientie- rungsfernordnung der Stäbchenmoleküle aufweisen, fand man bald höher geord- nete, aber dennoch fluide Phasen, die sogenannten smektischen Flüssigkristalle. Hiervon existierten offensichtlich mehrere Phasentypen. Mit Hilfe der Mischpha- senthermodynamik stellte Horst Sackmann in Halle ab 1959 ein phänomenologi- sches System auf, das Ordnung in die Vielfalt der Beobachtungen brachte. Dieses

– 177 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

System (smektisch A, B, C, …) ist heute weltweit etabliert. Seine Entstehung basierte auf Experimenten mit den in der Ausstellung gezeigten Präparaten Vor- länders (s. Abb. 2), die Sackmann in Halle vorfand. Elektro-optische Effekte an Flüssigkristallen waren seit längerer Zeit bekannt und ließen eine Anwendung zur Informationsdarstellung erwarten. Ein Durch- bruch gelang jedoch erst 1968 mit dem von George Heilmeier bei RCA gefunde- nen Effekt der Dynamischen Streuung. Prototypen der ersten Zellen dieser Technik mit 7-Segment-Anzeige zeigt die Ausstellung. Einer breiteren technischen Anwendung standen jedoch jahrelang die hohen Temperaturen des flüssigkristallinen Existenzbereichs entgegen, bis Hans Kelker 1969 mit den bei Raumtemperatur nematischen Schiffschen Basen der Durch- bruch gelang. Die von Hans Kelker (1922-1992) zusammengetragene Sammlung, von seinen Erben der Bunsen-Gesellschaft übereignet, bildet den Grundstock der vorliegenden Ausstellung.

Wegen der mangelnden Stabilität der Schiffschen Basen war die Suche nach neu- en thermisch und photochemisch stabilen Substanzen erforderlich, was letztend- lich den Forschern der Fa. Merck Darmstadt hervorragend gelang.

Die ersten Flüssigkristall-Displays (LCDs) mit Dynamischer Streuung erweisen sich wegen der elektrochemischen Prozesse an den Segment-Elektroden als nicht betriebssicher. Eine grundlegende Verbesserung brachte die Erfindung der so genannten Drehzelle (TN-Zelle, von „Twisted Nematic“) durch Martin Schadt und Wolfgang Helfrich (Hoffmann-LaRoche) im Jahr 1971. Auf dieser Technik, die in der Ausstellung ausführlich erläutert wird, beruhen heutzutage viele LCDs. Der Besucher erkennt auch, welche Durchsetzungsprobleme diese neue Techno- logie hatte, so besonders gegen die Schweizer Uhrenindustrie bei digitalen Arm- banduhren.

Der lange und mühsame Weg zum flachen TV-Großbildschirm der heutigen Ta- ge, von Hans Kelker bereits 1971 vorher gesagt, wird an Hand von Schautafeln und in weiteren Vitrinen dokumentiert, wobei auch auf die verschiedenen An- steuertechniken eingegangen wird. Prototypen zunächst kleiner Flüssigkristall- Bildschirme und das Innere von heutigen Flüssigkristall-Navigationsgeräten (die in Deutschland konzipiert, aber in Fernost produziert werden) machen den Besu- cher mit der stürmischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte vertraut. Er erkennt auch an Zahlenbeispielen, wie seit 2002 die TV-Flachbildschirme zunehmend die alten Röhrengeräte verdrängt haben.

Auf einer der letzten Schautafeln wird dokumentiert, wie die Pionierleistungen der Flüssigkristallforschung in Europa und den USA nach Fernost wanderten und

– 178 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

von dort der Markt der LCDs total beherrscht wird. Lediglich die Produktion der Flüssigkristall-Substanzen und maßgeschneiderten LCD-Mischungen blieb im Westen: die Firma Merck Darmstadt ist darin unbestrittener Weltmarktführer!

Die Flüssigkristall-Ausstellung wurde am 13. Oktober 2007 durch Prof. Dr. Wolfgang Grünbein vom Vorstand der Deutschen Bunsen-Gesellschaft eröffnet; er dankte der Familie Kelker für die Übereignung der umfangreichen Sammlung des verstorbenen Hans Kelker. Prof. Dr. Bernhard Spengler, Liebig-Gesellschaft, begrüßte als Hausherr die ca. fünfzig geladenen Gäste.3

Die Ausstellung ist seitdem als Dauerausstellung in den Räumen des Bunsen- Archivs im Liebig-Museum Gießen (2. Etage) zugänglich und wurde inzwischen von vielen Interessenten besucht.4

Für eine Besichtigung – verbunden mit einem lohnenswerten Gang durch die Räume des Lie- big-Museums – ist eine Anmeldung beim Kurator des Liebig-Museums, Herrn Dr. Bernd Com- merscheidt, zu empfehlen. (Telefon: 0641 - 99 34 162 oder 0641 - 76 392, zweckmäßiger per Email: [email protected]) Danksagung: Für ideelle und materielle Unterstützung beim Aufbau der Ausstellung sei ge- dankt: der Familie Kelker, der Fa. Merck Darmstadt, der Deutschen Flüssigkristall-Gesellschaft, Prof. Dr. Peter Knoll, Ettlingen, Dr. Rudolf Eidenschink (Nematel Mainz), Dr. Günter Baur, Freiburg, Dr. Hans von Zerssen, Gießen. 1 Horst Stegemeyer, Von der Karotte zum Flachbildschirm – Friedrich Reinitzer, Ein Beitrag zum 150. Geburtstag des Entdeckers der Flüssigkristalle, Bunsen-Magazin 9 (2007), 120- 126. 2 Peter M. Knoll, Hans Kelker, Otto Lehmann – Erforscher der flüssigen Kristalle, Frankfurt 1988 (im Selbstverlag bei Prof. Dr. P. Knoll, Ettlingen). 3 Horst Stegemeyer, Ludwig Pohl, Die Flüssigkristall-Ausstellung im Bunsen-Archiv „Vom Cholesterin zum Flachbildschirm“, Bunsen-Magazin 10 (2008), 25-27; Nachr. Chemie 56 (2008), 97. 4 Horst Stegemeyer:, Ein Jahr Flüssigkristall-Ausstellung im Bunsen-Archiv, Bunsen-Magazin 10 (2008), xx. Einen umfassenden Überblick über die Geschichte der Flüssigkristall-Forschung findet man in T. J. Sluckin, D. A. Dunmur, H. Stegemeyer, Crystals that flow, Taylor & Francis (London 2004).

– 179 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Julius Adolph Stöckhardt zum 200. Geburtstag

Dr. Gisela Boeck, Universität Rostock, Institut für Chemie, Albert-Einstein-Str. 3a,18059 Rostock , Juniorprofessor Dr. Matthias Lehmann, Technische Universität Chemnitz, Nichtklassische Synthesemethoden, Straße der Nationen 62, 09111 Chemnitz

Mit einem Festkolloquium ehrten am 14. Mai 2009 die Fachrichtung Forstwis- senschaften an der TU Dresden und der Ortsverband der GDCh Dresden das An- denken an Julius Adolph Stöckhardt. Es fand in Tharandt statt, dem Ort, in dem Stöckhardt ab 1847 als Professor auf dem neu geschaffenen "Lehrstuhl für Agri- kulturchemie" an der Königlich Sächsischen Akademie für Forst- und Landwirte 36 Jahre lang gewirkt hatte. Der Direktor des Institutes für Pflanzen- und Holz- chemie, Prof. Dr. Steffen Fischer, führte durch das Programm. Grußworte über- brachten Prof. Dr. Sven Wagner, Studiendekan der Fachrichtung Forstwissen- schaften, Prof. Dr. Wolfram Koch, Geschäftsführer der GDCh, und Norbert Eichkorn, Präsident des Sächsischen Landesamtes für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie. Prof. Dr. Dr. h. c. Otto Wienhaus aus Tharandt stellte Stöckhardts nationale und internationale Bedeutung dar. Es schlossen sich Beiträge an, die in enger Beziehung zu den von Stöckhardt bearbeiteten Fragen der Agrikultur- und Forstchemie standen: Prof. Dr. Hans-Peter Fink vom Fraunhofer-Institut für An- gewandte Polymerforschung in Potsdam-Golm berichtete über neue Cellulose- materialien, Prof. Dr. Joachim Katzur aus Finsterwalde (Forschungsinstitut für Bergbaufolgelandschaften e.V.) behandelte Fragen des Einsatzes chemisch ver- änderter Braunkohle als Humusdüngemittel und Prof. Dr. Peter Leineweber von der Universität Rostock ging auf moderne chemisch-analytische Methoden zur Charakterisierung des Humuszustandes von Böden ein. Musikalisch wurde die Veranstaltung von den Jagdhornbläsern der Tharandter Forststudenten gelungen umrahmt.

Den Abschluss des Kolloquiums bildete ein Rundgang durch Tharandt auf Stöckhardts Spuren. Prof. Wienhaus führte die Teilnehmer zuerst in die Biblio- thek, die zahlreiche Werke von Stöckhardt bewahrt. Dann wurde das ehemalige Akademiegebäude aufgesucht, in dem bereits bei der Errichtung 1847 für Stöck- hardt ein modernes agrikultur-chemisches Labor eingerichtet worden war. Schließlich folgten die Teilnehmer Stöckhardts täglichem Arbeitsweg zu seiner

– 180 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Villa, von der aus sich ein wunderbarer Blick in das Tal der Weißeritz über Tha- randt mit seinen modernen universitären Einrichtungen, aber auch dem histori- schen Stöckhardt-Bau eröffnet. Garten und Villa werden von Familie Dr. Ul- bricht in mühevoller Arbeit denkmalsgerecht erhalten.

Abb. 1: Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Gerhard Ertl mit einer Schülergruppe beim Stöckhardt- Festkolloquium am 15.01.2009 an der TU Chemnitz. Bild: Dr. Norbert Rumpf (Chemnitz)

Diese gelungene Veranstaltung war der zweite Teil der Stöckhardt-Ehrungen, die mit einem Festkolloquium über „Katalyse“ an der Technischen Universität Chemnitz am 15.01.2009 in Anwesenheit der Sächsischen Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst, Dr. Eva-Maria Stange, des Rektors der TU Chemnitz, Prof. Dr. Klaus-Jürgen Matthes und des Chemnitzer Bürgermeisters Berthold Brehm, begonnen hatten. Insbesondere unterstrichen sie in ihren Beiträgen die große Bedeutung der Chemie und einer fundierten Chemiebildung. Sie betonten die Notwendigkeit, schon frühzeitig Kinder an die Naturwissenschaften heranzu- führen, wofür eine hohe didaktische Qualifikation der Lehrer eine wichtige Vor- aussetzung darstellt.

Prof. Dr. Günter Marx (TU Chemnitz), der Stöckhardts Erbe in Chemnitz durch die Gründung des wissenschaftlichen Stöckhardt-Kolloquiums, des Chemnitzer

– 181 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Stöckhardt-Clubs und des Schülerwettbewerbs wiederbelebt hat, stellte Stöck- hardts Wirken für die Industrie und die Umwelt dar.

Abb. 2: In der Bibliothek in Tharandt – die Teilnehmer des Rundgangs bestaunen Stöckhardts Werke, unter anderem das Guanobüchlein, als Belehrung für die Deutschen Landwirte, das die Bedeutung der Stickstoffdüngung erklärt. Bild: Dr. Matthias Lehmann und Dr. Norbert Rumpf (Chemnitz)

Der wissenschaftlichen Teil des vom Institut für Chemie der TU Chemnitz und des Ortsverbandes der GDCh Chemnitz durchgeführten Kolloquiums widmete sich der Katalyse, einer Schlüsseltechnologie für Industrie und Forschung, aber auch im Alltag. Prof. Dr. Harald Gröger von der Universität Erlangen-Nürnberg sprach zum Thema "Organische Synthesechemie mit Enzymen und Designerzel- len als Katalysatoren". Biokatalyse ist eine Zukunftstechnologie, die nicht nur vermehrt in Forschungslaboratorien bei der Synthesechemie, sondern auch in der industriellen Produktion Anwendung findet. Um auf diesem Gebiet erfolgreich zu sein, ist Interdisziplinarität unabdingbar. Die Interdisziplinarität und vor allem die Interkulturalität spielten auch in dem Vortrag von Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Wolfgang A. Herrmann (TU München) zum Thema "Zukunftstechnologie Kata- lyse" eine große Rolle. Den Höhepunkt der Veranstaltung bildete der Festvortrag von Nobelpreisträger Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Gerhard Ertl (Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft Berlin), der als Begründer der Oberflächenchemie

– 182 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 in Deutschland die Einzelprozesse der heterogenen Katalyse, zum Beispiel von Industrie- und Autokatalysatoren, studierte. Gerade an diesen Beispielen wird deutlich, wie sich ganz im Stöckhardtschen Sinne Grundlagenforschung und in- dustrielle Anwendung gegenseitig befruchten.

Auch in Röhrsdorf bei Meißen, dem Geburtsort von Stöckhardt, wurde am 13. Mai 2009 von der Ev.-Luth. St. Bartholomäus-Kirchengemeinde eine Gedenk- veranstaltung durchgeführt, auf der Prof. Otto Wienhaus über Stöckhardts Werk, Dr. Gisela Boeck (Universität Rostock) über die Chemieausbildung zu Stöck- hardts Zeiten und Pfarrer Christoph Rechenberg (Röhrsdorf) über die Familie Stöckhardt sprachen.

– 183 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Aus dem Fachgebiet

Die European Science Foundation hat für den Förderzeitraum 2008–2013 ein neues Research Networking Programme DRUGS begründet, in dem es in wis- senschaftshistorischer und wissenschaftssoziologischer Perspektive um Fragen der Standardisierung bei Entwicklung, staatlicher Regulierung, Marketing und Verwendung von Pharmazeutika geht. Standardisierung wird dabei sowohl als gesellschaftliche Praxis als analytisches Werkzeug verstanden. Vier Arbeitsgrup- pen widmen sich den Themen Antibiotika, Herz-Kreislauf-Präparate, bio(techno)logische Arzneimittel und Psychopharmaka. Weitere Informationen unter: < http://www.esf.org/>.

*

Die Fachgruppe Geschichte der Chemie der Gesellschaft Deutscher Chemiker und der Fachverband Geschichte der Physik der Deutschen Physikalischen Ge- sellschaft veranstalteten vom 24. bis 27. März 2009 in Göttingen eine gemeinsa- me Tagung zum Thema Geschichte der Materialforschung. Im Mittelpunkt standen die Geschichte der chemischen und physikalischen Verfahren der Mate- rialforschung, der Herausbildung der Materialwissenschaften sowie neuere An- sätze der Wissenschaftsgeschichte der Stoffe.

*

Im Rahmen des XXIII. Internationalen Kongresses für Wissenschaftsgeschichte veranstaltete die Commission on the History of Modern Chemistry am 29. Juli 2009 ein Symposium zum Thema Chemistry in the Aftermath of World Wars .

*

Die 7th International Conference on the History of Chemistry zum Rah- menthema “Consumers and Experts: The Uses of Chemistry (and Alchemy)” fand vom 2. bis 5. August 2009 in Sopron, Ungarn, statt. Programm und weitere Informationen: .

*

Vom 16. bis 17. Oktober 2009 fand in Pruhonice, Prag, ein internationaler Work- shop Wald, Positivism, and Chemistry statt. Im Zentrum standen die naturphi-

– 184 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

losophischen und antiatomistischen Positionen von Wilhelm Ostwald und Franti- sek Wald. Information: Prof. Dr. Klaus Ruthenberg, Coburg .

*

Im Kontext einer wissenschaftshistorischen Erschließung der ehemaligen Biblio- thek der Maison de la Chimie in Paris fand am 19. und 20. November 2009 in der Faculté des Sciences d’Orsay eine Tagung zum Thema Réorganiser la chimie au sortir de la Grande Guerre, 1918-1927 statt. Auskünfte von der Organisato- rin der Tagung, Dr. Danielle Fauque .

*

The power of the margins: Construction and transformation of disciplinary identities in historical perspective war das Thema eines Workshops, zu dem der Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte der Universität Regensburg gemein- sam mit dem Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld vom 4.-6. Dezember 2009 nach Regensburg eingeladen hatte. Teilneh- mer aus Belgien, Frankreich, Großbritannien, Israel, Italien, den Niederlanden, den USA und Deutschland diskutierten am Beispiel der chemischen Wissen- schaften über Genese, Wandel und Binnendifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen.

*

Vom 26. bis 28. Mai 2010 findet in Bad Frankenhausen am Kyffhäuser eine Vor- tragstagung über den Alchemisten, Salinisten, Schriftsteller und Bergbeamten Johann Thölde (ca. 1565-1614) statt. In die Wissenschaftsgeschichte ist Thölde vor allem als Herausgeber der alchemistischen Schriften des angeblichen Basilius Valentinus eingegangen; daneben hat er Werke zum Salinenwesen verfaßt. Kon- takt: Dr. Hans-Hennig Walter, Waldenburger Str. 89, 09599 Freiberg .

*

Die Deutsche Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik und die Gesellschaft für Technikgeschichte veranstalten vom 24. bis 26. September 2010 in Maastricht, Niederlande, eine gemeinsame Jahrestagung zum Thema Ernährung, Essen und Trinken aus medizin-, wissenschafts- und technikhistorischer Perspektive. Erwünscht sind Vorträge, die dabei die Rolle von Technik und Wissenschaft in der Erforschung, der Analyse, der Herstellung,

– 185 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

der Konservierung, dem Transport, der Verteilung, dem Konsum und auch der Entsorgung von Nahrungsmitteln diskutieren. Mögliche Themen sind auch die Erforschung, Produktion und der Konsum von Ersatzstoffen, künstlichen Aro- men oder Geschmacksverstärkern, Verpackungs- und Konservierungstechniken, Ernährungsforschung im disziplinären (Spannungs-)Feld von Physiologie, Medi- zin, Chemie und Physik. Willkommen sind sowohl Vorschläge zu Einzelvorträ- gen als auch zu Sektionen. Bewerbungen bis zum 31. März 2010 an PD Dr. Sa- bine Schleiermacher. .

– 186 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Stipendien und Preise

Der vom Ludwigshafener Unternehmer Wilhelm Lewicki seit 1994 gestiftete chemiehistorische Liebig-Wöhler-Freundschafts-Preis wurde am 12. Mai 2007 an Dr. Jochen Haas, Apotheker in Kelsterbach, für seine Dissertation „Vigantol - Adolf Windaus und die Geschichte des Vitamin D“ (Universität Heidelberg, 2004) vergeben. – Am 14. Juni 2008 wurde auf der Mitgliederversammlung der Göttinger Chemischen Gesellschaft Museum der Chemie e.V. dieser Preis zum 22. Mal vergeben. Preisträger war Dr. Günther Beer, Göttingen, der für seine wissenschaftlichen Arbeiten zur Chemiegeschichte ausgezeichnet wurde und der sich besonders um das von ihm wesentlich mit aufgebaute und langjährig betreu- te "Museum der Göttinger Chemie" verdient gemacht hat. – Am 6. Juni 2009 wurde Prof. Dr. Christoph Meinel, Universität Regensburg, der Preis für seine chemiegeschichtlichen Arbeiten zu Liebig und Wöhler verliehen. Der Preis wird jährlich zum 15. Dezember ausgeschrieben für publizierte Arbei- ten oder abgeschlossene Dissertationen in deutscher oder englischer Sprache, die sich mit Liebig, Wöhler oder deren chemiegeschichtlichem Umfeld befassen. Bewerbungen oder Anfragen an: Prof. Dr. Herbert W. Roesky, Göttinger Chemi- sche Gesellschaft Museum der Chemie e.V., Tammannstr. 4, 37077 Göttingen.

*

The Division of the History of Chemistry of the American Chemical Society (HIST) announces that Sir John Shipley Rowlinson, a Fellow of Exeter College at Oxford, has received the 2008 Sidney M. Edelstein Award for Outstanding Achievement in the History of Chemistry. Rowlinson was chosen from a group of international nominees “because of the breadth and quality of his re- search publications in the history of physical chemistry and his contributions over the last three decades to the development of the history of chemistry at the University of Oxford.” The 2009 Sidney M. Edelstein Award for Out- standing Achievement in the History of Chemistry was awarded to Trevor H. Levere, University Professor Emeritus at the Institute for the History and Phi- losophy of Science and Technology (IHPST) at the University of Toronto. Levere was chosen from a group of international nominees because of the breadth and depth of his historical interests, his research productivity, his under- standing of the intellectual and contextual aspects of the history of chemistry, and his promotion of the history of science in Canada. For additional information see the HIST website at .

– 187 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Die Society for the History of Alchemy and Chemistry verleiht in diesem Jahr erstmalig den John and Martha Morris Award für Geschichte der modernen Chemie und der chemischen Industrie. Der Preisträger, Raymond G. Stokes, Di- rektor des Zentrums für Unternehmensgeschichte und Professor für Unterneh- mensgeschichte an der Universität Glasgow, wird den Preis im April 2010 in Ox- ford entgegennehmen.

*

The Chemical Heritage Foundation, Pennsylvania, USA, is accepting applica- tions for long-term and short-term fellowships in residence at CHF's Beckman Center for the History of Chemistry for the academic year 2010-2011. These fellowships are for scholars working in some area of the history and social stud- ies of alchemical, chymical, chemical, and related sciences, technologies, crafts, or industries in all chronological and geographical areas. To get a better sense of the kinds of research we support, please visit our website and review the work being done by our current and past fellows. Our pages on Research and Fellow- ships can be found at: . The deadline for appli- cations is 15 February 2010. Contact: Fellowships Coordinator, Chemical Heri- tage Foundation, 315 Chestnut Street, Philadelphia, PA, 19106, USA.

– 188 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Eingesandte Neuerscheinungen

The Public Image of Chemistry, hrsg. v. Joachim Schummer, Bernadette Bensau- de-Vincent und Brigitte Van Tiggelen (Singapur/London: World Scientific, 2007), 383 S., ISBN 10 981-277-584-6

Der Sammelband bietet die erste zusammenfassende Darstellung der kulturellen und historischen Kontexte, innerhalb derer sich das Bild der Chemie in der Öf- fentlichkeit ausgeprägt hat. Er zeigt, wie in der Wechselwirkung zwischen Che- mikern einerseits, die ihr Fach zu popularisieren suchten, und auf der anderen Sei- te den Erwartungen und Ängsten von Nichtchemikern, ein öffentliches Bild der Chemie entstand und sich wandelte. Von führenden Experten geschrieben bringt der Band Licht in einen Blinden Fleck der Beziehungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft und ruft auf zu einem konstruktiven Dialog zwischen Naturwis- senschaftlern und der Öffentlichkeit.

Vello Past und Hein Tankler, Chemie an der Universität Tartu/Dorpat, 1802- 1918 (Tartu: Universität Tartu, 2007), 196 + [16] S., ISBN 978-9985-874-23-3

Die Universitäten des Baltikums waren im 19. Jahrhundert wichtige Stätten der naturwissenschaftlichen Forschung. Leider mangelt es an verläßlicher moderner Literatur zu ihrer Geschichte. Für die Chemie in Dorpat behebt der vorliegende Band dieses Defizit, indem er die Entwicklung des Faches im Spiegel der Fach- vertreter darstellt, unter denen Namen wie A.N. Scherer, W. Ostwald oder G. Tammann herausragen. Eine ausführliche Bibliographie der Publikationen Dorpa- ter Chemiker und ein Bildanhang runden den Band ab.

Johann Thölde, Examen und Iudicium deß weitbeschrienen Brunnens in der Chur Sachsen (Bamberg 1608; Reprint, hrsg. v. Oliver Humberg und Hans-Henning Walter (Freiberg: Drei Birken, 2007), 64 S., 15 €, ISBN 978-3-936980-24-0

Ein seltenes Quellenwerk zur Salinengeschichte der Frühen Neuzeit wird in die- sem kommentierten Nachdruck wieder zugänglich gemacht.

Johann Thölde, Haligraphia: Beschreibung aller Saltz-Mineralien und Saltzwercke [1603], Reprint mit Kommentaren von Hans-Henning Walter und Claus Priesner (Freiberg: Drei Birken, 2008), 144 S., 30 €, ISBN 978-3-936980- 03-5

Nach dem bereits 1992 erschienenen Reprint von Thöldes Haligraphia aus dem Jahre 1612 liegt hier nun ein Nachdruck der ersten Auflage des Werkes vor, des-

– 189 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

sen ausführliche Kommentare eine ausgezeichnete Einführung in das Salinenwe- sen und die Kochsalzgewinnung im hessisch-thüringischen Raum bieten.

Ernst-August Geitner, Chemisch-technologischer Robinson: Ein unterhaltendes und belehrendes Lesebuch für die Jugend, hrsg, mit einem Kommentar v. Gisela Boeck (Freiberg: Drei Birken, 2008), 178 S., 12 €, ISBN 978-3-936980-26-4

Das ursprünglich 1806 in Leipzig erschienene Werk schildert in Dialogform das Schicksal eines jungen Mannes, den es auf eine einsame Insel verschlägt, wo ihm nur seine chemisch-technischen Kenntnisse das Leben retten.

Viktor A. Kritzmann, Entstehung und Entwicklung der Chemie der metallorgani- schen Verbindungen vom 18. Jahrhundert zum Beginn des 20. Jahrhunderts (Berlin: NG-Verlag, 2008), 210 S., ISBN 3-938417-83-8

Von chemischen Stoffklassen und – vor allem russischen – Forschern her konzi- pierte Übersicht über diesen in Labor und Industrie wichtigen Verbindungstyp.

Georg Schwedt, Chemie & Literatur – ein ungewöhnlicher Flirt (Weinheim: Wi- ley-VCH, 2009), x + 274 S., ISBN 978-3-527-32481-1

Blütenlese aus literarischen Quellen von Dante bis Süskind, die mehr oder weni- ger etwas mit Chemie zu tun haben. Ein – wie der Klappentext verheißt – „etwas anderer Zugang zur Chemie“.

The Accademia del Cimento and its European Context, hrsg. v. Marco Beretta, Antonio Clericuzio und Lawrence M. Principe (Sagamore Beach: Science Histo- ry Publications, 2009), 257 S., ISBN 0-88135-387-6

Die Florentiner „Akademie des Experiments“ ging aus dem Schülerkreis Galileis hervor und ist von der neueren Forschung aufgrund ihres empirizistischen Ar- beitsstils und ihren impliziten atomistischen Positionen immer wieder untersucht worden. Eine systematische Analyse ihrer ‚chemischen’ Arbeiten fehlte jedoch bisher. Der vorliegende Band, der auf intensiven Quellenstudien beruht, liefert dazu völlig neue Einsichten und erhellt auch das personelle und institutionelle Umfeld der berühmten Akademie.

Chemie an der Universität Leipzig: Von den Anfängen bis zur Gegenwart, hrsg. v. Lothar Beyer, Joachim Reinhold und Horst Wilde (Leipzig: Passage-Verlag, 2009), 408 S., 19,50 €, ISBN 978-3-938543-61-0

Aus Anlaß des 600jährigen Universitätsjubiläums legen die Autoren eine detail- lierte und reich bebilderte Darstellung vor, deren Schwerpunkt im 20. Jahrhundert und insbesondere auf der Zeit nach 1945 liegt, für die vergleichbare historische

– 190 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506

Darstellungen bisher nicht existieren. Die Gliederung nach der Entwicklung des Lehrkörpers, der administrativen Strukturen und der einzelnen Fachgebiete, den Studiengängen, der baulichen Situation und schließlich sozialhistorischen Beiträ- gen zu chemischen Vereinigungen, zum Frauenstudium und Aspekten des Lokal- kolorits bietet eine Fülle interessanter Informationen, vor allem für Chemiker, die mit der Universität Leipzig verbunden sind.

Spendenaufruf

Die Bettina-Haupt-Stiftung in der GDCh fördert die chemiehistorische Forschung, indem sie herausragende Arbeiten von Nachwuchswissenschaftlern auszeichnet. Der Bettina-Haupt-Preis ist jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorbehalten und mit 1500 Euro dotiert. Berücksichtigt werden können publizierte und unpublizierte Arbeiten (auch Magisterarbeiten) in deutscher Sprache zu ei- nem beliebigen Thema aus der Geschichte der Chemie. Der Preis wird alle zwei Jahre vergeben.

Das Kapital der Bettina-Haupt-Stiftung liefert derzeit leider nicht mehr genug Er- träge, um den Bettina-Haupt-Preis wie bisher zu verleihen. Unter diesen Umstän- den kann der Preis seine Funktion in der Nachwuchsförderung nur noch unzurei- chend erfüllen.

Der Vorstand der Fachgruppe Geschichte der Chemie bittet daher alle Mitglieder, für die Erhaltung des Preises zu spenden. Schon kleine Zuwendungen können hier substantiell helfen. Spenden sind erbeten auf das Konto der GDCh, Konto-Nr. 4900 200 00 bei der Dresdner Bank Frankfurt, BLZ 500 800 00, Code: 6090/BHP.

– 191 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Inhaltsverzeichnis 1 (1988) – 20 (2008)

Heft 1 (1988) C. Meinel: Editorial ...... 3 J. Weyer: Bericht des Vorsitzenden ...... 6 G. Beer: Die chemiehistorischen Vorträge der Fachgruppe ‚Geschichte der Chemie’ ...... 9 H.-G. Schneider: Die Parallelität der Revolutionen in Chemie und Politik um 1900 ...... 26 M. Liefländer: Philipp Carl Sprengel und die Anfänge der Agrikulturchemie ...... 41 G.P. Schiemenz: Albert Ladenburg und die ‚Kekuleformel’ des Benzols ...... 51 N. Just: Rudolf Arendt (1828-1902) Chemiker und Lehrer – sein methodisches Unterrichtswerk im Spiegel der Zeitgenossen ...... 70 K. Gölz, W. Jansen: Rudolf Winderlich. Ein Oldenburger Chemiedidaktiker und –historiker ...... 79 G. Beer: Das ‚Museum der Göttinger Chemie’ ...... 86 M. Engel: Vier Jahrhunderte Chemie in Berlin ...... 89

Heft 2 (1989) F. Rex: Chemie, Geschichte und Chemiegeschichte – Reflexionen anläßlich des Fachgruppenjubiläums ...... 3 C. Meinel: Das Center for History of Chemistry – Modell für unser Fach? ...... 14 A. Norwig: Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Biochemie in Berlin-Dahlem ...... 27 K.D. Oberdieck: Auf den Schultern von Zwergen? Biochemische Forschung im 19. Jahrhundert – aus der Arbeit mit der Braunschweiger Datenbank zur Geschichte der Biochemie ...... 35 S. Štrbáňová: Symposium zur Geschichte der Biochemie ...... 43 B. Wöbke: Leopold Gmelin – Rückblick auf ein Jubiläum ...... 48 W. Götz: Zur Korrespondenz von J.B. Trommsdorff ...... 60 R. Zott: Wilhelm Ostwald und sein schriftlicher Nachlaß ...... 63 R. Stolz: 5. Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft ‚Geschichte der Chemie’ in der Chemischen Gesellschaft der DDR ...... 67

Heft 3 (1989) J. Weyer: Markgraf Georg Friedrich von Brandenburg-Ansbach und die Alchemie ...... 3 M. Engel: Aus der Frühgeschichte der Biochemie in Berlin ...... 11 B. Engel: Martin Heinrich Klaproth: Chemie, nach den Abschriften von S.F. Barez und A. Schopenhauer ...... 27 G.P. Schiemenz: Neuer Wein in alten Schläuchen? Das Hexagon, das Tetraeder und Legenden um August Kekulé ...... 38

– 192 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 B. Hoppe: Chemische und biochemische Erkenntnisse in der frühen Photosyntheseforschung: Die Beiträge von Oscar Loew ...... 53 W. Walter: Otto Stern, Leistung und Schicksal ...... 69

Heft 4 (1990) H. Bauer: Zur Geschichte des Chemieunterrichts an allgemeinbildenden Schulen im deutschen Sprachraum ...... 3 N. Just: Professionalisierung oder Berufskonstruktion? Die Entwicklung des Chemielehrerstandes im 19. Jahrhundert ...... 13 K. Gölz, W. Jansen: Der Chemieunterricht im NS-Staat: Ein Beitrag zur Geschichte der Chemiedidaktik ...... 23 C. Meinel: Döbereiner und die Chemie seiner Zeit ...... 37 H. Noeske: Die Chemie in den deutschen Magiebüchern des 17. und 18. Jahrhunderts ...... 51 R. Zott: Schriftzeugen der Vergangenheit: Chemikernachlässe und –briefe im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR ...... 59 R. Stolz: 6. Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft ‚Geschichte der Chemie’ in der Chemischen Gesellschaft der DDR ...... 63

Heft 5 (1991) C. Meinel: Editorial ...... 3 J. Weyer: Bestand und Wandel der Fachgruppe, 1979-1990: Ein Rückblick des ehemaligen Vorsitzenden ...... 6 E. Elliott: Die I.G. Farbenindustrie: Ein Thema für Wissenschaftshistoriker? ...... 10 F. Bechtoldt: Die I.G. Farben und die Politik Hitlers ...... 16 P.J.T. Morris: I.G. Farben und das Dritte Reich: zum Beispiel Synthesekautschuk ...... 20 R.G. Stokes: Die Nachfolger der I.G. Farben und der Staat ...... 31 J.J. Beer: Die Beziehungen zwischen chemischer Industrie und Deutscher Regierung im Urteil der Forschung ...... 40 T. Hapke: Wilhelm Ostwald über Information und Dokumentation ...... 47 B. Löser: Leben und Werk von Wilhelm Ostwald in der Gedenkstätte Großbothen ...... 56 U. Schling-Brodersen: Beziehungen zwischen Biologie, Physik und Chemie in historischer Perspektive ...... 62 T. Travis: Geschichte der Chemischen Technologie ...... 65

Heft 6 (1991) M. Ullmann: Aktuelle Probleme bei der Erforschung der arabischen Alchemie ...... 3 H.-W. Schütt, C. Reinhardt: Christian Friedrich Schönbein und die Frühgeschichte der Katalyseforschung ...... 18 F. Schmieding: Energiegeschichtliche Aspekte der Schwefelsäurefabrikation: Von der Vitrolbrennerei zum Wärmekraftwerk ...... 29 M. Engel: Zum 100. Jahrestag der Konstitutionsermittlung der Glucose durch Emil Fischer: Anmerkungen zu einem Paradigmenwechsel ...... 44

– 193 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 G. Schwedt: Werke der frühen Chemie in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel ...... 56

Heft 7 (1992) J. Weyer: Ein Briefwechsel zwischen Herzog Friedrich I. von Württemberg und Graf Wolfgang II. von Hohenlohe über alchemistische Fragen, 1597-1598 ...... 3 R.W. Soukup, S. v. Osten: Das Alchemistenlaboratorium von Oberstockstall: Ein Vorbericht ...... 11 E. Höxtermann: Berliner Botaniker in der Geschichte der Biochemie ...... 20 G. Beer: Die Gründung des Lehrstuhles und Instituts für Anorganische Chemie der Universität Göttingen 1903 ...... 34 B. Löser: Der Beitrag des Kaiser-Wilhelm-Institutes für Faserstoffchemie für die Herausbildung der makromolekularen Chemie ...... 50 I. Possehl: Tonbandinterviews: Ein Erfahrungsbericht über das Sammeln zeitgeschichtlicher Quellen ...... 62 A. Neubauer: Wechselbeziehungen zwischen Biologie, Chemie und Physik ...... 70 I. Pieroth: Geschichte der Biotechnologie ...... 72 C. Schümann, C. Friedrich: Zur Disziplingenese der Chemie und der Pharmazie vom 17. bis 19. Jahrhundert ...... 74 H.-G. Bartel: Kolloquium aus Anlaß des 50. Todestages von Walther Nernst ...... 76

Heft 8 (1993) C. Meinel: Perspektiven der Chemiegeschichte ...... 3 U. Neumann: Michael Maier (1569-1622), Arzt, Alchemist, Schriftsteller und Rosenkreuzer ...... 6 P. Jungmayr: Markgraf Karl Wilhelm (1679-1738) und die Alchemie am Karlsruher Hof ...... 17 C. Meinel: Analyse und Quantifizierung in chemischen Forschungsprogrammen des 18. Jahrhunderts ...... 23 H. Meinert: Zur Geschichte der Fluorchemie und Halogene ...... 32 R. Piosik, W. Jansen: Die Glaselektrode und ihr Miterfinder Zygmunt Klemensiewicz ...... 50 M. Osietzki: Die nationalsozialistische Rezeption Julius Robert Mayers - Alwin Mittasch und das Konzept der Auslösung ...... 61 F. Ruhnau: Geschichte der Chemie und der chemischen Industrie ...... 66 H.-H. Walter: Internationale Tagung zur Salzgeschichte in Halle ...... 70 I.S. Dmitriev: Mendeleev-Museum und Archiv in St. Petersburg ...... 71

Heft 9 (1993) R. Opferkuch: Chemische und metallurgische Aspekte der Alchemie ...... 3 H. Andreas: Zur Chemie von Johann Conrad Dippel ...... 11

– 194 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 K. Ballschmiter: Woraus besteht ein Stoff? Vergangenheit und Gegenwart einer Fragestellung ...... 19 I. Possehl: Die Entwicklung der Analytik in der pharmazeutischen Chemie ...... 31 D. Wagner: Ernst Sell, der Begründer der Teerdestillation in Deutschland ...... 39 C. Reiners: Alfred Werner als Wegbereiter moderner Säure-Base-Konzepte ...... 45 E. Uhlig: Die Aromatenkomplexe des Chroms: Von der ersten Synthese bis zur Aufklärung der Struktur ...... 56 N. Psarros: Chemie und Philosophie ...... 68 E. Zaitseva, T.W. Bogatova: Kolloquium für N.A. Figurovskij ...... 68 H. Bergasse: Rotperl und Cubana: Celluloid – Start in die Kunststoffe ...... 75

Heft 10 (1994) A. Kernbauer: Die Beziehungen zwischen den Chemikern der österreichischen Universitäten zu denen an den deutschen Hochschulen im 19. Jahrhundert ...... 3 K. Ruthenberg, N. Psarros: Frantisek Wald und die phänomenologische Chemie ...... 17 H. Teichmann: Cholin – Neurin – Betain: Ein Kapitel Naturstoff-Chemie aus der Gründungszeit der Deutschen Chemischen Gesellschaft ...... 31 M. Engel: „Sans vouloir diminuer le mérite.“ Die Chemie der Kohlenhydrate und Emil Fischer in der Sicht eines französischen Chemikers ...... 46 D. Stoltzenberg: Fritz Haber (1868-1934) – Seine Gedanken zur Aufgabe und sein Einsatz zur Förderung der Wissenschaften ...... 51 R. Gelius: Verlorener Briefwechsel von Prof. Heinrich Limpricht wiedergefunden ...... 57 A. Wankmüller: Die Gründung der Schwefelsäurefabrik Münzing 1830 bei Heilbronn – Ein frühes Beispiel staatlicher Gewerbeförderung ...... 61 H.-H. Walter: Historische Produktionsverfahren für anorganische Salze ...... 65 N. Psarros: Meeting on Philosophy of Chemistry in London ...... 76

Heft 11 (1995) P. Munday: Sturm und Dung: Justus von Liebig and the Chemistry of Agriculture ...... 3 M. Teller: Chemisches Gewerbe und chemische Industrie Mecklenburgs im Ausstellungswesen im 19./20. Jhdt...... 16 A. Kipnis: August Horstmann, 1842-1929: Eine Übergangsfigur in der Geschichte der Physikalischen Chemie ...... 26 U. Deichmann: Die Vertreibung jüdischer Chemiker und die Forschungsförderung im nationalsozialistischen Deutschland und Österreich ...... 45 C. Reiners: Usanovic versus Brønsted: Zur Rezeption eines Konzeptes ...... 52 P. Löhnert: Vor 25 Jahren mußte die ‚Zeitschrift für wissenschaftliche Photographie …’ ihr Erscheinen einstellen ...... 59 M. Engel, H. Teichmann: Zum 200. Geburtstag Friedlieb Ferdinand Runges ...... 66 M. Engel: Von der Phlogistik zur modernen Chemie: Zum 250. Geburtstag von Martin Heinrich Klaproth ...... 70

– 195 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 W. Sprißler: Chemie und Chemieunterricht an allgemeinbildenden Schulen ...... 72 J. Schummer: Philosophie der Chemie ...... 74

Heft 12 (1996) M. Engel: Enzymologie und Gärungschemie: Alfred Wohls und Carl Neubergs Reaktionsschemata der alkoholischen Gärung ...... 3 H. Teichmann: Der Briefwechsel Scheibler-Limpricht: Eine neu erschlossene Quelle chemiegeschichtlicher Informationen ...... 30 H.-J. Bittrich, M. Wobst: Wilhelm Dittmar – Leben und Werk ...... 44 E.K. Vámos: Die Bedeutung der deutschen chemischen Literatur für die ungarischen Fachleute im Spiegel der Referate in der ungarischen Chemikerzeitschrift ...... 49 F. Baumann: Die Geschichte der Benzinsynthese in den Leunawerken und ihre ökologischen Folgeerscheinungen ...... 63 J. Weyer: Werke zur Geschichte der Chemie 1982-1996 ...... 73 M. Engel: 2nd International Conference on the History of Chemistry and Chemical Technology ...... 99

Heft 13 (1997) B. Engel: Das Berliner Akademielaboratorium zur Zeit Marggrafs und Achards ...... 3 M. Seils: Chemie statt Mathematik – ein alternatives Programm zur Etablierung der Chemie als Naturwissenschaft ...... 13 J. Büttner: Geräte zur chemischen Analyse in den ersten klinischen Laboratorien, 1790-1850 ...... 23 B. Orland: Chemie für den Alltag. Populäre deutsche Chemiebücher, 1780-1930 ...... 39 E. Homburg: The Teaching of Chemistry at the German Polytechnic Schools, 1803-1860 ...... 75 W. Caesar: Charles Caldwell, ein amerikanischer Gegner von Liebigs ‚Thierchemie’ ...... 94 B. Görs: Chemie und Atomismus im deutschsprachigen Raum ...... 100 J. Berger: Chemische Mechanik und Kinetik. Die Bedeutung der mechanischen Wärmetheorie für die Theorie chemischer Reaktionen ...... 115 C. Reiners: Vom stofflichen Prinzip über prinzipiell Stoffliches zum mathematischen Formalismus ...... 135 D. Stoltzenberg: Emil Fischer und die Wissenschaftsförderung ...... 147 H. Bode: Geschichte der Filmfabrik Wolfen, 1909-1994 ...... 157 A. Karachalios: Die Entstehung und Entwicklung der Quantenchemie in Deutschland ...... 163 B. Engel: Festkolloquium zu Ehren von Ida Noddack-Tacke ...... 180

Heft 14 (1998) C. Meinel: Die Chemiegeschichtsschreibung vor den Herausforderungen der Internationalisierung ...... 3

– 196 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 C.-V. Grewe: Naphtha und Asphalt, vielfältig genutzte Produkte in der Antike ...... 7 J. Berger: Affinität und Reaktionszeit in der Chemie des 18. Jahrhunderts ...... 25 E. Zaitseva: Unter dem Einfluß deutscher wissenschaftlicher Traditionen: I.S. Plotnikow und das erste photochemische Laboratorium in Rußland ...... 56 D. Stoltzenberg: Als Postdoktorand in Harvard im Jahre 1905: Ein Bericht von Arthur Stähler ...... 66 F. Litten: „Er half, weil er sich als Mensch und Gegner des Nationalsozialismus dazu bewogen fühlte“ – Rudolf Hüttel (1912-1993) ...... 78 P. Löhnert, M. Gill: Ein Beitrag zu Schicksalen jüdischer Chemiker in der Filmfabrik Wolfen nach 1933 ...... 110 F.L. Holmes: Der historische Ursprung des Krebs-Cyclus ...... 126 H.G. Schröter: Wirtschaftsgeschichte und chemische Industrie – chemische Industrie und Geschichtswissenschaft ...... 142 L. Marschall: Biotechnologische Forschung in der pharmazeutischen Industrie: Probleme und Lösungsstrategien am Beispiel des Unternehmens Boehringer Ingelheim ...... 148 H. Bode: Geschichte der Chemiefaserindustrie in der DDR ...... 158 R.W. Soukup: Chemiegeschichte in Österreich ...... 170

Heft 15 (2000) V. Karpenko, P. Widzová: Der böhmische Alchemist Hynek von Poděbrad ...... 3 U.L. Gantenbein: Die Beziehungen zwischen Alchemie und Hüttenwesen im frühen 16. Jahrhundert, insbesondere bei Paracelsus und Georgius Agricola ...... 11 U.L. Gantenbein: Das Kunstbuch des Michael Cochem (Ms. Vadiana 407) aus dem Jahr 1522. Seine Bedeutung für die medizinische Alchemie ...... 32 H.-H. Walter: Farben, Metalle und Chemikalien aus ‚Bergfabriken’ ...... 62 K. Volke: Die Entdeckung des chemischen Elementes Indium in Freiberg. Zur 200. Wiederkehr des Geburtstages des Physikers Ferdinand Reich ...... 81 A.J. Rocke: Organische Chemie im Wandel: Der Einzug des Liebigschen Apparates in französische Laboratorien ...... 98 W. Botsch: Justus von Liebig und der Begriff der Lebenskraft ...... 113 R. Zott: Klio und Kalliope – Wissenschaft und Technik des 19. Jahrhunderts in der deutschsprachigen schöngeistigen Literatur jener Zeit ...... 118 H.J. Bittrich: Zur Zeitabhängigkeit der Affinität ...... 148 H. Bode: Walter Voss. Frühe Wege zur Gewinnung von Chemikalien aus Holz ...... 155 E. Finger: Ein Leben für die Fotografie. Prof. Hermann Wilhelm Vogel zum 100. Todestag ...... 169 E. Finger: Franz Oppenheim. Mitbegründer des Chemiestandortes Bitterfeld/Wolfen ...... 173 M. Engel: Neue Erinnerungsstätten und Gedenktafeln für Chemiker ...... 179 M. Engel: Wiegleb-Gedenksymposium, Bad Langensalza ...... 185

– 197 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 Heft 16 (2002) G. Görmar: Johann Thölde, Herausgeber der Schriften des ‚Basilius Valentinus’ und Verfasser der Haliographia – eine biographische Skizze ...... 3 G. Boeck: August Michaelis: Erschöpft sich seine wissenschaftliche Leistung in der Michaelis-Arbusow-Reaktion? ...... 20 K.D. Schwenke: Heinrich Einhof: Ein Wegbereiter der landwirtschaftlichen Chemie ...... 30 R. Zott: Jacobus Henricus van’t Hoff: Sein Werdegang und sein Weg nach Berlin ...... 47 D. Wagner: Die Chemische Fabrik Griesheim: Pionier der technischen Elektrochemie ...... 75 M. Kaji: Ogawas Entdeckung des ‚Nipponiums’ – Moderne japanische Chemie im historischen Kontext ...... 87 H. Andreas: Prof. Dr. Hermann Römpp – sein Leben und Werk ...... 93 M. Gill, P. Löhnert: Jüdische Zwangsarbeiter im Aceta-Werk Berlin-Lichtenberg ...... 116 C. Simon: Belohnte Industrieforschung: Der Nobelpreis für Physiologie/Medizin 1948 ...... 134 H. Teichmann: Chemie in Berlin-Adlershof ...... 151 H. Bode: Entwicklung von Synthesefasern bei der Phrix AG ...... 176 J. Weyer: Dauerausstellung in Schloß Weikersheim über Graf Wolfgang II. von Hohenlohe und die Alchemie ...... 199

Heft 17 (2004) H. Teichmann: 175 Jahre Wöhlers Harnstoff-Synthese ...... 3 J. Büttner: „Auf diese Entdeckung lege ich einigen Werth…“: Friedrich Wöhler und die Hippursäure ...... 30 J. Büttner: Justus von Liebigs ‚Chemische Physiologie’: Schritte zu einer Chemie des Lebens ...... 42 K.D. Schwenke: Liebigs Pflanzencasein ...... 62 G. Boeck: Liebigs Spuren in Mecklenburg ...... 86 V. Ziegler: Trägt die Fehlingsche Lösung ihren Namen zu Recht? ...... 100 K. Volke: Clemens Winkler und der Umweltschutz: Zum 100. Todestag des Freiberger Chemikers ...... 111 R. Roussanova: Zur Geschichte des Frauenstudiums in der Chemie: Julia Lermontowa – die erste promovierte Chemikerin ...... 131 S. Börtitz, O. Wienhaus: Professor Hans Wislicenus, Chemiker und Hobbymusiker: Ein ungewöhnliches Portrait ...... 147 D. Stoltzenberg: Emil Fischer, Fritz Haber und die Förderung der Wissenschaften ...... 152 S. Niese: Georg Karl von Hevesy als Ordinarius für Physikalische Chemie in Freiburg, 1926-1934 ...... 159 M. Engel: Das chemische Laboratorium der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, 1887-1945 ...... 177

– 198 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 H. Teichmann: Otto Unverdorben: Namensgeber für eine Schule ...... 192

Heft 18 (2005) K. Herrmann: Zur Beschreibung chemischer Verfahren in der altchinesischen Technologie-Enzyklopädie ‚Tian gong kai wu’ aus dem Jahre 1637 ...... 3 J. Büttner: Der ‚Chemische Lebensprozeß’ gerät in den Blick der Chemiker: Die Anfänge der Physiologischen Chemie ...... 18 U. Klein: Chemische Formeln und die Entstehung der modernen organischen Chemie .... 31 W. Wetzel: Geschichte und Bedeutung der Nebenprodukte des Leblanc- Soda-Verfahren ...... 44 H.-H. Walter: Von der Flachpfanne zum Vakuumkristallisator: Siedesalzproduktion im 19. und 20. Jahrhundert ...... 59 R. Zott: Justus Liebig (1803-1873): Erstrebtes, Erreichtes und mancherlei Effekte ...... 73 V. Hierholzer: ‚Nahrungsmittelgendarmen’: Regulierung der Nahrungsmittelqualität im Deutschen Kaiserreich ...... 97 K. Riewerts: „Wer schön sein will, muss leiden“ Sommersprossenmittel unter dem Aspekt des Verbraucherschutzes um 1900 ...... 109 C. Simon: Vier ‚gewöhnliche’ und ein außergewöhnlicher Chemiker: Mikrohistorie einer Abteilung der ETH Zürich 1933-1945 ...... 117 M. Schüring: Kontinuität im ‚Wiederaufbau’: Die Rolle Ernst Telschows beim Übergang der Kaiser-Wilhelm- zur Max-Planck-Gesellschaft ...... 148 H. Bode: Von einer Innovation und ihrem Missbrauch: Zyklon B ...... 157 D. Demus: Hans Zocher (1893-1969): Chemiker und Emigrant ...... 176 H. Schönemann: Was hat das Atom mit dem Individuum zu tun? Die Sprache (in) der Chemie ...... 186

Heft 19 (2007) I. Keil: Hersteller wissenschaftlicher Instrumente in der Frühen Neuzeit in Augsburg ...... 3 J. Büttner: Oeconomia animalis: Zur Vorgeschichte des Stoffwechselbegriffs ...... 9 H.-H. Walter: Die Geschichte der Soletherapie in den deutschen Heilbädern ...... 18 K.D. Schwenke: Vom Eyweiß zum Protein: Zur Geschichte eines Begriffs ...... 25 Ch. Bigg: Die Karriere der quantitativen Spektralanalyse: Experimental- kulturen zwischen Physik, Chemie und Industrie ...... 50 A.S. Travis: 150th Anniversary of Mauve and Coal-Tar Dyes ...... 66 R. Zott: „Man lebe in einer Zeit allgemeinsten pädagogischen Interesses“ ...... 78 E. Roussanova: K.F. Beilsteins Wahl in die Petersburger Akademie der Wissenschaften ...... 107 G. Boeck, R. Zott: Vier unveröffentlichte Briefe von Dmitrij I. Mendeleev an Wilhelm Ostwald ...... 133 R. Zott: Epigramme und (“Karlsbader“) Studienverse Wilhelm Ostwalds ...... 144 G. Boeck: Julius Wagner – Deutschlands erster Professor für Didaktik der Chemie ...... 169

– 199 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506 W. Wetzel: Geschichte der deutschen Chemie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ca. 1910-1945 ...... 184 K.-D. Röker: Die ersten Versuche zum Einsatz von künstlichem Kautschuk ...... 199 S. Niese: Die Entdeckung der Röntgenfluoreszenzanalyse ...... 217 H. Teichmann: ‚Chemische Berichte’ – einmal anders ...... 235 B. Bächi: Chemiegeschichte als Kulturgeschichte: Ascorbinsäure und die ‚Abwehrlage’ des ‚Volkswirtschaftskörpers’, 1933-1953 ...... 246 E. Roussanova: Ausstellung zum 100. Todestag von Friedrich Konrad Beilstein (1838-1906) ...... 257 H.-H. Henning: Tagung zum Lebenswerk des Chemikers, Erfinders und Unternehmers Ernst August Geitner (1783-1852) ...... 262

Heft 20 (2009) H.-W. Schütt: Noch ein ‚Vorentdecker’ des Sauerstoffs: Abraham Eleazar ...... 3 H. Andreas: Friedlieb Ferdinand Runge: Wegbereiter der Teerfarbenchemie? ...... 9 M. Haustein, J. Zaun: Die Sammlung chemischer Präparate der TU Berg- akademie Freiberg – Clemens Winklers materielle Spuren ...... 23 W. Scheinert: Triphenylmethanfarbstoffe bei den Chemischen Fabriken vorm. Weiler-ter Meer und ihren Vorläuferfirmen ...... 43 K.-D. Röker: Vulkanisation – chemische Reaktion oder Absorptionsvorgang? Eine Kontroverse zu Beginn des 20. Jhdts ...... 68 R. Aust, Der schwierige Weg zum synthetischen Kautschuk – ein Weg mit Zufällen und Forschungsimpulsen ...... 83 H. Gilch: Die Erfinder von Nylon und Perlon: Wallace H. Carothers und Paul Schlack ...... 98 S. Niese: Mottenkugeln zum Nachweis der Kernstrahlung: Hartmut Kallmann (1896-1978) und die organischen Szintillatoren ...... 116 P. Löhnert: Richard May, Theodor Mariam, Oskar Falek: Schicksale jüdischer Chemiker in der Farbenfabrik Wolfen nach 1933 ...... 137 G. Boeck: Ernst August Geitner (1783-1852) – Arzt, Chemiker, Metallurge, Erfinder und Unternehmer ...... 173 H. Stegemeyer: Vom Cholesterin zum Flachbildschirm: Eine Ausstellung zur Geschichte der Flüssigkristall-Forschung in Gießen ...... 175 G. Boeck, M. Lehmann: Julius Adolph Stöckhardt zum 200. Geburtstag ...... 180

– 200 –

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 20 (2009) ISSN 0934-8506