Worüber nicht gesprochen wird. Inzest: Verstoß gegen Moral und Recht im eigenen Haus

Monique Nagel-Angermann

In most societies incest is taboo. Therefore, it can be assumed that most authors would avoid writing about the subject. If not they should have a good reason for doing so. In ancient China incest was regarded as an offence against law and morality, as a “disgraceful matter” (chou- shi). Legal documents found in tombs of the Qin and Han periods from Shuihudi and Zhang- jiashan attest to the prohibition of sibling incest. Transmitted texts referring to even earlier periods mention cases of incest in order to blame the accused. However, the idea of what should be criticized as incest has undergone changes over time, because varying marriage and family concepts have led to different perceptions. More than twenty examples of incest are reported by the Shiji and the Hanshu, and a great number of them refer to relatives of Han Wudi (r. 141–87 B.C.) under whose reign the kingdoms were weakened in order to strengthen the central power. Reports about incestuous remarriages among the Xiongnu refer to a com- pletely different social concept of family solidarity. Most of the cases might be understood as a way to depict the Xiongnu as inferior and uncivilized.

Inzest

Das Thema Sexualität bildet in vielen Kulturen einen aufschlussreichen Be- reich, der zwischen einer höflich gesitteten Meidung allzu direkter sprach- licher Äußerungen, kreativen Umschreibungen sowie bewusst drastischen Formulierungen mit dem Ziel des Tabubruchs changiert. Der Bereich des Inzests verbindet seinerseits das Themenfeld der Sexualität zwischen engen Verwandten mit den beiden oft ineinandergreifenden Bereichen des Rechts und der Moral. Während es im Recht allgemein um unverblümte, präzise Formulierungen geht, gilt für die Moral mitunter, dass manches unausge- sprochen oder zumindest eher in Form der Andeutung oder des Vergleichs zu äußern ist. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit Hinweisen zum Phänomen des Inzests im traditionellen China und fragt, wer dieses Verhalten zu welchem 114 Monique Nagel-Angermann

Zweck und in welcher Form thematisiert. 1 Ausgangspunkt ist die Ver- mutung, dass Inzest ein Bereich sei, der grundsätzlich wegen seiner sexu- ellen Konnotation und des vorauszusetzenden Verstoßes gegen Recht und Moral selten und vielleicht eher in umschriebener Form verbalisiert wurde. Allerdings ist hier bereits zu hinterfragen, ob Inzest tatsächlich ein allgemein geteiltes Tabu unter den Menschen verschiedener Kulturen und Zeiten ist und wie sich verschiedene Familienkonzepte und unterschiedliche Formen der Ehe auf die Definitionen von Inzest auswirken.2 Ebenfalls kulturell unterschiedlich zeigt sich das Verhältnis von Religion bzw. Moral und Recht.

Wird überhaupt über Inzest gesprochen oder geschrieben?

In Kapitel 76 des Hanshu 漢書 (Buch der Han, ca. 110)3 findet sich die aufschlussreiche Aussage des unter Han-Kaiser Yuan (Han Yuandi 漢元帝, reg. 49–33 v. u. Z.) tätigen Lokalmagistraten Wang Zun 王尊:4

1 Der Fokus der vorliegenden Ausführungen liegt auf der Han-Zeit [漢] (206 v. u. Z.–220 u. Z.). Sie geben Einblick in eine von der Autorin in Arbeit befindliche Analyse zum Thema Inzest aus der Perspektive des chinesischen Rechts im Spiegel der schriftlichen Quellen bis zur Tang-Zeit [唐] (618–907). 2 Während im interkulturellen Vergleich kein Zweifel darüber herrscht, dass Sexualverkehr zwischen Eltern und ihren leiblichen Kindern als Inzest zu bezeichnen ist und daher einem Tabu unterliegen sollte, finden sich im historischen Vergleich unterschiedlicher Kulturen divergierende Auffassungen zum Bereich des Geschwisterinzests wie auch hin- sichtlich verschiedener Formen von Ehen zwischen Blutsverwandten oder auch nur ange- heirateten Verwandten. Auf die Gegenwart bezogen führte im Jahre 2000 in Deutschland ein Fall von Geschwisterinzest zu einer lebhaften Debatte in den Medien. In der Folge gab das Bundesverfassungsgericht eine im Jahre 2015 abgeschlossene Analyse in Auftrag, die u. a. die Inzeststrafbarkeit im internationalen Rechtsvergleich zum Gegenstand hatte. Siehe den Überblick über das Forschungsvorhaben unter https://www.mpicc.de/de/ forschung/forschungsarbeit/gemeinsame_projekte/inzest.html (Zugriff am 14.03.2016). Siehe auch die historischen Überblicke in Alan H. Bittles: Consanguinity in Context (Cambridge: Cambridge University Press, 2012). 3 Verfasser Ban Biao 班彪 (3–54), Ban Gu 班固 (32‒92) und Ban Zhao 班昭 (ca. 45–116). 4 Hanshu, in: Qian si shi 前四史 (4 Bde., Beijing: Zhonghua Shuju, 1997), Bd. 2, j. 76, S. 3227. Zu Wang Zun siehe Cang Xiuliang 倉修良: Hanshu cidian 漢書辭典 (Jiʼnan: Shandong Jiaoyu Chubanshe, 1996), S. 68. Inzest: Verstoß gegen Moral und Recht im eigenen Haus 115

In den Codices gibt es kein Gesetz betreffs eines Verhaltens, bei dem die Mutter als Eheweib behandelt wird. 律無妻母之法,……。 Wang Zun erläutert ein solches Verhalten im Folgenden als etwas, worüber die Weisen der Frühzeit (shengren 聖人) es nicht über sich brachten zu schreiben und was in den kanonischen Schriften als ein außergewöhnlich schweres, die Todesstrafe und Zurschaustellung der Leiche erforderndes Verbrechen bezeichnet werde.5 Was war vorgefallen? Eine Frau aus Meiyang 美陽, im Gebiet des heuti- gen Shaanxi 陝西, hatte sich beklagt, ihr Stiefsohn verhalte sich pietätlos (buxiao 不孝):6 Mein Sohn behandelt mich regelmäßig wie eine Ehefrau und schlägt mich aus Eifersucht. 兒常以我為妻,妒笞我。 Der Text bleibt vage, und so erfahren wir nicht, ob der Stiefsohn mit seiner Stiefmutter tatsächlich Sex hatte.7 Angenommen, es wäre so gewesen, war – abgesehen von der eklatanten Pietätlosigkeit, einen Elternteil zu schlagen – der Vollzug des Geschlechtsverkehrs zwischen Stiefmutter und Stiefsohn ver- werflich? Und bestand der Skandal nicht eigentlich darin, dass das Verhalten des Stiefsohnes ein Extrem an Pietätlosigkeit gegenüber seinem eigenem Vater darstellte? Angesichts des ab der Han-Zeit formulierten Ideals der keuschen Witwe und des großen Werts, der auf das Einhalten der moralisch geforderten Dis- tanz zwischen Männern und Frauen gelegt wurde, ist zu fragen, ob es wirk- lich denkbar gewesen wäre, dass eine Mutter ihren Stiefsohn des sexuellen Übergriffs beschuldigt, indem sie ihn anklagt, sich „pietätlos“ zu verhalten? Wie, so fragt man sich, würde eine solches Handeln enden? Welche Folgen würde eine solche Beschuldigung für sie selbst und für ihre Familie haben?

5 聖人所不忍書,此經所謂造獄者也. Siehe Hanshu, Bd. 2, j. 76, S. 3227. Yan Shigu 顏師 古 (581–645) kommentiert zaoyu 造獄 mit feichang xingming, zao shalu zhi fa 非常刑 名,造殺戮之法 (Bezeichnung eines außergewöhnlichen Verbrechens, welches die Todesstrafe und öffentliche Zurschaustellung erfordert). 6 Ebd. 7 Siehe zu dem Fall auch die Ausführungen von Paul Rakita Goldin in The Culture of Sex in Ancient China (Honolulu: University of Hawai‘i Press, 2002), S. 96f. 116 Monique Nagel-Angermann

Oder kann diese Textstelle als ein weiteres Beispiel für den Unterschied zwischen dem postulierten Moralideal und der gelebten Realität gewertet werden? Leider erfahren wir über das Schicksal der Stiefmutter nichts. Für den Lokalmagistrat Wang Zun war die Angelegenheit allerdings so gravierend, dass er darüber zu Gericht saß. Er ließ in der Folge den Stiefsohn an einen Baum hängen und befahl fünf Reitern, ihn mit Pfeilen zu töten, so dass die Beamtenschaft und das Volk einen großen Schrecken bekämen.8 Sex mit dem Stiefsohn – würden wir das in unserer modernen westlichen Gesellschaft als Inzest betrachten? Vermutlich würde ein solcher Vorgang nicht als Inzest wahrgenommen werden. Auch wäre es nicht strafbar, sofern der Stiefsohn volljährig ist und der Sex einvernehmlich geschieht. Dagegen empfinden wir ein sexuelles Verhältnis zwischen Vater und Tochter, Mutter und Sohn und leiblichen Geschwistern als Inzest. Strafrechtlich sind diese Fälle im Strafgesetzbuch § 173 ‚Beischlaf mit Verwandten‘ geregelt.9 Recht- lich gelten in Deutschland sexuelle Verhältnisse zwischen engen Blutsver- wandten wie zum Beispiel Onkel und Nichte, zwischen Cousin und Cousine nicht als strafbar; gleichwohl werden sie in der Gesellschaft sehr unter- schiedlich bewertet. Macht es für uns also einen Unterschied, ob es sich um Blutsverwandte handelt oder um adoptierte oder um angeheiratete Familienmitglieder? Wäh- rend gegenüber sexuellen Verhältnissen zwischen engen Blutsverwandten ein absolutes Tabu zu beobachten ist und dies zumeist auch Adoptierte einbezieht, ist dies bei angeheirateten Familienmitgliedern, wie z. B. der Verbindung zwischen einem Schwiegervater und seiner Schwiegertochter, nicht in dieser klaren Form der Fall. Dies spiegelt sich auch in der Rechtsauffassung.10 Unser Begriff Inzest stammt aus dem Lateinischen und bezog sich im alten Rom auf verbotene Ehen zwischen Eltern und Kindern oder Enkel-

8 尊於是出坐廷上,取不孝子縣磔著樹,使騎吏五人張弓射殺之,吏民驚駭. Hanshu, Bd. 2, j. 76, S. 3227. 9 Siehe hierzu https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__173.html (Zugriff am 12.12.2017). 10 Im Bürgerlichen Gesetzbuch § 1307 ‚Ehen zwischen Verwandten‘ heißt es: „Eine Ehe darf nicht geschlossen werden zwischen Verwandten in gerader Linie sowie zwischen vollbür- tigen und halbbürtigen Geschwistern. Dies gilt auch, wenn das Verwandtschaftsverhältnis durch Annahme als Kind erloschen ist.“ Siehe hierzu https://www.gesetze-im-internet.de/ bgb/__1307.html (Zugriff am 12.12.2017) Inzest: Verstoß gegen Moral und Recht im eigenen Haus 117 kindern, auch wenn sie adoptiert waren. Incestus bezeichnete „unkeusch“ und die „göttlichen Gesetze verletzend“.11 Bevor weitere „Inzestfälle“ des frühen China vorgestellt werden, ist jedoch die Frage zu beantworten, ob es denn dort tatsächlich keine Gesetze gegen Inzest gab, so dass der oben geschilderte Fall aus diesem Grunde ad hoc entschieden werden musste?

Gesetze gegen Inzest

Wie in vielen Bereichen, erweitern und verändern archäologische Textfunde unser Bild von der frühen Rechtsprechung Chinas. So finden sich hier die frühesten direkten Nachweise für Inzestverbote aus der Qin- 秦 (221–207 v. u. Z.) und Han-Zeit. In Qin falü dawen 秦法律答問 (Fragen und Ant- worten bezüglich der Qin-Statuten) aus Shuihudi 睡虎地 heißt es:12 Wenn Kinder der gleichen Mutter, aber von verschiedenen Vätern miteinander Inzest betreiben (jian), wie sind sie zu bestrafen? Sie sind mit der Exekution auf dem Marktplatz zu bestrafen. 同母異父相與奸,可〈何〉論。棄市。 Und im Manuskript M 191 vom Zhangjiashan 張家山 heißt es:13

11 Siehe hierzu die Darstellung von Philippe Moreau: Incestus et prohibitae nuptiae. L’inceste à Rome. Conception romaine de l’inceste et histoire des prohibitions matrimo- niales pour cause de parenté dans la Rome antique (Paris: Belles Lettres, 2002). Siehe auch Judith Evans Grubbs: „Making the Private Public. Illegitimacy and Incest in Roman Law“, in: Ando Clifford, Jörg Rüpke (Hrsg.): Public and Private in Ancient Mediterranean Law and Religion (Berlin: Walter de Gruyter, 2015), S. 115–141, insbesondere S. 127–129. 12 Shuihudi Qin mu zhujian. Falü dawen 睡虎地秦墓竹簡——法律答問 (172), abgerufen am 14.03.2016 über CrossAsia/CHANT. Siehe hierzu auch Tomiya Itaru 富谷至: „The Concept of Fornication – From the Han Code to the Tang Code“, in: Tomiya Itaru, Rein- hard Emmerich (Hrsg.): Konferenzbericht Public Notion of Crime and Law in East Asia – Crime and Society in East Asia (Westfälische Wilhelms-Universität Münster, 2013), S. 150. 13 Siehe Tomiya Itaru 富谷至 (Hrsg.): Kōryō Chōkasan nihyakuyonjūnana-gō bo shutsudo Kan ritsuryō no kenkyū 江陵張家山二四七號墓出土漢律令の研究 (2 Bde., Kyōto: Hōyū Shoten, 2006), Bd. 2, S. 123f.; und Anthony J. Barbieri-Low, Robin D. S. Yates: Law, State and Society in Early Imperial China. A Study with Critical Edition and Trans- lation of the Legal Texts from Zhangjiashan Tomb no. 247 (2 Bde., Leiden: Brill, 2015), Bd. 2, S. 616f. 118 Monique Nagel-Angermann

Wenn Geschwister miteinander Inzest (jian) begehen oder [der Bruder] seine Schwester zur Frau nimmt, sind sie beide auf dem Marktplatz zu exekutieren. Wenn es sich um eine Vergewaltigung (qiang yujian) handelt, ist die Verge- waltigte (suo jian) auszunehmen. 同產相與奸,若取(娶)以為妻,及所取(娶):皆棄市。其強與奸:除 所奸。 Der Begriff jian 奸 (bzw. jian 姦), der in Qin falü dawen einen Komplex von verschiedenen Straftaten bezeichnet, die ich hier mit „Inzest“ übersetzt habe, verweist in den Grabtexten z. B. auch auf den Sexualverkehr mit einer verheirateten Frau, d. h. Ehebruch. Auch wenn das Zeichen 奸 heute auch die Kurzform des Zeichens 姦 darstellt, so handelte es sich ursprünglich um zwei Zeichen, welche für unterschiedliche Wörter stehen. Beide Zeichen kommen bereits in Bronze- inschriften vor. So wird 姦 dort u. a. für einen Namen verwendet und scheint in einer anderen Inschrift die Bedeutung „schlecht“ zu haben. Das Zeichen 奸 kommt ebenfalls bereits in Bronzeinschriften sowie in Grab- texten auf Bambus und Holz aus der Qin- und Han-Zeit mit der Grund- bedeutung „gegen etwas verstoßen“ vor und bezeichnet dann ein Delikt, das sich als „sexuelle Zügellosigkeit“ (yin 婬) und damit als eine verurteilens- werte sexuelle Handlung kennzeichnen lässt.14 Beiden Zeichen ist gemeinsam, dass sie nicht nur zur Brandmarkung negativ beurteilter sexueller Handlungen Verwendung finden, sondern grundsätzlich böse bzw. moralisch verwerfliche, d. h. das Vertrauen und die Ordnung untergrabende Verhaltensweisen kennzeichnen können. Diese asoziale, die Gesellschaftsordnung untergrabende Komponente scheint den Kern der Inzestkonzeption zu kennzeichnen, und so finden sich Inzestver- bote ausgedrückt mit dem Begriff jian 姦 auch noch in den Gemischten Statuten (zalü 雜律) des Tang-Kodex (Tanglü 唐律, 653) unter der Über- schrift „Innere Unordnung“ (neiluan 內亂), womit Sittenlosigkeit in der Familie gemeint ist, unter den „zehn Abscheulichkeiten“ (shiʼe 十惡).15

14 Siehe Hanyu duogongneng ziku 漢語多功能字庫 unter http://humanum.arts.cuhk.edu. hk/Lexis/lexi-mf/search.php?word= 奸 sowie http://humanum.arts.cuhk.edu.hk/Lexis/lexi- mf/search.php?word=姦 (Zugriff am 14.03.2016). Siehe auch Tomiya, „The Concept of Fornication“, S. 151. 15 Siehe Gu Tanglü shuyi 古唐律疏議, in: Sibu congkan 四部從刊. Shibu 史部, j. 1 (ab- gerufen über CrossAsia 14.03.2016). Allerdings greift hier, wie ich weiter unten erläutern Inzest: Verstoß gegen Moral und Recht im eigenen Haus 119 Hinweise auf Inzest in anderen frühen Quellen

Ein früher Hinweis auf einen Geschwisterinzest findet sich in Zuozhuan 左 傳 (Kommentar des Zuo, ca. 400 v. u. Z.). Es ist die dort formulierte War- nung, die – allerdings etwas modifiziert – im Tang-Kodex herangezogen wird und in der weiteren Folge die damals streng moralisch aufgeladene strikte Trennung der Geschlechter zu propagieren hilft. Was wird berichtet? Laut Zuozhuan unterhielt im 7. Jahrhundert v. u. Z. Wen Jiang 文姜, die Frau des Herzogs Huan von (Lu Huan gong 魯桓 公), eine inzestuöse Beziehung (tong 通) zu ihrem älteren Halbbruder, Her- zog Xiang von (Qi Xiang gong 齊襄公). Dieses Verhältnis soll schon vor ihrer Verheiratung als Hauptgemahlin des Herzogs Huan bestanden haben. Als sich nun Herzog Huan auf den Weg nach Qi, den Heimatstaat der Wen Jiang, machte, erlaubte er dieser, ihn zu begleiten. Dort nahmen Wen Jiang und ihr älterer Bruder ihre Liebschaft wieder auf. Als das Verhältnis offen- kundig wurde und selbst der Gemahl der Wen Jiang es bemerkte, ließ ihr Bruder ihren Gemahl durch einen anderen Verwandten ermorden. Zur Rechen- schaft wurde nur der Mörder selbst gezogen. Zuvor aber hatte laut Zuozhuan Shen Xu 申繻 aus Lu vor Sittenlosigkeit gewarnt: Die Frau gehört zum Haus [ihres Mannes], der Mann [zu der Frau in seiner eigenen] Kammer, und sie dürfen einander nicht besudeln. Das ist, was man als „den Riten gemäß handeln“ bezeichnet. Ändert man dies, führt es in den Ruin. 女有家,男有室,無相瀆也,謂之有禮,易此必敗。16

werde, das Verbot viel weiter und bestraft als „Inzest“ (jian) Sexualverkehr zwischen Verwandten innerhalb des vierten Trauergrades oder enger sowie mit den Konkubinen des Vaters oder des Großvaters auch bei Einvernehmen (姦小功以上,親父祖妾及與和者). Zu den „zehn Abscheulichkeiten” zählen „eine Rebellion planen“ (moufan 謀反), „großen Aufruhr planen“ (mou dani 謀大逆), „Verrat planen“ (moupan 謀叛), „bösartiger Ungehorsam [gegenüber Eltern oder Vorgesetzten]“ (e’ni 惡逆), „Prinzipienlosig- keit“ (budao 不道), „große Respektlosigkeit“ (da bujing 大不敬), „Pietätlosigkeit“ (bu- xiao 不孝), „Zwietracht“ (bumu 不睦), „Mangel an Rechtschaffenheit“ (buyi 不義) und „innere Unordnung“ (neiluan 內亂). Siehe hierzu auch Johnson Wallace: The T’ang Code, Bd. 1: General Principles (Princeton: Princeton University Press, 1979), S. 17‒22. 16 Zuozhuan, Huan gong, j. 18, in: Ruan Yuan 阮元 (Komp.): Shisan jing zhushu 十三經 注疏 (8 Bde., Rpt. Taibei: Yiwen Yinshuguan, 1960), Bd. 6, S. 130. 120 Monique Nagel-Angermann

Im Subkommentar (Shuyi 疏議) des Tang-Kodex wird bezüglich des Ver- brechens der „inneren Unordnung“, als letztem der „zehn Abscheulichkeiten“ mit folgender Formulierung auf Zuozhuan Bezug genommen: Die Frau gehört zum Haus [ihres Mannes], der Mann [zu der Frau in seiner eigenen] Kammer und sie dürfen einander nicht besudeln. Ändert man dies, so führt es in die Unordnung. Wenn man sich wie ein Tier verhält, Gefährten Un- zucht im eigenen Haus treiben und man die Regeln der Moral durcheinander- bringt, dann nennt man dies innere Unordnung. 女有家、男有室、無相涜。易此則亂。若有禽獸其行、朋淫於家、紊亂禮 經、故曰内亂。17 Während in Zuozhuan selbst die Warnung mit dem möglichen Ruin (bai) des Hauses begründet wird, weist der Subkommentar des Tang-Kodex erst auf die „Unordnung“ (luan) durch die Missachtung der Riten hin und warnt dann vor „innerer Unordnung“ (neiluan). Im Kommentar und Subkommentar folgt die Erläuterung, dass dies ungesetzmäßigen Sexualverkehr innerhalb der vier Trauergrade (womit die verwandtschaftliche Nähe gekennzeichnet ist) ein- bezöge, welcher damit unmissverständlich als „Inzest“ gekennzeichnet wird.18 Mit dem Hinweis, man möge sich nicht wie ein Tier verhalten, kommt eine weitere Begründung hinzu. Auch ist der Rahmen der Verbindungen, die als „inzestuös“, d. h. „innere Unordnung“ hervorrufend, verstanden wurden, recht weit gefasst, wird doch unter anderem die Ehe zwischen Cousine und Cousin ersten Grades verboten und auch Verbindungen mit den Konkubinen des Vaters und des Großvaters untersagt. Sexualverkehr mit den Konkubinen des Vaters galt aber auch schon zur Chunqiu-Zeit [春秋] (722–481 v. u. Z.) als verwerflich. So notiert Zuozhuan für das 16. Herrschaftsjahr des Herzogs Huan von Lu, dass vormals Herzog Huan von Wei (Wei Huan gong 衛宣公) außerehelichen (inzestuösen) Ver- kehr (zheng 烝) mit der Yi Jiang 夷姜, einer Konkubine seines Vaters, hatte.19

17 Gu Tanglü shuyi, j. 1 (Zugriff über CrossAsia, 14.03.2016). 18 „Kommentar: ‚(Innere Unordnung) bedeutet Unzucht innerhalb der Verwandtschaft des vierten Trauergrades…‘“ (注:謂姦小功以上親……). Yue Chunzhi 岳純之 (Ann.): Tanglü shuyi 唐律疏議 (Shanghai: Shanghai Guji Chubanshe, 2013), S. 16. 19 衛宣公烝於夷姜. , Huan gong, j.16, Bd. 6, S. 128. Inzest: Verstoß gegen Moral und Recht im eigenen Haus 121

Inzestverbote bzw. Ehevorschriften dienten der Abgrenzung von einem als unzivilisiert empfundenen Zustand unklarer Vaterschaft. Während der Daoist Zhuangzi 莊子 (ca. 365–290 v. u. Z.) einen unschuldigen paradie- sischen Zustand preist, in dem die Menschen ihre Mütter, aber nicht ihre Vä- ter kannten,20 lobt Ban Gu in der Han-Zeit geordnete Verhältnisse zwischen Mann und Frau als Garant für die „menschliche Ordnung“ (rendao 人道). So galt es, sich von der vermeintlichen Zügellosigkeit des Tierreichs abzusetzen, was zum Beispiel verbot, ein Mädchen mit dem gleichen Klan- namen zur Frau zu nehmen:21 Indem man kein Mädchen mit dem gleichen Klannamen zur Ehefrau nimmt, respektiert man die menschlichen Beziehungen, beugt Zügellosigkeit vor und zeigt Scham davor, sich auf eine Stufe mit den Tieren zu begeben. 不娶同姓者,重人倫,防淫泆,恥與禽獸同也。 Auch bei der Formulierung aus Liji 禮記 22 Papageien können sprechen, sind aber doch Vögel; Orang-Utans können spre- chen, sind aber doch Tiere. Wenn man nun als Mensch ohne Riten ist, so ver- mag man zwar zu sprechen, aber wäre man im Herzen nicht doch ein Tier?!

20 ‚Der Räuber Zhi‘ (Dao Zhi 盜跖): „Überdies habe ich gehört, dass im Altertum die Tiere (Vögel und Vierfüßler) zahlreich und die Menschen wenige waren, woraufhin das Volk in Nestern lebte, um ihnen (den Tieren) zu entgehen. Während des Tages sammelten sie Nüsse und Getreide, nachts hockten sie auf den Bäumen. Daher nennt man sie Volk der Nestbauer. Im Altertum kannte das Volk nicht den Gebrauch von Kleidung. Im Sommer sammelten sie Reisigbündel und hielten sich im Winter mit ihnen warm. Daher nennt man sie Volk, welches zu leben weiß. Zur Zeit des Shennong (des göttlichen Landmannes) ruhten und erhoben sie sich ohne weitere Gedanken. Das Volk kannte seine Mütter, aber nicht seine Väter. Sie weilten mit den Elchen und Hirschen. Indem sie ackerten, aßen sie, und indem sie webten, kleideten sie sich. Sie kamen nicht auf den Gedanken, einander zu schaden. Dies war die Zeit der höchsten Tugend (且吾聞之: 古者禽獸多而人少,於是 民皆巢居以避之,晝拾橡栗,暮栖木上,故命之曰有巢氏之民。古者民不知衣服, 夏多積薪,冬則煬之,故命之曰知生之民。神農之世,臥則居居,起則于于,民知 其母,不知其父,與麋鹿共處,耕而食,織而衣,無有相害之心,此至德之隆也). Guo Qingfan 郭慶藩 (Komm.): Zhuangzi jishi 莊子集釋, in: Yang Jialuo 楊家駱 (Hrsg.): Xinbian zhuzi jicheng 新編諸子集成 (8 Bde., Taibei: Taiwan Shijie Shuju, 1983), Bd. 3, j. 29, S. 429. 21 Ban Gu (Komp.): Baihu tongde lun 白虎通德論, in: Wu Guan 吳琯 (Komp.), Wang Yunwu 王雲五 (Hrsg.): Gujin yishu 古今逸史 (56 Bde., Rpt. Taipei: Yiwen Yinshuguan 1965), Bd. 4, S. 8. 22 Liji, Quli shang 曲禮上, in: Shisan jing zhushu, Bd. 5, S. 15. 122 Monique Nagel-Angermann

Wenn sie nun bloß Tiere ohne Riten sind, dann treiben Vater und Sohn Hirschkühe (zu einer Herde) zusammen. 鸚鵡能言,不離飛鳥;猩猩能言,不離禽獸。今人而無禮,雖能言,不亦 禽獸之心乎?夫唯禽獸無禮,故父子聚麀。 wird auf ein Verhalten der Zügellosigkeit angespielt, bei dem Väter und Söhne in der Wahl ihrer Sexualpartnerinnen keinen ausreichenden Respekt voreinander zeigen, was gegebenenfalls auch auf eine inzestuöse Verhaltens- weise anspielen kann. Rituell soziale Gesichtspunkte scheinen den Kern der frühen Inzestverbote in China gebildet zu haben. In diesem Zusammenhang wird auch Kritik an Konfuzius geübt, der laut Lunyu 論語 vom Justizminister von Chen 陳 gefragt worden sein soll, ob der Herzog Zhao (Zhao gong 昭公) von Lu die Riten (d. h. die gesellschaftlichen Normen) kenne, was Konfuzius bejahte. Konfuzius wird dann aber belehrt, dass der Herrscher von Lu ein Mädchen aus dem Staate Wu 吳 mit dem gleichen Klannamen geheiratet und sie dann einfach als „ältere Tochter aus Wu“ (Wu mengzi 吳孟子) bezeichnet habe, um den gemeinsamen Klannamen zu verschleiern. Damit wird auf den Verstoß gegen die Inzestregel, nicht „innerhalb der gleichen Klannamen“ (tongxing 同姓) zu heiraten, durch den Herzog hingewiesen. Konfuzius gibt seine fehlerhafte Beurteilung des Herzogs in der Folge zu.23 Zu fragen, ob jemand „die Riten kenne“ (zhi li 知禮) scheint eine höfliche Form zu sein, auf Regelbrüche auch in Bezug auf Inzest anzuspielen. Oft wurde aber nicht die subtile Anspielung gewählt, um Fälle von Inzest zu thematisieren, auch wenn die Geschehnisse selber recht knapp – meist mit

23 „Der Justizminister des Staates Chen erkundigte sich, ob Zhao-gong [Herrscher von Lu] die Regeln des Anstands und der Schicklichkeit kenne. Konfuzius bejahte die Frage. Nachdem sich der Meister entfernt hatte, machte der Minister vor [dem Schüler] Wu-ma Qi eine Verbeugung und bat ihn zu sich heran. Dann sprach er zu ihm: ‚Ich habe gehört, ein Edler sei unparteiisch-korrekt. Ist etwa ein Edler zuweilen doch einseitig und befangen in seinem Urteil? Der Herrscher von Lu hat ein Mädchen aus dem Staate Wu geheiratet, mit gleichem Sippennamen. Um diesen Verstoß gegen die Sitten zu verschleiern und damit die Heirat zu ermöglichen, nannte er sie einfach anders“ (陳司敗問昭公知禮乎?孔子 曰:「知禮。」孔子退,揖巫馬期而進之,曰:「吾聞君子不黨,君子亦黨乎?君 取於吳為同姓,謂之吳孟子。君而知禮,孰不知禮?」巫馬期以告。子曰:「丘也 幸,苟有過,人必知之。」). Ralf Moritz (Übers.): Konfuzius, Gespräche (Lun-yu) (Stuttgart: Reclam, 1998), S. 43; Liu Baonan 劉寳楠 (Komm.): Lunyu zhengyi 論語正 義, in: Xinbian zhuzi jicheng, Bd.1, S. 150 [j. 7. f. 31]. Inzest: Verstoß gegen Moral und Recht im eigenen Haus 123 den beiden heute austauschbaren Termini jian 奸 oder jian 姦 – formuliert wurden. Von zweifelhafter Moral und von keinen Hemmungen geplagt war wohl unter dem Han-Kaiser Cheng (Han Chengdi 漢成帝; reg. 33‒7 v. u. Z.) König Li von Liang (Liang wang Li 梁王立) alias Liu Li 劉立, als er ein inzestuöses Verhältnis mit seiner Tante einging. Zuvor hatte er nämlich die Unverfrorenheit, Ren Bao 任寶, dem Gemahl der Tante, mitzuteilen, dass er diese begehre und haben wolle! Nun scheinen Scheidungen in der Han-Zeit durchaus nicht unüblich gewesen zu sein,24 aber eine Beziehung mit einer Tante anzustreben, ging wohl doch etwas zu weit. Ren Bao zumindest er- innerte ihren Verehrer daran, dass sie seine Tante sei und die Gesetze schwer wögen. König Li von Liang ließ das unbeeindruckt, und er soll in der Folge wiederholt inzestuöse Kontakte mit ihr gehabt haben. 25 – Über Konse- quenzen bezüglich dieses Verhaltens für König Li von Ling erfahren wir aus dem Hanshu nichts. Ganz anderes scheinen einige Berichte aus dem Shiji 史記 (Aufzeich- nungen des Historikers, 91 v. u. Z.)26 und dem Hanshu gelagert zu sein, die mit dem Finger auf Inzest in den Häusern des hohen Adels unter Han-Kaiser Wudi (Han Wudi 漢武帝, reg. 141–87 v. u. Z.) zeigen. König Dingguo von Yan (Yan wang Dingguo 燕王定國), so berichtet Shiji, soll nicht nur Inzest (姦) mit der Konkubine seines verstorbenen Vaters begangen haben, die ihm einen Sohn gebar, sondern auch noch mit der Gemahlin seines jüngeren Bruders und mit dreien ihrer Kinder. Als diese Vorgänge 128 v. u. Z. bei Hofe bekannt wurden, verurteilte man ihn. Er „habe sich wie ein Tier verhal-

24 Siehe Jack L. Dull: „Marriage and Divorce in Han China. A Glimpse at a ‚Pre-Confucian Society‘“, in: David C. Buxbaum (Hrsg.): Chinese Familiy Law and Social Change in Historical and Comparative Perspective (Seattle: University of Washington Press, 1978), S. 23–74. 25 Siehe Hanshu, j. 47, S. 2216: „Yuanzi, die jüngere Schwester von König Huang (alias Liu Shun 劉順) war die Frau des Ren Bao, dem Onkel von Li. Baos Nichte Zhao war die Königin, Ehefrau des Li. Wiederholt besuchte er (Liu Li) Bao (seinen Onkel mütter- licherseits) zu Festmahlen. Er teilte Bao mit: ‚Ich begehre die Prinzessin (wengzhu; d. h. deine Frau) und wünsche sie zu erlangen.‘ Bao sprach: ‚Die Prinzessin ist deine Tante, das Gesetz wiegt schwer.‘ Li sprach: ‚Was macht das schon!‘ „Und in der Folge betrieb er Unzucht mit der Yuanzi“ (荒王女弟園子為立舅任寶妻,寶兄子昭為立后。數過寶飲 食,報寶曰:「我好翁主,欲得之。」寶曰:「翁主,姑也,法重。」立曰:「何 能為!」遂與園子姦). 26 Verfasser: Sima Tan 司馬談 (ca. 165‒110 v. u. Z.) und Sima Qian 司馬遷 (ca. 145‒ca. 86 v. u. Z.). 124 Monique Nagel-Angermann ten“ (qinshou xing 禽獸行), „die menschlichen Beziehungen in Unordnung gebracht“ (luan renlun 亂人倫) und „sich dem Himmel widersetzt (逆天)“.27 Der König beging Selbstmord, und sein Reich wurde in eine Kommandantur umgewandelt. Betrachtet man die Gesamtheit der Inzestfälle, die in Shiji und Hanshu aufgezeichnet sind, so handelt es sich meist um Inzest mit eigenen Schwestern oder Konkubinen des Vaters sowie der Stiefmutter. Inzest zwischen Vater und Sohn oder zwischen Brüdern wird meines Wissens nicht erwähnt.28 Auffällig ist eine Häufung von inzestuösen Vorkommnissen zur Zeit von Han-Kaiser Wudi. Es fragt sich, ob die „Moral“ an den Höfen der König- reiche unter seiner Herrschaft wirklich besonders schlecht war? Vermutlich könnten sich die vielen Fälle auch durch seine lange Regierungszeit erklären lassen. Wahrscheinlicher aber ist, hier einen Zusammenhang mit dem politi- schen Ziel der Schwächung der Königtümer zugunsten der Zentrale zu erkennen. So wurde auch Liu Cichang 劉次昌, alias König Li von Qi (Qi Li wang 齊厲王), des Inzests mit seiner älteren Schwester für schuldig befun-

27 „Es kam dazu, dass der Enkel [Liu] Dingguo mit der Frau seines Vaters, König Kang, Unzucht betrieb und sie ihm einen Sohn gebar. Er ergriff sich die Gemahlin seines jünge- ren Bruders zu seiner Konkubine und trieb Unzucht mit dreien ihrer Töchter. Unter den Ministern, die Dingguo exekutieren lassen wollte, war Yingren, der Präfekt (ling) von Feiru. Yingren und andere erhoben Anklage gegen Dingguo (beim Kaiser wegen seiner Verfehlungen). Dingguo (jedoch) entsandte seinen Empfangschef (yezhe), der Yingren gemäß irgendeines Gesetzes anklagen, festnehmen und erschlagen sollte, um ihn zum Schweigen zu bringen. Im ersten Jahr der Ära Yuanshuo (128) schrieben Yingren und sein Bruder erneut einen Brief an den Kaiser und legten die geheimen Untaten des Dingguo dar, so dass die Angelegenheiten ans Licht kamen. Der Kaiser gab den Fall an seine hohen Minister, die allesamt unterteilen: ‚Dingguo hat sich wie ein Tier verhalten, die mensch- lichen Beziehungen in Unordnung gebracht, sich dem Himmel widersetzt, er soll hinge- richtet werden.‘ Der Kaiser gab dem statt. Dingguo beging Selbstmord, sein Königtum wurde abgeschafft und das Gebiet zur Kommandantur“ (至孫定國,與父康王姬姦,生子 男一人。奪弟妻為姬。與子女三人姦。定國有所欲誅殺臣肥如令郢人,郢人等告定 國,定國使謁者以他法劾捕格殺郢人以滅口。至元朔元年,郢人昆弟復上書具言定 國陰事,以此發覺。詔下公卿,皆議曰:「定國禽獸行,亂人倫,逆天,當誅。」 上許之。定國自殺,國除為郡); Shiji, u. a. in: Qian si shi, Bd. 1, j. 51, S. 1997. 28 Siehe hierzu auch Dong Mingming 董明明: „Handai tongxing zhuhou wang luanlun fanzui kaoshu“ 汉代同姓诸侯王乱伦犯罪考述, in: Jiannan wenxue 剑南文学 (2012.10), S. 98f. Inzest: Verstoß gegen Moral und Recht im eigenen Haus 125 den und beging 128 v. u. Z. Selbstmord, woraufhin sein Lehen vom Kaiser eingezogen wurde.29 Ein besonders interessanter Fall ist der des Liu Kuan 劉寬, des letzten Königs von Jibei 濟北 (reg. 97‒85 v. u. Z.), dessen Königtum dem Kaiser Wu gegen Ende seiner Regentschaft zufiel. Über ihn heißt es:30 [Liu] Kuan beging Inzest mit der Gemahlin Guang seines [verstorbenen] Vaters [König Wu und dessen] Konkubine Xiao’er und pervertierte die menschlichen Beziehungen. 寬坐與父式王后光、姬孝兒姦,誖人倫……。 Außerdem verfluchte er den Kaiser beim Ahnenopfer. Am Ende beging er Selbstmord, indem er sich die Kehle durchschnitt, und sein Königreich wurde aufgelöst. Was aber geschah mit dem Leichnam dieses Mannes, der sich gegen den Kaiser gestellt hatte? In seinem Fall wissen wir es, denn das Grab des Liu Kuan wurde in den 90er Jahren des letzten Jahrtausends in Ji’nan 濟南, Provinz Shandong 山東, entdeckt.31 Auffällig ist, dass Liu Kuan anscheinend ein königliches Begräbnis zugestanden wurde, und auch wenn er wohl kein vollständiges Jadegewand trug oder vielleicht wegen seiner Verfehlung nicht tragen durfte, so kennen wir dennoch seine Jade- maske.

Kann der Anprangerung von Inzestfällen in den Geschichts- werken zur Han-Zeit eine Funktion zugeschrieben werden?

Das, worüber eigentlich nicht gesprochen werden sollte, weil es nicht vor- kommen sollte, dennoch mit Worten anzuprangern, war eine wenig subtile Form von „Lob und Tadel“ (baobian 褒貶). Umso deutlicher erklärt und begründete eine Anklage wegen Inzests den zwangsläufigen Niedergang bestimmter Adelshäuser und zu anderen Zeiten ganzer Dynastien. Der Vor- wurf des Inzests ist gerade während der Herrschaft des Han-Kaisers Wudi

29 Siehe Hanshu, j. 51, S. 1999f. 30 Siehe Hanshu, j. 44, S. 2157. 31 Es ist seitdem als Han-Grab Nr. 1 von Shuangrushan bekannt. Siehe Ren Xianghong 任 相宏: „Shuangrushan yi hao Han mu muzhu kaolüe 双乳山一号汉墓墓主考略, in: Kaogu 考古 3 (1997), S. 202–207. 126 Monique Nagel-Angermann häufig zu finden und rechtfertigt neben anderen Vergehen eine Anklage auch naher Familienangehöriger in dieser Zeit.32 Schilderungen der Zügellosig- keit und Unmoral z. B. in Kapitel 59 des Shiji bzw. Kapitel 53 des Hanshu, welches sich mit Halbbrüdern des Wudi und deren Nachfahren beschäftigt, fallen dabei derart detailliert und unappetitlich aus, dass Robert van Gulik in seinem Sexual Life in Ancient China bei der Darstellung der Geschehnisse gar auf das Lateinische ausweicht!33 Die Einordnung von Inzest als Tabubruch, über den sich nicht ohne Weiteres offen sprechen lässt, ist abhängig davon, wie Inzest definiert wird. So wie sich dieses Empfinden in unserer modernen Gesellschaft in ver- schiedenen Kulturen und Rechtsräumen unterscheidet, so sehr scheint es auch in der chinesischen Geschichte Entwicklungen unterlegen zu haben, die sich mit divergierenden Konzepten von Ehe und Familie sowie wandelnden Moral- und Rechtskonzepten erklären lassen. Während frühe Rechtstexte der Qin- und der Han-Zeit in nüchterner Form verschiedene Varianten sexueller Verhältnisse im engen sozialen Umfeld und offene Fragen zum Status ggf. so gezeugter Kinder thematisieren, scheinen Hinweise auf sexuelle Beziehungen innerhalb der Familie insbesondere von Herrscherhäusern in Shiji und Han- shu als gezielte Angriffe zu lesen zu sein. Das „inzestuöse“ Verhalten der angesprochenen Personen dient als Beleg ihres, im modernen Sprachgebrauch, asozialen Verhaltens und impliziert ihre Unfähigkeit und Unwürdigkeit, eine tragende Rolle in der Elite der Gesellschaft einzunehmen, was dann unter anderem den Untergang ihrer Häuser zu begründen scheint.

32 Für die Herrschaftszeit des Han-Kaisers Wudi berichten Shiji und Hanshu über zehn Fälle von Inzest, die meist mit dem Selbstmord des Täters endeten. Siehe Shiji, j. 51, S. 1997; j. 52, S. 2007; j. 118, S. 3097; j. 95, S. 2667; Hanshu, j. 53, S. 2427; Shiji, j. 59, S. 2096; j. 19, S. 1022; Hanshu, j. 53, S. 2421 (und zum selben Fall j. 45, S. 2175); j. 15shang, S. 461; j. 44, S. 2157. 33 R. H. van Gulik: Sexual Life in Ancient China. A Preliminary Survey of Chinese Sex and Society from ca. 1500 B.C. till 1644 A.D. (Leiden: Brill, 1974), S. 61f. Inzest: Verstoß gegen Moral und Recht im eigenen Haus 127 Ausblick

Ehekonzepte wie das polygyne Sororat34 der Chunqiu-Zeit und eine Form des Levirats,35 das insbesondere bei den Xiongnu 匈奴 beobachtet wurde, stehen exogamen Ehevorstellungen gegenüber, bei denen eine Frau im Ideal- fall ihrem Mann und seiner Familie ggf. auch über seinen Tod hinaus als keusche Witwe die Treue zu halten hatte. Im Kontrast zur keuschen Witwe steht das Schicksal der Wang Zhaojun 王昭君. Von ihr wird berichtet, dass sie unter Han-Kaiser Yuandi als kaiser- liche Prinzessin mit dem Xiongnu-Khan (shanyu 單于) Huhanye 呼韓耶 verheiratet wurde und nach dessen Tod wegen ihrer Ablehnung der Levirats- praxis der Xiongnu wieder in ihre Heimat zurückkehren wollte. Das wurde ihr aber nicht gestattet, so dass sie in der Folge den nächsten Khan (ihren Schwager oder Stiefsohn) heiratete und weitere Kinder bekam.36 Dass bei den Xiongnu Witwen, die bereits Kinder hatten, wiederverheiratet wurden, löste seinerzeit in China genauso Befremden aus wie die Tatsache, dass Stiefsöhne ihre Mütter heirateten. Zudem wird über die Xiongnu berichtet, dass Stiefsöhne ihre Mütter heirateten:37

34 Die Sororatspolygynie, d. h. die Verbindung eines Mannes nicht nur mit seiner Gattin, sondern auch mit ihren Schwestern oder Nichten, die die Braut begleiteten oder ihr folg- ten (ying 媵), wie in der Chunqiu-Zeit, sicherte die Bindung zwischen den beiden Häu- sern. Siehe hierzu auch Melvine P. Thatcher: „Marriages of the Ruling Elite in the “, in: Ruby S. Watson, Patricia Buckley Ebrey (Hrsg): Marriage and Inequality in Chinese Society (Berkeley: University of California Press, 1991), S. 25‒57, insbesondere S. 31f. 35 Im engeren Sinne bezeichnet das Levirat die Schwagerehe, bei der die kinderlose Witwe einen Bruder ihres verstorbenen Mannes heiratete, so dass die Frau weiterhin in der ein- geheirateten Familie verblieb. 36 Siehe hierzu Hanshu, j. 94xia, S. 3803–3807. Zu Wang Zhaojun und der weiteren Legen- denbildung siehe auch Li Yuning: „Wang Zhaojun“, in: Lili Xiao Hong Lee, A. D. Stefanowska (Hrsg.): Biographical Dictionary of Chinese Women. Antiquity through Sui 1600 B. C. E. to 618 (New York: M. E. Sharpe, 2007), S. 207‒212. Zur Leviratspraxis späterer Zeiten im Kontrast zum Ideal der keuschen Witwe siehe auch Bettine Birge: „Levirate Marriage and the Revival of Widow Chastity in Yüan China“, in: Asia Major 8.2 (1995), S. 107‒146. 37 Siehe Shiji, j. 110, S. 2900. 128 Monique Nagel-Angermann

Wenn der Vater stirbt, heiratet der Sohn die Stiefmutter, wenn Brüder sterben, heiraten die anderen die Witwen. 父死,妻其後母;兄弟死,皆取其妻妻之。 Allerdings wird bereits in Shiji auch der Vorteil einer solchen Praxis bei den Xiongnu zum Erhalt der „Gesamtfamilie“ (zhongxing 種姓) und der „Vor- fahrengruppe“ (zongzhong 宗種) diskutiert und dem Familienmodell des Herrscherhauses gegenübergestellt.38 In der Gesetzgebung der Tang manifestiert sich die enge Verbindung von Moral, sozialer Ordnung und Recht, indem „Inzest“ in der Kategorie der „zehn Abscheulichkeiten“ aufgelistet ist. Während von der Tang- bis zur Song-Zeit [宋] (960–1279) im Rahmen des Inzestverbots nur eine Wieder- verheiratung einer Witwe mit den Verwandten der männlichen Linie ihres verstorbenen Mannes innerhalb der Trauergrade verboten war, verschärfte sich die Regel unter der Ming 明 (1368–1644) und Qing 清 (1644–1911) dahingehend, dass überhaupt keine zweite Ehe innerhalb des gleichen Fami- liennamens (tongzong 同宗) legal war.39 Verstöße gegen diese Regel kamen aber vor, wie Prozessaufzeichnungen aus der Qing-Zeit belegen, und wurden allgemein als „beschämende Angelegenheiten“ oder „Skandale“ (choushi 醜 事) betrachtet.40 Wie aber auch bei anderen „Skandalen“, z. B. Vergewalti- gung, scheinen die betroffenen Familien solche Fälle oft nicht außer Haus zum Gericht getragen zu haben. Zu groß war die Angst vor einer – nicht immer gewaltlosen – Befragung bei Gericht und dem mit der Offenlegung des Skandals verbundenem Ansehensverlust.

38 Siehe hierzu auch die Ausführungen von Tamara T. Chin: „Defamiliarizing the Foreigner. Sima Qian’s Ethnography and Han-Xiongnu Marriage Diplomacy“, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 70.2 (2010), S. 311‒354, insbesondere S. 331. 39 Philip C. C. Huang, Kathryn Bernhardt (Hrsg.): The History and Theory of Legal Practice in China. Towards a Historical-Social Jurisprudence (Leiden: Brill, 2014), S. 42. 40 Janet Mary Theiss: Dealing with Disgrace. The Negotiation of Female Virtue in Eight- eenth-Century China, Dissertation, University of California (Berkeley), 1998. Online ab- rufbar unter http://erf.sbb.spk-berlin.de/docview/304432453?accountid=13723 (Zugriff am 14.03.2016), S. 103.