Plenarprotokoll 14/150

Deutscher

Stenographischer Bericht

150. Sitzung

Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Inhalt:

Erweiterung der Tagesordnung ...... 14671 A Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU . . . 14700 C BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14701 A Tagesordnungspunkt 14: Ursula Mogg SPD ...... 14701 D Abgabe einer Regierungserklärung:Die CDU/CSU ...... 14703 A Bundeswehr der Zukunft, Feinauspla- nung und Stationierung ...... 14671 A Manfred Opel SPD ...... 14704 C , Bundesminister BMVg 14671 B Paul Breuer CDU/CSU ...... 14706 C CDU/CSU ...... 14676 B Jürgen Koppelin F.D.P...... 14680 B Tagesordnungspunkt 15: SPD ...... 14680 D a) Große Anfrage der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting F.D.P...... 14683 A Wolfgang Börnsen (Bönstrup), , weiterer Abgeordneter und der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14685 C Fraktion CDU/CSU: Die Ostsee- CDU/CSU ...... 14687 A region – Chancen und Risiken einer Wachstumsregion von zunehmender Gernot Erler SPD ...... 14687 C weltweiter Bedeutung Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P...... 14688 A (Drucksachen 14/2293, 14/4460) . . . . . 14707 A Hannelore Rönsch (Wiesbaden) CDU/CSU 14688 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Winfried Nachtwei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14689 B Ausschusses für Wirtschaft und Tech- nologie zu dem Antrag der Abgeordne- Wolfgang Gehrcke PDS ...... 14689 D ten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Peter Zumkley SPD ...... 14691 C Gunnar Uldall, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Initiative CDU/CSU ...... 14693 A zur Stärkung der Ostseeregion Kurt J. Rossmanith CDU/CSU ...... 14693 C (Drucksachen 14/3293, 14/4573) . . . . . 14707 B Peter Zumkley SPD ...... 14694 B c) Große Anfrage der Abgeordneten Jürgen Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU ...... 14695 B Koppelin, Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . . . . 14695 C F.D.P.: Ostsee-Politik der Bundes- Georg Pfannenstein SPD ...... 14697 B regierung (Drucksachen 14/3424, 14/4026) . . . . 14707 B Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14698 B CDU/CSU ...... 14699 D in Verbindung mit II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Zusatztagesordnungspunkt 8: c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Antrag der Abgeordneten Franz Thönnes, Dr. , weiterer Abgeordneter schaft und Forsten und der Fraktion SPD sowie der Abgeord- – zu dem Antrag der Fraktion neten (Leipzig), Kerstin CDU/CSU: Zulassung von Pflan- Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der zenschutzmitteln auf nationaler Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: und EU-Ebene beschleunigen Die Entwicklung der Ostseeregion nach- haltig stärken – zu dem Antrag der Abgeordneten (Drucksache 14/5226) ...... 14707 B Marita Sehn, Ulrich Heinrich, weiterer Dr. Margrit Wetzel SPD ...... 14707 C Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Wettbewerbsnachteile durch unter- Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU . . . 14708 C schiedliche Zulassungspraxis von Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 14711 A Pflanzenschutzmitteln in Europa zügig abbauen Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU 14712 C Jürgen Koppelin F.D.P...... 14714 C (Drucksachen 14/3096, 14/3298, 14/3713) ...... 14723 C Rolf Kutzmutz PDS ...... 14716 A Ulrich Heinrich F.D.P...... 14723 D Jürgen Koppelin F.D.P ...... 14716 C Heino Wiese (Hannover) SPD ...... 14725 A , Ministerpräsidentin (Schles- wig-Holstein) ...... 14717 B CDU/CSU ...... 14726 B Ulrich Adam CDU/CSU ...... 14719 B BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14728 B Franz Thönnes SPD ...... 14720 D Ulrich Heinrich F.D.P...... 14728 D Dr. SPD ...... 14721 D Helmut Heiderich CDU/CSU ...... 14729 B Eva Bulling-Schröter PDS ...... 14730 B Zusatztagesordnungspunkt 10: SPD ...... 14731 A Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes zu demFünf- zehnten Gesetz zur Änderung des Bun- Tagesordnungspunkt 17: deswahlgesetzes Erste Beratung des von den Abgeordneten (Drucksachen 14/3764, 14/4265, 14/4647, , Heinz Seiffert, weiteren 14/5238) ...... 14723 A Abgeordneten und der Fraktion CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erhöhung des Trinkgeldfreibetrages Zusatztagesordnungspunkt 11: (Drucksache 14/4938 [neu]) ...... 14732 A Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes zu demGesetz in Verbindung mit zur Bekämpfung gefährlicher Hunde (Drucksachen 14/4451, 14/4920, 14/5052, 14/5239) ...... 14723 B Zusatztagesordnungspunkt 9: Erste Beratung des von den Abgeordneten Tagesordnungspunkt 16: , Gerhard Schüßler, wei- teren Abgeordneten und der Fraktion F.D.P. a) Antrag der Abgeordneten Ulrich eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Heinrich, Ulrike Flach, weiterer Abgeord- Änderung des Einkommensteuergeset- neter und der Fraktion F.D.P.: Innova- zes (Abschaffung der Trinkgeldbesteue- tionspotenzial moderner Technologien rung) für mittelständische Pflanzenzüchter (Drucksache 14/5233) ...... 14732 B erhalten (Drucksache 14/2297) ...... 14723 C Klaus Brähmig CDU/CSU ...... 14732 C b) Große Anfrage der Abgeordneten Simone Violka SPD ...... 14734 B Marita Sehn, Ulrich Heinrich, weiterer Klaus Brähmig CDU/CSU ...... 14735 A Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Harmonisierung der Zulassungs- Ernst Burgbacher F.D.P...... 14737 A praxis von Pflanzenschutzmitteln auf Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14738 B europäischer Ebene (Drucksachen 14/3054, 14/4136) . . . . 14723 C Dr. Barbara Höll PDS ...... 14739 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 III

Tagesordnungspunkt 19: Pia Maier PDS ...... 14746 B Beschlussempfehlung und Bericht des (Bremen) BÜNDNIS 90/ Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung DIE GRÜNEN ...... 14747 A zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus Grehn, Petra Bläss, weiterer Abgeordneter Nächste Sitzung ...... 14747 C und der Fraktion PDS: Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes Anlage 1 (Drucksachen 14/3381, 14/4695) ...... 14740 A Liste der entschuldigten Abgeordneten ...... 14749 A Brigitte Lange SPD ...... 14740 B Dr. Barbara Höll PDS ...... 14740 D Anlage 2 Karl-Josef Laumann CDU/CSU ...... 14743 B Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Marieluise Beck (Bremen) BÜNDNIS 90/ Berichts: Aufhebung des Asylbewerber- DIE GRÜNEN ...... 14744 B leistungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 19) Dr. Heinrich L. Kolb F.D.P...... 14745 B Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU . . . . . 14749 D

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150. Sitzung

Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Guten Morgen, liebe Seit 1990 haben sich die Bedingungen deutscher Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Außen- und Sicherheitspolitik grundlegend verändert und in mancher Hinsicht verbessert. Unverändert gilt aber: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heu- Nur die Solidarität der internationalen Staatengemein- tige Tagesordnung um zwei Beschlussempfehlungen des schaft ermöglicht es auch uns Deutschen, Frieden und Vermittlungsausschusses auf den Drucksachen 14/5238 Freiheit gemeinsam und umfassend zu gewährleisten und und 14/5239 erweitert werden. Die Punkte werden nach an der politischen Regelung internationaler Konflikte ak- der Debatte zur Ostseeregion aufgerufen. Sind Sie damit tiv mitzuwirken. Wirksame Einflussnahme setzt eigenes einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so Engagement voraus. Das verlangt auch die Übernahme beschlossen. militärischer Verantwortung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Die Bundeswehr dient unverändert der Sicherheit un- Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung seres Landes und unseres Bündnisses. Aus dem histori- schen Gewinn überwundener Teilung Deutschlands und (B) (D) Die Bundeswehr der Zukunft, Feinausplanung Europas wurden jedoch in den 90er-Jahren kaum Konse- und Stationierung quenzen gezogen. Ausrüstung, Fähigkeiten und Struktu- Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion ren unserer Streitkräfte wurden sträflich vernachlässigt. der CDU/CSU und der Fraktion der PDS vor. Die Bestandsaufnahme vom Mai 1999 hat gezeigt: Der Wandel zu modern ausgerüsteten und in großer Band- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die breite einsetzbaren Streitkräften ist dringend erforderlich. Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. Ich höre keinen Wider- Diese Erneuerung der Bundeswehr von Grund auf hat spruch. Dann ist so beschlossen. begonnen. Das wird in NATO und Europäischer Union ausdrücklich begrüßt und unterstützt. Die NATO hat auf Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat dem Gipfel in Washington im April 1999 ihr neues der Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping. strategisches Konzept beschlossen. Es beschreibt die künftigen Anforderungen an Fähigkeiten der Streitkräfte: Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidigung: Führungsfähigkeit, Mobilität, Wirksamkeit im Einsatz, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundes- Durchhaltefähigkeit und Überlebensfähigkeit. wehr hat gemeinsam mit verbündeten Streitkräften Die Europäische Union hat auf den Gipfeltreffen in Köln Deutschland und seinen Partnern über Jahrzehnte Freiheit, und Helsinki 1999 und in Nizza im Dezember des letzten Frieden und Sicherheit gewährleistet. Sie hat Menschen ge- Jahres die Grundlagen für die Ausgestaltung einer eigen- dient, in Katastrophen geholfen und auch einen bedeuten- ständigen europäischen Sicherheits- und Verteidigungs- den Beitrag zur inneren Einheit unseres Landes geleistet. politik gelegt. Deutschland hat dazu durch Bundeskanzler Die Bundeswehr ist, wie niemals zuvor deutsche Streit- Schröder und Außenminister Fischer entscheidende An- kräfte, fest verankert in Demokratie, Rechtsstaat und Be- stöße gegeben. Diese Entscheidungen unserer Freunde und völkerung. Sie unterstützt die Beilegung von Krisen und Partner unter aktiver Mitwirkung Deutschlands waren die Konflikten. Dafür erfahren die Angehörigen unserer Bun- Vorgaben für Umfang und Fähigkeitenprofil der Streit- deswehr Anerkennung, Dank und Respekt in der NATO, kräfte in Europa, also auch in Deutschland. in der Europäischen Union und zu Hause und sicher auch Die Reform der Bundeswehr ist eine Investition in drei hier im Deutschen Bundestag. Säulen: in die Menschen, in die Ausrüstung – einschließ- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lich der Infrastruktur –, in die Effizienz von Beschaffung DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der und Betrieb. In allen drei Bereichen sind beachtliche Fort- CDU/CSU und der F.D.P.) schritte erzielt worden. Nur siebeneinhalb Monate nach 14672 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Bundesminister Rudolf Scharping (A) den Grundsatzentscheidungen der Bundesregierung ste- dies zu beträchtlichen Effektivitätssteigerungen und Kos- (C) hen die Eckpfeiler der Reform. Dafür danke ich an dieser tensenkungen. Die infolgedessen frei werdenden Mittel Stelle allen Beteiligten, insbesondere den Inspekteuren stärken den Verteidigungshaushalt und seine Investitions- der Streitkräfte und ihren Stäben. kraft. Das ist eine deutliche, grundlegende Veränderung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gegenüber früher. DIE GRÜNEN) 1994 bis 1998 wurden der Bundeswehr aus bereits be- Erstens. Diese Leistung bestätigt: Die Menschen mit schlossenen, schon laufenden Haushalten rund 3,1 Milli- ihren Fähigkeiten sind das größte Kapital in der Bundes- arden DM entzogen. 1994 bis 1998 wurden im Jahres- wehr. Das hohe Leistungsniveau zu erhalten erfordert durchschnitt lediglich knapp 5,7 Milliarden DM in die fundierte Ausbildungsmöglichkeiten, attraktive Arbeits- Ausrüstung investiert. 1997 und 1998 betrugen die durch- plätze, interessante berufliche Perspektiven und eine an- schnittlichen Ausgaben des Einzelplanes 14 46,5 Milliar- gemessene Entlohnung. Daher wurde zum Beispiel die den DM. 1999 und 2000 lagen sie bei 47,8 Milliarden DM. besondere Vergütung für Grundwehrdienstleistende (Peter Zumkley [SPD]: So ist die Realität!) angehoben. Über die allgemeine Steigerung des Haushaltes hinaus (Paul Breuer [CDU/CSU]: Welche?) sind die jährlichen Investitionen auf einen Schnitt von Weitere gesetzliche Regelungen werden dem Deutschen 7,4 Milliarden DM angewachsen, also um mehr als Bundestag vor Ostern vorgelegt werden. Sie sollten vor 1,7 Milliarden DM pro Jahr. dem Sommer 2001 in Kraft treten. Das zeigt: Die Bundesregierung nimmt die Investitio- Damit wird unter anderem erreicht, dass die Eingangs- nen in eine moderne, leistungs-, bündnis- und euro- besoldung in der Mannschaftslaufbahn auf A3 angehoben pafähige Bundeswehr ernst. wird oder dass Kompaniechefs grundsätzlich nach A 12 (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ besoldet werden können. Im Übrigen bauen diese Ver- DIE GRÜNEN) änderungen auf den Veränderungen auf, die wir schon in den Jahren 1999 und 2000 für die Menschen in der Bun- Genauso richtig ist, dass wir diesen Weg begonnener Ver- deswehr erreicht haben. besserungen konsequent fortsetzen müssen. Zweitens. Die Ausrüstung und die Leistungsfähigkeit Mit den Stationierungsentscheidungen können die Be- der Bundeswehr werden an das neue Fähigkeitenprofil triebskosten um jährlich mindestens 200 Millionen DM angepasst. Ende nächsten Monats wird das Material- und gesenkt werden. Allerdings verzichtet die Bundeswehr Ausrüstungskonzept vorgelegt. Es wird also frühzeitig auf ein zusätzliches Rationalisierungspotenzial von min- (B) mit den Entscheidungen zur organisatorischen Neuaus- destens 500 Millionen DM. Sie leistet auf diesem Wege (D) richtung der Streitkräfte synchronisiert. Aufbau- und Ab- und unter Berücksichtigung regionaler, wirtschaftlicher lauforganisation im Rüstungsbereich werden neu struktu- und insbesondere sozialer Erwägungen einen hohen Bei- riert. Das führt zu einer Halbierung der Entwicklungs- trag zu diesen Belangen – zugunsten von Menschen, Ge- und Beschaffungsabläufe für Wehrmaterial. meinden und Regionen, zulasten des Einzelplans 14. Ganzheitliche Systemlösungen sind wichtiger als op- Angesichts dieser Argumente ist es an der Grenze der timierte Teilsysteme. Verbesserungen beim Zusammen- Lächerlichkeit, zu behaupten, die Stationierungsentschei- wirken verbundener Waffensysteme haben Vorrang vor dungen folgten einer finanziellen Vorgabe. der Perfektionierung einzelner Waffen und Geräte. Was nutzt beispielsweise ein hochmodernes Flugzeug, wenn (Widerspruch bei der CDU/CSU) es nicht überlebensfähig ist, weil es über eine nur unzu- Wäre das der Fall, hätten wir nicht 39, sondern 100 bis reichende Selbstschutzausstattung verfügt? Den Euro- 110 Standorte schließen müssen. fighter zu beschaffen mag eine vernünftige Entscheidung sein. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) Im Übrigen wird den wirtschaftlichen und regionalen Diese fliegende Plattform allerdings nur mit einer Mau- Belangen auch dadurch Rechnung getragen, dass die Bun- serkanone mit einem Kaliber von 27 Millimeter auszurüs- deswehr hilft, Liegenschaften für preiswertes Wohnen, ten ist fahrlässig und hat dazu geführt, dass wir am Ende neue Stadtteile und die Erweiterung oder Ansiedlung von des letzten Jahres Entscheidungen mit einem finanziellen Betrieben zu entwickeln. Das ist ein wirtschaftlich viel Umfang von rund 2,7 Milliarden DM für eine vernünftige versprechender Beitrag zur Konversion, der naturgemäß Selbstschutzausrüstung dieses neuen fliegenden Waffen- in Ballungsräumen wie München, Hamburg oder Köln systems der Bundeswehr treffen mussten. leichter als in kleineren Städten oder ländlichen Gebieten (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) gelingt. Drittens. Wirtschaftliches Denken und Handeln bei Be- Die für 2001 erwarteten auch finanziellen Ergebnisse schaffung und Betrieb wird endgültig Führungsmaxime sind erreichbar. So sehen es die Banken, die Wirtschafts- auf allen Ebenen der Bundeswehr. Verbunden mit derverbände, die Handwerkskammern, die Industrie- und Nutzung moderner Managementmethoden und dank Handelskammern und die Unternehmen. Nur die Opposi- der strategischen Partnerschaft mit der Wirtschaft führt tion denkt, sie müsse das anders sehen, und bleibt damit Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14673

Bundesminister Rudolf Scharping (A) nicht nur sicherheitspolitisch, sondern auch wirtschafts- besteht also darin, dass die Koalition die Zahl der Berufs- (C) politisch völlig isoliert. und Zeitsoldaten auf 203 000 festgelegt hat, während die Opposition 200 000 fordert. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU – (Dr. [CDU/CSU]: Brutto oder Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Quatsch! netto? – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Jetzt Sie haben wohl schlecht geschlafen? Wer hat kommen Sie mit Ihren Zahlen etwas durchei- Ihnen das denn aufgeschrieben?) nander!) Unser Land und unsere Soldaten haben aber nichts von Die Differenz besteht weiterhin darin, dass die Koalition einer Opposition, die ihre schweren Versäumnisse der82 000 Dienstplätze für Wehrdienstleistende zur Verfü- Vergangenheit hinter Polemik verstecken will und glaubt, gung stellen will, während die Opposition 100 000 Dienst- dass diese Polemik Fantasie und Alternative ersetzenplätze fordert. könnte. Entscheidend ist: Soweit wir über die militärischen An- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und dem gehörigen innerhalb der Streitkräfte reden, besteht der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Unterschied in den Auffassungen lediglich in Bezug auf die Zahl der Grundwehrdienstleistenden. Mit Verdächtigungen, mit haltlosen Behauptungen und mit altem Denken ist eine neue und sichere Zukunft der (Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!) Bundeswehr jedenfalls nicht zu schaffen. Die Behaup- Ob diese Differenz das Maß an Polemik rechtfertigt, das tung, man müsse alles so lassen, wie es ist, und im Übri- Sie entfalten – ich vermute, das wird sich heute fortsetzen, gen einfach mehr Geld hineinstecken, sichert keineübrigens zulasten der Streitkräfte –, daran habe ich, und Zukunft, sondern konserviert alte, nicht mehr leistungs- nicht nur ich, begründete Zweifel. fähige Strukturen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Diese Zweifel werden nicht alleine durch die Zahlen Stationierungsentscheidungen sind die Konsequenz und die marginale Differenz zwischen Ihren und unseren aus der gerade skizzierten Reform. Diese Reform wird Zahlen genährt; sie werden auch dadurch genährt, dass die von Aufgaben und Fähigkeiten der Bundeswehr der Zu- Union in ihrem Papier ausdrücklich nicht einen für die kunft bestimmt. Es ist nicht die erste Aufgabe der Bun- Streitkräfte gemeinsamen Ansatz verfolgt. Die Koalition deswehr, stationiert zu sein. Es bleibt die erste Aufgabe dagegen fördert die Konzentration der Streitkräfte auf den (B) der Bundeswehr, gemeinsam mit Freunden und Partnern Einsatz und die daraus resultierenden strafferen Struktu- (D) für die Sicherheit und die friedliche Entwicklung des ei- ren; diese erhöhen nämlich die Effizienz in der Aufga- genen Landes und des eigenen Kontinents zu sorgen. benwahrnehmung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wenn man die nominelle Differenz von knapp des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 15 000 Soldaten – und zwar hauptsächlich im Bereich der Das Ergebnis werden modular aufgebaute, flexible und Wehrpflichtigen – betrachtet, wird das noch ein Stück zugleich straffe Streitkräftestrukturen sein, die eine effizi- deutlicher. Offenkundig haben Sie ein Bedürfnis danach, ente Wahrnehmung von Aufgaben ermöglichen. Das gilt angesichts einer fehlenden sicherheits- und außenpoliti- im Übrigen auch für dieBundeswehrverwaltung. Sie schen Alternative die Chance einer breiten sicherheitspo- wird umstrukturiert und zu einem modernen Dienstleis- litischen Übereinstimmung im Deutschen Bundestag aus tungsunternehmen fortentwickelt. Ihre Unterstützungsleis- ausschließlich parteipolitischem Kalkül in Frage zu stel- tung für Streitkräfte und Bürger erbringt die Bundeswehr- len. verwaltung in Zukunft in immer engerer Kooperation mit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Wirtschaft. DIE GRÜNEN) Insgesamt wird die Bundeswehr kleiner, im Hinblick Die Reduzierung beim militärischen Personal wird bis auf die gewandelten Anforderungen jedoch zugleich mo- zum Jahre 2006 abgeschlossen sein. Bei den zivilen Mit- derner und leistungsfähiger. Die Zahl der Soldatinnen und arbeitern wird dies bis circa 2010 dauern. Soldaten wird von derzeit rund 315 000 – planerisch sind es 340 000, real 315 000 – auf künftig etwa 285 000 ver- (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Schauen Sie auf ringert. Davon sind circa 203 000 Berufs- und Zeitsolda- die Regierungsbank, wie die alle vor sich hin- ten. Zugleich kann die Zahl der Dienstposten für zivile schlafen!) Mitarbeiter in der Bundeswehr sozialverträglich aufIch sage bewusst: bis circa 2010, da dieser Prozess durch 80 000 bis 90 000 reduziert werden. den hoffentlich baldigen Abschluss von Tarifverträgen und die Kooperation mit der Wirtschaft beeinflusst wird. An dieser Stelle ist ein Vergleich angebracht: CDU und CSU – zunächst nur die CDU – hatten im Frühjahr des ver- Die Einrichtung einer Streitkräftebasis ist die auffäl- gangenen Jahres ein scheinbar eigenständiges Konzept vor- ligste Neuerung in der Streitkräftestruktur. Die Streitkräf- gestellt. Sie haben gefordert, die Bundeswehr solle langfris- tebasis wird die zentrale militärische Dienstleistung für die tig 100 000 Zivilbeschäftigte und rund 300 000 Soldaten, Streitkräfte. Sie fasst Querschnittsaufgaben wie Führung, davon 100 000 Wehrpflichtige, umfassen. Die Differenz Aufklärung, Unterstützung und Ausbildung zusammen. 14674 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Bundesminister Rudolf Scharping (A) Allein in der Logistik können dadurch rund 8 000 Dienst- In der territorialen Wehrverwaltung mit dem Bun- (C) posten für andere Aufgaben in der Bundeswehr freige- desamt für Wehrverwaltung und den Wehrbereichsverwal- macht werden. tungen – es werden vier sein mit drei sicheren Außenstel- len und einer reduzierten Zahl von Standortverwaltungen – In diesem Zusammenhang komme ich noch einmal auf wird es darauf ankommen, eine effizientere Führung und die Kollegen der CDU/CSU zu sprechen: Verwaltung sicherzustellen. Das geschieht. Die Dienst- ( [CDU/CSU]: Bleiben Sie doch leistungen für die Truppe selbst bleiben selbstverständlich einmal bei der Bibel! Machen Sie es wie vor Ort. Pontius Pilatus: Waschen Sie Ihre Hände in Ich füge hinzu, dass sich auf der Grundlage dieser Unschuld! – Gegenruf des Abg. Peter Zumkley Feinausplanung noch ein geringfügiger Anpassungsbe- [SPD]: Ja, das ist unangenehm, wenn man sich darf durch laufende Detailuntersuchungen ergeben kann. das anhören muss!) Für die Stationierungsentscheidungen herrscht allerdings Wenn man die nominelle Differenz bei der Zahl der Be- Klarheit in den organisatorischen Vorgaben. rufs- und Zeitsoldaten – Sie wollten 200 000, wir werden Die Standortentscheidungen selbst sind immer ein uns für 203 000 entscheiden – um die schlichte, von den Kompromiss zwischen konkurrierenden Zielen. Den Ent- Streitkräften und den Fachleuten errechnete Zahl vonscheidungen zur Stationierung der Bundeswehr liegt ein 8 000 Dienstposten, die man für andere Aufgaben durch ganzer Katalog von Kriterien zugrunde, den ich mehrfach effizientere Wahrnehmung der Logistik freimachen kann, öffentlich erläutert habe. ergänzt, dann übertrifft die Koalition die Opposition bei der Zahl der Berufs- und Zeitsoldaten nicht um 3 000, Die Fürsorgeverpflichtung gegenüber den Angehöri- sondern sogar um 11 000. gen der Bundeswehr hat hohe Priorität. Jeder Ortswech- sel bringt eine Vielzahl sozialer und finanzieller Belas- Ich sage Ihnen das auch vor dem Hintergrund der wirt- tungen mit sich. Die Zahl der Versetzungen wird daher im schaftlichen Auswirkungen; denn an den Standorten wird Interesse von Motivation und Berufszufriedenheit der An- durch die innere Stärkung der Einheiten sowie durch die gehörigen der Bundeswehr so gering wie möglich gehal- Verbindung von Ausbildungs- und Übungserfordernissen ten. einerseits und Einsatzerfordernissen andererseits eine Stärkung stattfinden, die Sie offenbar aus Ihrer Rechnung Die Präsenz der Streitkräfte in der Fläche ist eine we- herausholen wollen. sentliche Voraussetzung auch für die Nachwuchsgewin- nung. Das langfristige Aufkommen an Wehrpflichtigen (Walter Hirche [F.D.P.]: Also haben wir am und Freiwilligen in der Region ist daher eine wichtige Ende mehr Soldaten als heute! – Jürgen Bestimmungsgröße. (B) Koppelin [F.D.P.]: Brutto oder netto?) (D) Die Bildungs- und Qualifizierungsoffensive der Bun- Im Übrigen wird der zentrale Sanitätsdienst umge- deswehr erfordert auch die räumliche Nähe der Truppe zu staltet und die vorher den Teilstreitkräften zugeordneten Lehr- und Ausbildungseinrichtungen. Nur so ist eine die Aufgaben der sanitätsdienstlichen Versorgung werden ge- Dienstzeit begleitende Qualifizierung der Soldaten mög- bündelt. lich. (Zuruf von der CDU/CSU: Ist das die Auch die Akzeptanz von Standorten ist ein Kriterium. Kavallerie? Maßgeblich sind insbesondere die schulischen und beruf- Im Heer werden die Kampf- und Kampfunterstützungs- lichen Angebote, Freizeit- und Wohnwert, Lebenshal- truppe sowie die Kräfte der Führungsunterstützung um tungskosten vor Ort. etwa ein Drittel, in Teilen um die Hälfte reduziert. Die Lo- Effizienz in der Auftragserfüllung durch die Bundes- gistiktruppen des Heeres können aufgrund der Auslage- wehr verlangt eine aufgabenorientierte und zweckmäßige rung der Aufgaben in die Streitkräftebasis und dank der Belegung der Liegenschaften. Das verlangt die Nähe von Kooperation mit der Wirtschaft sogar um 60 Prozent ver- Stäben zur unterstellten Truppe, die räumliche Zusam- ringert werden. menfassung militärisch aufeinander angewiesener Trup- In der Luftwaffe wird die Anzahl der fliegenden Ein- penteile, auch die Nähe der Truppe zu Übungsgebieten satzverbände um ein Viertel, die der Flugabwehrraketen- und Unterstützungseinrichtungen. verbände um ein Drittel und die der Radarführungs- Eine gute Verkehrsanbindung ist wichtiger Standort- dienstverbände um die Hälfte reduziert. Auch hier können faktor, weil sie weiträumige Verlegungen erleichtert. mehr als die Hälfte der logistischen Verbände eingespart werden. Die Anzahl der Flottillen in der Marine wird auf (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Da fünf reduziert; die Marinesicherungstruppen werden um gucken wir uns mal Dülmen an!) rund 70 Prozent vermindert. Die Stationierung von Bundesgrenzschutz und Streit- kräften der Verbündeten wurde berücksichtigt. Dafür werden auf der anderen Seite Streitkräfte ge- meinsam Aufgaben in der Streifkräftebasis effizienter und Reduzierungen werden vor allem in größeren Gar- wirtschaftlicher wahrnehmen. Das drückt sich auch darin nisonen und in Gebieten mit hoher militärischer Konzen- aus, dass die Zahl der bisherigen Krisenreaktionskräfte tration vorgenommen. Wo möglich, ist auf die Vorstellun- fast verdreifacht wird auf Einsatzkräfte in der Größenord- gen der Bundesländer, der Kreise und der Gemeinden nung von 150 000. Rücksicht genommen worden. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14675

Bundesminister Rudolf Scharping (A) Die Bundeswehr wird im Jahre 2006 in 539 zivilen – Mein lieber Herr Kollege Repnik, wir erleben gleich den (C) Gemeinden vertreten sein. Damit bleiben über 90 Prozent Versuch der Rehabilitation auf einem ungeeigneten Feld. der heutigen Dienstorte erhalten. Gleichzeitig wird die (Beifall bei der SPD) Zahl der Soldaten und der zivilen Mitarbeiter aber um etwa 17 Prozent reduziert. Einer Reduzierung des Um- Ich bin sehr gespannt, von Ihnen einmal zu hören, ob Sie fangs der Bundeswehr um circa 17 Prozent steht einehinsichtlich der Reform der Streitkräfte eine Alternative Schließung von Standorten in der Größenordnung von haben, die anders als nur quantitativ ist. 6,5 Prozent gegenüber. Auch das zeigt, dass auf wirt- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schaftliche, regionale und soziale Belange sehr stark des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Rücksicht genommen wurde. Ich bin sehr daran interessiert, von Ihnen einmal eine Be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wertung darüber zu hören, wie die sträfliche Vernachläs- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sigung der Investitionen in die Ausrüstung der Bundes- wehr in den 90er-Jahren in kürzester Zeit ausgeglichen Der besonderen Verantwortung der Bundesregierung für werden könnte. Ich bin sehr daran interessiert, von Ihnen die neuen Länder wird das Ressortkonzept gerecht. Es einmal zu hören, ob Sie nicht endlich zur Kenntnis neh- kommt nur vereinzelt zu Standortschließungen oder zu er- men wollen, dass unsere Partner in der Europäischen heblichen Reduzierungen. Union und in der NATO die Reform der Streitkräfte nicht Vor diesem Hintergrund mache ich darauf aufmerk- nur ausdrücklich begrüßen, sondern in einer gewissen sam, dass zurzeit, und zwar wiederum anders als in der Zeit, in der wir nicht die Verantwortung hatten, auch an- Vergangenheit, intensive Gespräche mit denMinister- geregt und zum Teil sogar gefordert haben. präsidenten stattfinden. Ich treffe dabei auf eine Fülle Glauben Sie wirklich, dass die erstmalige Wahl eines überlegenswerter Anregungen, vorrangig nicht zur Statio- deutschen Generals zum Chef des Militärstabes der Euro- nierung der Streitkräfte, sondern insbesondere zu Fragen päischen Union und dass die kurz bevorstehende Ernen- eines Wandels, der wirtschaftlich förderlich gemacht wer- nung eines deutschen Generals zum Stellvertretenden den kann, wenn Bedürfnisse bzw. Absichten von Ge-Oberbefehlshaber der NATO – gar nicht zu reden von dem meinden oder von Ländern und Planungen der Bundes- Wunsch, der eine oder andere möge noch dazukommen; wehr sorgfältig aufeinander abgestimmt werden. Dazu dieser Wunsch musste leider abgelehnt werden – Hin- sind wir ausdrücklich bereit. weise darauf sind – Sie haben das dümmlicherweise auch in München behauptet –, dass die Bundeswehr innerhalb Mittlerweile habe ich mit der Mehrheit der Minister- der NATO schlecht angesehen sei und ihre Aufgaben nicht präsidenten gesprochen; mit insgesamt 15 Länderchefs (B) erfüllen könne? Das Gegenteil ist der Fall. (D) sind bis Mitte der nächsten Woche Termine vereinbart. Die Entscheidung wird Ende der nächsten Woche zuver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lässig getroffen. Ich hoffe, dass diejenigen, die in einer des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – vollkommen übertriebenen, alarmierenden Wortwahl von Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Die einem „Kahlschlag“ oder von einem „parteipolitischen Generäle flüchten!) Strafzug“ reden, Keine Motivation rechtfertigt es, in der parteipoli- tischen Auseinandersetzung das Ansehen der Streitkräfte (Dr. Peter Struck [SPD]: Unerhört so etwas!) und die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutsch- doch wenigstens die Kraft aufbringen, ihren Kalender so land in der Außen- und Sicherheitspolitik zu beschädigen. zu sortieren, dass man vernünftig miteinander reden kann. Es gibt dafür keine innenpolitische Rechtfertigung! Es geht darum, zu erörtern, dass die Zahl der Standorte, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die in dem betroffenen Bundesland aufwachsen, groß ist. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zum Beispiel wird im Freistaat Bayern dieStationie- rungsdichte, also das Verhältnis zwischen der Anzahl der Die sorgsame und umfassende Prüfung aller relevanten Dienstposten und der Gesamtheit der Einwohner, unter- Faktoren hat zu einem gut abgewogenen Ergebnis ge- durchschnittlich reduziert. führt: Kommandobehörden, zivile Dienststellen und Truppe bleiben in der Fläche verteilt. Die Zahl der (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Standortschließungen ist so gering wie möglich gehalten. Schönrechnerei!) Das Gleichgewicht der ausgewogenen Stationierung lässt Änderungen in der abschließenden Abstimmungsrunde Man kann die Bedeutung der Bundeswehr in einem Land nur noch in gut begründeten Ausnahmefällen zu. nämlich nicht allein und nicht vorrangig an der Zahl von Standorten messen; vielmehr ist insbesondere die Zahl der Mir ist bewusst, dass einige der nun getroffenen Ent- zur Verfügung gestellten, zukunftssichernden Arbeits- scheidungen auch Härten mit sich bringen, vor allem dort, plätze entscheidend. wo Standorte geschlossen werden. Es ist aber für eine sozialverträgliche Umgestaltung hilfreich, dass wir nun (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ planerische Sicherheit haben. Sie sollte bald durch einen DIE GRÜNEN) Tarifvertrag ergänzt werden. Im Wesentlichen werden Ich fasse zusammen: wir mit der Umsetzung der Stationierungsentscheidun- gen in den Jahren 2002 bis 2004 beginnen und sie zum (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Was? Was?) größten Teil bis zum Jahre 2006 zum Abschluss gebracht 14676 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Bundesminister Rudolf Scharping (A) haben. Es bleibt also genügend Zeit für die Entwicklung Ich will zunächst zwei Fragen stellen, die mir spontan (C) von Maßnahmen, die jene Nachteile abfedern, von denen in den Sinn gekommen sind, als ich Ihre Rede hörte: Menschen oder Gemeinden unmittelbar betroffen sind. (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE Meine Damen und Herren, ich verbinde diese ab- GRÜNEN]: Sie Sponti! – Zurufe von der SPD: schließende Bemerkung mit einem ausdrücklichen Dank Spontan?) an die Koalition und insbesondere an deren Mitglieder im Verteidigungsausschuss dafür, – Ich habe nur zwei, aber dafür zwei konkrete. (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Aufste- Ich habe mich zum einen gefragt, warum eigentlich hen! Klatschen!) vor gut einem Jahr der Generalinspekteur von Kirchbach zurückgetreten ist, dass es in einem erstaunlich kurzen, aber auch außerge- wöhnlich gründlichen Prozess gelungen ist, die kon- (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Ja!) zeptionellen Grundlagen für die Reform unserer Streit- wenn Ihr Konzept so gut ist, wie Sie es hier dargelegt ha- kräfte zu erarbeiten, sie planerisch umzusetzen undben. Was war eigentlich der Grund für den Amtsverzicht Entscheidungen zu treffen, die in der Geschichte der Bun- des Generalinspekteurs, deswehr bisher nur mit ihrer Aufstellung zu vergleichen sind. (Zuruf von der PDS: Er ist entlassen worden!) (Widerspruch des Abg. Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]) den Sie ja auch beauftragt hatten, eine neue Konzeption für die Bundeswehr vorzulegen? Hier geht es nämlich nicht um eine Reduzierung der Streitkräfte, sondern um die Einführung eines komplett (Gernot Erler [SPD]: Das nenne ich neuen Aufgaben- und Fähigkeitsprofils, um komplett Spontaneität!) neue Möglichkeiten der Erfüllung dieser Aufgaben und Zum Zweiten stellt sich für mich ein logisches im Übrigen auch darum, der unbestritten hohen Motiva- Problem: Wenn die Zahlen – ich frage jetzt nicht nach tion und Leistungsfähigkeit der Angehörigen der Streit- Brutto und Netto – alle stimmen, die Sie hier vor- kräfte nun endlich auch diemodernen Strukturen und getragen haben, dann müssten Sie eigentlich auf der die moderne Ausrüstung zur Seite zu stellen, die die An- Suche nach mindestens 50 neuen Standorten für die gehörigen der Streitkräfte verdient haben und die sie jetzt Bundeswehr in der Bundesrepublik Deutschland sein. auch bekommen werden. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und (Anhaltender Beifall bei der SPD sowie Bei- der F.D.P.) (B) fall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) In Wahrheit hat noch nie ein Verteidigungsminister Präsident Wolfgang Thierse:Bevor ich die Aus- hier im Parlament eine Konzeption für die zukünftige sprache eröffne, möchte ich, da es gerade Wortmeldungen Struktur der Bundeswehr vorgestellt, die so auf Sand ge- zu Zwischenfragen gegeben hat, an unsere Geschäfts- ordnung erinnern: Danach sind während einer Regie-baut ist wie die, die wir heute Morgen zum zweiten Mal rungserklärung keine Zwischenfragen und im Anschluss gehört haben. an sie auch keine Kurzinterventionen zugelassen, da die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Aussprache erst danach beginnt, liebe Kolleginnen und neten der F.D.P. – Dr. Peter Stuck [SPD]: Kollegen. Lächerlich!) Ich eröffne jetzt die Aussprache und erteile das Wort Die Bundeswehr steht vor einem Umbauprozess ohne dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion. Perspektive und voller neuer Unsicherheiten. Die „Re- (Gernot Erler [SPD]: Wieder ein Stück form der Bundeswehr von Grund auf“, wie Sie das nen- Leitkultur!) nen, stellt die Fähigkeit der Bundeswehr, die ihr gestell- ten Aufträge auch in Zukunft zu erfüllen, von Grund auf Friedrich Merz (CDU/CSU) (von der CDU/CSU mit in Frage. Das ist die Wahrheit. Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da- men und Herren! Wir hatten ja alle etwas Mühe, bei die- (Beifall bei der CDU/CSU ) ser Regierungserklärung wach zu bleiben. Schon die Art und Weise, wie Sie die Standortentschei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dungen hier noch einmal präsentiert haben, zeigt das der F.D.P. – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/ ganze Ausmaß der Unseriosität, auch was Ihre Zahlen DIE GRÜNEN]: Was können wir für Ihren Le- angeht. Ich will Ihnen drei Beispiele nennen. benswandel? – Günther Friedrich Nolting Sie haben vor, einen der größten Standorte in den [F.D.P.]: Das wird jetzt anders!) neuen Bundesländern zu verkleinern. In Ihrem Konzept Herr Scharping, Sie konnten das nicht sehen, aber bei den wird dieser Standort, Eggesin in Mecklenburg-Vorpom- anwesenden Mitgliedern der Bundesregierung war das mern, von 1 800 Dienstposten auf jetzt 55 reduziert. noch augenfälliger als bei uns; (Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!) (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Da die Grenze zwischen Kleinstandorten und Großstand- sie sparen vielleicht ihre Kräfte. orten bei 50 eingezogen wurde, bleibt dieser Standort Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14677

Friedrich Merz (A) mit 55 auch in Zukunft ein Großstandort. Meine Damen – nein; ich weiß mich daran zu erinnern, weil ich in der (C) und Herren, so rechnet Scharping. Zeit meinen Wehrdienst geleistet habe –, sind Sie meilen- weit entfernt, Herr Scharping. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- wie bei Abgeordneten der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU sowie den Abgeord- neten der F.D.P. – Zuruf von der CDU/CSU: Ja, Lassen Sie mich ein zweites Beispiel nennen. In der Leber Schorsch, das war noch einer!) Neumünster verbleiben von rund 800 Soldaten und zivi- len Mitarbeitern jetzt noch zehn. Es ist ja nicht nur ein Konzept zur Reduzierung der Standorte, sondern es muss einsicherheitspolitisches (Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Konzept dahinter stehen. Darüber zu sprechen muss NEN]: Das sind zehn zu viel!) heute Morgen auch Gelegenheit sein. Dort verbleibt das Truppendienstgericht (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: GRÜNEN]: Da sind wir jetzt gespannt!) Teilweise!) Nach der wiedergewonnenen deutschen Einheit haben die – ohne Truppe, meine Damen und Herren. Bundesverteidigungsminister Stoltenberg und Rühe aus zwei feindlichen Armeen dieArmee der Einheit ge- (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Günther schaffen. Friedrich Nolting [F.D.P.]: Teile!) (Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kürzungen, die weniger als 500 Dienstposten ausmachen NEN]: Zehn Jahre lang die Anpassung ver- und nicht mehr als die Hälfte des Personalbestandes be- pennt!) treffen, werden in Ihrem Konzept überhaupt nicht als Standortverkleinerungen genannt. Aus Gegnern wurden Freunde in einer gemeinsamen deutschen Bundeswehr. Nirgendwo sonst in der deut- Mit diesen Tricksereien täuscht die Bundesregierung, schen Gesellschaft ist die innere Einheit so schnell und so täuscht der Bundesverteidigungsminister die Öffentlich- erfolgreich Realität geworden wie in der Bundeswehr. keit. Schlimmer noch: Er täuscht die Betroffenen, die Sol- daten und die zivilen Mitarbeiter an den Standorten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Diese historische Leistung haben wir dem großartigen Engagement der Soldaten und zivilen Mitarbeiter der Welche seltsamen Wege Sie mit Ihrer Öffentlichkeits- Bundeswehr, aber auch der übernommenen Soldaten und arbeit und Ihrer Informationspolitik gehen, Herr Bundes- (B) zivilen Mitarbeiter der Nationalen Volksarmee zu verdan- (D) verteidigungsminister, das haben wir schon beim Umgang ken. Auch zehn Jahre nach der deutschen Einheit hat dies mit dem Problem der so genannten DU-Munition undunseren Respekt und unsere Anerkennung verdient. auch bei der Gefährdung der Soldaten durch die Radarab- strahlungen erlebt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Dr. Peter Struck [SPD]: Was? Das ist eine Un- Aber das heißt doch nicht Stillstand!) verschämtheit! Unerhört, was Sie hier erzählen! Fragen Sie doch einmal Ihre Verteidigungspoli- Ich sage dies, weil seitdem die Bundeswehr in Umfang, tiker! – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE Struktur und Auftrag in sehr schwierigen Reformschritten GRÜNEN]: Das hat Sie früher nie interes- auf die neuen Aufgaben ausgerichtet worden ist. Es ent- siert!)) standen die Streitkräfte im vereinten Deutschland, die Streitkräfte eines Landes, das auch in der Außen- und Darüber werden wir bei anderer Gelegenheit noch aus- Sicherheitspolitik eine größere internationale Verantwor- führlicher sprechen. tung übernehmen musste, übernehmen wollte und auch Ich will nur etwas Grundsätzliches sagen. Sie sind als übernehmen konnte. Verteidigungsminister, Herr Scharping, nicht nur Inhaber Diese neue Bundeswehr hat ihre ersten internationa- der Befehls- und Kommandogewalt. Sie sind als oberster len Militäreinsätze bei Friedensmissionen und bei der Dienstherr auch zur Fürsorge den Soldaten gegenüber Krisenbekämpfung insbesondere in Kambodscha und So- verpflichtet. malia sowie – bis heute andauernd – in Bosnien und im (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Kosovo professionell und sehr erfolgreich absolviert. Dr. Peter Struck [SPD]: Ja, und?) Diese Einsätze waren wichtig für den Frieden in den je- weiligen Ländern. Sie waren von unschätzbarer Bedeu- Diese Fürsorgepflicht ernst zu nehmen gegenüber den tung für das Ansehen unseres Landes nach der Wieder- Soldaten der Bundeswehr erfordert Offenheit und Ehr- vereinigung. Es gehört eben auch zur historischen lichkeit, und zwar nicht nur beim Einsatz der Soldaten, Wahrheit: CDU und CSU haben diese Einsätze damals sondern auch dann, wenn sie an ihren Standorten sind. zum Teil gegen den erbitterten Widerstand von Teilen der Von dem Vertrauen, das einmal ein ebenfalls sozialdemo- Sozialdemokraten und insbesondere der Grünen durch- kratischer Verteidigungsminister namens bei setzen müssen. den Soldaten der Bundeswehr gehabt hat (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Zuruf von der PDS) neten der F.D.P.) 14678 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Friedrich Merz (A) Ich erwähne all dies, weil Sie, Herr Scharping, nach Wer ein Unternehmen neu ausrichten will, der weiß,(C) diesem tief greifenden Umbauprozess in der Bundeswehr dass im Zuge einer grundlegenden Reform neue Investi- ein gut bestelltes Haus übernommen haben. tionen erforderlich sind. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Gernot Erler [SPD]: Man merkt, dass er neten der F.D.P. – Lachen bei der SPD und dem nichts von der Sache versteht!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Peter Zumkley Auf diesen Punkt hat auch die so genannteWeizsäcker- [SPD]: Das ist der größte Witz! – Winfried Kommission in ihrem Bericht „Zukunft der Bundes- Nachtwei [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Da wehr“ zu Recht hingewiesen. haben Sie aber nicht in den Keller geguckt!) (Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich will gar nicht bestreiten, dass es auch nach 1998 wei- Sie haben doch die Kommission immer abge- teren Reformbedarf in der Bundeswehr gegeben hat. lehnt!) Aber der entscheidende Unterschied ist: Unsere Politik hätte ihre Grundlage in einer Haushaltsplanung gehabt, Jenseits aller Punkte, die uns heute Morgen in der Bewer- die nach Jahren des Sparens eine Trendumkehr für die tung Ihrer Reform voneinander trennen, muss ich sagen: Bundeswehr eingeleitet hätte. Sie berufen sich bei Ihrer Reform doch auf den Bericht der Weizsäcker-Kommission. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Hätte! Hätte! Hätte! – Wei- (Peter Zumkley [SPD]: Zu Recht!) tere Zurufe von der SPD) Aber die entscheidende Veränderung, die die Weizsäcker- Kommission von Ihnen verlangt, Herr Scharping, nämlich – Meine Damen und Herren, da Sie erwartungsgemäß eine Anschubfinanzierung für die Reform der Bundes- Zwischenrufe in größerer Anzahl machen, möchte ich an wehr, fehlt in jeder Haushaltsplanung für die nächsten Jahre. dieser Stelle daran erinnern, dass es nach der Bundestags- wahl 1998 einen Konsens gegeben hat, die Haushaltspla- (Beifall bei der CDU/CSU) nung für die Bundeswehr, so wie ursprünglich vorgese- Ich will Ihnen ein paar weitere Fragen stellen, Herr hen, auf knapp 50 Milliarden DM im Jahr aufzustocken. Scharping: Glauben Sie denn wirklich, dass im laufenden (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Haushaltsjahr 2001 mehr als 1 Milliarde DM durch den Ver- NEN]: Und nicht eingehalten! – Peter Zumkley kauf von Bundeswehreigentum eingestellt werden kann? [SPD]: Haben Sie doch nie eingehalten!) Glauben Sie wirklich, dass die Industrie bereit ist, bis- Sie, Herr Scharping – wir alle haben dies noch gut in Er- herige Aufgaben der Bundeswehr zu übernehmen, wenn (B) innerung –, haben den Posten als Vorsitzender der SPD- es sich nicht rechnen wird? Woher nehmen Sie eigentlich (D) Bundestagsfraktion nur aufgegeben und sind Verteidi- den Optimismus für die hohen Einsparungen, die Sie gungsminister geworden, weil der Bundeskanzler und der durch Privatisierung und Rationalisierungerzielen Bundesfinanzminister Ihnen genau diese Aufstockung zu- wollen? gesagt und versprochen haben. Diese Zusage ist gebro- Glauben Sie schließlich ernsthaft, dass die Soldaten chen worden. nicht sehr genau registriert hätten, dass die Höhe des Ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- teidigungshaushaltes für dieses Jahr gegenüber den Pla- nungen des Finanzministers nur deswegen relativ und neten der F.D.P.) vordergründig freundlich ausfällt, weil Sie rechnerisch im Unter Rot-Grün gibt es die größte Kürzungsaktion in Verteidigungshaushalt rund 2 Milliarden DM zusätzlich der Geschichte der Bundeswehr. Die Streitkräfte verlieren verbuchen konnten, nämlich für den Einsatz der Bundes- in vier Jahren knapp 20 Milliarden DM gegenüber dem, wehr auf dem Balkan? was Sie ihnen zu Beginn Ihrer Amtszeit zugesagt haben. Dies alles ist auf Sand gebaut. Ihre Zahlen stimmen (Gernot Erler [SPD]: Eine Falschrechnung!) nicht und Sie wissen das, Herr Scharping. Sie haben damit Ihre Versprechen gebrochen. Sie stehen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- heute nicht als Gestalter einer Reform, sondern als Ge- neten der F.D.P.) triebener des Bundesfinanzministers vor dem Deutschen Nun lassen Sie mich, weil auch das in diesen Zusam- Bundestag. menhang gehört, ein Wort zur Wehrpflicht sagen. Sie ha- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – ben sich – gegen manche Widerstände, auch aus den ei- Gernot Erler [SPD]: Ach du lieber Gott!) genen Reihen – stets für die Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland ausgesprochen. Wir teilen Dies zeigt noch etwas anderes: Diese Bundesregierung diese Einschätzung, weil auch wir der Überzeugung sind, und insbesondere viele Regierungsmitglieder haben eine dass die Wehrpflicht gut begründet ist, nicht nur hinsicht- tiefe innere Distanz zur Bundeswehr. Die Bundeswehr hat lich der sicherheitspolitischen Lage, sondern auch in un- keine Freunde mehr in dieser Regierung. serem Land und in unserer Gesellschaft. Die Wehrpflicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bleibt als Bindeglied zwischen der Gesellschaft und den Streitkräften auf längere Sicht unverzichtbar. neten der F.D.P. – Zurufe von der SPD: Oh! – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Das ist NEN]: Hat er gedient?) doch dummes Zeug!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14679

Friedrich Merz (A) Aber nun sind dramatische Einschnitte bei der Zahl der und Mitarbeiter und ihre Familien endlich wieder eine(C) Wehrpflichtigen geplant. Sie wissen doch, Herr Scharping, verlässliche Lebensplanung haben. dass die Zahlen, die Sie uns heute Morgen hier vorgetra- (Beifall bei der CDU/CSU) gen haben – soweit man dem überhaupt folgen konnte –, falsch sind. Der frühere amerikanische Präsident George Bush hat der Bundesrepublik Deutschland 1991 in einer weltweit (Lachen bei der SPD – Dr. Peter Struck [SPD]: beachteten Rede, die er in der Stadt Mainz gehalten hat, Unsinn! Stuss!) „partnership in leadership“ angeboten. – Entschuldigung, Sie haben doch allein 30 000 so ge- (Zuruf von der PDS: Schlimm genug!) nannte Schülerstellen in die Zahlen einbezogen, die in der Bundeswehr gar nicht ausgefüllt werden. – Die Zahl der Wenn wir dies ernst nehmen, muss gerade Deutschland Wehrpflichtigen, die Sie vorsehen, und die Haushaltslage, die Streitkräfte in die Lage versetzen, die politisch vorge- die damit verbunden ist, werden – das wissen Sie ganz ge- gebenen Aufgaben auch tatsächlich zu erfüllen. nau – dazu führen, dass die Wehrgerechtigkeit im Kern Auf der Münchener Konferenz für Sicherheitspolitik gefährdet ist. Damit wird die Wehrpflicht von innen aus- am letzten Wochenende – Sie waren doch auch fast die gehöhlt. Dies wird auch die Fähigkeit der Bundeswehr, ganze Zeit anwesend, Herr Scharping – haben alle ameri- Zeit- und Berufssoldaten zu rekrutieren, auf mittlere Sicht kanischen Politiker, die aus der neuen Regierung und im Kern gefährden. die aus der früheren Regierung, diese Ansprüche an uns (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: in aller Deutlichkeit formuliert. Die Erwartungen an Das ist doch Quatsch und das wissen Sie!) Deutschland sind hoch. Deswegen sehen unsere Bündnispartner mit großer Sorge, dass zwischen dem po- Die Kürzungen bei der Bundeswehr sind weder sicher- litischen Anspruch und der Realität in der Bundeswehr heitspolitisch noch verteidigungspolitisch zu verantwor- eine immer größere Lücke klafft. ten. Die Bundeswehr hat einen erheblichen Modernisie- rungsbedarf: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der F.D.P.) (Susanne Kastner [SPD]: Woher kommt das denn, Herr Merz? – Weiterer Zuruf von der Diese Sorgen unserer Partner sind alles andere als un- SPD: Natürlich, nach Ihrer Regierungszeit!) berechtigt. Wer will, dass die Bundeswehr neue Aufgaben übernimmt – da befinden wir uns in einem Konsens, auch bei der Aufklärung, bei der Kommunikation, beim Trans- und gerade was die Beschlüsse von Nizza betrifft –, wer port und auch bei den persönlichen Ausrüstungen der Sol- will, dass diese Aufgaben wirklich erfüllt werden können, (B) daten. (D) (Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie verweigern sich doch immer!) NEN]: Das „gut bestellte Haus“ hat Moderni- sierungsbedarf!) der muss auch bereit sein, die notwendigen Mittel für die Modernisierung der Bundeswehr aufzubringen. Unsere Soldaten haben, gerade wenn wir sie in so schwierige Einsätze wie im Kosovo schicken, einen An- Ich will es noch einmal ganz konkret sagen: Weder die spruch auf die beste Ausrüstung und die beste Ausbildung. Beschaffung des neuen Transportflugzeuges noch die Hierfür zu sorgen ist Verpflichtung und Verantwortung Finanzierung des gemeinsamen Aufklärungssatelliten fin- der Politik, den sich in Ihren Haushaltszahlen ausreichend wieder. Was hier auf dem Spiel steht, meine Damen und Herren, (Gernot Erler [SPD]: Schön, dass Sie das mal ist nicht mehr und nicht weniger als die unter der früheren merken!) Regierung unter schwierigen Bedingungen, aber erfolg- dieses Parlaments, das einen Einsatz der Streitkräfte allein reich begonnene Ausrichtung auf eine neue sicherheits- beschließen kann, und der Bundesregierung. politische Lage nach dem Ende des Kalten Krieges. Frie- den und Freiheit unseres Landes zu sichern, mitzuwirken Wir fordern den Mut zu einer notwendigen Prioritäten- an internationalen Friedensmissionen und deutsche Inte- setzung zugunsten der Bundeswehr so, wie ihn andere ressen wirksam zu vertreten, das alles ist nicht zum Null- Länder, insbesondere die USA, bereits aufgebracht haben. tarif zu haben. Wir haben deshalb beantragt, zurFinanzplanung der alten Bundesregierung zurückzukehren, das heißt kon- (Dr. Peter Struck [SPD]: Ganz etwas Neues!) kret – ich will es noch einmal sagen –, einen Anstieg der Wer nicht zur Solidarität fähig ist, verliert an Einfluss. Mittel auf circa 50 Milliarden DM vorzunehmen. Im Bündnis der NATO steht Deutschland mittlerweile an (Gernot Erler [SPD]: Wo sind denn die vorletzter Stelle, was die Ausgaben für die Streitkräfte Deckungsvorschläge?) betrifft, bezogen auf die Anteile am Bruttosozialprodukt, noch hinter Luxemburg. Dies wird der Bedeutung und der Die Politik muss der Bundeswehr gerade in dieser Verantwortung unseres Landes nicht gerecht. schweren Zeit klare und verlässliche Rahmenbedingun- gen setzen. Nur dann kann die Bundeswehr ihren heraus- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ragenden Dienst weiterhin so erfolgreich leisten und nur neten der F.D.P. – Gernot Erler [SPD]: Eine lei- dann können die Soldaten, die zivilen Mitarbeiterinnen denschaftliche, aufrüttelnde Rede!) 14680 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Friedrich Merz (A) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Ab- Herr Kollege Merz, Sie haben es nicht gesagt. Dann tue (C) schluss deutlich machen: Deutschland ist, ob wir das wol- ich es: Herr Bundesverteidigungsminister, hier ist der Be- len oder nicht, politisch und wirtschaftlich das bedeutends- weis, dass Sie über 50 Standorte schließen. te Land in Europa. Als wiedervereintes Land in der (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) geopolitischen Mitte unseres zusammenwachsenden Kon- tinents haben wir eine neue, größere außenpolitische Ver- Daneben fehlt mir sowohl bei Ihnen, Herr Kollege antwortung übernommen. Außen-, Sicherheits- und Ver- Merz, als auch beim Bundesverteidigungsminister die teidigungspolitik stehen in einem inneren Zusammenhang. Aussage darüber, was dieses Konzept kosten wird. Eine Deutschland, Europa und die NATO sind aufeinander an- Standortreduzierung wird nämlich zunächst einmal viel gewiesen. Der Verteidigungsetat dieser Bundesregierung Geld kosten. Der Bundesverteidigungsminister hat es bis gefährdet diesen inneren Zusammenhalt. heute nicht nötig gehabt – das ist der Unterschied zu un- serer alten Koalition; auch wir haben Standorte geschlos- Wir wünschen uns eine deutsche Außen- und Sicher- sen –, in den Haushaltausschuss zu gehen, dort sein Kon- heitspolitik, die die gewachsene Verantwortung, die unser zept vorzulegen und zu sagen: So viel wird es zunächst Land trägt, auch aktiv wahrnimmt. Wir müssen eine stär- kosten und so viel werde ich langfristig einsparen. Auch kere Rolle im Bündnis der NATO, in den transatlantischen das muss doch gesagt werden! Beziehungen und in der Europäischen Union spielen. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) (Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zum Abschluss: Herr Kollege Merz, der Bundesvertei- NEN]: Herr Merz, aber mit Ihnen wird das digungsminister hat in vielen Teilen seiner Rede die Op- nichts! Wirklich!) position, also CDU/CSU und F.D.P., massiv kritisiert. Wir Frieden und Freiheit zu sichern, die Menschenrechte befinden uns dabei, so meine ich, Herr Verteidigungs- zu schützen, aber eben auch unsere Interessen zu vertre- minister, in allerbester Gesellschaft. Ich habe nämlich ei- ten, dies muss Aufgabe der deutschen Außenpolitik, aber nen Zeitungsartikel dabei und ich freue mich darüber, dass auch Aufgabe der deutschen Sicherheits- und Verteidi- die Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein gungspolitik sein. Meine Damen und Herren, dieser Auf- anwesend ist. Die Überschrift lautet: Simonis kritisiert gabe wird die Bundesregierung mit der vorgelegten Re- Scharping. Wahrscheinlich liegt der Unterschied darin, form der Bundeswehr nicht mehr gerecht. dass Frau Simonis das schon seit zehn Jahren macht, während wir es erst tun, seit er Verteidigungsminister ist. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten fall bei Abgeordneten der F.D.P.) der CDU/CSU – Dr. Peter Struck [SPD]: Was soll der arme Merz denn darauf antworten?) (B) (D) Präsident Wolfgang Thierse:Zu einer Kurzinter- vention erteile ich dem Kollegen Jürgen Koppelin, F.D.P.- Präsident Wolfgang Thierse: Ich unterstelle, Kol- Fraktion, das Wort. lege Merz, dass Sie darauf nicht antworten wollen, denn (Dr. Peter Struck [SPD]: Was ist denn nun Sie waren gar nicht gemeint. Das, was Herr Koppelin ge- los?) macht hat, nennt man eine Dreiecksintervention. Kollege Koppelin, die Regel lautet: Die Intervention Jürgen Koppelin (F.D.P.): Herr Kollege Merz, ich soll sich auf den vorherigen Redner beziehen. Daran kann durchaus mit vielem, was Sie hier vorgetragen ha- möchte ich nur erinnern. ben, einverstanden sein. Aber ich denke, eines sollten sich (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Er hat ihn die beiden Oppositionsfraktionen, CDU/CSU und F.D.P., ja direkt angesprochen!) in einer solchen Debatte nicht entgehen lassen, nämlich auf das zurückzukommen, was der Bundesverteidigungs- Ich erteile dem Kollegen Gernot Erler, SPD-Fraktion, das Wort. minister in der Haushaltsdebatte Ende November letzten Jahres gesagt hat. Als wir damals sagten, es würden 50 Standorte geschlossen, hat er nämlich der CDU/CSU Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegin- und der F.D.P. in der Person des Kollegen Austermann nen und Kollegen! Aus Januar/Februar 2001 werden wir und in meiner Person vorgeworfen, zwei Erinnerungen mitnehmen: (Zuruf von der PDS: Zu Recht! – Heiterkeit (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Ja, an die bei der SPD) Rede des Ministers!) dies sei völlig übertrieben, und hat uns aufgefordert, den eine daran, dass in diesen Tagen ein wichtiger Schritt zur Beweis hierfür zu liefern. Es spricht heute nur noch von Umsetzung der Bundeswehrreform getan wurde, und zwar 39, hat aber tatsächlich mindestens 59 Standorte ge-mit dem Ziel, die Bundeswehr bündnisfähiger, aufgaben- schlossen. fähiger und zukunftsfähiger zu machen; eine andere da- ran, dass die Opposition, vor allem die CDU/CSU, diesen (Peter Zumkley [SPD]: Unterschiedlicher Qua- Schritt ausschließlich mit Geschrei und leer laufenden lität, Herr Koppelin! Nun sagen Sie es doch Attacken begleitet hat. endlich!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie haben das Beispiel Neumünster genannt. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14681

Gernot Erler (A) Was hier abläuft, ist eine durchschaubare Inszenierung. Der Vorwurf des Kahlschlags ist nicht gerechtfertigt. (C) Herr Merz, erst haben Sie sich an der Kampagne beteiligt, Auch die Unterstellung der parteipolitischen Aus- dem Verteidigungsminister bei derUranmunition ir- wahl geht bei genauer Betrachtung der Streichliste gendwas in die Schuhe zu schieben. ins Leere. (Peter Zumkley [SPD]: Ja, so war es!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich betone dabei „irgendwas“; denn die Vorwürfe waren beliebig und wechselten täglich. Erst hieß es, es hätte zu Das sind nicht wir, die das sagen, das ist die Öffentlich- späte Informationen für die eingesetzten Soldaten gege- keit. ben, später hieß es, das Problem sei vernachlässigt wor- den, und schließlich hieß es, es hätte eine schlechte Infor- Kollege Erler, gestat- mation des Parlaments gegeben. Was ist heute davon Präsident Wolfgang Thierse: ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Klaeden? übrig geblieben? – Nichts, gar nichts! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (SPD): Nein, ich möchte gern im Zu- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gernot Erler sammenhang vortragen. Sie mussten anerkennen: Die eingesetzten Soldaten Im „Mannheimer Morgen“ stand: sind rechtzeitig gewarnt und informiert worden, die Bun- deswehr hat anders als andere Streitkräfte sogar eigene Scharping hat die Erblast in nur zwei Jahren über- Untersuchungen durchgeführt – das beweist das Gegen- wunden und die Bundeswehr so radikal und grundle- teil von Gefahrenunterschätzung –, und wir konnten gend umgekrempelt wie keiner seiner Vorgänger. Ihnen nachweisen, dass der Bundestag über das Thema Das könnten wir gar nicht besser ausdrücken. früh, wiederholt und gründlich informiert wurde. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Widerspruch bei der PDS) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir haben dabei gemerkt: Ihnen ist es überhaupt nicht Die „Kölnische Rundschau“ schreibt: um die Sicherheit der Soldaten oder den Schutz von Um- welt und Land gegangen; denn Sie haben uns, als wir ver- Dabei versucht die Union wieder einmal, alte sucht haben, in der NATO wenigstens einen Stopp der Schlachten neu zu schlagen. Sie spricht von „Kahl- Verwendung dieser Munition zu erreichen, im Stich ge- schlag“ lassen. Sie haben uns überhaupt nicht unterstützt. Das be- (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Unver- weist, um was es Ihnen bei dieser Geschichte wirklich ge- schämtheit!) (B) gangen ist. (D) und verlangt eine Bundeswehrstärke von 300 000 (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Soldaten. Im Grunde will die Unionsspitze also nur des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kosmetische Veränderungen, aber keine Reformen. Dann kamen dieStandortentscheidungen. Wieder So ist das; das hat die Öffentlichkeit gemerkt. ging das Geschrei vom Kahlschlag und von der Gefähr- dung der Sicherheit der Bundesrepublik los. Eigentlich (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des hat nur noch gefehlt, dass Sie Ihre Familien in ein siche- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) res Ausland verbracht hätten, so ein Geschrei haben Sie Es war also wieder nichts mit der Attacke. In Wirk- angestellt. lichkeit wissen Sie ganz genau, dass die Standortent- (Heiterkeit bei der SPD) scheidungen im Ganzen rational, in der Lastenverteilung fair und von der Sache her unumgänglich sind. Von der Das waren absurde Vorwürfe. Das Echo in der Öffent- CSU haben wir das sogar schriftlich bekommen, freilich lichkeit war verheerend, verbunden mit der Aufforderung an die eigenen Funk- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tionäre, trotzdem nach Kräften vor Ort Rabatz zu machen. und zwar für Sie, nicht für den Verteidigungsminister. (Peter Zumkley [SPD]: So ist das!) (Beifall bei der SPD) Sie nutzen also die örtlichen Betroffenheiten, die es gibt, die wir ernst nehmen und auf die wir vor Ort auch unsere Ich will Ihnen etwas aus der „Süddeutschen Zeitung“ Antworten geben werden, vortragen. Sie schreibt: (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das ha- Man kann mäkeln und meckern an dieser oder jener ben wir gemerkt!) Ecke seiner Reform: Rudolf Scharping kommt das klare Verdienst zu, anders als seine Vorgänger von für Ihre billigen Attacken gegen die gesamte Bundes- der Union, gründlich Inventur bei der Bundeswehr wehrreform aus, zu der Sie in 16 Jahren nicht die Kraft ge- gemacht zu haben. Seine Standortliste schreckt nicht funden haben. vor harten Wahrheiten zurück und hat die Logik auf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ihrer Seite: Wer eine moderne und kleinere Bundes- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wehr will, muss sich damit abfinden, dass sie sich dann aus manchem Stadtbild verabschiedet. Das eine Herr Merz, Sie haben noch etwas gemacht: Sie haben wollen und das andere nicht aufgeben, geht nicht. in München auf derSicherheitskonferenz – vielleicht 14682 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Gernot Erler (A) sind Sie so nett und hören mir einmal zu, weil ich Sie per- Wann wurde denn von der Kannibalisierung ganzer Waf- (C) sönlich ansprechen möchte – vor Fachleuten aus derfensysteme gesprochen? Dieser Begriff ist doch zu Ihrer ganzen Welt Ihr eigenes Land an den Pranger gestellt mit Regierungszeit geprägt worden und nicht zu unserer. den sachlich falschen Behauptungen, die Bundesrepublik (Beifall bei der SPD) werde durch die Kürzung der Verteidigungsausgaben um 20 Millarden DM Diese Mittel sind jetzt aufgestockt worden. InInvesti- tionen in die militärische Beschaffung sind fast 2 Milli- (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das arden DM mehr als in Ihrer Regierungszeit geflossen. hat doch Scharping selber gesagt, guter Mann! Wir haben doch noch die vielen Klagen der Industrie im Hören Sie doch zu!) Ohr, die in Ihrer Regierungszeit in Bezug auf die Arbeits- ihre Bündnisverpflichtungen nicht erfüllen können, die plätze und die Fähigkeit, international mitzuhalten, übrige Welt sei mit Deutschland unzufrieden. Das ist ein geäußert wurden. Das ist jetzt besser geworden. unerhörter Regelverstoß; das gibt es in keinem anderen Auch die Investitionsquote, eine magische Größe, Land. Das hat es in 36 Konferenzen vorher nicht gegeben. haben Sie von 26,9 Prozent im Jahre 1991 auf 23,7 Pro- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zent in Ihrem letzten Regierungsjahr heruntergefah- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ren – mit einem Tiefpunkt von 21,1 Prozent im Jahr 1994. Das ist damals international in der Tat ein Thema Damit haben Sie den Grundkonsens in der Sicherheitspo- gewesen. Jetzt liegt die Investitionsquote wieder bei litik gebrochen, Herr Merz. Leute, die mehr Erfahrung ha- 24,3 Prozent; wir wollen in diesem Jahr auf 25,4 Pro- ben als Sie, werden Ihnen noch oft sagen, dass diese Pre- zent kommen. miere fehlgeschlagen ist. Sie werden Ihnen sagen, was sie davon halten, nämlich gar nichts. An diesen Zahlen kommen Sie nicht vorbei. Ihre Attacken in Bezug auf diese Etatfrage brechen schlicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und einfach zusammen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Wer schreit, hat Un- Tatsache ist: Die neue Bundesregierung hat die Mittel recht! – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Ihnen hört im Einzelplan 14 erhöht. ja nicht mal mehr der Scharping zu!) (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Wo wa- Ziehen wir also Bilanz: Ihr Versuch bezüglich der ren Sie eigentlich in den letzten Wochen?) Uranmunition ist gescheitert, ebenso der bezüglich der Sie hat die Materialerhaltung verstärkt. Sie hat die Mit- Standortentscheidungen. Über die Provokation, die Sie tel für Investitionen erhöht und vor allen Dingen die (B) sich in München geleistet haben, haben alle geschwie- Investitionsquote wieder heraufgesetzt. Das alles ist im (D) gen, weil es allen nur peinlich war. Aber Sie brauchen ja dritten Etatjahr der neuen Bundesregierung gelungen. etwas, um schnell in die Offensive zu kommen. Sie müs- Das ist ein respektables, ein vorzeigbares Ergebnis, das sen ja ablenken von Ihrem internen Führungshakeln und zudem unter den Zwängen der Haushaltskonsolidie- Führungsdebakel, rung erzielt worden ist, die von der Bevölkerung ak- zeptiert wird und die auch für die Bundeswehr gelten (Dr. Peter Struck [SPD]: „Debakel“ ist besser!) muss. Darüber gibt es in unserer Gesellschaft einen von Ihrem geschmacklosen Plakatdesaster und all den an- Konsens. deren Pleiten der letzten Tage. Deswegen haben Sie jetzt (Beifall bei der SPD) ein neues Thema gefunden, nämlich die Bundeswehrfi- nanzen. Nach dem Motto „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt Deswegen kann ich von dieser Stelle aus abschließend sich’s gänzlich ungeniert“ kann man jetzt natürlich mit nur eines tun: Ich kann Sie, Herr Merz, und Ihre Fraktion diesem Thema kommen, ohne irgendwelche Etatvor-nur dazu auffordern, endlich einmal zur Kenntnis zu neh- schläge, die gedeckt sind, zu machen. Die Methode ist: men, dass Sie mit Ihrer ständigen Aufforderung zur Aus- Wieder rein in die Vollen, Horrorzahlen verbreiten, Unsi- weitung der Verteidigungsausgaben weder in der Fach- cherheit säen – alles wie gehabt. Die Öffentlichkeit er- welt noch in der Mehrheit der Bevölkerung Zustimmung wartet in der Tat schon gar nichts anderes mehr von Ihnen. finden. Die Mehrheit hat die Unseriosität Ihrer Forde- rungen, die ja gar nicht von irgendwelchen Deckungs- (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Der Ver- vorschlägen begleitet werden, erkannt. teidigungsexperte Erler!) (Werner Siemann [CDU/CSU]: Sie sollten ein- Aber, Herr Kollege, die Zahlen sind nun einmal neu- mal in den Verteidigungsausschuss kommen, tral; die können Sie nicht anzweifeln. Nach den Zahlen ist Herr Erler!) es nun einmal Tatsache, dass der Einzelplan 14 nicht in Ih- rer Zeit, sondern in den nur drei Etats der neuen Bundes- Sie zielen mit Ihren haltlosen Zahlenspielen zwar auf die regierung angewachsen ist. Es ist nun einmal Tatsache, Verunsicherung der Beschäftigten ab, werden damit dass Sie für die Materialerhaltung in den letzten vier Jah- aber Schiffbruch erleiden. Denn die Menschen haben ren Ihrer Regierung im Schnitt 4 Milliarden DM aufge- längst bemerkt, dass es nicht um mehr Verteidigungs- ausgaben geht, sondern darum, die Sicherheit und die wendet haben. Zukunft der Bundeswehr auf der Basis einer Reform, ei- (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das ist ja ner realistischen Anpassung der Größenordnung, also wirklich hanebüchen!) auf der Basis von Strukturveränderungen, zu gestalten. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14683

Gernot Erler (A) Dies ist der einzige Weg und den geht Rudolf Scharping ist zu fragen: Nehmen Sie eigentlich die Sorgen der Sol- (C) bzw. die Koalition. daten, der zivilen Mitarbeiter und der Kommunen ernst? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Gernot Erler [SPD]: Mehr als Sie!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nein, Sie tun es nicht. Ich rufe Ihnen zu: Hören Sie auf mit Ihrem unverant- wortlichen Gerede! Kehren Sie zur Sacharbeit zurück, die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) noch genügend Platz für ein Ringen um die besseren Ant- Ist denn die Kritik der Ministerpräsidentin aus Schleswig- worten lässt! Herr Merz, kehren Sie zu dem in sicherheits- Holstein, die zu Recht vorgetragen wurde, Geschrei? In politischen Fragen bewährten Grundkonsens zurück! Da- welcher Welt befinden Sie sich? Beschäftigen Sie sich ei- von haben in der Vergangenheit alle profitiert: gentlich die mit diesen Fragen? Gesellschaft, die Bundeswehr und das Ansehen Deutsch- lands in der ganzen Welt. (Zuruf von der SPD: Doch, er tut es!) Ich danke Ihnen. Sie sollten in sich gehen und noch einmal überprüfen, was Sie hier vorgetragen haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Wolfgang Thierse:Ich erteile das Wort Herr Kollege Merz, Sie haben ja Recht: Die so ge- dem Kollegen Günther Nolting, F.D.P.-Fraktion. nannte Reform Scharping ist aus der sicherheitspoliti- schen Analyse nicht ableitbar. Wir haben ja gemeinsam mit dem früheren Bundespräsidenten von Weizsäcker ei- Günther Friedrich Nolting (F.D.P.) (von Abgeordne- nen kompetenten Verbündeten; Sie haben darauf hinge- ten der F.D.P. mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Erler, ich habe Sie in wiesen. Er stammt aus Ihren Reihen. Aber ebenso wie die den letzten Wochen nicht ein einziges Mal im Vertei-Pläne von Hans-Peter von Kirchbach vom Minister nicht digungsausschuss gesehen. Die gesamte Diskussion ist an berücksichtigt wurden, wurden auch die Pläne von Herrn Ihnen vorbeigegangen. von Weizsäcker nicht berücksichtigt. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Allerdings suchen Sie sich aus den Plänen der Gernot Erler [SPD]: Da sind Sie falsch infor- Weizsäcker-Kommission nur das heraus, was Sie gerade miert!) brauchen. Auf die Personalreduzierungen, die Herr von (B) Weizsäcker vorgeschlagen hat, sind Sie überhaupt nicht (D) Sie haben sich an dieser Diskussion überhaupt nicht be- eingegangen. Auch das hätten Sie einmal tun sollen. teiligt. Nun greifen Sie hier die Opposition an. Das kann es ja wohl nicht sein. (Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P. – Gernot Erler [SPD]: Ich betone an dieser Stelle: Das vorgelegte Konzept Herr Merz war auch nicht im Verteidigungsaus- „Feinausplanung und Stationierung“ ist kein Genie- schuss!) streich. Aber, Herr Kollege Merz, angesichts Ihrer heuti- gen Rede kommen bei mir nun doch einige Fragen auf. Sie reden hier das Konzept des Ministers schön. Sie werden erleben, dass dieses Konzept nicht zukunftsfähig (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ist. Die Bundeswehr ist seit Jahren drastisch unterfinan- (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ziert und Sie wissen dies. NEN]: Auch wir haben Herrn Koppelin und Herrn Merz nicht gesehen! – Zurufe von der (Beifall des Abg. Hildebrecht Braun [Augs- SPD) burg] [F.D.P.]) – Dazu komme ich gleich noch. Einen Moment! – Sie ha- Das heißt, der Verteidigungshaushalt muss erhöht und das ben hier die Diskussion über die DU-, die Uranmunition Personal auf das sicherheitspolitisch erforderliche Maß angesprochen. Dazu ist festzustellen: Wir nehmen diereduziert werden. Auch darauf sind Sie heute nicht einge- Ängste der Soldaten ernst gangen. Sie bewegen sich in realitätsfernen Gefilden, Herr Kollege Merz. (Gernot Erter [SPD]: Eben nicht!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des und vertuschen nicht, wie Sie es getan haben. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Friedrich (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Merz [CDU/CSU]: Seit wann sind Sie in der Opposition, Herr Nolting?) Angesichts dessen, dass Sie von Geschrei in den be- troffenen Standorten gesprochen haben – auch ich schreie Sie erwecken den Eindruck, als sei mit der Union alles jetzt, weil ich nicht anders kann und weil die Emotionen besser. Ich frage mich, woher Sie eigentlich diesen Mut hier hochkommen –, nehmen. (Peter Zumkley [SPD]: Herr Nolting, blasen Wo war der Mut der CDU/CSU-Fraktion in den ge- Sie sich nicht so auf!) meinsamen Regierungsjahren mit der F.D.P., als die F.D.P. 14684 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Günther Friedrich Nolting (A) die Öffnung der Bundeswehr für Frauen forderte? Die es niemanden wundern, dass von der vollmundig an-(C) Union hat abgelehnt. gekündigten größten Reform in der Geschichte der Bun- deswehr lediglich ein verunglücktes Reförmchen übrig (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten geblieben ist. Ganz offensichtlich hat Sie, Herr Minister der SPD) Scharping, der Mut verlassen. Das notwendige Geld war – Die SPD hat auch abgelehnt. Klatschen Sie nicht! vorher schon weg. (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND- (Beifall bei der F.D.P.) NIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Minister Scharping, Sie sind kein Visionär, wie Wo war der Wille der CDU/CSU-Fraktion, sich für wir das heute wieder erlebt haben, die Menschen einzusetzen, als die F.D.P. gleiche Gehäl- ter für die Bundeswehr in Ost und West durchsetzen (Gernot Erler [SPD]: Aber Sie!) wollte? Sie sind nicht einmal Realist. (Beifall bei der F.D.P.) (Peter Zumkley [SPD]: Ihre Berufsarmee wäre Die Union hat abgelehnt, die SPD hat abgelehnt, die Grü- teurer gekommen, Herr Nolting!) nen haben abgelehnt und die PDS hat abgelehnt. Sie sind ein mutloser Zauderer, zunehmend gepaart mit (Zuruf von der PDS: Das stimmt doch gar träumerischen Zügen. nicht!) Herr Minister Scharping, der Kollege Koppelin hat Die F.D.P.-Fraktion hat der Öffentlichkeit bereits vor schon darauf hingewiesen: Sie haben hier im letzten zwei Jahren ihre Vorstellungen über die Zukunft der Bun- Herbst in der Haushaltsdebatte erklärt, es werde, abge- deswehr mitgeteilt. Die von Ihnen geführte CDU/CSU- sehen von Kleinststandorten, kein Standort geschlossen, Fraktion hat bis heute in dieser Frage kein abgestimmtes (Rudolf Scharping, Bundesminister: Das Konzept. So kann es nicht gehen, Herr Kollege Merz. stimmt doch gar nicht!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten und in diesem Zusammenhang die Kollegen Austermann der SPD) und Koppelin der Lüge bezichtigt. Keine eigenen Vorstellungen, aber Kritik üben – das ist (Peter Zumkley [SPD]: Das ist doch Unsinn!) mir schlicht und einfach zu wenig. So verstehen wir Frei- demokraten unsere Oppositionsrolle nicht. Am 14. Dezember letzten Jahres konnten wir dann in der Zeitung „Die Welt“ nachlesen, welche Standorte ge- Meine Damen und Herren, der Mensch steht im Mit- (B) schlossen werden. (D) telpunkt. Die Politik muss sich immer daran messen, ob sie nach diesem Grundsatz handelt. Selbstverständlich Haben Sie, Herr Minister Scharping, am 29. November gilt das auch für die Reform der Bundeswehr. Die An- letzten Jahres wissentlich die Unwahrheit gesagt oder ar- gehörigen der Bundeswehr haben Anspruch auf eine best- beitet Ihr Haus an Ihnen vorbei? mögliche Ausbildung, auf modernste Ausrüstung und auf eine angemessene Bezahlung. Sie haben auch Anspruch (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten auf größtmögliche Planungssicherheit, auch in Zeiten der CDU/CSU – Angelika Beer [BÜNDNIS 90/ schneller Umbrüche wie in den vergangenen Jahren. DIE GRÜNEN]: Sie können einen Untersu- Selbstverständlich stehen die Angehörigen der Bundes- chungsausschuss beantragen!) wehr auch im Mittelpunkt, als Staatsbürger in Uniform. Ich könnte auch sagen: Es begann mit einer Lüge. Unsere Soldaten übernehmen viele und nicht immer (Peter Zumkley [SPD]: Großinquisitor angenehme Pflichten. Ich verweise auf die gegenwärtigen Nolting!) Einsätze auf dem Balkan. Ich verweise aber auch auf die wichtige Arbeit zu Hause. Deshalb sage ich: Wir haben es Herr Minister Scharping, Sie sollten sich endlich bei den nicht mit einem abstrakten Gebilde zu tun, sondern mit Kollegen Koppelin und Austermann genauso wie beim Menschen, mit Staatsdienern im wahrsten Sinne des Wor- Vorsitzenden des Deutschen Bundeswehrverbandes ent- tes. Ich kann mir nicht helfen, aber genau hier sehe ich un- schuldigen. geheure Defizite bei den Entscheidungen des Verteidi- Natürlich müssen Veränderungen bei Standorten gungsministers, und zwar von Tag zu Tag zunehmend. vorgenommen werden, In jedem Standort, den ich in den letzten Tagen besucht (Peter Zumkley [SPD]: Na also!) habe, bekomme ich von den Menschen gesagt, die Re- form der Bundeswehr ginge an ihnen vorbei. Da werden wenn die Bundeswehr umstrukturiert wird. Daran besteht Hochglanzbroschüren ausgeteilt, die lücken- und fehler- kein Zweifel. Aber dann darf der verantwortliche Minis- haft sind. Da werden Informationen so lange zurückge- ter nicht noch zehn Wochen zuvor lediglich von zu halten, bis die Gerüchteküche überquillt und Presseveröf- schließenden Kleinststandorten sprechen. Das ist der ei- fentlichungen den Minister zur Unterrichtung zwingen. gentliche Skandal! Herr Minister, Ihre eigenen Partei- Da wird mit Zahlen getrickst, die keiner Überprüfungfreunde haben Ihnen diese Aussagen abgenommen und standhalten. Ich verweise dabei auf das unhaltbare Papier dies auch in den Standorten verkündet. Sie stehen jetzt im zur Wehrgerechtigkeit vom Herbst letzten Jahres. So kann Regen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14685

Günther Friedrich Nolting (A) Sie stehen in dieser Frage auch aus Ihren eigenen Rei- Ob nun mangelhaft ausgeprägte Weitsicht, Mutlosig- (C) hen unter Druck, aber lassen nicht von diesem Wege ab, keit oder parteipolitisches Kalkül dafür verantwortlich wie Ihre Hochglanzbroschüre „Feinausplanung und Sta- zeichnen, ist für Soldaten wie zivile Bundeswehrbe- tionierung“ belegt. Sie ist eine standortpolitische Mogel- schäftigte und deren Familien unbedeutend. Diese erken- packung allererster Güte. Das kann man an einigen weni- nen nur überdeutlich: Sie, die Menschen, stehen bei Ihren gen Fakten belegen: Entscheidungen nicht im Mittelpunkt, Herr Minister, sie werden nicht berücksichtigt. Das ist der größte Skandal. Es werden 59 Standorte geschlossen, davon 39 Groß- standorte; das ist in diesem Papier nachzulesen. Zudem (Beifall bei der F.D.P.) wird der Personalbestand in 20 Standorten halbiert und in Ihre Amtszeit, Herr Minister, gleicht einem Drama in 18 Standorten bis zu 98 Prozent reduziert, was einer To- vier Akten. Erster Akt: Vertrauensbildung durch Verspre- talaufgabe gleichkommt. Ich nenne einige wenige Bei- chungen und große Ankündigungen. Zweiter Akt: Be- spiele: Dülmen wird von 1 969 Dienstposten auf unter 400 schwichtigung durch Planungsaktivität, Vertuschung und reduziert – dort wird es in Zukunft nur noch zivile Mitar- Täuschung. Dritter Akt: Versprechungen nicht eingehal- beiter geben – aber der Standort, so der Minister, bleibt er- ten, nur scheibchenweise Eingeständnisse. Vierter Akt: halten. Eggesin wird von 1 792 auf 55 Dienstposten Bundeswehr im Chaos, Scharping macht eine Reform und gekürzt, aber, so der Minister, der Standort bleibt erhalten. keiner macht mit. Wir warten darauf, dass der Vorhang Neumünster wird von über 900 Dienstposten auf ganze fällt. zehn reduziert, aber der Standort, so der Minister, bleibt erhalten. – Die Liste ließe sich fortsetzen. Was haben Sie Vielen Dank. sich eigentlich dabei gedacht, den Standort Schneeberg (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten ganz zu streichen? Auch dazu müssen Sie noch eine Er- der CDU/CSU) klärung abgeben. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Präsident Wolfgang Thierse:Ich erteile das Wort Herr Minister Scharping, ich fordere Sie auf, endlich dem Kollegen Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grü- Antworten auf folgende Fragen zu geben: Wie ernst neh- nen. men Sie eigentlich die Gespräche mit den Betroffenen? Wie gedenken Sie den sozialverträglichen Umbau der Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bundeswehr zu finanzieren? Haben Sie Vorkehrungen ge- Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die troffen für die fällige Anpassung des Personalbestandes? CDU/CSU-Fraktion macht die Bundeswehrreform mit Wann erfahren die betroffenen Soldaten und zivilen Mit- der Rede ihres Fraktionsvorsitzenden heute zur Chefsa- (B) arbeiter, was mit ihnen passiert? Welche Verträge wird es (D) che. Angesichts der Bedeutung des Themas ist das anzu- geben? Wie wollen Sie den erforderlichen umweltgerech- erkennen. Es geht immerhin um die größte und durch- ten Rückbau der Liegenschaften und die vielerorts über- greifendste Reform der Bundeswehr seit ihrer Gründung. fällige Modernisierung der Kasernen finanzieren? Wie Aber das Auswechseln der Spitzenredner der CDU/CSU- wollen Sie den Gemeinden helfen, die ihre Kasernen Fraktion ändert nichts an der Beschränktheit und künstli- plötzlich ganz oder weitgehend eingebüßt haben? Sie chen Aufgeregtheit ihrer Attacke. glauben doch selber nicht, dass diese Last allein den Län- dern und Kommunen aufgebürdet werden kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ihre Verurteilung der laufenden Bundeswehrreform ist total, die Urteilsbegründung aber ausgesprochen dünn. Ich prophezeie Ihnen: Wenn Sie hier nicht in kürzester Das ist auch in Ihrem heute eingebrachten Entschlie- Zeit tragfähige Konzepte vorlegen, werden Sie einen dra- ßungsantrag deutlich nachzulesen. matischen Rückgang beim Unteroffiziersnachwuchs erle- ben und von einer massiven Welle berechtigter Ent- Sie behaupten, die Bundeswehrreform basiere nicht rüstung und innerer Kündigung überrollt. Das kann nun auf einer umfassenden Bedrohungsanalyse. Mir ist bisher wahrlich nicht im Interesse einer seriösen und zukunfts- nicht aufgefallen, dass sich die Bedrohungswahrnehmung fähigen Bundeswehrplanung sein. der CDU/CSU sonderlich von der des Ministeriums unterscheidet. Sie behaupten, mit der geplanten reduzier- (Beifall bei der F.D.P.) ten Umfangstärke werde die Bundesrepublik ihrer Rolle Ich werfe Ihnen vor, dass Sie die bei Amtsantritt groß in der Mitte Europas nicht mehr gerecht. Es bleibt mir un- angekündigte Bundeswehrreform, die überfällig warerfindlich, worauf dann der Vorschlag der CDU/CSU – darin sind wir uns ja einig –, zum Reförmchen haben zielt, in dem geringfügig mehr Soldaten gefordert werden, verkommen lassen. Ich werfe Ihnen vor, dass Ihr Werk nämlich insgesamt 300 000, „Feinausplanung und Stationierung“ dieses Jahrzehnt (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Nicht nicht überdauern wird. Ich werfe Ihnen vor, dass Sie wi- „geringfügig“!) der besseres Wissen um die Zukunft der Wehrpflicht an dieser festhalten. Die allgemeine Wehrpflicht wird wegen in dem aber auf einen streitkräftegemeinsamen Ansatz, der Wehrungerechtigkeit Ihres Strukturmodells in abseh- somit Effizienzgewinne durch straffere Strukturen, ver- barer Zeit ausgesetzt werden. zichtet wird. 14686 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Winfried Nachtwei (A) Herr Merz, was erwarten Sie eigentlich von einer Bun- ist, überein – insgesamt unumgänglich. Deshalb sind(C) deswehrreform? Dazu haben Sie gerade in Ihrer Rede gar Überlegungen überfällig, wie dieser Prozess wirklich so- nichts gesagt. zialverträglich gestaltet werden kann. Dabei geht es als Erstes um die betroffenen Menschen, die Soldaten, ihre (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Angehörigen und die Zivilbeschäftigten. Den Zivilbe- und bei der SPD) schäftigten versprach die Bundesregierung, dass es keine Ihre Kritik ist widersprüchlich, unehrlich, konzeptionslos betriebsbedingten Kündigungen geben werde. Dieses und kein produktiver Beitrag zur Bundeswehrreform. Versprechen muss jetzt in den laufenden Tarifverhandlun- gen eingelöst werden. Wir haben es nun mit der 7. Bundeswehrreform in den 45 Jahren ihres Bestehens der Bundeswehr zu tun. Die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausrichtung auf neue Aufgabengeschieht einerseits sowie bei Abgeordneten der SPD) durch eine grundlegende Umstrukturierung der Kräfte, Für etliche Kommunen bedeuten diese Standortredu- also Zusammenfassung von so genannten Querschnitts- zierungen und -schließungen einen einschneidenden und aufgaben in der Streitkräftebasis, verbunden mit einer Zu- gravierenden Vorgang. Allein in dem Regierungsbezirk sammenfassung der Hauptverteidigungskräfte und Kri- senreaktionskräfte zu den Einsatzkräften. Andererseits Münster, aus dem ich komme, sind mehr als 50 Prozent reduzieren wir die Kräfte der Bundeswehr. Diese Redu- der Standortreduzierungen von ganz Nordrhein-West- zierung ist im Gesamtumfang maßvoll, für einzelne Trup- falen vorgenommen worden. Das verunsichert natürlich. pengattungen aber einschneidend. Bei den Kampftruppen Aber wenn wir einmal in die 90er-Jahre zurücksehen, als des Heeres zum Beispiel beträgt sie mehr als 40 Prozent, enorme Truppenstärken reduziert werden mussten, dann bei den Logistikverbänden ungefähr 60 Prozent. können wir feststellen, dass diese erheblichen Struktur- brüche – zunächst einmal waren es Strukturbrüche – ins- Mit dem Konzept „Feinausplanung und Stationierung“ gesamt sehr gut bewältigt wurden, allerdings in den ver- kommt die Bundeswehrreform bei den Menschen vor Ort schiedenen Ländern sehr unterschiedlich. Bayern zum an und erhitzt selbstverständlich etliche Gemüter. Unsi- Beispiel war verhältnismäßig wenig betroffen. In cherheiten sind in einer solchen Phase zunächst einmal Bayern – das zeigt sich jetzt sehr deutlich – hat sich die unvermeidlich. Deshalb ist es besonders wichtig, dass mit CSU niemals darum gekümmert, wie solche Prozesse diesen Unsicherheiten offen umgegangen wird und dass wirklich sozialverträglich abgefedert werden können, wie sie vor allem nicht parteipolitisch geschürt oder durch das also Konversion betrieben werden kann. Sankt-Florians-Prinzip künstlich angefacht werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Christian Schmidt [Fürth] (B) und bei der SPD) [CDU/CSU]: Das ist aber eine absolute Unge- (D) Denn nach aller Erfahrung besteht das große Risiko, dass zogenheit! Das hätte ich von Ihnen nicht erwar- sich gerade ein fahrlässiger Umgang mit der Standort- tet, Herr Nachtwei! Kommen Sie mal in mein frage als Bremse für notwendige Reformen auswirkt. Büro! Ich erzähle Ihnen dann, wie das läuft! Das ist ja peinlich!) Der Umfang der Standortreduzierungen ist ausge- sprochen moderat ausgefallen, verglichen mit Rationali- Hier ist ein Unterschied zum Beispiel zum Land sierungs- und Einsparungspotenzialen eines strengen Mo- Nordrhein-Westfalen, in dem es darum ging, insgesamt dernisierungskurses oder vor allem mit den Vorschlägen 120 000 so genannte Militärarbeitsplätze, davon mehr der Weizsäcker-Kommission, die bei einer Gesamtstärke als 20 000 Arbeitsplätze von Zivilbeschäftigten, und von 240 000 Soldaten eine Halbierung der Zahl der Stand- 300 Liegenschaften abzubauen. Es gelang, in diesen orte und Liegenschaften empfohlen hat. Liegenschaften 10 000 neue Arbeitsplätze zu ent- wickeln; 25 000 weitere sind in Aussicht. Voraussetzung (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Und mehr für diesen erfolgreichen Konversionsprozess war die Geld!) ausgezeichnete Zusammenarbeit der Kommunen, kom- Insgesamt betrachtet sind die Standortentscheidungen munaler Akteure, des Landes und der entsprechenden sachgerecht und nachvollziehbar. Wir sehen keinerlei An- Beratungseinrichtungen, vor allem des Internationalen haltspunkte für parteipolitisch motivierte Begünstigungen Bonner Konversionszentrums, sowie schließlich und oder Benachteiligungen. wesentlich auch der Europäischen Union. Diese Erfah- rungen können wir jetzt bei dem weiteren Konversions- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN prozess hervorragend nutzen. Das macht Hoffnung, die- und bei der SPD) sen Prozess gut bewältigen zu können. Wo in Einzelfällen die Entscheidungen bisher nicht nach- Ich nannte gerade das Stichwort Europäische Union. vollziehbar sind, muss dies schnell nachgeholt werden. Hier ergibt sich zugleich ein Problem: Die EU-Gelder, die (Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Sind im vorigen Jahrzehnt zur Verfügung standen, werden jetzt sie jetzt nachvollziehbar?) realistischerweise nicht mehr zur Verfügung stehen. In diesem Falle geht es ja um eine nationale Militärreform – Herr Braun, Sie sollten ein bisschen genauer hinhören. und nicht um eine europaweite Frage. Das heißt in der Dann brauchen Sie nicht dazwischenzurufen. Konsequenz, dass nun auch der Bund in der Pflicht ist, Die Reduzierungen sind – darin stimmen die Auffas- Mitverantwortung für die Standortkonversion zu über- sungen in diesem Haus, wenn man ein bisschen ehrlich nehmen. Das wird nicht einfach und einige Interessen- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14687

Winfried Nachtwei (A) konflikte, zum Beispiel beim Liegenschaftsverkauf, sind und dabei noch den Beifall Ihrer Kollegen haben, halte ich (C) vorprogrammiert. Aber mit der Koalitionsvereinbarung, für ein Unding. in der es hieß, „Rüstungskonversion wird auch als bun- Insofern fordere ich Sie auf, angesichts der betroffenen despolitische Aufgabe gesehen“, haben SPD und Grüne Bürger und Soldaten klar zu sagen, worum es hier geht: dazu ihre Bereitschaft erklärt. Dazu stehen wir weiterhin. Es geht hier nicht um Polemik, sondern um die Sorgen Danke schön. von Menschen. Es kann nicht sein, dass in den Regionen unseres Vaterlandes, in denen wir die größten wirtschaft- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lichen Schwierigkeiten und die höchste Arbeitslosigkeit und bei der SPD) haben, Standorte in so radikaler Weise geschlossen wer- den, dass nicht ein Einziger übrig bleibt. Präsident Wolfgang Thierse:Das Wort zu einer Wenn Sie sich zum Beispiel den Landkreis Demmin Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Ulrich Adam. anschauen, werden Sie feststellen, dass dies in dieser Re- gion der letzte Standort ist, den es dort gegeben hat. Auch Ulrich Adam (CDU/CSU): Herr Präsident, ich habe für mich ist das ein Schlag ins Gesicht. Unser Fraktions- jetzt ein Problem. Ich hatte mich nämlich mit Blick auf vorsitzender hat zu Recht gesagt: Die Bundeswehr ist die den Kollegen Erler gemeldet. Armee der deutschen Einheit. Wenn Sie zur Schließung von Standorten in den ärmsten Regionen der neuen Bun- desländer – ich schließe darin Schneeberg mit ein – Ihr Präsident Wolfgang Thierse:Dann beziehen Sie Wort geben und unsere Kritik als billige Polemik abtun, sich auf den Kollegen Erler; er ist ja anwesend. halte ich das schlicht für einen Skandal. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ulrich Adam (CDU/CSU): Danke schön. – Herr Kol- lege Erler, ich empfand vor allen Dingen zu Beginn Ihrer Rede die Behauptung vermessen, wir seien in der Stand- Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Erler. ortdiskussion lediglich polemisch. Oben auf der Besu- chertribüne sitzen der Bürgermeister von Eggesin, F.D.P., Gernot Erler (SPD): Herr Kollege Adam, Sie haben und der Bürgermeister von Stavenhagen, CDU, mit Ver- mir ganz offensichtlich nicht zugehört. tretern aus der Region, die auch draußen mit Transparen- ten sehr deutlich machen, wie betroffen sie von der (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das war sehr Schließung ihrer Standorte sind. Es ist ja schon wiederholt schwer! Das gebe ich zu!) (B) dargestellt worden, dass die Entscheidung über Eggesin Ich habe den Vorwurf der Polemik nicht den Bürgern ge- (D) faktisch einer Schließung gleichkomme. Insofern ist es macht, sondern Ihnen und Ihrer Partei – und dabei bleibe ein Ding, wenn Sie behaupten, es sei reine Polemik, wenn ich. die Bürger ihren Unmut deutlich machen. (Beifall bei der SPD) Ich kann Ihnen dann nur bescheinigen, dass Sie nichts über die neuen Bundesländer wissen. Der LandkreisIch habe in meiner Rede gesagt, dass es Betroffenheiten Demmin, in dem die Reuterstadt Stavenhagen liegt, hat vor Ort gibt, die wir in unserer Fraktion sehr ernst neh- die höchste Arbeitslosigkeit in Mecklenburg-Vorpom- men, und dass wir auf den Einzelfall bezogene Antworten mern und in der Bundesrepublik Deutschland. Gleich da- geben werden – und dazu stehen wir. nach kommt der Landkreis Uecker-Randow, in dem die (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Günther Stadt Eggesin liegt. An dieser Stelle frage ich Sie: Wie Friedrich Nolting [F.D.P.]: Wann denn? Was geht das mit den Kriterien überein, die der Verteidigungs- denn?) minister aufgestellt hat? Das habe ich ihm selber auch schon gesagt. Insofern ist es schon vermessen, wenn Sie Ich weiß zum Beispiel, dass es in dem von Ihnen an- da von Polemik sprechen. gesprochenen Fall, den wir sehr ernst nehmen, noch Ge- spräche zwischen der Landesregierung und dem Ministe- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rium gibt. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Ein weiteres Argument: Wir hatten in diesem Haus ei- Ich wiederhole: Wer von Kahlschlag spricht, wer im nen breiten Konsens bei der Aufstellung des Nordost-Zusammenhang mit den Standortentscheidungen, die bei Korps. Ich bin sehr stolz darauf, dass das noch unter un- einer Bundeswehrreform notwendig sind, ein Horror- serer Regierung stattgefunden hat; bevor Polen in dergemälde zeichnet, ist polemisch, weil er versucht, die Sor- NATO war, wurde die Absichtserklärung gegeben. Erklä- gen der Leute vor Ort für einen Schlag gegen die Bun- ren Sie mir jetzt einmal, wie die Schließung gerade dieser deswehrreform auszubeuten. Die Bundeswehrreform wichtigen Standorte im Nordosten Deutschlands mit der insgesamt ist notwendig und dabei bleibe ich. Im Übrigen internationalen Zusammenarbeit zusammengeht. Daswar die Reaktion der Öffentlichkeit auf die unerhörten macht doch wohl keinen Sinn. Übertreibungen, die sich Ihr Fraktionsvorsitzender und Was ich angesprochen habe, war zum Beispiel auch ei- der Sprecher Ihrer Fraktion geleistet haben, entsprechend. nes der Kriterien für den Erhalt einzelner Standorte, die (Beifall bei der SPD – Günther Friedrich der Verteidigungsminister aufgestellt hat. Dass Sie in die- Nolting [F.D.P.]: Wann haben Sie das letzte Mal sem Zusammenhang immer wieder von Polemik sprechen einen Standort besucht?) 14688 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

(A) Präsident Wolfgang Thierse:Das Wort zu einer Und dann heißt es noch: Es werden den einzelnen Mit- (C) weiteren Kurzintervention erteile ich dem Kollegenarbeitern keine betriebsbedingten Kündigungen aufs Auge Hildebrecht Braun. Sagen Sie bitte, auf wen Sie sich be- gedrückt. Das heißt, den Halbtagskräften dort wird ange- ziehen. boten, in Zukunft für eine Halbtagsstelle in einen 80 Kilo- meter entfernten Standort zu fahren? Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Ich beziehe (Gernot Erler [SPD]: Das ist noch gar nicht mich in erster Linie auf den Kollegen Nachtwei, sage aber entschieden, Herr Kollege!) auch etwas zu den Ausführungen des Kollegen Erler. – Nein, Herr Erler, beschäftigten Sie sich mit den Aus- Herr Erler, Sie weisen den Vorwurf zurück, es habe ein wirkungen dessen, was Sie hier beredt verteidigen, und Kahlschlag stattgefunden. Herr Nachtwei dagegen hatSie werden sehen: Was hier gemacht wird, entspricht – in seinem für einen grünen Verteidigungspolitiker be- nicht sozialdemokratischen Grundsätzen und ist auch für merkenswerten Beitrag – ausgeführt, dass der Rückgang die Bundeswehr nicht in Ordnung. der Kampftruppen beim Heer doch sehr beklagenswert sei. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der CDU/CSU) NEN]: Unsinn! Sie müssen sich angewöhnen zuzuhören!) Präsident Wolfgang Thierse:Das Wort zu einer Das sind interessante Entwicklungen, die sich bei denweiteren Kurzintervention erteile ich Kollegin Hannelore Grünen feststellen lassen. Rönsch. Tatsache ist, Herr Nachtwei, dass Ihre ehrenwerte Kol- (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE legin Angelika Beer noch vor zweieinhalb Jahren ein bun- GRÜNEN]: Darf ich nicht antworten?) deswehrfreies Schleswig-Holstein gefordert hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Ich nehme an, diese Kurzintervention bezieht sich auch auf Sie, sodass Sie zusammenhängend antworten können. Jetzt haben Sie, wenn auch nicht in Schleswig-Holstein, Nach dieser Kurzintervention hat dann endlich der Erfolg. Wenn man sich vor Augen führt, dass das Gebiet nächste Redner das Wort. zwischen Donauwörth und Marienberg in Sachsen, zwi- schen Aalen in Baden-Württemberg und Gera in Sachsen- Anhalt bundeswehrfrei ist – ein Gebiet, deutlich größer Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Herz- als Schleswig-Holstein – kann man nur von Kahlschlag lichen Dank, Herr Präsident. Ich möchte mich auf den Kollegen Erler beziehen, weil ich ihm einfach einmal (B) sprechen. Wenn die Menschen in diesem Gebiet mit einer (D) Ausdehnung von 200 mal 200 Kilometern die Bundes- deutlich machen will, wie – – wehr in Zukunft nur noch vom Fernsehen her kennen wer- den, dann entspricht das nicht dem, was Herr Scharping Präsident Wolfgang Thierse:Kollegin, es ist un- angekündigt hat, nämlich dass die Bundeswehr in derüblich, dass als Antwort auf eine Kurzintervention nun Fläche bleiben werde. wiederum eine Kurzintervention folgt. Sie müssen sich Einiges muss einfach angesprochen werden: Es ist ein ausdrücklich auf die Rede beziehen. unglaublicher Vorgang, dass Bayern weit überpropor- tional bluten muss und dass innerhalb Bayerns in Schwa- Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Herr ben überproportional ausgedünnt wird. So werden zum Präsident, ich werde mich ausdrücklich auf die Rede be- Beispiel aus Sonthofen, einem Ort, der in den letzten ziehen, da ich ja vorhin schon einen Ansatz gemacht habe, 45 Jahren in besonderem Maße Opfer für die Bundeswehr eine Zwischenfrage an den Minister zu stellen. erbracht hat, nahezu 80 Prozent der vorhandenen Streit- kräfte abgezogen. In Sonthofen soll die Schule für Feld- Ich will nur einmal deutlich machen, wie örtliche Ant- jäger und Stabsdienst nicht etwa aufgelöst – dafür hätte worten aussehen: Meine Heimatstadt Wiesbaden hat mit man vielleicht noch Verständnis, wenn Opfer gebracht ihrer Wehrbereichsverwaltung von der Konzeptionslosig- werden müssen –, sondern verlegt werden, und zwar, aus keit des Ministeriums partizipiert. Aus dem Ministerium nahe liegenden Gründen, nach Hannover. kam zunächst die Botschaft, dass dort 800 Arbeitsplätze Wenn darüber hinaus Memmingen dicht gemacht wird, wegfallen würden. Durch Verhandlungen und viele Inter- Dillingen dicht gemacht wird, Günzburg dicht gemacht ventionen vorher ist offensichtlich dann doch erreicht wird, in dieser Schiene auch noch Heidenheim dicht ge- worden, dass 630 dieser Dienstposten in Wiesbaden ver- macht wird, dann ist das nichts anderes als ein Kahl-bleiben. Das wurde in einer Nacht ausgehandelt und am schlag. nächsten Morgen mitgeteilt. Unverständlich erscheint auf der anderen Seite, dass Jetzt bekommen wir die Mitteilung, dass es sich hier- der „Wall“ gegen das neutrale Österreich verstärkt wird, bei um „einfache Verwaltungstätigkeiten“ handelt. Ich nämlich die Südschiene: Mittenwald, Füssen, Reichen- hätte natürlich gerne vom Ministerium gewusst, wie lange hall. Auf der einen Seite wird wirklich geklotzt – dahin die Nebenstelle Wiesbaden erhalten bleibt. Denn das ist kommen zusätzliche Soldaten; die brauchen wir dort ja die dringende Frage der Mitarbeiter dort. Der Minister auch aus strategischen Gründen ganz dringend – und auf hatte seiner Kollegin Wieczorek angeblich schon im Juni der anderen Seite wird Schneeberg dicht gemacht. vergangenen Jahres gesagt – – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14689

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Kollegin Rönsch, ich führen – schlichtweg als Beleg dafür konstatiert habe, dass (C) muss eine Zwischenbemerkung machen. bei einzelnen Truppenteilen die Reduzierungen viel größer sind als die Reduzierung des Gesamtumfangs. Das war (Gernot Erler [SPD]: Zu Recht, Herr Präsi- ohne jede Wertung, das habe ich schlichtweg konstatiert. dent!) Was Bayern angeht: Sie wissen selbst, dass die Stand- Es handelt sich hier um das parlamentarische Instrument ortdichte in Bayern erheblich ist, dass Bayern von frühe- der Kurzintervention. Sie sprechen jetzt das Ministerium an. Das ist nicht der Sinn der Kurzintervention. ren Reduzierungen unterproportional betroffen war und dass Bayern auch von der jetzigen Standortreduzierung (Lothar Mark [SPD]: Setzen!) im Vergleich zu etlichen anderen Ländern nicht überpro- Wir haben dieses Instrument ins Leben gerufen, damit un- portional betroffen ist. sere Debatten in der parlamentarischen Rede und Gegen- (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das gefällt rede lebendiger werden. den Kollegen der SPD aus Bayern aber nicht! Sie können jetzt nicht auf Entscheidungen des Minis- Mehr davon!) teriums ausführlich eingehen. Wer soll denn darauf ant- Was den Vorwurf eines „Kahlschlags“ angeht: Selbst- worten? verständlich – darum kann man gar nicht herumreden – ist es für die Gegend, in der ein großer Standort aufgelöst Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Viel- wird, ein Kahlschlag. Wenn allerdings Sie von der F.D.P. leicht kann der Kollege Nachtwei darauf antworten, laut über den Rückzug der Bundeswehr aus der Fläche jammern, dann gebe ich Ihnen Folgendes zu bedenken: (Lothar Mark [SPD]: Das ist doch nicht das Erstens. Schon bei den Bundeswehrreformen in den letz- Ministerium!) ten Jahren hat es erhebliche Teilrückzüge aus der Fläche sofern er denn in die Verhandlungen mit einbezogengegeben. Das dürften Sie nicht übersehen haben. Zwei- wurde, und mir mitteilen, was die 630 Mitarbeiter in der tens. Wäre diese Bundeswehrreform rigide allein nach Wehrbereichsverwaltung IV in Wiesbaden unter „einfa- militärischen und Effektivitätsgesichtspunkten durchge- chen Verwaltungstätigkeiten“ zu verstehen haben, wer in führt worden, dann wären die Rückzüge aus der Fläche er- Wiesbaden verbleibt und wer aus Wiesbaden abgezogen heblich größer gewesen. Die Wahrung der Präsenz in der wird. Fläche war gerade im Hinblick auf die Nachwuchsgewin- nung weiterhin ein wichtiges Kriterium, und zwar wichti- (Gernot Erler [SPD]: Das sagt gleich alles Kol- ger, als wir vorher erwartet haben. lege Nachtwei! – Lothar Mark [SPD]: Das kann (B) doch der nicht beantworten! Das ist ein Miss- Herr Braun, vergessen Sie bitte nicht, was die F.D.P.(D) brauch der Geschäftsordnung!) zur Bundeswehrreform vorgeschlagen hat: erheblich ge- ringere Kopfstärken. Das ist die Frage, die die Wehrbereichsverwaltung IV und die Mitarbeiter dort brennend interessiert. In der Vergan- (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Schauen genheit konnte dies keiner beantworten, denn die Staats- Sie sich doch das Konzept einmal an! Das ist sekretäre aus dem Ministerium haben immer das Gegen- doch dummes Zeug, was Sie da erzählen!) teil von dem behauptet, was der Minister schriftlichWie wollen Sie diesen Vorschlag mit dem Ziel unvermin- niedergelegt hat. derter Präsenz in Einklang bringen? Es wäre interessant, darauf von Ihnen einmal eine Antwort zu hören. Im Mo- Präsident Wolfgang Thierse:Kollege Nachtwei, ment wollen wir das aber nicht mehr. Sie haben Gelegenheit, sich dazu zu äußern. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ich will noch einmal daran erinnern: Das Instrument SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) der Kurzintervention soll nicht die Fragestunde ersetzen, in der man Minister und die Regierung befragen kann. Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kolle- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen Wolfgang Gehrcke, PDS-Fraktion, das Wort. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wolfgang Gehrcke (PDS): Herr Präsident! Liebe Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kolleginnen und Kollegen! Wenn all das der Bundeswehr In Respekt vor der rechtsstaatlichen Gewaltenteilungdrohen würde, was aus dem vom Kollegen Merz gezeich- werde ich natürlich nicht für das Ministerium sprechen, neten Bild hervorgeht, dann könnte ich mich vor Begeis- sondern nur zu den Punkten, in denen ich konkret ange- terung überhaupt nicht mehr einkriegen. sprochen wurde. (Beifall bei der PDS) Kollege Braun, Sie haben sich offensichtlich vor kurzem Natürlich weiß jeder, dass das – leider – Unsinn, schwarze nicht – so zumindest mein Eindruck – an dem Hörtest be- Magie war. teiligt, der hier im Bundestag angeboten wurde. Sonst hät- ten Sie hören können, dass ich die Reduzierung der Kampf- Ich habe aber Verständnis dafür, dass der Kollege Merz truppen, der Logistikverbände – da könnte man nochpersönlich und die CDU allgemein in einem Dilemma einiges andere, zum Beispiel Kampfunterstützung an-stecken. Ihr Dilemma besteht darin, dass Sie im Prinzip 14690 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Wolfgang Gehrcke (A) nichts anderes als das machen würden, was die Regie- für die Angleichung der Gehälter in der Bundeswehr in(C) rungskoalition macht, wenn man Sie denn lassen würde. Ost und West seien. Da haben Sie wirklich etwas ver- Deswegen fallen die Reden so nölig aus, deswegen kann wechselt. nur am Rande herumgenörgelt und können keine echten (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Sie haben Alternativen aufgezeigt werden. unseren Antrag abgelehnt!) (Beifall bei der PDS) – Das ist doch Unsinn. In einer Regierungskoalition haben sich die Koalitions- (Zuruf von der PDS: Wir haben namentliche fraktionen den Partner teilweise ausgesucht. Eine Oppo- Abstimmung beantragt!) sitionsfraktion kann sich nicht aussuchen, mit wem sie zu- sammen die Oppositionsbänke drückt. Das hat man eben Wenn man 59 Standorte schließt und gleichzeitig für hinzunehmen. den Aufbau eines solchen Standorts insgesamt 500 Milli- onen DM aufwenden will, stellt sich die Frage, was der ( [CDU/CSU]: Dann Hintergrund dafür ist. Der Hintergrund dafür ist, dass die schleimen Sie sich nicht so ein!) Krisenreaktionskräfte hier Boden-Luft-Übungen durch- Die Reform der Bundeswehr ging in diesem Haus vor ei- führen sollen. Das ist das militärpolitische Konzept dieser nem halben Jahr friedlich über die Bühne. In der Richtung Regierung. waren sich CDU/CSU, F.D.P., SPD und Grüne über das (Beifall bei der PDS) qualitativ größte Aufrüstungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einig. Sie waren sich in Als Rudolf Scharping noch SPD-Vorsitzender war, hat der Richtung einig, dass aus der Bundeswehr, aus einer er übrigens der Bevölkerung dort versprochen: Das Bom- Verteidigungsarmee, eine weltweite Interventionsarmee bodrom kommt weg. Das war seine Aussage. werden sollte. Dass der Kollege Erler das jetzt als einen (Beifall bei Abgeordneten der PDS) Inhalt sozialdemokratischer Politik darstellt, wirft ein be- zeichnendes Licht darauf, wo die SPD heute angekom- Über das Thema „Scharping und Wahrheit“ wird man men ist. Dort möchte zumindest ich nicht landen. Das ist nach der gestrigen „Monitor“-Sendung hier im Bundestag ein wirklich eindeutiger Kurswechsel. sowieso noch einmal diskutieren müssen. (Beifall bei der PDS – Gernot Erler [SPD]: (Beifall bei der PDS) Die Gefahr besteht ja auch nicht!) Das, was die SPD einmal versprochen hat, gilt anschei- – Die Gefahr besteht wirklich nicht. nend nicht mehr. Das zeigt: Es geht Ihnen nicht um Ab- rüstung, Sie wollen nur umbauen und neue Waffensys- (B) Allein die Fraktion der PDS war dagegen und hat ein (D) teme einführen. Für neue Waffensysteme allerdings taugt anderes Konzept vorgestellt. Die Sache ist doch so: Das das Standortkonzept. Es wird reduziert, um Mittel freizu- Verteidigungsministerium schlägt Standortschließungen bekommen für die Modernisierung und Effektivierung vor. Das klingt zunächst nach weniger Militär; so ist es der Bundeswehr. Das ist ein grundfalsches Konzept, das aber nicht. Das Programm heißt nicht Abrüstung, sondern zu allem Überfluss auch noch schlecht umgesetzt wird: Umrüstung. Tatsächlich handelt es sich um Aufrüstung. Im Sie verordnen nämlich von oben, Sie reden nicht tatsäch- Hinblick auf das Standortkonzept der Regierung ist nicht lich mit den Betroffenen, Sie diktieren. Befehl und Ge- entscheidend, wie viel sie abbaut – das ist wenig genug –; horsam mögen beim Militär üblich sein, in der demokra- entscheidend ist, was sie abbaut: Es sind Verbände, die et- tischen Gesellschaft sind sie nicht üblich. Kommunen was mit der Landesverteidigung zu tun haben. Als Inter- hören nicht auf Kommandos. Auch das sollten Sie einmal ventionsarmee braucht die Bundeswehr hochmobile, lernen. schnelle und flexible Kontingente. Darauf werden die Standorte zugeschnitten und dafür ist auch fast jedes Mit- (Beifall bei der PDS) tel heilig. Darüber hinaus stiehlt sich die Regierung aus der Ver- Sie müssen schon die Frage beantworten, wie Sie es antwortung. Die Kommunen haben sich nicht freiwillig in Übereinstimmung mit Ihrem Konzept bringen, dass einseitig auf die Bundeswehr fixiert. Politische Interessen Sie neben dem Abbau anderer Standorte gleichzeitig die haben sie dazu gebracht. Nach dem Verursacherprinzip Garnison Wittstock – die es bisher noch gar nicht gibt – läge es jetzt beim Bund, den Kommunen ein Leben jen- und das dortige Bombodrom, also den Bombenabwurf- seits der Standorte zu eröffnen. Das tut die Bundesregie- platz, neu einrichten. rung nicht. Sie verbindet die Schließungen nicht mit ge- zielter regionaler Wirtschaftsförderung. Sie bietet keine (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Was sind Perspektiven für einen wirtschaftlichen, sozialen und denn das für Begriffe? Hören Sie doch auf!) ökologischen Strukturwandel. – Bombodrom heißt das Ding, das sagt doch jeder in der Um aktuell den größten Schaden von den Gemeinden Region. abzuwenden, fordert die PDS-Fraktion die Bundesregie- (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Sie wis- rung auf: Erlöse aus dem Verkauf von Liegenschaften sen doch nicht, wovon Sie sprechen!) müssen den Kommunen zugute kommen. Sie dürfen nicht in den Rüstungshaushalt fließen. – Dass Sie nicht wissen, wovon Sie sprechen, sieht man schon daran, dass Sie uns unterstellt haben, dass wir nicht (Beifall bei der PDS) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14691

Wolfgang Gehrcke (A) Beim Verkauf der Liegenschaften müssen die Kommunen Präsident Wolfgang Thierse:Ich erteile das Wort (C) ein Vorkaufsrecht erhalten. Das ist nicht gesichert. Die dem Kollegen Peter Zumkley, SPD-Fraktion. Konversion bislang militärisch genutzter Gebäude und Flächen ist aus dem Verteidigungsetat zu bezahlen. Das ist Peter Zumkley (SPD): Herr Präsident! Meine Damen eine wichtige Position. und Herren! Mit der Feinausplanung und den damit ver- (Beifall bei der PDS) bundenen Stationierungsentscheidungen ist ein schlüssi- ges und überzeugendes Konzept vorgelegt worden. Die Den Zivilbeschäftigten und den Berufssoldaten, die das Reform der Bundeswehr ist vor dem Hintergrund der Si- wünschen, müssen sofort Beratung, Umschulung undcherheitslage in Europa überfällig und dringend notwen- Qualifizierung angeboten und finanziert werden. dig. In diesem Punkt sind sich im Übrigen die Fachleute (Beifall bei Abgeordneten der PDS) einig. In den letzten Tagen haben wir Mahnwachen vor Stand- (Beifall bei der SPD) orten erlebt, wo es oft nichts außer der Bundeswehr gibt. Sie von der CDU sind für 300 000 Soldaten. Wir pla- Ich kann sehr gut verstehen, dass sich die Menschen dort nen die Zukunft der Bundeswehr mit circa 285 000 Sol- an den Strohhalm Bundeswehr klammern. Wir hatten in daten. Der Unterschied – es ist gesagt worden – zwischen unserer Fraktion diskutiert, von der Bundesregierung zu den beiden Stärkezahlen ist so gering, dass Ihre überzo- fordern, wenigstens keine Standorte in Ostdeutschland gene Kritik nicht begründet ist. zu schließen. Dafür würde all das sprechen, was letztend- lich Hoffnungslosigkeit heißt, Im Übrigen vermissen wir ein Alternativkonzept von CDU und CSU. (Georg Pfannenstein [SPD]: Bundeswehr ab- schaffen wollen, aber keine Standorte schließen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wollen!) DIE GRÜNEN) also Massenarbeitslosigkeit, Mangel an Ausbildungsplät- Sie müssen sich endlich einigen, ob Sie 300 000 oder zen, schwierigste Bedingungen für den Mittelstand, Ver- 340 000 oder noch mehr Soldaten haben wollen. Sie müs- armung des kulturellen Lebens. Wir haben uns trotzdem sen sich auch einigen, welchen Inhalt Sie uns vorschla- gen, damit man mit Ihnen auch einmal ernsthaft diskutie- gegen diese pauschale Forderung entschieden. Auch hier ren kann. lassen wir Ost und West nicht gegeneinander ausspielen. Nicht Aufrüstung, sondern Konversion und Abrüstung in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ost und West wollen wir. Das ist die Perspektive. DIE GRÜNEN) (B) (Beifall bei der PDS) Bei unserer Reform geht es nicht allein um eine Redu- (D) zierung des Personals und der vorhandenen Standorte, Konversion und Schließung von Standorten müssen Hand wie es in der Vergangenheit von Ihnen praktiziert wurde. in Hand gehen, aber Schließungen mit dem Gestus „Nach Unser Ziel ist es, die Bundeswehr für die neuen sicher- uns die Sintflut!“ und ohne Konversion sind unverant- heitspolitischen Herausforderungen Europas und der wortlich. NATO fit zu machen. Dazu erhält die Bundeswehr neue (Beifall bei der PDS) Fähigkeitsprofile. Für die ihr gestellten Aufgaben im Rah- men der Landes- und Bündnisverteidigung und bei inter- Das trifft insbesondere auf die ostdeutschen Standorte zu, nationalen Kriseneinsätzen ist dies unerlässlich. deren Lage mehr als schlecht ist. Sie von der Union kritisieren, dass Deutschland seinen Wir als PDS haben ein Reformkonzept für die Bundes- international zugesagten Beiträgen nicht nachkommen wehr vorgelegt. Das ist ein echtes Kontrastprogramm. Wir könne. Nur ein Beispiel hierzu. In Ihrer Regierungszeit lag setzen auf den Verzicht auf neue Waffensysteme, aufdie Zahl der Krisenreaktionskräfte bei circa 50 000 Sol- strukturelle Nichtangriffsfähigkeit. Die Armee soll auf daten bei einer Gesamtstärke von 340 000. Ich gebe Ihnen 100 000 Soldaten reduziert werden und sie soll sich auf zu: Manchmal waren wir bei 320 000 – geschenkt! In der reine Verteidigung beschränken. Unsere Alternativeneuen Konzeption werden 150 000 Soldaten bei einem würde Standortschließungen in weit größerem Umfang Stärkeumfang von circa 285 000 Soldaten zu den Einsatz- mit sich bringen. Das hier und heute zu sagen gebietet die kräften gehören. Es gibt also eine deutliche Verbesserung Redlichkeit. hinsichtlich der Einsatz- und Durchhaltefähigkeit. Im Unterschied zu Ihnen haben wir in unsere Abrüs- Die Feinausplanung verdeutlicht dies. Aufgaben wer- tungsvorschläge aber die soziale Verantwortung zum Auf- den neu zugeordnet. Die Zusammenarbeit zwischen den bau ziviler Strukturen, ein Amt für Konversion und Ab- Teilstreitkräften wird ausgebaut. Die Verantwortungsebe- rüstung sowie Konversionsfonds eingebaut. Wir wollen, nen werden gestrafft. Die logistischen und sanitätsdienst- dass dieser Prozess sozial verläuft, dass er strukturell ge- lichen Kräfte werden konzentriert. Die Zusammenarbeit ordnet wird. All das fehlt in Ihrem Konzept. Deswegen in multinationalen Verbänden wird gestärkt. Die Streit- werden wir dieses Konzept ablehnen und, soweit wir es kräfte werden somit moderner und leistungsfähiger, aber können, dazu beitragen, dass es in der Praxis scheitert. auch kleiner. (Beifall bei der PDS – Georg Pfannenstein Wenn man den Personalumfang verringert, hat dies [SPD]: Das wird nie passieren!) zwangsläufig Auswirkungen auf dieStandorte. Die 14692 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Peter Zumkley (A) Schließung oder Reduzierung von Standorten ist für die gramm für das Personal der Bundeswehr. Wir laden Sie (C) Betroffenen auch mit Härten verbunden. Dies bedeutet herzlich dazu ein, dieses Programm konstruktiv kritisch oftmals für viele der betroffenen Städte und Gemeinden, zu begleiten. Herr Adam, einen schmerzlichen Einschnitt. Die An- (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Wenn gehörigen der Bundeswehr sind als Bürger mit ihren Re- der Eichel Geld dafür gibt!) gionen eng verbunden. Wir wissen um die gewachsenen Strukturen und Traditionen in den Garnisonen. Auch in Weitere Punkte sind die Sozialverträglichkeit der Perso- meiner Heimatstadt sind die Menschen in der Bundes- nalmaßnahmen und die Beibehaltung der Wehrpflicht. Ich wehr und in den sie umgebenden Bereichen durch das möchte aber hier hinzufügen, dass ich Respekt vor all de- vorliegende Stationierungskonzept zum zweiten Malnen habe, die eine andere Lösung bevorzugt haben. stark betroffen. Es muss ehrlicherweise aber auch gesagt Allerdings sind Ihre Finanzierungsvorschläge, die Sie werden, dass die Bundeswehr nicht ausschließlich einem in Ihrem Antrag machen und die auf der überholten Grund- strukturpolitischen Zweck dienen kann, so sehr dies im lage von 340 000 Soldaten basieren, rückwärts gerichtet Einzelfall auch wünschenswert wäre. und falsch dimensioniert. Sie haben Ihre Finanzplanung in Die überwiegende Zahl der Standorte bleibt von der der Vergangenheit nie eingehalten. Sie haben häufig Kür- jetzigen Entscheidung unberührt. Die Bundeswehr bleibt zungen im jeweils laufenden Haushaltsjahr vorgenom- in der Fläche erhalten. Darüber sind wir froh. Die Solda- men. Ein Großteil der Probleme in der Bundeswehr ist ten können grundsätzlich auch weiterhin heimatnah ein- noch heute darauf zurückzuführen – leider. Wir haben berufen werden und bleiben in die Bevölkerung integriert. keine Kürzungen vorgenommen und wir werden keine Aus betriebswirtschaftlicher Sicht hätte es auch zu drasti- Kürzungen im laufenden Haushaltsjahr vornehmen. Mit scheren Schließungen kommen können. Die Weizsäcker- dem vorgesehenen Plafond werden wir die Bundeswehr Kommission hat dies deutlich empfohlen. kontinuierlich Schritt für Schritt modernisieren. Es ist aber äußerst unglaubwürdig, auf der einen Seite Im Übrigen, Herr Kollege Merz, möchte ich Ihnen Fol- die jetzt notwendigen Standortveränderungen überschäu- gendes sagen – ich mache diese Bemerkung mit weniger Leidenschaft als mein Kollege Erler –: Neben bemer- mend zu kritisieren und auf der anderen Seite die von Ih- kenswerten Teilen Ihrer Rede in München – diese möchte nen zu verantwortenden und Mitte der 90er-Jahre erfolg- ich ausdrücklich erwähnen – gab es Teile, zu denen ich sa- ten Reduzierungen und Schließungen insbesondere in gen muss: Die Finanzierung der Bundeswehr auf einer in- Schleswig-Holstein und Niedersachsen nicht zu erwäh- ternationalen Sicherheitskonferenz so zu thematisieren, nen. Veränderungen an 46 Standorten aufgrund der dama- wie Sie es getan haben, entsprach nicht den Gepflogen- ligen Entscheidung sind noch nicht vollzogen. Ich bitte heiten auf internationalem Parkett. (B) doch um ein wenig Sachlichkeit und Ausgewogenheit in (D) dieser Diskussion. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ So haben es viele empfunden. DIE GRÜNEN) Herr Kollege Merz, einem solch fachkundigen Publi- kum wie in München können Sie durchaus zutrauen, dass Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Zumkley, ge- es die Positionen von Regierung und Opposition glei- statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rossmanith? chermaßen kennt. Sie sollten diesen meinen Rat in Ihrem Herzen bewegen, insbesondere wenn Sie den Weg zum Kanzlerkandidaten beschreiten wollen. Peter Zumkley (SPD): Ich bin heute stimmlich nicht auf der Höhe. Deswegen bitte ich um Nachsicht, dass ich (Beifall des Abg. Gernot Erler [SPD] – Zurufe bei meinem Text bleibe. Vielleicht können wir über die von der CDU/CSU: Oh!) Frage später reden. – Als älterer Kollege darf ich mir diesen Ratschlag erlauben. (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Da lobe ich (Beifall bei der SPD) mir eine Zweitstimme! – Gegenruf des Abg. Gernot Erler [SPD]: Besser als eine Leih- Herr Kollege Merz ist ja noch nicht allzu lange Mitglied stimme!) des Bundestages. Insofern ist mein Rat freundschaftlich gemeint. Die überwiegende Zahl der Standorte bleibt also erhal- ten. Wir sind der Meinung, dass wir diese Diskussion auch (Gernot Erler [SPD]: Er macht es kostenlos!) im Interesse der Bundeswehr versachlichen müssen. Den Der Stellenabbau wird sozialverträglich und ohne be- Vorwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, es handele triebsbedingte Kündigung erfolgen. Die Umstrukturie- sich um einen Kahlschlag und dieser sei darüber hinaus rung der Bundeswehr wird mehrere Jahre dauern. Diesen parteipolitisch motiviert, nimmt in der Öffentlichkeit nie- Zeitraum gilt es zu nutzen. Insbesondere die Personal be- mand ernst. Auch Ihre Fachleute tun dies nicht. arbeitenden Dienststellen in der Bundeswehr und die be- troffenen Gemeinden haben damit die Möglichkeit, sich In dem vorliegenden Ressortkonzept sind einige For- auf die Veränderung zeitlich einzustellen. Das wird oft- derungen des Antrages der CDU/CSU bereits aufgenom- mals nicht leicht sein. men – wir sind froh, dass wir auch Gemeinsamkeiten her- ausstellen können –; exemplarisch nenne ich an dieser Für die Bundeswehrreform sind mit den Eckwerten der Stelle – das ist besonders wichtig – das Attraktivitätspro- Grobausplanung und der Feinausplanung einschließlich Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14693

Peter Zumkley (A) der Stationierungsentscheidung wichtige Meilensteine Verständnis. Sie sollten Ihre sächsischen Kollegen auffor- (C) gesetzt. Diese Reform verlangt eine große Kraftanstren- dern, Alternativen zu suchen. Meine Alternativen werde gung und die Umsetzung des Kabinettsbeschlusses vom ich Ihnen in der nächsten Woche in der Fragestunde vor- 14. Juni 2000. stellen. (V o r s i t z: Vizepräsident Dr. Hermann Otto (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Solms) Für das Gelingen brauchen wir vor allem die Mitwir- Vizepräsident Dr. :Ich rufe kung der Soldaten und zivilen Mitarbeiter sowie ihre Be- jetzt die Kurzintervention des Kollegen Kurt Rossmanith reitschaft, sich den neuen Herausforderungen mit Enga- auf. Herr Rossmanith, bitte. gement zu stellen. Dafür dankt meine Fraktion ihnen (Horst Kubatschka [SPD]: Es geht noch nicht! bereits im Voraus. Auch Sie müssen bei Rot sprechen, Herr Kol- Vielen Dank. lege! – Heiterkeit) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Was das Sprechen anbelangt, ist Rot ganz gut, für die Zukunft allerdings nicht. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Ich rufe nun zunächst zwei Kurzinterventionen auf, nämlich die Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- des Kollegen Wolfgang Dehnel und die des Kollegen Kurt ren! Ich hätte den Kolleginnen und Kollegen diese Kurz- Rossmanith, und gebe dann dem Kollegen Zumkley die intervention an sich gerne erspart. Gelegenheit zu erwidern. Anschließend setzen wir die De- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf batte in der vorgesehenen Reihenfolge fort. von der SPD: Oh ja, das wäre gut gewesen!) Herr Kollege Dehnel, bitte. Aber, Kollege Zumkley, Sie haben leider eine Frage von mir nicht zugelassen. Jetzt dürfen Sie dann trotz Ihrer be- Wolfgang Dehnel (CDU/CSU): Herr Kollegelegten Stimme noch antworten. Zumkley, Sie haben gerade das „schlüssige Konzept“ er- (Peter Zumkley [SPD]: Ich versuche es!) wähnt und verteidigt. Seit heute früh 7.30 Uhr demons- trieren Schneeberger Bürger vor dem Brandenburger Tor. Ich möchte auf drei Punkte Ihrer Ausführungen einge- Sie haben sich heute Morgen um 3 Uhr auf den Weg ge- hen. Sie haben es als bemerkenswert dargestellt, dass die (B) macht, um für ihren Standort einzutreten. Zahl der Einsatzkräfte jetzt praktisch verdreifacht wird. (D) Ich möchte aber trotzdem darauf hinweisen, dass die Sie sprechen von einem „schlüssigen Konzept“. Der Hauptaufgabe unserer Streitkräfte, der Bundeswehr, nach Herr Bundesminister hat noch am 15. Dezember, nach- wie vor die Bündnis- und die Landesverteidigung ist. dem die ersten Schließungspläne bekannt geworden sind, Sie haben von einer Kraftanstrengung gesprochen, die Sie angekündigt, dass letzten Endes keine großen Standorte jetzt unternehmen müssen. Das billige ich Ihnen persön- geschlossen werden und dass sowohl das wirtschaftliche lich zu, weil ich weiß, dass Sie diese so genannte Reform Umfeld als auch die Ausbildungssituation in diesen Re- nur sehr widerwillig verteidigen und vertreten. Aber wir gionen entsprechend berücksichtigt werden. können jetzt nicht eine Einsatzarmee wollen; das wollen In keinem Fall hätte danach der Standort Schneeberg auch Sie sicher nicht. Deshalb finde ich es nicht richtig, geschlossen werden dürfen. Die Schneeberger Bürgerwenn Sie diese so genannte Reform, wie ich noch einmal betonen will, jetzt mit dieser Begründung als solche dar- werden sich heute wundern, dass hier im Plenum nicht ein stellen. einziger SPD-Abgeordneter aus Sachsen vertreten ist und dass der Minister für den Osten, Herr Schwanitz, nicht an- Wenn Sie das schon tun, dann frage ich natürlich auch, wesend ist. weshalb die fliegenden Verbände um 25 Prozent reduziert werden müssen. Gerade die vergangenen Konflikte und (Georg Pfannenstein [SPD]: Was soll das denn insbesondere die Beteiligung der Bundeswehr bei der jetzt? – Dr. Uwe Küster [SPD]: Was ist denn das Beilegung des Konflikts im Kosovo haben gezeigt, dass für eine Dreckschleuderei, Herr Dehnel?) die Luftverbände im zukünftigen Verteidigungsfalle eine Ich finde, es ist skandalös, dass diese Vertreter ihrer Re- wesentliche Rolle spielen. gion nicht da sind. Die Bürger der Region hätten das ver- Vor diesem Hintergrund ist es mir unverständlich, dient gehabt. Die ganze Region Südwestsachsen steht weshalb Standorte, wie zum Beispiel Memmingerberg nämlich zu diesem Standort, und zwar nicht erst seit den mit über 2 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein- Schließungsplänen, sondern die ganzen zehn Jahre seit schließlich Soldaten, ohne die Wehrpflichtigen, einfach der deutschen Einheit. In diesen zehn Jahren sind dort mit einem Federstrich verschwinden sollen. Gerade Mem- 110 Millionen DM investiert worden, es ist modernisiert mingerberg ist ein Standort, der im Leistungsvergleich worden. Jetzt kommen die Schließungspläne von Herrn von der Einsatzbereitschaft und von der Einsatzfähigkeit Bundesminister Scharping. immer an erster Stelle gelegen hat, der auch meteorolo- Ich glaube, das ist nicht gerecht gegenüber der Region gisch mit die besten Einsatzmöglichkeiten bietet, weil und den dort lebenden Menschen. Ich bitte da um mehr Nebel und schlechte Wetterverhältnisse dort nur eine sehr 14694 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Kurt J. Rossmanith (A) geringe Rolle spielen. Mir ist auch unverständlich, wes- Schneeberg beließe, müsste er einen Standort an anderer (C) halb Sonthofen praktisch aufgelöst werden soll – im En- Stelle schließen. Ich finde, dieses Wechselspiel kann man deffekt wird auch der Standort Sonthofen geschlossen; so nicht treiben. Im Übrigen ist Ihr Ministerpräsident ja denn es verbleiben nur ein paar Soldaten – und weshalb noch in der Lage, in dieser Hinsicht Vorschläge zu ma- die Feldjägerschule gerade in den Ballungsraum Hanno- chen. ver verlegt werden soll. Auch eine Begründung hierfür Ich möchte mich nun dem Kollegen Kurt Rossmanith habe ich in Ihren Ausführungen, Herr Kollege Zumkley, zuwenden. Herr Kollege, Sie irren sich, wenn Sie glau- vermisst. ben, ich stünde nicht hinter dieser Reform. Ich habe dem Als Letztes will ich Ihnen sagen: Sie haben davon ge- Inspekteur des Heeres auch aufgrund meiner beruflichen sprochen, Sie müssten 46 Standorte schließen, derenVergangenheit zu dem neuen deutschen Heer mit den fünf Schließung noch in der Regierungsverantwortung von plus zwei Divisionen gratuliert und zu der Art und Weise, CDU/CSU und F.D.P. beschlossen worden sei. Lieberwie diese Divisionen anders als früher instandgehalten Herr Kollege Zumkley, Sie, der Sie sich immer an der und eingesetzt werden. Ich erinnere in diesem Zusam- Wahrheit orientieren und sich nie mit Halbwahrheiten be- menhang an die vielfältigen europäischen Aufgaben unter gnügen – das sage ich Ihnen anerkennend –, sollten sol- dem Stichwort „headline goal“ – aufgrund der Vereinba- che Argumentationen unterlassen. Diese Standorte wer- rungen von Helsinki müssten wir ja 60 000 Soldaten stel- den quasi nur noch abgewickelt. In diesen Standortenlen – und an die Erfüllung von NATO-Aufgaben. befinden sich kaum mehr Soldaten. Die Schließung von Ich stimme mit Ihnen überein, wenn Sie sagen, dass 39 Standorten plus fast noch einmal der gleichen Anzahl, unsere Einsatzkräfte von 150 000 Soldaten vornehmlich bei der der beabsichtigte Abbau quasi einer Schließung der Landes- und der Bündnisverteidigung dienen. gleichkommt, haben Sie zu verantworten. Darüber wer- Dafür sind sie in erster Linie da, dafür brauchen wir sie den Sie den Bürgerinnen und Bürgern draußen Rede und und dafür werden Sie auch ausgebildet. Aus diesem Teil Antwort stehen müssen. Sie haben aber nicht einmal Ihren nehmen wir diejenigen, die bei friedenserhaltenden eigenen Genossen Rede und Antwort gestanden. Maßnahmen benötigt werden. Darüber besteht bei uns (Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Konsens. NEN]: Was hat das noch mit einer Kurzinter- Dass Sie die Reduzierung der Zahlfliegender Ver- vention zu tun? Das ist ein Redebeitrag! Nur, bände in der Luftwaffe beklagen, verstehe ich. Im Heer weil er nicht reden darf! Die Zeit ist jetzt vor- gibt es weit drastischere Reduzierungen bei den Kampf- bei!) truppen, den Kampfunterstützungstruppen und den Füh- rungstruppen. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Auch (B) (D) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommen bei der Marine gibt es Reduzierungen. Das ist so auch ge- Sie bitte zum Schluss. wollt und hat zur Folge, dass wir die Streitkräftebasis ein- führen, die viele Aufgaben der Teilstreitkräfte unterstüt- zend übernimmt. Das halte ich für ein sinnvolles Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Sie haben das ein- wirtschaftliches und militärisches Konzept. fach mit einem Federstrich umgesetzt und erst im Nach- hinein mit einer Beschwichtigungspolitik gegenüber Sie beklagen die Entwicklungen – ich empfinde das ge- ihren eigenen Genossen, den Landtagskollegen oder den nauso wie bei Schneeberg oder meinen eigenen Leuten – jeweiligen Bürgermeistern reagiert. in Memmingerberg. Auch dafür habe ich volles Verständ- nis. Wenn ich aber die Anzahl der fliegenden Verbände re- (Beifall bei der CDU/CSU) duziere, dann muss ein Fliegerhorst geschlossen werden. Wenn es nicht Memmingerberg ist, muss es ein anderer Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- sein. Sollen wir Manching, Kaufbeuren oder Nörvenich lege Zumkley zur Erwiderung. – Bitte sehr. schließen? (Zuruf des Abg. Hildebrecht Braun Peter Zumkley (SPD): Herr Kollege Dehnel, ich ver- [Augsburg] [F.D.P.]) stehe, dass die Schneeberger Bürger um ihren Standort – Es gibt genügend Möglichkeiten, Alternativen zu fin- kämpfen. Es hätten auch meine Fischbeker draußen ste- den. hen können. Ich kann sie gut verstehen und finde es auch gut, dass sie dies tun. Das zeigt, dass sie eine besondere (Michael Glos [CDU/CSU]: Das sind jetzt Beziehung zur Bundeswehr haben, was wir als außeror- schon fünf Minuten! – Gegenruf des Abg. dentlich positiv empfinden. Lothar Mark [SPD]: Er hat auf zwei Kurzinter- ventionen zu antworten!) Aber wenn es nicht Schneebergist, muss es ja wohl ein anderer Standort sein. Heute ist – ich will dieses Kampfwort eigentlich gar nicht wiederholen – schon vom Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- Sankt-Florians-Prinzip gesprochen worden. Davon ist das lege Zumkley, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ganze weit entfernt. Aber wenn man reduziert, muss es leider auch Schließungen geben. Die Frage ist immer: Wo Peter Zumkley (SPD): Herr Präsident, ich bin lange ist die Alternative? Wenn der Minister den Standort in gefragt worden. Es gab zwei Interventionen mit mehreren Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14695

Peter Zumkley (A) Fragen. Es muss erlaubt sein, darauf in sachlicher Form Dessen Geschichte, man könne sich selbst am Schopf aus (C) einzugehen. dem Schlamassel ziehen, war bekanntermaßen nur ein Märchen. Ein Märchen ist auch, dass diese Bundeswehr- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Wir haben verkleinerung ohne Geld etwas mit Reform zu tun habe. eine Geschäftsordnung! – Michael Glos [CDU/ Sie verkleinern die Bundeswehr gerade so weit, wie Ihr CSU]: Ihr habt noch nicht die totale Herrschaft Geld reicht. Das ist das Problem, daran kommen Sie nicht übers Land! Es gelten noch parlamentarische vorbei. Sie haben sich dafür entschieden, die Bundeswehr Rechte! – Gegenruf des Abg. Dr. Uwe Küster drastisch zu verkleinern. [SPD]: Sechs Minuten hat er zum Reden!)

Ich glaube, es geht hier um einen ganz wichtigen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- Punkt. Ich sage jetzt abschließend: Ich werfe Ihnen nicht lege Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol- vor, dass 46 Standorte übrig geblieben sind. Sie haben mit legen Braun? Ihrer Bemerkung völlig Recht, dass diese abgewickelt werden müssen. Wir haben – damals in der Opposition – (Horst Kubatschka [SPD]: Ist die bestellt?) die 94er-Entscheidung zwar kritisch, aber konstruktiv be- gleitet, Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Bitte sehr. (Beifall bei der SPD) weil wir gesehen haben, dass die Bundeswehr vonHildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Herr Kol- lege Schmidt, Sie beklagen natürlich zu Recht das 370 000 auf 340 000 Mann reduziert werden musste. Schweigen der bayerischen SPD. Darf ich Sie aber fragen: Ich habe nur dafür plädiert, auch diese Seite zu be-Wo ist heute die Bayerische Staatsregierung? trachten, wenn man die jetzigen Maßnahmen und Ent- (Beifall bei der SPD und dem BÜND- scheidungen überschäumend kritisiert. Ich halte Ihre Po- NIS 90/DIE GRÜNEN) sition für unglaubwürdig und Sie sollten sie wirklich ernsthaft überprüfen. Heute geht es doch um ein Konzept, das praktisch ein bundeswehrfreies Nordbayern vorsieht und das Schwa- (Beifall bei der SPD) ben in einem Maße beschädigt, wie wir es bisher nicht er- lebt haben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als (Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist doch nicht nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Christian Sache der Staatsregierung! Das müssten Sie Schmidt von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. doch wissen!) (B) (Georg Pfannenstein [SPD]: Jetzt wird es eng!) (D) Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Wissen Sie: Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Herr Präsi- Ich bin schon etwas überrascht, Herr Kollege. Sie haben dent! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es wird jetzt in sicherlich verfolgt, dass die Bayerische Staatsregierung der Tat eng – für die bayerische SPD. Denn sie hat sich im Bayerischen Landtag eine sehr dezidierte Position zu heute anhören müssen, dass Bayern abgestraft werden dieser Frage bezogen hat. muss, weil es dort zu viele Standorte gibt und man deshalb (Georg Pfannenstein [SPD]: Verweigert! – Wei- zustimmt, dass in Bayern überproportional gekürzt wird. tere Zurufe von der SPD: Welche denn? – Nur Genauso ist es. ablehnen!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Aus dieser Erklärung geht hervor, dass sie mit den Bür- Georg Pfannenstein [SPD]: Wo ist Ihre Staats- germeistern der 20 Kommunen, die betroffen sind und die regierung? Wo ist Stoiber?) vorher nicht informiert waren, Gespräche führen muss. Auch deswegen hat die Staatsregierung das Gespräch, das Der Bundesminister der Verteidigung hat sein Wort ge- gestern der Bundesverteidigungsminister mit dem Minis- brochen. Er betreibt – ich möchte hier mit Genehmigung terpräsidenten führen wollte, abgesagt, weil sie der Auf- des Präsidenten zitieren – „eine dumme Politik der Stand- fassung ist, das ist zu früh. Es kann doch nicht sein, dass ortauflösung“. So hat er das am 7. Juni 2000 in diesem eine Reform zwei Jahre lang entwickelt wird und dass an- Hause formuliert. In der gleichen Bundestagsdebatte, also schließend innerhalb von vier Werktagen entschieden vor gerade acht Monaten, hat er den CSU-Kreisverbänden werden soll, wie es weitergeht. – das sind diejenigen, die Ihnen, Herr Pfannenstein, Ärger machen –, die sich für die Sicherung ihrer Bundeswehr- (Beifall bei der CDU/CSU) standorte eingesetzt haben, einen donquichottehaften Damit eines ganz klar ist: Hier diskutieren wir über Kampf gegen Windmühlen vorgeworfen. Er sagte damals, Verantwortlichkeiten. Die Verantwortung liegt bei der die CSU kämpfe um etwas mit großer Kraft, was gar nicht Bundesregierung und bei niemand anderem. gefährdet sei. (Beifall bei der CDU/CSU) Zwischenzeitlich habe ich den Eindruck, dass hier kein Don Quichotte, sondern der Baron von Münchhausen un- terwegs ist. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- lege Schmidt, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage (Beifall bei der CDU/CSU) des Kollegen Braun? 14696 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

(A) Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Wissen Sie, Es schwillt mir der Kamm bei dem, was ich von Ihnen,(C) Herr Kollege, wir haben ja keine eigene bayerische Armee Herr Kollege Erler, gehört habe. mehr und deswegen ist das Ganze Bundesangelegenheit. (Johannes Kahrs [SPD]: Wo ist denn Ihr Kon- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Bayerische Armee! zept? Nur meckern!) Der ist nicht bei Trost!) – Lassen Sie mich einmal ausreden, dann werden Sie Nachdem ich auch von SPD-Kollegen höre, dass sie bei hören, was mein Konzept ist. Ich schicke es Ihnen zu. der Frage der Finanzierung der Folgen schon klamm- Kollege Erler, Ihre Propagandarede war missglückt. heimlich auf die Länder verweisen, habe ich den Ein-Uns zu unterstellen, wir hätten kein Konzept auf den Tisch druck, dass da einiges schief läuft. Das muss heute dieser gelegt, ist ja nun völlig absurd. Sie haben wohl die Dis- Bundesregierung klar vor Augen geführt werden. Sie kön- kussion des letzten Jahres nicht verfolgt. nen sicher sein, dass sich die Bayerische Staatsregierung in bekannt klarer, dezidierter Weise zu diesen Fragen (Johannes Kahrs [SPD]: Tragen Sie Ihr Kon- äußern wird. zept doch mal vor!) (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn Sie über die Wehrkundetagung letzte Woche in München sprechen, dann sollten Sie einmal überlegen, welchen Auftritt der Bundeskanzler dort hatte. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- lege Schmidt, erlauben Sie trotzdem eine weitere Zwi- (Gernot Erler [SPD]: Einen sehr guten! Ohne schenfrage des Kollegen Braun? – Bitte, Herr Braun. jede Polemik!) Er war schwierig, um nicht ein schärferes Wort zu ver- Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Lieber Kol- wenden; ich will vorsichtig sein. Wissen Sie zum Bei- lege Schmidt, natürlich wissen wir sehr gut, dass es sich spiel, dass der damalige amerikanische Verteidigungsmi- hier um reine Bundespolitik handelt. nister Cohen vor einem halben Jahr in England die Europäer aufgefordert hat, ihre Verteidigungshaushalte zu (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) erhöhen? Da liegt doch der Hase im Pfeffer. Aber sollte man nicht die Bundesratsbank nutzen, um (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zu- auch hier Stellung zu nehmen, wenn es um so starke In- ruf von der SPD: Haben wir doch gemacht!) teressen eines Bundeslandes, nämlich des Freistaates Bayern, geht? Mit dem Kollegen Zumkley setze ich mich gern sach- lich auseinander, weil er ein sachlicher Mann ist. (B) (D) Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Der bayeri- (Johannes Kahrs [SPD]: Ja, wo ist denn Ihr sche Ministerpräsident und der Chef der Bayerischen Konzept?) Staatskanzlei haben sich in dieser Sache geäußert. Er hat gesagt, er sei dafür, zu reduzieren. Das ist eine acht- (Georg Pfannenstein [SPD]: Der drückt sich! bare Position. Der drückt sich immer!) (Johannes Kahrs [SPD]: Wo ist Ihr Konzept?) Sie sind im Gespräch mit den Betroffenen und haben es Ich bin nicht dafür. Wieso bin ich nicht dafür? – Weil ich dort nicht an Deutlichkeit fehlen lassen. Ich bin der An- der Meinung bin, dass angesichts der Anforderungen, die sicht, dass erst einmal die Fraktionen des Bundestages im Bereich der Krisenreaktionskräfte und der Landesver- diese Frage diskutieren müssen. Ich werde allerdings auch teidigung auf uns zukommen, die Stärke der Bundeswehr an den Verteidigungsminister die Aufforderung richten, bei Beibehaltung der Wehrpflicht eine kritische Masse (Johannes Kahrs [SPD]: Fragen Sie einmal nicht unterschreiten darf. Aus diesem Grunde halte ich die Ihren Ministerpräsidenten!) Zahl von 250 000, 255 000, über die wir faktisch reden – das müssen wir uns eingestehen, wenn wir ehrlich mit- seinen Zeitplan zu revidieren, damit eine vernünftige Aus- einander umgehen –, für zu wenig. Ihre Position mag eine einandersetzung möglich ist. andere sein. Aber unsere, meine ich, ist sehr gut begrün- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – det. Ich kann sogar den Bundesverteidigungsminister zum Gernot Erler [SPD]: Verweigerungsstrategie!) Zeugen anrufen. Er sagt viel, wenn der Tag lang ist. Bun- desverteidigungsminister Scharping hat nach einem Zei- – Entschuldigung, ein solch dummes Gerede habe ich sel- tungsbericht bei einem Truppenbesuch in Hohenmölsen ten gehört, wenn Sie hier „Verweigerungsstrategie“ da- in Sachsen-Anhalt gesagt, er halte an der Personalstärke zwischenrufen. Am Freitag letzter Woche kam aus dem der Bundeswehr fest. Immerhin sei die Truppenstärke von Ministerium zum ersten Mal ein Brief. Die Bürgermeister, rund 700 000 Bundeswehrangehörigen im Jahre 1991 auf die hier auf der Tribüne sitzen, haben bis heute nochderzeit rund 330 000 Mann mehr als halbiert worden. nichts Offizielles bekommen. Dann stellt sich der Vertei- digungsminister hier hin und sagt: Die waren leider noch Also, der Bundesverteidigungsminister sagt, die Trup- penstärke sei halbiert worden, das reiche aus und man nicht alle bei mir. – Ja, wo sind wir denn? Entschuldigung, bleibe bei einer Truppenstärke von 330 000. Können Sie wer trägt denn hier die Verantwortung? mir bitte erklären, wieso sich die Sicherheitslage zwi- (Beifall bei der CDU/CSU) schen dem 23. August 1999 und dem 9. Februar 2001 so Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14697

Christian Schmidt (Fürth) (A) drastisch verändert hat, dass Sie die Bundeswehr umberuhigen: Wir unterstützen ihn nicht in dieser Position (C) 80 000 Mann reduzieren wollen? Sie werden es nicht und auch nicht in seiner Reform. können. Das können Sie übrigens aus diesem Vermerk ersehen, Nun zum Thema Glaubwürdigkeit. Wenn man als der nirgendwo beschlossen worden ist und der offensicht- SPD-Politiker in Goldene Bücher hineinschreibt, wie das lich, wie ich zwischenzeitlich an der Art, wie er präsen- in Kötzting der Fall war, „Der Standort bleibt erhalten“ tiert wird, festgestellt habe – Herr Erler, passen Sie bitte und ihn dann schließt, wenn man an der Regierung ist, auf –, dann müssen doch die Wähler bzw. die Bürger an der (Gernot Erler [SPD]: Ich habe ihn dabei!) Glaubwürdigkeit der Politik zweifeln. nicht ganz lupenrein an die interessierte Beschaffungsab- (Beifall des Abg. Kurt J. Rossmanith teilung gegangen ist. [CDU/CSU]) Wir werden noch über eine andere Angelegenheit spre- Ihr Genosse Gantzer hat am 31. Januar 2001 im Bayeri- chen müssen. schen Landtag im Rahmen einer Bundeswehrdebatte den Truppenabbau als ein Geschenk für die Kommunen be- (Gernot Erler [SPD]: Das klären wir noch! – zeichnet. Ich wünsche ihm für das Gespräch mit den Georg Pfannenstein [SPD]: Das war aber jetzt Bürgermeistern von Ebern, Heidenheim, Sonthofen, ganz schön geeiert! – Weitere Zurufe von der Lenggries und Kötzting viel Vergnügen. Ihre Art und SPD) Weise, mit diesem Problem umzugehen, ist absolut unak- – Herr Präsident, möchten die Kollegen von der SPD Auf- zeptabel. klärung von mir haben oder wollen die mich nieder- schreien? Sie sollten ruhig sein. Herr Kol- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Abg. Georg Pfannenstein [SPD] nimmt wie- lege Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol- der seinen Platz ein) legen Pfannenstein?

Wenn Sie (Fürth) (CDU/CSU): Aber immer. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Christian Schmidt die Zwischenfrage noch beantworten würden, dann würde (Johannes Kahrs [SPD]: Wo ist Ihr Konzept?) ich den Kollegen Pfannenstein bitten, sich noch einmal zu erheben. – Vorsicht, ich habe es dabei. (Georg Pfannenstein [SPD]: Ich dachte, sie sei schon beantwortet!) (B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Bitte (D) schön. Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Nein, ich habe sie noch nicht beantwortet. Georg Pfannenstein (SPD): Verehrter Herr Kollege Schmidt, was halten Sie von der Tatsache, dass Sie am 5. Januar dieses Jahres auf Ihrer Klausurtagung ein Papier Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Ihrer Landesgruppe veröffentlicht haben, in dem steht, Schmidt, Kollege Pfannenstein hat Ihnen auf Ihre Geneh- migung hin eine Frage gestellt. Die beantworten Sie jetzt. (Gernot Erler [SPD]: Jetzt kommt es!) Ich bitte Herrn Pfannenstein, während dieser Zeit stehen diese Strukturveränderung mache Sinn, aber man müsse zu bleiben. vor Ort jede einzelne Standortschließung bekämpfen? In diesem Papier wurde der Standort Kötzting aufgeführt. (Fürth) (CDU/CSU): Kollege Eine Schließung macht laut Ihrem Papier Sinn. Nun steht Christian Schmidt Pfannenstein, die CSU hat kein Papier verabschiedet, in Kötzting auf der Liste der zu schließenden Standorte; jetzt dem sie das Konzept von Scharping in irgendeiner Weise macht eine Schließung keinen Sinn mehr. Können Sie mir unterstützt. Sie hat Informationen weitergegeben. Das ist eine Antwort auf diese Widersprüche geben? mehr recht als billig in Zeiten, in denen SPD-Abgeordnete beispielsweise in Günzburg gesagt haben, dass dieser Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Ich bin für Standort sicher sei. diese Zwischenfrage sehr dankbar, um endlich einmal die Wenn Sie diesen Vermerk eines Mitarbeiters – mehr ist hier herumgeisternde Unterstellung, es gebe bei der CSU es nicht – die Strategie, Scharping zu unterstützen, zu widerlegen. (Zurufe von der SPD und dem BÜND- (Gernot Erler [SPD]: Das gibt es doch schrift- NIS 90/DIE GRÜNEN: Aha! – Dr. Uwe Küster lich! – Lothar Mark [SPD]: Sind Ihre Papiere [SPD]: Voll in der Wende! Klasse! – Gernot nicht mehr authentisch? – Weitere Zurufe von Erler [SPD]: Seit wann nehmen Sie Empfeh- der SPD) lungen von Mitarbeitern an?) Das ist nämlich für Herrn Scharping ein Problem. Ich bin genau lesen, dann stellen Sie fest, dass dort steht, – schon von Journalisten gefragt worden, ob wir Scharping gegen Schröder unterstützen würden, weil der einmal die (Georg Pfannenstein [SPD]: Herr Präsident, die große Koalition gewollt habe. Ich kann Herrn Scharping Beine tun mir weh! Kann ich mich setzen?) 14698 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- Interessenlagen von Kommunen, Ländern, Soldaten, Zi- (C) lege Schmidt, eine Zwischenfrage sollte kurz und knapp vilisten und deren Familien. Ich bin der Meinung, dass die beantwortet werden. Ich bitte darum. Kriterien, die der Minister öffentlich gemacht hat und die hätten korrigiert werden können, berechtigt sind und als Grundlage dessen gedient haben, über was wir heute dis- Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): – dass, mein lieber Kollege Pfannenstein, vor dem Hintergrund dieser kutieren. Reform eine Schließung Sinn macht. Wieso macht das Ich finde es – hier nehme ich Bezug auf die Rede des vor dem Hintergrund der Reform Sinn? – Weil HerrKollegen Zumkley – verständlich, dass die Länder im Scharping ein Jahr vorher erzählt hat, es würden nurDialog mit den Kommunen versuchen – ohne die kampa- Kleinststandorte geschlossen, weil er die Leute belogen gnenartige Gestaltung der CDU –, noch über das eine oder hat. Wir sind aber nicht für diese Reform. Deswegenandere zu diskutieren. Ich sage aber als Schleswig-Hol- macht es nach unserer Meinung auch keinen Sinn; damit steinerin und Neumünsteranerin, wo nun nur noch zehn das völlig klar ist. von 900 Soldaten übrig bleiben sollen: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/ (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Aber der CSU – Georg Pfannenstein [SPD]: Herr Präsi- Standort bleibt erhalten!) dent!) Wenn wir bei der Standortentscheidung nach Wirt- schaftlichkeitskriterien und nach militärischen Kriterien Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Jetzt ist – das sind die Hauptkriterien bei dieser Reform – vorge- die Frage beantwortet. Danke schön. hen, ist es einfach logisch, dass man Teile der Panzer- brigade zusammenzieht und den Hauptstandort in Boo- Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Im Übrigen stedt lässt, so schlimm das für Neumünster ist. Wir wundert mich, mit welch eigenartiger Mischung aus Ar- werden dort mit Fantasie nach vorne schauen, statt im- roganz, Uninteressiertheit, Spaß und Lust dieses Thema mer nur zu schreien. offensichtlich in der Koalition behandelt wird. Dies ist ein sehr ernst zu nehmendes Thema. Heute Morgen hat im Fernsehen – Herr Kollege Schmidt, Sie haben versucht, dies zu übertrumpfen, aber (Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: es war einfach nicht zu übertrumpfen – der Kollege Huber Das haben Sie gerade unterstrichen!) von einer „Strafexpedition der Bundesregierung gegen Ich bin bereit, über die Inhalte zu diskutieren. Wir tun das Bayern“ gesprochen. auch schon lange, aber da haben Sie nicht aufgepasst. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Recht hat er!) (B) (D) Im Übrigen kann ich nur appellieren, das, was jetzt Dazu kann ich nur sagen: Gute Nacht! Bleiben Sie in Bay- stattfinden soll, zu blockieren bzw. zu überdenken. Aber ern und wir machen unsere Reform. selbst dann, wenn wir noch einmal darüber diskutieren, wird es in Wahrheit so bleiben. Ihnen fehlt eines: Geld! (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Mark [SPD]: Weil Sie uns so viele Schulden hinter- Nun komme ich zu den Vorwürfen, mit denen Sie uns lassen haben!) im Hinblick auf Niedersachsen bzw. – etwas konkreter – auf Hannover parteipolitische Interessen unterstellen und behaupten, wir würden bei der Zusammenziehung der Liebe Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wehrbereichsverwaltungen einen Kanzlerbonus ein- Kolleginnen und Kollegen, witzige Zwischenrufe beleben bauen. die Debatte und sind auch durchaus erwünscht. Wenn aber dieselben Fragen zehnmal dazwischen gerufen werden, (Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: kann dies zu einer Belastung der Debatte führen. Chaostage brauchen mehr Sicherheit durch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Feldjäger!) Ich gebe nun der nächsten Rednerin, der KolleginDazu kann ich nur sagen – so sehr ich den Kanzler Angelika Beer vom Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. schätze –: Mir ist die Strukturreform der Bundeswehr und insofern auch die Zusammenlegung der Wehrbereichsver- waltung in Hannover wichtiger. Diese werde ich auch Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr weiterhin verteidigen. Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau Ministerpräsidentin Heide Simonis, ich freue mich, Ich will nicht verhehlen, dass die Vorschläge der dass Sie hier sind, um dieser Debatte trotz manchmal sin- Weizsäcker-Kommission und unsere Vorstellungen von kender Qualität zu folgen. einer weiteren Reduzierung der Bundeswehr auf 200 000 Mann im Rahmen einer Freiwilligenarmee nicht weit aus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Günther einander lagen. Wir hätten Farbe bekannt: Nach unserem Friedrich Nolting [F.D.P.]: Jetzt erleben wir den Konzept wären noch mehr Standorte geschlossen worden, Tiefpunkt!) mit der Zielsetzung, Kosten zu sparen, wo dies möglich Ich glaube, der Stationierungsentwurf ist im Ergebnis ist, und mehr Geld für Investitionen freizumachen. Aber in sich ausgewogen und berücksichtigt die verschiedenen dies sei nun erst einmal zurückgestellt. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14699

Angelika Beer (A) Herr Kollege Nolting, ich kann Ihrer fundierten Kritik dafür gesorgt, dass alle Reformen vorher nicht umgesetzt (C) an Ihrem früheren Koalitionspartner und an Herrn Merz worden sind. Und jetzt sagen Sie: „Weiter so!“ und for- weitgehend folgen. dern noch mehr Geld. Ja, wo bin ich denn hier? (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Günther (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das glaube ich und bei der SPD – Dietrich Austermann nicht! Sie haben unsere Anträge auch abge- [CDU/CSU]: Im Bundestag! – Günther lehnt!) Friedrich Nolting [F.D.P.]: Können Sie sich an Aber dass Sie jetzt nur noch populistisch auf das Konzept Ihre Anträge erinnern? – Paul Breuer von Herrn von Weizsäcker aufspringen, das Sie früher [CDU/CSU]: Das ist doch für Sie nur der erste bekämpft haben, ist doch etwas zu kurzsichtig. Schritt, haben Sie gesagt. Nennen Sie doch ein- mal den nächsten Schritt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Günther Friedrich Nolting Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir werden das [F.D.P.]: Dummes Zeug!) Reformkonzept weiter unterstützen. Ich sage Ihnen auch, wie wir Reform verstehen, nicht als Schieben, Strecken, Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bevorzuge Of- Streichen, sondern als Wandel. Wandel heißt Bewegung. fenheit in den Aussagen und will anstehende Probleme Das heißt, die Bundeswehrreform ist auch so etwas wie nicht populistisch kleinreden. ein „work in progress“. Dieser Prozess ist nicht statisch, ist nicht festgeschrieben bis auf den letzten Tag. Aber wir Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kol- wollen ihn zügig umsetzen. Wenn es sein muss, werden legin Beer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen wir auch bereit sein, im Rahmen dieser Reform Nachbes- Börnsen? serungen vorzunehmen, um allen Interessen gerecht zu werden.

Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nein, Wir haben uns vorgenommen und sind dabei – der danke. Minister hat das heute deutlich gemacht –, als rot-grüne Koalition nicht nur die Defizite, die Versäumnisse, vor al- Wer das tut, nützt weder der Bundeswehr noch derlem die politischen Versäumnisse, der letzten zehn Jahre Außen- und Sicherheitspolitik. Dieser Bereich ist in die- aufzuholen, sondern wir wollen auch gemeinsam mit un- ser Debatte leider etwas zu kurz gekommen. seren europäischen Partnern nach vorne gehen. Ich Aber ich sage Ihnen noch einmal ganz klar: Wenn man glaube, es ist richtig – das möchte ich hier noch einmal un- eine Außen- und Sicherheitspolitik gestalten will undterstreichen –, dass wir die Reform der Bundeswehr in ein (B) akzeptiert, dass wir eine handlungsfähige Bundeswehr Finanzierungskonzept der Bundesregierung eingepasst(D) brauchen, die ihren Auftrag hat, muss diese Bundeswehr haben, das mit der gesamtenHaushaltskonsolidierung entsprechend angepasst werden. Das heißt, dass wir sie kompatibel ist. Dass sich an dieser Konsolidierung auch reduzieren müssen, und das heißt, dass wirStationie- das Verteidigungsressort beteiligt, ist eine Selbstverständ- rungsveränderungen vornehmen müssen. Alles andere lichkeit. ist keine Unterstützung der Außen- und Sicherheitspoli- Das ist schwierig, aber diesen Weg gehen wir. Sie ha- tik, es wäre kontraproduktiv. ben sich heute aus dem Dialog verabschiedet. Das ist be- Herr Merz, ich habe nicht die Zeit, Ihre einzelnen Aus- dauerlich, aber es passt in die Planlosigkeit der Opposi- sagen von heute Morgen zu analysieren. Aber ich habe tion, wofür ich mich eigentlich zu bedanken habe. das Gefühl, dass die frühere Regierungsfraktion der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CDU/CSU einem Trauma verhaftet ist, weil Sie sich heute und bei der SPD) noch irgendwo innerlich gezwungen sehen, die jahrelan- gen Fehler in Ihrer Regierungsverantwortung heute noch zu rechtfertigen. Diesem Trauma verhaftet, sind Sie poli- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Zu einer tisch völlig handlungsunfähig geworden. Kurzintervention erteile ich nacheinander dem Kollegen Austermann und dem Kollegen Börnsen das Wort. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Zunächst Herr Kollege Austermann. Sie sind nicht einmal in der Lage, über Ihre eigene Ver- gangenheitsbewältigung hinaus zu denken. Dietrich Austermann (CDU/CSU): Herr Präsident! Die Kollegin Beer hat behauptet, sie treffe gelegentlich In Ihrem Antrag – der heute abgestimmt und natürlich klare Aussagen. Das mag in der Vergangenheit gegolten abgelehnt werden wird – lautet die Kernaussage: Sie leh- haben. nen den Entwurf des Ressortkonzepts „Feinausplanung und Stationierung der Bundeswehr“ ab. Sie fordern: Ers- (Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tens. Alles bleibt, wie es war. Zweitens – das muss man NEN]: Für Schleswig-Holstein!) sich wirklich einmal reinziehen – „den Umbau der Bun- – Natürlich Schleswig-Holstein. – Sie hat heute sehr ver- deswehr für Soldaten und Zivilpersonal, an den Modellen schwommene Aussagen gemacht, der ehemaligen Bundesregierung orientiert, sozialver- träglich zu gestalten“. Sie haben doch dafür gesorgt, dass (Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Bundeswehr nur noch ein Ersatzteillager ist. Sie haben NEN]: Nein, die waren sehr klar!) 14700 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Dietrich Austermann (A) entgegen der Aussage kurz nach Veröffentlichung des Es werden nicht vereinzelt Standorte geschlossen, son- (C) Strukturkonzepts des Verteidigungsministers, als sie da- dern es kommt zu drastischen Einschnitten. Das muss von sprach, dass noch viel zu wenig Standorte geschlos- deutlich gesagt werden. sen werden. Jetzt frage ich Sie, Frau Kollegin: Ist es wirk- Der letzte Punkt, den ich erwähnen möchte, ist die Fi- lich viel zu wenig – der Minister sprach von „nur nanzsituation. vereinzelten Standortschließungen und -reduzierun- gen“ –, wenn Glückstadt, Großenbrode, Hohenlockstedt, Leck, List, Pinneberg und Westerland mit 4 000 Soldaten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- geschlossen werden? In meinem Wahlkreis lege sind Austermann, Ihre Redezeit ist abgelaufen. 2 000 Soldaten betroffen. Die ganze Westküste mit ihren Bundeswehrstandorten wird ausgedünnt. Hinzu kommen (CDU/CSU): Mein letzter Neumünster, Eckernförde, Schleswig und Rendsburg, wo Dietrich Austermann drastisch reduziert wird. Aus diesen Städten sollenSatz, Herr Präsident. 4 000 Soldaten abgezogen werden. Wenn man die zivilen Mitarbeiter einrechnet, sind es mehr als 10 000 Bundes- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Nein, kei- wehrbeschäftigte. Wenn man den Anteil Schleswig-Hol- nen Satz mehr. steins an Bundeswehrfachschulen berücksichtigt, der 3 Prozent beträgt, haben wir am Ende eine Kürzung von 17 Prozent. Halten Sie das für eine bescheidene Kürzung? Dietrich Austermann (CDU/CSU): Okay. Halten Sie das für vertretbar? (Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Sie Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- wollte ein bundeswehrfreies Schleswig-Hol- lege Börnsen, bitte schön. stein!) – Es ist völlig richtig, was der Kollege Braun sagt. Sie hat Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Frau in der Vergangenheit ein bundeswehrfreies Schleswig- Kollegin Beer, Sie haben sich für die Stärkung von Han- Holstein gefordert. nover ausgesprochen und deutlich gemacht, dass nicht parteipolitisch vorgegangen wurde. Damit haben Sie sich (Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aber gegen ausgesprochen. Ihre eigene Landtags- NEN]: Nein, das stimmt nicht! Nicht nur fraktion in Kiel hat sich vehement für die Stärkung und Schleswig-Holstein! Wenn, dann genau!) nicht für die Schwächung von Kiel eingesetzt. Ihre Land- Wie passt das zu der Position, die jetzt von den Grünen tagsfraktion hat sich auch für die Beibehaltung des Stand- (B) vertreten wird? – Ich kann Ihnen das Zitat aus demortes Neumünster eingesetzt. (D) Jahr 1995 vorlegen. Sie haben von einem „bun-Sie halten es für gut, dass der Standort der Bundeswehr deswehrfreien Schleswig-Holstein“ gesprochen. Sie wol- dort geschlossen wurde. Sie haben deutlich gemacht, dass len jetzt die Westküste bundeswehrfrei machen. Auch bei Sie sich weder für Hohenlockstedt noch für andere Stand- den Heeresfliegern in Schleswig-Holstein soll reduziert orte einsetzen. Ist es immer noch Ihre Auffassung, dass in werden. Es gibt in absehbarer Zeit nördlich der Elbe bei Schleswig-Holstein keinerlei Bundeswehrstandorte mehr der Bundeswehr keine Hubschrauber mehr. Dies ist ein sein sollen? Von Ihnen gibt es mehrere Belege dafür, dass unverantwortliches Vorgehen. Sie für ein bundeswehrfreies Schleswig-Holstein sind. Jetzt komme ich zur Präsenz der Landesregierung, Sie haben unterstrichen, dass Sie zu dem Konzept des weil dies vorhin ein Thema gewesen ist. Ich habe gedacht, Bundesverteidigungsministers stehen. Die Kommunen der Innenminister des Landes Schleswig-Holstein, Herr vor Ort haben nur die nackten Zahlen darüber bekom- Buß, der heute anwesend ist – er ist der Beauftragte der men, wie viel reduziert und was geschlossen werden soll – Ministerpräsidentin für Bundeswehrfragen –, würde Ge- keine Begründung. Halten Sie das für ein vernünftiges legenheit nehmen, hier zu reden. Nachdem die Minister- Konzept? In drei Wochen müssenStellungnahmen er- präsidentin eingetroffen ist, bin ich davon ausgegangen, stellt werden. Niemand weiß, wofür oder wogegen eine dass sie sprechen wird. Aber auf der Rednerliste stehen sie Stellungnahme erstellt werden soll. Ist das Ihre Bereit- beide nicht. Ihre Namen erscheinen erst bei dem nachfol- schaft zum Dialog, Frau Beer? Ist das vertretbar? Alle un- genden Tagesordnungspunkt. Ich erinnere in diesem Zu- sere Bürger sind in Unruhe und Sorge. Man muss ihnen sammenhang daran, dass wir bereits im Herbst des letzten doch Argumente dafür geben, warum Soldaten aus Jahres – Kollege Koppelin hat darauf hingewiesen – ge- Schleswig, aus Tarp, aus Flensburg, aus Hohenlockstedt sagt haben, dass die Existenz des Heeresfliegers „Hungri- und aus vielen anderen Städten und Kreisen unserer Re- ger Wolf“ und mit ihm andere Standorte gefährdet sind. publik abgezogen werden sollen. Es reicht nicht aus, Zah- (Zuruf von der SPD: Er redet viel zu lange!) len zu nennen. Wir wurden in diesem Punkt aber nicht unterstützt. Halten Sie es für richtig, dass vor Ort der Eindruck er- weckt wird, der Bundesverteidigungsminister sei bereit, (Joseph Fischer, Bundesminister: Meine über jedes Problem mit Bürgermeistern zu sprechen, Güte!) während sie in Wirklichkeit vor Ort abgefertigt werden? – Ich weiß nicht, warum der ehemalige Polizistentreter dau- Die Hohenlockstedter sind hier gewesen, aber sie haben ernd dazwischenreden muss. Das war bisher nicht üblich. mit dem Bundesverteidigungsminister nicht sprechen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14701

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) können. Auch die Schleswiger sind hier gewesen, aber der rer Kampagne gegen die Regierung zu folgen und immer (C) Bundesverteidigungsminister war nicht da. Die Staatsse- nur Nein zu schreien, sondern die Chancen einer langfris- kretäre haben sich große Mühe gegeben, aber vor Ort wird tigen Konversion wahrnehmen. Wir wissen aus der ersten der Eindruck erweckt, der Bundesverteidigungsminister Konversionsphase in Schleswig-Holstein, dass dies man- selbst werde den Dialog führen. Dann muss er auch Ter- chen inzwischen geschlossenen Standorten durchaus gut mine nennen. getan hat. Ich hoffe sehr, dass er einen Termin für die Standorte Wir werden uns bemühen – das ist die Verantwortung nennt, auf deren Rückzug wir ihn angesprochen haben. einer Bundespolitikerin; ich hoffe, Sie kommen bald wie- Bisher haben wir von seiner Seite nicht einmal eine Ant- der ins gemeinsame Boot zurück –, mit den Kommunen wort bekommen. konzeptionelle Vorschläge zu erörtern und da, wo es mög- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lich ist, mit regionaler Strukturunterstützung auch umzu- neten der F.D.P.) setzen. Wir haben das Dilemma, dass – das ist nicht nur in Schleswig-Holstein so, aber bei uns ganz besonders – die Bundeswehr aus struktur- und wirtschaftspolitischen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kol- Aspekten überproportional ins Land geholt worden ist. legin Beer, Sie haben das Wort zur Erwiderung. Die Bundeswehr ist aber ein sicherheitspolitisches Instru- ment. Da die letzte Regierung die Reform verschlafen Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ver- hat – ich habe das vorhin ausgeführt –, ehrte Kollegen aus Schleswig-Holstein! Worum geht es (Paul Breuer [CDU/CSU]: Das ist bis jetzt hier eigentlich? Wir diskutieren heute dieFeinplanung. nicht wahrer geworden!) Es geht um eine Vorlage des Bundesministers der Vertei- digung, die in den Ländern und Kommunen sowie im Par- sind wir jetzt in der schwierigen, aber handhabbaren Si- lament zur Debatte gestellt wird. Der Minister hat signa- tuation, diesen Reformprozess regional, kommunal, lan- lisiert, dass bis zum 15. Februar Gespräche stattfinden despolitisch und bundesweit umzusetzen. Ich glaube, dass und dass er die endgültige Entscheidung am 16. treffen die Kriterien, die der Verteidigungsminister zugrunde ge- wird. Der Verteidigungsminister setzt damit eine Koaliti- legt hat, weitestgehend berücksichtigt worden sind. Des- onsvereinbarung zwischen Rot und Grün um, die besagt, wegen kann ich mich Ihrem Geschrei, das wirklich nur dass wir die Bundeswehr reformieren wollen. Wir haben parteipolitisch motiviert ist und nichts mit dem Interesse beschlossen, dass wir das Personal der Bundeswehr redu- der Bundeswehr zu tun hat, nicht anschließen. zieren wollen. Das bedeutet – das ist die Logik dieses Re- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) formprozesses –, dass Standorte geschlossen werden. und bei der SPD) (D) Nun ist es – das habe ich vorhin bereits gesagt – durch- aus verständlich, dass alle Gemeinden quer durch die Re- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Wegen publik – von Ost nach West, von Nord nach Süd – erst ein- des Zeitablaufs werde ich in dieser Debatte keine Kurzin- mal aufschreien und sagen: Okay, eigentlich ja, aber nicht terventionen mehr zulassen. bei uns! Als verteidigungspolitische Sprecherin unter- stütze ich das Konzept des Bundesministers der Verteidi- (Gernot Erler [SPD]: Danke, Herr Präsident!) gung, jedenfalls weitestgehend. Insofern vertrete ich auch Die nächste Rednerin ist jetzt die Kollegin Ursula die Strukturmaßnahmen, die notwendig sind. Ich habe Mogg von der SPD-Fraktion. vorhin gesagt – ich vertrete das auch zu Hause, obwohl ich Neumünsteraner bin –: Wenn man Geld sparen muss und die Bundeswehr wirtschaftlich gestalten will, damit Ursula Mogg (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegin- sie für die Zukunft fit ist, dann muss man Strukturverän- nen und Kollegen! Ich werde versuchen, die Debatte in derungen vornehmen. Deswegen ist es erstens sinnvoll, aller Sachlichkeit auf den Kern zurückzuführen. Teile der 18. Panzerbrigade von Neumünster nach Boo- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten stedt zu verlegen, wo die Kaserne, wie Wirtschaftlich- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) keitsprüfungen erwiesen haben, sehr viel günstiger als der Standort in Neumünster arbeitet. Zweitens ist es im Rah- Die Würfel sind gefallen. Nach der Erarbeitung aller men dieser Umstrukturierung – das betrifft ja nicht nur Grundlagen für die Vorlage einer Konzeption für die Bun- Schleswig-Holstein – sinnvoll, die Wehrbereichsverwal- deswehr der Zukunft herrscht jetzt bei allen am Prozess tungen in der geplanten Form zusammenzulegen. Beteiligten Klarheit: bei den Soldaten, bei den Zivilbe- schäftigten, bei den Kommunen und Regionen. Wir wis- Ich nehme durchaus zur Kenntnis – ich habe das übri- sen jetzt, wohin die Reise gehen wird. gens auch mit den Grünen diskutiert –, dass man das vor Ort etwas anders sieht. Das geht Ihnen ja in Ihren Parteien Minister Scharping unterstreicht zu Recht, dass Ände- genau so; wir wissen das aus allen Diskussionen. Diese rungen nur noch in gut begründeten Einzelfällen möglich Koalition hat aber noch ein zweites Vorhaben klar defi- sein werden. Für die sozialverträgliche Umgestaltung ist niert: Wir sehen Konversion und die Reform als Schritt es hilfreich, dass jetzt eine weitgehende planerische Si- nach vorne. Das heißt – da stimme ich mit dem Sprecher cherheit besteht. Seit damit begonnen wurde, Überlegun- des Konversionsinstituts in überein –, dass es gut gen über die sicherheits- und außenpolitisch unbestritten ist, wenn die Kommunen nicht in den Fehler verfallen, Ih- notwendige Reduzierung der Bundeswehr anzustellen, ist 14702 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Ursula Mogg (A) klar: Der Mensch steht im Mittelpunkt aller Überlegun- übernehmen, sondern dies auch zu günstigeren Konditio- (C) gen. nen zu tun, als dies bei der Bundeswehr der Fall ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Auf jeden Fall aber muss gelten: Die erforderliche Be- des BÜNDNSISSES 90/DIE GRÜNEN) endigung des Arbeits- oder Dienstverhältnisses bei der Bundeswehr bedarf der Zustimmung des betroffenen Mit- Lassen Sie uns also dem Vorschlag des Ministers fol- arbeiters. gen und mehr überArbeitsplätze, aber weniger über Standorte diskutieren. Ich kenne kein Unternehmen, das eine Reduzierung und Modernisierung mit einem solchen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kol- Anspruch – betriebsbedingte Kündigungen sind ausge- legin, galt Ihre Ablehnung von Zwischenfragen grund- schlossen, der Umbau erfolgt sozialverträglich – einge- sätzlich oder gestatten Sie nun eine Zwischenfrage des läutet hätte, wie es der Verteidigungsminister, wie es diese Kollegen Adam? Bundesregierung, getan hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ursula Mogg (SPD): Ich möchte grundsätzlich keine des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zwischenfrage zulassen. Bei der Bundeswehr entstehen neue, moderne und at- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kol- traktive Arbeitsplätze. Die Reform der Bundeswehr wird legin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegenvielen verbesserte Perspektiven bringen. Sie wird auf Dehnel? mittlere Sicht neue Aufstiegs- und Beförderungsmög- lichkeiten eröffnen. Das ist selbstverständlich auch eine Herausforderung für die Bereitschaft der Arbeitnehmerin- (SPD): Nein, das erlaube ich jetzt nicht. Ursula Mogg nen und Arbeitnehmer, sich auf Neues einzulassen. Auch (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dazu stehen die Angebote: gute Ausbildung, Fort- und Weiterbildung und zivilberufliche Qualifizierung; in Ko- Es gilt jetzt, diesen Anspruch zu konkretisieren. Die operation mit den Kammern. Koalitionsfraktionen bekennen sich ausdrücklich zu ihrer sozialen Verantwortung bei der Umgestaltung der Bun- Ich bin mir sicher: Diese Reform wird bei den Mitar- deswehr. Ich bin mir ganz sicher, die betroffenen Men- beiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr einen schen werden erkennen, dass Sie, meine Kolleginnen und neuen Motivationsschub erzeugen, da wir alle wissen, Kollegen von der Opposition, zurzeit nicht dieses Inte- dass der Prozess der Erneuerung unumkehrbar ist. Die Zu- resse im Auge haben, sondern eine kurzatmige parteipoli- sage der Sozialverträglichkeit gilt in jeder Konsequenz. (B) tische Effekthascherei betreiben. Jeder und jede wird die Chance haben, eine Antwort auf (D) die ganz persönliche Lebens- und Berufsplanung zu fin- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Überall protes- Es ist festzuhalten, dass genügend Zeit vorhanden ist, tieren die Gewerkschaften vor Ort! Überall lau- um geeignete Maßnahmen für die betroffenen Menschen fen sie Sturm! Das ist doch doppelzüngig! Zy- zu entwickeln. Sowohl beim militärischen als auch beim nisch ist das!) zivilen Personal sindÜbergangszeiten von mehreren Jahren eingeplant. Viele werden in dieser Zeitspanne aus – Herr Kollege, ich gehöre zu der kleinen Zahl privile- Altersgründen den Arbeitgeber Bundeswehr verlassen gierter Abgeordneter, die ein hartes Jahr der Diskussion und in den regulären Ruhestand eintreten. Darüber hinaus vor Ort hinter sich haben. Ich sehe an dem Standort in Ko- wird jetzt selbstverständlich darüber nachgedacht, in wel- blenz viele strahlende Gesichter, weil klar ist, welche Per- chem Umfang und unter welchen Bedingungen Formen spektiven diese Bundeswehr bietet. der Altersteilzeit und des Vorruhestands erwünscht, not- (Beifall bei der SPD – Dr. Gerd Müller [CDU/ wendig und realisierbar sind. CSU]: Die Zivilbeschäftigten wissen seit zwei Es wird Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben, Wochen Bescheid!) die den Arbeitsplatz innerhalb der Bundeswehr wechseln Der Blick zurück macht Mut. In der Vergangenheit ist oder bei einer anderen Verwaltung neu beginnen werden. es gelungen, Erneuerungsprozesse sozialverträglich zu Es wird Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben, die gestalten. Das wird auch in der Zukunft gelingen. zu anderen Arbeitgebern wechseln werden. Kalte Über- nahmen werden dabei ausgeschlossen. Niemand muss be- Eine herausfordernde Aufgabe zur Gestaltung der Bun- fürchten, dass die Zusage der Sozialverträglichkeit un- deswehr der Zukunft liegt vor uns. Das ist ganz unbestrit- terlaufen wird. ten. Ich fordere Sie alle auf: Arbeiten wir gemeinsam da- ran! (Beifall bei der SPD – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das sagt kein Mensch!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir werden dabei auch nicht vergessen, Herr Kollege Nolting, dass es Festlegungen bezüglich der Zusage von Versorgungsleistungen geben muss. In einigen Fällen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als gibt es heute schon nicht nur die Zusage eines privaten Ar- nächster Redner hat das Wort der Kollege Paul Breuer von beitgebers, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zuder CDU/CSU-Fraktion. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14703

(A) Paul Breuer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Da- unseren Partnern mit Streitkräften ins Ausland zu gehen, (C) men und Herren! Wenn man die Debatte hier verfolgt, ungefähr mit dem Imperialismus zu vergleichen war. auch gerade den letzten Redebeitrag von Frau Mogg, hat man den Eindruck, die Bundeswehr sei ein Feld für (Zuruf von der SPD: Machen Sie Betriebswirtschaftler oder Sozialpolitiker. Ich sage Ihnen Vergangenheitsbewältigung?) eines: Die Bundeswehr ist ein wichtiges verteidigungs- Das war doch Ihre Position in der damaligen Zeit. und sicherheitspolitisches Instrument. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Zustimmung bei der SPD) neten der F.D.P. – Gernot Erler [SPD]: Die alten Wir werden niemanden in Deutschland und darüber hi- Schlachten müssen nochmals geschlagen wer- naus überzeugen können, wofür wir diese Bundeswehr den!) brauchen und haben, wenn wir nicht primär eine sicher- Wir haben begonnen, im Übrigen gegen Ihren Willen, heits- und verteidigungspolitische Debatte darüberdie Bundeswehr zu reformieren. führen. (Gernot Erler [SPD]: Wann denn, um Gottes (Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Mark willen?) [SPD]: Das müssen Sie mal Herrn Merz sa- gen!) Wir haben zunächst einmal zahlenmäßig eine große An- Diese sicherheits- und verteidigungspolitische Debatte, passung vorgenommen. Die Bundeswehr ist fast halbiert meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle- worden. Wir haben dieKrisenreaktionskräfte aufge- gen, ist nicht hinreichend geführt worden. Das ist auch das baut. Jetzt geht es darum, diesen Reformprozess fortzu- Hauptproblem, das Verteidigungsminister Scharping hat. setzen. Sein Hauptproblem ist, dass er sagt, er wolle eine große (Zuruf von der SPD: Das tun wir doch!) Reform machen. Schaut man aber genau hin, stellt man fest: Er hat nicht das Geld dafür, die Reform nach vorne Wir wissen sehr genau, dass dieser Reformprozess fort- zu bringen, keine Anschubinvestition, keine Möglichkeit gesetzt werden muss, weil zwischen die Vereinigten Staa- zu modernisieren, weder inhaltlich noch personell. ten von Amerika und Europa eine Lücke gekommen ist, eine Lücke der Investition, eine Lücke der Technologie. Ich sage Ihnen, warum er es nicht hat: Er hat die Frak- Wer nicht bereit ist, in Deutschland diese Verantwortung tionen in der Regierung, SPD und Grüne, nicht davon zu erkennen und als wesentliches Land in Europa und in überzeugen können, dass es wichtig ist, das zu tun, weil der NATO hier etwas zu tun, der versagt in diesem Pro- sie die sicherheitspolitische Debatte unterlassen haben. zess. (B) (Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler (D) [SPD]: Wir machen es doch gerade!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der F.D.P. – Gernot Erler [SPD]: Deswe- Den Vorwurf, wir hätten die Bundeswehr in den 90er- gen: Machen Sie doch einfach mit!) Jahren nicht modernisiert, Dieses Versagen, Herr Kollege Erler, werfe ich Ihnen und (Lothar Mark [SPD]: Das trifft zu!) Ihrem Minister Scharping vor. Scharping ist ein Reform- muss man sich einmal genau anschauen. Die Entwicklung versager. in den 90er-Jahren, in den letzten zehn Jahren, (Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Mark (Lothar Mark [SPD]: Da war alles noch viel [SPD]: Sie haben gar keine Reformen ge- schlimmer! Schauen Sie sich mal die Gelände- macht!) wagen an!) Das, was Sie hier als größte Reform aller Zeiten für die war insbesondere natürlich zunächst dadurch geprägt,Bundeswehr vorgeben, ist in meinen Augen eine Mogel- dass der Warschauer Pakt zusammenbrach und die Sow- packung. jetunion von der Bildfläche verschwand. Das hat uns ei- nen Sicherheitszugewinn hier in Mitteleuropa gebracht. (Zuruf von der SPD: Der Mann fürs Grobe!) Auf der anderen Seite hatten wir die Entwicklung, dass Es ist auch in der Art, wie es präsentiert wird, eine Mo- eine diffuse Sicherheitslage in Europa selbst – siehe Bal- gelpackung. Heute soll über Standorte diskutiert werden. kan – entstanden ist und dass Konflikte am Rande Euro- Wir kennen die Realität. pas – Kaukasus, Nordafrika, Naher Osten – aufgetre- ten sind, die uns in Europa nicht ruhig lassen können. (Gernot Erler [SPD]: Was machen Sie denn? – Weiterer Zuruf von der SPD: Wo ist Ihr Kon- (Gernot Erler [SPD]: Und was habt ihr ge- zept?) macht?) 60 Standorte werden komplett geschlossen, an die 100 ins- Wir müssen Sicherheit exportieren, wir müssen Stabili- gesamt massiv betroffen. Wie hat der Verteidigungsmi- tätspolitik betreiben. nister Scharping die deutsche Öffentlichkeit, die Soldaten Als diese Debatte in der Sicherheitspolitik in den 90er- und die zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr auf diese Dis- Jahren in Deutschland geführt wurde, haben Sie, SPD und kussion vorbereitet? In der „Süddeutschen Zeitung“ vom Grüne, zunächst jämmerlich versagt, weil Sie glaubten, 18. April des letzten Jahres – das ist noch kein Jahr her – dass eine deutsche Verantwortungskultur, zusammen mit wird Herr Scharping mit folgender Aussage zitiert: 14704 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Paul Breuer (A) Ich glaube nicht, dass wir mit Standortschließungen tes 2001 – nennen Sie mich einen Lügner, wenn es nicht (C) wirklich weiterkommen, denn das heißt ja immer stimmt – sieht derzeit so aus, dass die Planer dazu aufge- auch, in die Lebens- und Arbeitsbedingungen der An- fordert werden, dieses Haushaltsjahr mit Tricksereien zu gehörigen der Bundeswehr einzugreifen ... gestalten. Sie müssen schon jetzt zugeben, dass sie die Re- paraturen des laufenden Jahres in diesem Jahr nicht be- Das hat er damals gesagt und heute sind 100 Standorte in zahlen können. Die Planer fordern die Industrie dazu auf, Deutschland von Schließungen betroffen. Sie machen die Rechnungen im November zu stellen, damit man sie im sich unglaubwürdig. März oder im April des kommenden Jahres bezahlen kann. (Zuruf von der SPD: Wo denn?) Ich sage Ihnen voraus: Der Haushalt ist so knapp, dass Gemessen an dem Anspruch, der vertreten worden ist, Sie in diesem Jahr nicht dazu in der Lage sind, ein einzi- sind die vorgelegten Pläne eine Mogelpackung. ges größeres Beschaffungsprojekt auf den Weg zu brin- gen. Der Anspruch, den Sie hier erheben, hat mit der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wirklichkeit einer echten Reform zum Zwecke der Mo- Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist die dernisierung der Bundeswehr nichts zu tun. Der Schaden Scharping-Lüge! – Zuruf von der SPD: Wer für Deutschland in Bezug auf seinen Beitrag zur europä- mogelt? – Peter Zumkley [SPD]: Ich dachte, ischen und zur nordatlantischen Sicherheit wird leider wir wollten über Sicherheitspolitik diskutieren! massiv werden. Das ist die sicherheitspolitische Diskussion!) (Gernot Erler [SPD]: Anderen hat Herr Merz – Sparen Sie Ihre Luft! Sie brauchen sie noch. angerichtet!) Eggesin in Mecklenburg-Vorpommern wurde hier als Ändern Sie diese Politik! Es ist dringend notwendig. Beispiel genannt. Ministerpräsident Ringstorff, SPD, wird im „Nordkurier“ der letzten Tage zitiert: „Scharping (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – hat falsche Hoffnungen geweckt.“ Der „Wiesbadener Ku- Johannes Kahrs [SPD]: Wo ist Ihr Konzept? rier“ aus Hessen schreibt am 30. Januar – es ist also nur Was wollen Sie inhaltlicht?) ein paar Tage her –: Ringen um den Standort Wiesbaden Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als letz- ter Redner in dieser Aussprache hat der Kollege Manfred Das Bundesverteidigungsministerium hat gestern Opel von der SPD-Fraktion das Wort. der Darstellung von Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul widersprochen. Manfred Opel (SPD) (von der SPD mit Beifall be- (B) Der Hintergrund war, dass Frau Wieczorek-Zeul – sie ist grüßt): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen (D) hier anwesend und sitzt im Übrigen auf der Regierungs- und Kollegen! Ich freue mich darüber, dass diese Debatte bank; Herr Scharping hat sich wieder irgendwohin ver- im Hohen Hause so viel Aufmerksamkeit findet. Ich be- dünnisiert; grüße die sehr zahlreich vertreteneDelegation aus (Zuruf von der SPD: Das ist eine Frechheit!) Schleswig-Holstein ganz besonders. Das ist mustergültig für die Landesregierungen. Ich begrüße ausdrücklich ich weiß nicht, wo er gerade ist – in Wiesbaden gesagt hat, Heide Simonis und Klaus Buß. sie habe die Zusage, die Wehrbereichsverwaltung Wies- baden bleibe erhalten. Die Realität heute sieht so aus, dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Wehrbereichsverwaltung Wiesbaden geschlossen DIE GRÜNEN – Gernot Erler [SPD]: Wo ist wird, nur die Außenstelle bleibt. So sieht die Glaubwür- Bayern? – Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜND- digkeit von Verteidigungsminister Scharping und dieser NIS 90/DIE GRÜNEN]: Bayern hat den Vertei- Bundesregierung aus. digungsfall in den Schweineställen!) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Blubber, blubber, Der Kollege Schmidt hat versucht, sachlich zu bleiben. blubber!) Er sagte, die Bürgermeister hätten nichts Offizielles be- kommen. Die Art, wie dieses Standortkonzept präsentiert wird, (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: So ist es!) (Johannes Kahrs [SPD]: Haben Sie eins?) – Jetzt warten Sie eine Sekunde; dann kommt das alles ist stellvertretend für das gesamte Reformkonzept. Sie er- schon noch im Detail. – SämtlicheBürgermeister und heben hier den Anspruch, die Ausrüstung der Bundes- sämtliche Landräte sind zum Beispiel am Mittwoch, dem wehr zu modernisieren. Die Rede ist von großen Investi- 31. Januar, von der Ministerpräsidentin des Landes tionen. Die Realität in der Bundeswehr ist völlig klar. Ich Schleswig-Holstein – übrigens zum wiederholten Male – sage Ihnen eines: Die Rechnungen für die Reparaturen der zu einer Konferenz eingeladen worden. Luftfahrzeuge und für andere Fahrzeuge der Bundeswehr Dort haben wir die Stellungnahme, die wir dem Bun- aus dem vergangenen Jahr sind heute, Anfang Februar, desminister der Verteidigung geben werden – übrigens noch nicht bezahlt. eine sehr konstruktive –, besprochen. Wir haben dort ein- (Zuruf von der SPD: 16 Jahre Misswirtschaft!) vernehmlich beschlossen, was zu tun ist. Die Realität hinsichtlich der Planungen im Bundesvertei- (Paul Breuer [CDU/CSU]: Was wird das Er- digungsministerium über die Abwicklung des Haushal- gebnis sein?) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14705

Manfred Opel (A) Außerdem sind die Bürgermeister in Schleswig-Hol- uneingeschränkt nachkommen können. Nationale Sicher- (C) stein moderner Technik gegenüber aufgeschlossen: heitspolitik, wie sie manchmal gefordert wird – und auch heute gefordert wurde –, hat sich überlebt. Die Bun- (Heidi Lippmann [PDS]: Im Gegensatz zum deswehr muss in das Bemühen eingebunden werden, Eu- Verteidigungsministerium!) ropa zu einigen, und zugleich gegenüber den USA ein Sie haben Zugang zum Internet und konnten sich von ebenso eigenständiger wie verlässlicher Partner sein. dort das gesamte Konzept des Verteidigungsministers Weiterhin muss sie in die Bemühungen um Rüstungskon- besorgen. – Verehrte Kollegin Lippmann, Sie verwech- trolle und Abrüstung eingebunden werden. Das muss ge- seln im Moment Intranet und Internet. Da Sie für Ihre rade heute deutlich gesagt werden. Technologiefeindlichkeit bekannt sind, ist das auch nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verwunderlich. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es ist unsere politische Hauptaufgabe, unser Land Ich will, weil der Kollege Austermann meinte, er könne durch eine Reduzierung der Bedrohung sicherer zu die Anwesenheit hochrangiger Vertreter der Landes-machen und nicht über Aufrüstung. Auch das muss man regierung herunterspielen, ein wenig zur Aufklärungsehr deutlich sagen. beitragen. Im Moment finden Protestkundgebungen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) -versammlungen statt. Zum Beispiel wurde die Minister- präsidentin wie auch ich eingeladen, aus diesem Grunde Wir wollen eine Welt frei von Massenvernichtungswaf- nach List auf Sylt, der nördlichsten Gemeinde Deutsch- fen – das hat jüngst auch der Bundeskanzler deutlich ge- lands, zu kommen. Wir haben es vorgezogen, hier zu sein macht – und frei von ihren Trägern. Dann erübrigen sich und uns hier für unsere Standortgemeinden einzusetzen. nämlich teure Abwehrsysteme, die viel Geld verschlingen Betroffen sind zum Beispiel auch Schleswig oder Hohen- und deren Nutzen zumindest zweifelhaft ist. lockstedt. Gemeinsam werden wir für Schleswig-Holstein Hier möchte ich dem Kollegen Gehrcke auch etwas Forderungen stellen. Das verstehen wir unter einer ver- sagen, was ich kürzlich schon Frau Lippmann gesagt nünftigen Politik im Sinne des Ganzen. habe. Wenn er behauptet, die Bundeswehr werde zu einer weltweiten Interventionsarmee umgebaut, Herr Breuer hat gesagt, man würde jetzt so unglaublich viel abbauen und alles sei doch so schlimm. Ich möchte (Wolfgang Gehrcke [PDS]: Das sagt daran erinnern, dass beispielsweise für die Dasa ein Scharping!) Konzept mit dem Namen Dolores erstellt wurde. Dem- dann entgegne ich ihm darauf, dass er entweder nicht nach sollten die Arbeitsplätze von 60 000 Beschäftigten (B) weiß, was eine weltweite Interventionsarmee ist – das(D) dieser Firma auf einmal abgebaut werden, um ein einziges nehme ich einmal an –, oder er behauptet etwas wider bes- Ziel zu verfolgen. Dieses Ziel hieß Shareholder-Value. seres Wissen. Die Bundeswehr beschränkt sich auf das, (Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Um was sie ist, nämlich eine Stütze der gemeinsamen Vertei- die Firma überhaupt zu erhalten!) digung des Bündnisses – sonst nichts. Hinterher wurden aufgrund der Konjunkturlage nur (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hildebrecht 40 000 Arbeitsplätze abgebaut. Es ist aber so, dass Sie hier Braun [Augsburg] [F.D.P.]) im Hause überhaupt kein Wort des Bedauerns für diese Unsere Bundeswehr muss zusammen mit den Armeen Menschen, die sofort entlassen wurden, geäußert haben. der europäischen Partner die Fähigkeit besitzen, eigen- Hier sprechen Sie angesichts der Tatsache, dass der Bun- ständig auf krisenhafte Entwicklungen aller Art zu rea- desminister der Verteidigung den zivilen Bereich bis 2010 gieren. Deswegen muss sie umgebaut werden. insgesamt an die Notwendigkeiten angleichen will, von unsozialen Maßnahmen. Dies ist nicht der Fall. (Wolfgang Gehrcke [PDS]: Das sage ich doch!) (Beifall bei der SPD – Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Es gibt eine besondere Fürsorgepflicht!) Das haben die Regierungschefs in Nizza beschlossen. Die Struktur der Bundeswehr muss selbstverständlich auf Herr Breuer, Sie haben zu Recht gesagt, dass die De- diese Aufgaben ausgerichtet werden. batte der sicherheitspolitischen Grundlage entbehre. Ich möchte Sie aber daran erinnern, dass Sie eine Debatte Der Kollege Merz – er war gerade noch da – darüber nie geführt haben. Wir waren immer dazu bereit, (Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diese Debatte zu führen. Sie haben es jahrelang versäumt. NEN]: Der ist auf Sand gebaut!) Seitdem es eine rot-grüne Regierung gibt, wurde wenigs- tens versucht, hier im Hause – wie heute – und auch in den hat heute den dritten Versuch unternommen, sich als Si- Ausschüssen diese Debatte zu führen. Das werden wir cherheitspolitiker zu profilieren. Es ist, um es vornehm auch weiterhin tun. auszudrücken, bei dem Versuch geblieben. (Peter Zumkley [SPD]: Allerhöchstens! – Deutsche Sicherheitspolitik ist zugleich immer eu- Johannes Kahrs [SPD]: Blamiert hat er ropäische und atlantische Sicherheitspolitik. Das darf sich!) man nie aus dem Auge verlieren. Wenn wir die Bun- deswehr der Zukunft schaffen wollen, dann muss sie folg- Er hat sich zum Beispiel über Neumünster geäußert. Er lich auch ihren europäischen und atlantischen Aufgaben hat bloß eines vergessen – die Kollegin Beer hat darauf 14706 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Manfred Opel (A) hingewiesen –: Neben Neumünster liegt Boostedt. Wenn Paul Breuer (CDU/CSU): Herr Kollege Opel, könnte (C) man das nicht als Einheit sieht, dann kommt man natür- der Unterschied zwischen der Zeit Ende der 90er-Jahre lich zu den Fehlschlüssen, die er hier vorgetragen hat – und heute möglicherweise erstens darin liegen, dass die übrigens auch der Kollege Börnsen; aber ihm sehe ich das Kassenlage wirklich besser geworden ist? Das ist, glaube nach. So viel Ahnung von den Interna der Bundeswehr hat ich, eindeutig. er nicht. (Lothar Mark [SPD]: Wie kommt denn das?) (Johannes Kahrs [SPD]: Er hat kein Konzept!) Könnte der Unterschied in der verteidigungspoliti- Dann hat Herr Merz noch gesagt, der rot-grünen Koali- schen Debatte, was die Finanzen angeht, zweitens tion sei ein gut bestelltes Haus übergeben worden. Jetzt möglicherweise darin liegen, dass es damals innerhalb der möchte ich aus einer Zeitung zitieren. Dort heißt es: Koalition von CDU/CSU und F.D.P. Politiker gab, die gesagt haben: „Wir müssen in der Finanzpolitik Verant- Vor diesem Hintergrund warnte der verteidi-wortung zeigen“, und es heute möglicherweise in Ihren gungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Reihen niemanden gibt, der Verantwortung zeigt? Das ist Paul Breuer ... davor, daß Deutschland nur nochder Vorwurf, den ich Ihnen mache. „eine Sicherheitspolitik nach Kassenlage“ betreibe ... (Lachen bei der SPD) Als Folgen einer solchen Sparpolitik befürchtet Breuer: Der ... festgelegte Bundeswehr-Umfang wäre „nicht zu finanzieren“. Eine weitere Absenkung Manfred Opel (SPD): Verehrter Herr Kollege Breuer, des Personalumfangs dürfte nicht zu umgehen sein. es hat niemand behauptet, dass wir im Geld schwimmen; am wenigsten der Bundesminister der Verteidigung. Er (Paul Breuer [CDU/CSU]: Das, was die Grü- hat die tatsächliche Lage immer sehr deutlich gemacht. nen fordern!) Ich möchte Sie nur daran erinnern, dass wir jedes Jahr Eine „erneute Standortdebatte mit Standortauflö-82 Milliarden DM nur für Zinszahlungen für die Schul- sung“ würde notwendig. den, die Sie uns hinterlassen haben, ausgeben. Das ist fast Das hat der Kollege Breuer am 30. Juni 1996 in der „Welt das Doppelte des Verteidigungshaushalts. am Sonntag“ gesagt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Heiterkeit bei der SPD – Lothar Mark [SPD]: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wo er Recht hat, hat er Recht!) Das ist Ihre Erblast, die wir heute auch zusammen mit der Wenn Herr Merz dann sagt, Sie hätten ein gut bestelltes Bundeswehr abarbeiten müssen. Ich bin stolz darauf, dass (B) Haus übergeben, dann leidet er entweder unter Wahr-die Bundeswehr das mitmacht und darunter nicht zu sehr (D) nehmungsstörungen oder er hört nicht auf Sie, Herrzu leiden hat. Breuer. Ich möchte schließen mit drei Bitten. Erstens. Ich bitte (Gernot Erler [SPD]: Ich fürchte, das ist der die Landesregierungen und die Kolleginnen und Kolle- gen, die Stellungnahmen, die Minister Scharping erbeten Fall!) hat, mit Augenmaß abzugeben und nicht öffentlich großen Da müssen Sie sich schon entscheiden. Wind zu machen. Es sollte tatsächlich versucht werden, einen konstruktiven Beitrag zu leisten. Der Bundesminis- Dann hat Herr Merz – das muss ich hier einfach sagen, ter der Verteidigung hat angeboten, dass er konstruktive weil das auch qualifiziert – davon gesprochen, dassVorschläge entsprechend aufnimmt. 30 000 Schülerstellen mitgezählt worden sind. Er weiß wahrscheinlich gar nicht, was das ist. Die Schülerstellen Zweitens habe ich die Bitte, nicht etwas zu fordern, sind derzeit in die Dienstposten integriert, die im Haushalt was ganz offensichtlich unsinnig ist. Das ist hier heute ausgewiesen sind; das können Sie jederzeit nachlesen. mehrfach geschehen. Herr Breuer, ich habe Sie zitiert; Sie Wir machen endlich das, was die Truppe und übrigens haben es in Ihrer Zwischenfrage sogar verteidigt. Sie auch der Bundeswehr-Verband seit langem fordern: Wir haben sehr deutlich gemacht, dass die Bundeswehr den weisen die 22 000 Schülerstellen gesondert aus. Das ist neuen Gegebenheiten angepasst werden muss. Helfen Sie eine vernünftige Maßnahme. also mit, sie anzupassen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Die dritte Bitte richte ich an den Bundesminister der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- Verteidigung, Rudolf Scharping. Ich bitte ihn, die Stel- lege Opel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen lungnahmen, die zum Teil mit viel Herzblut geschrieben Breuer? worden sind, ernst zu nehmen – auch in Ihrem Stab – und sie in das Konzept einzuarbeiten. Ich gehe davon aus – das haben Sie zugesagt, Herr Bundesminister der Verteidi- Manfred Opel (SPD): Herr Präsident, mit größtem gung –, dass Verbesserungsvorschläge aufgenommen Vergnügen. werden und Verbesserungen auch möglich sind. Darauf vertrauen wir; darauf vertraut die Bundeswehr. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Bitte Wir sind sehr dankbar dafür, dass wir einen Minister schön, Herr Breuer. haben, der in der Lage ist, die Gefühle der Menschen, der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14707

Manfred Opel (A) Familien und auch der Standortgemeinden aufzunehmen. Zu der Großen Anfrage der Fraktion der CDU/CSU(C) Das hat er immer wieder bewiesen. Darauf sind wir stolz. liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS vor. Wir hoffen, dass diese Reform über diesen Weg zu einem Weiterhin liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der guten Ende kommt. F.D.P. zu ihrer eigenen Großen Anfrage vor. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die DIE GRÜNEN – Lothar Mark [SPD]: Sehr Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen guter Beitrag!) Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Ich Kollegin Margrit Wetzel von der SPD-Fraktion das Wort. schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Entschlie- Dr. Margrit Wetzel (SPD): Herr Präsident! Liebe Kol- ßungsanträge auf Drucksachen 14/5220 und 14/5236 zur leginnen und Kollegen! Wir führen heute eine Debatte federführenden Beratung an den Verteidigungsausschuss über die Ostseeregion. Ich denke, es ist wichtig, zunächst und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den einen Schwerpunkt bei der wirtschaftlichen Entwicklung Haushaltsausschuss und den Ausschuss für die Angele- zu setzen. Handel und wirtschaftliche Entwicklung sind genheiten der Europäischen Union zu überweisen. Gibt es nämlich eine der wichtigsten Grundlagen auch für Frie- dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. den und Sicherheit, für soziale und kulturelle Achtung so- Dann sind die Überweisungen so beschlossen. wie für politische Stabilität. Deutschland ist für einige Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 c sowie Länder der wichtigste Handelspartner im Netzwerk der Zusatzpunkt 8 auf: Ostseeanrainerländer. Damit sind wir auch Motor in den anderen uns verbindenden Sektoren; denn in Länder, mit 15 a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten denen wir handeln, reisen wir. Das fördert nicht nur den Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Gunnar Uldall, beidseitigen Tourismus mit seinen positiven wirtschaftli- Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und derchen Begleiterscheinungen, sondern auch das Verstehen Fraktion der CDU/CSU der vielfältigen Kulturen und Sprachen, die sich rund um die Ostsee begegnen. Frieden und Sicherheit, kulturelle Die Ostseeregion – Chancen und Risiken ei- Beziehungen und soziale Entwicklung aber sind wesent- ner Wachstumsregion von zunehmender liche Voraussetzungen für die Verfestigung der regionalen weltweiter Bedeutung Identität, die wir gemeinsam als Wachstumsregion Ostsee – Drucksachen 14/2293, 14/4460 – entwickeln wollen. (B) (D) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Es geht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- CDU/CSU – ich darf in diesem Zusammenhang an die nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- Einbringung Ihrer Große Anfrage erinnern –, nicht um ordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Gunnar eine deutsche Strategie für die Ostseeregion, sondern Uldall, Dr. Bernd Protzner, weiterer Abgeordne- darum, gemeinsam in guter Kooperation eine europäische ter und der Fraktion der CDU/CSU Politik der aktiven Gestaltung des Nordens mit unseren Initiative zur Stärkung der Ostseeregion Partnerländern voranzutreiben. Das ist es, wozu unsere Regierung den Vorsitz im Ostseerat aktiv nutzt; das ist es, – Drucksachen 14/3293, 14/4573 – woran die nördlichen Bundesländer – Frau Simonis wird Berichterstattung: uns noch Beispiele dafür geben – in täglicher Praxis ar- Abgeordnete Margareta Wolf (Frankfurt) beiten. Wir wollen die Ostsee selbst als das pulsierende Herz der Region begreifen. c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Lebensader der Wirtschaft sind die Verkehrswege. Die Jürgen Koppelin, Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Straßenverbindungen sind durch die großen Brücken- Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion bauwerke erheblich verbessert worden. Aber wir der F.D.P. brauchen Straßen und vor allem Schienenwege rund um Ostseepolitik der Bundesregierung die ganze Ostsee als leistungsfähiges Verkehrsnetz, das – Drucksachen 14/3424, 14/4026 – die Schnitt- und Umschlagsstellen der Ostseehäfen verbindet und schnelle Anschlüsse der Verkehrswege ins ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Franz Hinterland ermöglicht. Übrigens nicht nur das Hinterland, Thönnes, Dr. Margrit Wetzel, Dr. Ditmarauch der Nord-Ostsee-Kanal verdient hier Erwähnung, ist Staffelt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion er doch schließlich eine der Hauptschlagadern des Han- der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz dels zwischen der Ostseeregion und Übersee. (Leipzig), Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNIS- Die Ostsee hat nichts Trennendes mehr. Sie ist ein SES 90/DIE GRÜNEN verbindendes Meer, das der ökologisch unbedenklichste und sicherste Verkehrsweg überhaupt ist. Für Handel und Die Entwicklung der Ostseeregion nachhaltig Tourismus quer über die Ostsee und an den Küsten sind stärken und bleiben die Schiffe mit ihren vielfältigen Mög- – Drucksache 14/5226 – lichkeiten des Massentransports, der Spezialtransporte, 14708 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Dr. Margrit Wetzel (A) der High-Speed-Beförderung, der Fähren, aber auch der tariergruppe für seine Aktivitäten in diesem Zusammen- (C) komfortablen Kreuzfahrt im touristischen Bereich un- hang. verzichtbar. Deshalb sind wir froh darüber, dass die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Regierung erfolgreich beim Einsatz für mehr Schiffs- DIE GRÜNEN – Walter Hirche [F.D.P]): Wieso sicherheit war. Wir unterstützen sie energisch darin, die eigentlich „unheimlich“?) weitere Förderung des europäischen Schiffbaus vo- ranzutreiben. Dies ist für die gesamten Ostseeanrainer- Regierung und Koalitionsfraktionen sagen Ja zur länder wichtig. Wachstumsregion Ostsee. Es läuft schon so viel anderes: beispielsweise der Aus- Ich bedanke mich fürs Zuhören. tausch von Studenten und die Kooperation von Forschungs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einrichtungen als Teil der Wissensgesellschaft. Im Zeital- DIE GRÜNEN) ter der elektronischen Kommunikation geht es um internationale Kompatibilität von Geodaten und um die Erfassung hydrographischer Daten. Wir freuen uns über Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als die Unterstützung der Institutionen der Wirtschaft beim nächster Redner hat der Kollege Wolfgang Börnsen von Aufbau der kleinen und mittelständischen Unternehmen in der CDU/CSU-Fraktion hat das Wort. Osteuropa und Kaliningrad. Aber das reicht noch nicht. Die Unternehmen der ver- Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Herr schiedensten Ostseenationen können untereinander auch Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich aner- jungen Berufstätigen die Chance geben, für eine gewisse kenne, dass heute, bei der dritten Debatte um die Ostsee- Zeit in den Nachbarländern zu arbeiten. Das erweitertregion, zum ersten Mal der Vorsitzende des Ostseerates, ihren Horizont, fördert das Verständnis für verschiedene der Außenminister, persönlich anwesend ist. Ich habe Kulturen, Arbeits- und Lebensweisen sowie für soziale zweimal seine Abwesenheit kritisiert und will deshalb Zusammenhänge und ist auch Inbegriff des lebenslangen ausdrücklich anerkennen, dass er heute mit dabei ist, was Lernens. mich aber nicht daran hindern wird, zu der bisherigen Ost- seepolitik kritisch Stellung zu nehmen. An der Stelle fällt mir ein: Haben wir uns eigentlich schon einmal über gemeinsame Frauenförderung in der (Walter Hirche [F.D.P.]: Dann kann er es ja Ostseeregion unterhalten? Ich glaube, nicht wirklich. hören! Das ist gut!) (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Darauf warten wir!) – Das ist prima; er wird auch darauf antworten. (B) – Schön, dass Sie darauf warten, Herr Koppelin; das habe Die augenblickliche Ostseepolitik gleicht, ob man will (D) ich mir gedacht. oder nicht – wir kennen uns ja beide aus in dem Bereich, Franz Thönnes –, eher einem kastrierten Kater: Der wird Die Ostseeregion bietet Chancen über Chancen. Wir immer dicker und was ihm fehlt, ist die Potenz. sollten sie annehmen und täglich weiter ausbauen. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Umweltschäden halten sich nicht an nationale Gren- zen. Hier bestehen ebenfalls Chancen, sie zu bewältigen. Seit dem 1. Juni 2000 hat Deutschland die Präsi- Ich denke, die Ostseeregion ist das beste Beispiel für ein dentschaft im Ostseerat. Ich wünschte, ich könnte sagen, echtes gemeinsames Küstenzonenmanagement – nicht Herr Außenminister, Sie hätten die Aufgabe mit Kraft und so, wie es auf EU-Ebene diskutiert wird, sondern wirklich Kreativität angetreten. im Hinblick auf ein gemeinsames Verstehen und Be- (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Hat er doch!) greifen der Zusammenhänge von Natur-, Umwelt-, Küsten- und Klimaschutz. Aber Fehlanzeige. Es gibt keine Ostseekooperation mit einem Konzept. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Es gibt wenig Pläne, viel Lyrik und keine genaue Aus- Die Nutzung gemeinsam vorangebrachter umwelt- richtung der Ostseepolitik. schützender Technologien, die auch den in ihrer wirt- schaftlichen und technischen Entwicklung hinterher- Jetzt, acht Monate später, kann man das feststellen. Die hinkenden Ländern sofort zur Verfügung stehen müssen, Administration hat gewollt, doch der politische Wille hat kann den Begriff der nachhaltigen wirtschaftlichen Ent- gefehlt. Es ist klargeworden, dass man keine Vision hat, wicklung zur Leitidee der großen europäischen Wachs- diesen geteilten Musterraum in Europa in eine Vorzeige- tumsregion Ostsee machen, sozial, ökonomisch und öko- region umzuwandeln. logisch stark. (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Das ist selektive (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Wahrnehmung!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Fünf Punkte hat Außenminister Fischer den Parlamen- Deshalb danken wir – wenn ich das an dieser Stelle tariern der 9. Ostseekonferenz in Malmö vortragen lassen. sagen darf – Franz Thönnes als dem unheimlich aktiven Er selber hat absagen müssen, war nicht anwesend – das Vorsitzenden der Deutsch-Skandinavischen Parlamen- erste Mal, dass der Vorsitzende des Ostseerates nicht an- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14709

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) wesend war. Das war ein Affront gegenüber elf Parla- Vo n der jetzigen Regierung ist nicht einmal (C) die menten. Darüber kann ich nicht lachen. Meine Freunde in Fortschreibung des Bundesverkehrswegeplans in die Tat Dänemark, Schweden und Norwegen haben das als aus- umgesetzt worden und es kommt auch nicht dazu. Der gesprochen unpassend empfunden. Deren Außenminister Bundesverkehrswegeplan wäre wirtschaftlich und waren da. rechtlich notwendig und international geboten. Der Plan wird bis nach der Bundestagswahl ausgesetzt und damit (Beifall bei der CDU/CSU) herrscht auch Stillstand bei dringenden Strukturmaßnah- Das wirtschaftliche Gefälle zwischen Ost und West, so men für die Ostseeregion. Oder wird es noch zu einem hat er mitteilen lassen, wolle man abbauen. Das war die Bundesverkehrswegeplan kommen? Alle Informationen Ankündigung. Tatsächlich ist die Schere zwischen Reich sagen: Nein. Stillstand herrscht in der Ostseeregion hin- und Arm im Ostseeraum weiter aufgegangen. Das Brut- sichtlich dringender Strukturmaßnahmen. Das ist das toinlandsprodukt steigt im Westen und stagniert im Osten. eigentliche Problem. In Lettland verdient ein Arbeitnehmer im Jahr durch- (Beifall bei der CDU/CSU) schnittlich 3 800 DM, in Finnland 40 000 DM. Das ist mehr als zehnmal so viel. Ein weiteres Beispiel für eine Ostseepolitik im Rück- wärtsgang ist, Herr Außenminister – auch wenn Sie sich (Franz Thönnes [SPD]: Das soll man in einem darüber amüsieren –, Ihr Programm „Zwei Stunden in Jahr im Ostseerat ändern? Das ist ja toll!) 2000“, das Sie zur Grenzabfertigung aufgelegt haben. Das bedeutet, dass wir mit der Wirtschaftsförderung im Damit soll die Grenzproblematik – an den östlichen Osten ansetzen müssen. Es gibt von uns kein Direktpro- Grenzen gibt es lange Staus – gelöst werden. Was hat gramm zur Förderung des Ostseeraumes. Schweden inves- man jetzt gemacht? Das Programm ist geblieben, aber tiert dafür 1 Milliarde DM im Jahr. statt „Zwei Stunden in 2000“ hat man es nunmehr „Zwei Stunden in 2001“ genannt. Es wurde zwar das Datum (Franz Thönnes [SPD]: Die haben auch nicht geändert, damit aber nicht die Bürokratie bei der Grenz- so viele Haushaltsschulden!) abfertigung abgebaut. 40 Stunden stehen Brummis an Bei uns: Fehlanzeige. In der Antwort auf unsere Große An- der Grenze. frage sagt die Bundesregierung sogar, sie erwäge derzeit (Lothar Mark [SPD]: Das haben wir so über- nicht, ein eigenes Regionalprogramm für die Ostseeko- nommen!) operation aufzulegen. Franz Thönnes, Sie und viele andere haben das gewollt und gewünscht. Wir sind Haupt-Das ist für Menschen und Wirtschaft eine Zumutung. handelspartner aller Länder. Aber um es auch in Zukunft Nicht das Datum ist zu ändern, sondern die Grenzbüro- zu bleiben, wird derzeit nichts getan. Das ist kurzsichtig. kratie gilt es abzubauen. Da ist mehr zu tun, als nur da- (B) rüber zu reden. (D) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Richtig!) (Lothar Mark [SPD]: Ja, das tun wir!) Die überwiegende Zahl der Programme zur Stärkung der jungen Demokratien in diesem Raum – von INTER- Ich spreche in diesem Zusammenhang auch die Hilfs- REG bis TACIS – kommt aus Brüssel, nicht aus Deutsch- organisationen an. Viele, die hier sitzen, sind selbst en- land. Aber die östlichen Ostseeanrainer kommen damit gagiert, den baltischen Staaten wirklich Hilfe zukommen nicht aus. Wir müssen selbst etwas tun. zu lassen. Weder Kirchen noch Jugendverbände haben zurzeit Chancen, ihre Hilfsgüter über die Ostsee zu brin- Aber es geht nicht nur um die finanzielle Förderung. gen. Es wird ihnen immer schwerer gemacht, die Büro- Wir sind leider auch bei derstrukturellen Förderung kratie zu überwinden. passiv. Der Ausbau der Verkehrswege rund um die Ostsee stagniert: bei der Straße, bei der Schiene, beim (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ Flugverkehr. Dies gilt auch für unsere gemeinsame DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) Forderung, mehr Verkehr von der Straße auf das Wasser Damit wird Hilfsbereitschaft unterbunden. Wir appellie- zu bringen, „From Road to Sea“ umzusetzen. ren, das Gegenteil umzusetzen, nämlich die gute Tat Tau- (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Machen wir doch!) sender von Menschen zu fördern, damit Hilfsmaßnah- men auch an ihrem Ziel ankommen. Bei der Fehmarnbelt-Querung gilt das Gleiche. Unser nördlicher Nachbar Dänemark schafft in einem Jahrzehnt Gut 160 Milliarden DM umfasst der durchschnittliche den Bau zweier großer Brückenprojekte, über den Großen jährliche Handel Deutschlands mit dem Ostseeraum. Er Belt und über den Oeresund. Wir schaffen Sprechblasen. hat den gleichen Umfang wie der Handel mit den Ver- einigten Staaten und Japan zusammen. Dies ist ein (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Hört! Hört! – Riesenpotenzial. Christian Sterzing (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die haben auch mehr Inseln! – Franz (Franz Thönnes [SPD]: Dann kann es ja mit Thönnes [SPD]: Was habt ihr in 16 Jahren ge- den Grenzen nicht so schlimm sein!) macht? Wo sind die Brücken der 16 Jahre? – Das Entwicklungspotenzial wird von den Experten für Lothar Mark [SPD]: Sag mir, wo die Brücken die nächsten zehn Jahre auf 100 Prozent bis 250 Prozent sind, wo sind sie geblieben? – Dr. Uwe Küster geschätzt. Das heißt, es ergeben sich große Chancen für [SPD]: Seid still, er muss doch sein Programm Betriebe in unserem Land und damit auch für unsere abspulen!) Arbeitsplätze. 14710 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Ich denke, es ist al- der Ostsee wieder mehr und nicht weniger werden. So(C) les so schlimm! Was denn nun? Das ist doch ein steht es in der Antwort auf unsere Anfrage. Wir sind der Widerspruch! Sollen wir denn mehr als Auffassung, dass man nicht von dem Ziel, eine saubere 250 Prozent erreichen?) Ostsee zu erreichen, abrücken darf. Darum müssen wir uns gemeinsam bemühen. Deutschland muss als Drehscheibe zwischen Nordost- und Mitteleuropa eine aktive Rolle in der Ostseeinfra- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE strukturpolitik einnehmen. Ich will Ihnen zeigen, wie ak- GRÜNEN]: Dafür sind wir auch!) tiv Ihre Rolle dagegen ist: Sie lassen es zu, dass ein Güter- Der Außenminister hat in Malmö versprechen lassen, transport per Bahn von Kopenhagen nach Berlindass es zu einer Stärkung der Zivilgesellschaft kommen 18 Stunden und per LKW 8,5 Stunden dauert. wird. Er hat ausdrücklich betonen lassen, es müsse eine (Lothar Mark [SPD]: Wie lange hat es vorher Beteiligung der Parlamente geben. Die Wirklichkeit gedauert? – Franz Thönnes [SPD]: Wer war ei- sieht anders aus. Bis auf die jährliche Ostseeparlamen- gentlich für die Bahn verantwortlich?) tarierkonferenz gibt es für die 100 Parlamentarier aus elf Ländern wenig zu sagen im Ostseeraum. Während die Eu- Das ist ökonomisch und ökologisch unvertretbar. Da muss ropäische Kommission am Tisch des Ostseerates sitzt, ist man ansetzen. Sie wollten das umsetzen, haben das bisher die Parlamentarierkonferenz ausgeklammert. aber nicht erreicht. Ich habe den Eindruck, dass es alle Beteiligten – dazu (Beifall bei der CDU/CSU) gehört auch Franz Thönnes – Anerkennung sollte man den IHK rund um die Ostsee (Dr. Uwe Küster [SPD]: Loben Sie ihn mal!) zollen, für nötig halten, dass die Ostseekonferenz auch Sitz und (Franz Thönnes [SPD]: Den Gewerkschaften Stimme im Ostseerat erhält. Wenn es nicht nach zehn Jah- auch!) ren zu einer Reform kommen kann, dann frage ich: Wann die in Eigeninitiative einen Wirtschaftsring um die Ostsee denn sonst? Es ist jetzt an der Zeit, das umzusetzen, was errichten. Die IHK Kiel ist wesentlicher Motor im Rah- der Außenminister selbst wünscht. men dieser Initiative. Die Regierung lässt sich bei der Ostseepolitik leider Der Außenminister hat versprechen lassen, die Wis- vertreten: in der Finanzierung durch Programme der Eu- sensgesellschaft in der Ostseeregion zu stärken. Es hat in ropäischen Union; ferner verlegt sie eine Reihe von Auf- den letzten acht Monaten keine wirkliche Initiative dazu gaben auf Nichtregierungsorganisationen, ohne selbst zu gestalten, und sie delegiert die Ostseearbeit mehr und (B) gegeben. Nicht einmal die Eurofakultät in Kaliningrad ist (D) zu nennen, deren Grundstock bereits 1992 gelegt worden mehr auf die norddeutschen Bundesländer. ist. Nein, wir fordern eine wirklicheBildungsoffensive Die norddeutschen Bundesländer waren zwar schon für den Ostseeraum, für die Universitäten im Ostseeraum. immer aktiv – hier möchte ich den Kollegen Walter ganz Dort gibt es über 100 Hochschuleinrichtungen, deren Ver- besonders nennen –, doch die Kompetenz der Länder netzung ebenso notwendig ist wie ein Ostseehoch-reicht nach unserer Verfassungslage dafür nicht aus. schulgipfel. Die Anerkennung von privaten Initiativen Schleswig-Holstein ist nun wirklich kein gleichberech- wie der Professor-Petersen-Stiftung, die junge Wis-tigter Partner von Russland, Polen und Schweden. Die senschaftler in die Lage versetzen, im Ostseeraum aktiv Bundesrepublik ist es. Deswegen ist es hier nicht möglich, zu sein, ist wichtig. Aufgaben zu delegieren. Es ist falsch, dass die Bun- Der Außenminister hat im Ostseerat versprechendesregierung außen- und wirtschaftspolitische Belange lassen, die Ostseeländer zu stärken. Er hat auf der Kon- auf die Schultern der Bundesländer abwälzt. Das ist zwar ferenz mitteilen lassen, er hoffe, dass der EU-Beitritt der vor Ort eine prima Sache, aber es geht nicht an, dass man ersten Gruppe der Kandidaten am 1. Januar 2005 vollzo- die Aufgaben trennt. gen werde. Das kann man wörtlich nachlesen. Er soll Die Ostseepolitik bleibt eine nationale Aufgabe. So nicht hoffen, er soll handeln. Vielleicht wird er es heute wird sie von allen Ostseeanrainern praktiziert. Sie alle korrigieren und sagen, wie er sich das Konzept für alle wissen, dass die existenziellen Herausforderungen wie Ostseeanrainer vorstellt. Nach unserer Auffassung, Herr Sicherheitspolitik, Ökologie, Demokratieförderung, Auf- Außenminister, gehören die baltischen Staaten gemein- bau von Verkehrsinfrastruktur, Bekämpfung organisierter sam in die Europäische Union und nicht, wie es IhrKriminalität und Menschen- und Minderheitenrechte für Vertreter gesagt hat, in unterschiedlichem Tempo. Wir alle Staaten Themen sind, die von den nationalen sind auf jeden Fall dafür, dass die Ostseeländer gemein- Regierungen und ihren Parlamenten angepackt werden sam Mitglieder der Europäischen Union werden. müssen, aber nicht von Landesregierungen. Sie haben mitteilen lassen, dass der Ostseeraum zu Auch der Sachverhalt, dass die Lebenserwartung in einer Modellregion der Nachhaltigkeit werden soll. In Skandinavien durchschnittlich bei 80 Jahren liegt – in Ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage steht das Gegen- Russland liegt sie bei 57–, muss uns einen Anstoß geben, teil. Die Ostsee ist leider fern davon, ein ökologischer darüber nachzudenken, weil dieser Unterschied auch Modellraum zu sein. Zunehmende Planktondichte, ein Wanderungsbewegungen auslösen könnte. Wer das nicht sinkendes Artenspektrum und hohe Schadstoff- undwill, muss zu einer aktiven Ostseepolitik kommen, muss Nährstoffeinträge sind nur ein paar der Probleme, die in dazu beitragen, dass die Probleme gerade bei den östli- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14711

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) chen Ostseeanrainern abgebaut werden, dass die jungen gangenen 16 Jahren hatten. Dieser Verantwortung müssen (C) Demokratien gefördert werden. Sie sich stellen. Die Bundesregierung ist dabei, der Ostseepolitik den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rang einer Regionalpolitik zuzuweisen. und bei der SPD – Lothar Mark [SPD]: 16 Jahre nichts getan, überhaupt nichts!) (Lothar Mark [SPD]: Nein! Das stimmt nicht! Ganz im Gegenteil!) Im Übrigen finde ich, Sie machen einen Riesenfehler. Sie tun gerade so, als wenn es sich bei der Ostseeregion – Das geht nicht; sie darf nicht degradiert werden. Damit ich meine nicht nur die deutschen Bundesländer; ich verfährt die rot-grüne Bundesregierung nach der Devise, meine nicht nur Ihr eigenes wunderbares Bundesland Schecks auf eine Bank zu ziehen, bei der sie kein Konto Schleswig-Holstein; ich meine auch unsere skandinavi- hat. schen Nachbarn – um die Problemregion in der EU han- Danke. deln würde. Das ist doch nicht der Fall. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Christine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lucyga [SPD]: Anhaltender starker Beifall!) und bei der SPD) Vielmehr ist es eine Region mit enormen Chancen und mit Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Für die einem enormen Wachstumspotenzial. Es ist eine der zu- Bundesregierung hat jetzt der Bundesminister Josephkunftsfähigsten und wird in Zukunft auch eine der reichs- Fischer das Wort. ten Regionen in der Europäischen Union sein. Ich wollte, wir hätten in den anderen Regionen die Probleme, die wir im Ostseeraum haben – mit einigen Ausnahmen; darauf Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Börnsen, komme ich gleich zu sprechen –, wir haben es heute und auch in den vergangenen Tagen (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: mehrfach erlebt, dass Opposition weiß Gott ein schwieri- Siehst du! – Ulrich Adam [CDU/CSU]: Sie ken- ges Geschäft ist, dass man verzweifeln kann und das Ge- nen Mecklenburg-Vorpommern nicht!) dächtnis ausschalten muss. dann hätten wir wenig Probleme. (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie haben es (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- schon lange ausgeschaltet! – Hans-Christian SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], zur (B) CDU/CSU gewandt: Wo sind die Brücken, die Herr Kollege Börnsen, Sie haben auch dem Kollegen (D) Sie gebaut haben?) Scharping vorgehalten – ich sage Ihnen, ich weiß, wie schwer das Oppositionsgeschäft ist; ich fordere Sie aber Denn Sie haben ja sehr lange regiert. auf: Seien Sie nicht so ministerfixiert –, dass die Parla- Man könnte geradezu meinen, Sie hätten an die rot- mentarische Staatssekretärin die Bürgermeister empfan- grüne Bundesregierung den Vorwurf gerichtet, dass es uns gen habe; mir werfen Sie vor, dass ich bei der von Ihnen in zwei Jahren nicht gelungen sei, im Norden ein europä- erwähnten Konferenz nicht gewesen bin. Sie sagen, das isches Brückenbauprojekt hinzubekommen. Wenn ichsei eine Missachtung gewesen. mich richtig entsinne – es tut mir Leid, dass ich Ihnen die- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: ses banale Argument entgegenhalten muss –, hat Ihre Par- Natürlich!) tei 16 Jahre regiert. Sie haben gesagt, die Dänen hätten es in zehn Jahren geschafft, zwei herausragende Projekte – Das war es natürlich nicht. Ich habe doch nicht zu Hause von europäischem Rang – ich selbst hatte die Gelegenheit, gelegen und war der Meinung: Ich muss mir den Börnsen über eines, die Oeresund-Brücke, zu laufen – hinzube- nicht anhören. – Vielmehr hatte ich dringende andere Ver- kommen. pflichtungen. Darüber hinaus möchte ich Ihnen sagen: Die Parlamentarischen Staatssekretäre sind ja Kollegin- (Franz Thönnes [SPD], zur CDU/CSU ge- nen und Kollegen von Ihnen. Es wird ja immer so getan, wandt: Wenn Sie weiter regiert hätten, hätte er als wären sie Vertreter minderen Ranges. Diese Institution schwimmen müssen!) ist aus der Mitte dieses Hauses eingerichtet worden. Wenn ich mich richtig entsinne, haben Sie, Herr Börnsen, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- das nicht geschafft. SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Sie haben das Problem der Verkehrsanbindung Schles- Es handelt sich dabei um Kolleginnen und Kollegen, die wig-Holsteins erwähnt. Wir alle haben das ja erlebt, dass selbstverständlich die Politik des Hauses vertreten. Das wir in Hamburg-Altona umsteigen mussten, weil Strecken hat doch mit Missachtung nichts zu tun. Der Staatsminis- nicht elektrifiziert waren; ich selber habe das x-mal auf ter muss mich ja auch an anderer Stelle vertreten. dem Weg in den Wahlkampf, zu politischen Veranstaltun- gen, bei privaten Besuchen oder Urlaubsfahrten erlebt. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das liegt doch nicht an der rot-grünen Bundesregierung. Peinlich war das Ganze! – Gegenruf des Abg. Vielmehr stellen Sie sich hier mit einem Wunschkatalog Lothar Mark [SPD]: Jeder Termin kann nur ein- hin und vergessen, dass Sie die Verantwortung in den ver- mal vom Minister wahrgenommen werden!) 14712 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Bundesminister Joseph Fischer (A) – Ich bekenne offen, Herr Kollege Börnsen: Es ist mir in Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: (C) den zwei Jahren bisher nicht gelungen, das alte theologi- Ja. sche Problem der Ubiquität zu lösen. Deswegen werde ich auch in Zukunft dann und wann vertreten werden müssen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Bitte Zur Sache: Ich warne davor, die Ostseeraumpolitik zu schön, Herr Börnsen. überladen. Wir werden die bestehenden Probleme, zum Beispiel das Sozialgefälle und das Gefälle im Hinblick Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Ich be- auf die Lebenserwartung der Bevölkerung von Russland danke mich, dass ich dazu eine Zwischenfrage stellen und der Bevölkerung der skandinavischen Länder, nicht kann. zuerst über die Ostseeraumpolitik lösen können. Herr Minister, ist Ihnen anhand Ihres Terminkalenders (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- auch deutlich geworden, dass Sie der Landtagspräsident SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) von Schleswig-Holstein bereits neun Monate vor Beginn Das wäre eine völlige Überfrachtung dessen, was ein sol- dieser Konferenz angeschrieben und gebeten hat teilzu- cher regionaler Ansatz leisten kann. nehmen? Er hat sechs Monate auf die Antwort gewartet. Auch in der ersten Antwort hat er keinen Hinweis auf die Wir sind sehr der Meinung, dass dieser Ansatz eine Botschafterkonferenz bekommen. Erst nachdem er noch große Zukunft hat. Allerdings sollten wir dabei, Herr Kol- einmal nachgefragt hat – Herr Arens ist ein engagierter lege Börnsen, nicht als Erstes nach neuenRegionalpro- Ostseevertreter –, hat er den Bescheid bekommen, dass grammen rufen. Wenn ich mich richtig entsinne, hat die Sie sich vertreten lassen würden. Das ist, so finde ich, ein neue Bundesregierung kein nationales Regionalpro-Zeichen dafür, dass Sie sich als Vorsitzender nicht um die gramm vorgefunden und dann eingestellt. Mitnichten! Belange dieser Konferenz gekümmert haben. Nachdem Sie jetzt in der Opposition sind, fordern Sie (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist plötzlich nach dem Motto „Opponieren kostet nichts“ ein richtig!) zusätzliches Regionalprogramm, wobei Sie genau wissen, dass die dazu erforderlichen nationalen Mittel angesichts der von uns zu leistenden Haushaltssanierung nicht vor- Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: handen sind. Das ist eine Form von, wie ich finde, sehr Herr Kollege Börnsen, Sie interessiert wohl die Botschaf- billiger Oppositionspolitik. terkonferenz nicht sonderlich. Ich will Ihnen die Gründe nennen, warum ich an der Ostseekonferenz nicht teilge- Bei der Bundeswehr, die man zum Ersatzteillager de- nommen habe: naturiert hat, ruft man jetzt nach mehr Geld. Gleichzeitig (B) fordert man, für den Ostseeraum und die Landwirtschaft (Walter Hirche [F.D.P.]: Die Botschafterkonfe- (D) sollten nationale Zusatzmittel zur Verfügung gestellt wer- renz hätte auch zu einem anderen Zeitpunkt den, das Wunder Steuersenkung sollte finanziert werden stattfinden können!) und am Ende sollte auch noch eine Sanierung der Staats- – Nein, hätte sie nicht. Sie war langfristig geplant. Das ist finanzen herauskommen. Das kann man im Parlament keine Kleinigkeit. – Angesichts der geplanten umfassen- von Wolkenkuckucksheim realisieren, aber nicht in die- den Reform des Auswärtigen Dienstes war es erstens un- sem irdischen Jammertal. Auch wenn man der CDU/CSU verzichtbar, diese Konferenz durchzuführen, und zwei- angehört, wird man das nicht schaffen. tens unverzichtbar, dass ich anwesend war. Also, akzeptieren Sie das doch einfach! Lassen Sie uns an die- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sem Punkt keinen Scheinkonflikt führen oder eine Herab- und bei der SPD – Wolfgang Börnsen [Böns- stufung vornehmen! Das Gegenteil davon ist richtig. trup] [CDU/CSU]: Aber dann macht man keine Ankündigungen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich will Ihnen sagen, warum ich nicht auf dieser Ost- seekonferenz war. Ich habe mir die Termine heraussuchen Die EU-Osterweiterung bietet eine gewaltige lassen. Gleichzeitig war die erste Botschafterkonferenz Chance. Es wird jetzt zu einer Zwischenphase kommen; – sie war seit langem festgelegt –, die die Bundesrepublik danach wird die Ostsee faktisch zu einem EU-Binnen- Deutschland abgehalten hat. Sie hat am 4. und 5. Septem- meer werden. Ganz entscheidend wird es dabei darauf an- ber 2000 stattgefunden. Es war unverzichtbar, dass der kommen, dass wir Russland in seinen regionalen Interes- Bundesaußenminister in Person an dieser Botschafter- sen, und zwar vor allen Dingen unter den Gesichtspunkten konferenz teilgenommen hat. Das wollte ich hier nur ein- der Wirtschafts-, Wissenschafts- und Infrastrukturförde- mal betonen. Daran kann man sehen, wie haltlos Ihre Vor- rung, aber auch der Sicherheitspolitik – dies ist für mich würfe sind. ein sehr wichtiger Gesichtspunkt; Rüstungsfragen, Abrüs- tungsfragen und regionale Stabilitätsfragen spielen dabei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine große Rolle –, unterstützen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Wie vorsichtig wir dabei allerdings sein müssen, zeigt sich daran, dass die in der britischen Presse erschienene Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Zeitungsente, Deutschland wolle die Region Kalinin- Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen grad/Königsberg zurückhaben, dazu führte, dass mich Börnsen? verschiedene Kollegen am Rande des Allgemeinen Rates Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14713

Bundesminister Joseph Fischer (A) sofort darauf angesprochen haben, nach der Devise: Ist Damit ich nicht missverstanden werde: Für mich ist das (C) denn da was dran? Das heißt, gerade die Region Kalinin- kein Entweder-oder zwischen baltischen Staaten und Po- grad/Königsberg müssen wir bei unseren Nachbarn mit len. Ich möchte hier wirklich nicht missverstanden wer- der notwendigen historischen Sensibilität behandeln,den. ohne uns gleichzeitig zurückzuhalten, wenn es um ge- meinsame Entwicklungschancen und um die Integration (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: dieser Region in den Ostseeraum geht. Es geht um alle vier!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) – Ja, da kann ich Ihnen nur zustimmen. Es geht um alle vier. Für uns ist aber folgender Punkt ganz entscheidend – ich möchte die Kollegen darauf hinweisen –: Wir erle- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: ben natürlich gegenwärtig, dass die nordischen EU-Mit- Und gemeinsam!) gliedstaaten gleichzeitig mit der Frage der nördlichen Di- – Gemeinsam, wenn sie die Kriterien, die wir in Helsinki mension ernst machen. Das sind im Grunde genommen festgelegt haben, erfüllen. Es darf keine politische Ku- zwei parallele Ansätze. Das heißt, wir müssen verhindern, lanzentscheidung geben. Daran arbeitet die Bundesregie- dass hier Doppelstrukturen entstehen, die sich dann ge- rung. genseitig blockieren, und dass es zu einer Überfrachtung kommt. Aus meiner Sicht wird die Ostseekooperation erst Gegenwärtig liegt unser eigentlicher Schwerpunkt auf dann wirklich anlaufen, wenn die Ostsee faktisch ein EU- der EU-Osterweiterung. Die EU-Osterweiterung wird Binnenmeer sein wird. Dies wird im Zusammenhang mit der wichtigste Beitrag auch für Schleswig-Holstein, für dem Beitritt von noch größerer Bedeutung sein. Mecklenburg-Vorpommern und die anderen ostdeut- schen Bundesländer sein. Hierin liegt für unsere neuen Eine EU der 27 wird natürlich für die regionale Ko- Bundesländer und übrigens auch für die Grenzregionen operation eine ganz andere Bedeutung haben. Herr Kol- in Bayern und für Schleswig-Holstein die große Chance. lege Börnsen, ohne dass wir uns als Bund verabschieden Dies wird eine erhebliche Entwicklungsdynamik auslö- wollen, sehe ich den Regionalansatz der Bundesländer als sen. ganz entscheidend an. Das heißt nicht, dass wir uns aus der Verantwortung zurückziehen, im Gegenteil. Aber es In diesem Zusammenhang brauchen wir dann nicht ist doch unsere Stärke, dass wir Bundesländer mit höchst mehr groß über neue Strukturfonds, regionale Fördermit- unterschiedlichen Interessenausrichtungen haben. Bayern tel oder Ähnliches zu diskutieren. Diese brauchen wir im interessiert sich dafür weniger als Schleswig-Holstein, Zusammenhang mit den Grenzgebieten. Hier hat es diese Mecklenburg-Vorpommern und andere nördliche Bun- Bundesregierung durchgesetzt, dass im Zusammenhang (B) desländer. Dies ist ein großer Vorteil, weil wir dadurch bei mit der Erweiterung für die neuen Bundesländer und Bay- (D) der Kooperation flexibler sind und gleichzeitig im EU- ern als Beitrittsgrenzland ein neuer Fonds aufgelegt wird, Verbund in Verkehrsfragen, Bildungsfragen, Fragen der um eine regionale Strukturanpassung und um für einen Wissenschaftskooperation, der Wirtschaftsförderung und bestimmten Zeitraum eine, was die regionale Wirtschaft Wirtschaftskooperation eine ganz andere Flexibilität ha- betrifft, nicht konfrontative, sondern kooperative Lösung ben als etwa Berlin oder – wenn Sie noch höher gehen – zu ermöglichen. Die Bundesregierung ist bereit, diese Brüssel. Ich finde, hierin liegt eine große Chance. Chancen umfassend zu nutzen. Aber ich sage auch ganz Im Übrigen geht es auch umOrganisationsgrößen. offen: Schwerpunkt ist für uns jetzt wirklich, im Interesse Sie haben die baltischen Staaten und Dänemark erwähnt. aller Beteiligten die Erweiterung zu einem erfolgreichen Dies sind Staaten, die von der Größenordnung her durch- Abschluss zu bringen. aus in der Lage sind – auch was die Wirtschaftskraft be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN trifft –, mit unseren Bundesländern zu kooperieren. Ich sowie bei Abgeordneten der SPD) sehe hierin keine Alternative, sondern eine hervorragende Ergänzung. Ich kann nur nochmals betonen, dass die Bun- Dennoch ist die Stärkung der wirtschaftlichen Zusam- desregierung hierin einen ganz entscheidenden Punkt für menarbeit in dieser Region die große Zukunftschance. Zu unsere Außen- und vor allen Dingen für unsere Europa- den Infrastrukturprojekten hat auch gerade der Bundes- politik sieht. kanzler klargemacht, dass wir ein Interesse daran haben, die Verkehrsanbindung und hier vor allen Dingen die Hinsichtlich der Erweiterung um die baltischen Staaten Nord-Süd-Anbindung zu verbessern. Dagegen wird man stimme ich Ihnen zu. Entscheidend wird aber sein, dass wenig sagen können. sie die Kriterien von Stockholm erfüllen. Sie fordern, es solle mehr Verkehr auf die Schiene (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: kommen. Meine Güte! Wir haben die Bundesbahn nun Aber es geht um alle drei!) einmal so vorgefunden, wie sie ist. Wenn das jemand be- Jetzt geht es aber weiter: Es gibt einen noch wichtigeren dauert, dann diese Bundesregierung. Das können Sie Ostseeanrainer, den Sie nicht erwähnt haben, und zwar Po- glauben. Aber wir können die Dinge nicht schönzeichnen. len, der auch wirtschaftlich und politisch für uns von über- Sie sind lange genug schöngerechnet worden. Uns sind ragender Bedeutung ist. Das dürfen wir nicht vergessen. doch allen die Augen übergegangen, als wir von den De- fiziten erfahren haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Zu Großprojekten: Dort, wo ich zu Hause bin, in Wolfgang Gehrcke [PDS]) Frankfurt am Main, wurde ein milliardenschweres 14714 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Bundesminister Joseph Fischer (A) Großprojekt geplant. Es hieß „Frankfurt 21“. Diese gab es immer wichtiger werden wird. Das heißt, die Integration (C) auch noch woanders. dieser Staaten wird von großer Bedeutung sein. Ich glaube, das Regionalinstrument der Ostseekooperation (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: „Stuttgart 21“!) wird in der Außen- und Sicherheitspolitik und in all den Dies war alles nicht bezahlbar. anderen Fragen immer wichtiger. Die Bundesregierung (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Die Schwaben kön- wird das Ihre dazu beitragen, aus der Präsidentschaft ei- nen es zahlen!) nen Erfolg zu machen. Dies ist alles nicht bezahlbar, wenn Sie gleichzeitig die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verschuldung betrachten und auch noch die Dinge geleis- und bei der SPD) tet werden sollen, von denen Sie gesprochen haben. Auch ich würde mir wünschen, dass die Schiene als Verkehrs- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als träger beim Gütertransport heute schon wettbewerbsfähig nächster Redner hat das Wort der Kollege Jürgen wäre und nicht erst wettbewerbsfähig gemacht werden Koppelin von der F.D.P.-Fraktion. müsste. All das sind Dinge, die wir vorgefunden haben; die können Sie uns nicht anlasten. Jürgen Koppelin (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe Kol- Die „Wissensregion Ostsee“ ist ein weiterer ganz ent- leginnen und Kollegen! Deutschland ist wie kaum ein an- scheidender Punkt, an dem wir arbeiten wollen. Dazuderer Anrainerstaat von der Entwicklung im Ostseeraum wird es an der Humboldt-Universität in Berlin und an der unmittelbar betroffen. Stabilität und Sicherheit in der ge- Universität in Kiel im Mai entsprechende Tagungen ge- samten Region liegen vorrangig im deutschen Interesse. ben. Die Intensivierung der Kooperation spielt dabeiInsofern wäre es mir lieber – das sage ich ganz offen –, ebenfalls eine Rolle. Dasselbe gilt für die Zusammenar- wenn wir versuchten, Vergangenes etwas weiter nach hin- beit der Nichtregierungsorganisationen. Auch hier liegt ten zu schieben, mehr die Gemeinsamkeiten zu suchen eine große Chance. und auch in dieser Diskussion herauszufinden, wo wir uns In Bezug auf praktische Fortschritte in der Umwelt- gemeinsam engagieren können. Ich werde nachher noch politik, hier vor allem in Verbindung mit den skandina- auf einen Punkt zurückkommen, bei dem wir vielleicht vischen Staaten würde ich mir wünschen, dass Sie als sogar als Deutscher Bundestag eine Vorbildwirkung hät- Angehörige der Unionsfraktion einmal Ihre Position be- ten. zogen auf die Ökosteuer etwas „skandinavisieren“ wür- Die seit nunmehr zehn Jahren unternommenen den. Dann wäre die Kooperation wesentlich einfacher. Bemühungen um die Ostseekooperation haben – so mei- (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nen wir als Freie Demokraten – leider zu einem kaum(D) und bei der SPD) übersehbaren Gestrüpp von Gremien und Organisationen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene sowie auf Wenn Sie Dänemark diesbezüglich als Beispiel nehmen, staatlicher und nichtstaatlicher Ebene geführt. kann ich Ihnen nur sagen: Nähern wir uns doch den Dä- nen und ihren entsprechenden Vorstellungen an! Das ist (Beifall bei der F.D.P.) etwas, was ich ausdrücklich begrüßen würde. Die einzelnen Aktivitäten sind sicher positiv; aber ich (Walter Hirche [F.D.P.]: In Dänemark steigt meine, hier fehlt die Koordinierung. Eine britische Zeit- der CO2-Ausstoß ständig!) schrift hat vor einiger Zeit geschrieben, das Ganze sei Ak- tionismus, der nur Papierberge und heiße Luft hervor- bringe. Ich meine, diesen Spiegel müssen wir uns schon Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Minister, Sie haben natürlich unbegrenztes Rederecht; vorhalten lassen. aber Sie haben bereits vier Minuten auf Kosten der Frak- Das einzige politische Gremium, in dem alle Ostsee- tion der SPD geredet. Anrainerstaaten sowie Norwegen, Island und die EU zu- sammenarbeiten und das in der Lage wäre, eine vernünf- Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: tige Struktur in das heillose Durcheinander der diversen Das tut mir Leid. Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Kooperationsbemühungen zu bringen, ist der Ostseerat. Aber auch acht Jahre nach der Gründung ist der Ostseerat Ich möchte hier nochmals versichern, dass die Bun- trotz aller Bemühungen heute immer noch weit davon ent- desregierung alles tun wird, um die Kooperation im Ost- fernt, seine Koordinierungsrolle effektiv wahrzunehmen. seeraum, aber in enger Einbindung in die sich ent-Das kreide ich nicht unbedingt der Bundesregierung al- wickelnde nördliche Dimension, voranzubringen. Ichlein an; es sind ja noch mehr Partner dabei. Aber eines glaube, Frau Ministerpräsidentin Simonis, die nördliche steht fest: Seit Juli letzten Jahres haben wir den Vorsitz, Dimension in der EU wird immer wichtiger werden. Der Herr Bundesaußenminister. Da wäre es mir schon lieber Ostseeraum ist gegenwärtig sozusagen das Forum. Bei gewesen, wenn Sie, statt noch ein bisschen auf die alte der schwedischen EU-Präsidentschaft werden wir wie- Koalition zu schimpfen – aber das ist selbstverständlich der sehen, was wir bei der finnischen Präsidentschaft da- Ihr gutes Recht – und statt uns zu sagen, was Sie alles mals festgestellt haben und was wir vermutlich auch fest- noch tun wollen, einmal konkret benannt hätten, was Sie stellen werden, wenn wir neue Mitglieder haben: dass, vor bisher in diesen acht Monaten bewegt haben. allem wenn die Balten noch hinzukommen werden, die nördliche Dimension innerhalb der Europäischen Union (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14715

Jürgen Koppelin (A) Ich habe nicht erkennen können, dass Sie gesagt hätten: nicht als Teil der europäischen Idee. Das könnte sich (C) Hier und da und dort haben wir Aktivitäten entfaltet. Viel- später einmal bitter rächen. leicht lag es an der Kürze der Zeit, dass Sie nicht in der Ich finde, das ist sehr sachlich dargestellt. Aber über die- Lage waren, diese Punkte zu nennen. Wir als Freie De- ses Thema sollten wir uns alle Gedanken machen. mokraten sind jedenfalls daran interessiert, dass in der Zeit, in der wir den Vorsitz noch innehaben, massiv etwas Ich sage noch einmal: Ich will nicht allein der Bundes- getan wird. regierung diesen Vorwurf machen. Wir alle sind hier zum Handeln aufgefordert. Ich weiß, dass wir viele Partner ha- Herr Bundesaußenminister, Sie müssen sich schon den ben. Kaum eine Region in Europa hat sich in der letzten Vorwurf gefallen lassen, dass Ihre Bilanz bisher – ichZeit zu einem so dynamischen Handelsraum entwickelt drücke es einmal vorsichtig aus – mager ausfällt. Ich habe wie die Ostseeregion. Aber innerhalb dieses Konglome- das vor Ihrer Rede schon geahnt und habe mich hinterher rats aus EU- und Nicht-EU-Staaten, aus beitrittswilligen bestätigt gefühlt. Sie haben zwar – ich möchte es einmal Staaten und einer kontinentalen Macht wie Russland sind so formulieren – so manchen Stein in die Ostsee gewor- die Unterschiede in Bezug auf Wirtschaftspotenzial, tech- fen. Diese haben mir mehr als die früheren Steine gefal- nische Entwicklung, Infrastruktur und Umweltstandards len. Aber ich kann nicht erkennen, dass man auf diesedramatisch. Diese Unterschiede sind einfach zu groß. Steine bauen kann. Hier liegt die große Herausforderung für den Ostseerat. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten Deswegen sage ich: Bis zu unserer nächsten Sitzung – ich der CDU/CSU – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] glaube, sie ist in Hamburg – im Juni sollten sich die [CDU/CSU]: Ein schönes Bild!) Außenminister wirklich überlegen, was sie für diesen Be- reich tun können und wie die ganzen Probleme zu meis- Mein Vorschlag ist, dass Sie wirklich einmal darübertern sind oder wie zumindest einiges auf den Weg ge- nachdenken: Was können wir in der kommenden Zeit un- bracht werden kann. ternehmen, damit der Ostseerat wirklich der Ort wird, in dem wir für diese Region alle gemeinsam an einem Strang Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hat verschiedene Initia- ziehen? tiven ergriffen. Ihnen liegt heute ein Antrag von uns vor. Weil wir wissen, wie wichtig diese Region ist, haben wir Es ist schon angesprochen worden: Es gibt ein Projekt, entsprechende Anträge eingebracht. das man als durchaus positiv ansehen kann, die Euro-Fa- kultät in Königsberg. Aber das allein reicht nicht. Kürz- Ich will einen Punkt nennen, bei dem sich die deutsche lich hat der „Focus“ zur Kooperation im Ostseerat ge- Seite in positiver Weise engagiert. Ich sage dies als Mit- schrieben: „Deutschland muss aus seiner Mitläuferrolle glied des Aufsichtsrats der GTZ. Auch in anderen Frak- tionen gibt es Mitglieder, die im Aufsichtsrat der Gesell- (B) herausfinden.“ Auch das kann ich nur unterschreiben. Die (D) Perspektiven für diese Region sind glänzend. Es ist auch schaft für Technische Zusammenarbeit sind. Ich will von anderen Rednern darauf hingewiesen worden: Nir- ein ganz großes Lob für die Arbeit der GTZ aussprechen, gendwo in Europa gibt es bessere Voraussetzungen für die sich in dieser Region unglaublich engagiert. Ich weiß, eine positive Zukunft als dort. Frau Ministerpräsidentin Simonis, dass Sie mit Vertretern der GTZ gesprochen haben. Dazu können wir nur sagen: Doch die politische Bedeutung dieser Region fällt im Hut ab. Augenblick, wie ich finde, eher dürftig aus. Ich will die- sen Vorwurf nicht nur an die Bundesregierung richten. Ich will noch etwas zu den politischen Stiftungen sa- Mein Eindruck ist, dass das Thema Ostseeregion bisher in gen, die sich in diesem Bereich ebenfalls engagieren. Ich Brüssel leider nicht die Rolle gespielt hat, die diese Re- denke, auch sie haben ein Lob verdient. gion verdient hätte. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: der Abg. Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Der Mittelmeerraum ist wichtiger!) NEN]) Wenn wir mit Vertretern in Brüssel – egal, ob das die Re- In diesem Zusammenhang will ich ein Vorbild nennen. gierung oder das Parlament ist – in den entsprechenden Ich finde es ausgesprochen positiv, dass sich alle Fraktio- Gremien Gespräche führen, dann sollten wir etwas mehr nen des Schleswig-Holsteinischen Landtages einschließ- Dampf machen und dafür sorgen, dass diese Region in lich der Landesregierung – erlauben Sie mir, Frau Minis- Brüssel ernst genommen wird. terpräsidentin Simonis, dass ich meinen Parteifreund und Ihren Staatssekretär Klaus Gärtner besonders her- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) vorhebe – in diesem Bereich besonders engagieren. Da- Es wird immer gerne aus Zeitungen zitiert. Erlauben von könnte sich der Bundestag noch so manche Scheibe Sie mir, dass auch ich zitiere, nämlich aus der „Neuen abschneiden. Hier ist dieser Landtag wirklich ein Vorbild. Zürcher Zeitung“. Sie hat sich vor einiger Zeit intensiv (Beifall des Abg. Walter Hirche [F.D.P.]) mit dem Ostseeraum beschäftigt. Dazu hat sie geschrie- Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Ostseeraum hat ben: es verdient, dass wir uns für ihn engagieren. Wir sollten In deutschen Städten und Regionen, bei Wirtschafts- – über Parteigrenzen hinweg – nicht bei diesem Klein- und Kulturkreisen mag der Ostseeraum ein gewisses Klein bleiben, sondern wir sollten alle zusammen das Ziel partnerschaftliches Interesse wecken. In der Berliner im Auge behalten. Wenn sich der Deutsche Bundestag zu- Außenpolitik hingegen existiert er nicht, zumindest sammen mit der Bundesregierung den Landtag und die 14716 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Jürgen Koppelin (A) Landesregierung von Schleswig-Holstein – bei allen Un- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Bitte (C) terschieden, die man bei einzelnen Punkten haben kann – schön. zum Vorbild nehmen, dann bin ich sicher, dass wir in die- ser Sache sehr erfolgreich sein werden. Jürgen Koppelin (F.D.P.): Herr Kollege Kutzmutz, Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wün- ich nehme durchaus ernst, was Sie hier vortragen. Aber sche Ihnen ein schönes Wochenende, falls wir uns nicht darf ich Ihnen einmal unsere Sorge nennen? Unsere Sorge mehr sehen. ist, dass Königsberg allein schon durch seine Lage eine Armutsregion an der Ostsee werden könnte. Deswegen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) haben wir Königsberg besonders herausgestellt. Es ist nicht das, was Sie hineininterpretieren. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als nächster Redner hat der Kollege Rolf Kutzmutz von der Rolf Kutzmutz (PDS): Nein, Herr Kollege Koppelin, PDS-Fraktion das Wort. ich habe ausdrücklich von „unbeabsichtigt“ gesprochen. Ich habe auch den Artikel Ihres Kollegen Kinkel in der Rolf Kutzmutz (PDS): Herr Präsident! Liebe Kolle- „Welt“ gelesen; ich bereite mich also durchaus auf solche ginnen und Kollegen! Der Ostseeraum ist von enormer Diskussionen vor. wirtschaftlicher und politischer Bedeutung: Hier wurde (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das habe ich und wird Kulturgeschichte geschrieben und hier treffen erwartet!) sich West- und Osteuropa. Darin besteht große Überein- stimmung, übrigens auch in der Einschätzung der Lage. Ich sehe Ihre Sorge. Aber ich sage zugleich: Mich bewegt Daher begrüßt meine Fraktion das Bekenntnis zur nach- die Sorge, dass es auch passieren kann, dass sich Russ- haltigen Stärkung der Entwicklung in dieser Region. Wir land, das wir bei der EU-Erweiterung gedanklich einbe- erwarten, dass dies über den zu Ende gehenden Vorsitz im ziehen müssen, gerade angesichts der Fokussierung da- Ostseerat hinaus andauert. Wir erwarten auch, dass den rauf vor den Kopf gestoßen fühlt. Nur deshalb habe ich das angesprochen, nicht, um Ihnen irgendetwas zu unter- wohlwollenden Worten noch mehr als bisher konkrete Ta- stellen. Gerade in diesem sensiblen Punkt dürfen sich ten folgen. Deutsche aber auch nicht der Spur eines Verdachtes aus- (Beifall bei der PDS) setzen. Der CDU/CSU gebührt das Verdienst, mit einem eige- Am Antrag der Koalition verblüfft mich zweierlei: Ers- nen Antrag als Erste in diesem Haus frühzeitig die Dis- tens scheint Abrüstung kein Thema zu sein; denn mit (B) kussion angestoßen zu haben. Deshalb, aber auch wegen „Ausbau der Sicherheitskooperation“, wie es in den For- (D) vieler inhaltlicher Übereinstimmungen werden wir nach- derungen der Koalition heißt, wird dieses wichtige Anlie- her einer Ablehnung Ihres Antrags nicht zustimmen. Wir gen, wenn es denn eines ist, wohl arg verschleiert. Zwei- werden ihn also durchaus unterstützen. tens beginnt Hilfe bei regionaler Kooperation offenbar erst außerhalb der Bundesgrenzen. Ich zitiere auch dazu: (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das war jetzt aber „enge Zusammenarbeit und Abstimmung mit den nord- kompliziert!) deutschen Ländern“. Das ist das eine. Aber wie steht es – Das lag daran, dass ich mich schon auf Sie konzentriert mit aktiver Unterstützung, beispielsweise bei der Vorbe- habe. reitung angrenzender Staaten auf den EU-Beitritt? Auch die F.D.P. unterbreitet heute viele bedenkens- Ich will an dieser Stelle nicht erneut das leidige Thema werte Vorschläge, insbesondere zur Qualifizierung der der Haltung der Bundesregierung zu Mecklenburg-Vor- Arbeit des Ostseerats. Nur eines, verehrte Kollegen Libe- pommern beim neuen Airbus 380 thematisieren; wir rale, scheinen Sie übersehen zu haben: Russland grenzt haben oft genug darüber gesprochen. Der Bundeskanzler nicht nur in Kaliningrad, sondern auch um Sankt Peters- hat aber mehrfach, beispielsweise auf seiner Sommer- burg an die Ostsee. Auch dort sollen in einigen Jahren reise, die Hoffnung auf eine besondere Förderung der künftige EU-Außengrenzen – neben der von Finnland die Regionen an der heutigen EU-Außengrenze genährt. Nun von Estland – nicht ausgrenzen, sondern verbinden. Eine enttäuscht schon, dass sich die Koalition dazu nach wie von Ihnen hoffentlich unbeabsichtigte Fokussierung aus- vor keine Aussage entlocken lässt, zumal diese Frage mit gerechnet der Bundesrepublik auf das frühere Königsberg der absehbaren stärkeren Ausrichtung Vorpommerns auf könnte allzu leicht jahrzehntelang durchaus berechtigte Szczecin gerade auch an der Ostsee akut wird. Ängste von neuem schüren. (Vorsitz:Vizepräsidentin Petra Bläss) (Beifall bei der PDS) In diesem Zusammenhang stelle ich – besonders nach der einhelligen Ablehnung durch die anderen Fraktionen im Wirtschaftsausschuss – noch einmal unsere Haltung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- zum so genannten integriertenKüstenzonenmanage- lege Kutzmutz, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol- ment klar. Natürlich kann es nicht um zusätzliches Be- legen Koppelin? richtsunwesen Richtung Brüssel und muss es auch um Geld für eine neue Politik gehen. Wir befürchten aber, Rolf Kutzmutz (PDS): Ja. dass über die Ablehnung der Berichte auch der zugrunde Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14717

Rolf Kutzmutz (A) liegende Ansatz gleich mit beerdigt wird. Aber ohne eine Wir wissen, dass die betroffenen Helfer teilweise acht(C) ganzheitliche Analyse der Situation und der Potenziale Stunden an der Grenze warten. Das ist aber doch keine sowie eine Entwicklung darauf aufbauender Strategien, Folge der deutschen Bürokratie, sondern diese Bürokratie wie von der Kommission vorgeschlagen, können keine geht von der anderen Seite aus. Was soll die Bundesre- tragfähigen politischen Leitbilder für die Region geschaf- gierung in diesem Fall tun? Soll sie mit einem Panzer vor- fen werden. neweg fahren und eine Schneise schlagen? Man kann das Problem doch nur auf diplomatischem Wege lösen. Mit (Beifall bei der PDS) dem Anklageton, den Sie angeschlagen haben, als Sie for- An dieser Stelle sind wir nicht so weit auseinander; je- derten, die Bundesregierung solle etwas unternehmen, denfalls habe ich Sie so verstanden, Frau Kollegin Wetzel. kommt man nicht weiter. Ich habe das Gefühl, da haben Sie auf dem falschen Bein Hurra geschrien. Ohne solche Leitbilder, an deren Umsetzung dann auch alle Politikbereiche miteinander und nicht gegeneinander (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ arbeiten, lassen sich aber weder Investoren locken noch DIE GRÜNEN) qualifizierte und mobile junge Menschen halten. Aus der Sicht der schleswig-holsteinischen Landes- Deshalb ist ein solcher Ansatz überall im Land – auch regierung – die anderen norddeutschen Länder sehen das in Schleswig-Holstein, besonders aber in Mecklenburg- genauso – können wir jedenfalls feststellen: Wir werden Vorpommern – wichtig, da die übrige Republik an einer von der Bundesregierung in unseren Aufgaben für die sich dort sonst zwangsläufig weiter vollziehenden Ab- Ostseeregion so unterstützt wie noch nie zuvor. wanderung junger und der Zuwanderung älterer Men- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schen kein ernsthaftes Interesse haben kann. DIE GRÜNEN) Kurzum: Auch wenn das Thema Ostsee zum politi- Es war Bundeskanzler Gerhard Schröder, der zum ersten schen Blick auf ferne Gestade geradezu einlädt, darf das Mal die drei Staaten im Baltikum besuchte und ihnen so- eigene Ufer nicht vergessen werden. Zu beidem legt die mit das Gefühl gab, dass sie zu Europa gehören und von PDS-Fraktion mit ihrem Antrag nicht nur eine politische uns wahrgenommen werden. Diese Staaten haben durch Willensbekundung vor, sondern unterbreitet auch ergeb- diesen Besuch zum ersten Mal eine Antwort auf ihre nisorientierte Vorschläge. großen Hoffnungen bekommen. Einen solchen Schritt hat Wie schon im Vorjahr bekennt sich die Koalition zum es vorher noch nicht gegeben. Ostseeraum als einem Modell für wirtschaftlichen Wohl- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stand, nachhaltigen Umgang mit der Natur, kulturellen DIE GRÜNEN) Reichtum und soziale Verantwortung. (B) Es hat sehr viele Entschließungsanträge gegeben, für (D) Wir hoffen sehr, dass in der Region wirklich spürbar die ich mich ausdrücklich bedanke. Die heutige Debatte Aktivitäten in diesem Sinne ausgelöst werden. Gerade zeigt, dass sich auch der Bundestag für diese Region in- Mecklenburg-Vorpommern hängt sehr direkt und unmit- teressiert. Die Norddeutschen sind Ihnen für dieses Inte- telbar von der Ostseeregion ab. Damit ist die Entwicklung resse dankbar, da wir in der Tat Hilfen benötigen, und dieser Region nicht allein ein Gebot des europäischen Ei- zwar sowohl im Kleinen als auch im Großen. nigungsprozesses, sondern zugleich ein wichtiger Beitrag zur Vollendung der inneren Einheit der Bundesrepublik Wir wollen gerne, dass die Ergänzung und die Erwei- Deutschland. terung der Europäischen Union von uns mitbegleitet wird, weil wir darin eine Chance sehen und bereit sind, Danke schön. dafür gewisse Investitionen vorzunehmen. Es gibt aller- (Beifall bei der PDS) dings Probleme, die wir selbst dann, wenn wir die Neben- außenpolitik bis zum Gehtnichtmehr ausdehnen, alleine nicht lösen können. Dazu gehört, dass das, was unter Re- Vizepräsidentin Petra Bläss: Das Wort hat die Mi- gion Building – als neudeutsches Wort – eingeführt wor- nisterpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein, Heide den ist, stärker durch die Bundesregierung unterstützt Simonis. wird. Neben den wesentlichen Elementen, die Außenminis- Heide Simonis, Ministerpräsidentin (Schleswig-Hol- ter Fischer in seiner Rede in der Humboldt-Universität stein) (von der SPD mit Beifall begrüßt): Frau Präsiden- angesprochen hat, braucht Europa auch Bildung von tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordne- handlungsfähigen Großregionen, die sich nicht im ten! Herr Kollege Börnsen, ich habe mich über einigeKlein-Klein vertrödeln, sondern mit großen, nachvoll- Passagen Ihrer Ausführungen wirklich gewundert. Wenn ziehbaren Projekten in Brüssel als Ansprechpartner stär- man den Regionen, von denen Sie gesprochen haben,ker wahrgenommen werden als Einzelne. Hilfe geben will, weiß man, was Bürokratie bedeutet. Wir Wir brauchen in diesen neuen territorialen Gruppie- haben uns im Namen der Nördlichen Dimension bereit er- rungen Bindungen und Formen, die über die alten Gren- klärt, zusammen mit Mecklenburg-Vorpommern in Kali- zen hinausgehen und neue Elemente von Bindung, Wie- ningrad und Sankt Petersburg vor allem humanitäre Auf- dererkennung und Sichwohlfühlen in einer Region gaben zu übernehmen. ermöglichen. Dazu brauchen wir Flechtwerke, die diese (Beifall bei Abgeordneten der PDS) Zusammenarbeit tragen. 14718 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Ministerpräsidentin Heide Simonis (Schleswig-Holstein) (A) Eine dieser Großregionen ist die Ostseeregion, diegesagt hätten, als wir das gefordert haben, als wir das drin- (C) schon jetzt sehr erfolgreich ist und in der Zukunft noch gend brauchten. erfolgreicher werden wird. Es ist eine Region, die ein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Musterbeispiel an Nachhaltigkeit abgeben kann, weil sie DIE GRÜNEN) durch die neuen Wege in die Informationsgesellschaft ei- nige der Fehler, die wir in unserer Entwicklung gemacht Jetzt kriege ich langsam einen Adrenalinstoß! Was haben haben, überspringen kann und offensichtlich auch bereit Sie uns durch den Kakao gezogen, als wir von der festen ist, sie zu überspringen. Fehmarn-Belt-Querung gesprochen haben! Wer hat denn (Beifall bei Abgeordneten der SPD) in Fehmarn angefangen zu zündeln und von den Arbeits- plätzen zu sprechen? Die Länder um die Ostsee haben es sich zur Aufgabe gesetzt, den Aufbau der Zivilgesellschaften in den Bei- (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Die wolltet ihr doch trittsländern und in Russland– nicht nur in Kalinin- gar nicht!) grad, sondern zum Teil auch in Sankt Petersburg; mehr – Doch, die wollten wir. können wir nicht schaffen – mit zu unterstützen. Wir wol- len, dass sich Bürgerinnen und Bürger treffen. Wir wol- (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Die schleswig-hol- len, dass die Universitäten und Technikzentren sowie die steinische SPD!) Kammern noch stärker zusammenarbeiten, und haben Wir waren schon viel weiter als ihr. deshalb Vertreter vor Ort. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Wir wollen, dass unsere Universitäten sich das zunutze Da passiert doch gar nichts!) machen, was man unter einer virtuellen Hochschule ver- steht. Wir haben zum Beispiel mit Polen einen Windener- – Alles Unsinn. Ich erinnere mich ziemlich genau daran, giepark für die EXPO konzipiert, wir haben in Estland wer vor Ort den Fehmeranern erzählt hat, dass jetzt das eine Kläranlage mitfinanziert, wir machen Stadtentwick- Ende der Insel Fehmarn eingeläutet werde, weil wir eine lungsprojekte in Estland, Litauen und Kaliningrad. Wir feste Beltquerung haben wollten. arbeiten bei der inneren Sicherheit zusammen mit den bal- (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das sehen die aber tischen Staaten – dahin darf der Bund übrigens keine Po- so!) lizei schicken, das möchten die Länder schon gerne al- leine machen, darauf bestehen wir –, wir haben einDas ist nicht fair, was Sie uns jetzt vorwerfen. Aber ich Molkereiprojekt in Estland für die EXPO mit entwickelt. will mich wieder abregen, man soll ja Parlamentarier an- Wir tun also schon eine ganze Menge. ständig behandeln. (B) (D) Unter anderem wird die Landesregierung in diesem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Mai mit rund 60 Jugendlichen aus Schleswig-Holstein DIE GRÜNEN – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] über Krakau und Auschwitz nach Danzig fahren, wo diese [CDU/CSU]: Leider fällt Ihnen das ein bisschen jungen Leute mit polnischen Jugendlichen einen großen spät ein!) Kongress über die Zukunft Europas gestalten werdenWenn wir von Ihnen und durch Ihren Beitrag eine Zusi- und – das ist bemerkenswert – privat in polnischen Fami- cherung bekommen, dass Sie uns dabei helfen, dass diese lien untergebracht sein werden. Das ist das Neue an die- Netze ausgebaut werden – es ist vor allem europäisches sem Projekt. Geld, was dort gefordert ist, gar nicht so sehr bundes- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ republikanisches Geld –, dann kann man über Parteigren- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der zen hinweg zusammenarbeiten. CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS) (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Wir tun alles, bis wir an unsere äußerste Grenze kom- Es ist trotzdem unser Geld!) men. – Auf die Diskussion will ich mich jetzt nicht einlassen. Nun habe ich drei Wünsche an Sie: Ich verstehe ja, dass Wir hätten gerne von Ihnen Unterstützung für einen die südlichen Mitgliedstaaten jedes Mal, wenn die Ost- „Baltic Sea Desk“ in Europa, an den sich die einzelnen seeregion auf die Tagesordnung der Europäischen Union Regionen sofort wenden können. Wir hätten gerne, dass kommt, die Ohren dicht machen und anfangen zu rech- Sie die vier Staaten, die beitreten wollen, unterstützen. Sie nen, was das wohl kosten könnte. Hier brauchen wir Ihre können Polen nicht von Litauen abspalten und Sie können Hilfe, zum Beispiel bei derIntegration von Verkehrs- auch die beiden anderen baltischen Staaten nicht von Li- projekten in die großen europäischen Netze. tauen abspalten. Sie müssen also für alle vier reden, damit (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang sie, wenn sie die Kriterien erfüllt haben, in die Europä- Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Wir brauchen ische Union aufgenommen werden als die guten Nach- zunächst einmal den Bundesverkehrswege- barn, als die sie sich in der Vergangenheit für uns erwie- plan!) sen haben. – Wir bestreiten gar nicht, dass da großer Bedarf besteht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir brauchen eine ganze Menge. Ich wäre schon froh ge- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der wesen, Herr Kollege Börnsen, wenn Sie das früher einmal PDS) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14719

Ministerpräsidentin Heide Simonis (Schleswig-Holstein) (A) Wir sind der Meinung, dass der Vorsitz des Ostseerates sonders stolz, dass wir in Mecklenburg-Vorpommern auf (C) bei der Bundesrepublik Deutschland gut aufgehoben war. diesem Gebiet sehr hohe Steigerungsraten erreicht haben. Wir bedanken uns dafür, dass wir nicht ans Gängelband Die Antwort der Bundesregierung zeigt uns aber, dass gelegt worden sind, sondern weiter das machen durften, große Chancen bestehen, gerade den Anteil ausländischer was wir für richtig empfunden haben. Wenn Herr Fischer Touristen am Übernachtungsaufkommen noch zu stei- da gewesen wäre, hätten wir uns gefreut. Wir haben aber gern. Ich fordere meine Landesregierung auf, insbeson- auch ohne ihn gute Politik gemacht. Das ist überhaupt dere im Hinblick auf die Außenwirkung mehr zu unter- nicht unser Problem. Herr Bundesaußenminister, wirnehmen. Es wäre schön, wenn der Bund mein Land dabei schaffen es ganz allein, uns dort für die Interessen der Re- unterstützte. Insofern begrüße ich natürlich, dass auf der gion, unserer Länder und der Bundesregierung einzuset- Bundesratsbank die zuständige Referentin der Landesver- zen. tretung sitzt. Ich hätte mir aber gewünscht, dass unser Land bei dieser wichtigen Debatte, wie Schleswig-Hol- (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Was will uns der stein, auch durch den Ministerpräsidenten vertreten wäre. Dichter damit sagen? – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Ersetzt Simonis den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Fischer? Konkurrenz ist da!) Wir haben bei Tourismus diese Steigerungsraten des- Wir sind auch durchaus in der Lage, egal welcher Partei wegen erreicht, weil wir an die Bäderarchitektur der diese Bundesregierung angehört, sie zu loben, wenn sie 20er-Jahre angeknüpft haben. Damit wurde den Gästen Gutes tut, und sie zu tadeln, wenn sie nichts Gutes tut. Wir ein sehr willkommenes Angebot gemacht. Rostock-War- haben das Gefühl, ihre Arbeit im Ostseerat war sehr hilf- nemünde gilt zudem als ein attraktives Ziel für Kreuz- reich für die Region. fahrten, mit wachsender Tendenz. Daraus lässt sich die Idee entwickeln, dort einen zweiten Standort anzubieten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Aus historischer Sicht, liegt der Vorschlag nahe – das DIE GRÜNEN) wurde auch schon in den Gemeinden überlegt –, in Zu- Dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken, auch im sammenarbeit mit der Entwicklung der Museumsland- Namen meiner norddeutschen Ministerpräsidentenkolle- schaft die Region Peenemünde als neues, interessantes gen, die gestern mit mir zusammen über dieses Thema ge- Ziel gerade für Kreuzfahrer aus Übersee anzubieten. Der sprochen haben. Flughafen Peenemünde würde zudem die Chance einer guten Anbindung für Auflüge in große Zentren Deutsch- Für alles Weitere, was Ihnen noch einfällt, sind wirlands, zum Beispiel Berlin, bieten. dankbar und offen. Zeigen Sie ein bisschen Kreativität auch für die nördliche Region. Sie ist eine wunderschöne, Meine Vorredner haben schon die wichtige Rolle von (B) eine spannende Region. Verkehrsverbindungen hervorgehoben. Dabei spielen (D) die Fährhäfen eine besondere Rolle. Bei uns sind das im (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist richtig!) Speziellen Rostock und Mukran. Deswegen ist es mir un- Sie ist es immer wert, eine Reise dorthin zu machen, Herr verständlich – das geht an die Adresse der jetzigen Regie- Bundesaußenminister. rung –, dass die Deutsche Bahn AG als hundertprozentige Tochter des Bundes eine erhebliche Ausdünnung bei den (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Interregioverbindungen vornimmt, wodurch es zu einer Schön verpackte Kritik!) starken Beeinträchtigung der Anbindung von Mecklen- Vielen herzlichen Dank. burg-Vorpommern und damit auch der Universitäts- und Hansestadt Greifswald zu den anderen Ostseeanrainern (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kommt. Dem muss dringend Einhalt geboten werden. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS) (Zuruf vom BÜNDIS 90/DIE GRÜNEN: Da hat er Recht!) Ich möchte auf die Antwort der Bundesregierung Vizepräsidentin Petra Bläss:Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Ulrich Adam. zurückkommen. Dort wurde festgestellt, dass gerade die Transrapidtechnik für den Industriestandort Deutsch- land einen hohen Stellenwert hat. Deshalb ist mir die Ulrich Adam (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Streichung der Transrapidstrecke Hamburg–Schwerin– sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Wir Berlin unerklärlich. haben es von vielen heute schon gehört: Die Ostseeregion (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: entwickelt sich mehr und mehr zu einem Gebiet von Ein großer Fehler!) wachsender Bedeutung, und dies im ökonomischen, aber auch im politischen und kulturellen Sinne. Ich möchte an Es ist für mich, gelinde gesagt, erstaunlich, dass sich der dieser Stelle speziell auf einige Beispiele für Chancen, Ministerpräsident Ringstorff für dieses Projekt nicht ein- aber auch für Chancenverwertung meines Heimatlandes gesetzt hat, sondern sich dagegen ausgesprochen hat. Dem Mecklenburg-Vorpommern eingehen. Bisher haben wir Land hätte es viele Arbeitsplätze, vor allen Dingen im Bau- sehr viele Beispiele der anderen Anlieger, zum Beispiel wesen – laut IHK Schwerin rund 4 000 –, gesichert. Schleswig-Holsteins, gehört. Was die sicherheitspolitische Situation in der Ostsee- Wie bei allen Ostseeanliegerstaaten ist die Tourismus- region angeht, so ist vor allem die Rolle destrinationa- branche ein wichtiges Standbein. Wir sind deswegen be- len Korps zwischen Dänemark, Deutschland und Polen 14720 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Ulrich Adam (A) hervorzuheben. Mit der Unterzeichnung einer Absichtser- ses Projekt nationale Förderung der zehn beteiligten Ost- (C) klärung zum Aufbau dieses Korps am 28. Oktober 1997, seeanrainerstaaten. Der zuständige Leiter der Konferenz, bereits vor dem Eintritt Polens in die NATO, wurde unter Professor Wernicke, hat vorgeschlagen, sich nun auch in- dem damaligen Minister Rühe sehr vorausschauend ge- ternational auf eine Förderung zu verständigen. Ich halte handelt. Das dann 1999 in Dienst gestellte multinationale dies für eine ausgesprochen gute Idee. Damit könnte das Korps Nordost mit Sitz in Stettin ist derzeit der einzige weitere Bestehen des Begegnungs- und Diskussionsfo- multinationale Großverband von Heereskräften in dieser rums auf eine neue Grundlage gestellt werden. Region. Dort leistet er einen großen Beitrag zu Sicherheit Es muss in unser aller Interesse liegen, die Ostsee- und Stabilität. region auch zukünftig weiter zu unterstützen und zu för- In ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage betont die dern, damit sie sich zu einem europäischen und globalen Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Arbeit Motor für Wachstum und Wohlstand entwickelt. Es des Stabes bei Rettungs- und humanitären Einsätzen,wurde ja hier schon der Vergleich zum Mittelmeer gezo- einschließlich der Katastrophenhilfe. Gerade dies ist eine gen. Gerade vor diesem Hintergrund ist die stark ange- Besonderheit dieses multinationalen Korps; schließlich spannte wirtschaftliche Situation in Mecklenburg-Vor- ist die Katastrophenhilfe in der Regel eine rein nationale pommern von besonders großer Bedeutung. Hier sind Angelegenheit. Umso unverständlicher ist für mich daher sowohl die Bundesregierung als auch die Landesregie- die geplante enorme Reduzierung des angrenzenden Bun- rung gefordert. deswehrstandortes Eggesin. Minister Scharping hat sich Abschließend möchte ich festhalten: Ich sehe für alle bei seinen Plänen offensichtlich ohnehin nicht von seinen Anrainer der Ostsee große Entwicklungspotenziale. Des- selbst vorgegebenen Kriterien leiten lassen. Schließlich halb muss es vor allem darum gehen, die bisherige Zu- hat er im Vorfeld die internationale Einbindung als wich- sammenarbeit fortzuführen, um gerade auch die Staaten tigen Faktor für seine Entscheidungen benannt. NunOsteuropas weiter einzubinden. Der Transformationspro- schließt er Eggesin beinahe komplett. Das passt nicht zu- zess der osteuropäischen Staaten bietet auch für uns sammen, Herr Scharping. Ich fordere Sie daher eindring- enorme wirtschaftliche Chancen. Das Beispiel der Kom- lich auf, Ihre Entscheidung noch einmal gründlich zumunalgemeinschaft Europaregion Pomerania im Be- überprüfen. reich Pommern dies- und jenseits der deutsch-polnischen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Grenze ist ein gutes Vorbild dafür, wie multinationale Zu- neten der F.D.P.) sammenarbeit gefördert werden kann. Nun zu Ihnen, Herr Bundesaußenminister: Durch das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so- schon eben beschriebene trinationale Korps wurde gerade wie bei Abgeordneten der SPD) (B) auch aus unserer Sicht die Stellung von Stettin aufgewer- (D) tet. Umso unverständlicher ist von daher die Schließung Vizepräsidentin Petra Bläss:Nächster Redner ist des dortigen Generalkonsulates. der Kollege Franz Thönnes für die SPD-Fraktion. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Apenrade ist viel schlimmer!) Franz Thönnes (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kol- Bislang gibt es zudem auch keinerlei Maßnahmen, die leginnen und Kollegen! Das Mare Balticum, die Ostsee, diesen Wegfall kompensieren würden, was Sie ja eigent- als Region einer aufblühenden wirtschaftlichen und kul- lich zugesagt haben. Ich fordere Sie daher auf, endlich in turellen Begegnung ist eine unserer großen Visionen – so diesem Sinne zu handeln, damit der Prozess der Erweite- 1988 der ehemalige Ministerpräsident Schleswig-Hol- rung der Europäischen Union auch zukünftig entspre-steins Björn Engholm. Die Anwesenheit der heutigen Mi- chend begleitet wird. Vorbilder in diesem Zusammen- nisterpräsidentin des nördlichsten Bundeslandes, Heide hang – das sollten Sie sich einmal genau anschauen – sind Simonis, unterstreicht die gute Kontinuität dieser Auffas- die IHK Neubrandenburg und der Unternehmerverband sung. Vorpommern, die beide bereits Kontaktbüros in Stettin (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten eingerichtet haben. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jürgen (Joseph Fischer, Bundesminister: Genau das Koppelin [F.D.P.]: Das ist 13 Jahre her!) wollten wir! Warum soll der Staat das zahlen?) Aus der Vision ist inzwischen ein vielfältiges Netz Damit haben sie nämlich genau das Gegenteil von dem praktischer Zusammenarbeit entstanden. Insgesamt ist die getan, was Sie getan haben. Ostseekooperation eine faszinierende Erfolgsge- schichte. Vor 50 Jahren herrschten Krieg und Zerstörung, Meine Damen und Herren, es ist hervorzuheben, dass vor 10 Jahren gab es noch eine Konfrontation der Blöcke, im Bereich der Bildungspolitik durch die CDU/CSU-ge- heute gibt es Zusammenarbeit und Verständigung. Die führte Bundesregierung dieStändige Konferenz der Ostsee trennt nicht mehr, die Ostsee verbindet. Historiker des Ostseeraumes ins Leben gerufen wurde. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ganz besonders freue ich mich, dass das Koordinierungs- DIE GRÜNEN) büro an meiner Heimatuniversität Greifswald angesiedelt wurde. Es wurde ja schon die Bedeutung der Universitä- Keine andere Region hat den Übergang aus den Zeiten ten Berlin und Kiel hervorgehoben. Ich denke, hier reiht der Konfrontation in die Gegenwart so gut und so fried- sich Greifswald besonders gut ein. Bislang gibt es für die- lich bewältigt. Alte Verbindungen lebten wieder auf, neue Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14721

Franz Thönnes (A) Demokratien entstanden, Handel und Verkehr ent-Die Ostsee verbindet. Brücken verbinden. Brücken brau- (C) wickelten sich enorm. Mit Russland entsteht ein neues chen Pfeiler. Eine Ostseejugendstiftung könnte einer der nachbarschaftliches Verhältnis, ebenso mit Polen, und die tragenden Pfeiler für eine gute und friedliche Zukunft im baltischen Staaten sind wie Polen auf dem Weg in die EU. Norden Europas sein. Kein Zweifel: Diese Region gehört zu den Zukunfts- Was den zweiten wichtigen Pfeiler angeht, so sollten regionen eines größeren Europas. wir Parlamentarier uns aus meiner persönlichen Sicht die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Frage stellen: Wie halten wir es mit der Stärkung der par- DIE GRÜNEN) lamentarischen Demokratie in der Ostseeregion? Sollten wir angesichts der Herausforderungen und der Chancen in Ich sage aber auch: Alle Regierungen sollten die sich da- dieser Region nicht auch der jährlich und diesmal in raus ergebenden Chancen noch viel stärker als bisher nut- Greifswald stattfindenden Ostseeparlamentarierkonfe- zen. renz mehr Kontinuität, mehr Verantwortung und mehr (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.]) Verbindlichkeit zubilligen als bisher? Wenn sich das Eu- ropa der Regionen entwickelt, dann wäre auch die Frage Von der Bundesregierung erwarten wir – das ist die Ab- nach regionalen parlamentarischen Strukturen, vielleicht sicht unseres Antrages –, dass sie gegenüber der EU für mit dem Fernziel einer parlamentarischen Versammlung, die weitere Ausgestaltung einer eigenständigen EU-Ost- zu stellen. seepolitik eintritt. Darunter fallen sowohl eine bessere Koordinierung der EU-Förderinstrumente im Ostseeraum Ich meine, wir sollten in den Parlamentariergruppen als auch die Vereinheitlichung der Zuständigkeiten inner- dieses Hauses darüber diskutieren und die Einladung der halb der Kommission. finnisch-deutschen Parlamentariergruppe in Helsinki dazu nutzen, mit den Freundinnen und Freunden dort zu Die Kooperation zwischen der EU und Russland und sprechen. Wir sollten dies auch mit der erstmals gebilde- die regionale Zusammenarbeit mit den Regionen Nord- ten schwedisch-deutschen Abgeordnetengruppe aus dem westrusslands unter Einbeziehung von Kaliningrad sind Riksdag in Stockholm erörtern. weiter zu fördern. Eine engagiert aktive Bundesregierung in Ostseefra- Mit den Partnern desOstseerates gemeinsam sollte gen, eine Initiative für die Ausweitung der Jugendkon- über den EU-Gipfel in Göteborg hinaus an den Projekten takte in der Region und eine Stärkung des Parlamentaris- zur weiteren Umsetzung des Aktionsplans zur Nördlichen mus im Mare Balticum, das wären drei starke Pfeiler für Dimension gearbeitet werden. Dabei geht es insbesondere Brücken, die verbinden, Brücken zur nachhaltigen Ge- um die Weiterentwicklung der transeuropäischen Netze staltung einer friedlichen Zukunft in der Ostseeregion. für Transport, Energie, Verkehr und Kommunikation, den (B) Ausbau der Sicherheitskooperation in der Ostseeregion, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) die Entwicklung zur Wissensgesellschaft und den Ausbau DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jürgen Koppelin der Zivilgesellschaft mit kultureller Zusammenarbeit, mit [F.D.P.]) Jugendbegegnungen und der Kooperation von und mit Nichtregierungsorganisationen. Vizepräsidentin Petra Bläss: Letzte Rednerin in der Gerade am Komplex der Jugendbegegnungen will ich Debatte ist die Kollegin Dr. Christine Lucyga für die mit einem besonderen Anliegen anknüpfen. In der Schluss- SPD-Fraktion. resolution der 9. Ostseeparlamentarierkonferenz haben 116 Parlamentarier der Ostseeanrainerstaaten im Septem- Dr. Christine Lucyga(SPD): Frau Präsidentin! ber 2000 einstimmig angeregt, zur Förderung des Austau- Meine Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerpräsi- sches und des Tourismus in der Ostseeregion eineOst- dentin! Die politische und wirtschaftliche Bedeutung des seejugendstiftung zu bilden. Sie sollte auf den guten Ostseeraums als Wachstumsregion der Zukunft haben alle Erfahrungen des Ostseejugendsekretariats in Kiel auf- Vorredner übereinstimmend hervorgehoben. Sie haben bauen. Das Ostseejugendforum, die Plattform der natio- Chancen deutlich gemacht, aber auch einige Risiken auf- nalen bzw. regionalen Jugendringe in der Region, hat den gezeigt. Bedarf für die Ostseejugendstiftung bestätigt. Unterstüt- zung hat man von der Konferenz über die Ostseejugend- Der Ostseeraum ist über die wirtschaftliche Dimension zusammenarbeit erhalten. Gleiches gilt für die Konferenz hinaus jedoch auch ein Stück Gemeinsamkeit in Kultur, der Subregionen. Geschichte und Tradition mit einem starken verbinden- den Element; das ist der maritime Charakter. Deshalb In einer Studie zu Finanzierungsmöglichkeiten von Ju- wird der Ostseeraum eine gemeinsame maritime Zukunft gendprojekten im Ostseeraum haben die nationalen Ju- haben. gendministerien und Jugendringe sowie die Subregionen im Ostseeraum festgestellt, dass gerade Förderpro-Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in den gramme für Langzeit- und für Folgeprojekte fehlen. Ich zusammenwachsenden EU-Mitgliedsländern, aber auch glaube, dass es notwendig ist, diese Stiftung bald auf den in den künftigen Beitrittsländern macht deutlich, dass die Chancen der Region unser aller Chancen sind, dass aber Weg zu bringen; denn sie wäre eine gute Hilfe, Hinder- die Probleme, die in der Region zu lösen sind, auch unsere nisse für Jugendmobilität im Ostseeraum zu beseitigen. gemeinsamen Probleme sind, an die wir gemeinsam he- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rangehen müssen. Daher ist es eine lohnende gesamteu- DIE GRÜNEN) ropäische Aufgabe, diesen Prozess durch eine langfristige 14722 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Dr. Christine Lucyga (A) Orientierung, wie im Aktionsprogramm „Zur nördlichen minister selbst die Ergebnisse schon ausgiebig dargestellt (C) Dimension“ vorgegeben, aktiv zu gestalten. Dieses Kon- hat, zept zielt auf die Weiterentwicklung des gesamten nordeuropäischen Raumes mit besonderer Zielrichtung (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: auf die EU-Beitrittskandidaten und Russland. Dies nützt Es gibt doch keine Ergebnisse!) letztlich auch ganz Europa. kann ich mich kurz fassen und kann ihn außerdem nicht Für die Zusammenarbeit im Ostseeraum bieten sich ge- ganz so ausführlich loben, wie ich es sonst getan hätte. rade im Hinblick auf die bevorstehende EU-Osterweite- (Zuruf von der CDU/CSU: er ist sowieso nicht rung umfangreiche gemeinsame Handlungsfelder an, ob mehr da!) es nun die Umwelt-, Gesundheits- und Bildungspolitik, eine gemeinsame Energiepolitik oder Fragen der inneren Aber immerhin möchte ich erwähnen, dass das Problem Sicherheit, aber auch der nuklearen Sicherheit betrifft. der Schiffssicherheit und der maritimen Notfallvorsorge, Das ökologische Gleichgewicht der Ostsee muss wieder das aufgrund des zunehmenden Schiffsverkehrs auf der hergestellt werden. Es gilt, gemeinsame Strategien der Ostsee an Bedeutung gewinnt, ebenso wie Überlegungen Kriminalitätsbekämpfung zu entwickeln und Engpässe im zur Harmonisierung der EU-Förderprogramme und nicht Verkehrsbereich zu überwinden. Ein wichtiges verkehrs- zuletzt auch Fragen der Sicherheitskooperation im Ost- politisches Anliegen ist die Erhöhung der Sicherheit auf seeraum zu Themen des Ostseerats wurden. Das geschah See. unter deutscher Präsidentschaft. Deutschland bekennt sich zum Ostseeraum. Es gilt nun, dieses Engagement Herr Börnsen, die von Ihnen aufgeführten Defizite ha- fortzusetzen und finanziell wie personell zu untersetzen. ben sich während Ihrer Regierungszeit angesammelt. Wir haben sie erkannt und benannt. Deutschland hat sie im (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Ostseerat zum Thema gemacht. Wir entwickeln dazu ge- Nicht Reden, sondern Handeln ist ange- meinsame Handlungsstrategien. So weit zu Ihrem Vor- sagt!) wurf, den Sie uns eingangs gemacht haben. Handlungsfelder sind reichlich vorgegeben; Instrumente (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sind vorhanden. Worauf es jetzt ankommt und wofür wir DIE GRÜNEN) uns einsetzen müssen, ist, sie flexibel und insbesondere für die lokale Ebene handhabbar zu machen, sie besser zu Unverzichtbar ist auch die weitereEntwicklung der verzahnen und zu flexibilisieren. Infrastruktur. Das bedeutet auch die Neuerschließung oder Wiederbelebung von Verkehrskorridoren über die Eine letzte Bemerkung. Die Übernahme der EU-Rats- (B) Ostsee. Nachdem die Oeresundquerung Skandinavien ein präsidentschaft durch Schweden im ersten Halbjahr 2001 (D) Stück weiter nach Zentraleuropa bringt, bietet es sich an, wie auch der ab Juli anstehende russische Vorsitz im Ost- bei der anstehenden Neubewertung derTranseuropä- seerat werden das gesamteuropäische Bewusstsein für ischen Netze auch im Interesse des südeuropäischen Hin- den nordeuropäischen Raum weiter schärfen. Sie werden terlandes die Nord-Süd-Achse über die deutschen Ost- dazu beitragen, die Ergebnisse der deutschen Ostseerats- seehäfen zu stärken. Denkbar wäre für mich zum Beispiel präsidentschaft wie auch die Bekenntnisse des Europä- eine Achse Kopenhagen–Berlin–Prag über den Seeha- ischen Rates zur Ostseeregion nachhaltig zu untersetzen. fen Rostock, die kürzeste und schnellste Verbindung; denn bewährte Verkehrswege über die Ostsee müssen Ich danke Ihnen. ihren Stellenwert zurückerhalten. Während Ihrer Regie- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rungszeit, Herr Börnsen, ist vieles zurückgefahren wor- DIE GRÜNEN) den, was nun wieder in Gang gesetzt werden muss.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe die Aus- Was denn?) sprache. Natürlich brauchen wir auch neue und innovative Ver- Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst zur Ab- kehrslösungen, über die anderenorts, zum Beispiel instimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Schleswig-Holstein, nachgedacht wird. Die logistischen der PDS auf Drucksache 14/5235. Wer stimmt für diesen Stärken der Regionen können sich nämlich nicht imEntschließungsantrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Selbstlauf durchsetzen. Daher gilt es, ihre jeweiligen Vor- Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der züge beweisfähig zu machen. PDS-Fraktion abgelehnt. Das Land Mecklenburg-Vorpommern, für das ich Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- hier spreche, wird im Prozess der EU-Osterweiterung eine ses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der besondere Funktion haben. Bereits jetzt gibt es exempla- Fraktion der CDU/CSU „Initiative zur Stärkung der Ost- rische Formen der Zusammenarbeit mit Skandinavien, seeregion“ auf Drucksache 14/4573. Der Ausschuss emp- aber auch insbesondere mit den osteuropäischen Nach- fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3293 abzulehnen. barn, besonders mit Polen. Beispielhaft ist hier dieMo- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- dellregion Pomerania zu nennen. probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist Wichtige Ergebnisse wurden unter dem gegenwärtigen gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS an- deutschen Ostseeratsvorsitz erreicht. Da der Herr Außen- genommen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14723

Vizepräsidentin Petra Bläss (A) Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 a bis 16 c auf: (C) ßungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/5231. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Entschließungsan- Heinrich, Ulrike Flach, Marita Sehn, weiterer Ab- trag ist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion bei Ent- geordneter und der Fraktion der F.D.P. haltung der CDU/CSU abgelehnt. Innovationspotenzial moderner Technologien Nun zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen für mittelständische Pflanzenzüchter erhalten der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck- – Drucksache 14/2297 – sache 14/5226 mit dem Titel „Die Entwicklung der Ost- Überweisungsvorschlag: seeregion nachhaltig stärken“. Wer stimmt für diesen An- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (f) trag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Antrag ist Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der Reaktorsicherheit PDS- und der F.D.P.-Fraktion angenommen. b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf: Marita Sehn, Ulrich Heinrich, Ulrike Flach, weite- Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus- rer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. ses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungs- Harmonisierung der Zulassungspraxis von ausschuss) zu dem Fünfzehnten Gesetz zur Än- Pflanzenschutzmitteln auf europäischer Ebene derung des Bundeswahlgesetzes – Drucksachen 14/3054, 14/4136 – – Drucksachen 14/3764, 14/4265, 14/4647, 14/5238 – c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Berichterstattung: richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- schaft und Forsten (10. Ausschuss) Abgeordneter – zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? – Wird das Wort zu einer Erklärung gewünscht? – Das ist nicht der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln auf na- Fall. tionaler und EU-Ebene beschleunigen Dann kommen wir gleich zur Abstimmung. Der Ver- – zu dem Antrag der Abgeordneten Marita Sehn, mittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Ulrich Heinrich, Ulrike Flach, weiterer Abge- (B) Geschäftsordnung beschlossen, dass im Bundestag über ordneter und der Fraktion der F.D.P. (D) die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt Wettbewerbsnachteile durch unterschiedli- für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschus- che Zulassungspraxis von Pflanzenschutz- ses auf Drucksache 14/5238? – Gegenprobe! – Enthaltun- mitteln in Europa zügig abbauen gen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der – Drucksachen 14/3096, 14/3298, 14/3713 – PDS-Fraktion angenommen. Berichterstattung: Abgeordnete. Ulrike Höfken Ich rufe den Zusatzpunkt 11 auf: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die ses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungs- F.D.P. sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi- ausschuss) zu dem Gesetz zur Bekämpfung ge- derspruch. Dann ist das so beschlossen. fährlicher Hunde Ich eröffne die Aussprache. Für die F.D.P. spricht der – Drucksachen 14/4451, 14/4920, 14/5052, Kollege Ulrich Heinrich. 14/5239 – Berichterstattung: (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine lie- Abgeordneter Ludwig Stiegler Ulrich Heinrich ben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe die reizvolle Wird das Wort zur Berichterstattung oder zu einer Er- Aufgabe, innerhalb weniger Minuten über die Große An- klärung gewünscht? – Das ist nicht der Fall. frage der F.D.P.-Bundestagsfraktion zum Pflanzenschutz, zur Zulassungspraxis von Pflanzenschutzmitteln und zur Deshalb kommen wir auch hier gleich zur Abstim- Gentechnik zu sprechen. Ich werde versuchen, das ei- mung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 nigermaßen hinzubekommen. Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam In der Bundesrepublik Deutschland ist die F.D.P. ei- abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfeh- gentlich die einzige Partei, die klare Position lung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 14/5239? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be- Gegen den Verbraucherschutz!) schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der F.D.P.- Fraktion bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenom- gegenüber der grünen Gentechnik bezogen hat. men. (Beifall bei der F.D.P.) 14724 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Ulrich Heinrich (A) Wir sind der Meinung, dass die grüne Gentechnik eine Ich habe zu der Großen Anfrage noch einige Anmer- (C) Technik der Zukunft ist. Die Biotechnik und die Gentech- kungen zu machen. Einleitend möchte ich sagen: Ich nik sind in der Zukunft Wachstumsmotoren in der Welt. hoffe, dass sich die neue Ministerin für Verbraucher- Deshalb müssen wir uns – da gibt es gar keine andereschutz, Ernährung und Landwirtschaft an das erinnert, Möglichkeit – daran beteiligen. was in der Antwort auf unsere Große Anfrage steht, dass nämlich der chemische Pflanzenschutz auf absehbare (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Zeit unverzichtbar ist und zur Produktion qualitativ hoch- Wir werden uns insbesondere mit der zweiten und drit- wertiger Nahrungsmittel auch künftig erforderlich sein ten Generation der grünen Gentechnik, also den maßge- wird. Wir werden die künftige Politik an dieser Aussage schneiderten Pflanzen mit entsprechenden Inhaltsstoffen, messen. Denn in der Tat gibt es derzeit keine Alternative, verstärkt auseinander setzen müssen; denn diese gentech- die wirtschaftlich vertretbar wäre und die man auch erfolg- nisch veränderten Pflanzen werden dem Verbraucher den reich praktizieren könnte. tatsächlichen Nutzen deutlicher machen. Das ist dringend (Beifall bei der F.D.P.) nötig; denn die Bevölkerung ist derzeit noch nicht beson- ders davon überzeugt, dass die grüne Gentechnik not- Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach wie vor wendig ist und den Menschen Nutzen bringt. In diesem besteht ein großes Problem im Bereich der Lückenindika- Sinne müssen wir mehr Aufklärungsarbeit leisten. Wir tion. Nach wie vor besteht ein großes Problem bei der Er- müssen die berechtigten Bedenken abwägen, aber wirhaltung von Kleinkulturen im Gartenbaubereich, im Baum- dürfen auf keinen Fall die Chancen, die in dieser Gen- schulenbereich. In den letzten Jahren sind wir hierbei technik stecken, verschlafen. wirklich an die Grenze des Zumutbaren gestoßen. Wir ha- ben letztes Jahr einiges geschafft; einige Lücken wurden (Beifall bei der F.D.P.) geschlossen. Insoweit ist es ganz sicher kontraproduktiv, wenn der (Gustav Herzog [SPD]: Jetzt müssen Sie die Bundeskanzler zwar zu Kamingesprächen einlädt, dann Regierung loben!) aber ganz schnell wieder Ausladungen verschickt, weil er merkt, dass sich die Windrichtung verändert hat und er Aber ich bitte doch, dass die Bundesregierung und die sie aufgrund der BSE-Krise in der Bevölkerung derzeit kein tragenden Fraktionen auf diesem Wege weitergehen und geeignetes Klima vorfindet, um diese Gespräche weiter- alles unternehmen, damit die Lückenindikation entspre- zuführen. Meine Damen und Herren, so kann man keine chend weitergeführt wird. Politik machen, Wir brauchen ein vereinfachtes Zulassungsverfahren (Beifall bei der F.D.P.) und eine Lösung hinsichtlich der Altwirkstoffe. Die dies- (B) bezüglichen Regelungen laufen ja im Jahre 2003 aus.(D) erst recht keine Politik, die sich künftig auf diese wichtige Wenn dieser Zeitpunkt erreicht ist, sollten wir nicht im Technologie praktisch auswirkt. Hier kritisieren wir die Regen stehen, sondern nach wie vor die notwendigen Bundesregierung nachdrücklich. Sie hat wohl dem grünen Pflanzenschutzmittel zur Verfügung haben, um die Kul- Koalitionspartner gegenüber nachgegeben. turpflanzen gesund erhalten zu können. (Gustav Herzog [SPD]: Das ist auch meine Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Hinweis ge- Überzeugung!) ben. Mich hat stutzig gemacht, dass es eine der ersten Re- Ich halte das nicht für akzeptabel. aktionen der Bundesregierung in diesem Bereich war, den Einsatz von Plantomycin zu verbieten. Plantomycin ist Ich halte es auch unserer Wirtschaft gegenüber nicht notwendig, um den gefährlichen Feuerbrand zu bekämp- für akzeptabel. Die Forschung ist das eine, das Umsetzen fen. Der Feuerbrand vernichtet die Bäume ganzer Regio- in die Praxis ist das andere. Beides gehört zusammen. Wir nen und es gibt kein Mittel, das so dagegen wirkt wie das können nicht erwarten, dass die Wirtschaft forscht, wenn Plantomycin. Dieses wird nur sehr vorsichtig verwandt. sie nicht gleichzeitig Nutzen hieraus ziehen kann. Des- Der Einsatz erfolgt nur auf Sondergenehmigung und ist halb muss die Entwicklung weitergehen und deshalb wol- auf einen Zeitraum von zwei Jahren begrenzt. Bislang gibt len wir auch, nicht zuletzt, um den mittelständischen es kein Mittel, das dieses Plantomycin tatsächlich erset- Pflanzenzuchtunternehmen in der Bundesrepublik klare zen könnte. Wir haben gedacht, wir hätten mit ihm ein Rahmenbedingungen vorzugeben, dass die Perspektive Mittel, das wir wirklich zwei Jahre lang einsetzen könn- klar wird. ten. Nachdem es in zwei oder drei Proben von Honig ge- (Beifall bei der F.D.P.) funden wurde, hat man es schlagartig verboten. Das halte ich nicht für akzeptabel; denn das gefährdet unsere Kul- Wenn Sie die grüne Gentechnik nicht wollen, dann sa- turlandschaft und die Existenz unserer Obstbauern. Dies gen Sie das klar und deutlich. Dann wissen die Firmen, hat eine viel größere Dimension, als man im ersten Au- was sie von dieser Regierung in Zukunft zu erwarten ha- genblick denken mag. Die Streuobstwiesen und die wich- ben. Aber diese Zickzack-Politik, diese Schaukelpolitik, tigen ökologischen Nischen, die auch Sie erhalten wollen, ist nicht akzeptabel. Hierdurch wird der Standort Bundes- werden damit gefährdet. Ich bitte die Bundesregierung republik Deutschland in einer Art und Weise beschädigt, eindringlich, den Stopp des Einsatzes von Plantomycin die nicht verantwortbar ist. wieder rückgängig zu machen. Denken Sie über Ihre (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten falsche Entscheidung nach! Spätestens bei der Baum- der CDU/CSU) blüte, wenn dieses Mittel eingesetzt werden soll, brau- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14725

Ulrich Heinrich (A) chen die Landwirte dieses Mittel, zu dem es keinerlei Al- Ob das tatsächlich stimmt? Ich habe von Ihnen bisher im- (C) ternative gibt. mer etwas anderes gehört. Herzlichen Dank. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Fragen Sie besser gleich mich!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Ja, das sagte der Bauer, aber vielleicht reden Sie in der Heimat anders als hier. Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die SPD-Fraktion (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Nein!) spricht jetzt der Kollege Heino Wiese. – Vielleicht werden Sie auch nur falsch verstanden. Dann drücken Sie sich aber wahrscheinlich nicht richtig aus. Heino Wiese (Hannover) (SPD): Frau Präsidentin! (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Wahrscheinlich!) Meine Damen und Herren! Herr Heinrich, die Bundes- regierung hat eine ganz klare Meinung zur grünen Gen- Die grüne Gentechnik birgt Risiken; das wissen wir technik und die hat sie auch deutlich formuliert. alle. Wir haben noch keine Langzeiterfahrung und wissen nicht, ob nicht zum Beispiel die grüne Gentechnik dazu (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Das ist wohl führen kann, dass bei der Nahrungsaufnahme Allergien wahr!) entstehen. – Das ist wohl wahr, Herr Heiderich, auf Sie komme ich (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Ihr lasst ja keinen gleich auch noch zu sprechen. Anbau zu!) Herr Heinrich, Sie sind für mich der unglaubwürdigste – Ich rede jetzt erst einmal davon, wo die Risiken liegen. – Politiker, den ich in diesem Bundestag bislang kennen ge- Ein zweites Risiko ist: Kann die Artenvielfalt erhalten blei- lernt habe. ben? Auch das wissen wir nicht. Wenn man die Risiken (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aber kennt, dann kann man nicht sagen: Wir fangen erst ein- NEN]: Da gibt es noch mehr!) mal mit dem Anbau an. Wir werden schon sehen, was da- bei herauskommt. Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die man dafür an- führen kann. Auf der einen Seite fordern Sie freien Markt Auf der anderen Seite will ich dieChancen nicht ver- und freien Handel, auf der anderen Seite aber machen Sie kennen. Natürlich birgt die Gentechnik Chancen, einerseits den größten Aufstand, wenn Subventionen für ökonomische die – nämlich für die Saatgutunternehmen –, an- Landwirtschaft gestrichen werden. Daneben sind Sie auch dererseits aber auch ökologische. So braucht man bei- spielsweise weniger Düngemittel oder weniger Pflanzen- (B) bei BSE nicht ganz ehrlich gewesen. Heute tun Sie fast so, (D) schutz; auch das wäre eine gute Sache. als wären Sie der Mahner in der Wüste gewesen, der ge- sagt hat: Wir kennen alle die BSE-Gefahren. Sie führen immer wieder an, dieEntwicklungshilfe- länder in der Dritten Welt müssten gefördert werden. Dort Ich kann mich noch sehr gut an die Sitzung im Juni des müsste die Nahrungsmittelknappheit bekämpft werden. letzten Jahres erinnern. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Sehr gut!) (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Wir reden heute über etwas ganz anderes!) – Ja, das ist ein sehr gutes Ziel. – Bisher habe ich immer gesagt: Die Entwicklungshilfeländer können sich das – Ja, aber ich möchte deutlich machen, wie Sie agieren. – Saatgut von Monsanto und anderen Saatgutunternehmen Im Juni haben Sie die Bundesregierung noch schärfstens ohnehin nicht leisten. verurteilt und gesagt, sie würde die Bauern in Brüssel nicht entsprechend vertreten, weil sie den BSE-freien Sta- (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Kennen Sie das neue tus Deutschlands nicht durchgesetzt hat. Abkommen?) Damals sind Sie nur noch vom Kollegen Heiderich ge- – Hören Sie erst einmal weiter zu! – Ich habe jetzt etwas toppt worden. Herr Heiderich, vielleicht wissen Sie noch, anderes gesehen. Es gibt ein Entwicklungshilfeprojekt bei was Sie gesagt haben. Sie warfen der Gesundheitsminis- Herrn Professor Jacobsen in Hannover, wo junge Nach- terin vor, sie falle der deutschen Landwirtschaft in den wuchsforscher aus Entwicklungshilfeländern Praktika Rücken. Heute ist das alles vergessen und Sie tun so, als machen. Sie könnten die Ergebnisse dann in ihrem Hei- ob das Thema für Sie schon immer auf der Tagesordnung matland selbst umsetzen. Das würde ich tatsächlich für stand. eine weitere Chance ansehen. Herr Heinrich, ich habe in der letzten Woche mit Land- Nur, wir müssen eben beides sehen, die Risiken und die wirten aus Ihrer Heimat gesprochen. Diese haben mirChancen. Man kann nicht, wie die F.D.P. es tut, sagen: doch tatsächlich glaubhaft versichert, Sie hätten dort ver- „Wir starten dieses Projekt und alle, die das verhindern kündet, dass Sie gegen die bestehende Nachbauregelung wollen, sind Fortschrittsverhinderer“ und auch gegen die Patentierung von Pflanzen seien. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Sind sie auch!) (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Hört! – das werfen Sie uns ja immer gern vor –, aber wenn das Hört! – Gustav Herzog [SPD]: Das sagt er den Kind in den Brunnen gefallen ist, erklären: Damit haben Bauern! Der Industrie erzählt er etwas anderes!) wir nichts zu tun. 14726 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Heino Wiese (Hannover) (A) Die Bundesregierung sagt: Wir wollen die Chancen sind. Für dieses Ziel haben wir innerhalb der Europäischen (C) nutzen, aber die Risiken vermeiden. Das ist die richtige Union bereits vor zehn Jahren den Beschluss gefasst, eine Strategie. Um herauszufinden, wie groß die Risiken sind EU-weite Harmonisierung mit einer gleichzeitigen Ver- und welche Chancen wir haben, muss man Forschung be- schärfung der Zulassungsbedingungen und der Kontrollen treiben. Das tun wir in verstärktem Maße. Frau Bulmahn, herbeizuführen. Hintergrund war damals die Überlegung, die Bildungs- und Forschungsministerin, hat 30 Milli- gleiche Chancen für alle Bauern in Europa zu bieten. Das onen DM jährlich für das GABI-Projekt zur Verfügung war und ist der entscheidende Gesichtspunkt. gestellt und damit die Fortführung der Grundlagenfor- Deutschland hat in dieser Frage einen nationalen Al- schung ermöglicht. leingang unternommen, hat das längst umgesetzt und wei- Ich sage Ihnen jetzt etwas zu dem runden Tisch beim tergeführt. Aber auf der europäischen Ebene hinken wir Bundeskanzler. Dieser runde Tisch ist jetzt erst einmal im dieser Entwicklung immer noch hinterher. Obendrein Einvernehmen ausgesetzt worden. kommt es zu Engpässen und Wettbewerbsverzerrungen gerade beim integrierten Pflanzenbau; darauf ist eben be- (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Einen Eilbrief reits hingewiesen worden. Ich denke, es muss an dieser hat der Bundeskanzler verschickt! – Stelle dafür gesorgt werden, dass es Übergangslösungen Ulrich Heinrich [F.D.P.]: „Im Einvernehmen“!) gibt und dass die Möglichkeiten, die hier vorgesehen sind, – Aber es hat vorher Telefonate gegeben. von uns umgesetzt werden. (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Der zweite Schwerpunkt, der heute zur Debatte steht, Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Ein Eilbrief im Ein- betrifft die gentechnische Verbesserung von Pflanzen vernehmen!) und den Einsatz dieser Pflanzen in der Landwirtschaft. Wir alle wissen, dass dazu auf europäischer und auch auf Sie wollen angeblich einen Erfolg. Wenn Sie das wol- deutscher Ebene seit vielen Jahren zahlreiche Versuche len, dann ist es doch sehr fahrlässig, dieses Thema in ei- stattgefunden haben. Es gibt Hunderte von Freisetzungs- ner emotional aufgeladenen Situation, wie wir sie im Mo- versuchen der deutschen Institute. Es gibt vielfältige Ver- ment haben, in den Vordergrund zu stellen. Stattdessen suchsanwendungen der verschiedenen Pflanzenzuchtfir- sollten Sie konstruktiv mitarbeiten. men und Pflanzenzuchtunternehmen. Zum Schluss will ich Ihnen noch eines sagen: Nur Wir haben im letzten Jahr einen Schritt nach vorne ge- wenn die Landwirte, die Bürger und Verbraucher davon macht, indem sich alle Beteiligten zu einer Initiative ver- überzeugt sind, dass diese Technologie einen wirklichen abredet haben. Mit dieser Initiative sollte dafür Sorge ge- Nutzen für sie bringt, werden sie diese Technologie auch tragen werden, dass genau die Aspekte bearbeitet werden, anwenden wollen. (B) die soeben von Ihnen, Herr Kollege Wiese, angesprochen (D) Ich weise auf Folgendes hin, da ich gerade Herrnworden sind: die intensive Prüfung dieser neuen Techno- Ramsauer sehe: Die CSU hat an dieser Stelle ein ethisches logie, die Kommunikation mit der Öffentlichkeit und die Problem ausgemacht. Ich meine, die ethischen Probleme Beantwortung der Fragen, was diese neuen Methoden sind noch nicht zu Ende diskutiert. Wir sollten uns daher leisten können, wo Chancen liegen, die wir nutzen kön- an dieser Stelle Zeit nehmen, bis die Bürger und Verbrau- nen, wo noch Probleme und Punkte sind, die nicht ent- cher davon überzeugt sind, dass das etwas Gutes ist. Dann sprechend ausgeschöpft worden sind, und wo noch For- werden wir die grüne Gentechnik auch umsetzen. schung und Beobachtungen nachgeschoben werden müssen. Diese Initiative war deswegen sinnvoll, weil sie Den Antrag der F.D.P. können wir aber nur ablehnen. alle in ein Boot gebracht hat. Man hat über Monate hin- Danke schön. weg eine Lösung ausgearbeitet. Diese Lösung stand kurz vor der Verabschiedung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Nun kann man wirklich nicht sagen, dass die Bundes- regierung eine geradlinige und zielgerichtete Politik be- treiben würde. Vizepräsidentin Petra Bläss:Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Helmut Heiderich. (Beifall bei der CDU/CSU) (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Herr Denn wenige Tage vor der Unterschrift unter dieses ge- Heiderich hat viel Zeit! Er kann langsam ge- meinsame Vertragswerk, wenige Tage, bevor man an die hen!) Öffentlichkeit gehen wollte, hat das Kanzleramt den so- eben von mir in einem Zuruf genannten Eilbrief an alle Beteiligten abgeschickt. Keiner von den Beteiligten wuss- (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Helmut Heiderich te vorher, was da auf ihn zukommt. Wir alle hatten wenige Meine verehrten verbliebenen Kolleginnen und Kollegen! Tage vorher auf der Grünen Woche die Gelegenheit, mit Gern will ich die Zeit nutzen, Frau Kollegin Wolff, um auf den Betroffenen über diese Thematik zu sprechen. Alle die Themen ein Stück tiefer einzugehen. sind davon ausgegangen, dass es zu einem Ergebnis kom- Es liegt uns ein Antrag zumPflanzenschutz vor. Ich men wird. Umso überraschender ist es gewesen, dass der will festhalten, dass für mich die Möglichkeiten des Pflan- Kanzler diese Initiative kurzfristig abgesagt und auf den zenschutzes ein wesentlicher Bestandteil einer hygieni- Kopf gestellt hat. Ich glaube, damit hat er ihr einen Bären- schen, einwandfreien, umweltschonenden und lokal opti- dienst erwiesen. Ebenso problematisch ist die nachge- mierten Erzeugung von hoher Qualität im Pflanzenbau schobene Begründung für dieses Vorgehen. Es wurde er- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14727

Helmut Heiderich (A) klärt, diese Initiative habe man abgesagt, weil die Situation ben quer durch ganz Deutschland lesen können, dass der (C) in der Landwirtschaft im Moment sehr schwierig sei. Kanzler hier wieder eine Kehrtwende gemacht hat. Alle haben geschrieben, dass das wieder einmal Ausdruck des Dieser möglichen neuen Technologie erweist man ei- typisch schröderschen Politikstils gewesen sei, von einem nen Bärendienst. Denn wir haben im Hinblick auf den Tag auf den anderen die Karre um 180 Grad zu drehen. gentechnischen Pflanzenbau – das muss man einmal fest- halten – seit vielen Jahren eine intensive Forschung be- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: trieben. Sie haben soeben selbst auf das Projekt GABI Die CDU sollte dazu im Moment nur schwei- hingewiesen, das allerdings nur in indirektem Zusam- gen!) menhang mit dieser Thematik steht. Wir haben auf euro- Sie können nun wirklich nicht behaupten, dass Sie hier päischer und deutscher Ebene eine intensive Forschung eine zielgerichtete Politik machen, verehrte Frau Lemke. betrieben. Wir haben das berühmteSchritt-für-Schritt- Prinzip entwickelt, indem wir gesagt haben: Erst dann, (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das ist wenn wir auf der einen Stufe sicher sind, gehen wir die keine Behauptung! Das sind Tatsachen!) nächste Stufe an und gehen aus dem Labor ins Freiland. Ich bitte Sie einmal, zu bedenken – das ist Ihnen doch Dann erfolgt der nächste Schritt. nicht unbekannt –, dass solche Pflanzen weltweit inzwi- Der Vorteil dieser Initiative war doch, sagen zu kön- schen auf rund 40 Millionen Hektar angebaut werden. Der nen: Wir gehen jetzt großflächig über das gesamte Land Anbau und die Verarbeitung dieser Produkte erfolgen hinweg auf den flächenweiten Anbau über. Wir geben der doch nicht unter Inkaufnahme von Risiken. Vielmehr Bevölkerung, jedem Interessenten und der Wissenschaft wurde über die Jahre hinweg festgestellt, dass darin die Möglichkeit, diese Technologie unter normalen An- Chancen liegen. baubedingungen in der Landwirtschaft zu testen und zu Wir haben gerade gehört, dass man durch den Einsatz sehen, ob es Probleme oder ob es keine Probleme gibt, dieser Pflanzen beispielsweise Pflanzenschutzmittel re- und zu überprüfen, ob die Ressentiments, die auf denduzieren und auf diese Art und Weise der Umwelt dienen verschiedenen Seiten bestehen, zutreffen oder nicht zu- kann. Schauen Sie sich einmal die Situation in den USA treffen. Es gibt doch niemanden, der sagen würde: Wir an! Herr Heinrich kennt das aus eigener Anschauung. wollen diese Technologie auf jeden Fall, auch dann, wenn Dort sind Bodenerosionen verhindert worden, weil man es keine wissenschaftliche Rückendeckung gibt. jetzt ohne Pflug anbauen kann. Dadurch hat sich die Um- Ich greife ein Stückchen voraus – denn Frau Lemke weltbilanz deutlich verbessert. Ich glaube also, hier gibt wird gleich in ihrer prophetischen Gabe erklären, dass es große Chancen. kein Verbraucher die Produkte der grünen Gentechnik Man sollte nicht immer diese unbewiesenen, platten (B) will –: Frau Lemke, fragen Sie doch einmal den Verbrau- Sprüche von sich geben, das alles diene nur der Großin- (D) cher! Kein Mensch weiß, was das ist. Wir müssen doch dustrie, den agrarindustriellen Komplexen oder wem auch erst einmal mit dem Verbraucher in einen Dialog treten. immer. Dann werden meist noch die einzelnen Firmen Wir müssen erst einmal öffentlich klarmachen, was sie be- aufgezählt. Schließlich wird behauptet, Gentechnik nutze deutet und worum es hier geht. Wir können doch nicht auf ausschließlich der Firma Monsanto und schon deswegen der einen Seite, so wie Sie das tun, kategorisch Nein sa- dürfe man dies nicht machen. gen, bevor wir überhaupt in die Anwendung und in die Prüfung gegangen sind. Auf der anderen Seite erklärt Ihr (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bundeskanzler, wenn es um die gentechnische Entwick- Die steigt doch gerade aus der Gentechnik lung und Forschung am menschlichen Embryo geht, man aus!) solle das alles ohne Scheuklappen und etwas lockerer se- Verehrte Frau Lemke, das ist genauso wenig haltbar hen und sich nicht zu viele Gedanken machen. wie Ihre Sprüche, die Sie in den letzten Tagen ständig zu (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Da muss der auch der so genannten Agrarindustrie gemacht haben. Sie wieder zurückrudern!) sollten sich einmal die Mühe machen und sich, statt von Agrarfabriken zu faseln, die Unterlagen ansehen, und Das passt nicht zusammen. Eine solch widersprüchliche zwar den Agrarbericht 2000, den Sie selbst veröffentlicht Politik kann man nicht vertreten, indem man auf der einen haben. Wenn Sie dort nachschauen, stellen Sie fest, dass Seite sagt, nicht einmal Forschung und öffentliche Nut- 95 Prozent der deutschen Agrarbetriebe in den alten Bun- zung dürften erlaubt sein, und auf der anderen Seite die desländern eine Fläche von weniger als 100 Hektar haben. Leinen loslässt und erklärt: Lasst uns doch einmal sehen, Ich frage Sie, ob Betriebe mit weniger als 100 Hektar jetzt was da auf uns zukommt! von Ihnen als Agrarfabriken angesehen werden. Es ist ganz wesentlich, dass wir die Möglichkeit haben (Gustav Herzog [SPD]: Das ist ein Struktur- müssen, bundesweit mit der Öffentlichkeit zu kommuni- problem!) zieren. Dies hat der Kanzler mit seinem Umfallen, mit sei- Unter Ihrer Regierungszeit, nämlich seit 1999, hat die ner 180-Grad-Kehrtwendung Anzahl der Betriebe mit weniger als 50 Hektar abgenom- (Heinz Wiese [Ehingen] [CDU/CSU]: Loo- men. Sie haben diese Betriebe kaputtgemacht. ping!) (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Die Zahl – ja, im Grunde ist es ein Looping –, verspielt. Ich nehme derer nimmt schon seit zehn Jahren ab! Das krie- doch an, dass Sie nach der Absage des Kanzlers die gen Sie in jeder Debatte gesagt! Das wissen Sie großen deutschen Tageszeitungen gelesen haben. Sie ha- auch! Schämen Sie sich, das hier anzubringen!) 14728 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Helmut Heiderich (A) Jetzt, da ich Ihnen Vorwürfe mache, schauen Sie auf aber offensichtlich haben Sie nicht weitergelesen. Das(C) die Uhr, Frau Lemke. Sie haben die Landwirte dazu ge- sind so die kleinen Nachlässigkeiten, Herr Heinrich: Sie bracht, ihre Betriebe zu vergrößern. Und dann faseln Sie haben vergessen zu erwähnen, dass die Autoren des Be- von Agrarfabriken! richts tatsächlich eindeutig feststellen, dass das gesamte Wirkungsgefüge bei der Einführung von Sorten bisher Sie klopfen hier Sprüche und machen populistische von der Wissenschaft überhaupt noch nicht verstanden Aussagen, wurde. Daher ist die Aussage, es gebe keinen Einfluss auf (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Gucken die biologische Vielfalt, einfach eine Nullaussage. Denn Sie sich einmal Ihre Politik an!) wenn man nichts darüber weiß, kann man auch nicht eine Aussage darüber treffen, ob dies einen positiven oder ne- die die Bauern draußen in ein Licht stellen, das sie über- gativen Einfluss haben wird. haupt nicht verdient haben. Die landwirtschaftlichen Fa- milienbetriebe werden von Ihnen zwischen die Mühl- (Beifall der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS]) steine gebracht. Sie brummen den Bauern neue Kosten Aber Sie behaupten schon einmal in vorauseilendem Ge- auf und senken ihnen über Ihre Agenda-2000-Beschlüsse horsam, gentechnisch veränderte Sorten hätten keinen die Preise. Zwischen den steigenden Kosten und den sin- Einfluss auf die Biodiversität. kenden Preisen sind die Bauern quasi wie zwischen Mühlsteinen. Sie haben eigentlich nur noch zwei Chan- In ähnlicher Manier zieht sich das durch Ihren gesam- cen, um Ihrer falschen Politik zu entkommen: Entweder ten Antrag. Das mache ich Ihnen zum Vorwurf, womit ich müssen die Bauern aufhören – im vergangenen Jahr haben auch sage: Sie beschäftigen sich nicht ernsthaft mit der Sie 5,4 Prozent der Bauern zum Aufhören gebracht, näm- mittelständischen Pflanzenzucht. „Gentechnisch verän- lich die Familienbetriebe – derte Sorten sichern die Welternährung“, dieses morali- sche Totschlagargument habe ich inzwischen wirklich (Heino Wiese [Hannover] [SPD]: Wie viele satt. In Ihren Forderungen verraten Sie sich dann aber sel- waren es denn zwischen 1982 und 1998?) ber. Im Abschnitt zu den nachwachsenden Rohstoffen oder sie müssen mehr produzieren. Anders können sie Ih- führen Sie aus, dass sich „mithilfe der Gen- und Biotech- rer Politik nicht entkommen. Wenn die Bauern aber mehr nologie ... für den Arznei- und Lebensmittelsektor ... maß- produzieren, erklären Sie ihnen, sie hätten Agrarfabriken. geschneiderte Pflanzen mit den gewünschten Inhaltsstof- Denken Sie doch einmal darüber nach, welche Wider- fen“ herstellen ließen. Weiter heißt es: „Dadurch ergeben sprüche Ihre eigene Agrarpolitik aufweist. Damit helfen sich neue Absatzchancen und -märkte und die Wettbe- Sie niemandem! werbs- sowie Einkommenssituation der betroffenen Wirt- schaftsbereiche wird deutlich verbessert.“ Schönen Dank. (B) Das hat allerdings mit dem Welthunger nichts zu tun, (D) (Beifall bei der CDU/CSU) sondern ausschließlich mit wirtschaftlichen Interessen von hier ansässigen Firmen. Vizepräsidentin Petra Bläss: Die nächste Rednerin (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Doch, es geht nur ist die Kollegin Steffi Lemke für die Fraktion Bündnis 90/ auf wirtschaftlicher Basis!) Die Grünen. Dies ist vollkommen legitim – ich finde es auch richtig, dies in einem solchen Antrag anzuführen –, aber die mo- Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau ralische Legitimation der Bekämpfung des Welthungers Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr spreche ich Ihnen mit diesem Argument ab. Heiderich, ich freue mich, dass Sie mich in Ihrer Rede so breit gewürdigt haben. Aber auf die Uhr habe ich ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schaut, weil ich gewährleisten wollte, dass ich die Rede- zeit um genauso viel überziehen darf wie Sie. Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kollegin Lemke, Ich möchte mich zunächst allerdings mit dem Antrag gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich? der F.D.P. – Herr Heinrich, ich werde Sie jetzt ausreichend würdigen – befassen, der sich mit den mittelständischen (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr Pflanzenzüchtern beschäftigt oder zumindest vorgibt, Steffi Lemke gern. sich damit zu beschäftigen. Wenn man sich den Antrag an- schaut, stellt man fest, dass er einfach nur eine Ansamm- lung von Worthülsen ist. Herr Heinrich, Sie haben es nicht Ulrich Heinrich (F.D.P.): Liebe Frau Kollegin, wür- geschafft, sich mit dieser Problematik ernsthaft auseinan- den Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass Sie den Welt- der zu setzen. Ich werde das anhand einiger Beispiele be- hunger nur auf einer wirtschaftlichen Basis, wenn sich legen. nämlich die Produktion auch rentiert, überwinden kön- nen? Die Produktion muss nicht nur hier in Europa, son- Zum ersten Stichwort, Gentechnik: In Ihrem Antrag dern auch in den Anbauländern selber rentabel sein. Das heißt es, der Bericht zur Technikfolgenabschätzung stelle ist der Ansatz, den Sie offensichtlich übersehen haben. „eindeutig“ fest, dass die gentechnisch unterstützte Pflan- zenzüchtung keinen nachweisbaren Einfluss auf die Biodiversität, sprich: die biologische Vielfalt, habe. Das Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich steht zwar so im Bericht zur Technikfolgenabschätzung, danke Ihnen für diese Zwischenfrage, Kollege Heinrich. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14729

Steffi Lemke (A) Zunächst stelle ich fest, dass Sie mich im Ausschuss als nutzen dies ohnehin nur als moralisches Totschlagargu- (C) „Klugscheißer“ titulieren, ment. (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das Argument stört Unparlamentarischer Ausdruck!) Sie!) mich aber dann wiederholt im Parlament befragen. Aber – Nein, Herr Heinrich, es stört mich überhaupt nicht. Ich das nur nebenbei. setze mich damit ernsthaft auseinander. Aber ich spreche Ihnen bei diesem Thema die Legitimation ab. Es ist eine Binsenweisheit, dass sich bestimmte Ent- wicklungen nur auf ökonomischer Basis verwirklichen Sie lehnen in Ihrem Antrag ein Nachzulassungsmoni- lassen. Das ist zwar eine Binsenweisheit, aber eine Er- toring ab und fordern die Deregulierung der Freiset- kenntnis, die die Landwirtschaft, wie wir es im Moment zungsrichtlinie. Wenn Sie sich verantwortlich um die gerade erleben, vernachlässigt hat: Dort sind ökonomi- Gentechnik bemühen wollen, dann können Sie nicht sche Interessen nicht über die Zeitschiene, sondern nur gleich zu Anfang die Sicherheitsstandards herabsetzen. kurzfristig betrachtet worden. Vielmehr muss innerhalb dieser strengen Sicherheitsstan- dards überprüft werden, was machbar ist. Zudem bleibt Wenn Sie darauf abzielen, den Welthunger mit ökono- die Frage, ob die Verbraucher diese Produkte wollen oder mischen Instrumenten bekämpfen zu wollen, so ist die nicht. Sie dürfen die Zustimmung der Verbraucher nicht Gentechnik im Moment in keiner Weise ein geeignetes In- einfach voraussetzen und, bloß um die Durchsetzbarkeit strument, weil sich diejenigen, die sich in Drittweltlän- zu erreichen, gleich auf der ersten Stufe die Sicherheits- dern, wo der Hunger herrscht, als Bauern betätigen, dort kriterien absenken. Pflanzen anbauen und Tiere halten, das, was bei uns her- gestellt wird, überhaupt nicht leisten können. Sie wissen, Weil Sie immer darauf pochen, die Partei der Wirt- dass dieses veränderte Saatgut teurer ist als konventionel- schaft zu sein, sage ich Ihnen eines: Schauen Sie sich ein- les Saatgut, das im eigenen Betrieb nachgebaut wird, und mal um und Sie werden erkennen, dass Sie wahrlich voll dass gerade die gentechnisch manipulierten Sorten dort im Trend liegen. Schauen Sie sich an, was die „Wirt- nicht zu kaufen sind. Deshalb müssten die Ökonomie hier schaftswoche“ über die grüne Gentechnik schreibt, wie es und die Ökonomie in den Drittweltländern voneinander an der Börse aussieht, was die Firmen Monsanto und getrennt werden. Aber das ist nicht möglich. Aventis mit ihren Gentechniksparten machen. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das ist eine Lang- Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kollegin, es gibt zeitaufgabe!) den Wunsch nach einer Frage des Kollegen Heiderich. – Das ist eine Langzeitaufgabe. Ich weiß, dass bei gen- (B) technisch veränderten Lebensmitteln auf die zweite und (D) Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da er dritte Generation gezielt wird. Jetzt wird versucht, die mich so intensiv in seiner Rede bedacht hat, gestatte ich Verbraucher dadurch zu fangen, dass man ihnen ver- diese natürlich. spricht: Wir machen gesunde Lebensmittel, sogar Fett könnt ihr dann ohne Probleme verzehren. Helmut Heiderich (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Ich lasse mit mir darüber reden, was es bei der grünen Kollegin, darf ich Sie darauf hinweisen, dass der an der Gentechnik in Zukunft für Entwicklungen geben kann. ETH Zürich entwickelte „Golden Rice“ jetzt kostenlos Ich werde mir das anschauen. Aber erst muss der Nach- abgegeben wird und dass diese Entwicklung insbesondere weis bestimmter Leistungen der gentechnischen Manipu- in vielen asiatischen Ländern begrüßt wird? lation erbracht werden, ehe man an die Markteinführung denken kann. Ich bin dagegen, die Verbraucher über die offenen Fragen hinwegzutäuschen. Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ihre Frage finde ich prima. Wie lange, meinen Sie, wird dieser (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Reis kostenlos abgegeben werden? Wie lange wird eine und bei der SPD – Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Der Garantie dafür übernommen werden, dass dieses Saatgut Zug ist längst abgefahren!) kostenlos ausgegeben wird, wenn sich die Bauern jetzt auf Zum zweiten Thema der heutigen Debatte, der Zulas- diese Sorte einstellen, die Zucht ihrer einheimischen Sor- sung von Pestiziden. Sie haben von der neuen Verbrau- ten vernachlässigen und im eigenen Betrieb nicht mehr cherschutzministerin, Frau Künast, ein Bekenntnis zu der anbauen? Frage gefordert, ob synthetische Pflanzenschutzmittel, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch Pestizide genannt, nach wie vor Bedeutung haben und bei der SPD – Gustav Herzog [SPD]: So werden. Sie haben es von unserer Fraktion gehört: Natür- macht es ein Dealer! – Helmut Heiderich lich haben sie auch in Zukunft für die konventionelle [CDU/CSU]: Ich darf Ihnen leider nicht ant- Landwirtschaft Bedeutung. Natürlich wird jetzt nicht die worten!) Keule geschwungen und versucht, alle diese Mittel vom Markt zu drängen. Das hat die Regierung bisher nicht ge- – Ich würde Ihre Antwort gerne entgegennehmen. tan und wird sie auch in Zukunft nicht tun. Aber die Zulas- Sie machen es sich zu einfach. Wenn wir über Gen- sung von Pestiziden muss sich unter dem Aspekt des vor- technik in Lebensmitteln ernsthaft sprechen wollen, dann beugenden Verbraucherschutzes bewähren. Es kann müssen wir den Welthunger aus dem Spiel lassen. Sie be- deshalb auch in diesem Bereich nicht darum gehen, die 14730 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Steffi Lemke (A) Sicherheitskriterien herabzusetzen. Auch hier gilt: kein haltigkeit verpflichtet, wie die F.D.P. vorgibt. Wir sollten (C) Risiko für die Verbraucher! Das ist die Priorität beim Ein- uns irgendwann einmal wieder über Nachhaltigkeitsre- satz von Pestiziden. geln unterhalten; offensichtlich ist das schon zu lange her. Ihnen scheint es – so lese ich es aus Ihrem Antrag he- Wer profitiert von der gentechnischen Pflanzenzüch- raus, aber ich vermute, dies ist insgesamt die Leitlinie Ih- tung? Schauen wir in die USA: Diese Technologie im rer Politik – ausschließlich darum zu gehen, möglichst Agro-Business führt zu Kartellbildungen und Fusionen. viele Pestizide auf den Markt zu bringen bzw. möglichst (Walter Hirche [F.D.P.]: Wichtiger ist, wem sie viele dort zu halten. Für dieses Ziel wollen Sie möglichst nützt!) niedrige Zulassungskriterien festlegen. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: So ein Quatsch!) Sie führt zu einer immensen Beschleunigung der Ausbil- dung monokapitalistischer Strukturen und begünstigt Eine verantwortungsbewusste Politik muss sich bei der eben nicht den Mittelstand. Zulassung von Pestiziden folgenden Anforderungen stel- len, und zwar in der Reihenfolge, in der ich sie vortrage: (Beifall bei der PDS – Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Erstens. Sie muss die Sicherheit für Verbraucher, Anwen- Oh Gott, oh Gott, haben Sie noch nichts ge- der und Umwelt garantieren. Die Sicherheit muss an ers- lernt? „Monokapitalistische Strukturen“!) ter Stelle stehen. Zweitens. Sie muss transparent und über- Saatguthersteller wie Monsanto verkaufen ihre eigenen prüfbar sein. Drittens. Sie muss den neuesten Stand der Herbizide und Pestizide. Die Bauern sind nicht nur beim Technik gewährleisten. Viertens. Sie muss anwendungs- Saatgut, sondern auch bei den Giften von einem Konzern bezogen und problemgerecht sein. Das ist das Ziel der abhängig. Das soll marktwirtschaftlich sein? Herr Hirche, Bundesregierung und der sie tragenden Koalitionsfraktio- Sie fragen, wem es nützt? Zumindest bestimmt den Groß- nen beim Einsatz von Pestiziden. konzernen. Die Vorwürfe, die Sie im Zusammenhang mit der Har- Doch wirklich entscheidend für die PDS sind die Risi- monisierung auf europäischer Ebene bei der Lückenindi- ken dieser Technologien, die im Gegensatz zu anderen in kation erheben, weise ich zurück. Wir haben kürzester die Zeit in alle Natur- und Lebensbereiche eingrei- Harmonisierungsbestrebungen auf europäischer Ebene fen. vorangetrieben, um die im Übrigen auch von der OECD anerkannten Kriterien, die wir in Deutschland für die (Beifall bei der PDS) Zulassung haben, zu verankern. Auch haben wir dafür Angesichts des BSE-Dilemmas sollten wir aufmerksam Sorge getragen, dass dort, wo eine Lücke zu entstehen sein. Wir haben hier eine Verantwortung für die Verbrau- (B) drohte, diese kurzfristig und sicherheitsorientiert ge-cher und auch für die Landwirte. Prozesse auf der Basis (D) schlossen werden konnte. gentechnisch veränderter Organismen bzw. deren Trans- Das wird auch weiterhin die Prämisse unseres Han- gene sind bei einer Freisetzung in die Umwelt in der Re- delns sein, was aber nicht dazu führen darf, dass wir im- gel irreversibel, nicht rückholbar. Das kann man gar nicht mer mehr Anträge auf vereinfachte Genehmigung nach oft genug sagen, auch wenn es immer wieder anders dar- § 18 des Pflanzenschutzgesetzes mit der Begründung be- gestellt wird. kommen, es liege eine Lückenindikation vor, und damit (Beifall bei der PDS) das reguläre Zulassungsverfahren unterlaufen wird. Diese Entwicklung will ich nicht haben; das Ausnahmeverfah- Angesichts dessen ist es besonders erschreckend, dass bei ren darf nicht zur Regel werden. Wir werden uns auch der Gentechnik weltweit gerade einmal 1 Prozent für die weiterhin am vorsorgenden Verbraucherschutz orientie- Risikoforschung ausgegeben wird. Dazu habe ich von ren. Ihnen leider nichts gehört. Danke. Die einseitig motivierte Pflanzen- und Tierzüchtung führt zu einer weiteren Sortenverarmung und baut, sollten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Länder des Südens überhaupt das Saatgut bezahlen und bei der SPD) können, die Abhängigkeiten der Dritten Welt von den In- dustriestaaten aus. Was den Hunger angeht, so haben wir Vizepräsidentin Petra Bläss: Jetzt spricht die Kol- weltweit eine Überproduktion von Nahrungsmitteln und legin Eva Bulling-Schröter für die PDS-Fraktion. trotzdem sterben täglich Kinder an Hunger. Vielleicht hat dies auch etwas mit Verteilung und nicht nur mit Techno- logie zu tun. Eva Bulling-Schröter (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Innovationspotenzial Im Hinblick auf die Harmonisierung des Pflanzen- moderner Technologien ... erhalten“ – und dann noch für schutzrechtes in der EU kann ich für die PDS nur wie- den Mittelstand! –, das klingt eigentlich sehr gut. Den- derholen: F.D.P. und CDU/CSU tun so, als hänge vom noch ist der Antrag der F.D.P. nur ein weiterer Baustein Ih- Einsatz von Pflanzenschutzmitteln das Wohl und Wehe rer Lobbypolitik für die Gentechnik: eine Technik, die der Landwirtschaft ab. Dabei ist es noch nicht so lange weder dem Mittelstand noch den Landwirten etwas bieten her, dass landwirtschaftliche Produktion auch ohne die kann, geschweige denn den Hunger in Teilen der Welt Vielzahl dieser Mittel möglich war; in vielen Ländern ist wirklich lindert. Sie ist auch alles andere als derNach- dies noch immer möglich. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14731

Eva Bulling-Schröter (A) Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO Kosten des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln in Auf- (C) erleiden jährlich Millionen Menschen schwere Pestizid- trag gegeben, die aber, nachdem sie 1997 vorgelegt wor- vergiftungen. Mindestens 40 000 Fälle verlaufen tödlich. den war, still und heimlich in der Schublade verschwun- (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Aber nicht aufgrund den ist. Ihre Ergebnisse waren nämlich für den des Einsatzes transgener Pflanzen! Das Gegen- chemischen Pflanzenschutz so unerwartet heikel, dass teil ist der Fall!) man eine Diskussion über den prinzipiellen volkswirt- schaftlichen Nutzen von Pflanzenschutzmitteln befürch- – Daran kommen Sie nicht vorbei. Noch heute verkaufen tete. Pharmakonzerne, zum Beispiel die Firma Bayer, Wirk- stoffe, die von der WHO als „extrem gefährlich“ bezeich- Professor Hermann Waibel musste damals Prügel ein- net werden. stecken, weil er anregte, die deutsche Pflanzenschutzpo- litik angesichts des zwar positiven, aber doch recht be- Eine Harmonisierung der entsprechenden Gesetzegrenzten volkswirtschaftlichen Nutzens des Einsatzes von nach unten, wie es die Anträge fordern, kommt deshalb Pflanzenschutzmitteln grundsätzlich zu überdenken, weil für die PDS nicht in Frage. er ermittelt hatte, dass der Einsatz chemischer Pflanzen- Danke. schutzmittel in den weltweit wichtigsten Kulturen über- schätzt wird und weil er empfahl, den Einsatz ökonomischer (Beifall bei der PDS) Instrumente wie einer Steuer auf Pflanzenschutzmittel zu erwägen. Eine solche Abgabe wird bereits in Frankreich Vizepräsidentin Petra Bläss: Letzter Redner in die- und Dänemark erhoben und Großbritannien steht nach ser Debatte ist der Kollege Gustav Herzog für die SPD- meinen Erkenntnissen kurz vor einer Einführung. Fraktion. Jetzt ist es Zeit, Studien wie diese hervorzuholen und den Pflanzenschutz daraufhin abzuklopfen, wie Gedan- Gustav Herzog (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kol- ken an eine ganzheitliche Vorsorge, einen umfassenden leginnen und Kollegen! Als die F.D.P. Anfang des ver- Verbraucherschutz und eine umweltfreundliche Wirt- gangenen Jahres ihre Anfrage eingereicht hat, war das schaftsweise im gesamten Wirtschaften Eingang finden allgemeine Lamentieren über die ungleichen Wettbe-können. Ich bin mir sicher, dass der Pflanzenschutz prin- werbsbedingungen, die schleppenden Zulassungen und zipiell sinnvoll ist. Ich sehe allerdings die Notwendigkeit, die angeblich und zum Teil auch tatsächlich vorhandene noch stärker als bisher die Bedeutung des chemischen Bedrohung durch fehlende Pflanzenschutzmittel nochPflanzenschutzes zurückzudrängen. Er ist ein Bestandteil groß. integrierten Wirtschaftens, sollte aber auf Dauer seine (B) (D) Es ist still geworden in diesem Bereich und das liegt führende Stellung verlieren. nicht nur daran – wie sicherlich gleich jemand einwenden wird –, dass wir vor der viel größeren Herausforderung Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Herzog, BSE stehen, sondern auch daran, dass ein großer Teil des gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich? Zulassungsstaus abgebaut werden konnte. Die konzertierten Bemühungen der letzten zwei Jahre Gustav Herzog (SPD): Nein, es tut mir Leid. Es hat haben Erfolg gezeigt. Daher von dieser Stelle aus einbereits einige Verzögerungen gegeben. Zudem wartet herzlicher Dank an die beteiligten Ministerien, den Be- mein Flugzeug nicht, wohl aber zu Hause die Familie. rufsstand, die Industrie, die Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss – auch wir haben Druck gemacht – und vor al- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) len Dingen an die Bundesregierung. Es gibt genügend praxisreife Ergebnisse, die beweisen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dass es sehr oft auch ohne Chemie geht. Die Bundesregierung hat noch im Herbst 2000 ein Me- Ich bestreite nicht, Herr Heinrich, dass besonders die morandum über die Gleichwertigkeit der Wettbewerbs- Hersteller von Pflanzenschutzmitteln eine Menge Arbeit bedingungen im Bereich Pflanzenschutzmittel in Brüssel und Geld in die Entwicklung von Wirkstoffen stecken, um vorgelegt, da sich die Prüfung von Altwirkstoffen durch diese umweltschonender und anwenderfreundlicher zu die EU extrem verzögert hatte. Nicht zuletzt ging es auch machen. Ich sehe auch die Bemühungen vieler Landwirte, oft wegen von der Industrie unvollständig vorgelegter Un- Winzer und Gärtner, wirklich nach den Prinzipien des in- terlagen nicht voran. Das Memorandum ist bei allen an- tegrierten Anbaus zu arbeiten. deren Mitgliedstaaten auf große Zustimmung gestoßen Trotzdem werden noch heute 120 bis 180 Milli- und wir sind gespannt auf den Bericht, den die Kommis- onen DM pro Jahr aufgewendet, um Pflanzenschutzmit- sion in wenigen Monaten vorlegen muss. telrückstände aus dem Trinkwasser zu entfernen. Nach Im Grunde genommen könnte man die heutige Debatte dem Prinzip „Das Bessere ist der Feind des Guten“ wird also weitestgehend als Schnee von gestern bezeichnen. sich auch der Pflanzenschutz einer eingehenden Neube- Sie bietet aber eine gute Gelegenheit für einen grundsätz- wertung zu unterziehen haben. lichen Gedankenaustausch über den Pflanzenschutz. Die Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. von CDU/CSU und F.D.P. getragene Bundesregierung hatte Anfang der 90er-Jahre eine Studie über Nutzen und (Beifall bei der SPD) 14732 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

(A) Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe die Aus- Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für (C) die sprache. CDU/CSU ist der Kollege Klaus Brähmig. Wir kommen zu den Überweisungen und Abstimmun- gen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage Klaus Brähmig (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe auf Drucksache 14/2297 an die in der Tagesordnung auf- Kolleginnen und Kollegen! In der heutigen Sitzung bera- geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- ten wir über den Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundes- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung tagsfraktion zur Erhöhung des Trinkgeldfreibetrages und so beschlossen. den F.D.P.-Antrag zur Abschaffung der Trinkgeldbesteue- rung – ein Ziel, zwei Wege. Wenn man die Berichterstat- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- tung in der heutigen „BZ“ liest, stellt man fest: Offen- ses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Drucksa- sichtlich handelt es sich um einen Sachverhalt mit kleiner che 14/3713. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Ursache, aber großer Wirkung. Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/3096 mit dem Zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen in Titel „Zulassung von Pflanzenschutzmitteln auf nationa- Deutschland brauchen wir dringend eine Umorientierung ler und EU-Ebene beschleunigen“. Wer stimmt für diese zu einer Dienstleistungsmentalität und eine Qualitätsof- Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – fensive im Bereich Tourismus. Als Tourismuspolitiker Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen vonfreue ich mich besonders, dass Praktiker vor Ort wie der CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion angenommen. DEHOGA Lippe, der DEHOGA-Landesverband Baden- Württemberg und der Tourismusverband meines Wahl- Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der kreises sich bereits seit zwei Jahren dem Thema Qua- Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der litätssteigerung widmen. F.D.P. auf Drucksache 14/3298 mit dem Titel „Wettbe- werbsnachteile durch unterschiedliche Zulassungspraxis Eine Hürde auf diesem Weg zum Dienstleistungsland von Pflanzenschutzmitteln in Europa zügig abbauen“. Deutschland stellt die gegenwärtige Besteuerung von Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- Trinkgeldern dar, die alle im Dienstleistungssektor Täti- probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist gen wie beispielsweise Kellner, Pagen, Taxifahrer, gegen die Stimmen von CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion Krankenschwestern und Friseure gleichermaßen betrifft. angenommen. Jeder, der die Situation im Pflegebereich und im Gaststät- tengewerbe kennt, weiß von den Schwierigkeiten, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 sowie den Zu- hochmotivierte und besonders freundliche dienstleis- satzpunkt 9 auf: tungsbereite Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden, (B) die bereit sind, insbesondere außerhalb der üblichen Ge- (D) 17. Erste Beratung des von den Abgeordneten Gerda schäftszeiten sowie an Wochenenden und Feiertagen zu Hasselfeldt, Heinz Seiffert, Bartholomäus Kalb, arbeiten. weiteren Abgeordneten und der Fraktion der (Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Alles noch rich- CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes tig!) zur Erhöhung des Trinkgeldfreibetrages Eine wichtige Voraussetzung für die Motivation und – Drucksache 14/4938 (neu) – Freundlichkeit des Personals sind Trinkgelder der Gäste Überweisungsvorschlag: als Anerkennung für besonders qualifizierten Service und Finanzausschuss (f) als Ausdruck der Zufriedenheit mit der in Anspruch ge- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie nommenen Dienstleistung. Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Tourismus Mit unserem Gesetzentwurf zur Anhebung des Freibe- Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO trages für Trinkgelder von derzeit 2 400 DM auf 4 200 DM wollen wir in einem ersten Schritt die Rahmenbedingungen ZP 9 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst für den Dienstleistungssektor verbessern. Die zu erwar- Burgbacher, Gerhard Schüßler, Dr. Hermann Otto tenden Steuermindereinnahmen von schätzungsweise Solms, weiteren Abgeordneten und der Fraktion 130 Millionen DM werden durch die positiven Auswirkun- der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes gen für den Tourismusstandort Deutschland mehr als wett- zur Änderung des Einkommensteuergesetzes (Ab- gemacht. Motivierte Mitarbeiter und zufriedene Gäste aus schaffung der Trinkgeldbesteuerung) dem In- und Ausland sind das beste Marketingkonzept für – Drucksache 14/5233 – das Urlaubs- und Reiseland Deutschland. Überweisungsvorschlag: Obwohl auch in anderen Dienstleistungsberufen Trink- Finanzausschuss (f) gelder die Regel sind, werden sie in erster Linie im gas- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung tronomischen Bereich besteuert. Die Gastronomie ist aber Ausschuss für Tourismus wie kaum eine andere Branche zur Erbringung ihrer Leis- Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO tung auf motiviertes, gut geschultes und freundliches Per- sonal angewiesen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. NEN]: Sagten Sie schon einmal!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14733

Klaus Brähmig (A) Diese Benachteiligung im Vergleich zu anderen Branchen nur die SPD-Tourismuspolitiker, sondern auch der dama- (C) hängt damit zusammen, dass es hier leichter ist, die Höhe lige Ministerpräsident Gerhard Schröder versprachen im des Trinkgeldes in Abhängigkeit vom Umsatz zu schät- letzten Bundestagswahlkampf vollmundig sogar die völ- zen. lige Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung. Frau Kolle- gin Irber wiederholte diese Forderung erst heute in der Mit unserem Antrag bewegen wir uns im Gegensatz zu „B.Z.“. der Forderung der F.D.P. nach einer völligen Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung im derzeitig rechtlich gültigen (Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Gut!) Rahmen. Ich habe in den letzten Wochen die 16 Finanzminister (Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Deshalb müssen aller deutschen Bundesländer angeschrieben. Von keinem wir das ändern!) einzigen Finanzminister habe ich die Zusage bekommen, sich dafür einsetzen zu wollen, die Trinkgeldbesteuerung Die CDU/CSU steht in dieser Frage für seriöse Politik in voll und ganz abzuschaffen. nachvollziehbaren Schritten und für realistische Ziele mit Augenmaß. (Simone Violka [SPD]: Herr Milbradt kann ja (Beifall bei der CDU/CSU) nicht mehr!) Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bun- – Herr Milbradt hat mir geantwortet, als er noch im Amt desfinanzhofes sind Trinkgelder nun einmal Arbeitslohn war. Aber auch von den anderen Finanzministern, etwa und damit der Lohnsteuer unterworfen. Demnach handelt von Herrn Aller aus Niedersachsen, habe ich Antworten es sich hier nicht um eine vom Dienstverhältnis losgelöste bekommen, die in dieselbe Richtung gingen. und aus rein privaten Motiven erfolgte Schenkung, son- (Walter Hirche [F.D.P.]: Sie müssen ja nicht un- dern um ein zusätzliches Entgelt für die entgegengenom- bedingt die Finanzminister fragen, sondern Sie mene Dienstleistung. könnten mal die Wirtschaftsminister fragen!) (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Aber es ist wie so häufig bei rot-grüner Regierungspo- NEN]: Wohl wahr!) litik: Der Berg kreißt und gebiert nicht einmal eine Maus. – Außerdem hat meines Erachtens die Besteuerung von Wo waren Sie bei der Abstimmung über die beiden An- Trinkgeldern möglicherweise auch eine Schutzfunktion träge, die der Kollege Burgbacher hier für seine Fraktion für die Arbeitnehmer im Gastgewerbe. Denn sonst wäre im letzten Jahr eingebracht hat? Wir haben zu diesem zu befürchten, dass Arbeitgeber mit dem Hinweis auf die Thema schon zwei Debatten geführt, am 2. Dezember Steuerfreiheit der Trinkgeldzahlungen ihre eigenen Lohn- 1999 und am 29. Juni 2000. Die heutige Debatte ist also zahlungen reduzieren. die dritte. Lieber Kollege Burgbacher, ich gehe davon aus, (B) dass diese Debatte bis zum Ende der Legislaturperiode(D) (Dr. Barbara Höll [PDS]: Das geht schon fast garantiert nicht die letzte sein wird. kaum noch!) Jetzt ein Appell an meine Nachredner und die zu er- Ich möchte aus der „Welt“ von heute Folgendes zitie- wartenden Zwischenrufer: Verschonen Sie mich mit ren – die Überschrift des Artikels lautet „Trinkgeld-Ter- Ihren Hinweisen auf die angeblich so große Entlastung ror“ –: der Arbeitnehmer durch die Steuerreform. Nach Berech- Es ist bekannt, dass gerade in den USA das Service- nungen des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirt- personal in erster Linie vom Trinkgeld lebt – der schaftsforschung, RWI, haben die privaten Haushalte Stundenlohn ist bescheiden, soziale Absicherung zu- durch die gestiegenen Energiekosten und die Ökosteuer dem oft ein Fremdwort. vom zweiten Quartal 1998 bis zum zweiten Quartal 2000 einen Kaufkraftverlust von 37,3 Milliarden DM hinneh- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- men müssen. Die von der Bundesregierung genannte NEN]: Die liegen teilweise unter 2 DM!) Entlastung der privaten Haushalte im Zuge der Steuerre- Es darf nicht so kommen, dass die flexiblen Lohnbe-form 2000 von rund 33 Milliarden DM ist also bereits standteile die Tariflöhne ersetzen. mehr als verfrühstückt. Bei anhaltend hohen Energie- kosten wird die von der Bundesregierung angegebene Weiterhin gebe ich zu bedenken, dass nominale Werte Gesamtentlastung von 65 Milliarden DM im Zeitraum von Zeit zu Zeit der Realität angepasst werden müssen. von 1998 bis 2005 noch nicht einmal die höheren Ener- Die Anpassung des seit 1990 unveränderten Freibetrages giekosten kompensieren. ist angesichts des Anstiegs des allgemeinen Preisniveaus mehr als überfällig. Schließlich und endlich könnte mit Neben dieser Problematik hat sich die Bundesregie- der Anhebung des Freibetrages ein Beitrag zurVerwal- rung aber auch einige gezielte Belastungen für die Unter- tungsvereinfachung geleistet werden; denn damit würde nehmen des Gastgewerbes einfallen lassen. Erinnert sei verhindert, dass auch bei geringen Trinkgeldbeträgenhier nur an die Neuregelung der geringfügigen Beschäfti- Steuerfestsetzungen notwendig werden. Trotz diesergungsverhältnisse und an die Abschaffung des Vorsteuer- schlüssigen Argumente für die Anhebung des Freibetra- abzugs bei geschäftlich veranlasster Bewirtung und Be- ges wurden bisher alle Vorstöße in diese Richtung von der herbergung. Die Auswirkungen dieser Politik sind rot-grünen Koalition niedergestimmt. offensichtlich. Wie stimmt diese Haltung mit Ihren Forderungen vom Wir freuen uns mit der Branche über die positive Mai 1998 überein, sehr geehrte Kollegen der SPD? Nicht Entwicklung der Gäste- und Übernachtungszahlen im 14734 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Klaus Brähmig (A) Deutschlandtourismus: Erstmals mehr als 300 Milli- deren Steuerzahler tragen. Was das heißt, haben die Men- (C) onen Übernachtungen sind eine beeindruckende Leis- schen in diesem Land vor 1998 deutlich gespürt, indem tung. Aber schlägt sich das auch auf die Umsatzentwick- sie jährlich einen größeren Fehlbetrag in ihrer Geldbörse lung und den Arbeitsmarkt nieder? Fehlanzeige! 1999 feststellen mussten. Während der Klein- und Mittelver- sank der Umsatz im Gastgewerbe um 1,4 Prozent und im diener ohne Kompromisse seine Steuern zahlen musste, Zeitraum von Januar bis Oktober 2000 stieg er lediglich erlaubten es in Ihrer Regierungszeit über 70 Sondertatbe- um 1,1 Prozent. Durchgängig negativ sind die Werte für stände dem Großverdiener, seine Steuerschuld oftmals bis die Gastronomie, deren Umsatz 1999 um 2,7 Prozent und auf Null zu reduzieren. Das war eines der ersten Dinge, in den ersten Monaten des letzten Jahres um weiteredie wir nach der Regierungsübernahme abgeschafft ha- 1,8 Prozent sank. Es überrascht deshalb nicht, dass die ben, und das war gut und richtig so. Zahl der Beschäftigten im Gastgewerbe 1999 um 6,4 Pro- zent und von Januar bis Oktober 2000 noch einmal um (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 2,7 Prozent zurückging. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das von der rot-grünen Bundesregierung suggerierte Das hatten wir den Bürgerinnen und Bürger vor der Wahl Bild der Boombranche Tourismus steht also auf tönernen versprochen und wir haben es auch gehalten, weil wir es Füßen. Zu einer ehrlichen volkswirtschaftlichen Analyse wie die Menschen, die wir als Abgeordnete vertreten, als gehören eben alle Zahlen und nicht nur eine selektive Be- ungerecht empfinden, wenn sich nicht alle nach ihrer trachtung. Wenn die Bundesregierung, wie Bundeskanz- Leistungsfähigkeit an dem Steueraufkommen beteiligen. ler Gerhard Schröder formuliert hat, ihren Erfolg wirklich Natürlich wurde das dicke Paket der Steuervergünsti- daran messen lassen will, inwieweit die Arbeitslosigkeit gungen nicht auf einmal von Ihnen beschlossen. Da war abgebaut wird, dann können wir für den arbeitsplatzin- es mal die eine Gruppe, für die eine Ausnahmeregelung tensiven Tourismus feststellen: Durchgefallen – nicht ver- gemacht wurde, mal die andere. Ich will nicht verneinen, setzungsfähig! dass einige dieser Regelungen den neuen Ländern zugute Meine Damen und Herren, die Unterstützung unseres kommen sollten und auch einige Zeit zugute kamen. Aber Gesetzentwurfes wäre ein kleiner, aber nicht zu unter- irgendwann wurden aus Aufbauprogrammen nur noch schätzender Baustein, ein auch psychologisch wichtiges Steuersparprogramme und Sie haben durch Ihr Nichts-da- Signal für einen Neuanfang in Ihrer bisher verfehlten Tou- gegen-Tun bestätigt, dass Sie darüber entweder den rismuspolitik. Überblick verloren hatten oder aber dass diese Modelle, von denen nur Großverdiener profitierten, gewollt waren (Walter Hirche [F.D.P.]: Das gilt erst recht für und geduldet wurden. Wir haben damit Schluss gemacht. unseren Gesetzentwurf!) (B) Anstatt mal die eine, mal die andere Gruppe zu bedie- (D) – Da schauen wir einmal. nen, haben wir eine Steuerreform auf den Weg gebracht, (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- von der alle profitieren. NEN]: Deswegen wird er auch nicht besser!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das von Ihnen auf unseren Vorschlag hin ausgerufene DIE GRÜNEN) Jahr des Tourismus in Deutschland braucht – dieser Appell Wir haben den Eingangssteuersatz für das Jahr 2001 auf richtet sich an die die Regierung tragenden Fraktionen – 19,9 Prozent gesenkt. Nur einmal zur Erinnerung: Im Jahr positive Impulse. Wir wollten keine Showveranstaltung 1998 lag er noch bei 25,9 Prozent. Das ist eine Absenkung für Grüßonkel, sondern eine langfristige Umorientierung um 6 Prozentpunkte. Bis zum Jahr 2005 wird der Ein- zu einer stärkeren Dienstleistungsmentalität. gangssteuersatz auf 15 Prozent gesenkt. Vielen Dank. (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Ich dachte, wir (Beifall bei der CDU/CSU) reden über Trinkgeldbesteuerung!) Damit entlasten wir vor allem die kleinen Einkommen um Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die SPD-Fraktion insgesamt 10,9 Prozentpunkte. Das ist eine Leistung, die spricht jetzt die Kollegin Simone Violka. die Menschen spürbar entlastet. Das haben Sie während Ihrer Regierungszeit nie fertig gebracht, Simone Violka (SPD): Sehr geehrte Damen und Her- (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Wir hatten eine ren Abgeordnete! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Die Steuerreform beschlossen! Die haben Sie im CDU/CSU fordert eine Erhöhung des Freibetrages von Bundesrat verhindert!) 2 400 DM auf 4 200 DM und will damit unter dem Deck- im Gegenteil: Sie haben hier im Bundestag auch noch ge- mantel „Vereinfachung des Steuerrechts“ mal wiedergen diese Steuerreform gestimmt. Zum Glück haben ei- Ausnahmetatbestände schaffen. Die F.D.P. setzt sogarnige Ihrer Parteifreunde in den Ländern die politische noch einen drauf und fordert die komplette Abschaffung Brille abgesetzt und im Bundesrat für diese Steuerreform der Besteuerung von Trinkgeldern. gestimmt, weil sie erkannt haben, wie richtig und wichtig (Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Richtig!) sie für unser Land ist. Doch solche Ausnahmetatbestände und Steuervergünsti- (Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Weil wir einiges gungen für eine einzelne Gruppe müssen immer die an- verbessert haben!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14735

Simone Violka (A) Aber die Senkung der Steuern ist ja nicht unsere ein- Die Steuerreform, die wir verabschiedet haben, wurde (C) zige Leistung. Zusätzlich steigt noch der Steuerfreibetrag erst möglich, weil wir die Basis der Steuerzahler verbrei- auf gut 14 000 DM in diesem Jahr und auf gut 15 000 DM tert haben und insbesondere Steuervergünstigungen weit- im Jahr 2005. Das bringt auch den Arbeitnehmerinnen gehend abgeschafft haben. Genau das Gegenteil wollen und Arbeitnehmern im Gastronomiegewerbe mehr Geld Sie mit Ihrem Gesetzentwurf erreichen. Aber von diesem ins Portemonnaie. Weg der politischen Vernunft werden wir nicht abwei- chen. Darin stimmen uns im Übrigen auch dieWirt- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schaftssachverständigen zu. Wenn Sie uns aus parteipo- DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: litischen Gründen nicht glauben, dann glauben Sie Das brauchen sie, um Ihre Steuerreform zu be- wenigstens den Sachverständigen. Auf diese beziehen Sie zahlen!) sich doch sonst so gern, wenn deren Aussage in Ihrem Sinne ist. : Frau Kollegin Violka, Vizepräsidentin Petra Bläss Übrigens bin ich bei der Vorbereitung meiner Rede auf gestatten Sie eine Zwischenfrage? einen interessanten Ausspruch gestoßen, den ich Ihnen nicht vorenthalten will. Unter der Überschrift „Anforde- Simone Violka [SPD]: Ja. rungen an eine moderne Steuerreform“ konnte ich lesen: (Dr. Barbara Höll [PDS]: Du musst bestimmt Gleichbehandlung aller Einkunftsarten zum Flieger!) Ein modernes Steuerrecht basiert auf einem synthe- – Ich muss nicht zum Flieger. tischen Einkommensbegriff: Alle Einkünfte werden in einer Summe zusammengefasst und auf dieses Ge- samteinkommen ein einheitlicher Tarif angewendet. Klaus Brähmig (CDU/CSU): Ich auch nicht, ich fahre mit der Bahn. (Walter Hirche [F.D.P.]: Aber Schenkungen sind keine Einkünfte in dem Sinne!) (Zuruf des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]) – Ein Trinkgeld ist keine Schenkung. Das haben wir uns in mehreren Debatten eigentlich schon angehört. Im Übri- – Dafür bin ich nicht auch noch zuständig, Kollege gen ist dieses Zitat nachzulesen bei: www.cdu.de. Ramsauer. Das widerspricht nun völlig dem von Ihnen heute ein- Frau Kollegin Violka, sehe ich die Sache richtig, dass gebrachten Gesetzentwurf. Im Übrigen haben auch die es in der SPD-Fraktion zwischen der Arbeitsgruppe Petersberger Beschlüsse den Abbau von Steuervergüns- Finanzen – Sie halten ja hier ein leidenschaftliches Plä- (B) tigungen verlangt. Aber daran können Sie sich anschei-(D) doyer dafür, den Freibetrag bei 2 400 DM zu belassen – nend nicht mehr erinnern. Das ist eigentlich nicht ver- (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Sie ist wunderlich, wenn man die in Ihren Reihen grassierenden noch gar nicht soweit!) Erinnerungslücken bedenkt, die vor allem immer dann vorhanden sind, wenn es um Geld geht. und der Arbeitsgruppe Tourismus möglicherweise noch Abstimmungsbedarf gibt? Ihre Kollegin und meine ge- Nun wieder zurück zu Ihrem Gesetzentwurf. Sie schätzte Mitstreiterin im Tourismusausschuss hat sichführen in der Begründung aus, die nicht gerade hoch ent- nämlich heute in der „B. Z.“ – ich habe darauf hingewie- lohnten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem sen – ganz klar und eindeutig für die Abschaffung der Gastronomiegewerbe sollen nicht durch eine zu rigide Trinkgeldbesteuerung ausgesprochen. Könnten Sie viel- Besteuerung geschwächt werden. Ich gebe Ihnen natür- leicht dazu ganz kurz Stellung beziehen? lich Recht, dass die Entlohnung dort nicht üppig ist, unter anderem auch deshalb, weil sich der Arbeitgeber auf die Trinkgelder beruft, die den Lohn ergänzen. Simone Violka (SPD): Selbstverständlich kann ich Ihnen dazu etwas sagen. Ich kann zwar nicht die Aussage Aber ich verstehe nicht, weshalb man dieses Phäno- eines Mitglieds unserer Fraktion bewerten und ich kenne men über Steuervergünstigungen lösen soll. Erklären Sie auch nicht das Originalinterview. Wir alle wissen, wie die doch bitte einmal einer Angestellten, die an einer Tank- Presse mit so etwas umgeht. Aber ich kann Ihnen eines sa- stelle in Schichten arbeitet, auch am Wochenende arbei- gen: Wenn Sie uns nicht so riesengroße Haushaltslöcher ten muss, auch den ganzen Tag auf den Beinen ist, auch hinterlassen hätten, dann hätten wir in der Steuerfrage freundlich sein muss und dafür 12 DM die Stunde be- natürlich einen größeren Spielraum. kommt, warum sie ihren Lohn voll versteuern muss und jemand anderes, der ähnliche Arbeitsbedingungen in der (Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Das meinen Sie Gastronomie hat, für einen Teil seines Einkommens keine aber nicht ernst!) Steuern zahlen soll. – Das meine ich ganz ernst. Ein weiterer Grund, den Sie für Ihre Gesetzesinitiative (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ angegeben haben, ist die Motivation für gute Leistungen DIE GRÜNEN – Ernst Burgbacher [F.D.P.]: des Personals. Ich frage Sie: Wollen Sie allen Ernstes Ar- Reden Sie mal über Trinkgeldbesteuerung, ir- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch einzelne Steu- gendwann! Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das erentlastungen motivieren? In meinen Augen ist das völ- interessiert die Leute!) lig absurd; denn dann müssen Sie auch meiner als Beispiel 14736 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Simone Violka (A) dienenden Tankstellenangestellten eine Steuerbefreiung keiner Besteuerung besteht nämlich die Gefahr, dass(C) einräumen. Auch sie hat keine angemessene Entlohnung Lohnbestandteile plötzlich in Trinkgelder umgewandelt und seit mindestens drei Jahren keinen Pfennig Lohn-werden. Die gegenwärtige Freigrenze von 2 400 DM dient erhöhung gehabt. Oder wollen Sie vielleicht sagen, dass auch als Barriere gegen nicht mehr zu kontrollierende diese Angestellte nicht motiviert ist, nicht freundlich ist? Steueroasen. (Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Völlig am Problem (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Können Sie vorbei!) Ihre Redezeit nicht an Frau Irber abtreten?) Aber das ist nur ein Beispiel. Es ist richtig, die Bezah- Auch wenn Sie es anders sehen: Wir nehmen die Belange lung im Dienstleistungsgewerbe ist größtenteils ziemlich des Gastgewerbes sehr ernst. gering. Aber für eine angemessene Bezahlung sind immer noch die Tarifpartner verantwortlich. Wer wie Sie die (Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Aber nur in Steuerpolitik zur Nachbesserung magererTarifab- Worten!) schlüsse einsetzen will, bürdet dem Steuerzahler eine Ihre Zwischenrufe und Ihre Unruhe zeigen mir, dass ich Last auf, die eigentlich die Branche bzw. der Arbeitgeber den Nerv getroffen habe. zu tragen hat. (Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Oh nein!) Mir ist im Übrigen auch nicht klar, wie die CDU mit ihrer Begründung ausgerechnet auf eine Erhöhung des Wir haben die Tourismusbranche und das Gastrono- Freibetrages von 75 Prozent kommt. In meinen Augen ist miegewerbe mit mehr Haushaltsmitteln ausgestattet, als das eine völlig willkürliche Festlegung, der jeglicheSie das je gewollt haben. Im Bundeshaushalt 2000 stiegen Grundlage fehlt. 1990 wurde der bis dahin geltende Frei- die Zuwendungen an die deutsche Zentrale für Tourismus betrag auf 2 400 DM angehoben. Jetzt, zehn Jahre später, auf rund 42 Millionen DM. Das ist ein Anstieg um 6 Pro- soll er um 75 Prozent erhöht werden. Als Begründung zent. führen Sie an, aufgrund des zwischenzeitlich angestiege- (Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Das kriegt doch nen Preisniveaus sei eine Anpassung vernünftig. Wollen nicht die Gastronomie! Das ist doch Quark!) Sie damit ausdrücken, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer jetzt 75 Prozent mehr Trinkgeld als 1990 Ich komme zu dem Wachstum, das Sie angesprochen bekommen? Aber wäre es, wenn Sie der Meinung sind, haben. Ich erkenne nicht, wo das geltende Recht dem das Preisniveau sei so stark gestiegen, nicht logischer, da- Wachstum der Branche im Weg stehen soll. Gestern stand von auszugehen, dass weniger Trinkgelder gezahlt wer- in der Zeitung ein interessanter Artikel mit der Überschrift den, weil die Gäste weniger Geld zur Verfügung haben? „Gastronomie fordert die Green Card für Kellner“. Tatsa- (B) In diesem Fall wäre die bisherige Freigrenze mehr als aus- che ist aber, dass es nicht zu wenig Stellen, sondern zu we- (D) reichend. nig Kellner gibt. Da fragt man sich natürlich, woran das liegt. (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das ist SPD- Denken, fern der Realität!) (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Weil sie ihr Trinkgeld versteuern müssen! Das ist doch – Die Realität ist so, dass ich sehr lange gekellnert habe. klar!) Ich weiß, was an Trinkgeldern gezahlt wird. Ich habe das Trinkgeld übrigens versteuert; denn ich habe das meinem In diesem Artikel äußert sich ein Kellner, der einen Job Arbeitgeber vorher mitgeteilt. sucht – ich zitiere –: (Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Hoffentlich!) Vor zehn Jahren waren die Arbeitsbedingungen bes- ser. Da wurde gut gezahlt, Festanstellung statt Sai- – Das können Sie nachprüfen. Ich habe das sogar nach sonarbeit. Heute werden wegen der Billiglöhne lie- Steuerklasse 6 versteuert. ber zehn schlechte Leute als eine gute Fachkraft Es tut mir Leid, aber ich kann Ihre Argumente über- eingestellt. haupt nicht nachvollziehen und erst recht nicht teilen. Im Genau das ist der Kern des Problems; denn auch vor Gegenteil: Die jetzige Regelung der Besteuerung hatzehn Jahren wurde das Trinkgeld schon besteuert. durchaus auch problematische Seiten. Sie ist nämlich des- halb problematisch, weil diese Gruppe von Arbeitnehme- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rinnen und Arbeitnehmern gegenüber anderen Beschäf- DIE GRÜNEN) tigten bei der Versteuerung des Einkommens schon jetzt Man ist in der Gastronomie davon abgekommen, seine bevorzugt wird. Ein Freibetrag von 2 400 DM ist für Mitarbeiter zu halten. Man ist zu 630-Mark-Jobs und zur viele Menschen in meiner Region schon ein Monatslohn. Scheinselbstständigkeit übergegangen. Wir wissen doch Allerdings kann ich diese Bevorzugung vertreten, weil selbst, welche seltsamen Blüten dieses Vorgehen getrie- mit der Abschaffung des Freibetrages der bürokratische ben hat: Ein Kellner wurde nicht mehr als Kellner be- Aufwand natürlich immens ansteigen würde. Das ist aber schäftigt, sondern als Selbstständiger. Er musste das auch das einzige Argument, das ich gelten lasse. Essen an der Theke kaufen und an den Gast weiterver- Ein weiteres gewichtiges Argument steht Ihrem Ent- kaufen. Er hatte keinen Handlungsspielraum. Wenn der wurf entgegen. Unsere Aufgabe ist es auch, den Steuer- Umsatz nicht stimmte, bekam er den Vertrag nicht ver- zahler gesetzlich vor steuerlichen Missbräuchen zu schüt- längert. Wo, bitte schön, ist das sozial? Dieser Zustand ist zen. Bei einem sehr großen Freibetrag oder bei überhaupt nicht hinzunehmen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14737

Simone Violka (A) Solche Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, entspre- ändern, dass Trinkgelder geschätzt werden. So läuft es in (C) chende gesetzliche Regelungen zu haben. Wenn wir diese der Praxis. Das Finanzamt schätzt, ob das Trinkgeld gesetzlichen Regelungen nicht mehr hätten, würde es2 Prozent, 3 Prozent oder mehr des Umsatzes ausmacht; viele Ausnahmetatbestände geben, sodass jeder Zweite das geht bis 3,8 Prozent. Dementsprechend fällt der Steu- – unabhängig von dem Dienstleistungsgewerbe – zurerbescheid aus. Hälfte vom Trinkgeld leben müsste, egal, woher es Dann geht es weiter. Das Finanzamt gibt dieses Ergeb- kommt, und nur noch die Hälfte seines Einkommens ver- steuert. nis der Betriebsprüfung an die BfA weiter. Die BfA schickt einen Bescheid über die Sozialbeiträge an den Vielen Dank. Wirt. Ich sage Ihnen: Das geht in Dimensionen – ich kann (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ihnen das gerne zeigen – bis 40 000 oder 50 000 DM. Das DIE GRÜNEN) kann doch nicht sein. Dass diese Zahlen auf Schätzungen beruhen, ist doch kein System, das die Menschen über- haupt noch nachvollziehen können. Vizepräsidentin Petra Bläss:Für die F.D.P.-Frak- tion spricht jetzt der Kollege Ernst Burgbacher. (Beifall bei der F.D.P. – Walter Hirche [F.D.P.]: Aber immer den Kleinen ans Leder! Wie bei den 630-Mark-Jobs! – Gegenruf der Abg. Ernst Burgbacher (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich feststel- NEN]: Das soziale Gewissen der Nation!) len, dass es schon seltsam ist, dass bei dieser Debatte we- der ein Vertreter des BMF noch ein Vertreter des BMI an- Außerdem geht das gegen dieGleichmäßigkeit der wesend ist. Diese Tatsache mag jeder werten, wie er will. Besteuerung, weil nur ein Bereich herausgegriffen wird, nämlich Hotels und Gastronomie. In den meisten anderen (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bereichen werden die Trinkgelder überhaupt nicht be- NEN]: Diese Debatte führen wir schon zum steuert. Auch aus dem Grunde geht das nicht. dritten Mal! Es reicht! – Gegenruf des Abg. Walter Hirche [F.D.P.]: Ein bisschen Respekt Konsequenz daraus: Dann müssen wir halt – zu den vor dem Parlament gehört sich!) Einwürfen vorhin kann ich nur sagen: wir sind doch der Die F.D.P.-Fraktion hat im Oktober 1999 einen ersten Gesetzgeber – Gesetze ändern. Gesetzentwurf zur Abschaffung der Trinkgeldbe- (Beifall bei der F.D.P.) steuerung eingebracht. Er wurde im Juni 2000 ab- gelehnt. Wir sind an der Sache weiter drangeblieben, Deshalb haben wir unseren Gesetzentwurf eingebracht, in (B) weil es um die kleinen Leute geht – es geht nicht um dem steht: Freiwillig gezahlte Trinkgelder gehören nicht (D) Großverdiener, wie Sie gerade gesagt haben –, für die zu den Einkünften aus nicht selbstständiger Arbeit. – dies ein Problem ist. Dann ist alles klar. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Walter Hirche [F.D.P.]: Richtig!) Wir begrüßen es deshalb, dass dieses Thema heute wieder Das können wir als Gesetzgeber natürlich machen. zur Sprache kommt. Jetzt lassen Sie mich noch zu der rot-grünen Mehrheit Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, im Hause kommen. Sie haben dasJahr des Tourismus Sie fordern die Erhöhung des Freibetrags. Sie beziffern ausgerufen. Sie haben versprochen, gerade die Träger des die Steuermindereinnahmen auf 130 Millionen DM. Ich Tourismus, Hotels und Gastronomie, zu unterstützen. Was bitte Sie sehr, das zu begründen. Ich bin der Sache nach- haben Sie gemacht? gegangen: Diese Zahl ist wirklich durch nichts zu be- (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Nichts!) gründen. Wir gehen von einem Nettoaufkommen der ge- samten Trinkgeldbesteuerung in Höhe von 3 Millionen Sie haben die 0,5-Promille-Grenze eingeführt, ein Schlag bis 4 Millionen DM aus. Woher Sie die Zahl von 130 Mil- für die Gastronomie. lionen DM haben, weiß ich nicht. (Lachen bei der SPD – Christine Scheel Sie verfolgen einen falschen Ansatz in dieser Sache. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich glaube, (Beifall bei der F.D.P.) jetzt geht‘s los!) Trinkgelder sind für den Dienstleistenden nicht einkalku- – Sie haben halt keine Ahnung, um was es geht, das ist das lierbar. Er hat keinen Anspruch darauf; sie kommen nicht Problem; deshalb lachen Sie. vom Arbeitgeber. Deshalb handelt es sich nicht um Ein- (Beifall bei der F.D.P.) kommen aus unselbstständiger Tätigkeit, sondern um eine Schenkung des Gastes an den Dienstleistenden. Das soll- Sie haben eine Änderung des Gaststättengesetzes vorge- ten wir alle hier begreifen. legt. Wir haben das diskutiert. Danach gehen Jugendliche mit einem Taschenrechner in die Kneipe und rechnen aus, (Beifall bei der F.D.P.) welches Getränk billiger ist. Das ist völlig realitätsfremd. Wenn Sie jetzt den Freibetrag erhöhen würden, würden Außerdem novellieren Sie das Betriebsverfassungsgesetz Sie überhaupt nichts an dem bürokratischen Aufwand der usw. In der Summe sind das Benachteiligungen von Ho- Aufzeichnungspflicht ändern. Sie würden nichts daran tels und Gastronomie. 14738 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Ernst Burgbacher (A) Deshalb sage ich: Überwinden Sie sich doch endlich, Es ist vollkommen klar, dass man sich als Opposition (C) an dieser Stelle etwas Positives zu tun. hinstellen und, damit es nicht langweilig wird, hartnäckig zwei Varianten fahren kann. (Beifall bei der F.D.P.) (Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Wir fahren nur Frau Irber hat es gefordert, Herr Hilsberg hat es gefor- eine Variante!) dert, andere haben es öffentlich gefordert und Sie hatten es in Ihrem Wahlprogramm. Die eine Variante ist die der F.D.P. – darauf komme ich noch zurück –: generelle Freistellung. Auch die Variante (Simone Violka [SPD]: Wir hatten es nicht im der CDU/CSU-Fraktion ist interessant. Der letzte Antrag Wahlprogramm!) hat sich auf einen Trinkgeldfreibetrag von 3 600 DM be- – Aber Sie hatten es in einem Parteiprogramm. – Der zogen, mittlerweile ist sie bei 4 200 DM gelandet. Das heutige Bundeskanzler hat dem DEHOGA nachweis- ging relativ schnell, nämlich innerhalb eines halben Jah- lich – ich kann Ihnen das mit Datum sagen – verspro- res. chen: Wenn wir an die Regierung kommen, schaffen wir (Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Es hat etwas län- die Trinkgeldbesteuerung ab. ger gedauert!) Halten Sie endlich Ihre Versprechen! Wir wollen dem Hotel- und Gaststättengewerbe un- (Beifall bei der F.D.P.) ter die Arme greifen. Ich verspreche Ihnen: Wir lassen nicht locker und wir (Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Sie machen aber werden erreichen, dass ein Beitrag dazu geleistet wird, das Gegenteil!) dass das Lächeln im Service zurückkommt. Das nehmen wir sehr Ernst. Deshalb sage ich dies ganz Ich danke Ihnen. bewusst. Das ist sehr sinnvoll. Wir wissen, dass gerade in Gebieten, in denen andere Unternehmen wenig Chancen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – haben, durch das Hotel- und Gaststättengewerbe Arbeits- Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Was sind denn plätze und Einkommen gesichert sind und dass wir es hier die Leitlinien? Das ist doch das Wahlpro- mit einer sehr arbeitsintensiven Branche zu tun haben, die gramm! Hier steht es doch! – Gegenruf der auch ausbildet. Das muss man an dieser Stelle auch ein- Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE mal erwähnen. Nach Angaben des DEHOGA waren in GRÜNEN]: Parteiprogramm und Wahlpro- diesem Bereich im Jahre 1999 gut 10 Prozent mehr Aus- gramm, das ist ein Unterschied! – Simone zubildende beschäftigt als 1998. Violka [SPD]: Jedenfalls bei uns!) (B) (Dr. Heinrich L. Kolb (F.D:P.): Das ist doch eine (D) Leistung! Das muss man doch honorieren!) Vizepräsidentin Petra Bläss: Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel für die Fraktion des Bündnis- Es lohnt sich also, diese Branche, die – das muss man auch ses 90/Die Grünen. klar sehen – immer wichtiger wird, zu unterstützen. (Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Sehr gut!) Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Violka hat angesprochen, wie sich der Haushalt Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es entwickelt hat. Wenn man die jetzigen Zahlen mit denen ist schon überraschend, welche neuen Erkenntnisse man vergleicht, die im Haushalt verankert waren, als wir die an einem Freitagmittag noch gewinnen kann, zum Bei- Regierung übernommen haben, so zeigt sich, dass wir den spiel dass die F.D.P.-Fraktion zur Rettung der gastrono- Bundeshaushalt im Bereich des Fremdenverkehrs mit mischen Wirtschaft mit der Forderung nach der Aufhe- 45,5 Milliarden DM unterstützen. Im Vergleich von 1998 bung der Promillegrenze einen Appell für Alkohol am mit dem Jahr 2001 ergibt sich somit eine 8-prozentige Steuer formuliert. Das ist unglaublich. höhere Unterstützung für die Tourismusbranche gegen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – über Ihrer Regierungszeit – und dies trotz des Sparpro- Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Aber das nehmen gramms, das wir fahren. Dies ist eine ganz klare und gute Sie zurück, Frau Scheel!) politische Entscheidung gewesen. Wenn das soziale Gewissen der Nation hier meint, die (Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Das hat aber mit Koalition auffordern zu müssen, eine Aufhebung der Be- dem Thema gar nichts zu tun! – Zuruf von der steuerung vorzunehmen, dann frage ich mich, warum Sie CDU/CSU: Es ist auch im Gesamtkomplex nicht ganz richtig!) das eigentlich nicht in den 29 Jahren Ihrer Regierungstä- tigkeit und auch nicht im Zusammenhang mit der Er- Die Frage, die sich heute stellt, lautet: Ist dieSteuer- höhung der Freigrenze 1990 getan haben. Sie haben sich befreiung für Trinkgelder oder ein höherer Freibeitrag ein anscheinend bei Ihrem Koalitionspartner zum Glücksinnvoller Weg? Bei der Beantwortung des ersten Teils nicht durchsetzen können. der Frage ist interessant zu wissen, was Bayern flankie- rend zum Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion in den (Ernst Burgbacher [F.D.P.]: „Zum Glück“?) Bundesrat eingebracht hat. Dort hat Staatsminister Auch das haben wir heute eindeutig feststellen kön- Bockelt am 1. Dezember gesagt, warum die Steuerfreiheit nen. für Trinkgelder kein guter Weg ist. Er hat ausgeführt, der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14739

Christine Scheel (A) Fantasie, neue Direktentlohnungssysteme durch den Kun- Dr. Barbara Höll (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kol- (C) den zu schaffen, wären dann keine Grenzen gesetzt. Das leginnen und Kollegen! Ich möchte mich der Kritik an der würde im Endeffekt auch für die dort beschäftigten Ar- Regierung durchaus anschließen. Auch ich finde, dass beitnehmer mehr Unsicherheit schaffen und noch mehr man freitags um 15 Uhr noch Verantwortung auf der Re- Druck auf die ohnehin niedrigen Löhne ausüben. gierungsbank wahrnehmen könnte, sollte und müsste. Ich kann nur sagen: Da hat er Recht. Auch die CSU hat (Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Das zeigt den Res- manchmal Recht. pekt vor dem Parlament!) (Dr. Heinrich L. Kolb (F.D:P.): Das finden wir Nach meiner Auffassung lag Herr Brähmig mit seiner nicht!) Begründung des Gesetzesentwurfes nicht ganz richtig. Herr Brähmig, Sie haben festgestellt, dass in bestimmten Ich frage mich, ob auch den Antragstellern der F.D.P. Dienstleistungssektoren vielfach hoch motivierte Leute bewusst ist, was sie tun, wenn sie, was die Steuerbefrei- fehlen. Beispiel Pizzadienst in Leipzig: Dieser sucht stän- ung betrifft, ein Scheunentor aufmachen. Wir werdendig Leute. 10 DM brutto Stundenlohn, Einsatz des eige- Auswirkungen auf die Steuereinnahmen zu verzeichnen nen Autos mit eigenem Benzin. Sie können sich vorstel- haben. len, was dabei netto herauskommt. Sie haben es ja gerade selbst angesprochen, Herr Dies bezeichnet ganz klar, worin das Hauptproblem Burgbacher. Man kann nicht sagen, welche Zahlen zu- liegt: Dies sind prekäre Beschäftigungsverhältnisse, viel grunde gelegt werden müssen. Es gibt nur spekulative zu niedrig bezahlt und zumeist noch mit sehr belastenden Überlegungen. Es liegen keine konkreten Berechnungen Arbeitszeiten verbunden. vor. Das heißt, Sie gehen damit ein Wagnis ein, (Beifall bei der PDS) (Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Nein!) Daran hat sich leider in den letzten Jahren nichts geändert, und zwar nicht nur, was die Steuereinnahmen betrifft, son- auch unter Ihrer Regierung nicht. Das Ganze fällt zwar un- dern auch im Hinblick auf die Sozialversicherungssys- ter die Tarifautonomie, trotzdem liegt es in der Verantwor- teme. Denn wenn das Ganze ausufert, sodass in allentung der Politik, hier Druck auszuüben, zumindest Zeichen möglichen Berichten Steuerfreistellung gewährt wird,zu setzten. Die Vorschläge in Richtung Steuerpolitik sind dann führt dies natürlich auch dazu, dass die Bereitschaft, durchaus angebracht. in die Sozialkasse einzuzahlen, nicht mehr gegeben ist. Vor diesem Hintergrund möchte ich betonen, dass wir (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Sie misstrauen als PDS-Fraktion beiden Initiativen sehr positiv gegen- den Menschen, Frau Scheel! Das ist Ihr Pro- überstehen. Wir werden uns in den Ausschussberatungen (B) blem!) positionieren und entscheiden, ob wir dem F.D.P.-Vor-(D) Somit bekämen wir nicht nur bei der Steuer ein Problem, schlag zur Steuerfreiheit oder dem CDU/CSU-Vorschlag sondern auch bei der Sozialkasse, was sich zulasten der zur Anhebung der Freigrenzen zustimmen. Allgemeinheit durch höhere Sozialversicherungsbeiträge (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Klingt gut!) bemerkbar machen würde. Ich will es ganz klar sagen: Beides wird nicht das Problem (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Sie kriegen auch lösen, aber beides sind steuerpolitische Maßnahmen, die bei den Wahlen ein Problem! – Ernstzumindest eine gewisse Entlastung für die Beschäftigten Burgbacher [F.D.P.]: Sie kriegen das größte bringen können. Problem bei den Wahlen!) Der Regierungskoalition möchte ich eine Frage stellen: Auch das wollen wir nicht. Steuersystematisch ist es sicher richtig – das meinen auch Diese Regierung hat einen ganz klaren Weg beschrit- wir –, dass jede Mark Einkommen besteuert werden muss, ten. Dieser klare Weg heißt: Senkung der Steuersätze, Ver- wenn ich dann aber Ihre Reform zur Einkommens- und breiterung der Bemessungsgrundlage, Senkung der Sozi- Unternehmensbesteuerung heranziehe, frage ich mich: alversicherungsbeiträge und damit höhere Nettolöhne. Wo ist die Logik geblieben? Was ist denn mit den Ver- Diesen Weg wollen wir weitergehen. Wir haben einen sta- äußerungsgewinnen, wenn man Beteiligungen verkauft und dabei Gewinne erzielt? Diese besteuern Sie nicht. Sie bilen Haushalt. Wir werden ihn auch weiterhin stabil hal- haben in der Unternehmensteuerreform Steuergeschenke ten. Deswegen ist es auch gut, dass der Weg in dieser in Höhe von 14 Milliarden DM jährlich verteilt. Ich frage Form gegangen wird. Dabei können wir mit Ihren Lobby- mich wirklich, warum wir ausgerechnet wieder bei den ismus-Forderungen relativ wenig anfangen. Niedriglohnbezieherinnen und -beziehern mit einer kon- Danke. sequenten Umsetzung der Steuersystematik anfangen sollten. Das findet nicht unsere Zustimmung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ernst Burgbacher [F.D.P.]: (Beifall bei der PDS) Zum Schluss war es billig!) Unter steuersystematischem Aspekt kommt noch eines hinzu: Das BVGhat bereits 1991 festgestellt, dass Vizepräsidentin Petra Bläss:Letzte Rednerin in eine Steuerbelastung, wenn sie offensichtlich nur mehr dieser Debatte ist für die PDS-Franktion die Kolleginden erklärungsbereiten Steuerbürger betrifft, weil die Dr. Barbara Höll. Erhebungsregelungen für Steuern auf Trinkgelder die 14740 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Dr. Barbara Höll (A) Kontrolle der Steuererklärung weitgehend ausschließen dazu bei, um Flüchtlingen durch den Alltag zu helfen.(C) – hier ist es ja so, weil man die Höhe der Trinkgelder frei- Trotzdem bitte ich Herrn Classen, seine Bemerkung, die willig angibt bzw. sie nach dem Umsatz geschätzt wer- mich verletzt, noch einmal zu überdenken. Ich will auch den –, das Gebot der steuerlichen Lastengleichheit ver- erklären, warum. Das ist nämlich etwas, was Herr Classen letzt. Ich denke, das ist ein hinreichendes Argument dafür, möglicherweise nicht gewusst hat. dass wir über den Vorschlag der F.D.P. sehr gründlich Der Ältestenrat hat die Diskussion dieses Tagesord- nachdenken müssen. nungspunktes für Donnerstag, 19 Uhr, angesetzt. Zu dieser In diesem Sinne ist es notwendig, dass wir als Politi- Zeit geben wir normalerweise keine Reden zu Protokoll. kerinnen und Politiker zeigen, dass uns das bestehende Frau Maier hat mir erklärt, dass am Donnerstagabend um Problem nicht gleichgültig ist. Sie hatten schon bei der 19 Uhr das Fernsehen nicht mehr übertragen würde, aber Steuerreform nicht den Mut, das steuerfreie Existenzmi- am Freitagnachmittag. Das heißt, nicht wir haben diesen nimum wenigstens in notwendiger Höhe anzuheben – das Tagesordnungspunkt an das Ende einer Plenarwoche ge- wären mindestens 17 000 DM pro Jahr –, deshalb ist es setzt, sondern es geschah auf Wunsch der PDS. notwendig, jetzt über die vorgelegten Initiativen positiv Bevor Sie jetzt rufen: „Sehr richtig“, erlauben Sie mir, zu diskutieren. Wir als PDS sind aufgeschlossen und hof- dass ich darauf aufmerksam mache, dass zumindest die fen, dass die Ausschussberatungen etwas bringen werden. Mitglieder großer Fraktionen am Freitagabend sehr oft in Ich danke Ihnen. ihrem Wahlkreis erwartet werden. Wir gehen zu wesent- lich mehr Veranstaltungen hin, als Sie es müssen. (Beifall bei der PDS und der F.D.P.) (Lachen bei der PDS – Angela Marquardt [PDS]: Das ist das Allerletzte!) Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe die Aus- sprache. Deswegen ist die Unterstellung, wir wären zu feige, hier- her zu gehen, einfach dreist, zumal man unsere Stellung- Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent- nahmen ja auch nachlesen kann. So viel zu dieser Thema- würfe auf den Drucksachen 14/4938 (neu) und 14/5233 an tik. die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor- (Beifall bei der SPD) geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kollegin Lange, Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf: gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll? (B) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (Franz Thönnes [SPD]: Zwischenfrage für das (D) richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord- Fernsehen!) nung (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- neten Dr. Klaus Grehn, Petra Bläss, Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Brigitte Lange (SPD): Ja. PDS Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes Dr. Barbara Höll (PDS): Frau Kollegin, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass wir, die PDS – auch – Drucksachen 14/3381, 14/4695 – seitdem wir Fraktionsstatus haben – seit Beginn dieser Berichterstattung: Legislaturperiode noch nicht einen einzigenTages- Abgeordnete Brigitte Lange ordnungspunkt bestimmen konnten, der nicht donners- tags der letzte oder vorletzte oder freitags der letzte war? Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei- (Franz Thönnes [SPD]: Reden Sie jetzt über nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. das Asylbewerberleistungsgesetz?) Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für dieWürden Sie bitte weiter zur Kenntnis nehmen, dass sich SPD-Fraktion ist die Kollegin Brigitte Lange. in den letzten Sitzungswochen alle anderen Fraktionen dieses Hauses der Diskussionunserer Anträge nicht ge- stellt haben, egal ob dieser letzte oder vorletzte Tagesord- Brigitte Lange (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolle- nungspunkt am Donnerstag um 23 Uhr oder um 21 Uhr, ginnen und Kollegen! Bevor wir in die Debatte selbst ein- wie in der letzten Sitzungswoche, stattfand? Das heißt, steigen, erlauben Sie mir eine Vorbemerkung. Pro Asyl dass wir nichts anderes zu erwarten haben, sondern dass hat es für richtig gehalten, ein Fax in die Welt zu schicken, es bei Ihnen tatsächlich Usus geworden ist, dass man sich auf dem die Tatsache, dass die Reden heute möglicher- der Diskussion nicht mehr stellt. weise zu Protokoll gegeben werden, so charakterisiert wird, als seien wir zu feige, hier Stellung zu beziehen. Würden Sie bitte als Drittes zur Kenntnis nehmen, dass nur aufgrund der Presseerklärung von Frau Maier – das ( [PDS]: Schön war es nicht, oder?) glaube ich schon sehr stark –, wonach Sie nicht bereit Ich schätze die Arbeit von Pro Asyl wie die Arbeit aller sind, sich der Diskussion zu stellen, es heute überhaupt zu Organisationen, die in diesem und anderen sozialen Be- einer Debatte kommt? Davon zeugt auch, dass im Verlauf reichen arbeiten, sehr hoch ein. Sie tragen eine Menge der letzten halben Stunde sich ein Kollege der F.D.P. es Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14741

Dr. Barbara Höll (A) überlegt hat und seine Rede doch nicht zu Protokoll ge- gen aus der Sozialhilfe zu bezahlen, mag sympathisch(C) geben hat, vielmehr jetzt sprechen will. klingen, ist aber – wie Sie wissen und wie wir wissen – unrealistisch. (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Sehen Sie! Genau!) (Dr. Klaus Grehn [PDS]: Warum?) Viertens verwahre ich mich dagegen, dass Sie unsere Die PDS weiß es und provoziert damit die Frage nach der Arbeit beurteilen und Vermutungen darüber anstellen, Seriosität ihrer Absicht. inwiefern wir im Wahlkreis tätig sind. Es verhält sich nämlich genau umgekehrt: Sie als eine große Fraktion (Dr. Klaus Grehn [PDS]: Warum können sich das scheinbar leisten. Bei der Behandlung unrealistisch?) des vorherigen Tagesordnungspunktes waren Sie ange- Knapp 4 Milliarden DM gaben 1999 die Länder für wiesen, Ihre Regierungsmehrheit zu sichern. Sie haben rund 429 000 Flüchtlinge aus, die für eine begrenzte Zeit vorher gefragt, ob wir tatsächlich mit Ihnen stimmen. hier leben. Übertrüge man diese Leistungen in die Sozial- Denn von uns waren wesentlich mehr Abgeordnete da. hilfe, wären es circa 20 Prozent mehr, also ungefähr 4,8 Milliarden DM, die nach dem Vorschlag der PDS vom Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kollegin Höll, Bund übernommen werden sollten. ich bitte Sie, eine Frage zu stellen. Die Fraktion weiß, dass weder der Bundeshaushalt noch der Haushalt der Bundesländer dieseMehrbelas- Dr. Barbara Höll (PDS): Würden Sie mir Recht ge- tung verkraften könnten, auf absehbare Zeit selbst dann ben, dass es Ihnen nicht zusteht, zu bewerten, wie oft wir nicht, wenn sich der seit 1996 abzeichnende Trend ab- im Wahlkreis sind? Dadurch dass wir weniger Abgeord- nehmender Empfängerzahlen und Ausgaben fortsetzen nete sind, wird jeder Einzelne von uns wahrscheinlich sollte. wesentlich häufiger zu Wahlkreisterminen gebeten. (Dr. Klaus Grehn [PDS]: Aber die Betroffenen (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie haben können es verkraften!) doch bloß zwei Wahlkreise!!) Waren es 1996 noch fast 490 000 Menschen, die Leis- Ich danke Ihnen. tungen in Höhe von 5,45 Milliarden DM bezogen, sank die Anzahl der Empfänger 1999 um rund 61 000 und die (Beifall bei der PDS) Ausgaben um 1,5 Milliarden DM. Die Zahl der insgesamt bei uns lebenden Flüchtlinge ist seit 1993 kontinuierlich Brigitte Lange (SPD): Sie können sich gern hinset- zurückgegangen. So auch die Zahl der Asylbewerber: Im (B) zen; kein Problem. Jahr 2000 haben wir 78 564 Personen in Deutschland ge- (D) habt, die Asyl beantragten. Das sind 17,4 Prozent weniger (Dr. Barbara Höll [PDS]: Nein!) als 1999. Das ist der geringste Stand seit 1987. Zu Ihrer letzten Einschätzung: Ich habe es nicht be- Auf die Einwohnerzahl der Länder bezogen, hat Berlin wertet, sondern habe etwas berichtet, was einfach so ist. die höchsten Ausgaben zu verkraften. Bei den absoluten (Dr. Barbara Höll [PDS]: Das können Sie Ausgaben steht Nordrhein-Westfalen an der Spitze. überhaupt nicht! Haben Sie unseren Kalen- (Carsten Hübner [PDS]: Ist das hier der der?) Statistikgrundkurs?) Ob das gut oder schlecht ist, habe ich nicht gesagt. – Ich denke, dass es ganz wichtig ist, eine Vorstellung von Zu dem ersten Punkt, den Sie, Frau Dr. Höll, ange- den genauen Zahlen und auch von den bestehenden Pro- führt haben: Ich habe zu denen gehört, die gesagt haben: blemen zu haben. Ich bin nicht einverstanden damit, dass dann, wenn die- Deutschland war bisher das Hauptzielland in Europa. ser Punkt von uns an das Ende der Tagesordnung gelegt Im ersten Halbjahr 2000 löste Großbritannien Deutsch- wird, die Reden zu Protokoll gegeben werden sollen. land ab. Setzt man hingegen die Zahl der Asylanträge in Was ich nicht wusste, war, dass dieser Tagesordnungs- Relation zur Bevölkerungszahl, nimmt Deutschland unter punkt auf Ihren Wunsch mit der Begründung „Das Fern- 14 europäischen Ländern den zehnten Platz ein. sehen ist dann da“ auf diesen Zeitpunkt gelegt worden ist. (Ulla Jelpke [PDS]: Schlimm genug!) Ich sage Ihnen auch Folgendes: Wenn alle Kollegin- Von 1998 bis 1999 haben in Deutschland, in den Nieder- nen und Kollegen nach dem Prinzip „Wir reden nur noch landen und in Schweden dieAsylbewerberzugänge in dann, wenn das Fernsehen da ist“ verfahren würden,absoluten Zahlen abgenommen, in allen übrigen europä- dann wäre die Tagesordnung nicht mehr zu gestalten. ischen Staaten jedoch zugenommen. Der prozentuale An- teil an der Gesamtzahl aller in den Staaten gestellten An- (Zuruf von der PDS: Ablenkungsmanöver!) träge sank jedoch 1999 in Dänemark, Deutschland, in den – Das haben wir nicht nötig, weil genügend Material von Niederlanden und der Schweiz. uns dazu vorliegt. Sie werden jetzt vielleicht verstehen, dass ich einfach Nun zum Thema. Der Vorschlag der PDS, das Asyl- einmal darstellen wollte, zu welcher unterschiedlichen bewerberleistungsgesetz abzuschaffen und die Leistun- Entwicklung in den einzelnen europäischen Ländern es 14742 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Brigitte Lange (A) trotz sehr differenzierter sozialer Leistungen kommt. Man dern nicht auftreten, können Sie sehen, dass dies nicht an (C) muss sich fragen, ob man die ab- oder zunehmende Zahl dem Leistungsgesetz selber, sondern an der Handhabung der Asylanträge von der Höhe des Geldbetrages für den durch die Länder liegt. Ich hoffe, dass die anderen Länder einzelnen Asylbewerber abhängig machen kann. Offen- hier nachziehen. Das Gesetz lässt ihnen diesen Spielraum. sichtlich nicht. Sie können Geldleistungen gewähren und damit den Leis- tungsempfängern eine größere Selbstbestimmung ermög- Mit dem Ziel der Abschreckung wurden 1993 zwei lichen. Außerdem ist dies nach Erfahrung der Kommunen Existenzminima etabliert. Das war damals sehr umstrit- das kostengünstigere Verfahren. ten und das bleibt umstritten. Die Entscheidung fiel un- ter dem Druck hoher Asylbewerberzahlen und der damit (Rüdiger Veit [SPD]: Sehr richtig!) wachsenden Belastung der Kommunen. Trotzdem, so Probleme bereitet diemedizinische Versorgung. meinen wir, bleibt sie problematisch. Schon bei der Einführung des Asylbewerberleistungsge- Leider hat sich aber dieBelastung der Kommunen setzes 1993 war die Beschränkung der medizinischen noch nicht so reduziert, dass wir eine Änderung mit Aus- Behandlung auf akute Erkrankungen und Schmerzzu- sicht auf Erfolg herbeiführen könnten. Der im Bundesrat stände ein wesentlicher Kritikpunkt vor allen Dingen der mit knapper Mehrheit abgelehnte Antrag Hessens, die im Ärzte, die einen anderen Eid geschworen haben als den, Verhältnis zur Sozialhilfe nach dem Asylbewerberleis- nicht zu behandeln. Arznei- und Verbandmittel sowie tungsgesetz geringeren Leistungen nicht mehr auf drei sonstige zur Genesung, zur Besserung oder Linderung Jahre zu begrenzen, sondern auf Dauer beizubehalten, von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderliche macht den Widerstand deutlich. Das heißt, man wollte Leistungen sind zu gewähren. Es besteht ein Rechtsan- dauerhaft, also für die ganze Zeit, geringere Leistungen spruch auf Vorsorgeuntersuchungen und Schutzimpfun- zahlen. gen. Wir merken, dass die Bundesregierung mit dem Vor- Dennoch führt die Regelung im Asylbewerberleis- schlag, die monatlichen Grundleistungsbeträge zu er-tungsgesetz in der Praxis oft dazu, dass chronisch Kranken höhen, nicht gerade offene Türen – dies gilt auch für die die Behandlung versagt wird oder zunächst vor Gericht ge- Länder – einrennt. Der monatliche Grundleistungsbe- klärt werden muss, ob eine Leistung zur Sicherung der Ge- trag für den Haushaltsvorstand in Höhe von 360 DM ist sundheit unerlässlich ist, obwohl die Verweigerung von seit Einführung des Gesetzes im Jahre 1993 unverändert Leistungen bei chronischen Erkrankungen durch den Ge- geblieben. Von diesem Betrag muss der Bedarf an Er-setzeswortlaut in der Regel nicht gedeckt ist. Grundsätzlich nährung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege und haben Flüchtlinge wie jeder andere das Recht auf eine an- Gebrauchsgütern des Haushalts bestritten werden. gemessene gesundheitliche Versorgung. Ich glaube, dass müssen wir noch eindeutiger regeln. (B) (Dr. Klaus Grehn [PDS]: Schlimm genug!) (D) (Ulla Jelpke [PDS]: Ach!) Hierzu kommen 80 DM Taschengeld. Einen Ausgleich für Preissteigerungen hat es bisher nicht gegeben. Eine entscheidende Verbesserung der Lebenssituation erwarten wir von der Aufhebung des Arbeitsverbots, Die Differenz zu den Sozialhilfeleistungen, die 1993 das die Vorgängerregierung zu verantworten hat. auf 20 Prozent festgelegt wurde, hat sich damit deutlich vergrößert. Eine Anhebung der Leistungssätze ist deshalb (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Was?) dringend notwendig. Ein Verordnungsentwurf des Bun- Zu Jahresbeginn wurde es per Rechtsverordnung aufge- desarbeitsministeriums liegt nun auf dem Tisch. Er befin- hoben. Asylbewerber und geduldete Flüchtlinge haben det sich aber noch in der Abstimmung. Ich hoffe, dass nun nach einer Wartezeit von 12 Monaten Zugang zum diese bald abgeschlossen ist und die Erhöhung in Kraft Arbeitsmarkt. treten kann. (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Wir haben viel (Dr. Klaus Grehn [PDS]: 5 Mark!) weiter gehende Vorschläge!) Die Gewährung von Sachleistungen – etwa in Form Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge können ohne War- von Essenspaketen oder in Form des Einkaufes mit Chip- tezeit erwerbstätig sein. Als Voraussetzung für die Ge- karten in ausgewählten Läden – ist von vielen Seiten als währung einer Arbeitserlaubnis wird geprüft, ob kein entwürdigend kritisiert worden. Dem stimme ich zu. Eine deutscher Arbeitnehmer und kein Arbeitnehmer aus der Versorgung mit Essenspaketen ist nicht zumutbar und bei EU für den Arbeitsplatz zur Verfügung steht. dezentraler Unterbringung, die möglich ist, überflüssig. Problematisch ist es auch, wenn Flüchtlinge durch diese Traumatisierte Flüchtlinge erhalten eine Arbeitserlaub- Gutscheine gezwungen werden, in ausgewählten Läden nis ohne eine solche Vorrangprüfung. Diese sinnvolle, zum Teil teurer als woanders einzukaufen. Es ist auchbisher nur für Bosnier geltende Regelung wurde auf trau- nicht mit der Würde des Menschen vereinbar, Leute in matisierte Flüchtlinge unabhängig von ihrem Herkunfts- dieser Weise zu degradieren. Dies ist auch nicht notwen- land ausgeweitet. Damit bekommen Asylbewerber, Ge- dig. duldete und Bürgerkriegsflüchtlinge die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Ich begrüße es deshalb, dass viele Städte und Kreise in- zwischen wieder von der Sach- zur Geldleistung überge- Auf diesem Weg der Verbesserungen wollen wir wei- gangen sind. In Berlin macht man dies übrigens nicht. tergehen und wenn es nicht anders durchsetzbar ist, auch Aber daran, dass die genannten Probleme in anderen Län- in kleinsten Schritten. Sozialpolitiker haben nie Probleme Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14743

Brigitte Lange (A) damit, etwas zu verbessern. Aber Sozialpolitiker können gern flüchten möchten und Hoffnungen damit verbinden, (C) sich auch nicht den Himmel blau malen, sondern müssen in Europa oder speziell in Deutschland leben zu können, mit dem umgehen, was vorhanden ist. Sie dürfen nur nicht unsägliche Schlepperorganisationen tätig sind, die den in ihrem Bemühen nachlassen. Aber radikale Forderun- Menschen die Möglichkeit eröffnen, nach Deutschland zu gen haben noch nie weitergeführt. kommen, und anschließend die Sozialhilfe, die sie erhal- ten, abzocken, um damit schließlich die Kosten für neuen (Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS]: Das darf nicht Menschenhandel zu finanzieren. wahr sein!) (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Leider wahr!) Im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern liegen wir mit unseren Sozialleistungen weder Ein so Großteil der Unterstützungsleistungen, die wir an schlecht, dass wir in Panik verfallen müssten, Asylbewerber ausgezahlt haben, ist am Ende in die Hände dieser kriminellen Banden gelangt. (Ulla Jelpke [PDS]: Unverschämt, was Sie sa- gen!) (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist Unsinn!) noch für unser Selbstverständnis so gut, dass nichts zu verbessern wäre: So habe ich – ich bin seit vielen Jahren kommunalpoli- tisch tätig – oft gedacht: Warum sind diese Unterstützun- (Ulla Jelpke [PDS]: Glauben Sie eigentlich gen eigentlich nicht bei den Kindern der Asylbewerber selber, was Sie da erzählen?) angekommen, sondern in ganz anderen Kanälen gelan- im Leistungsrecht, aber auch im Ausländerrecht, das im- det? Auch aus diesen Gedanken heraus ist das Prinzip der mer undurchschaubarer geregelt worden ist. Sachleistungen entwickelt worden: weil diese Banden eben auf diese Sachleistungen keinen Zugriff haben. Ein Sozialrecht kann klare Regelungen im Ausländer- recht nicht ersetzen. Ergänzend brauchen wir verständli- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Na klar! che und handhabbare Regelungen, die Möglichkeiten der Sie reden auch davon, dass Menschen „gern Zuwanderung außerhalb des Asylrechts eröffnen. Die flüchten“!) Zuwanderungskommission wird hierzu Vorschläge ma- Deswegen bin ich durchaus der Meinung, dass der Vor- chen. rang von Sachleistungen vor Geldleistungen seine Be- Unabdingbare Voraussetzung für alle Vorhaben ist,gründung haben kann. dass wir so viele Menschen wie möglich in unserem Land Ein weiterer Bereich im Asylbewerberleistungsgesetz auf diesem Weg mitnehmen und begleiten können. Esist die Einschränkung der Krankenbehandlung auf das wäre erfreulich, wenn es uns allen gemeinsam, abseits (B) medizinisch Notwendige und Unumgängliche. Auf der(D) vom Wahlkampfgetöse, mit Herz und Verstand, gelingen anderen Seite muss man auch sehen, dass damit nicht nur könnte. akute Schmerzbehandlungen gemeint sind. Sie wissen, Danke. dass Schwangere, Mütter und Kinder alle Leistungen, die zu diesem Bereich gehören, in vollem Umfang erhalten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich glaube auch, dass die örtlichen Sozialämter und die DIE GRÜNEN) örtlichen Ärzte ganz gut und verantwortungsbewusst mit dieser Einschränkung umgehen können. Aber ich sehe Vizepräsidentin Petra Bläss:Für die CDU/CSU auch nicht ein, dass über die Steuergelder unserer Bür- spricht jetzt der Kollege Karl-Josef Laumann. gerinnen und Bürger ein Mensch, der vorübergehend in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist und für den sehr oft die Tatbestände des Asylrechts nicht zutref- Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau fen – nach wie vor sind die Ablehnungsquoten nach den Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Jahre 1993 hat Verfahren relativ hoch –, hier eine vollständige Zahner- der Deutsche Bundestag das jetzige Asylbewerberleis- satzbehandlung bekommt, für die andere Menschen in tungsgesetz beschlossen. Es war im Grunde ein Teil des Deutschland 10 000 DM oder mehr auf den Tisch legen Asylkompromisses aus dem Jahre 1992, müssen. (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Richtig!) (Rüdiger Veit [SPD]: Das sind Ammenmär- bei dem wir uns darauf verständigt haben, in einem eige- chen!) nen, aus der Sozialhilfe ausgegliederten Leistungsgesetz Ich finde, dass diese Eingrenzungen verantwortbar Asylbewerbern, die keinen dauerhaften Aufenthalt in der sind und dass sie nichts Inhumanes an sich haben. Zurzeit Bundesrepublik Deutschland haben, eine gegenüber der erfahre ich – das mag Rot-Grün nicht gern hören –, dass Sozialhilfe abgesenkte Unterstützung zukommen zu las- viele Ärzte im Übrigen viel lieber Sozialhilfeempfänger sen. behandeln als gesetzlich Versicherte, weil die Leistungen für Sozialhilfebewerber nicht, aber die Leistungen für die Aus damaliger Sicht – die Gründe gelten heute auch gesetzlich Versicherten sehr wohl im Budget sind. Also noch – war das deswegen notwendig, weil wir die Attrak- meine ich, dass wir diesen Bereich weiterhin gut verant- tivität Deutschlands für politisch oder religiös nicht ver- worten können. folgte Menschen ein Stück weit abschwächen wollten. Ein weiterer Grund war – und auch diesen Grund gibt es Man sollte als letzten Punkt nicht vergessen, dass für heute noch –, dass in den Ländern, aus denen Menschen Menschen, die noch kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in 14744 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Karl-Josef Laumann (A) Deutschland haben, auch keineIntegrationsleistungen ginnen und Kollegen! Herr Laumann, wenn Sie (C) die bezahlt werden. Der Integration müssen wir uns erst dann Geschichte bemühen, erzählen Sie bitte die ganze Wahr- stellen, wenn feststeht, dass diese Menschen ein dauer- heit. Ein Teil desAsylkompromisses war zwar das haftes Aufenthaltsrecht bei uns haben. Deswegen würden Asylbewerberleistungsgesetz, aber ein anderer Teil war wir, so finde ich, Asylbewerbern viel mehr helfen, wenn die Festlegung im Asylverfahrensgesetz, dass den Asyl- wir den Zeitraum, in dem wir feststellen, ob sie dauerhaft bewerbern nach drei Monaten der Arbeitsmarkt offen ste- in der Bundesrepublik Deutschland bleiben können, we- hen sollte. Von diesem Teil des Asylkompromisses haben sentlich verkürzen könnten. Sie sich mit dem Clever-Erlass verabschiedet. Sie haben also mit dieser Überschreitung der gesetzlich eigentlich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) vorgesehenen Vorgabe das, was nach dem Asylkompro- Es liegt nicht nur an unseren Behörden, sondern auch miss möglich sein sollte – dass sich auch ein Asylbewer- daran, dass in der Praxis viele Menschen, die zu unsber um Arbeit bemüht –, zunichte gemacht. Ich möchte kommen, diese Verfahren aufhalten, indem sie alles tun, Sie bitten, dies auch zu nennen. damit ihre Identität möglichst lange für unsere Behörden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nicht nachvollziehbar bleibt. Wir würden für die Asylbe- bei der SPD und der PDS – Dr. Heinrich Kolb werber am meisten erreichen, wenn wir diese Verfahren be- schleunigen. Dann könnten sie früher höhere Sozialleistun- [F.P.D.]: Das können Sie jetzt machen!) gen sowie Integrationsleistungen beziehen, bei uns arbei- Sie haben dieVerfahrensdauer angesprochen. Ich ten und damit selber für ihren Lebensunterhalt sorgen und teile Ihre Auffassung, dass wir vor allen Dingen genau sich in Deutschland frei bewegen. hinschauen sollten, wer auf Dauer hier ist, also integriert Die Position der Union bleibt in der Asylpolitik die- werden und damit Zugang zum Arbeitsmarkt und allen selbe, wie sie seit vielen Jahren ist und wie sie sich aus un- Sozialleistungen haben sollte, und wer nicht. Aber der serem Menschenbild heraus darstellt: Wir haben vor je- Eindruck, der in der politischen Debatte im Augenblick dem Menschen Respekt. Jeden Menschen muss manimmer erweckt wird, die Verfahren seien so unendlich vernünftig behandeln, egal welche Hautfarbe er hat, wel- lang, ist falsch. Die Verfahren beim Bundesamt für cher Religion er angehört oder welche politische Über- Flüchtlinge dauern im Schnitt nicht länger als sechs Mo- zeugung er vertritt. Jeder Mensch soll hier ein normales nate. Das Problem liegt bei denVerwaltungsgerichten. Leben führen können. Aber wir müssen diejenigen, die Das allerdings ist Ländersache. Wenn es Länder gibt, bei ohne Notwendigkeit zu uns kommen, in ihre Heimatlän- denen die Verfahren im Schnitt 29 Monate dauern, weil der zurückführen, um letzten Endes für die Integration die Verwaltungsgerichte nicht ausreichend mit Richtern wirklich verfolgter Menschen eine positive Stimmung in bestückt sind, dann ist das ein Problem, das sich die Jus- unserem Land zu erhalten. tizminister der Länder zu Herzen nehmen müssen. Das ist (B) aber keine Frage des Verfahrens. Auch das sollten Sie sich (D) Wenn wir über die Integration von politisch Verfolgten noch einmal genau anschauen. hinaus in der Bundesrepublik DeutschlandEinwande- rung haben wollen, dann ist das Asylgesetz dafür das (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das stimmt!) falsche Gesetz. Dafür muss man andere Kriterien zu- Nun zum Thema von heute. Es gibt Anträge der Oppo- grunde legen. sition, denen man ihre Berechtigung kaum absprechen (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: So wie es die kann. Es ist ein offenes Geheimnis, dass es in der Frage F.D.P. vorschlägt!) der Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes beim Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen Diffe- Diese müssen sich danach richten, was unser Arbeits-renzen gab. Wir wissen aber, dass wir für eine Abschaf- markt an Zuwanderung braucht. Diese dürfen aber nicht fung des Asylbewerberleistungsgesetzes keineparla- mit den Problemen, die mit dem Asylgesetz zusammen- mentarische Mehrheit haben und dafür auch im hängen, wie der Verschleierung der Identität, verbunden Bundesrat keine Mehrheit finden. Insofern agieren wir in werden. Deswegen steht meine Partei nach wie vor zu einem ersten Schritt sehr vorsichtig und versuchen, die dem Asylbewerberleistungsgesetz, wie es damals von uns lange überfällige Anhebung der Sätze nach dem Asylbe- mitentwickelt worden ist und das ein Bestandteil deswerberleistungsgesetz, bei dem sieben Jahre lang nichts Asylkompromisses von 1992 im Deutschen Bundestag passiert ist, voranzutreiben. Es liegt jetzt ein Referenten- war. Ich glaube, wir sind gut beraten, daran festzuhalten. entwurf vor; er ist an die Länder verschickt. Ich hoffe, Schönen Dank. dass wir auch die Rückwirkung zum Januar 2001 hinbe- kommen. Das wäre dann ein winzig kleiner Schritt nach (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – vorne. Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Rück- wärts gewandt wie immer!) Es gibt immer zwei Fronten, an denen wir kämpfen. Das ist von der Kollegin Lange schon angesprochen worden. Es gibt von den Ländern Druck, die Bedingun- Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die Fraktion des gen sogar noch zu verschlechtern. Eine große Ausei- Bündnisses 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin nandersetzung wurde um die Frage geführt, ob der Drei- Marieluise Beck. jahreszeitraum, nach dem die Asylbewerber regulär Sozialhilfe bekommen, gestrichen werden könnte. Wir Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE waren froh, dass wir mit der rot-grünen Ländermehrheit GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolle- diesen Angriff abwehren konnten. Oftmals besteht ja Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14745

Marieluise Beck (Bremen) (A) der Erfolg der Mühsal darin, Verschlechterungen ab- Dies gilt für alle Menschen, die sich in unserem Land (C) gewehrt zu haben. Dies ist uns im letzten Jahr gelungen. aufhalten, egal ob Deutsche oder Nichtdeutsche. Darin sind wir uns alle hier einig. Für mich ist der zentrale Punkt, dass wir jenseits der Frage der Abschaffung oder Beibehaltung des Asylbewer- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der berleistungsgesetzes Öffnungen herbeiführen, die Flücht- PDS) lingen die Chance bieten, überhaupt aus dem Geltungsbe- Alle Gesetze und Regelungen müssen sich an diesem reich dieses Gesetzes herauszukommen. Dazu gehören die Grundsatz messen lassen. Man kann wohl so weit gehen Lockerung des Arbeitsverbots – das ist nicht einfach und hart umkämpft – und die Erweiterung des Rechtes fürund sagen, dass dies auch für unsere Gesetze insgesamt Traumatisierte, Zugang zum Arbeitsmarkt zu haben. Ein zutrifft, also auch, meine Damen und Herren, für das solches Recht bestand bisher nur für traumatisierte Bosnier Asylbewerberleistungsgesetz. und soll jetzt für traumatisierte Menschen aus allen Län- Der für ein menschenwürdiges Leben notwendige dern gelten. Dazu gehört auch die Altfallregelung und ein Grundbedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Klei- gewisses Drücken und Schieben, damit bei der Umsetzung dung, Gesundheits- und Körperpflege sowie Haushalts- durch die Länder möglichst alle Spielräume genutzt wer- gegenständen ist gewährleistet. Von einer Kürzung auf den, damit so viele Menschen wie möglich ihre Existenz null kann daher nicht die Rede sein. mit eigener Hände Arbeit sichern können. Dass die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungs- Insgesamt gehört dazu eine Neuformulierung der Inte- gesetz geringer als die Sozialhilfe nach dem Bundesso- grationspolitik, die die Frage klärt, wer vorübergehend zialhilfegesetz ausfallen, hat aber gute Gründe. Herr Kol- und wer auf Dauer hier ist. Die große Auseinandersetzung lege Laumann hat zu Recht darauf hingewiesen, dass um § 53 Ausländergesetz müssen wir politisch angehen. durch die Verringerung materieller Anreize die bei Ver- Dabei geht es darum, dass Flüchtlinge, denen aufgrund abschiedung des Gesetzes im Jahre 1993 das Land über- der Europäischen Menschenrechtskonvention Schutz ge- flutende Welle der Asylbewerber etwas eingedämmt wer- währt werden muss, die in der Regel auf Dauer hier blei- den sollte. Darin war man sich in diesem Hause im ben, ausländerrechtlich aber trotzdem nur die Duldung Großen und Ganzen auch einig. bekommen und ihnen damit der Zugang zum Arbeits- markt und zu Ausbildungsgängen weitgehend versperrt Dass sich die Situation nun völlig geändert haben soll, ist. Ich hoffe hier auf Unterstützung durch die Zuwande- vermag zumindest ich nicht zu erkennen. Nach den neues- rungskommission. Das Urteil des Bundesverfassungsge- ten Meldungen des Bundesamtes für die Anerkennung aus- richts vom August hat uns da heftig auf die Finger ge- ländischer Flüchtlinge wurden für Januar 2001 7 583 An- klopft. träge gestellt. Das sind 27 Prozent mehr als im Dezember (B) 2000 und knapp 15 Prozent mehr als im Januar letzten Jah- (D) Die Strategie, die wir politisch verfolgen, geht also in res. Richtung Vereinheitlichung des Flüchtlingsstatus für diejenigen, die nach Art. 16 a des Grundgesetzes sowie Die im Gesetz vorgesehenen weiteren Absenkungen §§ 51 und 53 Ausländergesetz als schutzwürdig und daher betreffen unseres Erachtens zu Recht nur solche Men- auf Dauer hier lebend angesehen werden müssen. Wenn schen, die unser Sozialsystem missbrauchen, indem sie wir diese Perspektive verfolgen und sie mit der Öffnung sich einer bestehenden Leistungspflicht beispielsweise des Arbeitsmarkts und anderen sozialen Zugängen zur dadurch entziehen, dass sie ihre Identität leugnen oder Gesellschaft verknüpfen, minimieren wir das Problem des ihre Papiere bewusst vernichten. Aber auch diesen Men- Asylbewerberleistungsgesetzes, auch wenn wir es damit schen werden die Leistungen nicht auf null gekürzt. Der nicht beseitigen. Staat stellt auf jeden Fall das Existenzminimum sicher. Es ist im Übrigen besonders der F.D.P. zu verdanken, dass Ich habe Ihnen das dargestellt, damit Sie sehen, entlang bei der letzten Novelle des Asylbewerberleistungsgeset- welcher Vorstellungen und Paradigmen wir unserezes im Jahre 1998 nach langwierigen und schwierigen Schritte setzen. Man muss sich ja politisch weiterbewe- Verhandlungen der jetzige Gesetzestext verabschiedet gen, auch wenn man nicht ganz durchsetzen kann, was werden konnte und die vom Bundesrat angeregten res- man sich sonst wünscht. triktiveren Regelungen verhindert werden konnten. Das Schönen Dank. betraf damals besonders Kriegsflüchtlinge und geduldete Ausländer. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich möchte nicht bestreiten, dass es bei der Umsetzung dieses Gesetzes die eine oder andere Unzulänglichkeit ge- geben hat und auch heute noch gibt. Auch ich habe von Vizepräsidentin Petra Bläss:Für die F.D.P.-Frak- Lebensmittelunverträglichkeiten, besonders bei kleinen tion spricht jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb. Kindern, gehört. Diese Fälle müssen natürlich dringend überprüft werden. Wir sträuben uns nicht gänzlich dage- Dr. Heinrich L. Kolb (F.D.P.): Frau Präsidentin! Liebe gen, zu prüfen, ob das Sachleistungsprinzip, zumindest Kolleginnen und Kollegen! Art. 1 unseres Grundgesetzes teilweise, gelockert werden kann. besagt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Im Wesentlichen ließen sich die Probleme, die meist (Angela Marquardt [PDS]: Das ist wohl mit der Umsetzung des Gesetzes auf Länderebene zu wahr!) tun haben, durch eine wesentlich geringere Dauer des 14746 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

Dr. Heinrich L. Kolb (A) Asylverfahrens und insbesondere durch eine sofortige Er- Rückreise nicht antreten, müssen sie sich wohl als Ob-(C) laubnis zur Arbeitsaufnahme für Asylbewerber vom ers- dachlose irgendwie am Leben erhalten, bekommen aber ten Tag des Aufenthalts an nahezu ausschließlich lösen. keinerlei Leistungen mehr. Das ist leider bittere Realität. In diesem Zusammenhang will ich Ihnen, Frau Beck, Mir ist durchaus bewusst, dass die Praxis in den Län- sagen: Die F.D.P. hat sich schon seit langem dafür einge- dern unterschiedlich gehandhabt wird. Aber das Asylbe- setzt, dass auch Asylbewerber eine Arbeitserlaubnis er- werberleistungsgesetz bietet den Ländern die Möglich- halten. Es ist nicht einzusehen, warum Asylbewerberkeit, in der geschilderten Weise zu verfahren. nicht in die Lage versetzt werden sollen, ihren Bedarf (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das liegt doch durch eigenen Verdienst oder Hinzuverdienst zu decken, an der Senatsverwaltung und nicht am Gesetz!) um nicht an dem Tropf der Sozialleistungen hängen zu müssen. In der Tat stellt sich die Frage, ob ein solches Vor- Solange das so ist, ist die Menschenwürde in diesem gehen mit der Menschenwürde zu vereinbaren ist. Lande leider sehr gefährdet. Die Regierung – das muss ich leider feststellen – hat (Beifall bei der PDS) das nur zum Teil eingesehen. Sie hat zwar das seit 1997 Auch wenn nur einige Länder so verfahren, kann das geltende generelle Arbeitsverbot für Asylbewerber ge- nicht als Maßstab gelten. Das Asylbewerberleistungs- lockert, aber es gilt immer noch eine zwölfmonatige so gesetz ermöglicht dieses Verfahren. Man kann sich genannte Wartefrist. Die muss endlich weg. selbst gegenüber nur ehrlich sein, wenn man zugibt, (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ dass die Menschenwürde allein durch eine Abschaffung DIE GRÜNEN]: Das ist doch unter Ihrer Re- des Asylbewerberleistungsgesetzes gerettet werden gierung eingeführt worden!) kann. Das wäre der richtige Ansatz, Asylbewerbern, die sich Frau Lange, Sie haben bis vor drei Jahren in Marburg hier legal aufhalten, wirklich zu helfen und Ihnen einen immer die Auffassung vertreten, das Asylbewerberleis- menschenwürdigen Aufenthalt zu ermöglichen. tungsgesetz müsse abgeschafft werden. Vielen Dank. (Zuruf von der PDS: Hört! Hört!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Sie haben in Ihrer heutigen Rede viele gute Gründe dafür genannt, warum dieses Gesetz die Würde eines Menschen verletzt, sind aber am Ende zu dem Schluss gekommen: Vizepräsidentin Petra Bläss: Als letzte Rednerin in Abschaffen können wir es leider nicht, weil – dieses Ar- dieser Debatte spricht die Kollegin Pia Maier für die PDS- gument klingt mir noch in den Ohren – die Kommunalfi- (B) Fraktion. nanzen das leider nicht hergeben und sich die Länder des- (D) wegen weigern. Pia Maier (PDS): Sehr geehrte Frau Präsidentin! (Zuruf von der SPD: Das ist leider wahr!) Meine Damen und Herren! Trotz der ungewöhnlichen Eröffnung der Debatte möchte ich an meinem ursprüngli- Frau Beck hat die politischen Zwänge, in denen Sie chen Plan festhalten und Ihnen über die aktuelle Situation sich hier befinden, wesentlich klarer und differenzierter einer zwanzigjährigen schwangeren Frau berichten, die in dargestellt. Dafür bin ich ihr auch sehr dankbar. Ich sehe Berlin in dem Flüchtlingsheim in der Fürstenwalder Allee durchaus, dass Sie sich bemühen. Aber Sie haben hier ei- untergebracht ist. Ich denke, niemand wird bestreiten,nen Zusammenhang hergestellt, indem Sie sagten: Ich dass eine schwangere Frau ärztliche Versorgung – erst würde ja gerne das Asylbewerberleistungsgesetz abschaf- recht, wenn sie eine Fehlgeburt hatte – benötigt. fen, wenn es die Kommunalfinanzen zuließen. Sie haben die Möglichkeit, die Kommunalfinanzen entsprechend zu (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Bekommt ändern und damit die Voraussetzungen für eine Zustim- sie doch auch!) mung der Länder zu schaffen. – Sie bekommt keine ärztliche Versorgung. Das Bezirks- (Beifall bei der PDS) amt Wedding verweigert ihr die Ausstellung eines Kran- kenscheins und damit jegliche ärztliche Betreuung. Auch Den Einwand kann ich als Argument gegen ein solch un- wenn Sie, Herr Laumann, den Kopf schütteln und auch würdiges Gesetz wirklich nicht gelten lassen. Sie, Herr Kolb, sich bisher nicht mit der Realität in Berlin Sie waren so freundlich, die Regelsätze und die unter- auseinander gesetzt haben, sind solche Fälle möglich und schiedlichen Existenzminima schon zu benennen, die be- durch die Umsetzung des Asylbewerberleistungsgesetzes weisen, dass das Asylbewerberleistungsgesetz ein diskri- in den Ländern gedeckt. Das hat mit Menschenwürdeminierendes Sondergesetz ist. Es schafft Menschenwürde nichts mehr zu tun. Auch Sie, Frau Lange, kennen solche auf Rabatt. In Berlin wird es wirklich restriktiv ausgelegt. Fälle. Sie kennen die Meldungen, die von den hiesigen Verbän- den dazu veröffentlicht werden. Ich habe keinen Grund, Ich weiß, dass der Text des Asylbewerberleistungsge- an diesen Zuständen zu zweifeln. setzes, wenn man sich ihn durchliest, noch sehr freundlich klingt. Aber in Berlin wird der Passus„unabweisbare Leistungen“ im Zweifelsfall dahin gehend interpretiert, Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kollegin Maier, dass darunter nur das Rückflugticket und das Reisegeld es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage der Abge- verstanden werden. Wenn die betroffenen Menschen die ordneten Beck. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14747

(A) Pia Maier (PDS): Ja. sierung, die das Asylbewerberleistungsgesetz voran-(C) treibt, schaffen Sie weitere Argumente für die Menschen, gegen Ausländer und für rassistische Diskriminierung zu Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Frau Kollegin, helfen Sie mir doch bitte einmal mit sein. Die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgeset- meinem Gedächtnis – ich weiß es jetzt nicht genau –: Gibt zes, das heißt deutliche Schritte in diese Richtung wären es eigentlich aus dem rot-rot regierten Land Mecklen- sicherlich ein Zeichen, das wirksamer wäre als 100 000 burg-Vorpommern eine Bundesratsinitiative, das Asylbe- Menschen auf der Straße, die Sie offensichtlich alle werberleistungsgesetz zu streichen? schon wieder vergessen haben. Ich danke Ihnen. Pia Maier (PDS): Nein, soweit ich weiß, nicht. Auch (Beifall bei der PDS) Mecklenburg-Vorpommern mit einer rot-roten Regierung konnte sich dazu bislang nicht durchringen. An dieser Entscheidung sind aber sicherlich beide Koalitionspartner Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe die Aus- beteiligt. sprache. (Waltraud Wolff (Wolmirstedt) [SPD]: Aber Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- eben auch Sie! – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: ses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Das Sein bestimmt offensichtlich das Bewusst- Fraktion der PDS zur Aufhebung des Asylbewerberleis- sein!) tungsgesetzes, Drucksache 14/4695. Der Ausschuss emp- fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3381 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- Vizepräsidentin Petra Bläss:Frau Kollegin, Sie stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist müssen dann bitte zum Schluss kommen. gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Pia Maier (PDS): Ich komme zum Schluss. IchSchluss unserer heutigen Tagesordnung. möchte Sie noch einmal daran erinnern, dass im Novem- ber hier in Berlin über 100 000 Menschen auf der Straße Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- waren, um für Toleranz und Menschlichkeit zu de-tages auf Mittwoch, den 14. Februar 2001, 13 Uhr ein. monstrieren. Auch viele Mitglieder dieses Hauses waren Die Sitzung ist geschlossen. bei dieser Demonstration, die sich gegen die aktuellen Ausschreitungen richtete, anwesend. Mit der Kriminali- (Schluss: 15.38 Uhr)

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001 14749

(A) Anlagen zum Stenographischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Dr. Bartsch, Dietmar PDS 09.02.2001 Mascher, Ulrike SPD 09.02.2001 Dr. Bauer, Wolf CDU/CSU 09.02.2001 Müller (Düsseldorf), SPD 09.02.2001 Behrendt, Wolfgang SPD 09.02.2001* Michael Dr. Berg, Axel SPD 09.02.2001 Nolte, Claudia CDU/CSU 09.02.2001 Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 09.02.2001 Ost, Friedhelm CDU/CSU 09.02.2001 Dr. Blüm, Norbert CDU/CSU 09.02.2001 Otto (Frankfurt), F.D.P. 09.02.2001 Hans-Joachim Bohl, Friedrich CDU/CSU 09.02.2001 Dr. Pfaff, Martin SPD 09.02.2001 Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 09.02.2001 Pieper, Cornelia F.D.P. 09.02.2001 Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 09.02.2001 Rühe, Volker CDU/CSU 09.02.2001 Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 09.02.2001* Dr. Schäfer, Hansjörg SPD 09.02.2001 Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 09.02.2001 Schauerte, Hartmut CDU/CSU 09.02.2001 Peter H. Schily, Otto SPD 09.02.2001 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 09.02.2001 Herta Schmidt (Aachen), Ulla SPD 09.02.2001 Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 09.02.2001 Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 09.02.2001 Hans Peter Fograscher, Gabriele SPD 09.02.2001 Dr. Schuchardt, Erika CDU/CSU 09.02.2001 Formanski, Norbert SPD 09.02.2001 (B) Schultz (Everswinkel), SPD 09.02.2001 (D) Friedhoff, Paul K. F.D.P. 09.02.2001 Reinhard Friedrich (Altenburg), SPD 09.02.2001 Sebastian, Wilhelm-Josef CDU/CSU 09.02.2001 Peter Dr. Spielmann, Margrit SPD 09.02.2001 Dr. Fuchs, Ruth PDS 09.02.2001 Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 09.02.2001 Dr. Gerhardt, Wolfgang F.D.P. 09.02.2001 Tröscher, Adelheid SPD 09.02.2001 Gloser, Günter SPD 09.02.2001 Türk, Jürgen F.D.P. 09.02.2001 Göring-Eckardt, Katrin BÜNDNIS 90/ 09.02.2001 DIE GRÜNEN Uldall, Gunnar CDU/CSU 09.02.2001 Hempelmann, Rolf SPD 09.02.2001 Vogt (Pforzheim), Ute SPD 09.02.2001 Henke, Hans Jochen CDU/CSU 09.02.2001 Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 09.02.2001 Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 09.02.2001 Dr. Westerwelle, Guido F.D.P. 09.02.2001 DIE GRÜNEN Wohlleben, Verena SPD 09.02.2001 Hilsberg, Stephan SPD 09.02.2001 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 09.02.2001 des Europarates DIE GRÜNEN Hollerith, Josef CDU/CSU 09.02.2001 Anlage 2 Ibrügger, Lothar SPD 09.02.2001 Kampeter, Steffen CDU/CSU 09.02.2001 Zu Protokoll gegebene Rede Klappert, Marianne SPD 09.02.2001 zur Beratung des Berichts: Aufhebung des Asylbe- werberleistungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 19) Labsch, Werner SPD 09.02.2001 Leidinger, Robert SPD 09.02.2001 Peter Weiß (Emmendingen)(CDU/CSU): Im Jahre Lohmann (Neubranden- SPD 09.02.2001 1993 hat der Deutsche Bundestag das Asylbewerberleis- burg), Götz-Peter tungsgesetz beschlossen, mit welchem die Leistungen für 14750 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 150. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Februar 2001

(A) Asylsuchende und andere Ausländerinnen und Ausländer tenzsichernd angelegt. Die Reduzierung der Krankenhilfe (C) ohne dauerhaftes Aufenthaltsrecht aus dem Bundessozial- und Krankenbehandlung auf das aus medizinischer Sicht hilfegesetz (BSHG) herausgelöst und in einem eigenstän- unumgänglich Notwendige – vor allem die Behandlung digen Gesetz geregelt wurden. Die Gründe, die zum da- von Akutkrankheiten und Schmerzzuständen – erfolgte maligen Asylkompromiss und zur Schaffung dieses neuen ebenfalls wegen des nur vorübergehenden Aufenthalts Gesetzes führten, haben weiterhin Geltung. der allermeisten Asylbewerber. Asylberechtigte erhalten dagegen vom Zeitpunkt der Anerkennung an die vollen Der im Jahr 1992 zustande gekommene Asylkompro- Leistungen der Sozialhilfe wie auch die Inländer. Wer ein miss beinhaltete, außerhalb des Bundessozialhilfegeset- Bleiberecht in der Bundesrepublik erworben hat, der zes deutlich abgesenkte Leistungen für Asylbewerber ei- wird in keiner Weise gegenüber einem Inländer benach- genständig zu regeln und den Vorrang von Sachleistungen teiligt. festzulegen. Dadurch sollte der Anreiz für nicht politisch Verfolgte reduziert werden, Asyl in Deutschland zu su- Auch die Gewährung von Sachleistungen ist so ange- chen. legt, dass eine ausreichende Versorgung sichergestellt ist. So werden bei der Zuteilung von Lebensmitteln der Die dringende Notwendigkeit für dieses neue Gesetz unterschiedliche Bedarf von Kindern, Erwachsenen, ergab sich vor allem aus der Zunahme der Tätigkeit kri- Schwangeren etc. berücksichtigt. Die nach dem Asylbe- mineller, gut organisierter und international tätiger werberleistungsgesetz vorgesehene medizinische Versor- Schlepperorganisationen. Die Not wie die Zukunftshoff- gung leistet das, was während eines nur vorübergehenden nungen vieler Menschen, die aus ihrer angestammten Hei- Aufenthaltes notwendig ist. Werdende Mütter und Wöch- mat auswandern oder fliehen wollen, wird bis zum heuti- nerinnen erhalten uneingeschränkte medizinische Hilfe. gen Tag in schamloser Weise von Organisationen Dies zeigt, dass auch die Begründung des PDS-Antrags ausgenutzt, die eine der verwerflichsten Formen des mo- schlichtweg an der Realität vorbeigeht bzw. diese leugnet. dernen Menschenhandels betreiben. Deshalb sollte mit Das Asylbewerberleistungsgesetz ist in keiner Weise in- dem neuen Gesetz das Risiko reduziert werden, dass human. Geldleistungen des Bundessozialhilfegesetzes letztlich zur Bezahlung dieser Schlepperorganisationen und ihrer Weiterhin bestehen also die guten und sachlich zu kriminellen Hintermänner verwendet werden. Deshalb rechtfertigenden Gründe dafür, das Asylbewerberleis- war und ist das Asylbewerberleistungsgesetz kein Gesetz, tungsgesetz beizubehalten und damit für Asylbewerber das sich etwa gegen die Asylsuchenden wendet, sondern andere Leistungen vorzusehen, als jene, die für Bezieher zuallererst ein Gesetz, das den kriminellen Machenschaf- von Sozialhilfe gelten. Zielsetzung der Politik muss viel- ten der Schlepperorganisationen das Handwerk legt.mehr sein, dass über den Status eines Asylbewerbers Diese Organisationen knöpfen Asylsuchenden das Geld möglichst schneller entschieden wird. Denn sobald die (B) ab, das eigentlich für den Lebensunterhalt dieser Men- Statusfragen geklärt sind, können Bleibeberechtigte die (D) schen gedacht ist. Dieses Programm besteht mit gleicher vollen Leistungen des Bundessozialhilfegesetzes erhal- Dringlichkeit auch heute fort. ten und regelt sich auch die Frage des Arbeitsmarktzu- gangs. Wegen des nur vorübergehenden Aufenthaltes der Asylbewerber in der Bundesrepublik Deutschland konn- Für uns gilt weiterhin: Wer als Asylsuchender zu uns ten mit dem Asylbewerberleistungsgesetz die Leistungen kommt, erhält das Lebensnotwendige. Wer ein Bleibe- zur Absicherung des Lebensunterhaltes geringer festge- recht erworben hat, erhält auch die vollen Leistungen zur setzt werden als die vergleichbaren Regelsätze des Bun- Integration in unserer Gesellschaft. Und wer nur ab- dessozialhilfegesetzes, da Integrationsleistungen zunächst zocken und andere Menschen ausbeuten will, dem schie- nicht erforderlich sind. Dennoch sind die Leistungen exis- ben wir einen Riegel vor.

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