AMY-DIANA COLIN „dann ging ich über den Pont des Arts“

Diesen Titel wählte Else Keren1, die aus Czernowitz stammende, deutschspra- chige israelische Lyrikerin und Kunstmalerin, für ihren 1983 herausgebrachten Band2. Folgt man dem Weg der Dichtung Else Kerens, entdeckt man eine un- gewöhnliche Brückenlandschaft mit verschiedenen „Ponts des Arts“ zwischen europäischen, deutschen und jüdischen Kulturtraditionen, zwischen Vergan- genheit und Gegenwart, zwischen Verfolgung in der Bukowina, Exil in und Neubeginn in Israel, zwischen Czernowitz, Paris und Jerusalem, zwischen Dichtung und Kunst. Der vorliegende Essay erkundet diese Brückenlandschaft im innovativen, aber heute immer noch wenig erforschten Buch dieser jüdischen Brücken- Baumeisterin, um zur Würdigung der Kulturvermittlerin Patricia Oster-Stierle beizutragen, die wichtige geistige Brücken zwischen der Literaturwissenschaft und anderen geisteswissenschaftlichen Fächern errichtet hat. Durch ihre Tä- tigkeit als Vize-Präsidentin ihrer Universität des Saarlandes und als Präsiden- tin der deutsch-französischen Universität in der Bundesrepublik sowie durch ihren persönlichen Einsatz hat sie zudem die friedliche Wechselwirkung zwi- schen deutschen und französischen Hochschulen gefördert. Bei einem Spaziergang durch Paris waren auch Patricia Oster-Stierle und ich einst über den „Pont des Arts“ gegangen. Die Brücke führte uns nicht nur vom Quartier Latin zum , sondern auch zurück in unsere eigene Ver- gangenheit. Denn in Gesprächen, die wir damals führten, kehrte die Erinne- rung an unsere ursprüngliche Begegnung als Erstsemesterinnen an der Univer- sität Bonn wieder und motivierte den Wunsch eines Tages zusammenzuarbei- ten. Bald darauf lud sie mich ein, in einem ihrer Seminare gemeinsam mit ihr und ihren Studenten die Welt jüdischer Exilautoren aus Czernowitz zu erfor- schen, die das Schicksal an die verschlagen hatte. Ihr Seminar war ein

 1 Else Keren, geborene Schächter, kam am 23.5.1924 in Czernowitz, Bukowina, damals König- reich Rumänien in einer deutschsprachigen jüdischen Familie zur Welt, wuchs in dieser Stadt der Dichter auf, als die Region noch im Zeichen des Friedens stand, wurde 1941 von deut- schen Nazis und rumänischen Faschisten ins Czernowitzer Ghetto getrieben, entkam aber der Deportation in die Todeslager von Transnistrien (Ukraine). Sie überlebte die Zeit der Verfol- gung, konnte 1945 aus der von Sowjets besetzten Stadt Czernowitz nach Bukarest und 1947 nach Paris gelangen. Im Dezember 1949 unternahm sie eine Reise nach Israel, wo ihre Mutter und ihr Bruder mittlerweile lebten. Sie ließ sich in Israel (Ramat-Gan) nieder und war dort als Künstlerin, Lyrikerin und Übersetzerin tätig. Sie starb am 29.5.1995 vermutlich durch Suizid. Zur Biographie der Lyrikerin, siehe auch Informationen im Text, hier s.u. und Fußnote 52; cf. auch eine Kurzbiographie Else Kerens in: Siglinde Bolbecher/Konstantin Kaiser: Lexikon der österreichischen Exilliteratur, Wien: Deuticke Verlag 2000, S. 370f. 2 Else Keren: dann ging ich über den Pont des Arts, Ramat-Gan: Selbstverlag 1983 (Sigle: dann ging ich über den Pont des Arts). Eine neue Ausgabe ist in Vorbereitung. 162 AMY-DIANA COLIN imaginärer und doch konkreter „Pont des Arts“ nach „Czernowitz an der Sei- ne“. Die berühmte Pariser Brücke – ursprünglich „Passerelle des Arts“ genannt – wurde zwischen 1801 und 1804 um die gleiche Zeit wie „Pont d’Austerliz“ von Jacques Vincent de Lacroix Dillon (1760-1807) nach den Entwürfen sei- nes Lehrers Louis-Alexandre de Cessart (1719-1806) gebaut. Beide Brücken stellten eine technische und baumeisterliche Innovation dar, denn sie waren die ersten Gusseisenbrücken Frankreichs. Als Fußgängerbrücke konzipiert, bot die „Passerelle des Arts” Parisern die Möglichkeit, vom Quai de Conti und dem Institut de zum Palais des Arts – wie der Louvre damals hieß – zu gelangen. Laut Zeitzeugenberichten sollen am Tag der Eröffnung 64.000 Pari- ser Bürger die Brücke überquert haben. Die später mit Blumentöpfen ge- schmückte und mit Bänken ausgestattete Brücke lud Passanten zum Verweilen ein. Sie wurde zum Symbol bürgerlicher Kultur. Die Brücke mit ihren ursprünglich neun, ab dem Umbau von 1852-533 acht Bögen, fünf filigranen Bogenträgern, kleinen Zwischenbögen, horizontalen und diagonalen schmiedeeisernen Streben ist ein Baukunstwerk. Dennoch wurde sie mehrfach beschädigt. 1918 wurde die Brücke von einer Flieger- bombe getroffen und nach dem Zweiten Weltkrieg einige Mal von Schiffen gerammt. Einer dieser Unfälle führte 1979 dazu, dass ein Teil der Brücke ein- stürzte. Zwischen 1982 und 1984 wurde die Brücke zwar nach alten Plänen restauriert, aber mit einer Stahlkonstruktion auf sechs Brückenpfeilern aus Stahlbeton versehen, die mit Natursteinen verkleidet waren.4 Dabei wurde ein weiterer Bogen der Brücke abgerissen, um der Schifffahrt mehr Platz einzu- räumen. Trotz der Veränderungen blieb die Brücke ein Wahrzeichen der Stadt und eine Quelle künstlerischer Inspiration. Bedeutende Maler des neunzehnten Jahrhunderts – Pierre-Auguste Renoir, James McNeill Whistler, Paul Signac und viele andere – verewigten die Brü- cke in ihren Bildern. Der Name „Pont des Arts“ kehrte zudem in zahlreichen Werken wieder, von Honoré de Balzacs La Rabouilleuse (1841) bis hin zu La Marche à L’Étoile (1943) von Vercors5. Catherine Meurisse wählte „Le Pont des Arts“ als Titel ihres 2012 erschienenen Buches6 über die verwickelten Be- ziehungen zwischen Künstlern und Schriftstellern, wie: Zola, Cézanne und die Impressionisten, George Sand und Delacroix, Diderot und Greuze, Apollinaire und Picasso. Deutschsprachigen Lesern ist vor allem Wilhelm Hauffs so kunstvoll wie die Brücke selbst gestaltete Novelle „Die Bettlerin am Pont des

 3 Kaiser III. beauftragte einen der angesehensten italienischen Architekten seiner Zeit, Louis Visconti (1791-1853), mit dem Umbau der Brücke. Nach dem Tod Viscontis setz- te der Architekt Hector Martin Lefuel (1810-1880) den Umbau fort. 4 Die Restaurierung erfolgte unter der Leitung des Architekten Louis Arretche (1905-1991). 5 Vercors (Pseudonym für Jean Marcel Bruller) erzählt in diesem Buch die bewegte Geschichte aus Ungarn stammenden jüdischen Vaters: Es ist Geschichte von Louis Bruller. 6 Catherine Meurisse: Le Pont des Arts, Paris: Sarbacane 2012.