Brooke Greenberg, 17, auf dem Schoß ihrer jüngeren Schwester Carly

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s ist möglich, dass sich der Schlüssel zur Unsterblichkeit in diesem zarten Mädchen verbirgt, kaum 76 Zentime- Eter groß und 7 Kilogramm schwer. Die Arme und Beine sind fragil wie die Äste einer jungen Buche, die Au- gen sind haselnussbraun. Sein Lachen hört sich an wie das Fiepen eines Wel- pen. Und wenn Brooke Greenberg zu ih- rer Mama möchte, streckt sie die Ärm- chen aus, wiegt den Kopf und verzieht ihr Gesicht zu einem schiefen Flunsch. „Komm her, Brooke, ja, du bist ein hübsches Mädchen.“ Melanie Green- berg, 49, nimmt das zerbrechlich wir- kende Kind auf den Arm und streichelt zärtlich über seinen Rücken. „Sie liebt es, gehalten zu werden“, sagt die vierfa- che Mutter. Emily, Caitlin, Carly heißen Brooke, die Schwestern. Brooke ist die Zweit- jüngste. Im Januar wird sie 18 Jahre alt. Sie müsste ein Teenager sein, eigent- lich. Die Gleichaltrigen machen den Füh- unsterblich rerschein, gehen tanzen, schlafen mit dem ersten Freund. Doch für Brooke ist die Zeit gleichsam eingefroren. Geistig Die Amerikanerin Brooke Greenberg ist und körperlich verharrt das Mädchen auf dem Stand eines elf Monate alten Babys. fast volljährig, verharrt geistig „Brooke ist ein Wunder“, sagt Howard und körperlich jedoch auf dem Stand Greenberg, der Vater. „Brooke ist ein Rät- sel“, sagt Lawrence Pakula, der Kinder- eines Babys. Ein US-Mediziner arzt. „Brooke ist eine Chance“, sagt schließlich Richard Walker, Genetiker versucht, das Geheimnis des Kindes vom University of South Florida College zu ergründen. Er will der of Medicine. Und sie meinen alle das Gleiche: Das Mädchen aus dem kleinen Menschheit ewiges Leben bescheren. Örtchen Reisterstown im US-Bundes- staat Maryland könnte in ihrem zarten VON PHILIP BETHGE Körper die Antwort auf ein Menschheits- rätsel hüten. Es geht um nichts Geringe- res als Unsterblichkeit. Denn Brooke Greenberg wird scheinbar nicht älter. Das Mädchen hat keine hormonellen Probleme. Seine Chromosomen wirken normal. Allein, Brooke wächst quasi nicht. „Extrem langsam“ verlaufe ihre Entwicklung, sagt Walker. Wenn es ge- linge, den Grund für die Störung heraus- zufinden, sollte es möglich sein, das Al- tern selbst zu entschlüsseln: „Dann ha- ben wir den Heiligen Gral gefunden.“ Altersleiden wie Krebs, Demenz oder Diabetes hofft der Mediziner einfach ab- schaffen zu können. Wer nicht mehr al- tert, wird auch nicht mehr krank, lautet sein Credo. Und selbst das ewige Leben hält er für denkbar. „Biologische Unsterb- lichkeit ist möglich“, sagt Walker, „wenn

JULIANE WERNER Sie nicht unters Auto kommen oder vom

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Blitz erschlagen werden, könnten Sie ver- mutlich mindestens tausend Jahre leben.“ Brooke Greenberg wird am 8. Januar 1993 im Sinai-Krankenhaus in , Maryland, geboren. Sie ist ein Frühchen und wiegt nur 1800 Gramm. Schon bald wird deutlich, dass das Kind nicht nor- mal ist. Fast alle Organsysteme sind ver- ändert. Ihre Hüfte ist verdreht. Die Bein- chen zeigen linkisch hinauf zu den Schultern. Kaum geboren, muss das Mädchen ins Gipsbett. Die ersten sechs Lebensjahre sind eine Tortur für Kind und Eltern. Einmal müssen sieben Löcher in Brookes Ma- Erbgutschnipsel bei der Gensequenzierung genwand gestopft werden. Weil immer wieder Essen statt in den Magen in die Luftröhre rutscht, wird das Mädchen bald per Sonde ernährt, die durch die Wänden: Brooke mit drei Jahren neben der Lagune des kleinen Küstenorts. Der Bauchwand führt. Mit vier Jahren fällt ihrer einjährigen Schwester Carly, die Mediziner wird 2005 auf Brooke Green- sie für 14 Tage in ein Koma. Dann dia - schon damals größer war als sie; Brooke berg aufmerksam. „Ich habe gleich ge- gnostizieren die Ärzte einen Hirntumor, im Strampler an ihrem zwölften Ge- dacht, dass sie eine einzigartige Muta - der sich allerdings später als Fehldia- burtstag; Brooke mit 14 bei ihrer Bar tion in bestimmten Schlüsselgenen ha- gnose erweist. „Die Greenbergs hatten Mizwa, dem jüdischen Initiationsfest. ben muss, die Entwicklung und Altern bereits einen Sarg gekauft und mit dem Greenberg eilt von Bild zu Bild. Im- steuern“, sagt er. Der Forscher nimmt Rabbi gesprochen“, erinnert sich Kin- mer die gleiche Brooke, immer der glei- Kontakt mit den Greenbergs auf. Er derarzt Pakula. che schiefe Mund, die eine Winzigkeit überzeugt den Vater, Brooke Blut abneh- Der Doktor praktiziert in einem Ärz- zu weit auseinanderliegenden Augen. men zu dürfen, um ihr Erbgut zu unter- tehaus unweit der Greenbergs. Seine „Sie ist ein Wunder.“ Das muss gesagt suchen. Er prüft die Zahl und Beschaf- Krawatte ist mit Comic-Flusspferden be- werden, immer und immer wieder. „Was fenheit der Chromosomen. Er analysiert druckt, um die Kinder aufzuheitern. Auf verpasst sie im Leben? Nichts; sie ist die sogenannten an den Enden dem Schreibtisch liegt ein halbmeter - glücklich; sie ist nicht kaputt; wir sind der Erbgutstränge, deren Länge über das hoher Stapel mit Brookes Krankenakten. es, die kaputt sind“ – so legt es sich der Zellalter Auskunft geben. Er füllt winzi- „Das darf nicht verlorengehen“, sagt der Vater zurecht, „so ist es leichter zu er- ge, Mikroliter fassende Reagenzmulden Arzt und legt seine Hand auf die Papiere. tragen“, sagt er später. von Biochips mit Erbgutschnipseln und Er weiß um den Schatz, den er hütet. prüft die Aktivität verschiedenster . Denn vor allem verblüfft Brooke die Anfangs sorgt die Mutter noch allein Das Ergebnis ist ernüchternd und fas- Welt, weil sie kaum altert. Mit zwei Jah- für Brooke. Inzwischen hat sie Hilfe. zinierend zugleich. „Wir haben bislang ren hört ihr Körper auf zu wachsen. Kei- Zehn Stunden täglich dauert es allein, keine Abweichungen von der Norm ge- nen Millimeter mehr. Kein Pfund dazu. um Brooke über ihren Magenzugang zu funden“, sagt Walker, „doch für mich ist Pakula spritzt Wachstumshormone, ohne ernähren. Von halb acht bis halb vier ist das nur ein Anreiz, weiterzusuchen.“ Wirkung. Er arbeitet sich durch medizi- sie in der Behindertenschule. Die restli- Die Einzigartigkeit des Mädchens lie- nische Fachartikel und konsultiert Spe- che Zeit verbringt sie zumeist in ihrem ge gerade darin, dass ihr Erbgut normal zialisten in der ganzen Welt. „Brookes Kinderzimmer. Sie sitzt dann in ihrem erscheine, sie selbst aber ganz offensicht- Fall wurde jedem halbwegs bedeutenden Babybett und schaut fern. Oder sie wippt lich nicht normal sei, sagt der Professor. Fachmediziner vorgestellt, doch niemand in ihrer hellblauen Babyschaukel. Denn trotz der überraschend ergebnis- hatte jemals zuvor etwas Vergleichbares „Sie kann das stundenlang machen”, losen Erbgutanalyse herrscht im Körper gesehen“, berichtet der 77-Jährige. sagt Melanie Greenberg. Die Mutter hebt der Kleinen heilloses Durcheinander. Die Greenbergs warten, hoffen, ein die Tochter in die Höhe und stellt sie vor- Während Brookes Gehirn kaum wei- Jahr, zwei Jahre, zehn Jahre, nichts ge- sichtig auf die dünnen Beinchen mit den terentwickelt ist als das eines Neu- schieht. Die Gesichtszüge des Kindes nach innen verdrehten Füßen. „Natür- geborenen, haben ihre Knochen ein bio- bleiben unverändert. Anzeichen von Pu- lich war es hart am Anfang“, sagt sie logisches Alter von etwa zehn Jahren. bertät gibt es nicht. „Brookes Pflegerin- dann, „aber ich bin sicher, dass es einen Das Gebiss des Kindes wirkt mit seinen nen, ihre Lehrer, selbst ihr Vater können Grund dafür gibt, dass Brooke hier ist.“ Milchzähnen wie das einer Achtjähri- Fotos von ihr nicht zuverlässig in eine „Irgendetwas ist in ihr; irgendetwas, gen. Die Länge der Telomere dagegen chronologische Reihenfolge bringen“, das Millionen Menschen helfen könnte.“ entspricht ihrem tatsächlichen Alter. Zu- sagt Pakula. Nur Haare und Fingernägel Indian Rocks, Florida. Richard Wal- dem ist die Entwicklung verschiedener des Mädchens wachsen normal. ker, emeritierter Professor der Medizin Organsysteme wie etwa des Verdauungs- Vater Greenberg zeigt im Haus der und Spezialist für die Biologie des Al- trakts „nicht synchronisiert“, wie es der

Familie in Reisterstown die Fotos an den terns, wohnt in einem Haus direkt an Professor nennt. / DOC-STOCK SCIENCEPHOTO

96 SPIEGEL WISSEN 4 | 2010 „Verschiedene Teile ihres Körpers mich wäre es das größte Geschenk.“ Vie- wie Brooke Greenberg, bei denen die scheinen sich voneinander abgekoppelt le Menschen hätten die Vorstellung, ewi- Mastergene der Entwicklung versagen zu entwickeln – als wären sie nicht Teil ges Leben gleiche ewiger Mühsal und und genau aus diesem Grund im Erbgut ein und desselben Organismus“, erläutert Vergreisung. „Doch so wäre es ja nicht“, lokalisierbar werden. Tatsächlich hat er Walker. Für ihn gibt es nur eine Erklä- sagt Walker. Idealerweise würde man inzwischen zwei ähnliche Fälle entdeckt. rung: das Versagen zentraler Steuergene. die Entwicklung natürlich kurz nach Er- Die sechsjährige Gabrielle K. aus Bil- Ein feinorchestriertes genetisches reichen der Geschlechtsreife stoppen. lings im US-Bundesstaat Montana, ge- Programm lässt im Normalfall aus einer Und die gesellschaftlichen Folgen? boren am 15. Oktober 2004, altert offen- winzigen Eizelle einen ausgewachsenen Wer dürfte ewig leben, wer nicht? Wem bar ebenfalls kaum. Gleichzeitig wirken Körper entstehen. Ist dieser Masterplan wären noch Kinder vergönnt? Walker ihre Chromosomen genau wie Brookes jedoch beschädigt, misslingt das Wun- zögert. „Das sind keine wissenschaftli- völlig normal. derwerk. Genau das ist bei Brooke ge- chen Fragen“, sagt er dann, „das müssen In Esperance in West-Australien wie- schehen, glaubt Walker. Wichtige Gene Philosophen und Priester diskutieren.“ derum lebt Nicky Freeman, ein 40-jäh- der Körperentwicklung sind entweder Walkers Theorien sind umstritten. riger Mann, der im Körper eines Jungen ausgeschaltet oder fehlerhaft. „Wenn wir Der britische Biologe Aubrey de Grey gefangen scheint. Sein biologisches Alter diese Gene identifizieren, sollte es mög- etwa schätzt den US-Kollegen zwar sehr. wird auf zehn Jahre geschätzt. lich sein, die Entwicklung und damit Er glaubt aber, dass Vergreisung und Ent- Können Gabrielle oder Nicky den Weg letztlich auch die Alterung des Körpers wicklung nicht zusammenhängen. Der zum Jungbrunnen weisen? Walker weiß zu verstehen“, sagt der Forscher. Fall Brooke Greenberg habe „absolut es noch nicht. Im Moment konzentriert Walker hat eine Theorie. Er glaubt, nichts mit Altern zu tun“. De Grey ver- er sich auf Brooke. Bald will er zusammen dass Altern lediglich die Fortsetzung der weist auf die Lebensphase zwischen 20 mit Experten der Duke University in Dur- Entwicklung des Körpers ist. Der For- und 40, in der sich der Körper kaum ver- ham, North Carolina, die komplette DNA scher wählt als Bild ein Haus: Zunächst ändere. „Sollen in dieser Zeit die Ent- des Mädchens sequenzieren. Finden sich wird es gebaut. Wenn es fertig ist – im Mutationen in Brookes Erbgut, plant Wal- Fall des Körpers ist die Geschlechtsreife ker, die entsprechenden Gene bei Labor- erreicht –, sollten die Handwerker ei- ratten zu lokalisieren und anschließend gentlich abrücken. Doch bei normalen zu blockieren. Das Kalkül: Bleiben die Menschen bleiben sie und bauen einfach „Sie hatten bereits dann genmanipulierten Tiere jung, haben weiter, indes mit einem Plan, der längst die Forscher tatsächlich deren Entwick- erfüllt ist, und mit einem Chef, der nur den Sarg gekauft.“ lung lahmgelegt. noch dummes Zeug redet. An einer Stelle „Brooke ist der Schlüssel zu allem“, entsteht noch ein verwinkelter Erker, an sagt Walker. Der Forscher möchte vor- einer anderen eine wackelige Gaube. Tra- wicklungsgene einfach schweigen? Das ankommen, schnell. Ihm rennt die Zeit gende Pfeiler werden plötzlich abgesägt. ist sehr unwahrscheinlich“, sagt er. davon. Doch Howard Greenberg windet Dann stürzen erste Mauern ein. Schließ- De Grey vertritt die gängige Theorie, sich. Er hat längst das Gefühl, einen lich versinkt das Bauwerk in Schutt und dass die Körperzellen über die Jahre wertvollen Schatz in seinem rotgeklin- Asche: Der Tod holt den Körper ein. schlicht abnutzen, Giftstoffe in ihrem kerten Familiendomizil zu hüten. Green- „Altern geschieht, wenn Entwicklungs- Innern anhäufen und die Fähigkeit zur berg hat Juristen eingeschaltet. Es geht gene Chaos verbreiten, weil sie sinnlosen Regeneration verlieren. Er hat sieben um die Rechte an Brookes Erbgut. Der Anweisungen folgen“, sagt Walker. Seine Todbringer wie etwa Zellverlust oder Vater weiß, dass er die Zeit auf seiner Idee ist es, die Mastergene der Entwick- Erbgutveränderung identifiziert, die er Seite hat. Die Ärzte sagen ihm, dass sei- lung einfach abzuschalten. Dann, so hofft künftig mit Stammzelltherapien oder ne Tochter bei guter medizinischer Ver- er, hört der faule Zauber auf. Hat Walker speziellen Impfungen bekämpfen will. sorgung noch sehr lange leben kann. recht, wären die Konsequenzen drama- Doch Walker ficht die Kritik nicht an. Im Heim der Greenbergs hat die Mut- tisch: Ein so manipulierter Körper würde „Der Verfall der Körperzellen ist ja gerade ter inzwischen einen Beutel mit Kom- sich nicht mehr verändern, sondern nur eine Folge der unregulierten Aktivität von plettnahrung an Brookes Magenzugang noch Reparaturarbeiten ausführen. Das Entwicklungsgenen“, argumentiert er. angeschlossen. Langsam rinnt die bräun- ewige Leben wäre greifbar. Seine Theorie ist in gewisser Weise be- liche Flüssigkeit durch einen Schlauch Der Professor hat sich in seinem stechend: Während Biologen wie de Grey in den kleinen Körper hinein. schweren Sessel warm geredet. Jetzt an den zahllosen Symptomen der Vergrei- Howard Greenberg blickt auf seine schweift sein Blick hinaus auf das glit- sung herumdoktern, will Walker das Al- Tochter hinab. In weiß-rot geringeltem zernde Wasser. Direkt vor der Terrasse tern einfach gleich ganz abschaffen. T-Shirt und weißer Hose schwingt das hat er einen Privatanleger mit Jolle und „Stellen Sie sich vor, wir könnten den Mädchen in seiner Babyschaukel hin Motorboot. Ein Surfbrett liegt auf dem Verfall des Körpers schlicht verhindern“, und her, monoton wie ein Uhrpendel. Steg. Der Mediziner segelt, surft, fährt schwärmt der Forscher, „altersbedingte „Ich habe immer gedacht, dass sie vor Ski. Er ist 71. Er hängt an seinem Leben. Krankheiten wie Diabetes, Alzheimer, mir sterben wird – aber inzwischen den- Wollen Sie unsterblich sein, Profes- Demenz oder viele Krebsleiden würden ke ich das nicht mehr“, sagt der 53-Jäh- sor? „Natürlich will ich ewig leben“, sagt gar nicht erst entstehen.“ rige nach einer Pause. er: „Ich könnte noch Mathematik studie- Um seine Theorie zu beweisen, „Brooke kann für immer leben; sie ren; ich könnte noch so viel lernen; für braucht Walker allerdings Menschen wird für immer hier sein.“

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