Patrick Messina Paloma Kouider Raphaël Perraud

M e i s t e r k o n z e r t

Samstag, 13. Februar 2016, 18 Uhr, Fiskina Fischen

Patrick Messina Klarinette Raphaël Perraud Violoncello Paloma Kouider Klavier

Programm: Gabriel Fauré Trio op. 120, d-Moll (1922/23) Sonate für Klarinette und Klavier (1962) Claude Debussy Sonate für Violoncello und Klavier d-Moll (1915) Louise Farrenc Trio op. 44, Es-Dur (1854-56)

35 Patrick Messina gehört zu den renommiertesten Klarinettisten tional Supérieur de Musique de Paris sowohl den 1. Preis beim unserer Zeit. Seit 2003 ist er Solo-Klarinettist im Orch estre Na - Kammermusik- als auch den 1. Preis beim Klarinettenwettbe- tional de France unter Daniele Gatti und gastiert gleichzeitig werb. Patrick Messina ist gefragter Solist für zeitgenössische weltweit als Solist namhafter Orchester und unterschiedlicher Musik und deren Uraufführungen. Zusammen mit dem Ensem- kammermusikalischer Besetzungen. Er wurde in Nizza als ble Orchestral de Paris unter der Leitung von Olari Elts inter- Sohn sizilianischer und spanischer Eltern geboren. Schon früh pretierte er beispielsweise im Jahr 2010 die Uraufführung des erhielt er von seinem Vater Klarinettenunterricht und setzte Klarinettenkonzerts Autumn Pictures des französischlibane- seine Ausbildung bei namhaften Lehrern wie Guy Deplus und sischen Komponisten Bechara El Khoury am Chatelet Theatre. Michel Arrignon am Pariser Konservatorium fort. Anschlie- Im gleichen Jahr wurde Patrick Messina als Gastprofessor an ßend ging er als Stipendiat ans Cleveland Institute of Music die Royal Academy of Music in London berufen. und zu Ricardo Morales ans Mannes College in New York. Zu Beginn seiner Karriere wurde er von Sir Yehudi Menuhin ge- Als Kind einer Musiker-Familie begann Raphaël Perraud be- fördert. Heute ist es insbesondere Riccardo Muti, der Patrick reits im Alter von nur fünf Jahren mit dem Cello-Unterricht Messina als Gastsolisten mit namhaften Orchestern präsentiert. an der Musikakademie in Valence, Frankreich. Mit 16 Jahren Für die CD-Einspielung mit Werken von W.A. Mozart, u.a. zu- trat er in das Conservatoire National Supérieur de Musique de sammen mit Riccardo Muti und dem Orchestre National de Paris ein und begann sein Studium bei Jean-Marie Gamard. France, erhielt Messina beste Kritiken: „Den ersten Satz des Drei Jahre später beendete er seine Studien erfolgreich mit dem Konzerts nimmt Muti fließend bewegt und Messinas Klarinet- 1. Preis im Fach Cello als auch mit dem 1. Preis im Fach Kam- tenspiel strahlt facettenreich darüber. Das Adagio ist sehr ruhig mermusik. Anschließend erweiterte er seine Studien am Con - und gesetzt gehalten. Dabei hält es stets eine würdevolle Lyrik. servatoire National Supérieur de Musique de Lyon bei Yvan Auch der dritte Satz ist eine Pracht: heiter, virtuos und klang- Chiffoleau und nahm parallel an Meisterkursen von Janos voll entspannt. Und das Klarinettenquintett? Hören Sie selbst. Starker, Roland Pidoux und Siegfried Palm teil. Seine Solo- Es lohnt sich!“ erschienen in Cla rin o, 2012. Messina konzertiert Karriere begann er siebzehnjährig mit dem Tripel- Kon zert von des weiteren regelmäßig unter Dirigenten wie Tan Dun, Daniele L.v. Beethoven. Raphaël Perraud ist Preisträger zahlreicher in- Gatti, Kristjan Järvi, Jaap van Zweden, Mykola Dyadyura, ternationaler Musikwettbewerbe und gewann bereits 1994 den John Axelrod sowie Trevor Pinnock. Unter der Leitung von internationalen Wettbewerb des Prager Frühlings. Im gleichen Bernard Haitink spielte er an der Metropolitan Oper in New Jahr wurde er von Marek Janowski als zweiter Solo-Cellist für York, mit dem Royal Concertgebouw Orchestra in Amsterdam das Radio France Philharmonic Orchestra engagiert. Von sei- und mit dem Chicago Symphony Orchestra. nem früheren Lehrer Jean-Marie Gamard wurde er als dessen Auch als begeisterter Kammermusiker feiert Messina interna- Assistent an das Conservatoire National Supérieur de Musique tionale Erfolge bei Konzerten z.B. zusammen mit Edita Gru- de Paris berufen. Regelmäßig ist Raphaël Perraud ein interna- berova, Chen Reiss, Daniel Hope, Bruno Giuranna, Jean-Yves tional gefragter Solist bei namhaften Orchestern und gastiert Thibaudet, Simone Dinnerstein, Jean-Marc Luisada, Katia et als exzellenter Kammermusiker bei renommierten Festivals u.a. Marielle Labeque, Gautier Capuçon, mit dem Beaux Arts Trio zusammen mit Emmanuel Pahud, Patrick Messina, Eric Lesage, oder mit dem Philharmonia Quartett Berlin. Patrick Messina Daishin Kashimoto, Nicolas Dautricourt, Franck Braley, Guy ist Preisträger zahlreicher internationaler Wettbewerbe: Im Braunstein und Elena Rozanova. Unter seinen diversen CD- Jahre 1992 wurde er Preisträger der Yehudi Menuhin Founda- Aufnahmen sind folgende Einspielungen besonders hervorzu- tion. 1996 folgten die ersten Preise der East and West Interna- heben: Von Claude Debussy die Cello-Sonate, zusammen mit tional Auditions in New York sowie des Ima Hogg National Laurent Waghal am Klavier, sowie die Trois strophes sur le Competition in Houston. Im Jahr 1998 erhielt Messina den 1. nom de Sacher in Anwesenheit des Komponisten Henri Dutil- Preis des Heida Hermanns International Competition. Mit nur leux beim Festival Sonates d’Automne. 18 Jahren gewann er bei Wettbewerben am Conservatoire Na-

36 „Paloma Kouider ist nicht nur eine hervorragende Pianistin, Zum Programm: sondern auch eine grandiose Musikerin mit einem brillianten Verstand, mit Fantasie und Kreativität. Immer wenn Sie zu mu- Ich freue mich sehr, Ihnen erstmals das Trio d-Moll op. 120 sizieren beginnt, entsteht eine sehr authentische Interpretation, von Gabriel Urbain Fauré ( 1845 – 1924 ) ankündigen zu kön- nichts déjà entendu – bereits Gehörtes.“ So lautet das Urteil nen, das der Komponist in den Jahren 1922 – 1923 geschrie- von Hatto Beyerle vom Alban Berg Quartett. Paloma Kouider ben hat. Es zählt zu seinen letzten Werken. Auf dem Gebiet wurde 2008 mit dem Preis Révélation Classique der Fondation der Kammermusik hinterließ uns Fauré je zwei Klavierquar- Ban que Populaire ausgezeichnet. Ihr erstes Rezital-Konzert tette und -quintette, je zwei Violin- und Cellosonaten, aber spielte sie allerdings schon im Alter von nur zehn Jahren. nur dieses eine Trio. Die Jahre 1919 bis 1921 waren noch ein- Nachdem sie das Aufbaustudium an der Paris École Normale mal eine sehr kreative Phase, die mit dem Nocturne Nr. 13 am de Musique Alfred Cortot abgeschlossen hatte, arbeitete sie ge- 31.12.1921 abgeschlossen wurde. Danach litt Fauré unter di- meinsam mit Elisso Wirssaladze an der Scuola di Musica di versen altersbedingten Beschwerden, vor allem aber unter der Fiesole in Italien. Derzeit erweitert sie ihre Studien bei Avedis rasch zunehmenden Schwerhörigkeit infolge einer Otosklerose. Kouyoumdjian an der Universität für Musik und darstellende Auch war er sehr niedergeschlagen, daß er die vergangenen Kunst in Wien. zwei, noch sehr produktiven Jahre mehr dem Konservatorium Paloma Kouider konzertiert bereits in den großen Konzertsälen als seinem eigenen Schaffen gewidmet hatte. In den ersten vier Frankreichs, wie z. B. im Pariser Auditorium des Louvre, in der Monaten des Jahres 1922 wohnte er bei Freunden und schrieb Salle Pleyel und in der Salle Cortot. Darüber hinaus führen sie seiner Frau: „Ich schäme mich dafür, zuzugeben, daß ich das internationale Gastspiele auch in die Wigmore Hall London, Leben einer Kellerassel führe! Ich mache nichts, gar nichts, und in die Philharmonie St. Petersburg, in das Aster Plaza in Hiro- ich habe, seit ich in Nizza bin, noch keine zwei Noten Musik shima, in die Laeiszhalle in Hamburg oder in das Theater gefunden, die es wert wären, zu Papier gebracht zu werden. Schönbrunn in Wien. Sie ist regelmäßiger Gast bei internatio- Habe ich meine Resourcen ausgeschöpft? Ist das Klima hier so nal renommierten Festivals, wie dem Musikfestival Menton, deprimierend? Ohne das geringste Bedürfnis nach Ausgang den Festivals de Radio France und Montpellier Languedoc- oder Arbeit verbringe ich meine Tage im Haus. Ich lasse mich Roussillon, den Pianos Folies du Touquet in Aix-en-Provence, gut und gerne gehen, allerdings beunruhigt mich diese geistige dem St. Petersburg Piano Festival oder dem Kalkalpen Kam- Mattheit...Mein Blick ist gesunken und auf der Straße gehe ich mermusik Festival in Österreich. nun wie ein sehr alter Mann.“ (*1) Als leidenschaftliche Kammermusikerin und Mitbegründerin Als der Verleger Jacques Durand von diesen Schwierigkeiten des Trio Karénine, zusammen mit der Geigerin Anna Glöckel erfuhr, schlug er Fauré im Januar 1922 vor, ein Klaviertrio zu und dem Cellisten Louis Rodde, ist sie ebenfalls Preisträgerin schreiben. Er dachte dabei an jenes von Ravel, das kurz vor zahlreicher Wettbewerbe, wie z.B. dem 27. Ch a rles Hen n en In - dem Ersten Weltkrieg entstanden war, und Fauré, dem früheren ternational Competition in den Niederlanden und dem Pro Lehrer Ravels, so gut gefallen hatte. Fauré fing tatsächlich Music International Prize 2011. Des Weiteren gewann sie mit damit an, schaffte es aber nicht, dieses Trio vor der Rückkehr dem Trio Karénine den 5. Internationalen Haydn Wettbewerb nach Paris im April zu skizzieren. Sein Sohn Philippe berichtet: in Österreich und den angesehenen Banque Populaire Grand „Als der Sommer kam,wollte er wieder die Berge seiner Kind- Prix in Frankreich. heit sehen. Einen Monat verbrachte er im Hôtel de France in Ihr erstes Solo-Album, das sie Werken von Beethoven und Argelès am Eingang der wunderbaren Täler nach Luz und Cau- Liszt gewidmet hat, wurde hervorragend rezenziert und mit terets. Hier genoss er die Landschaft und blieb gerne bis zum fünf Stimmgabeln und vier Sternen des Fach-Magazins Clas- Saisonende. Nach seiner Ankunft in Annecy-le-Vieux bat er sica ausgezeichnet. Zwei neue Alben bei Lyrinx wurden 2013 mich, auf seinem Schreibtisch in Paris einige Manuskriptseiten veröffentlicht. zu suchen, die er dort vergessen hatte. Es handelte sich um einen Entwurf dessen, was der Mittelteil im zweiten Satz des

37 `Trios´ werden sollte, also nicht um den Beginn des Werkes.“ Fauré und Verlaine am Ende von La Bonne Chanson idealer- (*2) weise geforderte Zusammentreffen in einem glücklichen Die Arbeit am `Trio´ kam aber nicht voran, denn Fauré er- Gleichgewicht von `Fantasie und Vernunft´ stattfindet. Melo- krankte Ende Juli 1922 an einer Bronchopneumonie. Als es dische und rhythmische Erfindung, Lebendigkeit und Ausge- ihm ein bißchen besser ging, folgte er der Einladung des be- lassenheit sind hier in der Verarbeitung des Themenmaterials freundeten Ehepaars Louise und Fernand Maillot, die in Sa- meisterhaft verwirklicht. Der Scherzo-Charakter dieses Teils voyen ein Ferienhaus hatten. Mitte August kam Fauré zurück übersteigt in Erfindungsgabe und Sicherheit sogar das verblüf- nach Annecy-le-Vieux. Die kleine Gemeinde ehrte Fauré mit fende Finale der Sonate Nr. 2 für Violoncello. `Wie weit würde einem kleinen Musikfest. In dieser entspannten Atmosphäre er gehen, wenn er hundert Jahre lebte?´ fragten sich Faurés fand Fauré endlich zu seiner Schaffenskraft zurück. Erleichtert Freunde nach der Uraufführung des Trios. Für sie wurde das schrieb er am 26. September seiner Frau: „Ich arbeite an einem Werk im April 1923 im Salon der Maillots in der Rue de Tal- `Trio´ für Klarinette (oder Violine), Violoncello und Klavier. leyrand in Paris erstmals gespielt. Indem er an all die wohl- Ein wichtiger Teil dieses `Trios´, den ich vor einem Monat be- wollende Fürsorge seiner Gastgeber im sommerlichen gonnen habe, ist fertig. Leider kann ich nicht lange ohne Un- Annecy-le-Vieux dachte, drehte sich Fauré zu Frau Maillot terbrechung arbeiten. Mein größtes Übel ist die ständige und sagte ihr lächelnd:`Solche Dinge entstehen bei Ihnen.´ Müdigkeit.“ (*3) Fauré brachte dann den ersten Satz und das Gemäß seiner Bitte fand die erste öffentliche Aufführung des Finale des `Trios´ op. 120 im ruhigen und hellen Studio seiner Werkes am 12. Mai 1923, Faurés achtundsiebzigstem Geburts- Pariser Wohnung in der Rue des Vignes 32 zu Papier. Mitte tag, in der Sociéte nationale de musique statt. Drei junge Mu- Februar 1923 war die Arbeit abgeschlossen. siker des waren die Solisten: der Geiger Es ist nicht geklärt, warum Fauré die im Brief erstgenannte Robert Krettly, der Cellist Jacques Patté und die Pianistin Ta- Klarinette dann doch durch die Violine ersetzte. Möglicher- tiana de Sanzévitch. Der Komponist selbst konnte an diesem weise erhob sein Verleger Jaques Durand Einspruch. Wir wis- Abend nicht außer Haus und versäumte neben dem Trio auch sen, daß Fauré den Klang der Klarinette liebte, und ein La Bonne Chanson mit Suzanne Balguerie und dem hervorra- geschätztes Vorbild könnte das Trio mit Kla rin ette seines gend – und auswendig – spielenden Jean Roger-Ducasse.“ Freundes Vincent d`Indy gewesen sein. Er bewunderte die schöne Sonate für Klarinette und Klavier seines Lehrers und Als nächstes hören Sie das Werk eines französischen Kompo- Freundes Camille Saint-Saëns, die dieser im Jahr davor ge- nisten, der dem Werk von Gabriel Fauré zum Teil recht kritisch schrieben hatte. Auch besaß Fauré in seiner Musikaliensamm- gegenüber stand. Als Faurés Pénélope 1943 unter großem In- lung eine alte französische Ausgabe des Grand Duo concertant teresse der Musikwelt wieder auf die Bühne kam, befaßte sich von Carl Maria von Weber. Aber es ist nicht bekannt, ob er die Francis Jean Marcel Poulenc (1899 – 1963) in einem ausführ- Klarinettensonaten und das -quintett von Johannes Brahms lichen Artikel mit Faurés Orchestration: „Schätze ich auch un- kannte. Bekanntlich fand Brahms in Frankreich lange Zeit eingeschränkt das Werk eines Debussy oder eines Ravel, so gilt nicht die musikalische Resonanz. Selbiges nicht für jenes von Fauré, was ich hiermit demütig Nachdem Fauré immerhin schon das Andantino in diesem Trio zugebe. Mit vielen Stücken dieses Meisters, besonders mit den mit Klarinette konzipiert hatte, ist es sicher legitim, daß auch Klavierwerken, kann ich nichts anfangen. Vielleicht glaubt die Klarinettisten dieses Werk in ihr Repertoire aufnahmen. man mir mehr, wenn ich sage, daß mich Pénélope zu Tränen Abschließend möchte ich aus der großen Biographie `Fauré rührt.“ (*3, S. 574) Seine Musik Sein Leben´ von Jean-Michel Nectoux zitieren, der über die Komposition, ihre Rezeption und die ersten Auf- führungen berichtet: „...Nun sind alle thematischen und rhyth- mischen Elemente repräsentiert und können spielerisch verarbeitet werden. Es beginnt ein Abschnitt, bei dem das von

38 Wir hören von Francis Poulenc aus dem späten Kammermu- Modulationen, überraschende harmonische Effekte, Virtuosität sikzyklus der Jahre 1956/57 bis 1963 die Sonate für Klarinette und Ésprit. und Klavier, die 1962 entstand und von vielen als seine Am 10. April 1963, vier Monate nach Poulencs Tod im Januar, schönste Komposition für Blasinstrumente eingeschätzt wird. erwiesen Benny Goodman und Leonard Bernstein bei einem Poulenc widmete diese Sonate seinem Freund Arthur Honeg- Konzert in der Carnegie Hall mit der Uraufführung dieser So- ger, der bereits Ende 1955 gestorben war. Honegger und Pou- nate dem Komponisten die letzte Ehre. Seither gehört die So- lenc gehörten zusammen mit , Georges Auric, nate zum Kernrepertoire aller Klarinettisten. und Germaine Taillefer zu der Groupe des Six, die sich 1920 zusammenfand, um „mit Humor, gewitzter Ur- Beim nächsten Werk des Abends hören Sie nun den Cellisten banität, Antiakademismus und kultiviertem Dilettantismus au- des Abends, Raphael Perraud, im Duo mit der Pianistin, Pa- thentische französische Musik“ (*4) zu schreiben. loma Kouider. Sie spielen von Claude Debussy ( 1862 -1918 ) Poulenc konnte sich den Antiakademismus leisten. Er brauchte die Cellosonate für Violoncello und Klavier, d-Moll, aus dem kein Konservatorium zu besuchen, denn er wuchs in so wohl- Jahr 1915. habenden Verhältnissen auf, daß seine allgemeine Erziehung Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs fand in den krieg- und die musikalische Ausbildung zunächst ausschließlich in führenden Ländern neben dem übersteigerten Nationalismus Händen von Privatlehrern lagen. Er konnte daher auf eine eine Besinnung auf landesspezifische Eigenheiten und Tradi- Ausbildung am Konservatorium verzichten und nahm erst von tionen statt, die auch die Künstler erfaßte. So veröffentlichte 1921 bis 1924 bei dem Komponisten Charles Koechlin Unter- zum Beispiel am 11. März 1915 die Pariser Tageszeitung L´In - richt. Es war fast nicht anders zu erwarten, daß seine ersten transigeant einen leidenschaftlichen Appell Debussys, aus dem Werke deshalb von den konservativen und gestrengen Profes- ich kurz zitieren möchte: „Wir sind der musikalischen Tradi- soren des Konservatoriums als `krank, albern und dumm´ be- tion unseres Volkes seit eineinhalb Jahrhunderten untreu. Es zeichnet wurden. ist wahr, man hat das Publikum oft irre geleitet, indem man Darius Milhaud verteidigte den Freund und stellte die Frage, ihm als reine französische Tradition modische Kurrentmünze „ob nach all den impressionistischen Nebeln nicht diese darbot, die keinerlei Anrecht auf diesen schönen Namen hatte. „simple und klare Kunst, die so sehr an Scarlatti und Mozart Wieviel parasitärer Pflanzenwuchs überwucherte und erstickte erinnert, die nächste Phase unserer Musik sein wird?“ die feinen Zweige des Stammbaums unserer Kunst und Aus der größeren zeitlichen Distanz können wir bestätigen, täuschte den unaufmerksamen Beobachter! Denn unsere Nach- daß Milhaud die Musik des Freundes richtig einschätzte. Pou- sicht gegenüber den Eingebürgerten kennt keine Grenzen. In lenc zählt heute zu den beliebtesten französischen Komponis- der Tat besitzen wir seit Rameau keine eigentliche französische ten. Mit Eleganz, Leichtigkeit und Individualität überwand er Tradition mehr...“ die Grenzen zwischen E- und U-Musik und eroberte die Herzen Debussy hatte vor, sechs Sonaten für verschiedene Instrumente der ausübenden Musiker lange bevor die `Gralshüter der wah- zu schreiben, mit denen er sich deutlich von der spätromanti- ren Tonkunst´ sich bemüßigt fühlten, ihm ihre Aufmerksamkeit schen deutsch-österreichischen Tradition distanzieren wollte. und ihr Interesse zu schenken. Auf das Deckblatt ließ er daher seinen Verleger Durand dru- Die etwas seltsame Bezeichnung Allegro tristamente, Alle- cken: Claude Debussy. Musicien français. Six sonates pour di- gretto, des ersten Satzes der Sonate und die g-Moll-Romanze vers instruments. Darüber hinaus erwies er dem französischen des zweiten Satzes sind vermutlich der Erinnerung an den ver- Barockzeitalter eine Reverenz, indem er den Titel der Original- storbenen Freund Arthur Honegger sowie dem besonderen ausgabe mit Schrifttypen des 18. Jahrhunderts stechen ließ. Umstand zuzuschreiben, daß Poulenc dieses Werk erst wenige Drei der sechs geplanten Sonaten konnte der bereits schwer- Monate vor seinem Tod im Januar 1963 vollendete. Der dritte kranke Debussy noch vollenden. Bereits die Arbeit an der Cel- und letzte Satz der Sonate, ein schneller, pfiffiger Kehraus, losonate im Sommer 1915 war überschattet von entspricht wieder ganz dem bekannten Stil Poulencs: kühne Todesahnungen bei allgemeinem Kräfteverlust und ständigen

39 Schmerzen eines langsam wachsenden Dickdarmtumors. Maler und Kupferstecher hervor. Neben der Cellosonate entstanden außerdem die Études I und Sowohl ihr Vater Jacques-Edme Dumont als auch ihr älterer II für Klavier und noch im gleichen Jahr eine Sonate für Flöte, Bruder Augustin erhielten den Prix de Rome der Académie des Viola und Harfe. 1917 folgte als letztes die Violinsonate. Die Beaux - Arts. Die Familie Dumont wohnte in einer Siedlung auf als nächste geplante Sonate für Oboe, Horn und Cembalo kam dem Gelände der Sorbonne, wo insgesamt etwa dreißig Künst- nicht mehr zustande. lerfamilien lebten. Seit König Henri IV. kamen Künstler dort mit ihren Familien in den Genuß einer kostenlosen Unterbrin- Vorbilder für seine Sonaten waren ihm entsprechende Kom- gung und Haushaltsführung. Als Gegenleistung mußten sie im positionen von Jean-Philippe Rameau und François Couperin. Louvre die königlichen Gemächer ausstatten oder später Auf- Das bedeutete Dreisätzigkeit, barocke Spielfiguren und Rhyth- träge des Staates ausführen. So schuf Louises Bruder Augustin men sowie Satzformen des 18. Jahrhunderts. In Anlehnung an Dumont das Marmorrelief für das Grabmal von Luigi Cherubini den obligatorischen Prolog jeder französischen Oper aus dieser auf dem Friedhof Père Lachaise oder die Figur La Génie de la Zeit beginnt auch die Cellosonate mit einem langsamen Pro- Liberté auf der Place de la Bastille. In der außergewöhnlichen logue mit punktiertem Rhythmus. Debussy war sich der be- Atmosphäre dieser Künstlersiedlung wurden die Kinder früh sonderen Herausforderung bei diesen späten Sonaten bewußt und vielseitig gefördert. Auf erhaltenen Programmzetteln wird und bekannte: „Diese Art Musik verlangt eine besondere Al- Louise zusammen mit anderen Kindern als Tänzerin und sogar chimie, der man seine liebe kleine Bequemlichkeit als Sühne- schon als Solistin in einem Klavierkonzert von Dussek er- opfer darbringen muß.“ Debussy knüpfte in diesen späten wähnt. Ende des 18. Jahrhunderts war die allgemeine Schul- Sonaten an alte französische Vorbilder an, jedoch nicht aus pflicht eingeführt worden, allerdings hatten die Mädchen noch Schwäche oder Mangel an Erfindungsgabe, „sondern im Sinne keinen Zugang zu höheren Schulen. Die Eltern Dumont legten einer geistigen Anknüpfung an die Alten Meister, einer Wie- dennoch großen Wert auf eine umfassende Ausbildung nicht derbelebung aus dem Lebens- und Kunstgefühl einer neuen nur ihres Sohnes, sondern auch der beiden Töchter, die schon Zeit. Mit neuen Ausdrucksmitteln fand er jene grâce profonde sehr bald Englisch und Italienisch lernten. Mit sechs Jahren und jene émotion sans épilepsie wieder, die er einmal in einem erhielt Louise ihren ersten Musikunterricht am Klavier und in Brief an Godet als die edelsten Eigenschaften einer wahrhaft Solfège. (Anm.: Beim Solfeggieren werden die Töne nicht auf französischen Musik bezeichnete.“ (*5) einen Text, sondern auf die Solmisationssilben ut,re,mi,fa,sol,la,si,do gesungen. Die Silben erfassen und cha- In der berühmten Pariser Salle Gaveau in der Rue La Boétie rakterisieren den Ton in seiner Relation zu den umliegenden spielten Debussy und der Cellist Joseph Salmon am 24. März Ganz- und Halbtonschritten. In der Gehörbildung ist die Sol- 1917 die Uraufaufführung dieser Sonate. Alle drei vollendeten misation von großer erzieherischer Bedeutung und wird teil- Sonaten widmete Debussy seiner zweiten Frau Emma Bardac- weise noch heute in den franko-romanischen Ländern Debussy und schrieb unter die Widmung: son mari – Claude gepflegt.) Louise muß früh durch ihr besonderes Talent aufge- Debussy. fallen sein. Ihre Klavierlehrerin Anne Cécile Soria, Schülerin von Muzio Clementi, legte den Grundstein für eine fundierte Zum Abschluß ein Trio in der originalen Besetzung für Klari- musikalische Ausbildung, so daß Louise bereits ab ihrem fünf- nette, Cello und Klavier der bedeutenden französischen Pia- zehnten Lebensjahr am Harmonielehreunterricht von Anton nistin, Komponistin und Musikwissenschaftlerin Louise Reicha teilnehmen konnte. Wenig später kamen noch im Pri- Farrenc ( 1804 – 1875 ), die bei uns weitgehend unbekannt vatunterricht Kontrapunkt, Fuge und Instrumentationslehre geblieben ist und deren Todestag sich am 15. September 2015 hinzu, weil diese Fächer am Conservatoire für weibliche Stu- zum 140sten Mal jährt. Am 31. Mai wurde sie in Paris in die dierende nicht zugänglich waren. bedeutende Künstlerfamilie der Dumonts geboren. Seit vielen Generationen gingen aus dieser Familie vor allem Bildhauer,

40 Aber noch einmal zurück in die Künstlersiedlung auf dem Ge- belegt das hohe Niveau seines Unterrichts: Georges Onslow, lände der Sorbonne: Louise lernte dort den Flötisten Aristide Charles Gounod, Franz Liszt, César Franck und Hector Berlioz Farrenc kennen, der für zwei Jahre am Théâtre Italien enga- und nicht zuletzt Louise Dumont/Farrenc. Reicha setzte mit giert war und wiederholt bei den Veranstaltungen der Kolonie seiner Kompositionslehre die musique sérieuse fort, die in mitwirkte. Er war in Marseille aufgewachsen und entstammte Frankreich als eine deutsche Spezialität angesehen wurde. In einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie. Dadurch verfügte er den Sinfonie- und Kammerkonzerten wurden hauptsächlich über das nötige Startkapital, um bereits mit 25 Jahren einen Werke der hochangesehenen Wiener Klassiker Haydn, Mozart eigenen Musikverlag in Paris gründen zu können. Am 29. Sep- und Beethoven gespielt. Später folgten Hummel und Mendels- tember 1821 heiratete er die erst 17jährige Louise Dumont. Die sohn Bartholdy. So ist es auch nicht verwunderlich, daß ein beiden gingen anschließend auf Reisen zu Verwandten und Kritiker nach der Uraufführung des Nonetts von Louise Farrenc gaben auch miteinander Konzerte. Nach der Rückkehr nahm im Jahr 1850 schrieb: „Wenn Mme Farrenc in Deutschland ge- Louise Farranc wieder den Unterricht bei Anton Reicha auf. boren wäre, würde sie höchste Ovationen ernten. Aber der Pro- phet gilt nichts im eigenen Land. Auch begegnet sie in ihrer Das 1795 in Paris gegründete Conservatoire national de musi- Heimat vielen Widerständen, um den außergewöhnlichen Rang que et de déclamation war die erste Musikhochschule in mo- einnehmen zu können, der ihr legitimerweise zustände.“ dernem Sinn, und im Rahmen der Institutionalisierung der Mit der Gründung der Société nationale de musique im Jahr Musikausbildung wurde sogar darüber diskutiert, ob Kompo- 1871 durch Camille Saint-Saëns und andere entfernte sich die sition überhaupt lehrbar sei. Charles-Simon Catel begründete Musikentwicklung weiter weg von der musique sérieuse mit seiner Harmonielehre die Lehrtradition am Conservatoire. deutsch-spätromantischer Prägung. Saint-Saëns und seine Er setzte erstmals den von Jean-Philippe Rameau im 18. Jahr- Zeitgenossen „bewirkten durch die Société nationale de musi- hundert aufgestellten Theorien 1802 ein neues Konzept ent- que eine Wiederbelebung der `bewußt französischen´ Kammer- gegen und zeigte einen Weg aus der erstarrten Konvention. musik, der sogenannten Ars gallica.“(*6) Anton Reicha (1770-1836 ) und François Joseph Fétis (1784- 1871) waren Nachfolger Catels, und sie vertraten bezüglich der Louise Farrenc schrieb weiterhin musique sérieuse, die zu ihrer Lehrbarkeit der Komposition unterschiedliche Positionen. Rei- Zeit durchaus wiederholt und erfolgreich aufgeführt wurde. cha lehrte von 1818 bis 1836 Komposition, Kontrapunkt und Ihr Werkverzeichnis enthält neunundvierzig Werke mit Opus- Fuge, Fétis von 1821 bis 1833 Komposition. Fétis vertrat die zahl, siebenunddreißig Kompositionen ohne Opuszahl und Meinung, „daß die Kompositionslehre selbst weder wissen- zahlreiche Bearbeitungen von Werken anderer Komponisten. schaftlich darstellbar noch didaktisch vermittelbar sei, daß sich Die Hauptwerke sind zwei Konzertouvertüren, drei Sinfonien, vielmehr die pädagogische und praktische Arbeit aus einer vier Klaviertrios, davon eines mit Flöte, das andere mit Klari- umfassenden und triftigen Darstellung der musiktheoretischen nette, zwei Klavierquintette, zwei Sonaten für Klavier und Vio- Grundlagen (die wie bei Reicha in Einzeldisziplinen unterteilt line und eine für Klavier und Cello, ein Sextett, besetzt mit sind) ohne weiteres ergeben würden. Reicha dagegen legte in Streichern und Klavier sowie ein Nonett, bestehend aus seinem Unterricht den Schwerpunkt eindeutig auf die enge Streichquartett und Bläserquintett. Einen großen Anteil bilden Verbindung zwischen Theorie und Praxis, indem er die Dar- dabei die Werke für ihr oder mit ihrem Instrument, dem Kla- stellung theoretischer Grundlagen stets in satzpraktische vier. Abgesehen von den reinen Klavierkompositionen kom- Übungen übergehen läßt.“ (*7) ponierte sie Werke, die letztlich nur in einem relativ kleinen Sowohl Reicha als auch Fétis legten enzyklopädische Kompo- Kreis von Kennern und Liebhabern der musique sérieuse zur sitionslehren vor, wobei die von Fétis unvollständig blieb. Rei- Aufführung kamen. Vermutlich ist dies einer der Hauptgründe, chas enzyklopädisches Lehrwerk umfaßte einen Tra ité de warum sie später in Vergessenheit geriet, als `bewußt franzö- melodie, d`harmonie und den Traité de haute composition ( sische´ Musik erwartet wurde. Des weiteren soll Louise Farrenc Kontrapunkt und Fuge). Die Zahl seiner namhaften Schüler sehr bescheiden und zurückhaltend gewesen sein. Sie setzte

41 sich durchaus für ihre Musik ein, aber sie kämpfte nicht für einen Namen machten. Eine der ersten war die eigene Tochter sie. Sie mußte davon auch nicht ihren Lebensunterhalt bestrei- Victorine, die 1844 das Con serva toire mit dem Premier Prix ten. Sie führte offenbar kein Tagebuch, wie es damals sehr ver- abschloß und danach eine rege und erfolgreiche Konzerttätig- breitet war und bei der Rekonstruktion der Biographien später keit begann. oft hilfreich war. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist es bis Der langjährige Institutskollege Antoine Marmontel schrieb heute schwierig, ihren Lebenslauf lückenlos darzustellen. Es über Louise Farrenc: „Ihr Unterricht war von absoluter Kor- ist sicher kein Zufall, daß wir von ihr nur ein einziges Porträt rektheit und rigoroser Einfachheit geprägt. Um nichts in der kennen. „Auffällig ist weiterhin Farrencs Entscheidung, weder Welt, hätte sie etwas dem billigen Effekt geopfert. Die Erfolge die Ouvertüren, noch die Sinfonien an ein Programm, eine au- ihrer Schüler waren ihrem persönlichen Verdienst geschuldet. ßermusikalische Idee, ein literarisches Sujet, ein historisches Die Schüler aus der Klasse von Mme Farrenc zeichneten sich Ereignis oder ähnliches zu knüpfen, wie es zum Beispiel der durch die Gleichmäßigkeit und Reinheit des Spiels aus. Sie ver- sich als Avantgardist verstehende Hector Berlioz und andere fügten über eine ausgezeichnete Technik und Artikulation, nie zeitgenössische Komponisten überwiegend taten. Sie kompo- war etwas übertrieben. Schließlich war auch die Schrift von nierte, wie es scheint, unabhängig sowohl von der das Pariser Mme Farrenc von einer Exaktheit, von einer ganz reinen Sorg- Musikleben beherrschenden Mode des Musiktheaters als auch falt. Was dieser `Schule´ fehlte, die so korrekt, so ernsthaft und von den als fortschrittlich geltenden Strömungen der Orches- einfach war, das war die Wärme und die Farbe. Die Abneigung ter- und Kammermusik; sie komponierte vielmehr ihrem Mu- gegenüber Übertreibungen drängte sie gegen eine andere sikideal folgend.“ (*6, S.117) Klippe, die Kälte.“ Ungünstig wirkte sich ebenso aus, daß sie mit einer einzigen Marmontel schrieb sein Buch Les Pianistes Célèbres im Jahr Ausnahme ihre Kompositionen ganz unspektakulär vorwie- 1887, also zwölf Jahre nach Louise Farrencs Tod. Seit 1848 gend Freunden, Schülern und Bekannten in ihrem unmittel- war er ebenfalls Professor für Klavier am Conservatoire. Er baren Umfeld widmete. Nur das zweite Klavierquintett op. 31, kannte sie persönlich. Ob die erwähnte Kälte Folge des frühen dedizierte sie einem Mitglied der königlichen Familie, der Du- Tods der Tochter war, können wir heute nicht mehr klären. chesse d`Orléans, der sie Klavierunterricht gab. Es war der 1850 erreichte Louise Farrenc nach zweimaligem Ersuchen, Komponist und Professor für Komposition am Conservatoire, daß sie das gleiche Honorar wie ihre männlichen Kollegen er- Jacques François Fromental Halévy, der dem Bürgerkönig hielt. Die Differenz betrug immerhin zweihundert Francs. Louis-Philippe im Jahr 1841 Louise Farrenc als Klavierlehrerin Motiv ihres Gesuchs war weniger das Geld als vielmehr die für die Frau seines ältesten Sohnes vorschlug. In der Folgezeit Sorge um ihren Ruf als Lehrerin. Aber immerhin verschaffte konnte Louise Farrenc einige ihrer Kompositionen im Salon sie mit diesem Gehalt der Familie erstmals ein festes und re- der Duchesse uraufführen und sich in höchsten Kreisen vor- gelmäßiges Einkommen, denn ihr Mann Aristide Farrenc hatte stellen. Möglicherweise war diese Ausnahme bei den Widmun- bereits 1837 seinen Verlag aufgegeben, um sich ganz seinen gen aber entscheidend für ihren weiteren Lebensweg, denn musikhistorischen und biographischen Forschungen für den 1842 wurde Louise Farrenc schließlich als Professorin für Kla- Trésor des pia n istes widmen zu können. Es ist anzunehmen, vier an das Con serva toire berufen. Mit hohem Verantwor- daß Aristide ein beträchtliches Vermögen geerbt hatte, denn tungsbewußtsein übte sie diese Lehrtätigkeit dreißig Jahre aus. dieser Trésor war sein Lebenswerk, das er mit eigenen Mitteln „Sie war die erste Frau in Europa, die als Instrumentalprofes- finanzierte. Le Trésor des pianistes ist eine umfassende Samm- sorin über drei Jahrzehnte an einer Musikhochschule tätig war lung von Klavierkompositionen aus dreieinhalb Jahrhunderten und über diese lange Zeit eine eigene `Klasse´ und eine eigene mit biographischen Einführungen, Transkriptionen alter No- `Schule´aufbauen konnte. Bis in die 1860er Jahre hinein ist in tationen, mit einer Geschichte des Klavierbaus, Anmerkungen der Presse immer wieder von Farrencs Schülerinnen zu lesen, zur Aufführungspraxis und zur Verzierungspraxis der Clave- die sich nach einem erfolgreichen Studienabschluß (häufig mit cinisten. Aristide und Louise Farrenc veranstalteten gemein- dem Premier Prix) als Pianistinnen und Klavierlehrerinnen sam eine ganze Reihe von Conçerts historiques du clavecin et

42 du piano, bei denen oft auch noch eine eigene Komposition erste öffentliche Aufführung am 19. März 1850 erregte einiges von Louise aufgeführt wurde. Am 31. Januar 1865, kurz vor Aufsehen, da der 18jährige, auch damals schon berühmte Gei- Erscheinen des bereits fertiggestellten achten Hefts, starb Aris- ger Joseph Joachim beteiligt war. Bei derselben Soirée in den tide Farrenc. Es gab niemand, der mit dieser großen Klavie- Salons Erard wirkte Joseph Joachim ebenso bei einem ihrer ranthologie vertrauter gewesen wäre als seine Frau Louise, die Klaviertrios mit und spielte in der Sonate für Klavier und Vio- die Arbeit bis 1872, bis zum zwanzigsten und letzten Heft fort- line op. 37 den Geigenpart. Über Joseph Joachim und den Cel- führte. listen Bernhard Cossmann sollten auch Verbindungen nach Leipzig geknüpft werden, damit eine der Sinfonien von Louise Ich habe nun im Lebenslauf von Louise Farrenc weit voraus- Farranc in den hochangesehenen Gewandhauskonzerten auf- gegriffen. Aber es erschien mir doch wichtig, auf verschiedene geführt werde. Über das Scheitern dieses Vorhabens ist nichts Ursachen hinzuweisen, warum sie, trotz des hohen Niveaus Genaueres bekannt. ihrer Werke, so lange in Vergessenheit geraten konnte, Aber seit 1847 zogen dunkle Wolken über der Familie Farrenc auf. In diesen Jahren machten sich bei Victorine erste Symp- Zurück in die 1820iger Jahre, aus denen uns wenig über die tome einer `maladie nerveuse´ bemerkbar. Einem Brief der Konzerttätigkeit von Louise Farrenc bekannt ist. 1822 und Mutter entnehmen wir, daß Victorine bereits 1849 nicht mehr 1825 erschienen die ersten Klavierkompositionen im Verlag die Kraft hatte, allein nach Dijon zu reisen. Obwohl Victorine ihres Mannes. Ziemlich sicher ist auch, daß sie von zwei füh- erst zehn Jahre später, am 3. Januar 1859 in Versailles starb, renden Pianisten der damaligen Zeit wichtige zusätzliche liegen uns keine Details über den Krankheitsverlauf vor. Die künstlerische Anregungen erhielt, dies waren Johann Nepo- Hilflosigkeit der Eltern gegenüber der mysteriösen Erkrankung muk Hummel und Ignaz Moscheles, die außerdem in geschäft- und die Trauer über den Verlust der geliebten und so begabten lichen Beziehungen mit Aristide Farrenc standen. Er verlegte Tochter legte sich wie ein langer dunkler Schatten über Aris- die Werke von Hummel und auch einige von Ignaz Moscheles tide und Louise Farrenc. 1857, zwei Jahre vor Victorines Tod, in Frankreich. schloß Louise noch die Sonate für Cello und Klavier ab. Da- 1826 wurde die bereits erwähnte Tochter Victorine geboren, nach entstanden keine größeren Werke mehr. Auf Grund der das einzige Kind des Ehepaars Farrenc. Mit fünfeinhalb Jahren spärlichen Quellenlage kann nicht einmal gesagt werden, ob erhielt sie von ihrer Mutter ersten Klavierunterricht und bald Louise Farrenc nach dem Tod der Tochter überhaupt noch ein- auch Unterweisung in Harmonielehre. Bereits im Kindesalter mal komponierte. Immerhin wissen wir, daß sie drei Jahre lang trat Victorine in Konzerten auf, und später war sie eine der danach nicht mehr an die Öffentlichkeit ging. Als sich ihr ersten Schülerinnen am Con serva toire in der Klasse ihrer Mut- Mann Aristide ein Jahr nach Victorines Tod bei Fétis für eine ter. Nach dem Premier Prix zum Studiumabschluß konnte Aufführung der dritten Sinfonie seiner Frau in Brüssel be- Victorine eine sehr erfolgreiche Konzerttätigkeit beginnen. dankte, schrieb er: „Die glücklichen Jahre sind vorbei und die 1845 hatte sie in Brüssel und Paris große Erfolge mit dem 5. knappe Zeit, die ihr das Unterrichten am Conservatoire noch Klavierkonzert von L.v. Beethoven und im darauffolgenden läßt, widmet sie dem `Trésor des pianistes´.“ (*7) Jahr mit dem d-Moll-Konzert KV 466 von W.A. Mozart. Den Und 1862 schrieb er an Fétis anläßlich der angekündigten Presseberichten zufolge stand ihr eine große Solistenkarriere Übersendung der Drucke von op. 44 und op. 46: „Heute ist der bevor. Wie ihre Mutter widmete sie sich auch der Komposition: 3. Januar, der Todestag unserer lieben Victorine. Wir sind sehr Im Mai 1846 wurde ihre Roman ce für Männerstimme und Or- traurig. Meine Frau hat um Beurlaubung für diesen Donnerstag chester uraufgeführt. gebeten, denn sie hätte heute Unterricht am Conservatoire. Das Zur gleichen Zeit konzertierte Louise Farrenc nicht nur mit den Klavier ist stumm geblieben.“ führenden Musikern der französischen Metropole. 1849 voll- Für ihre Verdienste wurde Louise Farrenc zweimal, in den Jah- endete sie ihr Nonett op. 38, das zu ihren erfolgreichsten und ren 1861 und 1869, mit dem Prix Chartier ausgezeichnet. Die zu den am häufigsten gespielten Werken zählte. „Bereits die Académie des Beaux Arts vergab diese Auszeichnung im Ge-

43 gensatz zur `Anschubauszeichnung´ des Prix de Rome für ein *1) Jean-Michel Nectoux: Fauré, Seine Musik, Sein Leben, bereits vorliegendes kompositorisches Gesamtwerk. Auch César Bärenreiter 2013 (S.440) Franck und Gabriel Fauré erhielten den Prix Chartier. *2 ) e b e n d a (S . 4 41 ) Über die letzten Jahre von Louise Farrenc, von 1873 bis zu ihrem Tod am 15. September 1875 ist noch weniger bekannt. *3 ) e b e n d a (S . 4 4 2 ) Sie wurde wie ihre Tochter im Familiengrab der Dumonts auf *4 ) e b e n d a (S . 5 7 4 ) dem Cimétière Montparnasse beigesetzt. Ihre Schwester, ihr Bruder und ihr Neffe, der von ihr ausgebildete Opernkomponist *5) Heinrich Strobel: Claude Debussy, Atlantis Verlag , Zürich 1940 Ernest Reyer, waren die einzigen nahen Verwandten, die noch lebten. Reyer schrieb 1875 im Journal des débats einen Nach- *6) Christin Heitmann: Die Orchester- und Kammermusik von Louise Farrenc vor dem Hintergrund der ruf, erfüllt von Dankbarkeit und Bewunderung für diese große zeitgenössischen Sonatentheorie. Veröffentlichungen zur Künstlerin. 1879 ist in der Bibliothek des Conservatoire ver- Musikforschung. Herausgegeben von Richard Schaal. merkt: M. Dumont, Mitglied des Instituts, Bruder der Mme Far- Florian Noetzel Verlag, Wilhelmshaven. renc, hat kurz vor seinem Tod der Bibliothek in mehreren *7) Renate Groth: Die französische Kompositionslehre Bänden die sinfonischen Werke seiner Schwester überlassen.“ des 19. Jahrhunderts (*8) Marmontel widmete ihr 1887 in Les célèbres Pianistes mehrere *8) Cathérine Legras: Louise Farrenc, compositrice du XIX. sècle. Seiten, auch Fétis zeichnet ein differenziertes Porträt der viel- Musique au féminin. Harmattan, Univers musical, Paris 2003 seitigen Künstlerin in seiner achtbändigen Biographie univer- selle des musiciens et bibliographie générale de la musique. Weit bis ins 20. Jahrhundert blieben seine Angaben die einzig verfügbaren. 1894 veröffentlichte die Musikwissenschaftlerin Marie Bobil- lier unter ihrem Pseudonym Michel Brenet einen Artikel über Quattre femmes musiciennes, darunter auch Louise Farrenc, um dem Vergessen und Vernachlässigen von Komponistinnen entgegen zu wirken.

Es vergingen Jahrzehnte, bis die Amerikanerin Bea Friedland 1980 durch die Veröffentlichung ihrer amerikanischen Disser- tation Louise Farrenc, 1804-1875, Composer, Performer, Scho- lar, basierend auf einer gründlichen Quellenforschung, das Interesse wieder auf Louise Farrenc lenkte. Ich freue mich sehr, daß unsere drei Künstler das Klarinettentrio op. 44 erstmals in einem Konzert der „Freunde der Musik“ zu Gehör bringen, und ich hoffe, daß Sie dem Werk nach diesen biographischen Daten zu Louise Farrenc mit gesteigertem Interesse begegnen werden.

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