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Sendung vom 23.02.2007, 20.15 Uhr

Bernd Weikl Kammersänger im Gespräch mit Hans Jürgen Mende

Mende: Herzlich willkommen, liebe Zuschauer, zum alpha-forum, heute mit einem der berühmtesten Opernsänger unserer Zeit, nämlich mit Bernd Weikl. Herzlich willkommen, Herr Weikl. Weikl: Ich danke Ihnen für die Einladung und freue mich, hier zu sein. Mende: Ich lese mal vor: 114000 Einträge bei Google habe ich gestern gefunden, als ich Ihren Namen eingegeben habe. Das ist eine ganze Menge. Weikl: So, nur? Ich dachte, das wären mehr! (lacht) Mende: Sie sind Professor h.c., haben einen richtigen Doktortitel und noch einen Doktor h.c. und Sie sind dreimaliger Kammersänger. Darüber hinaus sind Sie Ehrenmitglied der Wiener Staatsoper mit Anspruch auf ein Wiener Ehrengrab. Sie haben eine ganze Menge erreicht in Ihrem Leben. Weikl: Ja. Und was das Ehrengrab betrifft kann ich jetzt sonntags immer schon für zwei Personen dort Probe liegen. Mende: Schon mal gemacht? Weikl: Nein, natürlich nicht. Mende: Ich habe ja mehrmals die Gelegenheit gehabt, in Ihrer herrlichen Stimme quasi zu baden. Ich habe mich dabei immer gefragt: Was geht in diesem Menschen vor, wenn er dasteht und solche wunderschönen Töne aus sich herauskommen, herausströmen lässt? Was sind das für Gedanken, wenn es so richtig schön läuft? Weikl: Die verschiedensten. Erst einmal muss ich daran denken, dass das auch so bleibt, wie es im Augenblick ist, und das Ganze nicht nur eine momentane Geschichte ist. Zum Zweiten freue ich mich natürlich sehr, wenn das im Einklang ist mit den sonstigen Gegebenheiten in diesem Augenblick auf der Bühne. Zum Dritten, das möchte ich nicht verschweigen, kommt mir gelegentlich auch der Gedanke: Wie viel Steuern muss ich darauf eigentlich bezahlen? Mende: Während der Vorstellung? Weikl: Warum nicht? Mende: Hören Sie sich auf der Bühne? Weikl: Ja, ich höre mich. Ich muss mich hören, um mich zu kontrollieren. Mende: Gibt es da auch Momente, in denen man sagt, "Das bin wirklich ich, das kommt aus mir heraus!"? Denn anders als ein Instrumentalist sind Sie ja gleichzeitig Instrument und Bediener dieses Instruments. Weikl: Sicher gibt es eine Form der Freude, wenn das gelingt. Aber das ist immer auch ein bisschen gemischt mit der Sorge, ob es auch so bleibt. Dieser Job, das wissen Sie selbst, ist ja nicht so einfach. Wir sind abhängig von mannigfaltigen Bedingungen, und selbst an einem Abend, an dem es noch so gut läuft, kann plötzlich etwas eintreten, das man natürlich zu eliminieren versucht bzw. man sollte halt aufpassen, dass das gleich gar nicht auftritt. Mende: Bei einem Instrumentalisten wie z. B. einem Geiger hat man manchmal das Gefühl, in Moment seines Spiels läuft auch etwas Automatisches ab, er spielt in so einer Art Trance. Wie ist das bei Ihnen? Sind Sie immer vollkommen bei Bewusstsein beim Singen? Weikl: Es gibt auch bei mir eine Form der Trance. Beim "Meistersinger" ist das z. B. so: Das ist ja die längste Baritonrolle, die man sich vorstellen kann, und die schwerste wahrscheinlich auch. Da hat der Schluss schon sehr viel mit Automatismus zu tun, denn manchmal ist man da schon etwas weggetreten nach fünf Stunden. Mende: Nach fünf Stunden auf der Bühne! Wie viele Stunden singen Sie da insgesamt selbst? Weikl: Ungefähr zwei Stunden und fünfzig Minuten singe nur ich. Da muss dann am Ende vieles automatisch kommen, denn da hat man dann schon seine Mühe mit der Kraft und mit der Konzentration. Da müssen dann bestimmte Dinge wirklich automatisch kommen wie z. B. der Text. Mende: Wann wissen Sie denn, dass das nun eine Vorstellung ist, in der wirklich alles gut läuft, in der Sie richtig gut sind? Weikl: Herr Mende, es ist wirklich sehr selten, dass alles gut läuft, weil es bei uns eben sehr viele Einflüsse von allen möglichen Seiten gibt. Das Ganze ist ja eine Ensemble-Leistung, auch mit Orchester und Dirigent. Das gibt es also nicht sehr oft im Leben, aber wenn das passiert, dann ist das ein unbeschreibliches Glück. Davon zehren wir dann wieder, wenn andere Vorstellungen vielleicht nicht so optimal laufen. Mende: Kommen wir mal zum unglaublichen Pech, denn so etwas kann ja auch passieren. Hatten Sie mal so einen richtigen Hänger, einen kompletten Aussetzer? Weikl: Ja, das hatte ich auch. Das war in "Le nozze di Figaro" mit Margret Price. Ich habe damals zwei Seiten in den Rezitativen übersprungen. Und niemand wusste dann weiter. Auch die Souffleuse wusste nichts mehr zu sagen. Wir standen da auf der Bühne und die Margret sagte dann auf Deutsch nach unten zur Souffleuse: "Wir brauchen Text! Wir brauchen Text!" Das war dieser Aussetzer. Und einmal in Dresden bekam ich während einer -Vorstellung Trockenheit unterhalb der Stimmbänder, unterhalb des Kehlkopfs. Die Vorstellung musste unterbrochen werden, ein Arzt wurde gesucht und das Publikum bekam in der Zwischenzeit ein Glas Champagner. Ich wurde von allen Seiten intravenös und intramuskulär gespritzt. Erst danach dann ging es wieder weiter. Das ist das Schlimmste, was einem passieren kann. Mir ist das, wie gesagt, einmal passiert: in Dresden vor zwei Jahren. Mende: Auf den Bühnen passieren immer wieder Pannen, denn jede Vorstellung ist ja eine Live-Vorstellung: Es kann nicht geschnitten werden, es kann nicht vor- oder zurückgespult werden. Was ist denn die Panne, die Ihnen ein Leben lang in Erinnerung bleiben wird? Weikl: Das war eine lustige Panne. Sie ereignete sich an der Metropolitan in einer "Tannhäuser"-Aufführung. Ich setze gerade an, mit der Harfe den "Abendstern" zu singen: "O du, mein holder Abendstern..." Hinter mir auf der Bühne war , der damals bestimmt drei Mal so groß und dick war wie ich. – Er sollte allerdings in seiner Rolle als Tannhäuser gerade halb verhungert als Pilger aus Rom zurückkehren. – Richard lag also wie ein Fels hinter mir, aber die Leute im Publikum haben plötzlich über mich hinweggeschaut: nach hinten, nach oben. Ich dachte mir noch: "Warum schauen die mich nicht mehr an?" Ich beendete den "Abendstern", drehte mich um und da stand hinter mir auf der Bühne zwischen Cassilly und mir ein blauer Luftballon an einer Schnur! Mir schoss natürlich sofort durch den Kopf: "Was mache ich bloß mit diesem Luftballon? Soll ich ihn platzen lassen? Dann wird das Publikum bestimmt lachen." Ich habe mich dann dazu entschlossen, diesen Luftballon zu nehmen und ihn so, als würde er wirklich mit ins Stück gehören, zur ersten Gasse hinauszuführen. Die Lichtregie hat mir dazu sogar noch einen richtigen Spot gegeben: Ich war also wie im Zirkus im Licht und habe diesen Luftballon hinausgetragen. Am nächsten Tag hatte ich eine Headline in der "New York Times": "Mister Weikl saved the performance!" Der Witz war: Es hatte am Vormittag eine Generalprobe gegeben mit Kindern, die alle einen blauen Luftballon in der Hand hielten. Das Stück hieß "Parade". Irgendeinem Kind ist dabei einer dieser mit Helium gefüllten Ballone ausgekommen und rauf in den Schnürboden geflogen. Ausgerechnet zu meiner Vorstellung und ausgerechnet zu meinem Lied "Abendstern" kam der runter und stand dann hinter mir auf der Bühne. Das war wirklich meine schönste Panne. Mende: Hat es Sie auch einmal emotional mitgezogen auf der Bühne, sodass Sie ein bisschen die Fassung verloren haben? Denn Sie singen ja mit dem Wagner- und dem Strauss-Fach Musik, die wirklich in die Tiefen der menschlichen Existenz hineingeht. Weikl: Nein, ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich mal die Fassung verloren hätte. In dem Moment mit dem Luftballon z. B. war ich zunächst geschockt, aber nachdem ich mich zu dem Entschluss aufgerafft hatte, diesen Luftballon zu nehmen und ihn an der Schnur haltend feierlich hinauszutragen, war ich wieder gefasst. Mende: Es gibt Gesangslehrer, die sagen, man solle im Bauch mit Gefühl singen, aber oben im Kopf immer kühl bleiben. Weikl: Ja, das stimmt teilweise. Aber wenn man z. B. Sänger werden will, dann muss man sehr viel vom analytischen Denken zuerst einmal ausschalten. Denn das, was man in den Gesangsstunden macht, sind z. T. sehr infantile Dinge. Da hilft es nicht, wenn man anfängt, analytisch zu denken und kühl zu bleiben. Stattdessen sollte man sich einfach wie ein Kind fühlen, dann kommt man auch dazu, das richtig zu machen. Denn Kinder und Babys insbesondere wissen noch, wie man singt. Mende: Die schreien stundenlang, ohne heiser zu werden. Weikl: So ist es. Mende: Was sind denn diese infantilen Dinge? Sie könnten mir ja jetzt ein klein bisschen Unterricht geben in dieser Sendung. Weikl: Nun, die Schriftsprache, die wir ja täglich benützen, hat eigentlich nichts zu tun mit dem Vokalausgleich, den wir haben müssen, um eine Stimme tragfähig zu machen. Das geht jetzt sozusagen schon in die Interna. Aber der Weg hin zu diesem Vokalausgleich ist halt quasi infantil. Das "a-e-i-o-u" kann für einen Sänger nur heißen: "aeiou" (singt die Töne gebunden). Für manche angehende Sänger, die intelligenter sind, ist das so etwas von dumm, dass sie das einfach nicht machen können und nicht machen wollen. Man muss sich aber überwinden, solche Dinge zu tun, um tragfähige Stimmen zu bekommen. Mende: Wie bereiten Sie sich denn auf einen Opernabend vor? Denn das ist ja auch körperlich eine große, große Anstrengung. Weikl: Ich sehe vielleicht nicht so aus, aber ich treibe sehr viel Sport, und zwar nicht im Freien, weil da wieder die Angst im Hintergrund steht, man könnte sich erkälten, eine Infektion holen oder es könnte Staub auf diese kleinen Stimmbänder oder die Bronchien in den Lungen fliegen. Ich lebe ja meistens im Hotel, leider, und dort suche ich mir die Zimmer immer so aus, dass sie groß genug sind, um dort an Ort und Stelle Gymnastik machen zu können. Das mache ich so lange, bis mein Körper ganz durchblutet ist. Denn erst dann klingt er, dieser ganze Körper: vor allem das Ansatzrohr, also der Raum oberhalb des Kehlkopfs. Und sogar noch unterhalb des Kehlkopfs gibt es einen Raum, der besonders gute Töne hervorbringt, wenn dort die Luft schwingt. All das muss also gut durchblutet sein. Danach dann gibt es ein paar Gesangsübungen. Und dann gehe ich auf die Bühne. Und dann warte ich, bis es zu Ende ist. Mende: Wie Sie dort auf der Bühne klingen, das hören wir jetzt in einer kleinen Einspielung aus dem Jahr 2001. Damals standen Sie hier in München als Falstaff auf der Bühne. (Filmeinspielung: Bernd Weikl als Falstaff in der Bayerischen Staatsoper) Mende: Wie hat es Ihnen gefallen? Weikl: Gut! Wer war der Sänger? Mende: Ein wunderbarer! Bernd Weikl! Wie ist das, wenn man sich so sieht und hört? Hören Sie sich Ihre eigenen Aufnahmen an? Weikl: Eigentlich nicht. Die Aufnahmen höre ich natürlich während der Aufnahme selbst sehr oft, das ist klar. Ich habe immer versucht, dann noch dieses oder jenes zu korrigieren. Und doch war ich immer unzufrieden, aber das ist halt so. Aber ich muss zugeben, dass ich sie anschließend nur ganz, ganz selten noch einmal höre. Ich weiß auch gar nicht, was ich alles aufgenommen habe. Manchmal sehe ich sogar, wenn ich auf Bitten eines Fans auf einen Tonträger mein Autogramm setzen soll, dass das Raubpressungen sind. Ich gebe dann trotzdem mein Autogramm. Ich hätte jedenfalls gar keine Zeit, mir das alles anzuhören. Aber ich freue mich selbstverständlich, wenn andere Menschen das machen. Mende: Gab es Sternstunden, gab es Aufführungen, Produktionen, von denen Sie sagen: "Das war einfach das Schönste!"? Weikl: Der "Tannhäuser" 1972 in Bayreuth war z. B. sehr schön. Mende: Das war auch der Start Ihrer internationalen Karriere. Weikl: Ja, das war der Start in Bayreuth und dann ging's um die Welt. Das war schon phantastisch. Dann auch die "Meistersinger" dort. Auch der "" ist gut gewesen dort. Und natürlich alle meine Rollen an der : Der Mandryka in der "" von Strauss, den ich auch hier in München gesungen habe. – Aber auch in der "" habe ich ja überall auf der Welt gesungen. – Dann der Onegin auf Deutsch und auch auf Russisch, worauf ich stolz bin, weil mir nämlich Russen gesagt haben, dass das gut war – sonst wüsste ich das ja nicht. Es gab wirklich Sternstunden, das muss ich zugeben. Mende: Relativ wenig gesungen haben Sie das italienische Fach. Dabei könnte man sich das mit Ihrer Stimme ganz gut vorstellen. Der Falstaff war da eigentlich fast schon eine Ausnahme. Weikl: Nein, ich habe sehr viel im italienischen Fach gesungen, ich habe fast alle italienischen Partien gesungen. Nur habe ich das eben nicht oft gesungen. Dafür gibt es zwei Gründe: Der erste Grund ist, wenn man bei einem guten Agenten als Karteikarte in der Schublade bzw. heute im Computer drin ist, dann weiß dieser Agent einfach: Mit dem Bernd Weikl in der Rolle des Hans Sachs kann ich halt das meiste verdienen! Und ich wusste das ja auch, was ich hier zugeben kann. Also bin ich als Hans Sachs halt doch am meisten gehandelt worden und habe diese Rolle bis heute 163-mal gesungen. Den Falstaff habe ich trotzdem auch oft gesungen, ich habe "Maskenball" und "Traviata" gesungen, ich habe mit "Giovanna d'Arco" sogar den frühen Verdi gesungen. Da fehlt wirklich nicht viel. Aber es gibt bei uns eben auch eine Tendenz, die den zweiten Grund darstellt, den ich hier auch gar nicht verschweigen möchte. Man behauptet nämlich, dass Deutsche für das italienische Fach nicht geeignet wären. Aber das stimmt natürlich nicht. Im Gegenteil, wir bräuchten dringend den Zugang zum italienischen Fach, denn das ist die eigentliche Lyrik. Und die meisten Sänger – daher auch die meisten deutschen Sänger, denn man kann das ja nicht national isoliert sehen – sind nun einmal lyrisch. Diese restriktive Handhabung - Deutsche können kein italienisches Fach singen - nimmt man gegenüber anderen Nationalitäten nicht ein. Bei uns in Deutschland muss man wirklich suchen, ob in irgendeinem Opernhaus jemand in der Oper "Otello" den Jago singt und deutsch ist. Das wird man nämlich kaum finden. – Auf CD sowieso nicht! – Beim Scarpia in der Oper "Tosca" ist es genauso. Den habe ich allerdings auch sehr oft gesungen: Ich liebe diese Rolle auch sehr. Pavarotti hat immer zu mir gesagt: "Du musst das italienische Fach singen!" Er nahm mich dann auch mit an andere Opernhäuser wie z. B. nach Paris. Aber das hat dann doch nicht so geklappt, wie ich wollte. Gut, mit Wagner und Strauss bin ich halt das geworden, was ich heute bin. Mende: Und Sie bereuen das auch nicht. Weikl: Nein, auf keinen Fall, so etwas kann man auf keinen Fall bereuen. Mende: Gehen wir mal an den Anfang: Sie sind geboren in Wien und aufgewachsen in Mainz. Gesang studiert haben Sie dann in Hannover. Gab es denn irgendwelche Wurzeln in der Familie, die Sie zur Musik gebracht haben? Weikl: Ich bin in Wien geboren, aber ich bin dann zuerst einmal aufgewachsen in Bodenmais am Arber. Dafür muss ich wirklich Reklame machen. Mende: Ich glaube, Sie waren gerade erst gestern wieder dort. Weikl: Ja, ich war gestern dort, weil wir dort auch ein Haus haben. Das hat damit zu tun, dass der väterliche Zweig meiner Familie von dort stammt: Ich glaube, es gibt dort 400 Weikls in einem einzigen Ort mit 3000 Einwohnern. Wir waren also doch sehr produktiv, nicht wahr? Von dort bin ich dann nach Mainz gekommen. Mein Vater war ein Amateurmusiker. Gut, eigentlich war er kein Amateur, aber er hatte sich in der Musik alles selbst beigebracht. Er beherrschte einige Instrumente und ist auch öffentlich aufgetreten, aber er machte das nicht hauptberuflich. Von ihm bekam ich dann die ersten Griffe auf der Gitarre gezeigt. Geigenstunden habe ich auch genommen: Ich war fürchterlich schlecht! Gebracht habe ich es bis zum Violinkonzert in a-Moll von Vivaldi: Das ist nichts! Mit der Gitarre bin ich aber besser dran gewesen und habe dann auch in Mainz bereits in ganz jungen Jahren eine Band gegründet, die "Colibris". Ich habe damals drei Mal in der Woche öffentlich gegen Gage gespielt. Mende: Tanzmusik? Weikl: Ja, bessere Tanzmusik. Da war ich noch im Gymnasium und insofern war das natürlich fürchterlich. Ich habe am Mittwochabend Tanzmusik gemacht und kam daher jeden Donnerstagmorgen furchtbar unausgeschlafen in die Schule. Am Samstag machte ich dann wieder Tanzmusik am Abend, nur am Sonntag spielten wir am Nachmittag: Das war im "Café Münstertor", da spielten wir am Sonntagnachmittag. Insofern war also zumindest der Montag im Hinblick auf meine Schulstunden gerettet. Aber auf diese Weise kam ich immer wieder an diesem Konservatorium vorbei. Durch meine Gitarre hatte ich also bereits eine gewisse Affinität zum Konservatorium in Mainz. Und irgendwann bin ich tatsächlich dort hineingegangen und habe meine ersten Gesangsstunden gemacht. Das war sozusagen der Beginn meiner Ausbildung. Aber eigentlich wollte ich das gar nicht, denn ich sagte zuerst einmal: "Um Gottes willen! Dieses Herumtirilieren mit der Stimme will ich auf keinen Fall machen!" Mende: Dieses "Infantile" hat Sie also doch gestört. Weikl: Ja, dazu musste ich mich erst sehr überwinden. Nachdem ich aber jeden Tag mindestens zweimal am Konservatorium in Mainz vorbeifuhr, bin ich halt doch einmal hineingegangen und habe dort mit meinen Gesangsstunden angefangen. Das war dann aber schon während meiner Zeit an der Universität, denn damals lagen die Universität und das Konservatorium in Mainz nicht weit auseinander. Mende: Viele Sänger sagen ja: "Dieser eine Lehrer, der war es! Der hat mir alles beigebracht!" Waren es bei Ihnen viele Lehrer oder war es ein bestimmter Lehrer, der Sie sehr geprägt hat? Weikl: Es waren mehrere Lehrer, die alle auf ihre Weise gut waren. 1989 sang ich in "Don Carlo" an der Metropolitan Opera in New York. Und ... Mende: Den Philipp oder den Posa? Weikl: Den Posa, denn der Philipp ist ja eher ein Baß. Ich habe also in "Don Carlo" den Marquis de Posa bzw. den Rodrigo gesungen, wie er ja auch genannt wird. Ich war unzufrieden mit mir und Jimmy war es auch. "Jimmy" war James Levine, der für uns aber halt nur der "Jimmy" ist. Er sagt zu mir: "Berndl, du musst was machen!" "Was denn? Kannst du mir helfen?" Denn ich war wirklich unzufrieden mit mir selbst. Er meinte dann: "Weißt du was? Du gehst jetzt zu Joan Dornemann, einer Korrepetitorin hier im Haus! Und wir bringen dir jetzt Italianità bei!" Das hat tatsächlich geklappt. Ich bin vier Wochen lang jeden Tag bei Joan gewesen und sie hat mir dann eigentlich noch das gezeigt, was für mich in meiner Rolle des Rodrigo an der Met zu einem großen Erfolg wurde. Trotzdem hat aber Jimmy gesagt: "Berndl, you're German! Du singst besser den Wagner und den Strauss!" Und genau diese Rollen habe ich ja auch 20 Jahre lang an der Met gesungen. Mende: Mir hat einmal jemand gesagt, das Eigentliche, das Wichtige an der Ausbildung eines Sängers sei, dass der Sänger lernt, einen Instinkt dafür zu entwickeln, was einem ein Lehrer beibringen kann und was nicht. Weikl: Selbstverständlich. Mende: Und wenn er das dann gelernt hat, dann nichts wie weg und zum nächsten Lehrer. Weikl: Ich sage immer zu jungen Leuten, wenn sie zu mir kommen und mich fragen, ob sie diesen Berufsweg einschlagen sollen: "Lieber nicht! Dieser Job ist sehr, sehr schwierig und mit großen Einbußen und Problemen verbunden! Wenn du es tun willst, dann aber..." Wie lautete Ihre Frage noch schnell? Mende: Es ging um den Instinkt, den der Sänger entwickeln muss, dafür, was ihm ein Lehrer beibringen kann. Weikl: Ich sage immer: Für einen jungen Sänger muss klar sein, irgendwo da im nebulösen Raum gibt es eine perfekte Stimme und genau da muss er hinwollen. Genau dahin muss er! Der Weg besteht dann darin, genau das zu erreichen. Manchmal kann man sich auch ein Beispiel an großartigen Stimmen der Vergangenheit nehmen. Mende: Hatten Sie so ein Vorbild? Weikl: Ja, es gab schon ein paar Italiener, die mir Vorbild waren. Piero Cappuccilli hat hervorragend gesungen, aber auch ein paar Amerikaner damals. Auch Sherrill Milnes hat ja sehr gut gesungen. Diese Leute hatte ich durchaus im Ohr, wenn ich etwas wollte, wenn ich vorankommen wollte. Aber ich hatte z. B. auch Tenöre im Ohr. Mende: Es geht darum, ein Vorstellungsvermögen für die eigene Stimme zu entwickeln. Das ist etwas, das wichtig ist. Weikl: Ja, das sollte man haben. Das ist wie bei einem Sportler. Ich sehe nämlich den Sänger ebenfalls als Spitzensportler. Als Spitzensportler sollte man wissen, wo man hinwill! Wenn man Weitsprung macht, wenn man Hochsprung macht, wenn man Marathon läuft usw., dann hat man doch immer ein Ziel, das man erreichen will. Ohne Ziel geht jedenfalls gar nichts. Mende: Hatten Sie auch die Vorstellung, mal ein ganz Großer zu werden, mal eine ganz große Karriere zu machen, all die ganz großen Partien zu singen und dann eben auch die ganz, ganz großen Gagen zu bekommen? Weikl: Herr Mende, ich war vom ersten Tag an, an dem ich dann wirklich wusste, "Aha, das mit dem Singen hat Sinn bei mir!", völlig unbescheiden. Ich wollte natürlich an die Metropolitan Opera, ans Royal Opera House in Covent Garden, an die Scala in Mailand usw. Und das habe ich dann ja auch geschafft. Aber ich sage den jungen Leuten von heute auch: "Wenn Ihr meint, Ihr müsst Euch das Ziel setzen, nach Augsburg zu kommen" – wohin man ja in der Tat kommen kann –, "dann macht Ihr einen Fehler! Nein, Ihr müsst wirklich die allerhöchsten Anforderungen an Euch stellen und an die Met wollen, an die Wiener Staatsoper wollen!" Ich war überall dort und ich wollte das auch, wie ich gerne zugebe. Mende: Die Opernwelt ist ja in den letzten 20 Jahren sozusagen globalisiert worden. Es ist so, dass vor allem seit der eiserne Vorhang weg ist, die Konkurrenz riesengroß geworden ist. Glauben Sie, Sie würden heute noch einmal eine vergleichbare Karriere machen können? Weikl: Das weiß ich nicht, ich hoffe schon. Das kann ich so nicht sagen. Man muss halt immer die Nische finden. Wenn es heute so wäre wie 1972 und der eiserne Vorhang stünde offen und man hätte mich als Wolfram gefragt, dann hätte ich vielleicht auch meine Chance bekommen. Aber wenn ein anderer besser ist, dann muss ich das natürlich respektieren. Und das tue ich auch. Mende: Wenn man auf die Ensemblelisten der meisten Theater schaut, dann sieht man, dass deutsche Sänger in Deutschland keine führende Rolle spielen. Auch wenn man sich die Ergebnislisten der Wettbewerbe ansieht, stellt man fest, dass es da nur wenige Deutsche unter den Siegern gibt. Es gibt sicherlich die eine oder andere Ausnahme, aber im Allgemeinen spielen deutsche Sänger doch eine relativ geringe Rolle. Liegt das an den Musikhochschulen? Liegt das daran, dass man in Deutschland einfach keine so guten Stimmen mehr hat? Weikl: Das kann nicht sein, denn es gibt überall auf der Welt gute Stimmen. Das ist also nicht die Frage. Die Antwort wäre jetzt sehr komplex, denn das hängt wirklich mit allen möglichen Dingen zusammen. Das hängt z. B. mit dem Interesse von jungen Leuten zusammen, wirklich über den eigenen Schatten springen zu wollen. Wenn mir vor Jahren bereits ein junger Sänger mit gerade mal 29 Jahren sagte, er könne seinem Körper so eine Anstrengung nicht zumuten, dann kann ich nur sagen: "Bitte, kann das sein? Warum habe ich mir diese Anstrengung zugemutet?" Man muss einfach mehr tun! Eine 35-Stunden-Woche gibt es nicht für uns. Der Betrieb an den Musikhochschulen ist für mich deshalb falsch, weil er universitär aufgebaut ist: Da gibt es ewig lange Semesterferien. Was macht denn so ein junger Sänger in dieser Zeit? Die Gesangsausbildung ist doch ein praktisches Studium! Beim Fußball ginge das doch auch nicht. Man kann nicht Fußballspieler ausbilden wollen und sagen: "Übrigens, wir haben jetzt zwei, drei Monate Ferien!" Und in der Zeit übt der dann nicht. So jemand würde nie ein Fußballprofi werden. Nein, das kann es nicht sein. Eine oder zwei Gesangsstunden pro Woche, das geht auch nicht. Nein, da muss jeden Tag, jeden Tag, jeden Tag mit jemandem gedrillt werden! Das ist eigentlich wie beim Bodybuilding. Mende: Das heißt, Sie singen auch dann täglich, wenn Sie keine Vorstellung haben. Weikl: Aber natürlich. Heute habe ich das zwar noch nicht getan, aber das werde ich heute sicher noch machen. Mende: Haben Sie dafür ein spezielles Übungsprogramm oder hören Sie dafür erst einmal in sich hinein, was da kommt und was da geübt werden muss? Weikl: Ich höre in mich hinein. Ich muss zuerst einmal meinen Sport, von dem ich vorhin gesprochen habe, durchführen. Ich muss mich erwärmen und dann höre ich in mich hinein. Manchmal geht es schneller, manchmal braucht es länger, bis ich das Gefühl habe, dass die Töne fokussiert werden können. Denn die Stimmbänder lassen sich ja nicht trainieren! Meine Stimmbänder, Herr Mende, sehen nämlich genauso aus wie Ihre. Mende: Und was macht dann den Unterschied zwischen mir und Ihnen aus? Weikl: Ich habe meinen Körper trainiert! Würde ich nur meine Stimmbänder trainieren, dann würde das nicht funktionieren. Für den Laien ist es ja immer so, der sagt immer: "Ah, der hat eine gute Stimme mit tollen Stimmbändern!" Wenn man Stimmbänder trainieren könnte, dann müssten mir ja meine Stimmbänder, weil ich doch Wagner und Strauss und all die anderen schweren Sachen singe, beim Hals heraushängen. Oder ich müsste einen doppelt und dreimal so dicken Hals haben, damit da so riesengroße Stimmbänder Platz haben. Nein, ich habe diese riesigen Stimmbänder nicht. Meine Stimmbänder sehen wirklich wie Ihre aus. Nur, ich muss mich halt mit meinen Körper darum bemühen, die Stimmbänder möglichst nicht arbeiten zu lassen. Stattdessen sollen sie nur schwingen. Der Luftdruck, der von unten kommt, darf dabei nur minimal groß sein. Wollten wir eigentlich eine Gesangsstunde machen hier? Mende: Nun, es ist jedenfalls äußerst interessant, das mal von jemandem zu erfahren, der das auch wirklich kann. Hatten Sie am Anfang Ihrer Karriere Förderer? Früher sagte man "Vitamin B", heute würde man eher von Netzwerken sprechen. Weikl: Auch ich hatte einen Herrn Schulz, diesen berühmten Münchner Agenten, der mich zuerst einmal überall hingebracht hat. Das war sehr gut. Später hatte ich den Dr. Hilbert, der ebenfalls hier in München seine Agentur hat. Er war ausschlaggebend dafür, dass ich sehr, sehr intensiv eingesetzt worden bin. Förderer in dem eigentlichen Sinne hatte ich vielleicht nicht, aber ich hatte doch immerhin verständnisvolle Intendanten, die nicht gegen mich gearbeitet haben, sondern es befürwortet haben, wenn es um das Aussuchen des Repertoires ging. Mende: Sie haben sehr früh mit Karajan gearbeitet. Ich habe nachgelesen, er hätte Ihnen damals angeboten den Siegmund, also eine Tenor-Partie zu singen. Weikl: Karajan wollte mich überreden Tenor zu sein. Ich habe ihm dann auch den Siegmund vorgesungen. Das konnte ich damals, denn ich habe ja zu dieser Zeit quasi jede Nacht irgendwo auch den "Barbier von Sevilla" gesungen. Die Stimmlage, die Tessitura, ist dabei ja keine andere. Ich habe ihm also den Siegmund vorgesungen und er meinte: "Sie sind ein Tenor! Sie müssen bei mir Tenor singen!" Ich sagte jedoch nein und dies bedeutete ein lebenslanges "Aus" für das Verhältnis zwischen Herbert von Karajan und mir. Das habe ich natürlich bedauert, aber immerhin habe ich auf diese Weise überlebt als Sänger. Denn ein Tenor war ich nun wirklich nicht. Ich war ein hoher Bariton, das stimmt. Mende: Wie würden Sie denn selbst Ihr Fach bezeichnen? Weikl: Bariton. Früher war ich ein hoher Bariton, heute bin ich ein Bariton, aber kein Bass. Mende: Denn der Amfortas oder auch Mandryka und vor allem natürlich der Hans Sachs sind ja Fächer, die man auch als Heldenbariton bezeichnet. Dazu würde dann aber wiederum ein Wotan gehören. Den Holländer haben Sie ja übrigens auch gesungen, ebenfalls eine sehr heldische Partie. Weikl: Der Holländer war immer eine sehr, sehr schwierige Sache für mich. Da ging es darum, ob das Bühnenbild passt und akustisch ist und ob das ernst genommen wird, was Wagner geschrieben hat. Denn er hat ja eine Aufführungspraxis zum Holländer geschrieben. Er schrieb nämlich, dass das "piano, piano, piano" zu sein habe – und zwar bis zum Schluss. Wenn aber das Orchester, wenn das Bühnenbild, wenn alle sonstigen Umstände ausgerichtet waren auf die Ansicht, dass das ein eiserner Sänger zu sein habe, der immer nur forte singt, dann war ich fehl am Platze. Das war leider so. Aber ich kann mich ja nicht vergewaltigen: Ich war einfach immer lyrisch. Der Mandryka hat große Höhen und große Tiefen und ist eine sehr, sehr schwierige Rolle, wie Strauss-Rollen überhaupt alle sehr schwierig sind. – Der Barak in "Die Frau ohne Schatten" freilich ist viel einfacher. – In der "Salome" habe ich ja oft den Jochanaan gesungen, eine Rolle, die mir quasi in den Hals geschmiedet, in den Hals gelegt wurde. Der Hans Sachs war eine Rolle, die immer in der unteren Lage stattfand, denn diese Rolle hat ja keine Höhen. Mende: Er hat mal hier und da ein f, vor allem zum Schluss... Weikl: Ja, schon, aber kein as, wo man sich als lyrischer Bariton eben auch wohl fühlen würde und gute Dinge zeigen könnte. Der Schluss geht bis zum f, das stimmt. Das ist dann schon schwierig und vielleicht ein bisschen mit dem Sport zu vergleichen. Wenn man den ganzen Tag über Kugelstoßen übt, ist man am Abend einfach nicht mehr so gut im Sprint über 100 Meter. Wenn man hingegen im Sprint gut ist, dann ist man als Hammerwerfer nicht gut. Mende: Hätten Sie denn die "Wotane" auch einmal interessiert? Weikl: Ich habe den Wotan nie angenommen, weil der eine Mittellage hat, die bereits heldisch ist. Deshalb habe ich das nie gemacht. Natürlich gibt es einen Wotan, den ich gesungen habe, nämlich den im "Rheingold": Das war kein Problem. Aber die anderen Wotan-Rollen brauchen nun einmal eine schwärzere Stimme, eine heldischere Stimme, als ich sie habe. Deshalb habe ich das nicht gemacht, obwohl ich immer wieder in dieser Richtung gefragt worden bin. Mende: Diejenigen Sänger, die lange singen – und Sie stehen ja nun mittlerweile auch schon viele, viele Jahre auf der Bühne –, sind immer Sänger, die genau Bescheid wissen um ihr Fach. Im Laufe ihrer Karriere haben sie es daher vermieden, über dieses Fach hinauszugehen. Sie haben vorhin gesagt, dass ein Sänger eine Vorstellung von seiner eigenen Stimme entwickeln muss, dass er eine Vorstellung davon haben müsse, wie sie klingt. Weikl: Man sollte wirklich nein sagen wollen – und dürfen. Es gibt übrigens, weil mir das gerade einfällt, von Peter Turrini so ein herrliches kleines Gedicht, in dem er so ungefähr sagt: Das Nein in meinem Mund schlucke ich hinunter und es kommt als Ja wieder herauf. Als Sänger sollte man so etwas jedoch nicht machen. Man sollte nein sagen – auch wenn das Einbußen bedeutet. Mende: Gibt es denn eine Traumrolle, die Sie gerne noch singen würden oder gesungen hätten? Weikl: Im Moment weiß ich keine. Ich habe mein Repertoire eigentlich ausgeschöpft. Ich würde heute gerne den Falstaff öfter singen, weil mir so langsam die persönlichen Maße da entgegenkommen. Mende: Das heißt, Sie brauchen dann keinen vorgeschnallten Bauch mehr. Weikl: Ja, ich brauche so etwas nicht mehr – und auch die Stimme ist mittlerweile danach. Ich muss also schauen, ob da etwas möglich ist. Ich würde ihn jedenfalls gerne öfter singen. Ich hatte vor kurzem eine große Premiere am New National Theatre in Tokio in dieser Rolle: Das war eine unglaublich schöne und treffende Inszenierung. Da habe ich mich sehr wohl gefühlt. Das habe ich vergessen, als wir vorhin über die Momente gesprochen haben, in denen alles gestimmt hat. Mende: Einen Traum haben Sie sich ja vor einigen Jahren in Nürnberg erfüllt, nämlich eine Oper über Oswald von Wolkenstein. Wie kam es dazu? Sie haben da als Sänger quasi eine Oper in Auftrag gegeben. Weikl: Ja, so ungefähr. Es hatte mich immer schon gewundert, dass Wagner, der ja nun die Minnesänger in seinem "Tannhäuser" reichlich bedient, nicht bis zu Wolkenstein gekommen ist. Auch kein anderer Komponist hat etwas zu Oswald von Wolkenstein gemacht, auch kein temporärer Komponist. Mende: Wolkenstein fehlt ja erstaunlicherweise im Tannhäuser. Weikl: Ja, wirklich erstaunlicherweise. Und dabei ist der Wolkenstein selbst ein viel intensiverer Komponist gewesen als all die anderen, die verewigt hat. Das war der Grund dafür, warum ich eines Tages zu Professor Hiller gegangen bin und ihn ganz einfach gefragt habe: "Hören Sie: Wie denken Sie darüber, etwas zu Wolkenstein zu machen?" Er antwortete mir: "Darüber denke ich ja schon permanent nach!" So haben wir dann drei Jahre lang miteinander überlegt und uns immer wieder getroffen und die Dinge angesehen, die er in der Zwischenzeit geschrieben hatte. Wir kamen dann auf die Idee, Kompositionen von Wolkenstein mit neuen Kompositionen von Hiller zu verbinden. Ich war darüber sehr froh, denn das ist wirklich eine ganz eigenartige Geschichte geworden: eine moderne Geschichte, die aber dennoch zurückreicht bis in die Zeit von Oswald von Wolkenstein. Mende: Einen Ausschnitt aus dieser Produktion in der Regie von Percy Adlon sehen wir nun. Entstanden ist das Ganze in der Nürnberger Oper und der Bayerische Rundfunk zeichnete damals diese Vorstellung auf. (Filmeinspielung: Bernd Weikl in der Oper "Wolkenstein" von Wilfried Hiller) Mende: Sie haben da eine Motorradjacke an: Sind Sie mit dem Motorrad auf die Bühne gefahren? Weikl: Nein, nein, das war schon richtig so. Das sollte ein Harnisch sein. Aber mit einem echten Harnisch kann man nicht singen, also wurde es Leder. Mende: Hat denn diese Uraufführung einer neuen, zeitgenössischen, modernen Oper Folgen gehabt? Weikl: In welcher Form? Mende: Dass sie z. B. an anderen Häusern immer wieder neu aufgeführt wird. Weikl: Nein, das ist wohl nicht der Fall. Aber vielleicht ist Herr Hiller gerade im Augenblick dabei, etwas anderes in dieser Richtung zu schreiben. Ich weiß es nicht, ich weiß es überhaupt nicht. Mende: In der Zeit, als die Komponisten gelebt haben, die wir heute alle kennen und deren Stücke heute landauf, landab gespielt werden, war das Publikum ganz anders eingestellt als heute: Das Publikum früher wollte immer nur Uraufführungen sehen, immer neue Stücke sollten herauskommen. Das Publikum früher war regelrecht enttäuscht, wenn ein Stück in die nächste Spielzeit übernommen worden ist. Heutzutage ist es so, dass das Publikum Uraufführungen und neue Stücke eher meidet. Zu 99 Prozent findet man heute auf den Spielplänen Stücke, die mindestens 50 Jahre, in der Regel aber 150 Jahre alt sind. Weikl: Wir hätten diesen "Wolkenstein" durchaus wieder aufnehmen können in der nächsten Spielzeit, denn die ersten sechs Vorstellungen waren restlos ausverkauft gewesen. Aber manchmal hat das halt einfach mit einer Theaterpolitik zu tun, die anders aussieht. Dagegen kann man dann eben nichts machen. Aber vielleicht kommt dieses Stück mal wieder. Das ist schon eine spezielle Richtung des Kompositionsstils, die Hiller besonders von Carl Orff übernommen bzw. weitergeführt hat. Ich finde das gut, weil das wirklich noch singbare Musik ist. Von Cesare Siepi gibt es einen Ausspruch in der Richtung, der recht interessant ist. Ich habe nämlich vor kurzem in Los Angeles mal in einem der vielen Bücher über Placido Domingo gelesen und dort stand dieser Satz von Siepi: "Es ist nicht so, dass ich moderne Komponisten nicht mag. Sie mögen mich nicht!" Mende: Das heißt, viele moderne Komponisten schreiben nicht für eine Singstimme. Weikl: Ja, sie schreiben nicht für die Kehle, für die Singstimme. Aber wenn das ein heutiger Komponist macht, dann bin ich der erste, der sich für moderne bzw. zeitgenössische Musik einsetzt. Mende: Hat denn die Oper überhaupt eine Zukunft? Denn es gibt ja heute nur noch ganz, ganz wenige neue Opernkomponisten und nur ganz, ganz wenige Häuser, die Uraufführungen und Zeitgenössisches zeigen. Weikl: Herr Mende, das Problem liegt darin, dass es heute nicht nur in Deutschland einen großen Mangel an musischer Erziehung gibt. Es gibt in den Kindergärten keine musische Erziehung: Es wird nicht mehr gesungen. Es gibt an den Schulen, an den Gymnasien – an den Universitäten gab es das ohnehin nie – keine musische Erziehung und kein Singen mehr. Wer jedoch nicht selbst singt, der kann auch nicht gut hören, denn das hängt zusammen. Und woher soll dann das Interesse an Oper kommen, wenn die Leute nicht geschult sind? Da liegt doch der Hase im Pfeffer. Da müssen wir also ansetzen: Wir müssen dafür sorgen, dass in den Kindergärten und Schulen wieder gesungen wird, dass es dort musischen Unterricht gibt. Es darf nicht nur und ausschließlich Rap bzw. Popmusik geben, denn sie ist ja zum großen Teil auch nicht im eigentlichen Sinne melodisch. Wir brauchen aber mehr Melos, denn das wäre viel gesünder für die Welt: Von dort rührt ein Großteil des Ursprungs für Sensibilität und für Toleranz – und am Schluss auch für eine Form von Altruismus, sodass diese dringend benötigten demokratiefähigen Menschen daraus entstehen. Aber daran besteht heute leider ein Mangel. Mende: Sie haben sich in Ihrem Leben ja sehr mit solchen Themen auseinandergesetzt. Mir fällt jedenfalls auch auf, dass jedes kleine Kind wirklich ein Künstler ist. Jedes Kind erfindet Geschichten, malt Bilder und singt. Auch Sie malen ja bis heute. Weikl: Ja, ja, mehr schlecht als recht. Mende: Und Sie singen bis heute. Alle Kinder singen: Es gibt kein Kind, das nicht vor sich hin singen würde und Freude daran hätte. Wieso geht das meist verloren? Nur bei ganz, ganz wenigen Menschen wird das bis ins Erwachsenenalter hinübergeführt. Weikl: Heutzutage haben Eltern sehr wenig Zeit für ihre Kinder, unsere Zeit ist schnelllebig. Und es gibt den Computer – den ich übrigens auch habe, logischerweise –, der das Leben von jungen Menschen ausfüllt. Alles, was mit Körperlichkeit zu tun hat, geht verloren. Wenn wir heute um diesen Mangel wissen, den frühere Generationen so vielleicht nicht artikulieren konnten, wenn wir das also wissen, dann sollten wir staatspolitisch einschreiten und das wirklich verordnen: zum Besseren der Demokratie, zum Besseren von jedem Einzelnen, zum Besseren für unseren ganzen Globus. Mende: Ich ernenne Sie jetzt zum Kulturstaatsminister: Was sind Ihre ersten drei Handlungen? Weikl: Ich würde sofort alle Kindergärtnerinnen und Kindergärtner zusammenholen, damit sie das Singen lernen, damit sie es zumindest so gut können, dass sie damit umgehen können. Und ich würde dann den Kindern, die schon ein bisschen singen, anraten, ihre Eltern zum Singen zu bringen. Und am Schluss wären dann auch wieder unsere Opernhäuser voll, und zwar mit Publikum, das in die Oper geht, weil es auch noch hören will – und nicht nur sehen. Mende: Darin steckt natürlich schon auch ein bisschen Kritik an modernem Regietheater. Sie haben sich dem jedoch nie wirklich verweigert: Sie haben hingegen vieles mitgemacht in Ihrem Leben. Wie muss denn Ihrer Meinung nach die richtige Balance in der Oper aussehen? Denn eine Oper besteht immer gleichzeitig aus optischen Elementen, aus dem Text und selbstverständlich vor allem aus Musik. Wie sieht für Sie die perfekte Balance aus diesen verschiedenen Bereichen an der Oper aus? Weikl: Das Hauptaugenmerk muss meines Erachtens bei der Musik und dem Gesang liegen. Regie und Optik müssen flankierende Teile sein, die dazu treten müssen, um ein Werk aufzuführen. Wenn die beiden letztgenannten Teile überwiegen – was heute oft der Fall ist –, dann treten Musik und Gesang in den Hintergrund. Auf diese Weise erfüllt die Oper aber auch nicht ihren Bildungsauftrag: Denn der Bildungsauftrag einer Oper kann ja nicht darin bestehen, Bühnentechnik oder Lichttechnik zu vermitteln. Das kann nicht sein. Nein, Oper ist für mich eine sensuelle Übertragung, eine Kommunikation mit dem Publikum. Es muss sogar möglich sein, ein Liebesverhältnis zwischen Sänger und Publikum aufzubauen, und zwar im Augenblick der Aufführung und nicht erst vier Wochen später. Am Abend der Vorstellung muss das Publikum beim Hinausgehen beglückt sein innerlich – und auch durchaus aufgewühlt, denn auch das muss sein. Es muss auf jeden Fall in positivem Sinne tief getroffen sein. Es darf auf keinen Fall verärgert das Haus verlassen und sagen: "So, jetzt gehe ich aber nie wieder in die Oper. Ich löse mein Abonnement auf!" Für mich wäre dann das Ziel ganz klar nicht erreicht. Mende: Aber könnte diese stärkere Betonung der Regie nicht auch große Vorteile bringen? Die stärkere Betonung der Regie steht ja eigentlich in der Tradition von Richard Wagner, denn Wagner war ja derjenige, der zum ersten Mal gesagt hatte: "So, jetzt inszenieren wir mal so richtig! Und die Generationen nach mir sollen das auch so machen!" Könnte eine stärkere Betonung der Regie nicht auch eine Chance sein für die Oper in einem Zeitalter, in dem das Optische so sehr im Vordergrund steht, denn wir leben ja nun einmal in einem visuellen Zeitalter und wir befinden uns soeben auch im Fernsehen und nicht im Hörfunk. Dadurch könnte das alles ja zu einem wirklichen Gesamtkunstwerk zusammenwachsen. Weikl: Herr Mende, ich frage Sie, ich frage unsere Zuschauer: Gehen Sie in die Oper, um etwas zu sehen? Oder gehen Sie in die Oper, um primär etwas zu hören? Mende: Nun, wenn ich ausschließlich hören möchte, dann könnte ich mir ja auch Ihre wunderschöne Meistersinger-Aufnahme in den CD-Player legen. Weikl: Sehen Sie, so wird immer wieder polarisiert. Aber das meine ich ja gerade nicht. Regie muss unterstützen und darf nicht stören! Auch das Bild darf nicht stören. Am Ende ergibt das alles einen Gesamteindruck. Dem Sänger muss die Möglichkeit gegeben sein, aufgrund der Regie, der Optik usw. noch besser sein zu können. Der Rahmen muss also zum Bild passen. Und das Bild sind die Musik und die Sänger. Wenn der Rahmen nicht passt oder das Bild stört, dann gibt es ein Problem: Da haben wir dann einen Fehler vorliegen. Ich bin sehr für moderne Inszenierungen. Nehmen Sie als Beispiel nur einmal die "Zauberflöte" in Hamburg von Achim Freyer. Gut, auch diese Inszenierung ist mittlerweile 20 Jahre alt. Aber das ist wirklich eine unglaublich tolle und moderne Inszenierung. Ich finde das wirklich sehr, sehr gut. Es gibt in der Oper einfach zwei verschiedene Gattungen. Die erste Gattung ist die mythologische Oper, die Oper aus mythologischem Stoff. Mit diesem Stoff kann man eigentlich fast alles machen, was man will. Die historischen Stoffe sind die andere Gattung: Die sind einfach nicht zu verlagern in andere Zeiten! Der "Ring" ist z. B. klar eine mythologische Geschichte: Die könnte man sogar im Nirwana aufbauen, die könnte man überall ansiedeln. Aber mit den "Meistersingern" geht das nicht! Ebenso wenig mit "Arabella" und einigen anderen Opern. Bei denen funktioniert das nicht, weil sie wirklich festgelegt sind auf einen bestimmten Zeitpunkt und auf die entsprechende damalige Umgebung und deren Usancen. Mende: Sie inszenieren ja selbst. Welches Stück würden Sie denn gerne mal inszenieren, nachdem ja nun die sängerischen Traumrollen für Sie alle abgearbeitet sind? Weikl: Dass ich inszeniere, ist fast zu hoch gegriffen. Ich habe vier Stücke inszeniert, wobei mir drei gelungen sind und eines in die Hose ging. Das vierte ist mir in Bezug auf die Regie vielleicht sogar gelungen, aber diese Inszenierung voriges Jahr in Köln stellte einfach einen politischen Skandal dar. Sehr glücklich war ich über meine Inszenierung der "Meistersinger" am New National Theatre, also an der Oper in Tokio. Die ist mir wirklich gut gelungen. Bei den anderen beiden Stücken musste ich mich eben einfügen in den Finanzrahmen kleinerer Opernhäuser, wo ja, wie Sie wissen, in bestimmter Hinsicht nichts mehr möglich ist. Ich würde gerne weiter inszenieren, aber da es kein weiteres Angebot gibt, bleibt es halt bei den bisherigen Inszenierungen. Ich habe auch das mal gemacht, sagen wir mal so. Und ich würde es auch wieder machen, aber dafür müsste einer kommen und sagen: "Ich bin einer Meinung mit Ihren Ideen hinsichtlich der Inszenierung einer Oper!" Übrigens, das Stück in Japan habe ich modern inszeniert. Mende: Könnte es sein, dass wir Sie eines Tages irgendwo als Intendant erleben? Weikl: Nein, sicher nicht! Eine Intendanz ist immer mit sehr, sehr viel Ärger verbunden. Und ich möchte mich nicht mehr ärgern. Wozu? Man sollte sich einfach seines Lebens freuen. Intendanten haben statt mit Kunst mehr mit Geld und ihrem Haushalt und dem Rechnungshof und all diesen anderen unangenehmen Dingen im Leben tun. Ich habe auch schon als Sänger genügend zu tun mit solchen Sachen: Das reicht mir absolut. Ich habe genug zu tun mit dem Finanzamt und mit meiner Buchführung usw. Das ist mir kompliziert genug! Und so ein Opernhaushalt ist wirklich eine sehr, sehr komplexe Geschichte. Was hat denn ein Intendant heute noch mit Musik zu tun? Mende: Bernd Weikl, leider sind wir bereits am Ende unserer Sendung angekommen. Vielen Dank für dieses Gespräch. Ich wünsche Ihnen alles Gute und wir alle hoffen selbstverständlich noch auf viele, viele schöne Rollen und Opernabende mit Ihnen. Wir freuen uns auch, dass Sie gesellschaftlich so engagiert sind und sich auch auf andere Themen stürzen und nicht nur die Oper sehen. Weikl: Ich danke Ihnen. Mende: Vielen Dank. Ihnen, liebe Zuschauer, ebenfalls ein herzliches Dankeschön für Ihr Interesse und noch einen schönen Abend.

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