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EUROPAS EXISTENZSCHOCK SO KÖNNTE SICH DIE UNION ERNEUERN

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Clever kombiniert : Themensitzung Erdgas und War Willy Brandt Solar. von Washington gekauft?

Islamisten bomben und morden, Europas Union zer- sein. Doch nun entdecken Historiker in den Archiven fällt, Großbritannien will eigene Wege gehen, die Tür- peinliche Dokumente, die auch Schatten auf den strah- kei mutiert zum Neosultanat, eine Völkerwanderung lenden Helden werfen. Brandt nahm Geheimgeld aus ist im Gang und selbst Deutschland als stabile Mitte den USA, um seine politische Karriere zu befördern. Europas wirkt plötzlich aus der Balance gerissen. 2016 „Ein Skandal!“, rufen die Brandt-Kritiker und wähnen ist nicht bloß ein Krisenjahr, es droht zum Wendejahr schon einen gekauften Kanzler, eine „historische Ne- historischer Dimension zu werden. Doch wohin wen- bensächlichkeit“ ohne weitere Bedeutung, verteidigen det sich Europa? Dieser Leitfrage spürt diese Ausgabe ihn die Verehrer. Was ist wirklich dran am Geheim- des „European“ nach. Es nehmen Stellung: die geld aus Amerika? Die ganze Geschichte Außenminister Österreichs und Großbri- lesen Sie ab Seite 8. tanniens, der Premierminister Itali- Im WirtschaftsressortWas ich schau- ens, der FDP-Bundesvorsitzende, en wirmache, diesmal konsequent drei Vorstandsvorsitzende der nachwenn vorne: ich Wird ein deutschen Wirtschaft und vier boomendestot bin...? Mexiko führende Intellektuelle des dasAn ein Leben nachneue dem Tod und eine WiedergeburtChina? glaubt Was Berufslustikus KARL DALL nicht. Aber man kann ja mal drüber plaudern, warum’s keine Ideallösung für den eigenen Tod gibt.

er Tod …? Tja, der Tod ist allge- sprochen wird, reagieren die Landes. Sie haben zum Teil bringtgenwärtig. Mit meinen 75 Jah-diemeisten ja irgendwiedigitale mit Hu- Re- ren hab ich ja jeden Tag damit mor. Wie sagt man so schön zu tun. Zum Beispiel erst ges- über den Tod: „Wenn er kommt, D tern: Ich hatte im Osten gera- ist man weg.“ Es gibt ja schon de zwei Tournee-Abende. Und lange Lieder und Kinofi lme da- die essen hier vorher immer rüber. Ich glaube, ich habe gar sehr unterschiedliche Posi- volutionirgendwelche Schlachteplatten nicht so Angstnoch vor dem Tod alles? noch aus der Ulbricht-Zeit – selbst, sondern vielmehr vor wahrscheinlich so ’ne Art Hen- diesem komischen Siechtum, kersmahlzeit. Wenn ich dann vor dieser Grauzone, die man auf die Bühne komme und die nicht berechnen kann. Heinz Wannschon leicht angesoffen und Erhardtkommt hat ja mal gesagt, das Grie- tionen, aber es eint sie doch vollgefressen sind, sehe ich ab Leben sei nur eine kurze Pause und zu mal zwei leere Stüh- vom Tod. Und während seines le. Und dann frag ich schon restlichen Lebens hatte er es, manchmal: „Oh, haben die sich mein großes Vorbild, zum Bei- schon verabschiedet?“ Brüller! spiel selbst verdammt schwer. das Vertrauen in die Kraft chenlandsDann suche ich mir im Publi- Ich habe ihn ja erst kennenge-Schulden- kum immer jemanden, der älter lernt, als wir einen Film über ist als ich. Den fi nde ich auch ihn drehten und er schon nicht meistens, weil die Alten ja noch mehr sprechen konnte. Das war zu der Generation gehören, gruselig, wenn einem wort- die sich meine Eintrittspreise gewandten Mann wie ihm die der offenen Debatte. Au- schnittleisten können. Dann kommt Sprachewirklich? genommen und der Und immer ein Pressefotograf, den Rollstuhl gegeben wird. Neun ich bitte, das Bild doch bald zu Jahre lang nur noch sitzen und veröffentlichen, damit sich das unverständliche Töne Thema nicht überholt hat. machen – da ist tot Wenn es nicht das eigene Ab- sein einfach viel bes- ßenminister Kurz schreibt schließlichleben ist, auf das man ange- ser. Ich hatte in dererklärt der unmissverständlich: Lasst -Chef Stadler, wie 13 uns bloß keine Deckel auf De- es nach der Dieselkrise batten pressen! Diese Ausgabe mit der Branche weiter- tut genau das Gegenteil. geht, was kommt, wie elekt- Auch bei Blick auf Putins Russland risch und selbstfahrend unsere bleibt das Urteil in Europa besorgt und Mobilität wird. zwiegespalten. Unsere drei Autoren (der Grü- nen-Fraktionschef, die Linksparteien-Spitzenpolitikerin Auf eine ganz eigene Weise nach vorne schaut auch der Schont die Umwelt und das Portemonnaie: ERDGAS + Solar. und der CSU-Vordenker) lassen aber aus ganz unter- schiedlichen Motiven erkennen, dass es Zeit wird, wie- Komiker Karl Dall in einem ungewöhnlich offenen Text Mit der fl exiblen Kombination aus einer modernen Erdgas-Brennwertheizung und der Brücken nach Moskau zu suchen. über den Tod und das eigene Sterben. Glaubt er an ein Solarthermie läuft Ihr Haus im Energiesparmodus. Die Kraft der Sonne unterstützt Ein Brückenbauer nach Osten, Friedensnobelpreisträ- Leben danach? Will er wirklich am liebsten auf offener die Heizung und kann im Jahresdurchschnitt 60 Prozent des Warmwasserbedarfs ger und großer Europäer war Willy Brandt. Sein Anse- decken. Und für den Rest sorgt ERDGAS. So können Sie die Umwelt schonen und hen als – neben Adenauer und Kohl – einer der drei gro- Bühne sterben? Was soll in seinen Nachrufen stehen? gleichzeitig bares Geld sparen. Los geht’s unter: ßen Kanzler der Bundesrepublik könnte kaum größer Die ungewöhnlichen Antworten lesen Sie ab Seite 100. www.erdgas.info/solar Fotos der Reihe nach: © Andrey Kuzmin – Fotolia.com, © Karl Dall – Bock, © Bundesarchiv 47446 – 4847, © goldencow_images – Fotolia.com – 4847, 47446 © Bundesarchiv – Bock, Dall © Karl – Fotolia.com, Kuzmin nach: © Andrey der Reihe Fotos

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SO WURDE WILLY VÖLKERWANDERUNG PLÄDOYER BRANDT VON US- UND EUROPA FÜR EUROPA DIENSTEN BEZAHLT DEBATTE

08-21 Sebastian Sigler 24 Christian Lindner Drei Vorstandsvorsitzende 28 Wolfram Weimer schreiben persönliche Und Beiträgen von: Liebeserklärungen 30 Ulrich Berls 14 Peter Merseburger 34 Sebastian Kurz 40 Joe Kaeser 17 Gregor Schöllgen 36 Michael Lausberg 42 Carsten Spohr 19 Scott H. Krause 44 Karl-Ludwig Kley 21 Brigitte Seebacher

Fotos der Reihe nach: © Bundesarchiv, © christophkadur – Fotolia.com © christophkadur nach: © Bundesarchiv, der Reihe Fotos 08 22 38 4 Wir spielen fair

Legale Spielhallen

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WIRTSCHAFT 70 Andrew Paul McAfee 74 Enrique Krauze 78 Rupert Stadler 70

CHRISTEN- VERFOLGUNG 84

RUSSLAND UND BREXIT 92 Das Bildungssystem darf DER WESTEN DEBATTE nicht die letzte reale DEBATTE Planwirtschaft sein 58 Roger Köppel Interview Bernd Westermeyer 48 Sevim Dagdelen 60 Boris Johnson 50 Anton Hofreiter 66 Matthias Heitmann 52 Wilfried Scharnagl 68 Matteo Renzi 96 Ist Europapolitik schon Comedy? Interview Martin Sonneborn

100 Was ich mache, wenn ich tot bin …? Karl Dall

104 Impressum

106 Alexanderplatz Fotos der Reihe nach: © Bundesarchiv, © nuvolanevicata – Fotolia.com nach: © Bundesarchiv, der Reihe Fotos 46 56 6 Viele Blutkrebspatienten auch.

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DKMS_AZ_Kind-Rebranding_210x280_OF.indd 1 08.08.16 14:12 THE EUROPEAN THE So wurde Willy Brandt von US-Diensten bezahlt

Von Sebastian Sigler

Im August 1950, fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, hat Willy Brandt 200.000 D-Mark angenommen, die aus den USA stammten und als Mittel des Marshallplans getarnt waren. War er damit gekauft? Nein, so direkt kann man es nicht sagen. Doch ist das die Entlastung, der Freispruch? Mitnichten. Denn der hoffnungsvolle Sozialdemo- krat war vielleicht als Person nicht im klassischen Sinne gekauft, dafür aber hing – mit sorgfältigem Kalkül eingefädelt – am Ende die deutsche Sozi- aldemokratie mehrheitlich am US-Angelhaken. Maßgeblicher dazu beigetragen hat ein bedeuten- der Einflussagent der USA: Willy Brandt.

1950, der Zweite Weltkrieg war gerade fünf Jahre lang vor- bei. Der Journalist und hoffnungsvolle Nachwuchspolitiker Herbert Frahm, der sich erst kurz zuvor in Willy Brandt umbenannt hatte, erhielt 200.000 D-Mark, insgeheim. Das Durchschnittseinkommen eines bundesdeutschen Haus- 8 THE EUROPEAN 9 10 THE EUROPEAN THE EUROPEAN

Foto: © Bundesarchiv zugelegt hatte, war norwegischerOffizier.zugelegt hatte, auf derFlucht vordenNationalsozialisten denWilly Brandt raren Personenkreis. Militärs. Speziell DerMann, dersich zudiesem fürdieBesatzungsmächte gehörten kehrten, dievorHitlerExilanten, geflohenwarenundnunzurück wichtig, wohlgemerkt,Offizieren enorm in Kombination. Kontrollräten wardenalliierten und verbinden, undbeides würdige Weise undNazigegnerschaft Antikommunismus wenige gesellschaftlicheGruppen aufglaub- dabei konnten Zonen im Deutschland Nur nach Hitler konnten. gestalten gezieltnachPartnern, suchten mitdenensieihre Briten Vorheimdienste. derAmerikanerund allemdieDienste die Augenhöhe offenkundigstörten Ge- geworden,aber zern indenWestzonen warenaugenscheinlichPartner auf Die Bundesrepublik gegründet, wareben ausdenBesat- die USAzumachen. sichdazu,Propagandafür auch war:Brandtverpflichtete So sollten. die Luftbrücke,herausstellen gutdieLuftbrücke in Berlin,vorallemdieHilfe durchdenMarshallplan und dieVerdienste Beilagen bekommen, derAmerikaner 200.000D-Mark er für zwei sollte bedeutete. terstützung täre Zeitung, erwar, derenChefredakteur einefühlbareUn- einenVertrag,unterzeichnete derfürdiechronischdefizi- desCIA-Vorgängerdienstesheimdienstleute OSS.Brandt Die Gesprächspartner inFrankfurt warenAmerikaner, Ge- Brandt.“ ent­gegnete rich­ten“, offen- Ein ­ bar über hal­ten. zu ver ­traulich“ ‚streng Ver­einbarungen alle Hirsch ­feld, Hans Se­natssprecher West­liner ­ber den ter, ­ ter so mahn­ stüt Titel­ „Einbisschen Druck“:„Esgingumpo Platz. Der„Spiegel“schreibtam11.Juni dem 2016unter die vormalige Zentrale der IG Farben. Einunheimlicher man Zimmerbetrat 115 im Hauptquartier der Amerikaner, tag, wareinvertraulichesTreffen anberaumt. Zusammen 1950 nachFrankfurt amMain. Für den27., einenDonners- war,übrigens amerikanischerAgent BrandtimJuli reiste plan-Gelder, Walter Ridder, eingefädelt. Mit Hirschfeld, der zusammen mitdemBerlinerKoordinator derMarshall- Mentorspolitischen ErnstReuter, denDealoffenbar hatte Summe? Hans Hirschfeld, einengerMitarbeiter seines Wie kamderjungeBundestagsabgeordnete andieenorme Menge müssen. dafürleisten Brandtwürdeeineganze Kriegausgebrochen. ein kalter ehrgeizige Ziele inEuropa,undnachdemWeltkrieg war öffentlich werdendürfen. Die US-Administration verfolgte Geld, unddasalsSozialdemokrat keinesfalls – dashätte indiesemJahrbetrug knapp3.200D-Mark. So halts viel es­ ­zung, einheik se dar­ flüs­ ten die Ame­ ten an, nur den allernotwendigsten Kreiszuun­ an, nurdenallernotwendigsten si­ ger Hin les Feld fürdieBe­ ri­ ­weis: Man­ ‚eben habe ka­ ner ih­ ren Gast und des­ sat ­zungs falls star­ li­ ti­ macht, und sche Un­ sen Be­ kes In­ kes glei­ ter ter - ­ ­

11 Der radikale da – in die US-Medien lancieren wolle. Brandt sagte dies zu. Dieses Detail ist nicht unerheblich für eine Antwort auf die Frage, warum Brandt im Jahre 1950 mit 200.000 Sozialist D-Mark aus den USA „unterstützt“ werden sollte. Erst allmählich wandte sich Frahm, der immer noch nach Oslo berichtete, der Politik in Deutschland zu. Bis THE EUROPEAN THE zum Frühjahr 1947 hoffte er, dass es bald wieder eine aus Lübeck einheitliche Reichsregierung geben würde, doch aus Moskau kamen enttäuschende Meldungen: Die deutsche Herbert Ernst Karl Frahm aus Lübeck, geboren 1913, Teilung vertiefte sich, auch die reale staatliche Aufteilung ab 1931 Mitglied der SPD und ab 1933 der linkssozia- Deutschlands wurde immer wahrscheinlicher. Gerüchte listischen SAPD, war 1933 ins Exil nach Norwegen ge- wie das, Ostdeutschland werde als Sowjetrepublik der gangen. Er verwendete dort ab 1933 den Decknamen Sowjetunion bestehen, dürften ihn aufgeschreckt ha- „Willy Brandt“; wenig später nahm er die norwegische ben. Der Akt der Währungsreform zum 20. Juni 1948 Staatsbürgerschaft an und arbeitete nach der deutschen als Wendepunkt hin zu einer kommenden Teilung ist in Besetzung Norwegens jahrelang in Stockholm; dazu diesem Zusammenhang nicht zu unterschätzen. heuerte er beim britischen Dienst Special Operations Frahm orientierte sich nun örtlich nach Berlin, gab die Executive an – übrigens zusammen mit dem stark vom norwegische Staatsbürgerschaft auf und bemühte sich Kommunismus beeinflussten Bruno Kreisky. Der „Spie- um Engagements in den von den Alliierten lizenzierten gel“-Reporter Klaus Wiegrefe schrieb am 13. September Medien. Ungefähr zur gleichen Zeit, 1. Juli 1948, war er 1999, in der Ausgabe 37 seines Magazins, über Brandts von der Stadt Lübeck wieder als Deutscher eingebürgert nachrichtendienstliche Tätigkeiten während des Zweiten worden. Ende Mai 1949, die Bundesrepublik war schon Weltkriegs: „Der Stockholmer Emigrant war kein Agent, gegründet, stellte er schließlich den offiziellen Antrag auf wie er im Buche steht, weder ein James Bond des Sozia- Namensänderung, weil sich aus der „Doppeltheit des ur- lismus noch ein finsterer Spion. (…) Brandt arbeitete in sprünglichen, legalen Namens und des behördlich bestä- Stockholm als Journalist, sammelte Informationen aus tigten Pseudonyms (…) häufige formelle und praktische allgemein zugänglichen Quellen wie den Zeitungen und Schwierigkeiten“ ergeben hätten. Mit dem Namen Willy wohl auch aus vertraulichen Gesprächen mit anderen Exi- Brandt verband sich für den Exilanten seine „Tätigkeit als lanten. Seine Berichte allerdings gingen an Agenten alli- Journalist, Redner und Buchautor“, wie Gregor Schöllgen ierter Geheimdienste, und Brandt muss in den meisten vermerkt. Fällen gewusst haben, mit wem er es da zu tun hatte und wozu seine Informationen benutzt wurden.“ Auch der Bereits 1948 hatte Frahm, der sich Brandt nannte, eine US-Dienst OSS, Office of Strategic Services, las Brandts ganze Reihe von Vorschlägen gemacht, wie mit amerika- Berichte ab spätestens 1940. Das OSS ist der Vorläufer nischer Hilfe Schwarzsender am Rande der Sowjetzone der CIA. Brandt, der für alle Seiten offene Nachrichten- zu installieren seien, die klandestine Westpropaganda mann, arbeitete also damals schon eher in Richtung und gezielte Desinformation betreiben sollten. Er galt bei Westen – und eben nicht vorwiegend für östliche Diens- den Amerikanern, die durchaus nicht blauäugig waren, te. Wiegrefe wertet: „Was er tat, war für Emigranten mit als Mann mit ausgezeichneten Kontakten nach Moskau. politischer Überzeugung nicht ungewöhnlich und weder Trotzdem arbeitete man mit ihm zusammen. Seine durch- kriminell noch ehrenrührig.“ Brandts Exilgeschichte ist aus aggressiven Vorschläge waren indes nur ein Anfang wegen der Ausrichtung seiner nachrichtendienstlichen – ab August 1949 wurde mit seiner Hilfe dafür gesorgt, Tätigkeit ein wertvoller Hinweis zur Bewertung seiner dass der RIAS, also der Rundfunk im amerikanischen späteren Bündnisse, der später geschlossenen Vereinba- Sektor Berlins, die Namen von SED- und KGB-Agenten rungen. enttarnte, dass diese also öffentlich genannt und dass vor Brandt, der offiziell immer noch Frahm hieß, kam nicht ihnen gewarnt wurde. Vor diesem Hintergrund mutet es direkt nach Kriegsende nach Berlin, sondern pendelte fast überraschend an, dass „erst“ für 1950 amerikanische zwischen Deutschland und Skandinavien, beobachtete Zahlungen an den Mann, der sich dann schon offiziell auch die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. Als nor- Brandt nennen würde, bekannt sind. wegischer Offizier unterstand er dem Osloer Kommando. 1945 wurde er trotzdem von den Sowjets angesprochen. Brandt stand politisch fest an der Seite des Berliner Re- Da er auch regelmäßig für US-amerikanische Agenturen gierenden Bürgermeisters Ernst Reuter, der innerhalb und das OSS schrieb, war die Frage, ob er Artikel sow- der SPD – wohl auch durch seine Berliner Sicht der jetischer Autoren – also doch wohl Moskauer Propagan- Dinge – zu einer stark prowestlichen Minderheit ge- 12 THE EUROPEAN 13

hörte. Die Sozialdemokratie insgesamt war noch stark von den Tendenzen, zusammen mit den Kommunis- ERSTE ENTHÜLLUNG ten eine einheitliche Linksfront zu bilden, beeinflusst UND DEMENTI – auch in den Westzonen. Die politische Position des Mannes mit norwegischen Exilerfahrungen und bes- Der ehemalige CIA-Beamte Victor Marchetti veröffent- ten US-Kontakten seit 1940 dürfte mitursächlich dafür lichte 1974 das Buch „The CIA and the Cult of Intelligence“. sein, dass ihm die Chefredaktion des Parteiblattes „So- Eine seiner heikelsten Enthüllungen: Willy Brandt sei in den zialdemokrat“ zum 1. Januar 1950 übertragen wurde. 1950er-Jahren von der CIA finanziell unterstützt worden. Die SPD-Parteizeitung hatte mit ihren knapp 16.000 Die CIA erwirkte daraufhin zur Drucklegung des Buches die Lesern ein Schattendasein in der Berliner Zeitungssze- Streichung einiger heikler Passagen. „Dass Willy Brandt“, ne geführt. Brandt gestaltete das Blatt reißerischer und kritisierte die „New York Times“, „als junger Politiker nach änderte den Namen in „Berliner Stadtblatt“. Doch die dem Krieg von der CIA Geld nahm, mag für ihn politisch Auflage stieg nicht, der Erfolg wollte sich nicht einstel- peinlich sein, aber verfassungswidrige Zensur auszuüben, um len, obwohl Brandt schrieb und schrieb. In knapp 18 diese Tatsache zu unterdrücken, ist mehr, als wir selbst dem Monaten sollten es rund 300 Artikel werden. entgegenkommendsten ausländischen Politiker schulden.“

Im Mai 1950, auf dem SPD-Bundesparteitag, fiel Willy Durch diesen Vorgang wurde Brandt auf. Zusammen mit dem sogenannten „Bürger- gleichwohl bekannt, dass die meisterflügel“ machte er Front gegen die Europapoli- CIA Brandt als „Einflussagen- tik Schumachers. Er nutzte dazu, wie Scott H. Krause ten“ Amerikas einstufte. Als berichtet, das Narrativ vom heldenhaften Berlin, das der Watergate-Enthüllungs- sich mittels der Luftbrücke gegen einen menschenver- journalist Bob Woodward in achtenden Kommunismus behauptet. Brandt forder- der „Washington Post“ die te dabei aus der innerparteilichen Opposition heraus Marchetti-Story wieder auf- Deutschlands Eintritt in den Europarat und die Zustim- griff und in einer langen Liste mung zu einer europäischen Montanunion, wie sie Ro- international renommierter bert Schuman just zwei Wochen zuvor gefordert hatte CIA-Geldempfänger auch – außer Schumacher lehnten dies auch Ollenhauer und Brandts Namen aufführte, Schmid kategorisch ab. Die Granden der Sozialdemo- schritt der SPD-Vorsitzende kratie waren damals mehrheitlich durchaus offen für ei- ein. Brandt verwahrte sich nen Ausgleich mit der Sowjetunion, die SPD strebte de gegen „die lügenhafte Kam- facto nach einem neutralen Deutschland zwischen den pagne“ und stellte katego- Blöcken. Doch Deutschlands Beitritt zum Europarat, vor risch fest: „Mir sind solche allem aber ein Beitritt zu einer Montanunion würden Mittel zu keinem Zeitpunkt eine klare Westbindung des Landes nach sich ziehen – zugegangen, weder zuguns- und diese war wiederum offenkundig im Interesse der ten meiner Partei noch für irgendeinen ande- USA. ren Zweck.“

Der „Spiegel“ berichtet in seiner Ausgabe 10/1977 schließ- lich mit der Schlagzeile „Lügenhafte Kampagne“ über die politischen Verteidigungsversuche Brandts: „Er schickte Hilfe für ein SPD-Geschäftsführer Egon Bahr mit einem Brief ins Wei- ße Haus, in dem er US-Präsident Carter bat, „die zuständi- ge Stelle Ihrer Regierung zu der gebotenen Klarstellung zu Parteiblatt – veranlassen“. Jimmy Carter schrieb postwendend, „grund- lose Gerüchte“ könnten Brandts internationale Reputation nicht erschüttern. Carter: „Ich wünschte, dass es in mei- ner Macht stünde, diese grundlosen Beschuldigungen Ih- oder mehr? rer Person gegenüber von vornherein zu verhindern, aber dies ist ein Preis, den wir für die Regierungsform, der wir Brandts Zeitung war indessen weiter notleidend, doch uns beide verbunden fühlen, zu entrichten haben.“ Brandt durch die tatkräftige Hilfe mit Geldern, die offiziell aus zeigte sich befriedigt und zog sich erneut in sein Schweigen dem Marshallplan stammten, konnte er sie weiterfüh- zurück. MEHR ALS WORTE amerikanische Interessen auf dem Bundesparteitag, wenige Wochen zuvor? Das muss dahinstehen, Belege sind nicht „Vom Westen verraten?“ lautet eines der Trans- vorhanden. 1950 ging es offiziell lediglich um zwei sechssei- parente, das aufgebrachte Berliner zu einer Mas- tige Supplemente zum „Berliner Stadtblatt“, die jeweils mit senkundgebung mit sich tragen, zu der Brandt zum 100.000 D-Mark honoriert wurden. Das erste erschien am 20. August, und Ernst Reuter hatte das erste Wort, über dem

THE EUROPEAN THE 16. August aufgerufen hat und auf der er die Menschen seiner Stadt, bei grau verhangenem Himmel und stürmischem Wind, aufzurichten Leitartikel mit dem Titel „Brennpunkt der Weltpolitik“ stand versucht. (…) Brandt spürt die Enttäuschung, Verbitterung und Ver- sein Name. Dies ist eine große Wendung – noch zwei Jahre zweiflung, die ihm da entgegenschlägt und sich zu einem gefährlich ex- zuvor hatte Willy Brandt Berlin als trostlose Stadt am Rande plosiven Gemisch zu verdichten droht. (…) Es ist die bis dahin größte der Welt betrachtet, und de facto war sie das ja auch. Hier Herausforderung, der sich der Volkstribun Brandt gegenübersah, und wird das Narrativ vom heroischen Berlin, das sich den Fall- lange verharren die Berliner, die ihm zuhören, in trotzigem, skeptischem stricken einer menschenverachtenden Sowjetunion wider- Schweigen. Doch schließlich meistert er die Situation und beweist, dass setzt, abermals erzählt. Und dies war eine klar US-bezogene er sie im Griff behalten kann. An Volkspolizisten und Betriebskampf- Lesart, erkauft – doch wohl! – mit 100.000 D-Mark, der ers- gruppen richtet er den Appell, der allen in West und Ost aus dem ten Hälfte der Geheimzahlung an Brandt. Geschrieben hat- Herzen gesprochen ist: „Lasst euch nicht zu Lumpen machen! Zeigt te das Reuter-Stück in Wirklichkeit Hans Hirschfeld, der in menschliches Verhalten, wo immer es euch möglich ist! Schießt nicht den ganzen Vorgang tief involviert war und aus dessen Nach- auf Landsleute!“ Die drei Westmächte fordert er auf, vor dem Welt- lass letztendlich die Kenntnis vom Kauf Willy Brandts durch forum der Vereinten Nationen Anklage zu erheben wegen Verstoßes die US-Amerikaner auch stammt. Brandt selbst steuerte eine gegen die Menschenrechte (…). Und dann zeigt er sich als der Kämpfer, völlig unverblümte Eloge auf den Marshallplan bei: „Von der zu dem er in großen Stunden aufläuft, dann endlich fällt der Schlüssel- Idee zur realen Gestalt. Marshall und Clay – zwei Helfer Ber- satz, für den er befreienden, nicht enden wollenden Beifall erhält: „Wir lins.“ Darin forderte er bereits, Berlin zur Hauptstadt eines fürchten uns nicht. Ich habe heute dem Präsidenten der Vereinigten vereinten Deutschland zu machen, wenn einst alle Besat- Staaten, John Kennedy, in aller Offenheit unsere Meinung gesagt. Ber- zungsmächte ihre Befugnisse zurückgegeben hätten. lin erwartet mehr als Worte. Berlin erwartet politische Aktion.“ Die zweite der beiden Beilagen erschien Ende Oktober, PETER MERSEBURGER thematisch war sie ähnlich gelagert wie die erste. Das Geld Willy Brandt, Visionär und Realist, DVA (Stuttgart/München) floss. Was Brandt de facto damit machte, geht übrigens aus keiner der Unterlagen, die bekannt sind, hervor. Mög- licherweise wurde damit wirklich das notleidende „Berliner Stadtblatt“ subventioniert, vielleicht aber auch nicht. Das ren. Nachdem diese Mittel eigentlich für konkrete Überle- Ende für die Zeitung kam jedenfalls bereits zur Jahresmit- benshilfe in Not befindlicher Menschen gedacht waren und te 1951, die Zeitung hatte nur noch rund 3.500 regelmäßige nicht für publizistische Projekte, steht die Frage nach der Leser. Brandt verlor diesen Posten, das Parteiblatt wurde in Herkunft der 200.000 D-Mark für Willy Brandt im Raum. „Berliner Stimme“ umbenannt – er schrieb noch Artikel, Sollte es sich herausstellen, dass es Geheimdienstgelder war seine Leitungsfunktion aber los. Bernd Rother von der waren – die Überraschung wäre sehr gering. Einig war man Berliner Willy-Brandt-Stiftung äußert zum Projekt „Berliner sich jedenfalls im Ziel; prinzipiell ging es beiden Seiten um Stadtblatt“ und speziell zu den beiden Supplementen, die dieselbe Sache: eine Demokratisierung Deutschlands unter mit 200.000 D-Mark honoriert worden waren: „Sich kaufen nichtkommunistischen Vorzeichen. Davon, dass mit dem lassen bedeutet, etwas zu tun, was man ohne das Kaufen Stalin-Kommunismus kein Staat zu machen war, musste nicht getan hätte. Hier ist etwas verstärkt und vielleicht erst man im Westen Berlins nach der Luftbrücke nicht mehr möglich gemacht worden.“ Anfang der 1950er-Jahre habe viele Menschen überzeugen. Aber dass die Amerikaner es wöchentlich, ja, täglich Entführungen von politischen eine bessere, ja, die beste Wirtschaftsform anboten? Das Kräften von West nach Ost gegeben, der Kalte Krieg sei in war nicht klar. Durch Stärke und eine richtig gefärbte Dar- vollem Gange gewesen. Der Stiftungsmann konkret zu den stellung der errungenen Erfolge konnte das breiten Leser- 200.000 D-Mark für Willy Brandt: „Da ist Geld für eine ge- schichten nähergebracht werden. rechte Sache gelaufen!“ Aber immerhin wollte Brandt selbst dieses Engagement strikt geheim halten. Für eine gerechte Ja, die Amerikaner wollten das zeigen, und Brandt zeig- Sache kämpfen, das ist eine Sache. Dies aber nicht aus freien te es in ihrem Auftrag. Gegen Geld. Oder waren diese Stücken, sondern gegen Bezahlung zu tun – das ist eine an- Zahlungen bereits eine Belohnung für sein Engagement dere Sache. Zumal später weitere Gelder flossen. Insgesamt ab 1942, von Stockholm aus, und auch für seine Initiativen wurde Brandt mit 306.500 D-Mark gestützt – oder nicht beim RIAS? Oder war es ein Dank für Brandts Eintreten für doch eher gekauft? 14 Fotos: © Bundesarchiv, © Peter Merseburger THE EUROPEAN 15 16 THE EUROPEAN THE EUROPEAN 17 VORBILD KENNEDY

Ende Juni 1963 kommt der amerikanische Präsi- dent John F. Kennedy als erstes westliches Staats- oberhaupt seit 1945 zu Besuch nach Berlin. (…) Willy Brandt bewundert den drei Jahre jüngeren Amerikaner, stehen dieser und das Land, welches er repräsentiert, doch für vieles, was auch er für erstrebenswert hält. (…) Der spektakuläre Auftritt John F. Kennedys in Berlin lässt leicht übersehen, dass der amerikanische Präsident, als er die geteilte Stadt besucht, erfolgreich ist, sein Gastgeber hingegen nicht. Kennedy hat den Präsidentschaftswahlkampf, wenn auch äußerst knapp, gewonnen; Brandt hat den Bundestags- wahlkampf verloren, trotz hohen Einsatzes und mancher Anleihe bei dem Mann aus Massachusetts.

GREGOR SCHÖLLGEN Willy Brandt – Die Biographie, Propyläen (Berlin/München)

Und warum geschah all dies insgeheim? Die einzige Er- klärung ist, dass Brandt hier gegen Bezahlung und zu- gleich gegen den Willen der Mehrheit seiner Parteifreun- de handelte. Natürlich sollte die Kommandosache aus seiner Sicht geheim bleiben, und auch die Amerikaner achteten sorgfältig darauf, ihren Perspektivmann nicht zu verbrennen. Man bewegte sich konspirativ. Im Kalten Krieg wie zu Weltkriegszeiten. Die Amerikaner wollten mehr Bereits im August 1950 hatte der US-Amerikaner Stone in einem weiteren Gespräch Hans Hirschfeld gefragt, ob es möglich sei, dem Berliner Regierenden Bürgermeister Reuter zu einer wichtigeren Rolle in der Bundesrepub- lik zu verhelfen – ein klares Signal dafür, dass die Ame- rikaner mehr wollten, dass auch Brandt für sie nur ein Stein in einem größeren Gebäude war – dass sie die junge Bundesrepublik über den publizistischen und politischen Hebel, den Berlin darstellte, auf einen transatlantischen Kurs bringen wollten. In der CDU war Adenauer der star- ke Mann, die FDP war ohnehin auf ordoliberalem Wirt- schaftskurs, die KPD war nicht zu überzeugen, der BHE stand im Wesentlichen wie die CDU. Nur in der SPD war der Kurs noch nicht klar. Dort fehlte ein Spitzenmann, der die Partei auf US-Kurs gebracht hätte. Also bediente man Fotos: © Bundesarchiv, © Gregor Schöllgen – www.gregorschoellgen.de © Gregor © Bundesarchiv, Fotos: sich über das Narrativ vom heroischen Berlin des dorti- USA. Aber die Amerikaner hatten sich eben auch nicht gen Bürgermeisters. Und man vertraute auf den Mann, verrechnet, als sie auf ihn wetteten. Zwar wurde Otto Suhr dem man die größte Zukunft zutraute: Willy Brandt, den Nachfolger von Ernst Reuter, und der amerikanische Per- Mann, der schon 1950 die Rolle Berlins in einem vereinig- spektivmann Brandt schien weiter entfernt von der Macht ten Deutschland thematisiert hatte. denn je. Doch seine relative Jugend und eine bald danach schon diagnostizierte Krebserkrankung Suhrs kamen ihm THE EUROPEAN THE Im Dezember 1950 war Brandt bereits Abgeordneter im zugute. Suhr starb am 30. August 1957. Hirschfeld, aber- Berliner Abgeordnetenhaus, schon knapp ein Jahr zuvor mals unterstützt vom US-Amerikaner Stone – mutmaß- hatte er sich mit dem Kreisvorsitz der Wilmersdorfer SPD lich auch wieder finanziell –, plante eine Wahlkampagne seine Machtbasis gesichert. Er bekämpfte aus diesen Posi- für Brandt. Scott H. Krause berichtet dazu, dass das spä- tionen heraus den Parteifreund Franz Neumann der ganz testens 1950 von den Amerikanern installierte Netzwerk den Typ eines Arbeiterführers repräsentierte. Neumann Wirksamkeit entfaltete und in einem innerparteilichen war gegen die klar-eindeutige Westbindung der Bundes- Wahlkampf gezielt Brandt stützte. Für sie, speziell für den republik, gegen die strikte Abgrenzung Berlins gegenüber aus Österreich stammenden US-Offizier Karl F. Mautner, den Russen, später auch gegen die Wiederbewaffnung der der bis 1950 in Berlin war und danach im State Depart- Bundesrepublik. Darin war Neumann übrigens auf einer ment der USA Karriere machte, war Brandt „a young sta- Linie mit Ollenhauer, Schumacher und Schmid. Brandt tesman to be watched, a coming man“. war für die Westbindung, für die strikte Ausgrenzung aller Kommunisten und der SED aus Westberlin, später votier- Der US-amerikanische Perspektivmann Brandt, seit te er auch für die Wiederbewaffnung. Mit über 300.000 1950 mit großen Geldsummen gefördert, wurde am 3. streng geheimen D-Mark der Amerikaner in der Tasche. Oktober 1957 Regierender Bürgermeister. Am 12. Ja- Das Vertrauen der US-Amerikaner in Brandt im Jahre 1950 nuar 1958 übernahm Brandt dann auch den Berliner – und hier reicht der Blick bis zur Wahl zum Bundeskanz- SPD-Vorsitz von Franz Neumann. Er hatte die Schlacht, ler 1969 – war keine Fehleinschätzung. Rückschläge wie die spätestens mit den verdeckt gezahlten 200.000 Ernst Reuters plötzlicher Herztod am 29. September 1953 D-Mark angefangen hatte, gewonnen. Eine Bilderbuch- und Brandts Niederlagen gegen den innerparteilichen karriere, die Brandt nach neun Jahren an der Spitze Berliner Konkurrenten Franz Neumann können dies Berlins in die Bundesregierung und mit einem Coup Bild nicht trüben. Von großer Bedeutung ist dabei, dass ins Bundeskanzleramt bringen sollte, hatte ihren ersten Brandt, so wie viele Rückkehrer nach dem Naziterror, Glanzpunkt erreicht. zunächst am allermeisten mit dem Misstrauen derer, die Nazideutschland nie verlassen hatten, kämpfen mussten. Sie galten vielerorts als Verräter. Von jenseits des Atlantiks aus gehörten jedoch exakt diese Exilanten zu denjenigen, Bedeutender die Vertrauen genossen. Zudem wurde das Potenzial von Brandt zielsicher erkannt – und entsprechend gefördert. Auch der SED und ihren MfS-Spitzeln blieben weder Einflussagent Brandts Fähigkeiten noch seine enge Verknüpfung mit den US-Amerikanern verborgen. Wusste man in Ostber- lin gar, dass Brandt gezielt gestützt – oder gekauft – wor- den war? Die SED reagierte jedenfalls auf die Aktivitäten, der USA die Brandt entfaltete, zum Beispiel mit einem Memorand- um vom 12. Juni 1954, das übertitelt war: „Weitere Ent- hüllungen über die ungeheuerliche Tätigkeit der ameri- Wie ist Brandt angesichts seiner langjährigen Kontakte kanischen Fraktion in der SPD“. Scott H. Krause, der mit zu amerikanischen Geheimdiensten ab 1940, die mit seinen Enthüllungen um die CIA-Gelder für Willy Brandt extrem hohen Geheimzahlungen von über 300.000 den Stein in Rollen brachte, ist nun deutlich bemüht, sich D-Mark ihre ersten Höhepunkte hatten, zu titulieren? von dieser Sicht abzugrenzen und zugleich das sorgsam Ein selbstbestimmter, visionärer Bundeskanzler, gradli- gehütete Ansehen des so auffällig US-freundlichen Po- nig und ernst, dabei vom Exil mit einer gewissen Schwe- litikers, einer Ikone der bundesdeutschen Geschichte, re geprägt – dieses Bild von Brandt wird eifrig gepflegt. nicht zu beschädigen: „The point is not to cast either Willy Die Wirklichkeit ist anders. Der amerikanische Agent Brandt or Ernst Reuter as puppets of the United States.“ aus Skandinavien war 1950 und in den Folgejahren ein im Sinne einer Besatzungsmacht Handelnder, der dazu Dem ist zuzustimmen. Brandt war keine „Puppe“ der noch mit seiner Zeitung am Rande der Pleite stand. Er 18 THE EUROPEAN 19

AN EXCELLENT MAN

Empfehlungsschreiben des US-Agenten Hans Hirschfeld für Shepard Stone, Stellver- treter des Sonderberaters für öffentliche Angelegenheiten und Informationswesen beim amerikanischen Hochkommis- sar in Deutschland, der ebenfalls CIA-Kontakte hatte: „The Stadtblatt will always be Social Democratic with its cur- rent journalists, but without being too close to the party. Willy Brandt, its current editor, is a guarantee for that (…) Brandt is not yet 37 and is Berlin’s representative in the Bundestag. He fled in 1933 from Lübeck to Norway, where he studied his- tory and worked as a journalist (…). He returned to Germany after the 1945 collapse as a correspondent for Scandinavian newspapers. Later, he became press attaché at the Norwegian Military Mission in Berlin. He relinquished this post and his handelte gegen die Interessen der Mehrheit seiner Par- Norwegian citizenship in 1948 to participate actively in the teifreunde und wurde dafür aus dem Ausland bezahlt. political life of Germany. He is an excellent man and in no way Als in den 1970er-Jahren durch Indiskretionen eines a party-dogmatist or narrow-minded. His entire background CIA-Mannes bekannt wurde, dass Brandt 1950 das gro- guarantees, in my opinion, sensible political views.“ ße Geld angenommen hatte, sorgte das für erheblichen Aufruhr. Victor Marchetti, ein ehemaliger CIA-Mann, SCOTT H. KRAUSE, S. 90 f. der Brandts Agententätigkeit enthüllt hatte, ging davon aus, das die 306.500 D-Mark aus Geldern des Dienstes stammten, für den er gearbeitet hatte; die „New York The concept of West Berlin as an „outpost of freedom“ helped Times“ schloss sich dem an. Brandt war also, das kann forge – and was a product of – an informal German-American zusammenfassend gesagt werden, ein bedeutender Ein- network. Portraying the plight of the West Berliners as a strug- flussagent der CIA. Und es gehört zum vollständigen Bild, gle for freedom fit so well into the U.S. Cold War discourse of zu erwähnen, dass Brandt wohl kein Einzelfall in der noch the 1940s and 1950s that key American policymakers seized jungen Bundesrepublik ist. Marchetti dazu: „Die CIA hat on the narrative as a common political project worthy of con- das damals für viele Politiker in Westdeutschland getan, siderable resources. Thanks to compatible political outlooks, für Sozialdemokraten und Christliche Demokraten. Es Berlin SPD remigrés were able to secure advice, favorable me- war eben Kalter Krieg.“ Doch nicht jeder, der hier gemeint dia coverage, as well as financial contributions totaling at least ist, war ein späterer Bundeskanzler. 306,500 DM (…), from American Cold War liberals such as Mitte der 1970er-Jahre wollte Brandt, der als Bundes- Stone and Kaghan. Both Reuter and Brandt could rely on their kanzler pikanterweise bereits über einen DDR-Agenten relationship with Hans Hirschfeld and his contacts, which dated in seinem unmittelbaren Umfeld gestürzt war, seine Ein- back to their wartime exile in the United States. Hirschfeld’s flusstätigkeit für die CIA keinesfalls zugeben. Der Water- crucial friendship with Shepard Stone had begun during his time gate-Jäger Bob Woodward hatte Brandt als Geldempfänger at the OSS, but there is little evidence that the political clout of der CIA tituliert, und Brandt nannte dies eine „lügenhafte their postwar friendship was part of any high level grand design. Kampagne“. Er log dann aber seinerseits: „Mir sind solche They had met long before they controlled hundreds of thous- Mittel zu keinem Zeitpunkt zugegangen, weder zuguns- ands of Deutschmarks, at a time when Hirschfeld was a low-le- ten meiner Partei noch für irgendeinen anderen Zweck.“ vel profiler at the OSS and Stone a captain in the U.S. Army. Vom US-Präsidenten Jimmy Carter persönlich ließ er sich They nevertheless succeeded years later in capitalizing on their ein Entlastungsschreiben anfertigen. Der schrieb, „grund- friendship for maximum political gain. lose Gerüchte“ könnten Brandts internationale Reputati- on nicht erschüttern. Damit ließ er es bewenden. Nie wie- SCOTT H. KRAUSE der wollte er darüber sprechen. Agenten schätzen es nicht, Neue Westpolitik: The Clandestine Campaign to Westernize enttarnt zu werden. the SPD in Cold War Berlin Fotos: Scott Krause, © 2010–2015 by the Department of History at UNC Chapel Hill at UNC Chapel of History by the Department © 2010–2015 Scott Krause, Fotos: 20 THE EUROPEAN THE EUROPEAN 21

ER GEHÖRTE DER PARTEI NIE GANZ

W. B. war ein Kind der deutschen Arbeiterbewegung, deren solidarische Werte ihm in die Wiege gelegt waren. Sie vertrugen sich nicht mit allen Zügen seines Wesens. Ehe er sich beherrschen ließ, zog er sich vorübergehend zurück, auf sich selbst. Kollektiven Prägungen war er von Kind an ausgesetzt. Er nahm sie auf und wehrte sich zugleich. Er gehörte der Partei. Aber er gehörte ihr nie ganz.

BRIGITTE SEEBACHER Willy Brandt, Piper (München, 2004)

Sechs Tage nach der Reichstagswahl vom 5. März 1933 fährt W. B. über Berlin nach Dresden. Auf dem Kopf die Pennälermütze, die Großvater und Mutter mit so viel Stolz erfüllt hat. Jetzt soll das auffällige Stück der Tarnung dienen. Wie der Name, den er zu führen beginnt – Willy Brandt. Die Identität von Herbert Frahm und Willy Brandt bleibt der Polizei tatsächlich verborgen (…). Dennoch ist die Tarnung der Anlass, nicht die Ursache der Namensänderung. In einem auf Englisch geführten Gespräch mit Oriana Fallaci (…) gesteht er 1973, ausgehend von der Frage der Herkunft: Die Tatsache, den Vater nicht zu kennen, habe ihn berührt, aber dann nicht weiter beschäftigt. Übergangslos schlägt er den Bogen zum Namen: „Ich habe so früh begonnnen, mir mein Leben selbst aufzubauen. Ich habe so früh begonnen, einen eigenen Namen zu haben. Einen, der nur mir gehört. Es ist kein Zufall, dass ich den Namen, den ich trage, als meinen wirklichen Namen ansehe. Im wortwörtlichen Sinn.“ Er kultiviert das Gefühl, von niemandem abzustammen und zu niemandem zu gehören, auch zur eigenen Mutter nicht, denn es ist ihr Name, den er dauerhaft ablegt.

BRIGITTE SEEBACHER

Das Bild von Brandt, das hierzulande bis heute sorg- die Politik der Annäherung an den Ostblock auch im fältig gepflegt wird, zeigt einen von äußeren Einflüs- amerikanischen Auftrag begonnen? Die USA hätten auf sen unabhängigen Staatsmann – und keinen Politiker, Moskau nicht ohne Weiteres zugehen können – Brandt der sich von ausländischen Geheimdiensten bezahlen konnte es. Lieferte der deutsche Bundeskanzler hier sein lässt. Genau dies aber tat Brandt. Die SPD ist entsetzt: Meisterstück als Einflussagent Washingtons? Wurde im Lichthof ihrer Zentrale in Berlin, die auch noch sein Kniefall in Warschau, den er als „spontan“ beschrie- „Willy-Brandt-Haus“ heißt, steht die überlebensgroße ben hatte, als PR-Maßnahme in Washington ersonnen? Skulptur eines CIA-Agenten. Die energischen, ja teils Wie sich das Bild im Licht der empfangenen Gelder doch unhöflichen Versuche des Abwiegelns um jeden Preis ändert! Konnte Günter Guillaume in Brandts Umfeld beweisen, wie groß der Schaden, den über 300.000 platziert werden, weil hier eine große Agentengeschich- geheim an den Namensgeber des Hauses gezahlte te, ein Wettlauf zwischen Ost und West, im Bonner D-Mark angerichtet haben, für die gesamte Sozialde- Kanzleramt lief? Die Frage ist rein hypothetisch, aber mokratie ist. Denn nun kommt heraus, wie wenig es reizvoll: Wurde der Top-Spion Guillaume aus Ostberlin Brandt in Wirklichkeit wohl um die Interessen derer, – natürlich im Auftrag Moskaus – darauf angesetzt, den die ihn gewählt hatten, ging. Auch 1969, als er Bundes- Top-Einflussagenten der Amerikaner, Brandt, aus dem kanzler wurde. Bonner Kanzlersessel zu kippen?

Die Gedanken gehen nun weiter. Brandt begann sofort Für die deutsche Sozialdemokratie ist sie wirklich nach seiner Wahl eine Politik der Aussöhnung mit den schrecklich desillusionierend, die Geschichte von Willy Russen. Natürlich wussten das die Stellen in der CIA, Brandt, den geheimen 306.500 D-Mark und den vielen die ihn schon 1950 bezahlt hatten, genauestens. Hat er verdächtig guten Freunden in Washington. Fotos: © Bundesarchiv Fotos: Welt Die © bei Springer, Seebacher-Brandt, Brigitte 22 THE EUROPEAN THE EUROPEAN 23 Völker- wanderung und Europa

Christian Lindner 24 Politiker und Vorsitzender der FDP

Wolfram Weimer 28 Verleger und Herausgeber

Ulrich Berls 30 Journalist und Buchautor

Sebastian Kurz 34 Außenminister Österreichs und Spitzenpolitiker der ÖVP

Michael Lausberg 36 Philosoph und Schriftsteller Grenzen aufreißen

THE EUROPEAN THE ist humanitärer Narzissmus

Interview mit dem FDP-Vorsitzenden Christian Lindner Ein entscheidender Fehler war, dass der Eindruck er- weckt wurde, es gebe keinerlei Regeln für Zuwande- Sie haben gesagt, „die Erwartungen an Merkel waren hoch rung nach Deutschland und das Asylrecht sei eine Art und wurden enttäuscht“. Was macht Merkel falsch, ist sie allgemeiner Einwanderungsparagraf. Deutschland hätte derzeit die falsche Bundeskanzlerin? Die Mehrheit der sich frühzeitig auf europäischer Ebene dafür einsetzen Deutschen ist mit dem Kurs aus Berlin nicht mehr zufrie- müssen, dass man das Modell des humanitären Schut- den – „Schaffen wir das“ trotzdem? zes anwendet. Darüber hätten wir sehr schnell und un- bürokratisch Flüchtlingen Schutz gewähren können, Die Bundeskanzlerin selbst hat ja in den vergangenen aber eben nur für die Zeit, solange die Fluchtursache Monaten ihre Position verändern müssen. Sie sagt anhält. Das hätte die Überlastung des Bundesamts für zwar noch: Wir schaffen das. Aber sie hat gemerkt, Migration verhindert, da kein individueller Antrag mehr dass wir das so nicht schaffen. Ihr Handeln ist zum nötig gewesen wäre und man klare Regeln gehabt hätte. Glück schon weiter als ihre Rhetorik. Erstens ist es Diesen Fehler laste ich der Regierung an. Übrigens: Der jetzt nötig, dass Europa einen eigenen Grenzschutz Umgang mit einem Flüchtlingsstrom ist Deutschland in bekommt. Die Agentur Frontex sollte zu einer Be- den 1990er-Jahren bei den Flüchtlingen aus dem Koso- hörde mit hoheitlichen Befugnissen und hinreichend vo besser gelungen. Allerdings hat auch damals ein Ein- Personal aufgewertet werden. Zweitens ist die Große wanderungsgesetz gefehlt, das denjenigen, die sich gut Koalition nicht in der Lage, ein vernünftiges Einwan- integriert hatten, eine Bleibeperspektive eröffnet hätte. derungsgesetz vorzulegen. Das ist überfällig! Es muss Die mussten alle ausreisen, obwohl wir viele davon ge- unterscheiden zwischen Flüchtlingen, mit denen wir braucht hätten. solidarisch sind, solange sie in ihrer Heimat bedroht sind. Aber danach muss die Ausreise die Regel sein. Immer noch sind Millionen Menschen auf der Flucht, ge- Die andere Gruppe sind Migranten, die ihr Glück bei schätzte 65 Millionen sind heimatlos. Der Run auf Europa uns suchen wollen. Hier müssen wir genau auswäh- ist derzeit gebremst, doch was ist, wenn die Türkei aus dem len, wen wir in unseren Arbeitsmarkt einladen und brüchigen Bündnis fällt? Welche Alternative hat die FDP? bei wem wir das nicht tun können. Drittens erwarte ich, dass die Regierungen in Bund und Ländern keine Es muss deutlich werden, dass nicht jeder, der sein Glück sinnlosen Symboldebatten führen, sondern darüber sucht, es bei uns finden kann. Auch wenn wir die indi- diskutieren, wie die bestehenden Gesetze durchgesetzt viduellen Gründe verstehen. Aber dazu reichen unsere werden können. Die Sicherheitslage hat sich geändert. Möglichkeiten nicht. Offene Grenzen sind kein Ausweis Aber wir brauchen nicht neue Gesetze oder Befugnis- für Liberalität, sondern von Anarchie. Deshalb gehört zu se, sondern Polizeibehörden, die modernisiert und einem Rechtsstaat, dass er seine Souveränität über seine besser ausgestattet werden. Grenzen und darüber, wer sich innerhalb dieser aufhält, behält. Auf Europa übertragen bedeutet das den Schutz Was hätten die FDP und Christian Lindner bei der Flücht- der Außengrenzen als Voraussetzung dafür, dass Euro- lingskrise anders gemacht? pa im Inneren auf Grenzen verzichten kann. Der Schutz 24 THE EUROPEAN 25

der Außengrenzen ist für einen Rechtsstaat unersetzlich. mals liberale Innenminister, die das Bundeskriminalamt Ich halte es für eine Kapitulation, wenn zeitweise gesagt zur modernsten Behörde der Welt gemacht haben. Ein wurde, dass es im Zeitalter der Globalisierung eine Illusi- solchen Kraftakt brauchen wir jetzt wieder. Eine Stär- on sei, Grenzen schützen zu können. Der Schutz ist eine kung unserer Sicherheitsbehörden, um die Wehrhaftig- Notwendigkeit in unserem wohlverstandenen Eigeninte- keit des liberalen Rechtsstaates zu gewährleisten. Wenn resse. Alles andere ist ein humanitärer Narzissmus, eine wir unsere Liberalität aufgeben, wenn wir uns geradezu Gesinnungsethik, die blind gegenüber den konkreten selbst radikalisieren, dann haben die Terroristen ihr Ziel Folgen des politischen Handelns geworden ist. Was wir erreicht. Die wollen, dass wir unsere Werte infrage stel- dagegen brauchen ist eine Verantwortungsethik, die hu- len und über den Haufen werfen. Genau das dürfen wir manitäre Verantwortung wahrnimmt, aber auch die Fol- nicht tun. Aber im Konkreten müssen wir richtig han- gen auf unsere europäische Gesellschaft achtet. deln, also etwa das Vorfeld des islamistischen Terrors bekämpfen. Wenn Salafisten in Deutschland bei großen War Merkels Erdogan-Deal falsch? Wieso verhandeln auf- Festen ihren Nachwuchs rekrutieren oder wenn Rück- geklärte Europäer überhaupt mit islamischen Despoten? kehrer aus Syrien wieder nach Deutschland kommen, Gehört die Türkei in die EU? kann der Rechtsstaat nicht tatenlos bleiben.

Es war falsch, sich einseitig bei der Bewältigung der Wie beurteilen Sie die rot-grünen Forderungen, den Islam Flüchtlingskrise ausgerechnet auf Herrn Erdogan zu mehr in Deutschland zu integrieren? verlassen. Das hat Deutschland vom Goodwill eines tür- kischen Autokraten abhängig gemacht. Und das spüren Wir sind ein Land der Freiheit, auch der Religionsfrei- wir jetzt. Die innere Entwicklung der Türkei hat uns seit heit. Um es mit den Worten Friedrichs des Großen zu vielen Jahren besorgt. Die FDP hatte schon vor den ak- sagen: Jeder soll hier nach seiner Fasson selig werden. tuellen Ereignissen dafür plädiert, die Beitrittsgespräche Aber wenn wir die private Religionsausübung schüt- zu beenden. Und diese haben mittlerweile einen Zombi- zen, so müssen sich Religionen dennoch Fragen stellen echarakter angenommen. In Europa kann kein Land auf- lassen. So wie sich die katholische Kirche von ihrer Ge- genommen werden, das zentrale schichte bis zur Gegenwart kriti- europäische Werte nicht achtet – sche Fragen zu ihren Glaubens- und das nicht erst seit der Debatte inhalten gefallen lassen musste, über die Einführung der Todes- Deutschland so ist das beim Islam gleichfalls strafe. Man kann mit der Türkei macht sich von notwendig. Die Aufgabe der irgendwann einmal wieder über Muslime ist es, für eine religiö- die Liberalisierung des Handels Erdogan abhängig se Praxis zu sorgen, die zum 21. sprechen. Gegenwärtig sehe ich Jahrhundert passt. Dazu gehören dafür keine Voraussetzung. Euro- kritische Fragen wie zur Mission, pa darf nicht wieder das Schema der vergangenen Jahre zur Rolle der Frau in der Gesellschaft, zur Akzeptanz wiederholen, dass unsere Werte immer wieder relativiert anderer Glaubensüberzeugungen und unseren bürger- und verwässert werden. Genau das gäbe den Gegnern lichen Normen. Die Rede, dass der Islam einfach da sei der europäischen Idee immer neue Argumente an die und schon deshalb zu uns gehört, passt nicht zur Tra- Hand, wie sie das Fundament des großartigen Projekts dition unserer liberalen Bürgergesellschaft. Denn deren unterspülen könnten. Werte, Spielregeln zu akzeptieren, ist auch die Anfor- derung an die Religionen. Integration ist zuerst eine Die Angst vor dem Terror geht um – wahrscheinlich ist das Leistung, die wir erwarten. Wenn rot-grüne Politiker erst der Anfang einer Kette von Gewalt, die in den nächs- daher betonen, wir sollen den Islam integrieren, dann ten Jahren weiter an Explosionskraft gewinnen wird. Die würde ich umgekehrt sagen: Der Islam soll sich in unse- USA warnen bereits vor Reisen in die Bundesrepublik. Wie re westlich geprägte, aufgeklärte Gegenwart integrieren werden wir dieser neuen Unübersichtlichkeit wieder Herr? – und dafür wird er sich teilweise verändern müssen.

Es gibt keine Patentrezepte oder einfachen Lösungen. Deutschland polarisiert sich immer mehr, sowohl nach Sie haben selbst das Wort Unübersichtlichkeit ge- links- als auch nach rechtsaußen. Berlin fährt nach wie vor braucht. Umso wichtiger ist es, dass wir jetzt die Nerven eine Politik auf Sicht. Politik- und Politikerverdrossenheit behalten. Wir haben die Bedrohung durch die RAF im sind die Folge. Haben wir nur noch Politiker, die das Eige- deutschen Herbst überstanden, ohne dass Deutschland ninteresse höher als das gesellschaftliche Gemeinwohl und seinen liberalen Charakter verloren hat. Es waren da- Interesse stellen? THE EUROPEAN THE der deutschen und europäischen Wirtschaftspolitik? Die FDP ist die Partei des wirtschaftlichen Liberalismus, hat sie mit diesem Konzept überhaupt noch eine Chance?

Aufgabe der Politik wäre es, dem Einzelnen die Chance zu geben, groß zu werden. Wir erleben aber das Gegen- teil. Eine Politik, in der der Einzelne kleingemacht wird: Das würde ich so nicht sagen. Wenn es Parteien gibt, die bürokratisiert, bevormundet und abkassiert. Den Men- das Eigeninteresse voranstellen, dann sind das Gruppie- schen aus der Mittelschicht unserer Gesellschaft wird es rungen wie die AfD, die in den Parlamenten keine Kon- immer schwerer gemacht, sich etwas aufzubauen. Eine zepte oder Lösungen einbringen wollen, sondern sich nur Steuerreform, die diesen Namen wert wäre, ist über- mit sich selbst beschäftigen oder Ängste schüren. Das fällig. Die kalte Progression ist eine himmelschreiende grundlegende Problem sehe ich an einer anderen Stelle: Ungerechtigkeit. Und beim Soli steht die gesamte Politik Nämlich dass der Deutsche Bundestag gegenwärtig nur im Wort, dass er mit dem Ende des Solidarpakts auch eine Versammlung der verschiedenfarbigen Sozialdemo- wieder abgeschafft wird. Die FDP hatte in ihrer Zeit bis kratie ist. Der Bundestag repräsentiert das deutsche Volk 2013 ihre Ziele in diesen Bereichen nicht erreicht. Aber links von seiner Mehrheit. Und wir werden auch links das heißt nicht, dass sie dadurch falsch geworden sind – regiert. Wenn Wolfgang Schäuble jetzt dafür sorgt, dass im Gegenteil: Sie sind noch dringender geworden. Wir die Defizitsünder Spanien und Portugal keine Sanktionen brauchen weniger Bürokratismus, weniger Umvertei- mehr zu fürchten haben und damit der Stabilitätsgedan- lung zwischen privat und Staat aus den privaten Kassen ke getötet wird, dann müsste es einen Aufschrei der Op- in die öffentlichen. Sondern mehr finanziellen Spiel- position im Deutschen Bundestag und des sogenannten raum bei den Menschen, insbesondere bei denen, die Wirtschaftsflügels der CDU geben – aber sie bleiben aus. jetzt schon sehr stark von sozialen Abgaben und Steuern Und das spiegelt das gegenwärtige Problem wider, dass in Anspruch genommen sind. die Vielfalt der Meinungen der Gesellschaft, auch des bür- gerlich seriösen Spektrums, nicht mehr gewährleistet ist. Mit Blick auf die Bundestagswahl 2017 – was steht auf der Hier muss sich etwas verändern, und das ist die starke Agenda und mit welcher Partei können Sie sich eine Koa- Motivation bei der Erneuerung der FDP. lition vorstellen?

Sie haben gegenüber dem „Handelsblatt“ von einer Kon- Wir gehen eigenständig in die Wahl, mit klaren Pro- zeptlosigkeit der AfD gesprochen. Dennoch befindet sich jekten. Dazu gehört auch eine Entlastung der Mitte die AfD im Aufwind und verändert das politische Klima. und eine Vereinfachung des Steuerrechts. Deutschland Also hat sie doch Potenzial? braucht einen Modernisierungsschub: Mehr Investiti- onen in Bildung und Forschung, den Ausbau digitaler Ich nehme die Wähler der AfD ernst und schreibe ihnen Netze und unserer Infrastruktur, ein Einwanderungsge- auch ihre politischen Positionen zu: NATO auflösen, Eu- setz mit klaren Regeln – das ist eine gestalterische Auf- ropa zerstören sowie ihre völkischen und rassistischen gabe. Wir müssen eine Politik machen, die ein Update Äußerungen über Minderheiten. Das alles sind Inhalte, für unser Land ist, anstatt den Status quo zu verwalten die nicht den Geist des Grundgesetzes repräsentieren, und sich in ihn zu verlieben. 2017 werden wir sehen, sondern Deutschland schwach machen. Ich glaube auch welche Nähen und Distanzen es zu unseren geschätz- nicht, dass sich unter den Wählern der AfD noch viele ten Wettbewerbern gibt. Wir müssen nicht um jeden bürgerliche Menschen befinden, sondern dass aus ihr Preis regieren. Auch Opposition ist eine wichtige und eine radikale Partei geworden ist, wie wir sie leider in vie- ernsthafte Aufgabe, wenn es keine Möglichkeiten gibt, len Ländern Europas finden. die eigenen Projekte in die Regierungsverantwortung zu bringen. Arm und Reich driften auseinander, der Mittelstand verschwindet – auch in Deutschland. Was läuft falsch in Das Gespräch führte Stefan Groß . 26

„Wie schön,

THE EUROPEAN THE ein Märtyrer zu sein“

Die Türkei hat 1.000 staatlich bezahlte Prediger nach Deutschland geschickt und baut serienweise Moscheen. Erdogan investiert in die offene Islamisierung Deutschlands. In Comics werden dabei Kinder schon mal zum Märtyrertod animiert.

Von Wolfram Weimer sterben. Der Vater sagt: „Wie schön, ein Märtyrer zu sein!“ Daraufhin fragt ihn sein Sohn: „Willst du ein Erdogan hatte es martialisch angekündigt: „Die Mo- Märtyrer sein?“ und erhält als Antwort: „Natürlich scheen sind unsere Kasernen, die Kuppeln unsere will ich ein Märtyrer sein. Wer will nicht in den Him- Helme, die Minarette unsere Bajonette und die Gläu- mel?“ An anderer Stelle heißt es: „Märtyrer sind im bigen sind unsere Soldaten.“ Der türkische Staat- Himmel so glücklich, dass sie zehnmal Märtyrer sein spräsident verfolgt seit langem eine missionarische wollen.“ Oder: „Ich wünschte, ich könnte auch ein Großstrategie zur islamischen Expansion – zunächst Märtyrer sein.“ An anderer Stelle sagt ein Mädchen: innerhalb der Türkei, zusehends aber auch im Aus- „Ich wünschte, ich könnte Märtyrer sein.“ Darauf ant- land. Daher investiert die Türkei systematisch auch in wortet die Mutter: Wenn du es dir genug ersehnst, die Missionierung Deutschlands. Über die staatliche dann wird Allah dir die Gelegenheit geben.“ Religionsbehörde Diyanet und ihren Deutschland-Ab- Den Diyanet-Comic kommentiert „Cumhuriyet“ so: leger Ditib soll die Islamisierung generalstabsmäßig „Religiosität ist in den letzten Jahren buchstäblich zu organisiert werden. Neben dem flächendeckenden einem politischen Werkzeug geworden. Sie verstecken Bau von Moscheen und Gebetsräumen schickt Anka- es noch nicht einmal“, zitiert die Zeitung den Psycho- ra – über Staatsmittel finanziert – inzwischen auch logen und Erdogan-Kritiker Serdar Degirmencioglu. offiziell rund 1.000 Imame in deutsche Moscheen. Das Religionsministerium werde mit immer mehr Sie fungieren in vielen deutschen Gemeinden als Geld ausgestattet. „Sie wollen mit den Zeichnungen Prediger und Seelsorger, aber eben auch als politi- Kindern die Botschaft des Märtyrertums vermitteln“, sche Agitatoren Erdogans. Sie bleiben in der Regel warnt Degirmencioglu. „Die Kinder werden erwach- nur wenige Jahre in Deutschland, sprechen schlecht sen und sie werden in den Tod rennen, wenn diejeni- Deutsch und verbreiten eine orthodox-sunnitische, gen, die an der Macht sind, es ihnen sagen.“ osmanisch-repressive Religionsauffassung und schü- Die Warnungen der Sicherheitsbehörden haben nun ren zuweilen Antisemitismus. Von Verfassungs- auch die deutsche Politik alarmiert. Aus mehreren schutzämtern häufen sich Berichte über politische Parteien wird die Forderung laut, die Finanzierung Agitationen in Ditib-Moscheen und die Bildung von von Moscheen aus dem Ausland zu stoppen. Der Grü- Sympathisantenszenen radikaler Islamisten. nen-Vorsitzende Cem Özdemir sagte der „Welt am Nun sorgt ein Kinder-Comic von Diyanet für Aufre- Sonntag“, in Ditib-Moscheen gebe es zwar viele enga- gung. Die von den obersten Religionshütern veröf- gierte Gemeindemitglieder, die „tolle Arbeit“ leisteten. fentlichen, bunten Zeichnungen verherrlichen den Der Dachverband selbst aber sei der verlängerte Arm Märtyrertod, wie die türkische Zeitung „Cumhuriyet“ des türkischen Staates. Ankara mache Ditib immer berichtet. In der Bildergeschichte mit der Botschaft mehr zu einer politischen Vorfeldorganisation der „Möge Gott unsere Märtyrer segnen, mögen ihre regierenden AKP. Er forderte: „Die Türkei muss die Gräber mit heiligem Licht erfüllt werden“, die sich Muslime endlich freigeben.“ an Kinder richtet, schildert ein Vater seinem Sohn, CDU-Fraktionschef Volker Kauder kritisiert in ei- wie ehrenvoll es sei, für seine Überzeugungen zu nem Interview mit der „Berliner Zeitung“, dass 28 THE EUROPEAN 29

in einigen Moscheen Predigten gehalten würden, Land verlassen. die mit dem deutschen Staatsverständnis nicht Diyanet dürfte sich davon kaum beeindrucken las- vereinbar seien. Bayerns Innenminister Joachim sen. Die Behörde ist dem türkischen Ministerprä- Herrmann bezeichnete die Entsendung der Ima- sidenten in Ankara direkt unterstellt, verfügt über me als „nicht akzeptabel“. CSU-Generalsekre- einen sprunghaft gestiegenen Milliardenetat, lässt tär Andreas Scheuer sagte, die Finanzierung von fleißig Moscheen bauen und beschäftigt mehr als Moscheen oder islamischen Kindergärten aus 100.000 Mitarbeiter des Glaubens, die man ge- dem Ausland, etwa aus der Türkei oder aus Sau- schickt hin und her versetzt. Für Erdogan sind Diya- di-Arabien müsse beendet werden. Die Nähe von net und Ditib erklärte Waffen in seinem Kampf für Ditib zu Erdogan sei bedenklich, denn die Erdo- die Islamisierung. gan-Türkei entferne sich immer weiter von den Grundwerten des aufgeklärten Europas, sagte Scheu- er. Die Bürgermeisterin von Berlin-Neukölln, Fran- ziska Giffey (SPD) warnt ebenfalls davor, „wenn Mo- scheevereine fremdgesteuert sind und dort Imame DR. WOLFRAM WEIMER IST VERLEGER UND HER- predigen, die nicht nach dem deutschen Wertever- AUSGEBER DER ZEITSCHRIFT „THE EUROPEAN“. ER ständnis ausgebildet und nicht hier aufgewachsen WAR CHEFREDAKTEUR DER TAGESZEITUNG „DIE sind“. Österreich geht mittlerweile gegen derartige WELT“ UND DER „BERLINER MORGENPOST“ SOWIE Unterwanderungen mit dem neuen Islamgesetz vor. DES MAGAZINS „FOCUS“. 2004 GRÜNDETE WEIMER Aus dem Ausland finanzierte Imame müssen das DAS MAGAZIN „CICERO“ . 30 THE EUROPEAN THE EUROPEAN 31

Das Ende der Schönwetterdemokratie

Unser EU-Partner, das Vereinigte Königreich, erklärt den Brexit und unser NATO-Partner Tür- kei ist auf dem Weg zur Gleichschaltung des Landes. Terror gibt es nicht nur in Frankreich, sondern auch in Franken, Amokläufe nicht nur in Orlando, sondern auch in München. Unsere vertraute Welt gerät ins Wanken. Jetzt wäre politische Führung gefordert, aber wo ist sie?

Von Ulrich Berls gemacht wurde. Da schlägt jemand mit einer Axt Men- schen ins Gesicht und eine deutsche Spitzenpolitikerin Entsinnt sich noch jemand, als hierzulande die Auto- sorgt sich erst einmal um den Täter. In Künasts Reaktion bahnmaut oder der Protzbischof von Limburg Aufre- kommt ein struktureller Pazifismus zum Ausdruck, der gerthemen waren? Nur wenige Jährchen ist das her. längst weite Teile der Gesellschaft erfasst hat. Für den Die vielen schlechten Nachrichten unserer Tage haben kläglichen Zustand der Bundeswehr interessieren sich bei analytischem Blick inhaltlich wenig miteinander die Deutschen beispielsweise fast nur noch, wenn unter zu tun, gleichwohl verschmelzen sie, denn eine starke, der Überschrift Geldverschwendung etwas skandalisiert allgemeine Verunsicherung breitet sich aus. Wenn im wird, unter dem Rubrum Verteidigungsfähigkeit ist er Makrokosmos unsere Bündnissysteme bröckeln und jedoch selten ein öffentliches Thema. Am liebsten sähen im tagtäglichen Mikrokosmos unsere Straßen und Ver- viele in der Bundeswehr eh nur ein zweites THW, das sammlungsorte als nicht mehr sicher empfunden wer- weltweit Brunnen bohrt. den, darf das niemanden verwundern. Anders als etwa in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren, als die Internationaler Scherbenhaufen Generation Helmut Schmidt unmissverständlich im Inneren dem Terrorismus und im Äußeren dem Tota- Sicherheit ist das Thema der Stunde und das gilt auf allen litarismus die Stirn boten, beherrschen jedoch in der Ebenen des Politischen. Der Brexit kommt einer europä- Generation Angela Merkel Appeasement und Kulturre- ischen Krebsdiagnose gleich. Natürlich muss man jetzt lativismus die Szene. die Metastasen fürchten. Wie geht es in den Niederlan- den, Ungarn, Finnland, Österreich weiter? Und im kom- Beschwichtigung menden April wählt das krisengeschüttelte Frankreich. Sollte Madame Le Pen den Élysée--Palast erstürmen, Am Abend nach der Axtattacke eines Asylbewerbers bei dann können wir uns die langjährigen Austrittsverhand- Würzburg fragt die Moderatorin des „heute-journal“ den lungen mit den Briten sparen, dann implodiert die EU Kanzleramtsminister Peter Altmaier, ob die Kritik der ganz von alleine. Ausländerpolitik war das beherrschen- CSU an der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin vielleicht de Thema beim Brexit. Den Ausschlag contra Europa ga- nicht doch berechtigt sein könnte. Altmaier verneint das ben zum einen die EU-Binnenwanderung, zum andern mit der Standardantwort, Deutschland dürfe sich doch die Fassungslosigkeit vieler Briten über die Kontrollver- nicht abschotten, und fügt hinzu, dass wir beispielsweise luste auf dem Kontinent, speziell in Deutschland, das auf internationalen Studentenaustausch nicht verzich- doch einstmals als so wohlorganisiert galt. ten könnten. Studentenaustausch? Wovon spricht der Auch auf der anderen Großbaustelle der deutschen Au- Mann? Wer hat denn etwas gegen Austauschstudenten? ßenpolitik brennt es lichterloh: Erdogans Gegenputsch Bereits einige Stunden zuvor hatte die Möchtegern-Jus- in der Türkei, der so fatal an die Ereignisse des deut- tizministerin einer zukünftigen rot-rot-grünen Bundes- schen Reichstagsbrands von 1933 erinnert, zeigt, wie regierung Renate Künast kritisch gefragt, warum der fahrlässig es war, das Ventil für die neue Völkerwande- Angreifer gleich erschossen und nicht nur kampfunfähig rung einem zwielichtigen Autokraten in die Hand zu geben, anstatt Mut und Kraft aufzubringen, die Gren- die Staatskassen randvoll und mit Geld lassen sich viele, zen selber zu schützen. wenngleich nicht alle Politikfehler abmildern. Zweitens ist die Alternative rechts von der Union keine Alternati- Alteingesessene und Neubürger ve. Der AfD gelingt es nicht, sich von den Reaktionären und Dumpfbacken in den eigenen Reihen zu befreien, Ob mittelbar oder unmittelbar, alles dreht sich seit Mona- sie bleibt eine Ansammlung von Politdilettanten. Das THE EUROPEAN THE ten um die sogenannte Flüchtlingskrise, die in Wahrheit wäre übrigens schnell anders, wenn da doch noch ein ja eine Migrationskrise ist. Die Richtlinienkompetenz deutscher Geert Wilders, ein deutscher Jörg Haider, eine im Kernland des Kontinents liegt in den Händen einer deutsche Marine Le Pen auftauchen würde. Politikerin, bei der man gelegentlich in Zweifel gerät, ob sie Text und Inhalt ihres Amtseids tatsächlich interna- Interessenpolitik lisiert hat. Der Kompass in der Welt der Angela Merkel scheint Kulturrelativismus zu sein. In einem bemer- Man muss nicht so weit gehen wie der Papst und gleich kenswerten Auftritt im schweizerischen Bern im Sep- vom Dritten Weltkrieg sprechen. Aber unser deutsches tember 2015 verneinte die Kanzlerin die besorgte Frage Wolkenkuckucksheim, das ist nun wirklich abgebrannt. einer Bürgerin, ob der Zustrom so vieler muslimischer In Zeiten wie diesen wollen die Bürger politische Füh- Migranten nicht Gefahren berge, mit dem Argument, rung. Und Angela Merkel kennt sich ja aus mit kippen- die Deutschen hätten schließlich keinerlei Grund zu den Stimmungen. Als die deutsche Bevölkerung auf „Hochmut“ gegenüber dem isla- das Reaktorunglück von Fukus- mischen Kulturraum, schließlich hima mit der sprichwörtlichen sei die deutsche Geschichte doch „German Angst“ reagierte, warf voll von negativen Ereignissen. Man muss nicht so die Kanzlerin innerhalb weniger Und in ihrer Neujahrsansprache Tage 50 Jahre Atompolitik ihrer sagte sie, Deutschland dürfe sich weit gehen wie der Partei über den Haufen und ver- nicht spalten lassen in „Altein- kündete eine radikale Energie- gesessene und Neubürger“. „Alt- Papst und gleich wende. Nach ähnlichem Muster eingesessene“ hat ein deutscher vom Dritten hätte sie jetzt bei ihrer Sommer- Kanzler seine Landsleute noch pressekonferenz eine Migrati- nie genannt. Mit der häufigen Weltkrieg sprechen onswende verkünden müssen. Beschwörung der dunklen Seiten Die Begründung wäre einfach ge- der deutschen Geschichte und wesen: Die meisten EU-Partner der Dauerangst, nationalistisch haben die Deutschen bei der Ver- zu scheinen, hat sich mit der Generation Angela Merkel teilung der Menschen im Stich gelassen und dem Tür- in der CDU eine Werthaltung breitgemacht, die früher steher Erdogan ist auch nicht länger zu trauen. Doch sie nur bei der politischen Linken üblich war: negativer Pa- hat ihre Chance nicht genutzt und will trotzig bei ihrer triotismus. Flüchtlingspolitik bleiben. Die Deutschen werden sich freilich nicht länger mit Schere im Kopf einem verschwiemelten „Wir schaffen das“ abspeisen lassen. Anstelle von Gefühlspolitik mit „freundlichem Links von der Union, sofern die Ortsangabe überhaupt Gesicht“ erwarten sie entscheidungssichere Führung noch etwas besagt, bei SPD und Linkspartei, vor allem mit kühlem Kopf. Sie erwarten eine Rückkehr zu einer aber bei den Grünen geht seit Jahren gedanklich alles eh Realpolitik im Interesse des eigenen Landes. Schönwet- drunter und drüber. Die hypochondrische Angst, einem terdemokratie kann jeder, doch jetzt kommt die Bewäh- „rassistischen“ Impuls nachzugeben, treibt die seltsams- rung. Schlechtwetterdemokratie haben die Deutschen ten Blüten: Verfechter der Frauenemanzipation sehen erst einmal erlebt, das war in Weimar, und das ging be- über die Misogynie des Islam hinweg, Sympathisanten kanntlich schief. der Schwulen- und Lesbenbewegung ignorieren die Ho- mophobie im Koran und gestandene Antifaschisten ver- niedlichen die faschistoiden Elemente des politischen Is- lam. In einem Milieu, in dem gendersensibles Sprechen DER JOURNALIST ULRICH BERLS LEITETE VON 2005 Richtschnur des Alltags ist, verstellt die Furcht, womög- BIS 2015 DAS ZDF-STUDIO BAYERN. IM JAHR 2013 ER- lich das Falsche zu sagen, den Blick auf die Realitäten. SCHIEN SEIN BUCH „BAYERN WEG, ALLES WEG. WA- Noch ist Merkel eine Kanzlerin im Glück: Erstens sind RUM DIE CSU ZUM REGIEREN VERDAMMT IST“. 32 DIE WELT Edition. Digitale Zeitung.

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DW_B2C_15_069_AZ_Kampagne_eDITION_210x280mm.indd 1 19.05.16 12:09 Die Willkommenspolitik

THE EUROPEAN THE war scheinheilig und ein Fehler

Von Sebastian Kurz Wozu hat es geführt? Zu einem Stück weit mehr Normalität und zu einer Reduktion der Zahl der Men- Bei der Flüchtlingskrise haben viele in Europa eine schen, die über diese Westbalkanroute nach Mitteleu- offene Debatte gefürchtet und geglaubt, wenn man ropa strömen. möglichst fest den Deckel auf den Topf drückt, dann wird die Situation besser. Ich glaube, das Gegenteil Ich glaube, wenn wir über die Flüchtlingskrise reden, ist der Fall: Wir brauchen die offene Diskussion dann sollten wir ganz offen zugeben, dass vieles, was gerade zu Themen, wo die Menschen ganz unter- im letzten Jahr passiert ist, der falsche Zugang im Um- schiedlicher Meinung sind, und wir sollten uns vor gang mit dieser Krise war. Ja, wir haben richtigerweise dieser zugespitzten Debatte auch nicht fürchten! geholfen. Aber die Offenheit, die Europa ausgestrahlt hat, hat auch dazu geführt, dass sich immer noch mehr Ich kann mich gut erinnern, als vor ungefähr einem Menschen auf den Weg gemacht haben. Es hat dazu Jahr im Sommer die damalige Innenministerin, Jo- geführt, dass Schlepper mehr und mehr Geld verdient hanna Mikl-Leitner, und ich haben, und je mehr Menschen das erste Mal in Österreich ge- Wenn wir glauben, sich auf den Weg machen, desto wagt haben zu sagen, dass die mehr ertrinken im Mittelmeer – Willkommenskultur, die Einla- dass der Migrations- auch das müssen wir offen aus- dungspolitik, die unbegrenzte sprechen. Aufnahme von Flüchtlingen druck weniger wird, in Österreich uns schon bald dann haben wir uns Als ich vor einigen Tagen gesagt überfordern wird und wir uns habe, dass wir Grundprinzipien Gedanken machen müssen, getäuscht des australischen Modells über- wie wir mit dieser Frage umge- nehmen sollten als Europäische hen. Wir wurden dafür massiv gescholten und sofort Union und dass wir uns umschauen sollten, wo es ge- in ein rechtes Eck gedrängt. lungen ist, in Australien, in Spanien und anderswo auf der Welt, Migrationsströme unter Kontrolle zu bringen, Als wir vor einem halben Jahr darüber nachgedacht wurde ich einmal mehr stark dafür gescholten. haben, mit unseren Freunden entlang der Westbal- kanroute die Route zu schließen und wieder Norma- Aber die Wahrheit ist doch, dass wir in Europa nicht bes- lität herzustellen, sind wir in Europa breit kritisiert ser sind als Australien, sondern wir sind in vielen Fra- worden für diesen, aus meiner Sicht notwendigen gen nur scheinheiliger als Australien. Wir haben keine Schritt. Der Aufschrei war groß, aber eine Woche oder nur kaum legale Wege nach Europa, wir könnten später schon wurde dieser Schritt nicht nur Rea- viel mehr erreichen mit einer stärkeren humanitären lität, sondern in Brüssel von allen 28 Staats- und Hilfe vor Ort, und wir sehen zu, dass auf illegalen Rou- Regierungschefs als Linie der Europäischen Union ten Tausende Menschen sich täglich auf den Weg nach beschlossen. Europa machen und Hunderte jede Woche ertrinken. 34 THE EUROPEAN 35

Aus meiner Sicht ist es dringend notwendig, dass wir ist, wenn jemand in Lampedusa oder Sizilien an- nicht nur mit nationalen Maßnahmen in Österreich kommt. Im Moment darf er aufs Festland, anders versuchen, eine Überforderung unseres Landes zu als auf Lesbos, und viele dieser Menschen machen verhindern, sondern dass wir die illegalen Migrati- sich über den Brenner auf den Weg weiter nach Ös- onsrouten schließen und gleichzeitig legale Wege terreich, Deutschland oder Schweden. nach Europa eröffnen. Wir Staaten in Mitteleuropa sind aber – das wissen Mit Resettlement-Programmen können wir es schaf- wir seit dem letzten Jahr – mittlerweile mit der Si- fen, dass nicht Schlepper entscheiden, wer es nach tuation überfordert und insofern werden wir uns Europa schafft, sondern dass wir selbst entscheiden, auch auf Lampedusa und Sizilien die Frage stellen wer nach Europa kommen darf. Nur damit schaffen müssen, ist es wirklich richtig, dass, wenn jemand wir es auch, die Ärmsten der Armen, die Schwächs- ankommt, er automatisch weiter auf das Festland ten der Schwachen zu unterstützen und ihnen eine und dann weiter nach Mitteleuropa durchgewunken neue Perspektive in Europa zu geben. wird.

Zugleich schaffen wir es mit dem Ausbau von hu- Ich glaube nicht, dass das der richtige Weg ist. Ich manitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit, glaube, dass das zu einer Überforderung in Mittel- mit demselben Geld wesentlich mehr Menschen vor europa führt, dass das dazu führt, dass Schlepper Ort zu helfen, weil für dasselbe Geld, das wir auf- sehr viel Geld verdienen, sich mehr und mehr Men- wenden, um einen Menschen in Mitteleuropa zu fi- schen illegal auf den Weg machen und darüber hin- nanzieren, wir etwa im Libanon 20 Menschen finan- aus noch jede Woche Hunderte ertrinken. zieren können, von Afrika gar nicht zu sprechen. Wer glaubt, dass das, was wir letztes Jahr erlebt ha- Ich glaube, dass wir zu einem Weg finden müssen, ben, die große Flüchtlingskrise der Europäischen um Folgendes klarzustellen: Wer sich illegal auf den Union war, der hat sich aus meiner Sicht getäuscht. Weg nach Europa macht, hat keine Chance auf Asyl Wir haben in Afrika nicht nur wesentlich schlechte- in Europa. Wir müssen ihm Sicherheit gewähren, re Lebensbedingungen als in Mitteleuropa, sondern weil er aus einem Kriegsgebiet kommt, aber wir müs- wir haben dort auch eine extrem stark wachsende sen mit Staaten in Afrika, in der arabischen Welt ko- Bevölkerung – eine Milliarde im Moment, zwei Mil- operieren und die Möglichkeit in Erwägung ziehen, liarden in 20 Jahren und Ende des Jahrhunderts al- in sichere Flüchtlingszentren, Schutzzonen oder an- ler Voraussicht nach vier Milliarden. dere Gebiete diese Menschen zurückzustellen, dass sie dort die Dauer des Konflikts überstehen können. Wenn wir glauben, dass der Migrationsdruck weni- ger wird, dann haben wir uns getäuscht. Wenn wir Wir müssen auch ehrlich genug sein zu sagen, dass glauben, dass wir unser System der offenen Grenzen über 50 Prozent der Menschen, die zu uns kommen, in Europa so aufrechterhalten können, dann haben kein Recht auf Asyl im Sinne der Genfer Konvention wir uns auch getäuscht. Und wenn wir glauben, dass haben. Wenn wir sie nach Mitteleuropa weitertrans- wir nur jenen helfen sollten, die bei uns ankommen, portieren, dann werden wir uns ganz, ganz schwer und wegsehen, wenn anderswo noch viel größeres tun, sie wieder zurückzustellen. Diese Entscheidung Leid stattfindet, dann agieren wir aus meiner Sicht muss schon bei der Ankunft an der europäischen auch nicht allzu christlich. Außengrenze auf einer Insel getroffen werden, ganz gleich, ob das Lesbos oder Lampedusa ist.

Ich weiß, dass es oftmals hart ist, sich klar für den SEBASTIAN KURZ (JAHRGANG 1986) IST AUSSENMI- einen Weg zu entscheiden, aber es gibt Entschei- NISTER ÖSTERREICHS UND SPITZENPOLITIKER DER dungen, wo es nur ein „vor oder zurück“ gibt. ÖVP. DIE „FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG“ Und genauso wie heute jemand, der auf Lesbos an- BEZEICHNETE KURZ AUFGRUND SEINES JUNGEN kommt, nicht mehr automatisch weiter nach Mit- ALTERS UND WEGEN SEINER STRATEGISCHEN teleuropa darf, sondern zunächst aufgehalten und KLARHEIT ALS „JUNGEN METTERNICH“. DIESER TEXT dann in die Türkei zurückgestellt wird, genauso BASIERT AUF EINER REDE ANLÄSSLICH DES EURO- werden wir uns bald die Frage stellen müssen, was PA-FORUMS WACHAU. Migration bereichert,

THE EUROPEAN THE Abschottung ist falsch

Glaubt man den „Asylkritikern“, haben wir es in der aktuellen Flüchtlingspolitik mit einem Ausnahmezustand zu tun, dem man am besten mit Abschottungspolitik und Grenzfestungen begegnet. Das ist falsch, denn Migration ist nicht als Bedrohung zu verstehen, sondern als etwas ganz Normales und Bereicherndes.

Von Michael Lausberg Zukunft sein. Die Weltanschauung des neokonserva- tiven Politikwissenschaftlers Samuel Huntington, von Ein einheitlicher und statischer Kulturbegriff sowie dem die Theorie des „Clash of Civilizations“ stammt, die Konservierung des jeweiligen gegenwärtigen kul- die von einer homogenen Summe von Weltkulturen turellen Zustandes gab es niemals, gibt es nicht und und deren unwandelbaren Eigenschaften ausgehend wird es auch niemals geben. Zu allen Zeiten fand einen „Kampf der Kulturen“ prognostiziert, entbehrt trotz mancher spannungsreicher Kulturbegegnungen des Glaubens an universale Grundhaltungen und regi- ein interkultureller Austausch statt; die räumliche onale Verschiedenheiten. Annäherung unterschiedlicher Traditionen und Wel- tanschauungen hat für eine ständige Erneuerung und Der Philosoph Kwame Anthony Appiah stellt zu Recht Anpassung gesorgt. fest: „Eine Welt, in der sich Gemeinschaften klar ge- geneinander abgrenzen, scheint keine ernsthafte Op- Zu allen Zeiten fand ein interkultureller Austausch tion mehr zu sein, falls sie es denn jemals war. Ab- statt, der bis heute andauert und auch die Zukunft prä- trennung und Abschließung waren in unserer ständig gen wird. Die Geschichte der Ein- und Auswanderung umherreisenden Spezies schon immer etwas Anorma- nach beziehungsweise aus Deutschland zeigt eindeu- les.“ tig, dass es immer wieder eine Vermischung und Neu- schöpfung von Kultur in jeglicher Form gab – man In der Auseinandersetzung mit anderen Lebensfor- denke zum Beispiel an die Einwanderung der Huge- men und Weltbildern kommt es ganz entscheidend da- notten aus Frankreich in der frühen Neuzeit. Gerhard rauf an, die eigenen Vorstellungen zurückzunehmen, Paul bemerkt richtigerweise: „,Autochtone‘ Kulturen um die Erfahrungen anderer Kulturen im Kontext gibt es nicht. So gibt es keine reine oder ‚wahrhaft‘ ihrer eigenen Ideen zu betrachten. Im Eigenen soll- deutsche Kultur.“ Das humanistische Bemühen um te nicht länger das einzig Mögliche, das schlechthin eine der Menschenwürde und Persönlichkeitsentfal- Wahre und Notwendige gesehen werden. Es existiert tung entsprechende Gestaltung des Lebens und der eine kulturelle Pluralität, da die Welt des Menschen Gesellschaft durch Bildung und Erziehung ist für die intern vielfältig dimensioniert und ausdifferenziert ist. Gegenwart von höchst aktueller Bedeutung. Abschottung ist keine Lösung Die Bedeutung von Nationalstaaten schwindet Grenzen und Abschottung, wie nun in vielen Debatten Nationalstaaten werden in der immer weiterschreiten- der „Flüchtlingskrise“ gefordert, sind Anormales. Die den Globalisierung immer unwichtiger. Der Glaube nochmalige Verschärfung des Asylrechts ist keine Ant- an universale Werte und der Respekt vor der Verschie- wort auf weltweite Flucht- und Migrationsbewegun- denheit nichtwestlicher Weltanschauung im postnati- gen. Gerade im Zeitalter der Globalisierung ist Migra- onalen Zeitalter werden entscheidend sein für die He- tion etwas Selbstverständliches. Zu allen Zeiten fand rausbildung einer gewaltfreien und demokratischen trotz mancher spannungsreicher Kulturbegegnungen 36 THE EUROPEAN 37

ein interkultureller Austausch statt, der bis heute an- EU ist multikulturell, multiethnisch und multireligi- dauert und auch die Zukunft prägen wird. ös. Unsere Grundwerte verpflichten uns und diejeni- gen, die bei uns eine neue Heimat suchen. Besonders Flucht und Migration sind Folgeerscheinungen von schutzbedürftige Personen, wie die syrischen Flücht- Kriegen, zu deren Entstehung die Bundesrepublik und linge, sollten bereits im Libanon oder Nordafrika auf- andere westliche Staaten auch durch Waffenlieferun- genommen und auf sicheren und legalen Wegen nach gen beigetragen haben. Es gilt also auf dem Parkett der Europa gebracht werden. Sie dürfen sich nicht mehr internationalen Politik für ein Ende der Kriege oder länger in Lebensgefahr begeben, um bei uns Asyl zu wenigstens einen vorzeitigen überprüfbaren Frieden beantragen. Der aktuelle Zustrom an Flüchtlingen ist zu sorgen. die Folge dramatischer Entwicklungen in unserer Nach- barschaft. Doch die Krisen in den Herkunftsstaaten der Die Transformationsprozesse seit dem Zusammen- Flüchtlinge – wie Bürgerkriege, zerfallende Staatlich- bruch des Staatssozialismus führten dazu, dass die keit, Terrorismus oder Armut – werden wir nicht mit gesellschaftliche Wirklichkeit in der Bundesrepublik Zäunen an den Außengrenzen der EU oder Patrouillen- einer kosmopolitanen Einwanderungsgesellschaft booten im Mittelmeer lösen. Wir müssen die Fluchtur- entspricht. Durch globale Öffnungsprozesse mit al- sachen bekämpfen, nicht die Flüchtlinge!“ len ihren Vor- und Nachteilen verlieren das nationale Denken und die nationalen Grenzen zunehmend an Bedeutung zugunsten einer Weltgesellschaft. Diese DR. PHIL. MICHAEL LAUSBERG STUDIERTE PHILO- neuen Öffnungsprozesse im Zuge der Globalisierung SOPHIE, MITTLERE UND NEUERE GESCHICHTE AN etablieren einerseits neue Ungleichheiten und Macht- DEN UNIVERSITÄTEN KÖLN, AACHEN UND AMSTER- verhältnisse, was sich an dem augenblicklichen Sie- DAM. ER WURDE 2011 MIT DEM THEMA „RECHTSEX- geszug der radikalen neoliberalistischen Politik zeigt. TREMISMUS IN NORDRHEIN-WESTFALEN VON 1946 Andererseits eröffnen sich neue Chancen und Mög- lichkeiten für die Entstehung einer globalen Zivilge- BIS 1971“ VON DER RHEINISCH-WESTFÄLISCHEN sellschaft mit interkulturellem Charakter. TECHNISCHEN UNIVERSITÄT AACHEN PROMOVIERT. ER SCHRIEB UNTER ANDEREM MONOGRAFIEN ZU Die Fluchtursachen bekämpfen, nicht die KURT HAHN, ZU DEN HUGENOTTEN, ZU BAKUNIN Flüchtlinge SOWIE 2009 „KANT UND DIE ERZIEHUNG“. ZULETZT ERSCHIEN - „ANTIZIGANISMUS IN DEUTSCHLAND. Es gilt das, was Aydan Özoguz, Bundesbeauftragte für ZUWANDERUNG AUS RUMÄNIEN UND BULGARIEN“- Migration, Flüchtlinge und Integration, bemerkte: „Die BEI TECTUM, MARBURG 2015.

© Foto: Shutterstock 251596087 THE EUROPEAN THE

Plädoyer für Europa 38 THE EUROPEAN 39

Plädoyer für Europa

DREI VORSTANDSVORSITZENDE SCHREIBEN PERSÖNLICHE LIEBESERKLÄRUNGEN VON JOE KAESER, CARSTEN SPOHR, KARL-LUDWIG KLEY

Diese Beiträge erscheinen in: „Mein Europa: Sechzig biografische Streifzüge“, herausgegeben von den Baden-Badener Unternehmer Gespräche (CH. GOETZ VERLAG)

Fotos: © christophkadur – Fotolia.com Europa ist

THE EUROPEAN THE nicht auserzählt

Von Joe Kaeser Europa heute ist so sehr miteinander verflochten wie noch nie in der Geschichte. Ich erinnere mich Ich bin im Jahr 1957 geboren. Drei Monate bevor ich noch gut an die Zeiten, als ein Urlaub am Bank- zur Welt kam, wurden die Römischen Verträge der schalter begann: um D-Mark beispielsweise in Schil- europäischen Wirtschaftsgemeinschaft unterzeich- ling und Lira umzutauschen. Und wieder am Bank- net. Sie bildeten die Grundlage für die heutige Eu- schalter endete, um das nach dem Urlaub übrig ropäische Union – eine Ordnung, die immer wieder gebliebene Geld zurückzutauschen – mit gehörigen auf die Probe gestellt wurde, die aber bis heute hält. Verlusten, versteht sich. Heute können wir uns quer Die Idee, dass diejenigen, die miteinander Handel durch Europa bewegen, ohne Geld zu wechseln oder treiben und wirtschaftlich miteinander verflochten einen Personalausweis an der Grenze vorzeigen zu sind, nicht aufeinander schießen, ist so einfach wie müssen. Der freie Devisen- und Warenverkehr und bestechend. Nach den trau- Freizügigkeit sind große euro- matischen Erlebnissen zweier päische Errungenschaften. Weltkriege, die ihren Ausgang in Europa nahmen, war diese Unsere gemeinsame Währung Idee der gemeinsame Nen- hat unterm Strich mehr Vor- ner, auf den sich 1957 sechs Die europäische Inte- als Nachteile. Der Euro hat sich Nationen einigen konnten. in den Jahren der Krise gut ge- Aus sechs sind inzwischen gration mit Frieden, schlagen, allein deswegen ist es 28 Mitgliedstaaten geworden. Freiheit und Wohlstand falsch, von einer Eurokrise zu Wer hätte damals gedacht, sprechen. Dennoch gibt es in dass Deutschland vereint, der ist kein Automatismus, der Wirtschafts- und Finanzpo- Eiserne Vorhang gefallen und litik viel zu tun, um solche Kri- die Länder Mittel- und Osteu- warnt Siemens-Chef sen in Zukunft zu vermeiden. ropas integrale Bestandteile Joe Kaeser Mehr Disziplin, mehr Harmo- der EU sein würden? Das hatte nisierung, bessere Abstim- auch Folgen für meine Hei- mungs- und Ausgleichsmecha- matregion Niederbayern, die nismen sind erforderlich. an Österreich und Tschechien grenzt. Wir rückten vom Rand in die Mitte Europas. Europa ist heute ein reicher Kontinent – mit einer Die europäische Familie ist größer geworden, viel- vitalen, regional vielfältigen, aber zunehmend ge- stimmiger, bunter und lauter, bisweilen auch kom- samteuropäischen Kultur, mit einem relativ gut ver- plizierter. Wichtig ist aber vor allem eines: In der teilten Wohlstand und mit stabilen politischen und europäischen Familie wird miteinander gesprochen wirtschaftlichen Verhältnissen. Wir müssen also und – wenn auch gelegentlich unter großen Mühen Europa nicht neu erfinden. Aber wir dürfen Frie- – gemeinsam gehandelt. den und Wohlstand in Europa nicht als gottgegeben 40 THE EUROPEAN 41

ansehen. Für Europa müssen wir tagtäglich ein- stehen, auch weil wir uns im globalen Wettbewerb nur gegen die großen Wirtschaftsräume Asien und JOE KAESER, EIGENTLICH JOSEF KÄSER, WURDE Amerika behaupten können, wenn wir europäisch AM 23. JUNI 1957 IN ARNBRUCK, NIEDERBAYERN, denken und europäisch handeln. Und wenn wir uns GEBOREN. KAESER IST EIN DEUTSCHER MANAGER. wieder auf eine Wachstumsagenda besinnen wie die SEIT DEM 1. AUGUST 2013 IST ER VORSTANDSVOR- Gründerväter Europas. SITZENDER DER SIEMENS AG; ZUVOR WAR ER ÜBER Dazu gehört es auch, dass Europa eine gestaltende SIEBEN JAHRE LANG FINANZVORSTAND DIESES Rolle in der Welt einnimmt und dies nicht polari- KONZERNS. BEKANNT IST ER FÜR SEIN OFFENES sierenden Kräften überlässt. Denn globale Wettbe- UND SELBSTBEWUSSTES AUFTRETEN AUF INTER- werbsstärke, Kooperation und Integration sind die NATIONALEM PARKETT. Grundlage für unseren Erfolg und für den Wohl- stand der nachfolgenden Generationen. Das zeich- net Europa aus. Und wir alle haben es selbst in der Hand, diese Grundlage zu stärken oder wenn nötig zu verteidigen!

Europa ist eine beispiellose Erfolgsgeschichte. Noch nie haben so viele Menschen mit solch unterschied- lichen Kulturen so lange friedlich miteinander ge- lebt. Aber, wie alle guten Geschichten, hat Europa nicht nur eine lineare Handlung, sondern mehrere Erzählstränge, die über Umwege zum Ziel führen. Wichtig ist, dass wir das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Die Gründerväter, die 1957 in Rom zu- sammenkamen, formulierten in ihrem Kapitel eine Vision von einem friedlichen Europa, da sie an die einigende Kraft Europas glaubten. Von dieser Visi- on sollten auch wir uns heute leiten lassen. Dann werden wir noch zahlreiche lesenswerte Kapitel schreiben. Europa ist nicht auserzählt. Aber die europäische Integration mit Frieden, Frei- heit und Wohlstand ist auch kein Automatismus für alle Zukunft, sondern bedarf weiterhin wachen Ver- antwortungsbewusstseins und aktiver Gestaltung!

Fotos: © christophkadur – Fotolia.com Der Himmel über Europa

THE EUROPEAN THE ist nicht grenzenlos

Von Carsten Spohr schläge ungeahnten Ausmaßes hätte meine Gene- ration, die ohne Krieg in Europa aufwachsen durfte, Im persönlichen Umfeld gab es besonders ein Er- kaum mehr für möglich gehalten. Ebenso wenig wie lebnis, das mich zum begeisterten Europäer ge- eine Flüchtlingskrise, die Europa derzeit vor größte macht hat: meine erste große Abenteuerreise – mit Herausforderungen stellt. dem Interrail-Ticket quer durch Europa. Ich war 22, es gab noch keine Handys, mit denen man kurzfris- Auch ansonsten ist in Europa nicht alles eitel Son- tig Unterkünfte buchen konnte. Spontan sein, aus- nenschein. Gerade wenn ich meine Airliner-Brille steigen können dort, wo es schön ist – einen ganzen aufsetze, sehe ich einiges, was sich verbessern lie- Monat quer durch Europa fahren und immer wieder ße. Das größte EU-Projekt, das ich mir aus beruf- andere Europäer treffen; entscheiden, ob man noch licher Sicht wünschen würde, ist ohne Frage ein einen Tag in Paris bleibt oder einheitlicher Luftraum, der schon weiter nach Mailand Single European Sky (SES). fährt; ob man am Strand oder Obwohl wir schon Jahrzehn- in der Jugendherberge schläft; te darüber diskutieren, ist der jeden Tag nachzählen, ob das Lufthansa-Chef Himmel über Europa noch im- Geld noch reicht: Das war mer nicht „grenzenlos“. Wir mein erstes und vermutlich Carsten Spohr haben durch Schengen keine auch schönstes europäisches erkundete Europa in Schranken mehr am Boden, Abenteuer, das mich auch ein aber wir haben sie am Him- Stück weit geprägt hat. seiner Jugend mit der mel – mit Lufträumen, die eher Heute verbinde ich mit Euro- aus Zeiten von UKW-Funkfeu- pa vor allem eine einzigartige Bahn, sein schönstes ern vor der Ära GPS stammen Erfolgsgeschichte, die so viele europäisches und jetzt wegen staatlicher und Facetten hat und um die wir gewerkschaftlicher Egoismen von so vielen beneidet werden. Abenteuer nicht vereinheitlicht werden Freiheit, Wohlstand, offene können. Das hat erhebliche Grenzen, der Euro als gemein- Konsequenzen für unsere Um- same Währung, eine friedliche welt. Nur um die Dimension Revolution, die zum Fall der Berliner Mauer, zum mal zu verdeutlichen: Mit einem SES könnte allein Ende des Kalten Krieges und zu einer Osterweite- Lufthansa ihren Kerosinverbrauch um 270.000 rung der EU führte – das alles ist über Jahrzehnte Tonnen jährlich senken, und insgesamt ließe sich gewachsen und schien lange so selbstverständlich der CO2-Ausstoß durch Flugzeuge sofort um 10 wie die größte Errungenschaft, der Frieden. Die Es- Prozent reduzieren. Die Erfolgsgeschichte, die wir kalation des Ukrainekonflikts und die Bedrohung am Boden haben, brauchen wir jetzt endlich auch unserer Gemeinschaft von innen durch Terroran- am europäischen Himmel. 42 THE EUROPEAN 43

CARSTEN SPOHR, GEBOREN 1966, ERWARB NACH SEINEM STUDIUM ZUM DIPLOM-WIRTSCHAFTSIN- GENIEUR AN DER UNIVERSITÄT KARLSRUHE DIE VERKEHRSPILOTEN-LIZENZ. DANACH ABSOLVIER- www.i-future.de INNOVATION LABS TE ER DAS TRAINEE-PROGRAMM DER DEUTSCHEN Wo völlig neue Produkte entstehen AEROSPACE AG UND KEHRTE 1994 ZU LUFTHANSA DER INTERNETHÄNDLER i future Wie Jeff Bezos Amazon DAS INNOVATIONSMAGAZIN 2 • 2016 erfolgreich gemacht hat ZURÜCK. NACH VERSCHIEDENEN LEITUNGSFUNK- TIONEN – UNTER ANDEREM ALS BEREICHSVOR- STAND DER LUFTHANSA PASSAGE AIRLINES UND VORSTANDSVORSITZENDER DER LUFTHANSA CAR- GO – WURDE SPOHR 2011 MITGLIED DES VORSTAN- DES DER DEUTSCHEN LUFTHANSA AG UND VORSIT- ZENDER DES LUFTHANSA PASSAGEVORSTANDES. SEIT 2014 IST ER VORSTANDSVORSITZENDER DER DEUTSCHEN LUFTHANSA AG. CARSTEN SPOHR IST INHABER DER LUFTHANSA-KAPITÄNSLIZENZ FÜR

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FLIEGENDE ZÜGE

So wird EUROPA morgen Große Meinungsumfrage / Zukunftsforscher analysieren / Vorstandschefs schreiben /

Deutschland 7,00 Euro • Österreich 7,90 Euro • Benelux, Italien und Spanien 8,00 Euro • Schweiz 12,00 CHF • Schweiz und Spanien 8,00 Euro • Benelux, Italien 7,90 Euro • Österreich Deutschland 7,00 Euro Der Optimismus ist größer, als man denkt

Fotos: © christophkadur – Fotolia.com Ein Geschenk

THE EUROPEAN THE der Götter

Von Karl-Ludwig Kley in Malawi. Warum auch? Um Abenteuer zu erleben, war Europa groß genug. Und die Welt kam nach Eu- Die Götter haben unseren Kontinent benannt. So ropa: für Olympia 1972 oder die Fußball-WM 1974. kam es mir als Kind vor, als ich in die Sagenwelt von Musik drückte das Lebensgefühl unserer Generation Gustav Schwab eintauchte. Ich las, wie Zeus eine aus. Europa bot alles und war, in vielerlei Hinsicht, Stiergestalt annahm, um die phönizische Prinzessin der Nabel unserer Welt. Europa, das war Freiheit. Europa zu rauben und nach Kreta zu verschleppen. Ein Herauskommen aus der deutschen Enge. Eine Da half es ihr wenig, dass ihr verkündet wurde: „Trös- Gelegenheit, Neues zu erleben. Demokratie, damals te dich, Europa! Unsterblich wird dein Name werden, immer noch neu in Deutschland, umwehte uns wie denn der Weltteil, der dich aufgenommen hat, heißt ein frischer Wind. Europa, das war Aufbruch mit un- hinfort Europa!“ Europa begann seine Karriere als endlich vielen Möglichkeiten. War? Trostpreis. Als Student erforschte ich, was Vieles hat sich seitdem ver- Europa 3.000 Jahre später aus- ändert. Mein Auto schafft die machte. Wie so viele andere Reise über die Alpen in einem meiner Generation erkundete Anlauf, die Mautsysteme sind ich den Kontinent mit Interrail. strenger, und wahrscheinlich Später ging es dann mit dem er- Der designierte bin ich selbst heute ein wenig sparten VW-Käfer auf Tour. Es Eon-Aufsichtsratsvor- konservativer. Dennoch: Die waren Lektionen in Geografie, Emotionen bleiben. Für mich Sprache, Weinkunde, dem an- sitzende Karl-Ludwig ist Europa weiterhin untrennbar deren Geschlecht, Mechanik – mit Freiheit, Frieden und dem und Geduld. Alpenpässe waren Kley sorgt sich um die Versprechen des Aufbruchs in eine gute Gelegenheit, um die Identität Europas eine gemeinsame Zukunft ver- herrliche Landschaft zu genie- bunden. Mein Sohn hat ein an- ßen, denn wir mussten darauf deres Europa erlebt. Ein Europa, warten, dass unser Gefährt wie- in dem Demokratie eine Selbst- der zu Kräften kam. Immerhin: verständlichkeit ist. Ein Europa, Nach Italien hinunter rollte es das reicher, sicherer und einheit- sich fast von allein. Mautgebühren? Wurden mit lo- licher ist als je zuvor, aber eben auch gesetzter. In dem kalen Gemeindepapieren oder auch mal mit Knöpfen viel durchreguliert ist und nicht mehr so viel möglich bezahlt. An den Stränden Südfrankreichs wurden scheint. Andere Weltregionen sind heute dynamischer, wir ausgeraubt und pinkelten in Monaco gegen die aufstrebender – kurz: „cooler“ – als Europa. Wand des Casinos. Nur wenige von uns studierten im Ausland, schon gar nicht in Amerika. Wir machten Nun kann kein Projekt 60 Jahre lang Aufbruchstim- kein freiwilliges soziales Jahr in einem Waisenhaus mung vermitteln. Die Ideen, die mich in meiner 44 THE EUROPEAN 45

Jugend für Europa begeisterten, stehen heute nicht spannend sein, wenn es einzigartig ist. Und das für Aufbruch. Die Frage muss also sein: Was kommt kann es nur mit weniger universellen Zielankündi- als Nächstes? Denn nur gemeinsame Erlebnisse und gungen, weniger opportunistischem Lavieren und Hoffnungen stiften eine gemeinsame Identität. Eine mehr Verbindlichkeit und mehr Rückgrat sein. Was länderübergreifende Erfahrung von Jugendarbeitslo- macht Europa aus? Die Antwort darauf liegt nicht in sigkeit ist zu wenig. Die Frage, wofür Europa heute immer mehr Regeln und Institutionen. Sie liegt im steht, ist nicht leicht zu beantworten. Frieden, Demo- Einhalten der bestehenden Regeln und im Freilassen kratie, Freizügigkeit, Vielfalt – diese Werte sind nicht der aufbruchswilligen Kräfte. Europas Start-up-Sze- auf Europa beschränkt. Es sind universelle Ziele, die ne zeigt, welche Aufbruchstimmung unser Kontinent sich die Afrikanische Union ebenso auf die Fahnen auch heute vermitteln könnte. Wenn man die jungen geschrieben hat wie die in Kathmandu beheimatete Leute nur ließe. Südasiatische Vereinigung für regionale Kooperation. Jenseits der Schlagzeilen zu Rettungsschirmen, Ar- Was ist denn das spezifisch Europäische an Europa? beitsmarktreformen oder Eurobonds gibt es also ein Die erste Antwort liegt in unserer gemeinsamen Europa mit dem Potenzial, ebenso aufregend wie auf- kulturellen Identität. Die müssen wir wieder ehrlich richtig zu sein. Und solch ein Europa ist kein Trost- herausarbeiten. Eine europäische Verfassung ohne preis, sondern ein Geschenk der Götter. Bezug auf das Christentum ist Selbstverleugnung. Auf die Frage, wofür Europa steht, folgt unweigerlich: Wofür steht Europa nicht? Europa muss sich selbst- bewusst auf seine kulturellen Wurzeln besinnen und KARL-LUDWIG KLEY WAR VON 2007 BIS 2016 VOR- sollte nicht versuchen, everybody’s darling zu sein SITZENDER DER GESCHÄFTSLEITUNG DES PHAR- oder Fingerübungen in politischer Korrektheit zu ab- MAKONZERNS MERCK. WEGEN DES SPEKTAKULÄ- solvieren. Zweitens müssen wir uns zu unseren Wer- REN GESCHÄFTSERFOLGS VON MERCK WURDE ER ten bekennen. Beispiel Solidarität: Das Wissen um 2015 ZUM „MANAGER DES JAHRES“ GEWÄHLT. ER diesen Wert hat sich Europa durch jahrhundertelan- GEHÖRTE VON 1998 BIS 2006 DEM VORSTAND DER ge Kriege und Konflikte teuer erkauft. Nun müssen LUFTHANSA AG AN. SEIT 2016 IST ER AUFSICHTSRAT- wir Solidarität konsequent leben. Auch oder gerade VORSITZENDER VON EON. gegenüber den politischen Flüchtlingen unserer Zeit.

Drittens kann und muss Europa in der Welt stark und selbstbewusst auftreten. So erschließt es sich mir bis heute nicht, warum es Europa nicht gelungen ist, in der Region des fruchtbaren Halbmonds eine eigen- ständige Position zu entwickeln, die kulturelle Sensi- bilität, Realismus und europäische Vision verbindet. Schlussendlich kann Europa aber erst wieder

Fotos: © christophkadur – Fotolia.com THE EUROPEAN THE Russland und der Westen

Sevim Dagdelen 48 Bundestagsabgeordnete, DIE LINKE

Anton Hofreiter 50 Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen

Wilfried Scharnagl 52 Journalist und Buchautor 46 THE EUROPEAN 47 Die NATO ist auf

THE EUROPEAN THE einem gefährlichen Ostlandritt

Von Sevim Dagdelen Mit Großmanövern unmittelbar vor dem Gipfel hat die NATO ihre militärpolitische Stoßrichtung so ein- Die NATO marschiert im Osten auf und will dort auch drucksvoll wie plump untermalt. An der zehntägigen bleiben. Auf dem Gipfel am 8. und 9. Juli in Warschau Übung „Anakonda“ waren 24 NATO-Staaten sowie haben die Staats- und Regierungschefs des westlichen „befreundete“ Länder beteiligt, darunter Georgien Militärpakts eine noch stärkere Truppenpräsenz an der und die Ukraine. Mehr als 30.000 Soldaten, 3.000 Westgrenze Russlands beschlossen. Gegen Moskau Fahrzeuge und Panzer sowie über 100 Flugzeuge und wird auf weitere Machtdemonstrationen und Konfron- Hubschrauber waren im Einsatz. Die Operation Wür- tation gesetzt. Im Zentrum der NATO-Strategie steht geschlange richtete sich unverhohlen gegen Russ- die Abschreckung nach Osten gegen die Russische Fö- land. Für „Saber Strike“, ein US-geführtes Manöver deration. waren dieses Jahr bereits rund 10.000 Soldaten aus 13 Staaten in Estland, Lettland und Litauen im Feld. „Deterrence and Defense – Abschreckung und Ver- Mit der Übung solle der alliierte Schulterschluss mit teidigung“ lautet denn auch das offizielle Motto des den osteuropäischen Partnern demonstriert werden, zweitägigen NATO-Gipfels in der Arena des Warschau- betonte US-Brigadegeneral Jeffrey Kramer zum Ma- er Nationalstadions. Auf den Rasen des Fußballfeldes növerauftakt. hat sich der Militärpakt eigens einen Konferenzraum bauen lassen, auf dem Grün sollen die Aufmarsch- Obwohl die USA und ihre Alliierten mit immer mehr pläne für die nächsten Jahre abgesegnet werden: Vier Soldaten und schwerem Kriegsgerät immer näher an multinational zusammengesetzte Bataillone verlegt die die Grenze Russlands heranrücken, warnt die NATO NATO in die baltischen Staaten Estland, Lettland und ihrerseits allen Ernstes vor russischen Expansions- Litauen sowie nach Polen. Auf „rotierender Basis“, weil plänen. Im auflagenstarken deutschen Boulevard- die NATO-Russland-Grundakte aus dem Jahr 1997 eine blatt „Bild“ spielte NATO-Generalsekretär Jens Stol- permanente Stationierung von Kampftruppen in „sub- tenberg Mitte Juni verkehrte Welt: Moskau versuche stanzieller Größe“ nicht erlaubt. In Litauen übernimmt „mit militärischen Mitteln einen Einflussbereich auf- die Bundeswehr die Führung über einen NATO-Ver- zubauen“, stellte der Norweger die Realität auf den band mit bis zu tausend Soldaten. Die USA schicken Kopf. Die NATO beobachte „eine massive russische zusätzlich eine eigene Brigade in die Anrainerstaaten zu Aufrüstung an der eigenen Grenze – in der Antark- Russland. De facto wird allerdings so die permanente tis, im Baltikum, im Schwarzen Meer bis zum Mit- Truppenpräsenz im Osten massiv erhöht. telmeer“. Darauf müsse die Allianz „reagieren“. Der Befehlshaber der US-Landstreitkräfte in Europa, Ben Damit nicht genug: Seit 2015 baut die NATO eine so- Hodges, schließlich beklagte in der Hamburger Wo- genannte schnelle Eingreiftruppe auf. 5.000 Soldaten chenzeitung „Die Zeit“ die Übermacht des vermeint- dieser „Speerspitze“ sind ständig in Alarmbereitschaft, lichen Aggressors: Russland könne die baltischen binnen 48 Stunden sollen sie samt Waffen ins Kon- Staaten „schneller erobern, als wir dort wären, um sie fliktgebiet verlegt werden können. zu verteidigen“, so der US-General. 48 THE EUROPEAN 49

Doch wo genau soll der „Einflussbereich“ liegen, Angela Merkel, künftig die deutschen Militärausga- den sich Moskau laut Stoltenberg gerade mit mili- ben auf das NATO-Ziel von 2 Prozent des Bruttoso- tärischen Mitteln aufbaut? Das Gros der Anrainer zialprodukts steigern zu wollen, kann Russland nur Russlands im Westen ist bereits Mitglied der NATO als Kriegserklärung verstehen. Denn dies würde auf oder will es werden. Die antirussischen Aversionen eine massive Erhöhung des deutschen Militärhaus- sind dort noch ausgeprägter als in Washington, halts von derzeit 35,5 Milliarden Euro um 28 auf über Berlin und Brüssel. Selbst die Ukraine, die auf ab- 63 Milliarden Euro hinauslaufen. Da ist es nachgera- sehbare Zeit dem Pakt nicht angehören wird, zählt de absurd, wenn der deutsche Außenminister Stein- die NATO quasi zum „Bündnisgebiet“, ihr Präsident meier davor warnt, durch „lautes Säbelrasseln und Petro Poroschenko ist zum Gipfel nach Warschau Kriegsgeheul die Lage weiter anzuheizen“. Denn ge- geladen. nau dazu scheint man sich in Warschau verabredet zu haben. Auch Karl-Heinz Kamp, der Präsident der Bundes- akademie für Sicherheitspolitik, sieht in Moskau „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, heißt den Schurken. „Russland hat die nach dem Kalten es in Hölderlins Hymne „Patmos“.. In der Bevölke- Krieg aufgebaute gesamteuropäische Sicherheitsar- rung jedenfalls stößt der Kurs der NATO gegen Russ- chitektur verlassen und die Partnerschaft mit der land auf immer größere Skepsis. Bei einer Befragung NATO aufgekündigt“, schreibt der Chef der beim der Forschungsgruppe Wahlen vom 20. Juni 2016 Verteidigungsministerium angesiedelten Kader- waren 56 Prozent in Deutschland der Meinung, dass schmiede in einem Arbeitspapier zum Warschauer die Truppenverstärkung der NATO zum vorgeblichen Gipfel. Tatsächlich hatte die NATO im April 2014 Schutz der östlichen Mitgliedsländer nicht richtig ist. Russland wegen des Ukraine-Konflikts vom gemein- Zugleich lehnten 57 Prozent der Befragten eine Mit- samen Tisch gestoßen. gliedschaft der Ukraine in der NATO ab. Es könnte sein, dass ausgerechnet der Ostlandritt der NATO zu Die rabiate Rhetorik gegen Russland dient nicht einer Entfremdung bei denjenigen führt, die die Alli- zuletzt dazu, Unterstützung für massive Aufrüs- anz zu verteidigen vorgibt. tungsprogramme zu generieren. Mit Erfolg. „Der Trend stetig sinkender Verteidigungshaushalte ist gestoppt und in vielen NATO-Ländern umgekehrt worden“, frohlockt die Bundesakademie für Sicher- heitspolitik. Auch in Deutschland sei die „Akzep- SEVIM DAGDELEN IST MITGLIED IM AUSWÄRTIGEN tanz für größere Aufwendungen im Sicherheitsbe- AUSSCHUSS DES BUNDESTAGES, DER PARLAMEN- reich deutlich gestiegen“. TARISCHEN VERSAMMLUNG DER NATO UND SPRE- CHERIN FÜR INTERNATIONALE BEZIEHUNGEN DER Die Ankündigung der deutschen Bundeskanzlerin FRAKTION DIE LINKE.

Fotos: © goldencow_images – Fotolia.com Putin ist ein Rechtsbrecher,

THE EUROPEAN THE aber Rüstung ist keine Antwort

Von Anton Hofreiter Wolfgang Ischinger, der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz – ich hätte nicht gedacht, dass Das Verhältnis zu Russland ist so schlecht wie seit der ich ihn einmal als friedenspolitischen Kronzeugen zi- Zeit des Kalten Krieges nicht mehr. Die Sorge vieler tieren würde – hat gesagt, dass die Gefahr so groß wie Menschen auf dem Kontinent vor einem Krieg ist so selten ist, dass die Eskalationsschritte in Richtung mi- groß wie schon lange nicht mehr. Mit der Annexion litärische Kampfhandlung führen werden, und er gibt der Krim und mit den Aktionen in der Ostukraine hat einen ganz klaren Rat in Richtung NATO und Bundes- Russland, hat Putin die Friedensordnung in Europa regierung: Nicht draufsatteln, sondern mäßigen! auf den Kopf gestellt. Man muss ganz klar sagen: Es ist eine besondere Tragik, dass mit der Ukraine das Ich glaube, es wäre wichtig, dass die Bundesregierung erste Land weltweit, das freiwillig seine Atomwaffen diesen Rat beherzigt. Denn das ist der alte Irrweg, dass komplett abgegeben hat, von seiner eigenen Garantie- man auf ein Manöver mit dem nächsten Manöver und macht überfallen worden ist. Das ist ein solcher Rück- auf Aufrüstung auch mit Aufrüstung reagiert; das ist schlag für eine vertragsbasierte Friedenspolitik, wie die Spirale des Kalten Krieges. Wir sollten eigentlich wir ihn lange nicht erlebt haben. etwas aus dem Kalten Krieg gelernt haben.

Putin ist über das Budapester Abkommen hinwegge- Die Bundeskanzlerin hat davon gesprochen, dass 2 trampelt. Er hat die Souveränität der Ukraine ignoriert, Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rüstung aus- und er hat ihre territoriale Integrität ignoriert. Es ist gegeben werden sollen. Das würde bedeuten, wenn ganz klar, dass dieses Vorgehen nicht hinnehmbar ist. wir es wirklich umsetzen, dass wir 25 Milliarden Euro Daran kann es nicht den geringsten Zweifel geben. mehr für Rüstung ausgeben würden. Es kann doch Deshalb war die Reaktion der EU und war die Reakti- nicht ernsthaft die Antwort der Großen Koalition auf on der NATO richtig und wichtig. Es war richtig und die globalen Herausforderungen sein, 25 Milliarden wichtig, dass die Europäische Union gemeinsam Sank- Euro mehr für Waffen ausgeben zu wollen. Ist das eine tionen verhängt hat. Es ist völlig verständlich Belohnung für das, was wir bereits sehen: dass Frau und nachvollziehbar – das darf man auch mit von der Leyen die Bundeswehr nicht im Griff hat und Blick auf die Geschichte nicht ignorieren –, dass bis jetzt viel Geld verschwendet worden ist? Das dass die östlichen Staaten der NATO kann doch nicht ernsthaft die Antwort auf die globalen jetzt größere Sicherheitsbedürfnisse und Herausforderungen sein. Bedenken haben.

Aber dabei stellt sich die Frage: Was ist die richtige Antwort darauf? Ich habe gewisse Zweifel, dass der Einstieg in ANTON HOFREITER IST NEBEN KATRIN GÖRING- die Aufrüstungsspirale und Sprach- ECKARDT FRAKTIONSVORSITZENDER VON BÜND- losigkeit die richtige Antwort sind. NIS90/DIE GRÜNEN IM DEUTSCHEN BUNDESTAG 50 Ausgezeichnet!Ausgezeichnet! DerDer WirtschaftsKurierWirtschaftsKurier wurde wurde 2014 2014 mit mit derder DieselmedailleDieselmedaille ausgezeichnet. ausgezeichnet.

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Hört auf, Putin zu verteufeln

Putin wird vom Westen als Schurke dargestellt. Sei es die Ukrainekrise oder der Kampf ge- gen den IS, Putin scheint der Schuldige zu sein. Der Westen sollte aber Russland zuhören und die Chance auf eine neue und große Partnerschaft ergreifen, anstatt es zu sanktionie- ren und zu isolieren, meint CSU-Vordenker Wilfried Scharnagl.

Von Wilfried Scharnagl wieder in zielführende G-8-Gespräche mit Putin über- führt werden können. Die Chance wurde versäumt. Schwarz-Weiß-Maler haben selten recht. Auch nicht Als sich Putin dann, lange nach den Luftangriffen bei den tiefen Verwerfungen, zu denen es seit der An- westlicher Mächte, mit der russischen Luftwaffe in nexion der Krim durch Moskau gekommen ist. Seit den syrischen Bürgerkrieg einmischte, trug ihm dies der Ukrainekrise mit ihren kriegerischen Folgen, mit den westlichen Vorwurf ein, er bekämpfe ja nicht nur der Sanktionspolitik des Westens gegen Russland und das Terrorregime des Islamischen Staates IS, sondern auch mit dem militärischen Eingreifen des Kreml im auch gegen Assad gerichtete „maßvolle“ oppositionelle Zuge des syrischen Bürgerkrieges ist es zum Wieder- Streitkräfte. Und als Moskau seine Angriffe einstellte, aufleben düsterer Erinnerungen an die riskante Zeit es dann weitgehend zur Beendigung des Luftkrieges des Kalten Krieges zwischen Ost und West gekom- in Syrien kam und als Waffenstillstands- und Friedens- men. Das Urteil der westlichen Politik und der west- verhandlungen wieder eine reelle Chance erhielten, lich Medien zu diesem Geschehen ist mehrheitlich führte auch dies im Westen nicht dazu, das mit Eifer von ebenso vereinfachender wie falscher Einseitigkeit: gepflegte generelle Anti-Putin-Vorurteil zu überprüfen Wladimir Putin, der russische Präsident, hat die Rolle oder gar zu ändern. des Schurken im Stück. Auf westlicher, auf europä- isch-amerikanischer Seite werden ihm Unschulds- Aus dem Rahmen des sonst auch jetzt noch einstim- lämmer von strahlendem Weiß entgegengestellt. Und mig klagenden und anklagenden westlichen Chores erfüllt Putin nicht die an ihn gestellten Erwartungen gegen Putin fiel eine kundige und gewichtige Stimme. als Rundumbösewicht, machen sich in der veröffent- Harald Kujat, früherer Generalinspekteur der Bundes- lichten politischen und medialen westlichen Meinung wehr, stellte öffentlich fest, was sonst in der politischen – weil nicht sein kann, was nicht sein darf – Verlegen- und medialen Debatte nur hinter vorgehaltener Hand heit und Verdrängung breit. zu hören war: „Die Russen haben mit ihrem militä- rischen Eingreifen den Friedensprozess erst ermög- Der Westen versäumte viele Chancen licht.“ Weder die Amerikaner noch die Europäer hät- ten, so Kujat mit großer Schärfe, eine Strategie für ein Als es nach jahrelangen vergeblichen Verhandlungen friedliches Syrien gehabt und seien auch nicht bereit dann doch noch zu einem Atomabkommen mit dem gewesen, sich massiv zu engagieren. Kujat, ein echter Iran kam, einem zentralen globalen und vor allem Militärexperte und nicht einer jener zahlreichen Erklä- westlichen Anliegen, konnte dies nur durch konstruk- rer am Fernsehschirm, die nur durch eine Unterzeile tives Mitwirken Putins erreicht werden. Dieser dra- als „Experten“ ausgewiesen werden: Ohne das rus- matische Erfolg hätte Anlass sein können, zwischen sische Eingreifen wäre Syrien kollabiert „und der IS Washington und Brüssel einen Neuanfang in den hätte das Land übernommen“. Das nächste Ziel des IS Ost-West-Beziehungen anzupacken. Das Reden über wäre dann, so Kujat, der Libanon und das übernächs- Putin, wie beispielsweise beim G-7-Gipfel im vori- te Israel“ gewesen – „das hätte weitreichende Folgen gen Jahr im oberbayerischen Elmau praktiziert, hätte auch für uns gehabt“. Fotos: © harvest – Fotolia.com Fotos: Auch die Schuld daran, dass trotz der Vereinbarung im einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine in seinem gan- Minsk-II-Abkommen die Ukrainekrise militärisch im- zen für Russland unerträglichen Ausmaß vor Augen mer noch vor sich hin glimmt, misst der Westen in aller zu führen: Auf der Krim, einem Herzstück russischer Regel allein dem russischen Präsidenten zu. Dass auch Geschichte und russischen Selbstbewusstseins und Kiew seinen Teil des Minsker Abkommens nicht erfüllt, deshalb nicht nur als Standort der russischen Schwarz- wird nur vereinzelt artikuliert. Es kann nicht darum ge- meerflotte für jede russische Regierung unaufgebbar, THE EUROPEAN THE hen, der Anti-Putin-Einseitigkeit eine Pro-Putin-Einsei- führt ein amerikanischer Admiral das Oberkommando! tigkeit entgegenzustellen. Putin ist weit davon entfernt, Wer im Westen nicht sehen will, dass eine solche Per- der „lupenreine Demokrat“ zu sein, als den ihn seine spektive für keinen russischen Präsidenten hinnehm- wenigen Freunde im Westen, beispielsweise Altkanzler bar sein konnte, ist mit Blindheit geschlagen. Es kam, Gerhard Schröder, sehen. Aber: Das politische und mi- wie es kommen musste: Moskau holte die Krim, von litärische Geschehen um die Ukraine kann nur verstan- Nikita Chruschtschow in den 1950er-Jahren mit einem den und in seiner Gefährlichkeit überwunden werden, Federstrich und ohne einen einzigen Bewohner der wenn sich der Westen bemüht, auch die andere, die rus- Halbinsel zu fragen von Russland weggenommen und sische Seite zu begreifen. Der Urfehler, der von Europa der Ukraine zugeteilt, zurück nach Russland. Von der und Amerika begangen wurde, war verhängnisvoll. Das Völkerrechtswidrigkeit, der Putin vom Westen mit all- sowjetische Imperium brach zu- gemeiner Entrüstung angeklagt sammen, als es zur historischen wird, war bei Chruschtschow und Wende in Europa kam. Deutsch- in den Jahrzehnten seither kein lands Weg zur Wiedervereini- Wort zu hören. gung wurde, mit entscheidender Die Ausweitung der Mitwirkung Moskaus, geöffnet. NATO wurde von Der Versuch des Westens, Mos- Der Warschauer Pakt, das Mili- kau mit Sanktionen zur Rückga- tärbündnis des ehemaligen Ost- Russland, ob zu Recht be der Krim an die Ukraine zu blocks, löste sich auf. Die histori- zwingen, ist aussichtslos. Eben- sche Gelegenheit, eine neue und oder zu Unrecht, als so ist die Hoffnung im Westen große Partnerschaft, eine neue Einkreisung verstanden vergeblich, sanktionsbedingte europäische Weltordnung zwi- Schwierigkeiten würden die Po- schen Ost und West aufzubauen, sition des russischen Präsidenten in Gleichrangigkeit und auf Au- in der Bevölkerung schwächen. genhöhe, wurde versäumt. Zudem leiden vor allem die deutsche Wirtschaft und Landwirtschaft anhaltend daran, vom wichtigen rus- Russland muss zugehört werden sischen Wirtschaftspartner abgeschnitten zu sein. Die europäischen und die weltpolitischen Probleme, die ei- Wir haben gesiegt, und wir allein entscheiden, wie es ner Lösung harren, können nicht ohne oder gar gegen, in Zukunft zwischen Ost und West weitergehen soll sondern nur mit Russland gelöst werden. – so wurde vor allem in Washington gedacht. Und so wurde, Europa im Gefolge, gehandelt. Die Ausweitung der NATO wurde von Russland, ob zu Recht oder zu Unrecht, als Einkreisung verstanden. Das ist nicht nur die Sicht Putins, auch Michail Gorbatschow, dessen mu- WILFRIED SCHARNAGL, JOURNALIST UND BUCH- tige und mit erheblichen persönlichen Risiken belastete AUTOR, WAR EIN VIERTELJAHRHUNDERT CHEFRE- Entscheidung, die Europa und Deutschland ein Ende DAKTEUR DES „BAYERNKURIERS“. SEIN JÜNGSTES der jahrzehntelangen Spaltung gebracht hat, ist nicht BUCH „AM ABGRUND – STREITSCHRIFT FÜR EINEN weniger enttäuscht und spricht von einem „Zusam- ANDEREN UMGANG MIT RUSSLAND“ ERSCHIEN MIT menbruch des Vertrauens“. Über Jahre nahm es Mos- kau geduldig, wenn auch zähneknirschend hin, dass EINEM VORWORT VON MICHAIL GORBATSCHOW IM der NATO-Gürtel immer enger wurde. Zu viel muss- SOMMER 2015 (KEYSER-VERLAG, 19,90 EURO). DIE te es Russland werden, als sich auch noch die große RUSSISCHE AUSGABE WURDE IM JULI 2015 IN MOS- Ukraine mit Hurrageschrei zum Marsch in die NATO KAU VON GORBATSCHOW UND EGON BAHR – ES aufmachte und in dieser Absicht durch vielfältige Verlo- WAR BAHRS LETZTER ÖFFENTLICHER UND VIEL BE- ckungen und Versprechungen von westlicher, vor allem ACHTETER AUFTRITT VOR SEINEM TOD – IN MOSKAU amerikanischer Seite bestärkt wurde. Um sich das Bild VORGESTELLT. 54 Schenken Sie Kindern wie Mouna eine liebevolle Familie.

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Roger Köppel 58 Publizist, Verleger und Politiker

Boris Johnson 60 Außenminister Großbritanniens

Matthias Heitmann 66 Journalist und Redakteur, Vortragsredner und Buchautor

Matteo Renzi 68 Premierminister Italiens und Politiker des Partito Democratico Fotos: © nuvolanevicata – Fotolia.com Fotos: Populisten sprengen

THE EUROPEAN THE politische Kartelle

Von Roger Köppel Wirtschafts- bis hin zur Energie- und Flüchtlings- politik. Die wahren Populisten sitzen meistens im Die meisten Politiker, die als Populisten verung- Establishment. limpft werden, sind gar keine Populisten. Wer sie dennoch mit dem Etikett des Rechtspopulismus ver- Trumps Erfolg ist ein Misstrauensvotum sieht, will nicht über die Sache reden. Unbequeme und vielleicht sogar berechtigte Themen lassen sich Die Methode der Stigmatisierung funktioniert nicht auf diese Weise wunderbar unterdrücken. Dabei mehr. Die Ausgrenzungsmanöver der Elite nützen gäbe es ein wunderbares Mittel, um die sogenann- sich allmählich ab. Legionen von Bedenkenträgern ten Populisten verschwinden zu lassen. warnen seit Monaten vor Trump. Vermutlich haben sie mit vielem recht. Trotzdem marschiert der Bra- Großes Reizthema ist der Aufstieg sogenannter chialaußenseiter unbeirrt in Richtung Präsident- rechtspopulistischer Parteien und Politiker. Der schaft weiter. Interessanter als seine Person und sei- Vorwurf des Populismus wird immer wieder dann ne Politik ist der gewaltige Zulauf, den er erreicht. erhoben, wenn einer etwas sagt, was dem Establis- Die Amerikaner scheinen die Nase voll zu haben von hment nicht passt. Die Diffamierungsmethoden der schöngeistigen Arroganz der etablierten Politik. der Mächtigen sind sich gleich geblieben, nur die Sie sehnen sich nach einer Alternative. Man hofft auf Worte haben sich geändert: Früher waren Kritiker authentischere, echtere Typen. Trump ist, wie auf der Gotteslästerer, vaterlandslose Gesellen, Kommunis- Gegenseite übrigens Bernie Sanders, die Verkörpe- ten, Untermenschen, Langhaarige, Faschisten oder rung solcher Sehnsüchte. Subversive. Heute hat sich das Unwort Rechtspo- pulismus eingebürgert. Wer Rechtspopulismus be- Es bringt nichts, Trump als angeblichen Idioten zu schwört, will kein Kritiker sein, will nicht über die entlarven. Die Anfeindungen seiner Gegner sind oft Sache reden. ähnlich primitiv wie die Entgleisungen des Kandi- daten. Wer Trump beleidigt, macht ihn stärker, weil Die meisten jener Politiker, die als Populisten ver- sich seine Unterstützer mit beleidigt fühlen. Ihn unglimpft werden, sind keine Populisten. Gemäß trägt der gewaltige Überdruss des Volks. Ein Trump Duden ist ein Populist ein Politiker, der immer das hätte sich früher ins Abseits provoziert. Sein heuti- sagt, was sein jeweiliges Publikum hören will. Er ger Erfolg ist das Symptom eines Versagens jener sagt nicht, was er denkt und was er richtig findet, Eliten, die sich hinter der aseptisch wirkenden Hil- sondern er sagt etwas, wovon er glaubt, es kom- lary Clinton scharen. me bei seinen Zuhörern gut an. Populisten sind wesensmäßig Wendehälse und Windfahnen. Ein Man darf die sogenannten Populisten nicht in einen Musterbeispiel ist Deutschlands Kanzlerin Merkel, Topf werfen. Die französische Nationalfront hat so- die ihren Machtinteressen bis jetzt fast jede ihrer ziale und zentralistische Züge. Die deutsche AfD ist inhaltlichen Positionen opferte, von der Sozial- und inspiriert von der alten Bundesrepublik um Konrad 58 THE EUROPEAN 59

Adenauer und Willy Brandt mit seinem guten Leit- übertrieben. Es geht jetzt nicht um radikale Schu- spruch: „Mehr Demokratie wagen“. In der Schweiz bumkehr. Eine neue vernünftige Balance ist gefragt. hat die SVP einen Linksrutsch im bürgerlichen Main- stream etwas korrigiert. Wie Populisten verschwinden könnten

Multikulti wird abgewählt Noch mauern die Obrigkeiten, doch die Mauern bröckeln. Kanzlerin Merkel nimmt heimlich die ersten asylpoliti- Bei allen Unterschieden gibt es eine entscheidende schen AfD-Forderungen auf. In der Schweiz überbieten Gemeinsamkeit: Die Protestparteien mobilisieren sich die Bürgerlichen mit „pfefferscharfen“ Konzepten. ein Misstrauen gegen den überspannten Globalis- Die angeblichen Populisten sprengen überall politische mus der letzten Jahre. Großräumige Strukturen bre- Kartelle auf. Anstatt sie zu verteufeln, könnte man ihnen chen ein. Die Konstruktionsfehler der EU werden dankbar sein. Wer will, dass sie verschwinden, soll sie drastisch sichtbar. Die Leute spüren, dass die Schul- durch bessere Lösungen überflüssig machen. denwirtschaft mit Gelddruckmaschinen und Nega- tivzinsen nicht aufgehen kann. Das soziale Experi- Offene Gesellschaften gehen zugrunde, wenn man ment einer unkontrollierten Massenzuwanderung Missstände totschweigt und tabuisiert. Der Aufschrei, ohne Grenzen löst Entsetzen aus. Oben herrscht den die „Populisten“ erzeugen, ist heilsam. Provoka- Ohnmacht, unten ballt sich die Unzufriedenheit zur tionen wirken entkrampfend in der Politik, wenn die Wut. Botschaft dahinter Substanz hat. Krawall allein verpufft. Die Leute sind intelligent. Bewusst schüren Politiker die „America first“, sagt Trump. Ist das Rechtspopulis- Angst vor dem „verführbaren Volk“, um davon abzulen- mus? Auch in Europa wünscht man sich die Rück- ken, dass sie in der Geschichte meist selber die Verführ- kehr zum Konkreten, zum Überschaubaren, zum Ei- ten waren. Die Völker, wusste ein britischer Historiker, genen. Die Rettung des Weltklimas, wie verdienstvoll sind oft klüger als ihre Führer. auch immer, fällt auf den Sorgenbarometern zurück. Die Migration aus afrikanischen und arabischen Ländern beherrscht die Diskussionen. Multikulti ist ROGER KÖPPEL IST EINE SCHWEIZER PUBLIZIST, Geschichte. Identitätsfragen kommen auf. Militäri- VERLEGER UND POLITIKER. ER WAR CHEFREDAK- sche Selbstverteidigung wird wichtiger. Man disku- TEUR DER TAGESZEITUNG „DIE WELT“ UND VERLE- tiert wieder über den Sinn von Staaten und Grenzen. GER DES WOCHENMAGAZINS „DIE WELTWOCHE“. IM Dahinter steht kein reaktionärer Rückfall in die Vor- JAHR 2015 GAB ER BEKANNT, FÜR DIE SCHWEIZERI- aufklärung, wie die Etablierten ätzen, die um Macht SCHE VOLKSPARTEI (SVP) BEI DEN NATIONALRATS- und Pfründen fürchten. Viele der hochfliegenden WAHLEN ANZUTRETEN. TROTZ LISTENPLATZ 17 ER- Konzepte nach 1968 funktionierten einfach nicht. HIELT ER DIE MEISTEN STIMMEN AUF DER SVP-LISTE

Das Internationale wurde auf Kosten des Nationalen UND WURDE ZUM NATIONALRAT GEWÄHLT. Weltwoche“ by „Die Copyright THE EUROPEAN THE Darum ist der Brexit richtig – und ein föderales Europa besser Fotos: © Andrey Kuzmin – Fotolia.com Kuzmin © Andrey Fotos:

Von Boris Johnson Europäische Union hat sich verändert. Als ich vor 28 Jahren erstmals für „The Telegraph“ über den Ich bin Europäer. Ich habe viele Jahre in Brüssel europäischen Binnenmarkt schrieb, sah die euro- gelebt. Ich liebe diese alte Stadt sogar. Und ich päische Welt noch anders aus. Heute hat sich das kann nicht akzeptieren, dass wir das schöne Euro- Projekt verwandelt, ist gewachsen und kaum noch pa – Heimat der großartigsten und reichsten Kultur wiederzuerkennen. Genau wie die großen neu- der Welt, zu der Großbritannien gehört und auch en Europaläste aus Glas und Stahl, die sich über weiterhin als wesentlicher Bestandteil gehören wird den kleinen gepflasterten Straßen der belgischen – immer wieder verwechseln mit dem politischen Hauptstadt auftürmen. Projekt der Europäischen Union. Aus diesem Grund möchte ich klarstellen, dass ein EU-Austritt weder Als ich 1989 nach Brüssel ging, fand ich dort wohl- antieuropäisch noch fremdenfeindlich ist. gesinnte Politiker (darunter viele Briten) vor, die die Handelsbarrieren durch das – auch von Mar- Denn man sollte nicht vergessen, dass nicht wir Bri- garet Thatcher angenommene – Mehrheitswahl- ten diejenigen sind, die sich verändert haben. Die recht aufbrechen wollten. Die Bemühungen um 60 THE EUROPEAN 61

Darum ist der Brexit richtig – und ein föderales Europa besser

die Harmonisierung des Marktes waren mitunter Nach und nach kamen neue Länder dazu und damit sehr komisch; also informierte ich meine Leser auch eine überstürzte Ausweitung des Mehrheits- über Eurokondome und den wahlrechts, sodass Groß- großen Kampf gegen die bri- britannien immer häufiger tischen Kartoffelchips mit überstimmt werden konnte Krabbenaroma. Dann kam die (dies hat man auch in den deutsche Wiedervereinigung Wir haben uns so an letzten fünf Jahren häufiger und damit die panischen Ver- die Nanny in Brüssel gesehen). Neben dem Ver- suche von Delors, Kohl und trag von Maastricht gab es Mitterrand, Deutschland mit gewöhnt noch Amsterdam, Nizza, Lis- dem Euro endgültig in Euro- sabon; und mit jedem dieser pa einzusperren. Seitdem hat Verträge stieg der Einfluss sich die Geschwindigkeit der der EU-Bürokraten und die europäischen Integration eigentlich nie wieder Zentralisation der Macht in Brüssel. Laut der Bib- verlangsamt. liothek des britischen House of Commons kommen mittlerweile zwischen 15 und 50 Prozent der UK-Ge- macht, desto weniger Raum bleibt den nationalen setzgebung von der EU; dabei sollte man nicht ver- Entscheidern. Manchmal hören sich diese EU-Re- gessen, dass diese Art der Gesetzgebung eine ganz geln einfach nur lächerlich an, zum Beispiel, dass spezielle ist. man Teebeutel nicht recyceln darf oder dass Kinder Sie ist unaufhaltbar und irreversibel, weil sie nur unter acht Jahren keine Luftballons aufblasen dür- durch die EU selbst aufgehoben werden kann. Fra- fen oder die Begrenzung der Saugstärke bei Staub- THE EUROPEAN THE gen Sie sich einmal, wie viele EU-Gesetze die Kom- saugern. Manchmal können sie einen aber auch mission tatsächlich schon zurückgenommen hat richtig wütend machen – so war es, als ich 2013 in ihren zahlreichen Programmen zum Abbau der entdeckte, dass es nicht möglich war, das Design Bürokratie. Die Antwort ist: kein einziges. Deswe- von Windschutzscheiben von LKWs zu verändern, gen ist die EU-Gesetzgebung wie eine Ratsche – sie damit weniger Unfälle mit Fahrradfahrern passie- klickt immer nur vorwärts. Aktuell haben wir es ren. Dies hätte nämlich auf europäischer Ebene mit einem langsamen und unsichtbaren Prozess geregelt werden müssen und die Franzosen waren der legislativen Kolonisierung zu tun, in dem die dagegen. EU Einfluss auf fast jeden Bereich der öffentlichen Ordnung nimmt. Hinzu kommt noch – und das ist Manchmal sieht die Öffentlichkeit die Machtlosig- der wichtigste Punkt –, dass die EU sich eine Vor- keit der eigens gewählten Politiker einfach zu deut- rangstellung in allen Be- lich: zum Beispiel beim reichen, die sie berührt, Thema Migrationspolitik. einräumt. Es ist ein tra- Das Nichtstun der Politi- gendes Element der seit ker regt die Bevölkerung 1972 bestehenden briti- Manchmal sieht die mehr auf als die tatsächli- schen Mitgliedschaft, dass chen Zahlen zur fehlenden jede EU-Angelegenheit Öffentlichkeit die Kontrolle. Das ist das, was erst einmal durch den Eu- Machtlosigkeit der wir mit dem Verlust der ropäischen Gerichtshof in Souveränität meinen – die Luxemburg gehen muss. eigens gewählten fehlende Möglichkeit, die- Es war legitim, dass sich jenigen Leute abzuwählen, das Gericht um den Bin- Politiker einfach zu die über das Leben der nenmarkt kümmerte und deutlich Bevölkerung entscheiden. dafür sorgte, dass fairer Deswegen beobachten wir, und freier Handel in der dass sich die Leute immer EU stattfinden konnte. mehr von der Politik ab- Doch was dort heutzutage wenden und die Macht, die passiert, geht entschieden zu weit. Durch den Lis- sie eigentlich durch Wahlen haben, ignorieren. Das sabonner Vertrag hat der Gerichtshof die Befugnis trägt sicherlich auch zu dem Gefühl bei, dass „alle bekommen, die Rechte der Bürger unter der Klau- Politiker gleich sind“ und man sowieso nichts än- sel 55 „Menschenrechtscharta“ zu verteidigen, die dern könne und schließlich die extremen Parteien seltsame Ansprüche beinhalten wie das Recht, eine an Zuwachs gewinnen. eigene Schule zu gründen, oder das Recht, auf freie Berufsausübung überall in der EU oder das Recht, Demokratie ist wichtig; und ich finde es sehr be- ein Unternehmen zu gründen. sorgniserregend, dass die Griechen vorgeschrie- ben bekommen, wie sie ihren Haushalt und ihre Das sind keine Grundrechte, wie wir sie normaler- öffentlichen Ausgaben aufstellen müssen, obwohl weise verstehen, über ihre Durchsetzung möchte die Bevölkerung darunter leidet. Nun möchte die man gar nicht erst nachdenken. Tony Blair erzählte EU noch weiter gehen. In diversen Brüsseler Do- uns zwar noch, dass es eine Rücktrittsklausel für die kumenten wird ersichtlich, dass die EU-Institutio- Charta gäbe. nen langfristig mehr und mehr Integration wollen: eine soziale Einheit, eine politische Einheit und Aber – welch Wunder – diese Klausel hat sich als eine Budget-Einheit. In einer Zeit, in der Brüssel rechtlich nicht dauerhaft erwiesen und nun sorgen eigentlich Macht übertragen sollte, reißt es mehr sich britische Juristen um den nicht enden wollen- und mehr an sich, sodass auch Großbritannien da- den Tatendrang des Gerichtshofes. Je mehr die EU von nicht unbetroffen sein wird. 62 Deutschlands großes Finanzmagazin

Jetzt kostenfrei abonnieren www.boerse-am-sonntag.de David Cameron hat sein Bestes gegeben und da- Uns wird vorgeworfen werden, dass ein Brexit Putin mit mehr erreicht, als viele erwartet hatten. Er hat bestärken wird. Allerdings halte ich es für bedeu- brauchbare Ideen erläutert, wie Großbritannien von tender, dass er beispielsweise durch die westliche einer immer enger werdenden Union ferngehal- Passivität in Syrien gestärkt wurde. ten werden könnte, darüber geredet, wie man die Nichteuroländer vor den Euroländern schützen Vor allem aber wird uns ungeachtet der demokrati- THE EUROPEAN THE könne, und schließlich Grundsätzliches zu Wettbe- schen Defizite gesagt, dass es uns in der EU besser werb und Deregulierung gesagt. ginge, weil wir dort mehr „Einfluss“ hätten. Dieses Argument wird für mich immer weniger überzeu- Vieles, was er getan hat, war gut und richtig, aber es gend. Nur 4 Prozent der Leute, die die Kommission reicht nicht, um die Maschine zu stoppen. Im bes- leiten, sind Briten, obwohl die Briten 12 Prozent der ten Falle kann es die Ratsche nur vorübergehend EU-Bevölkerung ausmachen. Mir ist unklar, wes- aufhalten. halb diese Kommission der beste Ort sein sollte, um den Bedürfnissen der UK-Wirtschaft nachzu- Es gibt nur den einen Weg – und dieser bedeutet kommen. Viel geeigneter sind doch die Mitarbeiter den Austritt aus der EU, der britischen Wirtschafts- weil die Geschichte gezeigt förderung UK Trade & hat, dass die EU nur auf die Investment oder des Mi- Bevölkerung hört, wenn nisteriums für Wirtschaft, diese Nein sagt. Denn das Innovation und Qualifika- grundsätzliche Problem David Cameron hat tionen. bleibt: Sie haben ein Bild von Europa, das wir nicht sein Bestes gegeben Wir haben uns so an die teilen. Sie wollen eine und damit mehr Nanny in Brüssel gewöhnt, gänzlich föderale Union, e dass wir infantilisiert wur- pluribus unum, obwohl die erreicht, als viele den und uns eine unabhän- meisten Bürger das nicht gige Zukunft kaum noch wollen. erwartet hatten vorstellen können. Wir ha- ben einst das größte Empi- Es ist an der Zeit, eine neue re der Welt geleitet – und Beziehung zu suchen, in zwar mit einer niedrigeren der wir uns von den meis- Einwohnerzahl in Großbri- ten supranationalen Elementen tannien und einem relativ kleinen Bürokratieappa- trennen können. Wir werden rat. Sind wir wirklich nicht in der Lage, Handels- immer wieder etwas über abkommen zu schmieden? Auf jeden Fall werden die Risiken des Brexit hö- wir mindestens zwei Jahre Zeit haben, in denen die ren. Das Risiko für die existierenden Verträge gelten. Wirtschaft, das Risiko für die City of London Das reellste Risiko betrifft die generelle Moral Euro- und so weiter; und ob- pas und das Prestige des gesamten EU-Projekts. Das wohl diese Risiken nicht sollten wir ernst nehmen. gänzlich abgelehnt wer- Wir sollten uns daran erinnern, dass die föderale den können, bin ich mir Vision der EU im Grunde keine unedle Idee ist. Sie sicher, dass sie übertrieben fundiert auf einem der wichtigsten Motive – den werden. Wir haben sol- Frieden in Europa zu sichern. Die Menschen, die che Sachen schon die verschiedenen EU-Institutionen leiten, die wir oft gehört, zum gerne mit derben Worten beschimpfen, sind, mei- Beispiel als es ner Erfahrung nach, prinzipientreue und sorgfältige um die Nichtein- Offizielle. Sie haben einige sehr gute Dinge getan: führung des Euro Dabei denke ich beispielsweise an Sir Leon Brittan, ging. Am Ende der als Wettbewerbskommissar gegen staatliche stellte sich das Beihilfe kämpfte. Gegenteil heraus. Sie haben lediglich einen anderen Plan, wie 64 THE EUROPEAN 65

Europa konzipiert sein sollte. Ich hoffe, sie sehen das Leave-Ergebnis als eine Herausforderung, die har- monische Beziehung zu Großbritannien beizube- BORIS JOHNSON IST SEIT DEM 13. JULI 2016 NEU- halten, um dem Kontinent wieder zu mehr Wett- ER AUSSENMINISTER GROSSBRITANNIENS. ER WAR bewerbsfähigkeit zu verhelfen, die in den letzten ALS POLITIKER DER KONSERVATIVEN PARTEI DER Dekaden verloren gegangen ist. FÜHRENDE KOPF DER BREXIT-BEWEGUNG UND LÖSTE MIT DEM PLEBISZIT FÜR EINEN AUSSTIEG Was auch immer passiert, Großbritannien muss eng GROSSBRITANNIENS AUS DER EU EIN POLITISCHES mit seinen Freunden und Alliierten verbündet blei- BEBEN AUS. JOHNSON WAR ZUVOR (VON 2008 BIS ben – aber im Sinne von Winston Churchill: Interes- 2016) BÜRGERMEISTER VON LONDON UND HE- siert, verbunden, aber nicht aufgesogen; mit Europa RAUSGEBER DES NACHRICHTENMAGAZINS „THE – aber nicht davon eingeschlossen. Wir haben 500 SPECTATOR“. DIESEN GRUNDSATZTEXT SCHRIEB ER Jahre damit verbracht, kontinentale europäische BEREITS VOR DER BREXIT-ABSTIMMUNG. Mächte davon abzubringen, sich gegen uns zu ver- einigen. Es gibt keinen Grund (wenn alle vernünftig

sind), weshalb dies nun aufhören sollte. Aber es gibt Dieser Text erschien zuerst in „The Telegraph“, eine Menge Gründe für Freundschaftlichkeit. London. Übersetzt aus dem Englischen von Wolf-Christian Weimer

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THE EUROPEAN THE in Demokratie

Die alte Elite Europas beschimpft die Wähler und will nicht wahrhaben, dass Europa sich neu erfinden muss. Der Brexit könnte der Aufbruch in eine neue demokratischere und freiere Zukunft Europas sein.

Von Matthias Heitmann Politiker nehmen frustriert ihre Hüte, aber auch die Verfechter des Wandels werden von der Dynamik Was passiert, wenn tiefgefrorener Boden nach ei- überrascht und gehen entweder freiwillig von Bord nem langen Winter plötzlich auftaut? Zunächst wird oder werden über die Reling gespült. es ein wenig seifig, dann schlammig, und es fängt an, muffig zu riechen. Natürliche Prozesse, für Mo- Der Brexit ist für die Briten das, was der Fall der nate unterbrochen, kommen wieder in Gang, Verwe- Mauer für die Deutschen war. Das ist gut so! Genau sungsprozesse inbegriffen. Doch schon bald fangen das ist Demokratie! Sie löst politische Beben und Er- die Dinge an zu wachsen: Der Frühling beginnt. Der drutsche aus, sie schafft Unsicherheit und dadurch Brexit könnte so etwas wie der „europäische Früh- Freiraum für Neues. Diese urwüchsige Dynamik ling“ werden. Das Referendum über den Verbleib kann ganze Weltordnungen hinwegfegen. Wenn Großbritanniens in der Europäischen Union hat die man so will, ist der Brexit für die Briten das, was der tiefgefrorene politische Landschaft aufgetaut. Die Fall der Mauer für die Deutschen war. Schon jetzt ist Briten saßen fest zwischen den EU-Bürokraten und die politische Agenda eine völlig andere: Plötzlich ihren eigenen, nicht minder technokratischen und diskutiert man wieder über Sinn und Zweck von na- abgehobenen Politikern. Den Menschen auf dem tionaler Souveränität und Selbstbestimmung, über Kontinent ging es nicht viel anders: Auch ihnen Demokratie, über die Rolle der Wähler und über den schien sich keine Alternative zu bieten, und ihre richtigen Umgang mit Andersdenkenden. Die Büch- Herrscher ließen auch keine Gelegenheit aus zu be- se der Pandora ist geöffnet: Der demokratische Geist tonen, dass eine solche auch nicht existiere. ist sichtbar. Gibt es etwas Europäischeres?

Doch plötzlich bekamen die Briten die Möglichkeit, In Großbritannien versuchen derweil die Vertreter eine Tür zu öffnen. Sie wurden von ihrer Regierung der alten Elite, diesen Geist wieder einzufangen befragt, ob sie in der EU bleiben wollen – nicht und sich selbst an die Spitze eines Prozesses zu etwa, weil man das Volk wirklich entscheiden las- setzen, den sie niemals wollten. Keine der großen sen wollte, sondern weil man sich sicher war, da- Parteien war für den Brexit. Auch die neue kon- mit die Diskussion endgültig zu beenden. Doch es servative Premierministerin Theresa May gehörte kam anders: Die Briten haben mehrheitlich – trotz zum „Remain“-Lager. Mehr noch: Seit sie vor sechs enormem politischen Gegenwind von allen Seiten – Jahren Innenministerin wurde, hat sie genau die dafür gestimmt, in Zukunft nicht mehr von Brüs- bürgerrechtsfeindliche und abgehobene Politik ver- sel aus regiert zu werden, sondern die Geschicke treten, die gerade abgewählt wurde. Dass die Wahl ihres Landes wieder selbst zu bestimmen. Dies ist auf May als Nachfolgerin von David Cameron fiel, nicht nur ein Votum gegen die Europäische Union macht Sinn: Ihre Aufgabe wird darin bestehen, die – es pflügt auch die britische politische Landschaft demokratische Dynamik zu bremsen. Den Prozess komplett um. Dies spüren nicht nur die Gegner des gänzlich umzukehren, wird sich die britische Elite Brexit, sondern auch dessen Befürworter. Etablierte nicht trauen – aber sie wird alles daransetzen, ihn 66 THE EUROPEAN 67 © Thomas Kiessling, lichtrichtung.de Kiessling, © Thomas

zu zähmen und auszuhöhlen, damit das gerade erst Der Brexit ist der Anfang vom Ende der aufgetaute Land wieder in den demokratischen Win- EU, wie wir sie kennen terschlaf fällt. Aber auch für alle anderen Menschen in Europa ist der Die Angst vor der Demokratie ist groß Brexit eine große Chance: Er reißt den Schleier der all- mächtigen Alternativlosigkeit herunter und entblößt Dass die Politik gemeinsam mit den staatstragen- das antidemokratische – und damit auch antieuropäi- den Medien tatsächlich alles daransetzen wird, den sche – Antlitz des Brüsseler Elitenapparates. Der Brexit Brexit zu bändigen, zeigten die Debatten der letzten ist der Anfang vom Ende der EU, wie wir sie kennen. Wochen. Die Angst vor der Demokratie ist so groß, Wenn die Menschen die Chance ergreifen, kann dies dass man nicht einmal davor zurückscheut, die Wäh- der Beginn einer demokratischeren Zukunft Europas ler für ihre Entscheidung zu beschimpfen, sie als sein. Rassisten zu diffamieren und Kampagnen zu star- ten, in denen offen die Zurechnungsfähigkeit und das Wahlrecht der Älteren und der kleinen Leute in- frage gestellt wird. Dass gerade die jüngeren Briten MATTHIAS HEITMANN, GEBOREN 1971 IN FRANKFURT mehrheitlich für den Verbleib in der EU stimmten, AM MAIN, WIRKTE 1992 MIT BEI DER GRÜNDUNG DES ist zwar bedauerlich, aber verständlich: Sie sind die MAGAZINS „NOVO“ (SPÄTER „NOVO ARGUMENTE“) Generation des demokratischen Winters, für die die UND WAR BIS 2010 IN DER DORTIGEN CHEFREDAK- EU gleichbedeutend mit Europa ist. Viele machen TION TÄTIG. SEITDEM ARBEITET ER ALS FREIER JOUR- gerade erstmals die Erfahrung, was Demokratie und NALIST UND REDAKTEUR, VORTRAGSREDNER UND Selbstbestimmung eigentlich bedeuten, und sie neh- BUCHAUTOR. ZULETZT IST IM VERGANGENEN JAHR men die Dynamik und die Unsicherheit nicht als Be- SEIN BUCH „ZEITGEISTERJAGD. AUF SAFARI DURCH freiung, sondern als Bedrohung wahr. Für sie ist der DAS DICKICHT DES MODERNEN POLITISCHEN DEN- Brexit ein Crashkurs in Sachen Demokratie. KENS“ ERSCHIENEN. Europa müssen wir

THE EUROPEAN THE gerade jetzt vertiefen

Von Matteo Renzi dass Blätter fallen. „Ex malo bonum“, sagten die La- teiner. Es ist an der Zeit, Europa wieder mit geball- Die Tatsache, dass das Vereinigte Königreich Euro- ter Kraft voranzutreiben. Als ein Haus des Friedens pa verlassen hat, hinterlässt einen tiefen Eindruck. und der Zukunft. Zuerst wollten wir es kaum glauben. Nun ist es aber an der Zeit, darauf zu reagieren. Neben Als ich Eure Stimme zum Europäischen dem Respekt für das britische Volk, Parlament brachte, habe ich an Jo das demokratisch gewählt hat, ist Cox erinnern wollen, die engli- es nun notwendig, Europa einen sche Abgeordnete. Der Gedanke Ruck zu geben. In diesen Jah- an ihre Kinder, die ihre Mutter ren haben die europäischen nicht wiedersehen werden, Institutionen vor allem den weil sie für ihre Ideale kämpf- Themen der Austerity und der te, schmerzt mich sehr. Ich Finanzfragen ihre besondere möchte, dass ihre Geschichte Aufmerksamkeit gewidmet nicht in Vergessenheit gerät, (und dies nicht immer auf ange- wie weggespült vom rauschen- messene Weise). Europa zeigte den Brexit-Strom. Ich möchte, sich wiederum scheu und weit dass ihre Ideen lebendig blei- entfernt, als es um Themen ben in der politischen Debatte. wie Werte, Wachstum, Im- Es wird vielleicht ihren Kin- migration und Zukunft ging. dern nicht dabei helfen, ein Die Stellung Italiens hat sich besseres Leben zu haben. Es nicht geändert: Stellen wir die- wird aber uns helfen, das Beste se Ideale in den Mittelpunkt Es ist an der Zeit von uns zu geben. und nicht die Mauern. Euro- pa ist eine Gemeinschaft und Europa wieder mit nicht ein reines technokrati- geballter Kraft voran sches Gebilde.

zu treiben MATTEO RENZI IST SEIT MÄRZ Ich hoffe, dass dieser Schock 2014 PREMIERMINISTER ITA- uns hilft, in der richtigen Rich- LIENS UND POLITIKER DES tung weiterzumachen. Der Entschluss des Vereinigten Kö- PARTITO DEMOCRATICO (PD). nigreichs kann in der Tat nicht bagatellisiert wer- VON 2009 BIS 2014 WAR ER BÜRGERMEISTER VON den, man kann nicht so tun, als wäre nichts gewe- FLORENZ. sen, oder hoffen, dass der Sturm vorübergeht, ohne Übersetzung: Anna Zanco-Prestel Fotos: © www.matteorenzi.it Fotos: 68 Wind bewegt denArbeitsmarkt www.wind-bewegt.de sowie alskostenfreie App. Fragen undAntworten zum ThemaWindenergie unter Nutzen wirdasPotenzial derEnergiewende. Damit estäglich mehrwerden: 150.000 MenscheneinenArbeitsplatz mitPerspektive. und einwichtiger Jobmotor. DieBranche bietet heute Windenergie ist dietragende SäulederEnergiewende

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Der Mittelstand wird verschwinden

Interview mit Andrew Paul McAfee Zum Teil – natürlich ist es komplexer als das. Ich denke, dass die Menschen, die sich vom System be- trogen fühlen, einen stark ansteigenden Populis- Wie wird Ihrer Meinung nach unsere Arbeiterschaft in den mus und den rasanten Aufschwung von Demagogen nächsten 20 Jahren aussehen? (wie Trump in Amerika) ausmachen. Sie denken, dass Wirtschaft und Gesellschaft schlechter sind, Anstatt einer abrupten Veränderung von einem Tag als sie früher einmal waren. Daher ist die Rede vom auf den anderen werden wir eine Beschleunigung der „Decline“ und der Rückkehr zum „Great America“ Trends sehen, die bereits Realität sind. Beschleuni- für so viele Menschen so attraktiv ... ger hierfür sind Robotik oder Artificial Intelligen- ce. Der Mittelstand wird verschwinden, und es gibt … doch die Schuldigen sind in diesem Fall doch Wall Street viele Indizien dafür, dass durchschnittliche Jobs mit und die Banken! Noch nie hat jemand Roboter dafür be- einem durchschnittlichen Lohn seltener werden. schuldigt. Grund zur Sorge gibt es für Länder – besonders im Falle Deutschlands und der USA –, die in der zweiten Das stimmt. Aber es ist einfacher, Ausländer für die Hälfte des 20. Jahrhunderts eine große Mittelschicht schwindenden Arbeitsplätze zu beschuldigen, als dies entwickelt haben. Und der aktuelle Wahlkampf in als Folge der technischen Entwicklung zu sehen. Man den USA zeigt, dass die Leute denken, dass ihre Mit- kennt die Konsequenzen der Globalisierung, aber die telschicht langsam, doch sicher verschwindet. Kritik an der Technik ist noch nicht so ausgereift, als dass dies eine öffentliche Debatte verursachen würde. Kann man den Aufstieg populistischer Rhetorik auf beiden In Amerika (sowie den meisten europäischen Ländern) Seiten des Atlantiks diesem Zerfall der Mittelklasse akkre- werden Arbeitsplätze an zwei Enden des Spektrums ditieren? Einige sagen, es sei der Rückschlag der Globali- geschaffen: dem oberen für qualifizierte und gut aus- sierung und Digitalisierung – stimmt das? gebildete Menschen und dem unteren für Berufe, die 70 THE EUROPEAN 71

wenig Voraussetzungen haben, aber für die noch kein liarde US-Dollar von Facebook gekauft wurde, hatte die Technikersatz marktfähig ist. Besonders in Amerika gibt Firma weniger als 20 Mitarbeiter. Wir haben viele neue, es immer mehr Arbeitsplätze am unteren Ende des Ar- sehr beeindruckende Unternehmen, die großen Wert beitsmarktes – Berufe mit niedrigem Lohn und mit we- schaffen, aber sie tun das mit viel weniger Menschen, niger Vorteilen. Sozialversicherung ist so gut wie nicht als es die Riesen des Industriezeitalters einst taten. vorhanden und hinterlässt deshalb viele Familien in schwierigen Situationen. Die Schaffung von Arbeitsplät- Und das liegt daran, dass Prozesse wie Datenerfassung heut- zen hat sich von der Mitte hin nach unten verschoben. zutage von Maschinen durchgeführt werden. Eine Beobach- Früher gab es Routinejobs am Bankschalter oder am Fa- tung, die ich gemacht habe, ist, dass Medien in Amerika eine brikband. Heute haben wir automatisierte Prozesse für Menge an Investitionen generieren. Würden Sie zustimmen, beides. Diese Arbeitsplätze werden zudem nicht zurück- dass Media Entrepreneurship weiterhin eine lebendige Indus- kommen, denn Software ist billiger und zuverlässiger trie bleibt? als Handarbeit. In Zukunft wird Routinearbeit zum Teil oben, aber zum größten Teil unten, im Fertigungsbe- Absolut. Es passiert viel in der Medienbranche, aber der reich, stattfinden. Fokus scheint darauf zu liegen, neue Wege zu finden, in denen Medien zu Menschen gebracht werden. Zum Bei- Der Mittelstand Kompensieren wir dieses Verschwinden, wenn wir neue spiel BuzzFeed, Vice, Bleacher Report. Und dann gibt Industrien schaffen? es auch sehr reiche Tech-Akteure, die Zeitungen kaufen – Jeff Bezos und die „Washington Post“ zum Beispiel. Ja, aber es scheint, als hel- fe das der Mittelschicht Wir sehen ständig neue wird verschwinden nicht viel. Natürlich wer- ALS INSTAGRAM FÜR EINE Geschäftsmodelle, die die den neue Arbeitsplätze Medien revolutionieren. geschaffen, die es vorher MILLIARDE US-DOLLAR Netflix und Amazon Prime nicht gab – man nehme in der Fernsehbranche, Data Scientists und Soci- GEKAUFT WURDE, HATTE Spotify und Soundcloud in al-Media-Berater als Bei- DIE FIRMA WENIGER ALS der Musikbranche. Ist der spiel. Aber auch hier ist Journalismus als Nächstes das Problem, dass diese 20 MITARBEITER dran? Oder gibt es für ihn Arbeitsplätze am oberen kein anderes Modell? Ende des Spektrums geschaffen werden. Auf der unte- ren Seite entstehen neue Jobs wie zum Beispiel das eines Jeder will Inhalt. Unternehmer versuchen, neue Wege Uber-Fahrers. Er oder sie hat einen Job, den es vor einem zu finden, Inhalte in einer Art und Weise zu liefern, Jahrzehnt noch nicht gab. Heutzutage ist es schwer, einen die wir als Verbraucher überzeugend finden. Zugleich Job zu finden und zu behalten, in dem man sich seinen muss man natürlich immer noch einen Gewinn gene- eigenen Zeitplan schafft, und in welchem man auch rieren. Der Inhalt ist immer noch Kern der Industrie, ohne Diplom sein Brot verdienen kann. Ich sage nicht, und für das Generieren automatisierteren Inhalts ist es dass Uber schuld daran ist, dass heute überall mittelstän- noch zu früh. Auch wenn wir Algorithmen haben, die dische Jobs fehlen. Aber lassen Sie uns ebenfalls nicht so Geschichten und Nachrichten der Beliebtheit nach ord- tun, als ob wir die gleichen Arbeitsplätze und Löhne noch nen und generieren, glaube ich nicht, dass dem Journa- vorfinden, die wir noch vor 20 Jahren sahen. lismus eine Automatisierung bevorsteht.

Natürlich. Zudem muss man sagen, dass der Wettbewerb in Wie wirkt sich das auf den Beruf eines Journalisten aus? der Wissenschaft passiert und nicht unter Fahrern. Eines Schon jetzt funktioniert ein Unternehmen durch das Sam- Tages werden wir selbstfahrende Autos haben … meln, Verstehen und Interpretieren von Daten. Wie gehen wir mit Big Data im Journalismus um? Hast sich dieser in den ...Und Uber investiert in selbstfahrende Autos. Natür- Mittelpunkt unseres Berufs bewegt? lich generieren wir noch neue Arbeitsplätze für Men- schen, aber in unserer Gründungswirtschaft liegt der Big Data ist ein Modell von vielen. Ich bezweifle, dass je- Fokus der Unternehmen nicht auf der Schaffung neuer der Leser datenintensiven oder datengenerierten Inhalt Arbeitsplätze. Wenn ein Gründer die Möglichkeit hat, konsumieren will. Nehmen Sie wieder den Wahlkampf sein Unternehmen auf eine skalierbare Art und Weise in Amerika als Beispiel: Während Wahlen generell vol- aufzubauen, wird er das tun. Als Instagram für eine Mil- ler Statistiken und Hochrechnugen sind – datengesteu- ert –, gibt es immer noch Experten, die im Fernsehen sehr gesättigten Gesellschaft. Aber ich sehe, dass auf sprechen und Kolumnen über ihre persönlichen Inter- uns mehr schlechte als gute Dinge zukommen, Aus- pretationen der Ereignisse schreiben. Und während Ex- grenzung und Diskriminierung zum Beispiel. perten eine historisch bewiesene Fehleinschätzung vor- zuzeigen haben (causa Trump), gibt es nach zig Jahren Besteht eine Notwendigkeit, die genannten Probleme in immer noch die Nachfrage für politische Meinungen. Angriff zu nehmen? Müssen wir unsere Philosophie der THE EUROPEAN THE Apropos – die Arbeitsplätze, die in der Wirtschaft als Arbeit überdenken? Ganzes am meisten gebraucht werden, sind qualitative. So wie ich es sehe, bewegen wir uns auf einen Riss Wie wirkt sich das auf die American Identity aus? Wird es in unserer Gesellschaft zu, indem wir auf eine Wirt- Maschinen geben, die unsere Arbeit machen, während wir schaft zusteuern, die nicht viel Arbeit braucht. In 50 zu Hause herumsitzen? Wäre ein solcher Trend nicht das Jahren werden Minen, Fabriken und Lager vollständig Armageddon für die amerikanische Gesellschaft? automatisiert sein. Trucks fahren selbst, Felder ernten sich selbst. Wir werden eine extrem automatisierte Es ist ein großes Problem. Voltaire sagte einst: „Die Wirtschaft haben, die Waren und Dienstleistungen Arbeit hält drei große Übel fern: die Langeweile, das für uns erzeugt, während wir selber diese Idee des full Laster und die Not.“ Von diesen drei ist Not ist die am employment nicht mehr brauchen. Ich weiß, dass die- einfachsten ersetzbare. Wichtig ist, sich darüber im ses Argument seit mindestens 200 Jahren existiert; Klaren zu sein, wie ein gesunder, ausgewogener Lifes- aber ich weiß auch, dass bis vor ein paar Jahren die tyle aussieht, wenn er nicht mehr von einer 40-Stun- Technologie nicht vorhanden war, dieses Argument in den-Woche dominiert wird. Und leider erschrecken die Realität umzusetzen. Aber wenn ich den technolo- mich die Antworten, mit denen wir bis jetzt ausge- gischen Fortschritt beobachte, den wir allein hier am kommen sind. Mein Kollege Charles Murray beobach- MIT machen, müssen wir uns gefälligst schnell Ihre tet zum Beispiel, dass sich die oberen 20 Prozent der Frage beantworten – wie schaut eine gute Gesellschaft weißen amerikanischen Mittelschicht in den letzten in 50 Jahren aus? 50 Jahren nicht stark verändert haben – Leute heira- ten heute noch so oft wie früher, lassen sich genau- Und wir müssen daran denken, dass nicht nur die so oft scheiden, haben konstant große Familien und Low-End-Arbeitsplätze immer knapper werden! so weiter. Wenn Sie sich jetzt die unteren 20 Prozent anschauen, sehen Sie, dass sich vor 50 Jahren ein Le- Absolut – wenn Menschen durch Maschinen ersetzt ben in den unteren 20 Prozent nicht sehr von dem der werden, rutschen diese Menschen nicht die Karrierelei- oberen 20 Prozent unterschied immer noch innerhalb ter hoch, sondern runter. Und das setzt Low-End-Ar- der weißen Mittelschicht. Seitdem sind alle diese In- beiter unter Druck, was darin enden wird, dass sowohl dikatoren der unteren Mittelschicht stetig abgedriftet Löhne als auch die Arbeitslosigkeit steigt – ein Grund, – Scheidungsraten sind gestiegen, die Zahl der Ein- weshalb ich eine negative Einkommensteuer in Ame- Eltern-ein-Kind-Haushalte ist gestiegen. Drogenkon- rika befürworte. Jedoch beschäftigen wir uns bis jetzt sum, die Sterberate, egal welche Statistik, sie hat sich nur mit Voltaires Notwendigkeit – es fehlen noch Las- ins Negative bewegt. ter und Langeweile, und mit denen haben wir noch nicht einmal angefangen. Aber wie wichtig ist denn Arbeit für uns heutzutage, egal in welchem Beruf? Ihr Modell leitete Deutschland durch die letzte Krise – die Idee, dass Menschen Geld zurückbekämen, wenn sie ihre Enorm wichtig. Arbeit ist ein Muss – es ist ein sozialer Autos verkauften, rettete die gesamte deutsche Automobil- Status, es gibt einem Identität. Es gibt einem Würde, industrie. es bringt den Kontakt zu anderen Menschen. Arbeit ist extrem wichtig. Seitdem ich Arbeit sowohl aus einem Jedes Mal, wenn eine neue Steuer oder Regulierung soziologischen als auch einem ökonomischen Winkel in Kraft tritt, wird der Markt gestört. Ich unterstütze betrachte, bin ich selber ein großer Fan von Arbeit Regulierungen, solange es eine Notwendigkeit für geworden. Nicht wegen des Status, sondern vielmehr, das Vorhandensein von staatlichen Interventionen weil es mir eine Grundlage für ein gesundes Leben in Märkten gibt. Aber – dies bedeutet nicht, dass wir bietet. Und nur weil ich Angst vor dem Verschwinden eine 180-Grad-Wende vollziehen und eine sowjeti- der Mittelklasse habe, bedeutet das nicht, dass die Un- sche „Jeder bekommt eine Wohnung“-Politik verfol- terschicht verhungert – in Amerika leben wir in einer gen sollten. 72 THE EUROPEAN Staffel 4 exklusiv 73 auf Sky Atlantic HD

Einen Gutteil meiner Zeit habe ich sowohl in Silicon Valley als auch in New York ver- bracht und beobachtet, dass es einen be- stimmten Schwellenwert bei der Größe oder dem Wert eines Unternehmens zu geben scheint, ab welchem ein Unternehmen aus dem Valley nach New York City umzieht. Er- lebt New York eine Tech-Renaissance?

Es gibt eine riesige Anzahl an interessan- ten Aktivitäten in New York, besonders in der Medien- und Finanzdienstleistungs- branche. In New York sind die riesig. Den- noch ist es nur ein Bruchteil an Unter- nehmen im Vergleich zu dem, was es in Kalifornien gibt. Die Philosophie scheint Die hier das Hauptunterscheidungsmerkmal zu sein – in Kalifornien ist alles entspannt, neue Staffel eher Hippie. Der Geist ist mehr auf die Kommune gerichtet, ist spontaner und nur auf aufgeschlossener als in NYC.

Ist es diese Einstellung, die Amerika zur- Sky zeit wieder braucht?

Ja. Die Menschen sind überall busy. Be- sonders im Valley, wo wir die Technologie unserer Zukunft entwickeln, müssen die Menschen enorm hart arbeiten. Obwohl ihr monetärer Lohn nicht ihre Bemühun- gen widerspiegelt, glauben die Menschen in Kalifornien wirklich an ihre Arbeit.

Herr McAffee, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führte Alexander Görlach. © 2016 MRC II Distribution Company All L.P. rights reserved.

DR. ANDREW PAUL MCAFEE ARBEITET ALS KO-DIREKTOR DER MIT INITIATIVE ON THE DIGITAL ECONOMY, DARÜBER Nur auf Sky HINAUS IST ER STELLVERTRETENDER DIREKTOR DES CENTER FOR DIGITAL stehen alle zur Wahl BUSINESS AN DER MIT SLOAN SCHOOL OF MANAGEMENT. DER PROMOVIERTE Freu Dich auf wirklich alle Folgen: Die neue Staffel 4 ab 4. März BETRIEBSWIRTSCHAFTLER BESCHÄF- auf Sky Atlantic HD, dazu die Staffeln 1-3 auf Sky Box Sets. TIGT SICH MIT DER FRAGE, WIE SICH MODERNE INFORMATIONSTECHNO- LOGIEN AUF DIE WIRTSCHAFTSWELT sskkyy..ddee//hhousseeooffccaarrdds AUSWIRKEN. Die neuesten und besten Serien auf Sky. Komplette Staffeln, alle Folgen. Auf Abruf mit Sky Box Sets.

he_European_103x280_sky.indd 1 12.02.16 16:21 Wird Mexiko THE EUROPEAN THE das neue China?

Interview mit Enrique Krauze sagen. Und dann haben wir natürlich noch das Prob- lem mit Drogen und Geldwäsche.

In Europa und Amerika gedeiht die Mittelschicht als ein Herr Krauze, manche Analysten feiern Mexikos Aufstieg Produkt der wirtschaftlichen Entwicklung. In beiden Fäl- und sehen bereits einen China-artigen Boom am Hori- len hat es jedoch gleichzeitig die Staatsverschuldung an- zont. Malen ein pessimistisches Bild von Mexiko. War- gekurbelt – wir haben das zum Beispiel in der Eurokrise um? erfahren. Hat Mexiko dasselbe Problem? Gibt es eine auf- strebende Mittelschicht? Als Historiker betrachte ich die Dinge in einer histori- schen Perspektive. Ich lebte durch die 1970er-Jahre, die Ja, es gibt sie. Es ist keine Mittelschicht im Vergleich 1980er- und die 1990er-Jahre und begann in einer Zeit zu der europäischen oder amerikanischen. Die typi- zu schreiben, als Mexiko komplett vom Staat abhängig sche mexikanische Mittelklasse besitzt ein Haus, hat war – und der Staat enorm von Öl. In den 1980er-Jahren einen Kühlschrank, Pay-TV und so weiter. Die Staats- begannen wir, die mexi- verschuldung gibt zur- kanische Wirtschaft mit zeit keinen Grund zur Freihandelsabkommen DAS GRÖSSTE PROBLEM, Sorge, unsere Inflation und anderen Maßnah- liegt bei 2 Prozent, was men zu öffnen. Heute DAS WIR HIER HABEN, SIND gesund ist; wegen nied- ist die mexikanische riger Ölpreise hat der Wirtschaft eine der VERBRECHEN UND UNSERE Peso an Wert verloren, offensten, die es gibt. aber die Inflationsrate ist Es ist erstaunlich, ver- UNFÄHIGKEIT, SIE ZU gleich geblieben. Vor 30 schiedenen Aspekte von Jahren war Mexiko eine Mexiko beim Gedeihen BEKÄMPFEN besondere Diktatur, und zuzusehen; die Energie erst vor 16 Jahren gab es heutzutage ist bemerkenswert. Es gibt eine Dynamik, einen – friedlichen – Übergang zur Demokratie. Ja, es die niemand vor 30 Jahren hätte erwarten können. gibt eine aufstrebende Mittelschicht, die sich zum Bei- Aber trotzdem haben wir gravierende Probleme. Allem spiel in der Zunahme der Frauen im privaten Sektor voran bewegen wir Dinge nicht schnell genug. Viele und in der Politik beweist, ein typischer Indikator für Branchen sind immer noch von den USA abhängig; die soziale Entwicklung eines Landes. Es hilft nicht, Rimessen sind nach wie vor sehr wichtig für unsere dass die internationale Presse meines Erachtens Me- Wirtschaft. Die Wirtschaft wächst um rund 2,5 Prozent, xiko sehr hart behandelt – es gibt keine Anerkennung was bei weitem nicht genug ist für das, was dieses Land der Fortschritte des Landes, besonders in Bezug auf braucht. Hinzu kommt, dass der informelle Sektor im- die Förderung und Stärkung der wirtschaftlichen Ent- mer noch riesig ist. Aber meines Erachtens ist Mexi- wicklung und das Etablieren eines Mehrparteiensys- ko derzeit auf diesen informellen Sektor angewiesen, tems unmittelbar nach einer Diktatur. Es gibt nicht trotz allem, was grundlegende ökonomische Theorien viele Länder, die dies geschafft haben. 74 THE EUROPEAN 75

Sie reden zudem über die jüngere Generation, die nicht un- bedingt diese Not der 1970er-Jahre-Generation erfahren hat. Es gab neue Forschungsergebnisse von Harvard-Wissen- schaftlern, die besagen, dass je jünger der Befragte war, des- to weniger konnte er die Vorteile einer liberalen Demokratie schätzen; mittlerweile ist es einfach selbstverständlich. Wie schaut die Spaltung der Generationen in Mexiko aus?

Das ist hier genauso, aber ich glaube, das ist unver- meidbar. Ich kann ihnen nicht vorwerfen, dass sie sich an einen Lebensstil anpassen, der ihnen eine Genera- tion voraus war. Die jüngere Generation, die mexika- nischen Millennials wollen unsere Demokratie nicht zerstören – was natürlich gut ist. Wir dürfen uns wirk- lich nicht beschweren – es ist gut, dass hiesige Mill- ennials nicht danach streben, Revolutionäre zu sein. Niemand zwischen 18 und 30 läuft mehr in den Wald und kämpft im Guerillastil gegen die Regierung – so, wie es vor 30 Jahren noch der Fall war. Allerdings ist der Wachstumsprozess von Mexiko bei weitem noch nicht fertig. Die Menschen sind mit der aktuellen Si- tuation unzufrieden. Gewalt, Korruption und andere Verletzungen beschmutzen unsere Demokratie noch Nähe, die zum zweiten Problem führt, nämlich, dass immer. Dazu kommt, dass wir andere Probleme haben Lateinamerika in einem viel tieferen Chaos steckt als als Europäer. Hier gibt es kein Migrationsproblem oder Mexiko. Alle populistischen Bewegungen dort unten religiöse Probleme; es gibt keine Rassenprobleme, wie scheitern derzeit, und es wird eine Verschiebung in es sie in Amerika gibt. Das größte Problem, das wir der Politik geben. Aber das unterschiedliche Wirt- hier haben, sind Verbrechen und unsere Unfähigkeit, schaftswachstum unter lateinamerikanischen Ländern sie zu bekämpfen. Dies, und Korruption, ist das, was – zum Beispiel wenn man Costa Rica und Bolivien ver- sich dem Wuchs dieses Landes in den Weg stellt, aber gleicht – ist zu unterschiedlich, als dass es für Mexi- es konfrontiert uns auch mit einem spannenden Pro- ko sinnvoll wäre, Lateinamerika als eine gemeinsame zess: Wie führt man in einer modernen Gesellschaft Handelseinheit zu sehen. Gesetze ein? Und was ist mit Spanien und Europa? Bieten diese Wie beeinflusst es Mexiko, dass es zwischen den Verei- eine bessere Trading-Gelegenheit für die mexikanische nigten Staaten und den anderen lateinamerikanischen Wirtschaft? Ländern liegt? Geben die Geografie und die gemeinsame Sprache dem Land irgendeinen Vorteil gegenüber den USA Leider sind wir – geografisch gesehen – sehr weit von in Bezug auf Handelsbeziehungen? Europa entfernt. Historisch gesehen hat Mexiko eine Art Liebesaffäre mit Frankreich. Und natürlich, Sie Ich denke, Mexiko konzentriert sich kontinuierlich erwähnten es, ist Mexiko Spanien sehr ähnlich. Ich darauf, Handelsbeziehungen mit den Vereinigten persönlich hätte gerne das spanische Justizsystem Staaten zu verbessern – und das wird auch weiter- oder die spanische Polizei und deren Institutionen. hin gehen, vorausgesetzt Trump gewinnt die Wahl Sagen Sie, was Sie wollen, Spanien steckt wirtschaft- nicht. Im Vergleich zu Amerika, und ich wiederhole lich zwar in Schwierigkeiten, aber seine Institutionen dies, weil es immens wichtig ist, Folgendes zu verste- haben es geschafft, ihre Kraft unabhängig vom Staat hen – Mexiko ist ein kulturell homogenes Land, das zu behalten. Es sind die bürgerlichen Prozesse, die nicht Probleme des Rassismus, der Religionskriege ich beneide. oder Migration hat. Lateinamerika kooperiert nicht und handelt nicht genug untereinander. Heute hilft Gibt es einen europäischen Einfluss auch in der politi- uns das Internet zwar zusammenzukommen, aber schen Kultur? zwei Probleme bleiben: Erstens ziehen die Länder nicht wirtschaftlichen Vorteil aus ihrer geografischen Das ist eine ganz wichtige Frage, die meiner Mei- nung nach historisch vernachlässigt wird. Der Mann, Westen als Vorbild zu dienen? Zurzeit haben wir in Europa der diese am meisten untersuchte, war Richard Mor- eine alternde Bevölkerung, keine neuen überzeugenden se, ein Forscher iberoamerikanischer politischer politischen oder wirtschaftlichen Ideen. Gibt es etwas, was Kultur. Er zeigte, dass die Kultur eines Landes tief in wir von Mexiko lernen können? einem neoscholastischen Paradigma der Macht ver- wurzelt ist. Das ist etwas, was ich schon immer als Morse, der Wissenschaftler, den ich bereits erwähnte, THE EUROPEAN THE wahr empfand. Die Art und Weise, in der wir hier dachte, dass Lateinamerika – er schrieb in den 1970er- oder in Europa die Macht wahrnehmen, ist anders und 1980er-Jahren – eine Quelle kultureller Werte und als die amerikanische Interpretation von Macht. Drei Lebensweisen sei. Er nannte es conviviality. Es ist eine Jahrhunderte der spanischen Herrschaft hier hinter- Lebensansicht, die zumeist über Literatur, Musik und ließen etwas sehr Tiefes. Trotz Monarchie und Dikta- Kunst projiziert wird. Der alte Westen, auch die USA tur bewegen wir uns in Richtung Demokratie … sollten sich das mal anschauen! Teilweise passiert dies schon in den USA, da dort viele Lateinamerikaner sind ... aber es gab auch eine emanzipatorische Bewegung von – die Einwanderer bringen diese Haltung mit, wenn sie den Jesuiten, die den Bewegungen Europas sehr ähnelt. sich in den Vereinigten Staaten niederlassen. Mal schau- en, was in den nächsten zehn oder 20 Jahren passiert! Octavio Paz sagte einst einen wunderbareren Satz: Ich weiß nicht, ob dies auch in Europa der Fall ist, weil „Lateinamerika ist ein exzentrischer Vorposten des lateinamerikanische Migration sich vor allem auf Ame- Westens.“ Ich stimme zu. Unsere Exzentrizität, in der rika konzentriert. Aber das ist ein tiefer liegendes Prob- das politische und kulturelle Erbe Spaniens zu sehen lem – wie dringen Kulturen in andere Regionen durch? ist, ist das, was uns eigen macht. Jedoch auch, dass In Mexiko sagen wir: Unfälle passieren nicht, aber sie die Exzentrizität zu einem gewissen Grad bedeutet, passieren. Die USA sind ein echter Schmelztiegel der dass wir in Mexiko uns in einer anderen Phase der Kulturen. Lateinamerikanische Millennials spielen eine Demokratisierung befinden als alle anderen. wichtige Rolle darin. Was den politischen Gedanken hinter der europäischen Idee angeht, kann ich nur eines Erzählen Sie mir mehr über die Exzentrizität Mexikos – ich sagen: Das Problem ist die Art und Weise, wie Europa habe es im ganzen Land bemerkt, aber woher kommt es, und „die anderen“ behandelt. Wir in Mexiko sehen, was in wird sich das in eine bestimmte Richtung entwickeln? Europa geschieht, und denken uns, dass das Verhalten mancher Länder sehr seltsam ist. Lateinamerika war im Wesentlichen ein Zweig von Spanien. Unsere Exzentrizität ist in unserer Ge- Señor Krauze, vielen Dank für das Gespräch. schichte – wir haben eine spanische Herrschaft – 13 Das Interview führte Alexander Görlach. Könige, die friedlich einander ablösten, von denen keiner je einen Fuß auf unser Land gesetzt hat. Das, nebenbei bemerkt, ist ein interessanter Fall in Bezug auf die Legitimität. Die Mexikaner leben nicht unter Repression; die spanische hat natürlich viel einhei- mische Bevölkerung ausgerottet, aber die Mehrheit ENRIQUE KRAUZE KLEINBORT (JAHRGANG 1947), der Mexikaner wurde in Mexiko unter spanischer IST EINER DER WICHTIGSTEN INTELLEKTUELLEN Herrschaft aufgenommen. Der zweite Grund für die MEXIKOS. ALS HISTORIKER HAT ER ZAHLREICHE Exzentrizität liegt in den präkolonialen Kulturen, BÜCHER ÜBER MEXIKANISCHE REVOLUTION UND die kein westliches Land hat. Lateinamerika ist, his- GESCHICHTE VERFASST, ALS PUBLIZIST GEHÖRT ER torisch gesehen, ein Ort der Spannung. Die Vergan- ZU DEN GROSSEN DEUTERN DER WIRTSCHAFTS- genheit ist immer noch tief verwurzelt – Kulturen, GESCHICHTE, ALS VERLEGER VON EDITORIAL CLIO Gewohnheiten, Stammesrituale gibt es heute noch PRODUZIERT ER BÜCHER WIE FILME, INSBESON- wie vor 400 Jahren. Aber die Menschen blicken auf DERE HISTORISCHE DOKUMENTATIONEN. KRAUZE die Zukunft und fühlen die volle Wirkung der Glo- GRÜNDETE DAS KULTURMAGAZIN „LETRAS LIBRES“, balisierung und Digitalisierung. Wir müssen ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden finden, und DAS IN MEHREREN SPANISCHSPRACHIGEN LÄN- das ist die wahre Herausforderung des Landes und DERN VERTRIEBEN WIRD. ZUSAMMEN MIT SEINEM des Kontinents. LANGJÄHRIGEN LEBENSGEFÄHRTEN, DEM NOBEL- PREISTRÄGER OCTAVIO PAZ, PRODUZIERTE ER ZU- Wie kann man diese Exzentrizität ausdrücken, um dem DEM DAS MAGAZIN „VUELTA“.. 76 20. Januar 2017

Der Jahresauftakt für Entscheider. TEGERNSEE

www.ludwig-erhard-gipfel.de 78 THE EUROPEAN THE EUROPEAN 79 „Mensch, das ist cool!“ Interview mit Rupert Stadler

Im Interview spricht Rupert Stadler, Vorstandsvorsitzender der Audi AG, über neue Technologien, die Rolle der Daten im Autogeschäft und warum Deutschland lernen muss, das Sili- con Valley besser zu verstehen.

Die A 9 ist die Teststrecke für die Straße der Zukunft. Sie läuft direkt bei Ihnen in vorbei. Sehr zu Ihrer Freude, wie ich vermute?

In der Tat. Ich habe mit Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt per- sönlich darüber gesprochen und mich dafür eingesetzt, dass diese Ver- suchsstrecke möglich wird. Herr Dobrindt hat das pilotierte, automatisier- te Fahren kürzlich bei uns erprobt und war begeistert. Ich bin überzeugt, dass modernste Fahrer-Assistenzsysteme bis hin zum pilotierten, automa- tisierten Fahren die absoluten Zukunftstechnologien sind. Und da muss es ein Kerninteresse von uns sein, ganz vorne mitzuspielen. „Tested on German Autobahn“ ist zum globalen Gütesiegel für die deutsche Automo- bilindustrie geworden. Das muss sich auch auf diese neuen Technologien erstrecken. Dazu muss die Politik den Rahmen schaffen. Die Rahmenge- setzgebung in den USA gibt es bereits. Dort können wir in einigen Bundes- staaten unsere Autos bereits testen. Ich möchte aber, dass hier die Musik spielt – und muss sagen: Bundesverkehrsminister Dobrindt hat sehr zügig auf unser Anliegen reagiert. Das ist ein erster Schritt, weitere müssen und werden folgen.

Was speziell meinen Sie?

Die gesamte Vernetzung des Automobils. Von Auto zu Auto. Von Auto zu Verkehrsleitsystemen. Pilotiertes, automatisiertes Fahren ist ein komple- xes Technologiefeld. Wir sollten die Rahmenbedingungen auf deutschen Autobahnen, aber auch auf Bundesstraßen und möglichst auch auf Land- straßen so organisieren, dass wir den Beweis antreten können: Das ist hier durchgetestet. Die Technologie, das Know-how, die Ingenieure – all das haben wir hier in Deutschland. Wir sollten dafür sorgen, dass diese Tech- nologie auch als deutsche Kernkompetenz bei uns bleibt.

Das heißt, dass Ihre Kollegen von BMW jetzt öfter mal bei Ihnen in Ingolstadt vorbeikommen, zumindest auf der Autobahn.

Das kann sein, aber eines ist gewiss: Wir sind mit dieser Technologie zügig unterwegs (lacht). © Audi Wie sieht Ihre Vision vom Auto der Zukunft aus? Was wird und Reichweite und nimmt den Kunden die Angst, lie- ein Auto können? Was nicht? Und ab wann funktionieren? gen zu bleiben – wenngleich wir in der Batterietechno- logie schon enorme Quantensprünge sehen. Was den Das Automobil der Zukunft wird, wie bisher auch, sei- Wasserstoffantrieb angeht, würde ich nicht sagen, dass nen Besitzer von A nach B bringen. Es wird sich aber das Thema zu den Akten gelegt ist. Wasserstoff in Ver- immer mehr zu einer Komfortzone entwickeln. Es bindung mit der Brennstoffzelle treibt ebenfalls Elektro- THE EUROPEAN THE wird Privatsphäre bieten, aber auch eine Arbeitszone motoren an und ermöglicht eine ausgeglichene CO2-Bi- sein, in der die Menschen permanent vernetzt sind. lanz. Es beginnt eher ein Wettbewerb unterschiedlicher Zeit bekommt für die Menschen einen immer höheren Technologien. Und Wettbewerb ist immer gut, denn er Stellenwert. Das Premiumautomobil von morgen wird erzeugt Dynamik. Wir werden erst in zehn, 15 Jahren seinem Besitzer genau das bieten: einen Zeitgewinn. Es sehen, was sich durchsetzt. Und es kommt ja noch ein wird von der Zeit, die der Fahrer morgens eine Stunde zusätzlicher Aspekt hinzu, nämlich die Frage: Wie sieht und abends eine Stunde im Auto unterwegs ist, etwas Mobilität in den großen Metropolen aus, in denen Milli- zurückgeben. Pilotiertes, automatisiertes Fahren ermög- onen Menschen auf geringem Raum leben? Hier in un- licht, selbst zu entscheiden, wie die Fahrzeit genutzt serem Umfeld haben wir ja geradezu eine dörfliche At- wird – zur Entspannung oder aber, um zu arbeiten. Das mosphäre, verglichen mit Schanghai, Peking oder São erhöht die Arbeits- und Lebensqualität der Menschen. Paulo. Auch dort wird es Mobilitätsbedürfnisse geben, Die „old economy“, wie die Automobilindustrie vor zehn die wir zu erfüllen haben. Gerade dort werden unsere Jahren genannt wurde, ist drauf und dran, das Moderns- Technologiesprünge am meisten Sinn machen. te und Begehrteste auf die Räder zu stellen, was wir uns so vorstellen können. Was meinen Sie, warum Unter- Wie lange werden wir noch Benzin und Diesel tanken? nehmen wie Google und Apple so interessiert sind? Auch noch in 20 Jahren, mit kleineren Hubräumen, Gibt es Dinge, die Autos in allerdings stark vernetzt zehn oder 20 Jahren können WIR WERDEN EINEN mit Batterietechnologie. werden, an die wir noch gar Unterschätzen Sie nicht nicht denken? GROSSTEIL UNSERER die Emerging Markets, in denen die Menschen we- Sie werden sicher nicht AUTOMOBILE ELEKTRISCH gen der Kaufkraft länger fliegen können. Revolutio- auf Verbrennungsmotoren nen sind selten. Aber was LADEN setzen werden. Umgekehrt ich derzeit an evolutionärer sollten wir als hochentwi- Entwicklung feststelle, ist von einer einzigartigen Dyna- ckeltes Land Vorreiter und Schrittmacher für diese mik. So etwas hat es in den letzten 20, 30 Jahren der neue ökologische Ausrichtung sein. Automobilgeschichte nicht gegeben. Nehmen Sie nur einmal das Thema Ökologie: Kohlendioxid-neutrale Ist die Batterietechnologie – bei allen Erfolgen – nicht Mobilität hat vor 15 Jahren praktisch niemanden inter- weiter das große Sorgenkind? essiert. Heute sind wir in der Elektromobilität sagenhaft weit, schaffen eine wunderschöne Fahrdynamik und Die Erwartung der Kunden an die Reichweite ist höher, Sportlichkeit, ohne dass jemand auf das Luxusgefühl als wir es derzeit technologisch zu lösen vermögen. Ge- beim Autofahren verzichten müsste. All das ist span- rade deswegen sind wir mit Hochdruck daran, die Reich- nend. weite fortzuentwickeln. Ein Automobil wie der R8 e-tron, den wir in Genf gezeigt haben, legt batteriegetrieben eine Lassen Sie uns kurz bei der Antriebstechnik bleiben: Vor ei- Distanz von 400 Kilometern zurück. Im Moment arbei- nigen Jahren war Wasserstoff das große Thema in der Auto- ten wir an einem batteriegestützten Auto mit 500 Kilo- mobilindustrie – und wurde plötzlich wieder beerdigt. Heute metern Reichweite, das wir 2018 auf den Markt bringen ist Elektromobilität das große Thema, entweder als Zusatz wollen. Das ist technologisch machbar. Damit werden wir zum Verbrennungsmotor oder sogar als eigenständiger An- im Zentrum der Kundenwünsche angekommen sein. trieb. Herr Stadler, was werden wir in zehn Jahren tanken? Vorausgesetzt, man kann die Autos aufladen. Wir werden einen Großteil unserer Automobile elekt- risch laden. Es wird trotzdem einen Verbrennungsmo- Wir müssen in der Tat gemeinsam mit der Bundes- tor an Bord geben. Er bietet ein Maximum an Sicherheit regierung eine Lade-Infrastruktur organisieren, damit 80 THE EUROPEAN 81 © Audi der Kunde sorgenfrei eine Tankstelle findet und das stadt für Elektroautos alleine wird es nicht richten. Wir Schnellladen innerhalb von 15 oder 20 Minuten mög- brauchen massive Investitionen in eine Lade-Infra- lich ist. Wenn wir das umgesetzt haben, gibt es keinen struktur. Da sind Bund und Länder gefordert. Wenn Hinderungsgrund mehr, ein Elektroauto zu kaufen. wir das schaffen, ist der größte Schritt getan. Denn die Beschleunigung eines Elektroautos, das Drehmoment, ist gigantisch. Müssen Sie das in Berlin und München regelmäßig an- mahnen? Die Bundesregierung will im Jahr 2020 eine Million Elektro- autos auf der Straße haben. Ist das zu schaffen? Steter Tropfen höhlt den Stein.

Wir sollten uns nicht darauf kaprizieren, ob nun die Welchen Einfluss hat denn nun die digitale Welt auf den eine Million bis 2020 zu schaffen ist oder nicht. Das Automobilbereich? ist unerheblich. Die Kernfrage ist doch vielmehr: Hat die Automobilindustrie die Elektromobilität als Inves- Wir werden sehen, dass beide Produktwelten mitein- tition auf der Agenda? ander verschmelzen. Die neue junge Generation wird permanent online sein. Zudem werden Freizeit und Ar- Hat sie? Oder alles nur Marketing? beitszeit immer flexibler und miteinander verschmel- zen. Das müssen wir im Auto der Zukunft abbilden. Sie hat das Thema auf der Agenda! Mit einem ganz dicken Ausrufezeichen. Schauen Sie sich zum Bei- Das betrifft hauptsächlich die Kommunikation. Welche spiel unser Rekordinvestitionsprogramm von 24 Daten spielen in der Automobilwelt sonst eine Rolle? Milliarden Euro in fünf Jahren an. Jetzt ist die Frage, ob auch die Kunden positiv darauf reagieren. Dazu Stellen Sie sich folgende Situation vor: Bei einem müssen sie Elektromobilität erst einmal selbst erle- Fahrzeug greift das Elektronische Stabilisierungs- ben. Die, die es erlebt haben, sagen: Mensch, das ist programm (ESP) ein, weil an einer Stelle der Stra- cool! Ich bin überzeugt, in den nächsten ein bis zwei ße eine Eisfläche war, und das Fahrzeug gibt diese Jahren wird das Produktangebot so groß sein, dass Information an ein zentrales Verkehrsleitsystem eine nicht unwesentliche Einflussgröße an Bedeu- weiter, das die vernetzten nachfolgenden Verkehr- tung gewinnen wird: die Begehrlichkeit. Und dann steilnehmer warnt. So werden durch datenbasierte werden wir sehen, wo wir 2020 landen werden. Die Strecken-FahrassistentenUnfälle vermieden, mehr genaue Zahl ist mir nicht so wichtig. Hauptsache, die Sicherheit entsteht und die Kunden erleben mehr Richtung stimmt. Komfort in ihrem Automobil. Das ist eine neue, mo- derne Form von Daten-Sharing. Tut denn die Bundesregierung genügend, um den nötigen Schwung zu erzeugen? Sammelt Audi bereits derartige Daten?

Wenn Sie mich als Unternehmer fragen, sage ich: Es Es gibt Milliarden von Daten. Aber die sind sauber ver- ist nie ausreichend. Der freie Parkplatz in der Innen- wahrt. Wir sind überzeugt: Diese Daten gehören in die Privatsphäre des Kunden, sind sein Privateigentum – zu schaffen, muss man das Silicon Valley verstehen. er entscheidet darüber, welche Art von Daten er bereit Dieses Denkmodell ist in Bayern noch nicht überall ist zu teilen und welche nicht. angekommen.

Gibt es da bereits gemeinsame Plattformen der Hersteller Was ist nötig? zum Austausch? THE EUROPEAN THE Bayern muss sich tief vernetzen mit dem Gedanken- So etwas muss sich erst entwickeln. Nur wenn ein gut, wie das Silicon Valley wirklich tickt, wie dort die Kunde bereit ist, für den Mehrwert etwa eines besse- Gründerszene entsteht, wie aus Studentennetzwer- ren Navigationsgeräts, einer besseren Information, ken Produktideen umgesetzt werden. Dafür braucht einer besseren Vernetzung zu bezahlen, wird die not- es zum Beispiel schlicht und einfach Verhältnisse, in wendige Dynamik entstehen. denen sich die Gründer wohlfühlen. Darin ist Berlin schon gut – vielleicht besser als München. Welchen Wert haben digitale Daten? Geht Bayern zu technokratisch an das Thema heran? Es heißt, das sei der neue Rohstoff von morgen. Ich sage: Erst die intelligente Analyse der Daten und die Dieser Sorte Mensch, die für eine Gründerszene in- Umsetzung der Erkenntnisse schaffen Mehrwert. Die teressant ist, müssen Sie unheimlich viel Freiheit Analyse ist das Geschäftsfeld von Unternehmen wie einräumen. Freiheit und unkomplizierte Strukturen Google und Apple. Aber die Umsetzung der Erkennt- – etwa, wenn es um Venture Capital geht, und um nisse geht nur mit uns. die Frage, ob man auch einfach mal den Mut hat, Geld risikoreich einzusetzen. Dazu braucht es eine Keine Angst vor einem Google- oder Apple-Automobil? Mentalität, die das möglich macht – das ist nicht mit konservativen Finanzvermögensverwaltungsstruktu- Ach was. Das passt nach meiner Einschätzung nicht ren zu organisieren. In den USA ist unternehmeri- in deren Geschäftsmodell. Zumal es technologisch ein sches Scheitern kein Makel, eher eine Empfehlung sehr komplexes Unterfangen ist, ein Automobil zu im Lebenslauf. Es wird honoriert, dass jemand etwas bauen. Apple ist ja auch nicht in die Produktion von riskiert hat, auch wenn es beim ersten Mal nicht ge- Musik eingestiegen, sondern in die Vermarktung. Und klappt hat. Bei uns ist es oft ein Ausschlusskriterium ich denke, hier wird es sich ähnlich verhalten. Das bei einer Bewerbung. Wir haben in Deutschland sel- heißt unter dem Strich: Es wird Themenfelder geben, ten ein Erkenntnisproblem, sondern meistens ein in denen eine Kooperation intelligent ist. Und es wird Umsetzungsproblem. Themenfelder geben, da sagen wir: Sorry, wir sind Wettbewerber. Das machen wir alleine. Was bedeutet der Standort Bayern für Ihr Unternehmen?

Kehren wir der globalen Welt den Rücken und schauen mal Heimat zu spüren und zu fühlen, ist für jedes Unter- auf den Standort Bayern: Ministerpräsident Horst Seehofer nehmen von immens großem Wert. Zu wissen, wo will, dass der Freistaat in der digitalen Welt ganz vorne mit- man seine Wurzeln hat, die DNA der Menschen, die spielt. Ist das zu schaffen? zusammen das geschaffen haben, was Audi heute ist, das ist ein Wert, den wir niemals aufs Spiel setzen Grundsätzlich halte ich das für einen richtigen und werden. Audi hat hier in Bayern und in Baden-Würt- wichtigen Weg, aber nicht für den einzigen und temberg seine Heimat – und wird sie auch in Zukunft ausschließlichen Weg. Ein Land wie Bayern ist gut haben. Das ist meine feste Überzeugung. beraten, dafür zu sorgen, dass Industriearbeit eine stabile Größe ist. Wenn Bayern nun die digitale Welt Audi ist auch mit eigener Produktion traditionell sehr hier verstärken möchte, dann muss vor allem eine stark im asiatischen Raum, vor allem in China. In China Start-up-Szene geschaffen werden, die die richtigen stagniert das Wachstum. Ein Problem? Menschen anlockt. Arbeitsumfeld und Struktur müs- sen für die Gründerszene attraktiv sein. Ich glaube, Nein, da das Wachstum nicht stagniert, sondern lang- da hat Bayern noch ein ordentliches Stück Weg zu samer abläuft. Wir wissen, dass wir dort nicht weiter gehen. Wir haben hier zwar hervorragende Techno- so wachsen werden wie in den letzten zehn, 15 Jah- logie-Cluster und ein herausragendes universitäres ren. Das wäre auf Dauer ungesund. Auch 7 oder 8 Umfeld. Aber um ein neues, kleines Silicon Valley Prozent Wachstum, wie jetzt prognostiziert, ist noch 82 THE EUROPEAN 83

ein guter Wert bei einer aktuellen Größenordnung von 580.000 Einheiten im Jahr. Das Magazin Zugleich ist Audi in den USA deutlich weniger präsent. Eine Baustelle der Zukunft?

Der US-Markt ist für uns eine Riesenaufgabe – und eine Riesenchance. In den letzten acht Jahren haben für Anleger. wir dort unheimlich investiert – in die Mannschaft, in ein neues Händlernetz, in eine komplette Restruk- turierung des Marktes. Wir haben unser Volumen in diesem Zeitraum mehr als verdoppelt. Unsere Wett- bewerber sind früher in den Markt eingestiegen als wir und waren mit den SUVs, die dort sehr begehrt sind, etwas früher dran. Aber Audi hat in den nächs- ten Jahren ein super Potenzial. Das sagen mir unsere Händler in den USA. Das Magazin für Wo wird Audi in zehn Jahren in den USA stehen?

Wir sind Premiummarktführer in Europa, in China. Warum sollen wir das nicht auch in den USA kön- Anleger. nen? Audi ist dort hip, ist eine coole Marke. Wir sind bei jungen Menschen sehr attraktiv, haben das jüngs- te Kundenprofil unter den Premiummarken. Wir stehen für einen modernen, zurückhaltenden Luxus – was in den USA sehr gut ankommt. Zudem haben wir unser ganzes Produktprogramm strategisch stär- ker auf die USA ausgerichtet. Audi ist in den USA weiter auf dem Vormarsch. Qualität und die richtigen Produkte zählen in diesem wichtigen Markt.

Zum Abschluss: Audi-Chefs werden entweder VW-Auf- sichtsratsvorsitzende – wie Ferdinand Piëch – oder VW-Vorstandsvorsitzende – wie . Was ist Ihnen lieber, Herr Stadler?

Ich möchte Audi zur Nummer eins im Premiumseg- ment machen. Ich fühle mich in dieser Rolle unheim- lich wohl.

PROF. RUPERT STADLER IST SEIT JANUAR 2007 VOR- SITZENDER DES VORSTANDS DER AUDI AG. DER STU- DIERTE BETRIEBSWIRT BEGANN SEINE BERUFLICHE Jetzt mehr erfahren LAUFBAHN BEI DER PHILIPS KOMMUNIKATIONS IN- www.weimermediagroup.de DUSTRIE AG IN NÜRNBERG. IM JAHR 1990 WECHSEL- TE STADLER ZUR AUDI AG NACH INGOLSTADT. 2012 HAT DIE UNIVERSITÄT ST. GALLEN STADLER ZUM HO- NORARPROFESSOR FÜR BETRIEBSWIRTSCHAFTS- LEHRE (BUSINESS ADMINISTRATION) ERNANNT.

Jetzt mehr erfahren www.weimermediagroup.de THE EUROPEAN THE Der Koran, der Nachbarsjunge und der Priester

Das Attentat von Rouen erschüttert Europa. Islamisten stürmen einen Gottesdienst und schneiden dem Pfarrer vor dem Altar die Kehle durch. Was macht das mit der Stadt? Ein Ortsbesuch in St.-Étienne-du-Rouvray nach dem islamischen Terror.

Von Sebastian Sigler Hinter dem Bahndamm werden die Häuser klein, niedrig. Armut kriecht durch die Fensterritzen. Wie Ein Dörfchen hinter dem Bahngelände, das ist St.-Éti- hingeduckt steht auch die alte, bescheidene, aber enne-du-Rouvray. Wohl 40 Gleise parallel, ein unge- ehrwürdige Kirche, um die herum die Häuser Schutz heurer Lokomotivenfriedhof, der Verfall mit Händen gesucht haben, als fürchteten sie sich vor dem Ver- zu Greifen. Rouen, die uralte Bischofsstadt, im Spät- fall, den Schrottmassen, draußen, auf dem trost- mittelalter und zur Renaissancezeit eine blühende losen Bahngelände. Schlicht ist das Kirchenschiff, Metropole mit kunsthistorischen Wunderwerken, gedrungen der wetterfeste Turm, die benachbarte allen voran die Kathedrale, ist nur wenige Kilometer Grundschule und den Kindergarten gleichsam mit entfernt. Und ist doch in einer ganz anderen Welt. beschützend. 84 THE EUROPEAN 85

Der Koran, der Nachbarsjunge und der Priester THE EUROPEAN THE

Seit dem 26. Juli ist hier in nichts mehr, wie es war. Die Kirche ist von Sperrgittern umgeben. Und Blumen liegen davor, viele Blumen. Menschen kommen jetzt, viele Menschen.

Reden wollen die meisten nicht. Ein junges Paar kommt, sie trägt einen Strauß weißer Lilien. Sie hält die Hand ihres Partners, so, als wolle sie von ihm vor dem Fallen bewahrt werden. Als die beiden sich zum Gehen wen- den und bekreuzigen, sind ihre Augen rot vom Weinen. Wenig später kommt eine Familie. Ein kleines Mädchen im weißen Kleid, vielleicht ihrem Kommunionskleid, trägt eine Kerze, die der Vater ihr eben angezündet hat. Vorsichtig, ganz vorsichtig stellt sie sie vor das Bild des Ermordeten. Lange bleibt sie stehen, ganz versunken. Dann dreht sie sich um und birgt das Gesicht im Schoß der Mutter, die hinter ihr steht.

Eine chinesische Reisegruppe wird in einem Kleinbus der Firma Marolines herbeichauffiert. Ob sie Christen sind? Ein Lächeln, keine Antwort. Schließlich nickt ei- ner der mitreisenden Männer und sagt ein paar Worte. Christen? Offiziell nicht, aber insgeheim schon. Christ zu sein ist ihren ihrer Heimat, für einige ist es Peking, bei anderen Tianjin, nicht einfach. Christenverfolgung, so dachten sie, sei in Europa kein Thema. Nun sind sie hergekommen, eigentlich standen Honfleur und Deau- ville auf dem Programm. Der Busfahrer musste einen sicht, sie hat wohl einheimische Wurzeln, macht derweil großen Umweg dafür fahren. Sie wollen ihre Solidarität eine ungeduldige Handbewegung. Monsieur Duclair bekunden. Ja, sie sind Christen. dreht sich um, beugt sich über die Zündspule. Stotternd springt einige Sekunden später der Motor an. Nur unweit der Kirche geht der Alltag in St.-Étienne-du Rouvray weiter. Monsieur Duclair versucht sein alters- Die Geschichte des Jungen aus der Nachbarschaft, der schwaches Auto mit Mühe, einer Menge Motoröl und immer aggressiv, immer herrisch war, die wird St.-Étien- einer externen Batterie, die er mittels abenteuerlich ge- ne-du-Rouvray, das verlorene Örtchen hinter dem Bahn- bogener Drähte mit der Zündspule verbunden hat, zum damm, lange nicht loslassen. Den Sicherheitskräften war Laufen zu bringen. Eigentlich heißt er gar nicht Duclair, der Junge seit vier Jahren als radikaler Moslem bekannt, sondern sein Name ist algerisch, und den will er nicht da war er 15. Deutsche Polizisten hinderten ihn im März sagen. Algerische Namen sind nicht sehr beliebt hier, des letzten Jahres an der Reise nach Syrien, verhafteten derzeit: Er deutet mit dem Kopf in Richtung der nahen ihn aus einem Bus, der auf dem Weg nach Bulgarien war. Kirche. Schließlich war der Haupttäter ein Nachbarsjun- Er wollte immer in den Bürgerkrieg, vom Islamischen ge, aus der Rue Nikola Tesla, kaum zwei Kilometer Luft- Staat fühlte er sich gerufen. Der Koran war seine ständi- linie entfernt. Dort, wo die Häuser noch enger stehen ge Lektüre. Die französischen Behörden wussten ihn of- als hier, wo die Fenster noch niedriger sind. Ob er Adel fenbar korrekt einzuschätzen. Eine Fußfessel musste er gekannt hat? Ein Schulterzucken, er sagt nichts und tragen, nur von 9 bis 12 Uhr am Vormittag durfte er das weicht dem Blick aus. Duclairs Frau, mit herbem Ge- Elternhaus, in dem er ansonsten Arrest hatte, verlassen. 86 THE EUROPEAN 87

die Klinge. Adel, der Nachbarsjunge, hat um 9.45 Uhr dem 86-jährigen Priester die Kehle durchge- schnitten. Wie es im Koran beschrieben ist. Und der Mörder lächelte.

Wie erstarrt liegen Kirche und umliegende Häuser seitdem. Absperrgitter rund um das Gelände, die Polizei patrouilliert. Das größte Blumenbukett, et- was zu auffällig, hat die Gemeinschaft der Muslime Frankreich anbringen lassen. Scheinbar passt das zur demonstrativen Anwesenheit von Muslimen bei den Trauerfeiern, auch in der Kathedrale von Rouen. Doch nehmen die Muslime wirklich Anteil? Madame Lambert tritt aus dem Supermarkt gegenüber der Kir- che und stellt eine schwere Einkaufstasche vor sich auf den Gehweg: „Die Muslime? Die sehen wir hier doch nur, wenn auch Fernsehkameras da sind!“ In der Tat: Die meisten Menschen, die vor der Kirche innehalten, bekreuzigen sich. Muslime sind nicht zu sehen. Eine Momentaufnahme? „Oh no“, sagt Mada- me Lambert, „von denen werden sie hier keinen se- hen, die bewundern doch die Attentäter insgeheim!“

Ein Auto hält an. Ein kleiner, alter Peugeot. Monsieur Lambert steigt aus. Er nimmt die schwere Einkaufs- tasche seiner Frau und verstaut sie im Auto: „Die Moslems? Die halten doch alle zusammen, und mor- Niemand konnte offenbar verhindern, was am 26. Juli gen ermordet einer von ihnen irgendwo den nächsten 2016 blitzschnell geschah. Adel Kermiche traf sich Priester.“ Aber das Städtchen St.-Étienne-du-Rouvray um kurz nach 9 Uhr mit dem ein Jahr älteren Abdel kann doch wieder seinen Frieden finden? „Frieden?“ Malik Petitjean, der offenbar noch nicht als Anhänger Monsieur Lambert lacht bitter. „Hier ist es wie in des gewaltbereiten Islam bekannt war. Der Weg von ganz Frankreich. Wir sind im Krieg!“ der Rue Nikola Tesla betrug keine drei Kilometer, ein betagter VW Polo, hellblau, diente als Transportmit- tel. Zunächst eine Erkundungsfahrt, dann meinten es die Attentäter ernst. Um kurz nach halb zehn betra- ten die beiden die Kirche, ganz in Schwarz, auf dem DR. SEBASTIAN SIGLER STUDIERTE GESCHICHTE Kopf schwarze Mützen. Während der Wandlung, als IN BIELEFELD, MÜNCHEN UND KÖLN. SEIT 2013 AR- der Priester die Hostie am Altar in die Höhe hielt, BEITET ER ALS CHEFREDAKTEUR DER „BÖRSE AM hat Abdel dem Adel das Messer gereicht. Sie nahmen die anwesenden sechs Personen als Geiseln – den SONNTAG“; ZUVOR WAR ER FÜR DAS ZDF, „REPORT Priester Jacques Hamel, einen Pater, der die Messe AUS MÜNCHEN“ (ARD), „DIE WELT“, „CICERO“, „FO- nur vertretungsweise las, zuerst. Hamel musste sich CUS“ UND „FOCUS MONEY“ TÄTIG. ER HAT MEHRERE vor den Altar knien. Die Täter haben sich, so die Er- BÜCHER ZU HISTORISCHEN THEMEN VORGELEGT, mittler, unmittelbar vor ihrer Tat mit den Mobiltele- ZULETZT EINE REIHE VON STUDIEN ZUM WIDER- fonen gegenseitig zu filmen begonnen. Dann blitzte STAND IM DRITTEN REICH. Die Leichen der Christen

THE EUROPEAN THE warfen sie in den Brunnen

Christliche Flüchtlinge im Libanon berichten von Gräueltaten des IS. Der Nahe Osten wird für Christen zur Hölle auf Erden.

Von Andrea Krogmann Die Familie sah sich zur Konversion gezwungen. Sie wurden Muslime, zum Schein. „Ich habe dieses Nennen wir sie Samir und Sabine. Sagen wir, sie Leben gehasst – den Schleier, dass ich ohne männ- sind Anfang 50. „Kein Foto, keine Namen!“ Den liche Begleitung nicht auf die Straße durfte“, er- Grund dafür zeigt Samir mit einer eindeutigen zählt Sabine. Samir ging regelmäßig zum Gebet in Geste: Sonst rollt sein Kopf – und der seiner Frau. die Moschee. Er wollte die Familie schützen. Dann Dann lässt er die Arme sinken, in den Händen kam das Auto mit den Kämpfern. Der Vorwurf: ein Papier: eine Quittung. Sie haben in Syrien die Sie seien gar keine richtigen Muslime, beteten zu „Christensteuer“ entrichtet. Die Dschihadisten Hause weiter zum christlichen Gott. Das stimmte. trieben sie ein: 3.700 Euro pro Jahr und Familie. Es Jemand hatte sie denunziert. Hals über Kopf flo- war Schutzgeld – aber vor dem Terror ist trotzdem hen sie, ein muslimischer Freund half ihnen da- niemand sicher, nicht in der alten Heimat, nicht im bei. Erste Station ihrer Flucht: Aleppo. Der Terror Irak, nicht im Libanon. zog mit. „Nach zwei Monaten in Aleppo bekam ich einen Anruf. Sie sagten mir, sie werden kommen Die dortige Bekaa-Ebene ist für viele Syrer zur Zu- und mich töten“, erzählt Samir. fluchtsstätte geworden. Nach UN-Angaben halten sich dort über 200.000 Flüchtlinge auf. Im gan- Die Familie flieht weiter in den Libanon, nach Bei- zen Libanon sind es über eine Million – ein Fünftel rut. Bis auch dort das Telefon klingelt: „Wir wis- der einheimischen Bevölkerung. Die Geflüchteten sen, wo du bist!“ Die Angst treibt die Familie noch kommen in privaten Notunterkünften unter oder einmal weiter in die libanesische Hochebene. Sie hausen in Camps. Die Not ist groß. Organisationen sehen es als göttliche Fügung: „Die ganze Zeit hat- wie das weltweite päpstliche Hilfswerk Kirche in ten wir ein Bild des heiligen Scharbel bei uns; das Not helfen mit Lebensmittel- und Medikamenten- hat uns gerettet.“ Der Priestermönch und Einsied- paketen, leisten Wohnhilfen und sorgen sich um ler Scharbel Machluf lebte im 19. Jahrhundert im die pastorale Betreuung der christlichen Minder- Libanon. Mystische Visionen, Heilungen und an- heit. Denn auch die seelischen Wunden, die Krieg dere Wunder werden ihm zugeschrieben. Er wurde und Flucht geschlagen haben, sind tief. schon zu Lebzeiten wie ein Heiliger verehrt. Heute gilt er als eine Art Schutzpatron der Christen im Wie bei Samir und Sabine. Sie stammen aus Rak- Libanon und Nahen Osten. Samir und Sabine ha- ka. Die Stadt am Ufer des Euphrat zählte vor dem ben alles verloren – nur ihren Glauben nicht. „Er Krieg rund eine Viertelmillion Einwohner. Heute ist stärker als je zuvor“, sagt Samir. Wegen ihres ist sie so etwas wie die Hauptstadt der Terrormiliz Glaubens wollen sie auch raus aus dem Nahen Os- Islamischer Staat. Samir und seiner Familie ging ten. Denn neulich erhielt er auch im Libanon einen es gut in Rakka. Dann kam der IS. Samir zahlte die Anruf: „Wo immer du bist, wir finden dich!“ Zwangssteuer, versuchte sich Sicherheit zu erkau- fen. Doch die Bedrohung wuchs Tag für Tag. Die Angst ist ein ständiger Begleiter der Flüchtlin- 88 THE EUROPEAN 89

SYRIEN: Eine Frau im syrischen Homs spricht mit einem Geistlichen. Sie steht vor den Trümmern ihrer Existenz. Selbst wenn die Milizen des sogenannten Islamischen Staates zurückgedrängt werden, hinterlassen sie verbrannte Erde – auch geistig. Das christliche Leben in der einstigen Wiege des Christentums steht vor der Auslöschung. Quelle Text und Foto: Kirche in Not Kirche und Foto: Text Quelle

ge. Viele sind traumatisiert. „Es gibt Familien, die wurden von den IS-Kämpfern brutal misshandelt mussten über die Leichen ihrer Nachbarn steigen, und ermordet. Frauen und Kinder mussten die um fliehen zu können“, sagt Sana. Die libanesische Gräuel mit ansehen. Die Kämpfer drangen in ihre Christin steht den Flüchtlingen seit Beginn des Häuser ein, zerstörten, plünderten, töteten. Das Syrienkriegs vor über fünf Jahren bei. „Die Kinder Leid macht sprachlos. malen bis heute Horrorszenen, manche sind apa- thisch“, erzählt Sana. Die Aufarbeitung brauche So wie bei Maria, wie sie sich nennt. Ihre eigene viel Zeit, aber sie sei froh, dass die Flüchtlinge sich Geschichte kann sie nicht erzählen. Darum spricht langsam öffnen und ihre Geschichte erzählen. die Christin aus Sadat von ihren Nachbarn. „Eines Nachts kamen die Männer vom IS. Dreimal haben So wie Jakob und Claire. Auch sie wollen ihren sie ,Allahu Akbar‘ (Allah ist groß) gerufen. Dann richtigen Namen nicht preisgeben. Auch sie erzäh- haben sie alle getötet: Großeltern, Eltern, Kinder.“ len von einer Flucht in Todesangst. Es begann mit Drei Generationen – mit einem Mal ausgelöscht, Protesten vor ihrem Haus im syrischen Kusseir. die Leichen in einen Brunnen geworfen. Maria wird Ihre muslimischen Nachbarn wollten die Chris- ganz still. „Das syrische Volk hat zu viel durchge- ten zwingen, den Kampf gegen Präsident Assad zu macht. Die Welt darf uns nicht vergessen!“ unterstützen. Auch wenn vieles unter seiner Herr- schaft nicht in Ordnung gewesen sei – „wir Chris- ten konnten wenigstens frei und sicher leben“, sagt Claire. Jetzt warte in Syrien nur der Tod auf sie. ANDREA KROGMANN STUDIERTE THEOLOGIE UND Denn eines Tages predigten die islamistischen JOURNALISMUS. SEIT JAHREN ARBEITET SIE ALS Geistlichen, dass männliche Christen über fünf KORRESPONDENTIN DER KATHOLISCHEN NACH- Jahren sofort zu exekutieren seien. Alle flohen Hals RICHTENAGENTUREN DER SCHWEIZ (KIPA-APIC) über Kopf in den Libanon. 75 schafften es nicht. Sie UND DEUTSCHLANDS (KNA) IN JERUSALEM. Eine Million Christen sind

THE EUROPEAN THE verschwunden

Interview mit Berthold Pelster Ich war immer wieder erschüttert, wenn neue Mel- dungen auf meinem Schreibtisch landeten, die von Das weltweite päpstliche Hilfswerk Kirche Anschlägen, Entführungen oder Massakern berich- in Not unterstützt in über 140 Ländern ver- teten. Ganze christliche Gemeinden wurden durch folgte und bedrängte Christen oder hilft dort, Vertreibung ausgelöscht. Die Zahl der Flüchtlinge wo nicht genügend Mittel für die Seelsorge geht in die Millionen. Besonders schmerzlich ist zur Verfügung stehen. Bereits zum vierten es, den Untergang von Gemeinden mit anzusehen, Mal gibt das Hilfswerk die Dokumentation deren Ursprünge bis in die Zeit der frühen Kirche „Christen in großer Bedrängnis“ heraus. Da- zurückreichen, vor allem im Irak und in Syrien. rin werden 16 Länder aufgeführt, in denen Christen besonders unter Diskriminierung Ist das Christentum im Nahen Osten in seiner Existenz und Unterdrückung leiden. Im Interview er- gefährdet? läutert der Autor Berthold Pelster die wich- tigsten Ergebnisse. Das Christentum im Nahen Osten steht seit Jahr- zehnten massiv unter Druck. Lag die Zahl der Wie würden Sie die aktuelle Lage in Sachen Christen- Christen im Irak vor drei Jahrzehnten noch bei über verfolgung zusammenfassen? 1,5 Millionen, sind es heute kaum noch 300.000, manche Kirchenvertreter nennen sogar noch nied- In den vergangenen drei Jahren hat das Ausmaß rigere Zahlen. In Syrien gab es vor Ausbruch des an Terror und Gewalt gegen Christen noch einmal Krieges rund 2,5 Millionen Christen. Mindestens deutlich zugenommen und ein selten zuvor gese- ein Fünftel von ihnen lebt nicht mehr in den an- henes Niveau erreicht. In den Berichtszeitraum gestammten Gebieten: Sie wurden vertrieben, sind unserer Dokumentation fällt zum Beispiel die Er- geflüchtet oder mit bösen Vorahnungen frühzeitig richtung des Islamischen Staates im Irak und in ausgewandert. Syrien mit der Vertreibung von 120.000 Christen aus Mossul und der Ninive-Ebene. Der Terror von Leiden Christen mehr als andere unter Krieg und Boko Haram brachte 2014 für Nigeria das bislang Gewalt? blutigste Jahr. Radikale islamistische Bewegungen führen im Nahen Osten und in Teilen Afrikas einen Es sind oft innerislamische und politische Macht- regelrechten Feldzug der religiösen Säuberung. All kämpfe, denen – neben Millionen von Muslimen das ist in dem Buch im Detail dokumentiert. Darü- – auch Christen und andere Minderheiten zum ber hinaus gibt es zu jedem Land wichtige Hinter- Opfer fallen. Quantitativ leiden die Muslime mehr, grundinformationen, die das Geschehen verständ- weil sie die Bevölkerungsmehrheit bilden. Qualita- lich machen. tiv aber bezahlen die Christen den höchsten Preis, da ihre Existenzmöglichkeiten im Orient vernichtet Mit welchen Gefühlen haben Sie an dem Buch gearbeitet? werden. Sie sind das schwächste Glied, sitzen zwi- 90 THE EUROPEAN 91

IRAK: Emmanuel III. Kardinal Delly besucht nach einer blutigen Geiselnahme mit mindestens 50 Toten und 70 Verletzten die Sayidat-al-Nejat-Kirche in Bagdad Quelle Text: Kirche in Not Kirche Text: Quelle Alliance Picture Foto:

schen allen Stühlen und erfahren in ihren Ländern Wie kann man verfolgten Christen helfen? oft wenig oder gar keine Unterstützung von gesell- schaftlicher Seite. „Unsere verfolgten Brüder sind die Elite der Kir- che. Mit ihnen solidarisch zu sein, ist eine Ehren- Wie ist die Lage der Christen in anderen Weltregionen, pflicht.“ Das sind Worte von Pater Werenfried van etwa im Fernen Osten? Straaten, dem Gründer von Kirche in Not. Solide und verlässliche Informationen sind der erste In der bevölkerungsreichsten Nation der Erde, Schritt, um diese Solidarität mit verfolgten Chris- in China, hat die kommunistische Regierung die ten überhaupt möglich zu machen. Danach muss Zügel seit einiger Zeit wieder angezogen und die dann jeder für sich entscheiden, was er tut ange- Kontrollmechanismen verschärft, mit denen die sichts der Bedrängnis so vieler Christen. Ein gu- Religionsgemeinschaften des Landes überwacht tes Zeichen wäre es, regelmäßig für die verfolgten und gesteuert werden. Recht spektakulär war in Christen zu beten. Dafür hat Kirche in Not jetzt dem Berichtszeitraum eine staatliche Kampagne ein eigenes Gebet herausgegeben. Es passt in jedes im Südosten von China, in der Provinz Zhejiang. „Gotteslob“. Auf Anordnung der Behörden wurden Hunderte von Kreuzen von Kirchendächern und Kirchtür- men abmontiert, oft unter erheblichem Protest der Gläubigen. Die kommunistische Regierung ist BERTHOLD PELSTER STUDIERTE VOLKSWIRT- nach wie vor höchst misstrauisch gegenüber allen SCHAFTSLEHRE UND ARBEITETE IM BEREICH UN- Bewegungen, die sie als potenzielle Gefährdung ih- TERNEHMENSSTEUERUNG. SEITE 2001 LEITET ER res Machtmonopols ansieht. DIE FILIALE MÜNSTER VON KIRCHE IN NOT. Das Bildungssystem darf

THE EUROPEAN THE nicht die letzte reale Planwirtschaft sein

Interview mit Bernd Westermeyer Leben und Erleben ermutigen. Denn nur so erhal- ten sie ein Selbstwertgefühl, das sie gegenüber den Arnulf Baring hat einmal betont, dass wir von Generati- Verführungen und Möglichkeiten des Internets und on zu Generation verblöden. Sehen Sie einen Trend zum der digitalen Welt immunisiert. Dies heißt aber nicht, Nichtwissen? Tritt das Allgemeinwissen in den Hinter- sich den digitalen Entwicklungen feindlich entgegen- grund? zustellen. Aber für uns in Salem ist es wichtig, dass der junge Mensch Herrscher des Geschehens bleibt Man kann auf der einen Seite feststellen, dass das und nicht am Ende eines Algorithmus zappelt, der Wissen explodiert und auf der anderen Seite die soge- seine Individualität fernsteuert. Dass diese Gefahr al- nannte Allgemeinbildung zurückgeht. Das liegt aber lerdings besteht, dies sehe ich deutlich. nicht am mangelnden intellektuellen Potenzial der neuen Generationen, sondern daran, dass wir ihnen Was zeichnet Ihrer Meinung nach die Generation Y aus? als Gesellschaft einen Rahmen bieten, der nicht mehr Für manche ist diese spießig und konservativ, für andere dazu motiviert, sich mit Anstrengungsbereitschaft interesselos, apolitisch und lediglich durchtechnifiziert. mit bestimmten Problemen auseinanderzusetzen und auch die Herausforderung zu suchen. Wir leben Es ist ein Fluch unserer Zeit, Menschen schematisch in einem Wohlfühlsystem, wo man sich bemüht, es mit Etiketten zu versehen und in Generationen ein- den Kindern und Jugendlichen so bequem und schön zuteilen. Wenn man genau hinschaut, sieht man alle wie möglich zu machen. Damit nimmt man ihnen Couleurs, Politikverdrossene und politikinteressierte aber die Motivation, sich auch mit schwierigen Fra- Optimisten. Ich bin mir auch nicht sicher, ob die Ge- gestellungen auseinanderzusetzen, wo sie bemerken, neration Y wirklich unsere Gegenwart prägt. Sie lebt dass sie zur Lösung bestimmter Fragen tatsächlich in dieser und nutzt die Möglichkeiten, die ihr ganz Wissen benötigen und dieses sich aneignen müssen. andere Generationen zur Verfügung gestellt haben. Natürlich tragen wir als Gesellschaft ein hohes Maß Ob sie in der Lage sein wird, Probleme nicht nur zu an Verantwortung. Es kann aber nicht sein, dass man thematisieren, sondern die Dinge auch tatsächlich Kinder vor das Tablett setzt und ihnen eine Welt or- anzupacken, das wird sich zeigen. Die Mehrheit der ganisiert, die sie weder physisch noch intellektuell Jugendlichen ist nicht politikverdrossen, sondern po- herausfordert. litikerverdrossen. Und dies hat damit zu tun, dass uns Politiker fehlen, die eine klare Position beziehen, die Was könnte Bildung 4.0 für die junge Generation von bereit sind, ihren Beruf für eine Zeit zurückzustellen, Schülern bedeuten? um ihre Kenntnisse und Fähigkeiten dem Gemein- wohl zur Verfügung zu stellen. Derzeit ist es aber Fakt ist, dass wir unsere Schüler und kommenden so, dass über die Jugendorganisationen der Parteien Studenten dahingehend unterrichten, dass sie durch Studierende in den Beruf Politiker reinwachsen. Das die virtuelle Welt nicht zu internetsüchtigen Spielern überzeugt nicht und entspricht auch nicht dem Bild werden. Wir müssen sie vielmehr zu einem realen der Generation, die Deutschland nach dem Zweiten 92 THE EUROPEAN 93

Weltkrieg aufgebaut und geführt hat. Das waren zum entscheidenden Stelle Zukunft ermöglichen. Und Großteil Menschen, die in unterschiedlichsten Funk- das ist das Gegenteil von dem, was Gerhard Schrö- tionen auch schon anderswo Verantwortung getragen der (SPD) seinerzeit mit dem Statement, Lehrer seien haben. „faule Säcke“, genau in die andere Richtung formu- lierte. Es gibt diese Eliten jenseits der Reichen, Pro- Ob Friedrich Schiller oder andere Gelehrte des 18. bis 20. minenten und Erfolgreichen. Das kann eine Schwes- Jahrhunderts. Immer ging es in den verschiedenen Erzie- ter im Krankenhaus sein, das kann ein Sozialarbeiter hungskonzepten um Elite. Wie macht man Elite? sein. Diese Menschen sind unendlich wertvoll für un- sere Gesellschaft. Sie sollten am Ende ihres Lebens Eliten sind für Gesellschaften sehr wichtig. Aber Elite unbedingt das Bundesverdienstkreuz bekommen hat immer etwas mit Auswahl zu tun und einer ge- – weniger die schillernden Stars und Sternchen, die wissen Besonderheit. Mir ist der hanseatische Ansatz man in den Medien findet. sehr sympathisch, dass man durchaus einer Elite an- gehören kann, aber eben selbst Die Schulnotenvergabe ist ein Dau- nicht darüber spricht, jedoch erthema im politischen Diskurs. von den anderen als Vorbild Es ist ein Fluch unserer Manche Bundesländer wollten die- wahrgenommen wird, als je- se gar abschaffen. Wie wichtig ist mand, der in einer bestimmten Zeit, Menschen das Leistungsprinzip, die Notenge- Position mehr leistet und mehr schematisch mit bung? einbringt, als er müsste, und das möglicherweise ohne einen Etiketten zu versehen Grundsätzlich ist es so, dass persönlichen Vorteil daraus zu Kinder gerne wissen, wo sie generieren. Das wäre für mich stehen. Wichtig ist, dass sie die ein Ideal der Verantwortungselite. Und dieses Ideal Note nicht mit ihrem „Wert“ verwechseln. Also ein verfolgen wir in Salem auch. Ich habe jüngst darauf Kind, das eine 5 nach Hause bringt, sollte sich nicht hingewiesen, dass Schülerinnen und Schüler, die als ein mangelhafter Mensch sehen, aber sollte ver- Salem besuchen, mit dem Besuch dieser Schule kei- stehen, dass es wie ein Blick in den Spiegel ist, der nesfalls automatisch irgendeiner Elite angehören. Sie irgendeinen Leistungsstand spiegelt. Also grundsätz- haben in Salem die Möglichkeit, ihre Talente umfas- lich: Rückmeldungen zum Leistungsvermögen sind send zu entfalten, und die Möglichkeit, einen guten wichtig. Insgesamt ist es aber so, dass das Notenge- Start in ein Studium zu finden. Aber weiter würde bungssystem in Deutschland einem Würfelspiel äh- ich es nicht spannen. Sehr wohl würde ich aber davon nelt. Das ist eine sehr gewagte These. Aber die No- sprechen, dass viele unserer Pädagoginnen und Päd- ten, die man für eine bestimme Leistung bekommt, agogen einer Elite angehören, die nicht so wie andere dürften innerhalb Deutschlands gewaltig variieren. sogenannten Eliten schillert. Lehrer sind tatsächlich Wenn man also anonymisiert eine bestimmte Leis- eine Art Elite, weil sie unserer Gesellschaft an einer tung unterschiedlichen Lehrern in unterschiedlichen THE EUROPEAN THE

Schulen vorlegte, gäbe es ganz unterschiedliche Er- und man in Konkurrenz mit sehr leistungsstarken gebnisse. Das liegt natürlich in der Subjektivität der Bildungsnationen steht. Jede Leistung ist also rela- Beurteilung des einzelnen Lehrers begründet, das tiv, je nachdem wie das Zugsystem ausschaut. Es ist liegt aber auch am System. Und die Bundesländer überhaupt die Frage, ob man die Qualität einer Schu- treiben einen Bildungsföderalismus auf die Spitze, le am Durchschnitt des Schnitts aller Absolventen be- der wirklich abstrus an das 19. Jahrhundert und die messen kann, ob es nicht wichtiger wäre, wenn jedes Kleinstaaterei erinnert. Wenn bestimmte Abschluss- Kind individuell möglichst gefordert würde – samt quoten und Leistungsbilder nicht erreicht werden, individueller Lernbiografie. Das gäbe ein viel realis- beginnt man im System die Statistik zu frisieren. tischeres Bild. Wenn man in die Viten vieler unserer Dann werden Bemessungsgrundlagen für bestimmte sehr erfolgreichen Eltern schaut oder der Eltern, die Notenentscheidungen verändert und das erinnert an beruflich sehr erfolgreich sind, so waren die wenigs- die DDR, wo man die Statistik, je nachdem wie sie ten Einser-Kandidaten. Sie alle aber hatten bestimm- ausfiel, schöninterpretiert hat. te Felder, in denen sie wahn- Das ist tödlich. Das Bildungs- sinnig stark und ambitioniert system darf in Deutschland waren, und das haben sie sich nicht die letzte real existieren- Der Bildungsbereich zum Beruf gemacht. Die Noten de Planwirtschaft sein. Und in müsste wesentlich darf man keineswegs verabsolu- manchen Bereichen hat man tieren, aber unsere Gesellschaft eben den Eindruck, dass dem so stärker finanziert ist leider immer noch extrem sei. Dies mag darin begründet darauf fixiert. Schlimm ist, dass liegen, dass Bildung im Grunde werden es immer noch einen Nume- der letzte Bereich ist, in dem rus clausus gibt, der das noch die Bundesländer noch eine befeuert und so tut, als gäbe es Hoheit haben und auch der Bund oder Europa nicht diese Objektivität, die tatsächlich aber nicht existiert. reinreden kann. Aber gesamtsystemisch gesehen ist es eine Katastrophe. Frau Schmoll von der „FAZ“ Universitäten setzen seit einigen Jahren verstärkt auf Ex- hat den Finger in die Wunde gelegt und gezeigt, wie zellenzcluster. Hier fließt viel Geld. Fehlt dieses den Schu- unterschiedlich die Ergebnisse am Ende ausfallen, len, sind diese unterfinanziert? je nachdem in welchem System man zu Hause ist. Dass es keinen gesamtgesellschaftlichen Aufstand Insgesamt gibt es eine Unterfinanzierung im Bil- bei der Notenvergabe gibt, liegt wohl darin begrün- dungsbereich. Es ist eine Floskel, die schon niemand det, dass immer nur eine relativ kleine Gruppe von mehr hören kann, dass Bildung unser wichtigster Eltern konfrontiert ist. Aber wir als bundesdeutsche Rohstoff sei. Aber dem wird nicht Rechnung getra- Gesellschaft können es uns eigentlich nicht leisten, gen, gemessen an dem, was wir anderswo ausgeben. ein so fragmentiertes Schulsystem zu haben, gerade Der Bildungsbereich müsste wesentlich stärker fi- in einer Welt, in der sich Strukturen vereinheitlichen nanziert werden – dies gilt auch für die frühkindliche 94 THE EUROPEAN 95

Bildung. Denn bereits hier werden die entscheiden- Salem ist die beste Immunisierung gegen die Ratten- den Weichenstellungen vorgenommen. Mehr Geld fänger von links wie von rechts. Was ich allerdings also für Kindergärten und Grundschulen. 10 Prozent sehe, ist eine Politik, die nur als Krisenmanagement der Leitungspositionen in Grundschulen sind derzeit „funktioniert“. Es gibt kaum proaktive Politik, die ein nicht oder kommissarisch besetzt. Das ist ein Desas- Ziel formuliert, sondern nur auf Sicht fährt. Doch ter. Wir sparen uns im wörtlichen Sinne kaputt. Dies unsere Jugendlichen sollen ihre Träume und Ziele kann man später mit Exzellenz nicht mehr kompen- haben, aber so können sie diese nicht verwirklichen. sieren. Darüber hinaus brauchen wir, schon demo- grafisch bedingt, unendlich viele Menschen, die aus Wer kann sich Salem leisten, nur die Reichen? Und ist das dem Ausland zu uns kommen, möglichst Qualifi- dann die Elite? zierte, die sich auf unser Bildungssystem einlassen. Wir müssen uns in dem Bereich also als ganze Ge- Nein, Salem hat ein sehr gut ausgebautes Stipendi- sellschaft viel mehr engagieren, denn unsere Rolle in enwesen. Im Augenblick sind etwa 23 bis 24 Prozent der Welt als Exportweltmeister ist kein Selbstläufer. der Schülerinnen und Schüler Stipendiatinnen und Die Machtgewichte verschieben sich längst in Rich- Stipendiaten, nicht alles Vollstipendiaten, aber so, tung Asien. In Indien und China werden die klugen dass sie, orientiert an den Einkommens- und Vermö- jungen Leute ganz anders gefördert. Dort wachsen gensverhältnissen der Eltern, gefördert werden, weil Millionen Menschen auf, die gut ausgebildet, hungrig sie sich sonst die Schule nicht leisten könnten. Eine nach Bildung und Leistung sind. Wir müssen unsere Hauptaufgabe dieser Schule ist es, dies hat schon der Kinder und Jugendlichen in die Lage versetzen, hier Gründer formuliert, die Kinder der Mächtigen und mitzuspielen. Doch das nehmen wir im Augenblick sehr Wohlhabenden, von der bedrückenden Last ih- noch nicht ernst genug. rer Privilegiertheit zu befreien. Es ist im Interesse unserer Gesellschaft, dass Kinder nicht im goldenen Wir leben in bewegten Zeiten. Eine Krise jagt die nächs- Käfig aufwachsen, sondern mit einer gewissen Er- te. Brexit, Eurokrise, Flüchtlingskrise. Wie erleben die dung in einer fordernden Umgebung. Es ist für das Schüler und Studenten diese Umbrüche? Wie stehen sie Kind eines Millionärs unglaublich heilsam und gut, zur Flüchtlingskrise? Die ältere Generation ist vielfach mit einem Kind zusammen zu sein, das den Euro mit diesen Themen überfordert und driftet auch in Europa umdrehen und sich überlegen muss, ob es sich die nach rechts ab. Kugel Eis leisten kann. So wird er mit einer ande- ren Lebensrealität konfrontiert. Vieles ist dann nicht Salem ist multinational und die Vielfalt unser Schatz. mehr so selbstverständlich. Die Komfortzone gibt es Dies bezieht sich nicht nur auf Nationalitäten, Haut- im Internat nicht. Jeder, der hierherkommt, lässt al- farbe, Religion, sexuelle Orientierung – all dies ist les zurück, was er zu Hause an Komfort hatte, das völlig egal. Ich würde daher auch nicht davon spre- Einzelzimmer, oft das eigene Bad. Und unsere Kin- chen, dass sich neue Schüler integrieren müssen. der verzichten auf sehr viel, aber sie haben dafür eine Der gute Gedanke der Inklusion ist vielmehr der, schöne Gemeinschaft, die ein Leben lang hält und dass man sich so, wie man ist, respektiert, dass man trägt. nebeneinander lebt, ohne in die Sphäre des anderen einzugreifen. Auf unsere Gesellschaft projiziert wür- Das Gespräch führte Stefan Groß. de das heißen, jeder, der herkommt, hat unsere Ver- fassung anzuerkennen und sich an ihr zu orientie- ren. Darüber hinaus kann er sein privates Leben frei gestalten. Was wir daher brauchen, ist eine inklusive BERND JOSEF WESTERMEYER STUDIERTE ENGLISCH, Gesellschaft. GESCHICHTE UND ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT AN Einen gesamtgesellschaftlichen Trend gegen Flücht- DER RHEINISCHEN FRIEDRICH-WILHELMS-UNIVER- linge sehe ich nicht. Vielmehr glaube ich daran, dass SITÄT ZU BONN. ER WAR SPRECHER DER BONNER es ein ganz starkes Fundament gibt, das all das trägt. Unsere Gesellschaft ist stark und diese Demokraten STIPENDIATINNEN UND STIPENDIATEN DER KON- gibt es auch unter unseren Schülern. Sie nehmen sehr RAD-ADENAUER-STIFTUNG. 2007 WURDE ER RECTOR bewusst wahr, welche Freiheiten und Möglichkeiten PORTENSIS AN DER LANDESSCHULE PFORTA UND sie haben, und dass man diese gegen Menschen, die IST SEIT 2012 GESAMTLEITER UND VORSITZENDER schwarz-weiße Weltbilder zeichnen und in Schubla- DER GESCHÄFTSFÜHRUNG DER SCHULE SCHLOSS den denken, verteidigen muss. Die gelebte Vielfalt in SALEM GGMBH. Ist Europapolitik

THE EUROPEAN THE schon Comedy?

Interview mit Martin Sonneborn ner Turbopolitik. Ich habe auch schon mal die Abstim- mung zum unbeliebtesten Politiker im Netz gewonnen, Am 23. Juni stimmten die Briten über den Brexit ab, am indem ich dazu aufgefordert habe, mich dort zu wählen. gleichen Tag hatten Sie die „Titanic“-Redaktion nach Brüs- Wenn Sie irgendwo die Nummer eins sein können, tun sel eingeladen. War das ein Zufall? Sie es!

Ja. Der 23. Juni ist ein Donnerstag. Es geht eigent- In jeder anderen Partei wären Sie mit dieser Einstellung lich nur darum, EU-Gelder in die Taschen von „Tita- Ihr Mandat wahrscheinlich schnell los. nic“-Redakteuren umzuleiten. Deswegen habe ich die Redaktion zu einem Satirekongress eingeladen. Fünf Oder ich wäre die Nummer eins. Leute sitzen auf der Bühne und werden Texte verlesen, die mit Europa möglichst wenig zu tun haben. Und Was ist Ihr bisher größter Erfolg im Europaparlament? dann trinken wir auf EU-Kosten Champagner und geben abschließend auf dem Place Lux Autogramme. Mein größter Erfolg ist die Tatsache, dass Elmar Bro- Da treffen sich donnerstags ab 18 Uhr die Europäer in cken, 167 Kilo konzentrierte CDU, kürzlich vor Wut fast Brüssel, um das Wochenende einzuleiten. geplatzt wäre. Er saß auf einer stringent besetzten Büh- ne mit einer kriegslüsternen amerikanischen Journalis- Sie sitzen jetzt seit fast zwei Jahren im Europaparlament. tin, einem Vertreter von 2.000 Waffen- beziehungswei- Laut unabhängigen Untersuchungen sind Sie der zweit- se Flugzeugfirmen und einem deutschen General. Dort faulste Abgeordnete im EU-Parlament. hielt er ein flammendes Plädoyer für den Aufbau einer europäischen Armee und ist anschließend vor Begeiste- Über diese Wertung habe ich mich sofort beschwert. rung eingeschlafen. Wir haben das fotografiert und im Ich hatte einfach Pech, weil in der Erhebung ein Zeit- Netz veröffentlicht, noch bevor er wieder aufwachte. Das raum bewertet wurde, in dem der sogenannte fauls- hat ihn so geärgert, dass er mir an die Gurgel springen te Abgeordnete Krebs hatte und monatelang nicht an wollte, als er mich das nächste Mal im Parlament ge- Sitzungen teilnehmen konnte. Sonst hätte ich diese sehen hat. Lediglich die Schwerkraft hat mich gerettet. Position schon damals für DIE PARTEI besetzt. Der Kollege ist wieder gesund und kann mitstimmen, da- Sie scheinen eine gewisse Abneigung gegenüber Herrn her gehe ich fest davon aus, dass ich in absehbarer Zeit Brok zu haben? der faulste Abgeordnete bin. Herr Brocken sitzt seit 1980 im Europaparlament und Sie scheinen stolz auf diesen Titel zu sein? verantwortet dort viel Unfug, Stichworte EU-Oster- weiterung, Ukraine, TTIP. Zuerst hat er Kohls Willen Lieber der Erste in der Hauptstadt als der Zweite in durchgesetzt, jetzt den von Merkel. Der Parteienrecht- meinem Dorf! Wenn man Spitzenpositionen besetzen ler von Arnim schreibt über ihn, es sei legale Korrupti- kann, dann sollte man dies tun. Das gehört zu moder- on, dass ein Mann über ein Jahrzehnt hinweg als hoch 96 THE EUROPEAN 97

bezahlter Bertelsmann-Manager und gleichzeitig als und SPD zu ärgern. Beide Parteien haben ja bei der Europaparlamentarier fungiert. letzten Wahl sieben Sitze dadurch verloren, dass die Drei-Prozent-Hürde vom Bundesverfassungsgericht Welche weiteren Erfolge können Sie denn im EU-Parla- gekippt wurde. Nun wünschen sie sich diese Sitze zu- ment vorweisen? rück, die an so unwerte Parteien wie Piraten, Famili- enpartei, Tierschützer, Nazis, uns, Freie Wähler und Wenige. Das Parlament selber ist insofern bedeu- ÖDP gegangen sind. tungsarm, dass es kein echtes Initiativrecht hat und überwiegend Sachen abnickt, die Kommission und Es gab kürzlich eine Änderung des Wahlrechts, sodass bei Rat vorgeben. Dann gibt es eine große Koalition im der nächsten Europawahl gegebenenfalls eine Drei-Pro- Parlament, sodass nicht mal engagierte Oppositions- zent-Hürde gelten wird. Wie bewerten Sie dies? parteien – Linke und Grüne – irgendeine Form von Einfluss ausüben können. Ich als fraktionsloser Abge- Es verrät einen interessanten politischen Ansatz: ordneter habe absolut keine Wirkungsmöglichkeit. Wenn nicht genug Leute CDU und SPD wählen, än- dern CDU/SPD einfach die Wahlgesetze. Das hatte üb- Wie lange werden Sie es noch im Europaparlament aushalten? rigens bei aller Dämlichkeit der Akteure auch eine lus- tige Note. Jo Leinen, Berichterstatter zu dem Thema, Ich habe gesagt, dass ich nicht garantieren kann, dass hat die FDP dazu gebracht zuzustimmen, was mög- ich fünf Jahre ausreize. Ich will dort jedoch Martin licherweise gar nicht im Interesse der FDP liegt, aber Schulz politisch und Elmar Brocken biologisch über- das werden wir 2019 sehen. Die Liberalen im EU-Par- leben. Diese zwei Dinge habe ich mir vorgenommen. lament versuchten dann noch vergeblich, einen Ände- rungsantrag in diese Gesetzesänderung einzubringen, In Brüssel wird offen spekuliert, dass Schulz auch in der sodass für Parteien, die schon in einem Regionalparla- zweiten Hälfte der Legislaturperiode im Amt des Parlaments- ment mit gesetzgebender Befugnis sitzen, nur 50 Pro- präsidenten bleiben könnte. Das könnte Ihrer Planung ei- zent der Hürde gelten, also 1,5 Prozent. Nicht uninter- nen Strich durch die Rechnung machen. essant, dass die Beta-Partei FDP sich offenbar zutraut, 2019 eine 1,5-Prozent-Hürde zu überspringen. Schulz ist ein gewiefter Taktiker und lenkt das Parlament nach Gutdünken, ohne ihn würde die große Koalition Was sagt denn Ihr Erfolg über den Zustand des Parteien- nicht in dieser Weise funktionieren. Irgendjemand muss systems aus? den Mann stoppen, notfalls kandidiere ich gegen ihn. Es zeigt, dass es ein sehr demokratisches und flexibles Werden Sie noch mal für das Europaparlament kan- System ist. Wir sind ja große Verehrer der Demokratie. didieren? Sie ermöglicht uns, auf unblutigem Wege an die Macht zu gelangen. Er zeigt aber auch, dass dieses System ein DIE PARTEI tritt auf jeden Fall an, schon um CDU bisschen reformiert gehört. Wir wollen feinjustieren. THE EUROPEAN THE

Wie wollen Sie justieren? nordkoreanischen Botschafter für Europa geführt. Die Band Laibach ist ja im August in Nordkorea aufgetreten Nehmen wir beispielsweise das einzige noch flugfähi- und als Mitglied des Kulturausschusses habe ich ihn ge- ge Bundeswehr-Flugzeug in Deutschland – diesen ein- fragt, ob wir jetzt nicht auch die sehr, sehr gute deutsche zelnen Tornado –, der da in Syrien seinen Kriegsein- Sängerin Helene Fischer auf eine sehr, sehr, sehr ausge- satz fliegt. Dies wird von den Oppositionsparteien als dehnte Nordkoreatournee schicken können. Das hat er Kampfeinsatz interpretiert, von Regierungsseite als bejaht. Im nächsten Schritt muss ich jetzt mal mit dem Notwehr gegen eine terroristische Organisation. Das Management von Helene Fischer Kontakt aufnehmen. ist doch ein Indiz dafür, dass Sachverhalte heute einfach in Wie weit sind Sie mit Ihrem Vorha- verschiedene Richtungen inter- ben, das Gurkenkrümmungsgebot pretiert werden. Das wiederum für deutsche Exportwaffen auf die zeigt, dass wir in der Demokra- Um es auf eine Floskel Tagesordnung zu setzen? tie seltener klare Entscheidun- gen oder eindeutige juristische zu bringen: Ich habe bisher sechs, sieben Standpunkte erleben werden, Stimmen zusammen, aber ich und deswegen wollen wir ein Vergesellschaftung benötige 40, um einen Initiati- bisschen von Kim Jong-un ler- von Kosten, vantrag einzubringen. Ich habe nen. Wir möchten eine Demo- mir das für die Zeit, in der ich in kratie, in der auch unpopuläre Privatisierung von Brüssel bin, vorgenommen und Entscheidungen zügig durchge- bin guten Mutes. Das Schöne ist setzt werden können, in der sich Gewinnen. ja, dass Heckler & Koch mittler- nicht eine Atomenergiewirt- weile mitziehen und die G36-Ge- schaft aus der Verantwortung wehre sowieso alle um die Ecke stehlen kann und in der man schießen. Im Prinzip ist das Ge- einfach aufgrund von demokratischen Beschlüssen setz daher gar nicht mehr so wichtig. Ich freue mich, Dinge auch ändern kann. So wie es Kim Jong-un prak- dass die Industrie auf Initiativen der PARTEI im Euro- tiziert. paparlament hin einlenkt.

Sind Sie deswegen in der Delegation für die Beziehungen Getreu Ihrem Motto „JA zu Europa, NEIN zu Europa“ stim- zur Koreanischen Halbinsel? men Sie abwechselnd mit JA und NEIN. Gibt es Ausnahmen?

Ja, genau. Ich will spätestens nächstes Jahr nach Nord- Wenn es um Netzneutralität oder die Einführung ei- korea, ich habe schon interessante Gespräche mit dem ner Drei-Prozent-Klausel in Europa geht, beginne ich 98 THE EUROPEAN 99

meine Abstimmungen schon mal entsprechend. Aber stimmung gegen den Brexit stimmten. Also Vertreter ansonsten fange ich jeweils nach Wetter oder Stim- einer Partei, die ihre einzige Existenzberechtigung aus mungslage mit JA oder NEIN an. Das bin ich meinen der Forderung eines Austritts Englands aus der EU Wählern schuldig! zieht. Dass selbst diejenigen nicht geschlossen dafür stimmen, das finde ich nun wieder sehr lustig und Ihnen wird vorgeworfen, zur Zersplitterung des EU-Parla- recht bezeichnend für moderne Politik und Selbstbe- mentes beizutragen. Wie fühlt sich das an? dienungsmentalität.

Ganz gut, das hat keine Bedeutung. Das wurde zwar von Sind Sie eigentlich überzeugter Europäer? SPD und CDU als Gefahr aufgebauscht, im Zuge der Wahlrechtsänderung. Zersplitterung ist aber eigentlich Ich war es, bis ich ins Europaparlament einziehen etwas Positives, denn die großen Parteien setzen bei vie- musste. Seitdem werde ich immer skeptischer. len Themen ihre Fraktionsdisziplin durch, und wenn CDU und SPD verhandelt haben, was im Parlament bei Woran liegt das? TTIP, CETA oder im Agrarbereich industriefreundlich zu laufen hat, dann ist es mir eigentlich sympathischer, Je mehr ich mich mit Europa beschäftige, desto mehr wenn ein paar Kleinparteien dabei sind, die einfach sehe ich die EU als ein Konstrukt, in dem eine fortlaufen- nach gesundem Menschenverstand abstimmen. Gegen de Neoliberalisierung stattfindet. Um es auf eine Floskel Glyphosat etwa. Oder abwechselnd mit JA und NEIN. zu bringen: Vergesellschaftung von Kosten, Privatisie- rung von Gewinnen. Außerdem wurde aufgrund fehlen- Sie stehen für Politainment. Wie viel hiervon verträgt denn der Wechselkurse und Abwertungsmöglichkeiten eine das EU-Parlament? Situation geschaffen, die zwar für Deutschland förderlich ist, nicht aber für die kleinen Länder drum herum. Wenn Das EU-Parlament selbst hat damit wenig Probleme. ich sehe, wie unbeliebt wir Deutschen mittlerweile in Eu- Jo Leinen, ein etwa 163 Jahre alter Sozialdemokrat, ropa wieder sind, dann gibt mir das zu denken. Wir von hat kürzlich im Interview gesagt, er würde mich gar „Titanic“ haben ja alles dafür getan, die WM 2006 nach nicht wahrnehmen, möglicherweise würde ich auf ei- Deutschland zu holen, und die anschließende Sympa- ner anderen Wahrnehmungsebene arbeiten als er. Gut thiewelle in Europa wird gerade wieder verspielt. erkannt. Die Ein-Minuten-Rede, die ich kürzlich gegen Erdogan gehalten habe, wurde im Netz auf verschiede- Das Gespräch führte Aljoscha Kertesz. nen Portalen über 3,5 Millionen Mal abgerufen. Zum Vergleich, das Video meines geschätzten CDU-Kolle- gen Herbert Reul hatte 36 Aufrufe. Und drei von den 36 waren mein Büroleiter und ich. MARTIN HANS SONNEBORN IST EIN PUBLIZISTI- Allerdings dreht die Pressestelle des Parlamentes seit SCHER PROVOKATEUR – GRENZGÄNGER ZWISCHEN kurzem auf und stellt allen Journalisten, die sich mit JOURNALISMUS, SATIRE UND POLITIK. BIS 2014 WAR ER mir treffen wollen, einen Aufpasser zur Seite. IN DER ROLLE EINES AUSSENREPORTERS DER ZDF-SA- TIRESENDUNG HEUTE-SHOW ZU SEHEN. DIPLOMATI- Elmar Brok hat Sie aufgefordert, endlich zu arbeiten oder SCHE VERSTIMMUNGEN ZWISCHEN DEUTSCHLAND Ihr Mandat zurückzugeben. UND CHINA LÖSTE SONNEBORN 2009 AUF DER FRANKFURTER BUCHMESSE AUS, ALS ER AHNUNGS- Nun, Elmar Brocken verantwortet ja in weiten Teilen die LOSEN CHINESISCHEN SCHRIFTSTELLERN SÄTZE EU-Außen- und Ostpolitik. Ich habe ihm geantwortet, ÜBER MENSCHENRECHTSVERLETZUNGEN IN DEN wenn ich auch so arbeiten würde wie er, dann hätten wir MUND LEGTE. DIE FERNSEHSERIE „SONNEBORN RET- bald noch einige weitere Konflikte. Eine zweite Ukraine können wir uns in Europa im Moment nicht leisten. TET DIE WELT AUF ZDF NEO“ WURDE MIT EINEM GRIM- ME-PREIS AUSGEZEICHNET. BEI DER EUROPAWAHL Abstimmung über den Brexit, Wiedereinführung von 2014 WURDE ER ALS SPITZENKANDIDAT DER PARTEI Grenzkontrollen – erleben wir bald das Ende der EU? FÜR ARBEIT, RECHTSSTAAT, TIERSCHUTZ, ELITENFÖR- DERUNG UND BASISDEMOKRATISCHE INITIATIVE (DIE Gute Frage, ich weiß es nicht. Was mich am Brexit viel PARTEI) ZUM MITGLIED DES EUROPÄISCHEN PARLA- mehr fasziniert ist, dass einige UKIP-Kollegen im Eu- MENTS GEWÄHLT. IN SEINER TÄTIGKEIT ALS POLITIKER ropaparlament so gut verdienen, dass sie bei der Ab- IST ER BUNDESVORSITZENDER VON DIE PARTEI. THE EUROPEAN THE Was ich mache, wenn ich tot bin …? 100 Bild und Text: © Karl Dall – Bock Dall © Karl und Text: Bild THE EUROPEAN 101 Was ich mache, wenn ich tot bin …?

An ein Leben nach dem Tod und eine Wiedergeburt glaubt Berufslustikus Karl Dall nicht. Aber man kann ja mal drüber plaudern, warum’s keine Ideallösung für den eigenen Tod gibt.

Von Karl Dall gesagt, das Leben sei nur eine kurze Pause vom Tod. Und während seines restlichen Lebens hatte er es, mein Der Tod …? Tja, der Tod ist allgegenwärtig. Mit mei- großes Vorbild, zum Beispiel selbst verdammt schwer. nen 75 Jahren hab ich ja jeden Tag damit zu tun. Zum Ich habe ihn ja erst kennengelernt, als wir einen Film Beispiel erst gestern: Ich hatte im Osten gerade zwei über ihn drehten und er schon nicht mehr sprechen Tournee-Abende. Und die essen hier vorher immer ir- konnte. Das war gruselig, wenn einem wortgewandten gendwelche Schlachtplatten noch aus der Ulbricht-Zeit Mann wie ihm die Sprache genommen und der Roll- – wahrscheinlich so ne Art Henkersmahlzeit. Wenn stuhl gegeben wird. Neun Jahre lang nur noch sitzen ich dann auf die Bühne komme und die schon leicht und unverständliche Töne machen – da ist Totsein ein- angesoffen und vollgefressen sind, sehe ich ab und zu fach viel besser. Ich hatte in der Zeit noch mit Hans-Joa- mal zwei leere Stühle. Und dann frag ich schon manch- chim Kulenkampff eine Tournee durch die Hamburger mal: „Oh, haben die sich schon verabschiedet?“ Brüller! Kneipen gemacht – übrigens in dem Jahr, als sich auch Dann suche ich mir im Publikum immer jemanden, Peter Frankenfeld verabschiedete –, und dann sagte der älter ist als ich. Den finde ich auch meistens, weil Kulenkampff nach etlichen Bierchen mit Körnern: „Die die Alten ja noch zu der Generation gehören, die sich Nächsten sind wir!“, worauf ich meinte: „Nicht wir, du!“ meine Eintrittspreise leisten können. Dann kommt im- Und ich habe recht behalten. Aber während das Gan- mer ein Pressefotograf, den ich bitte, das Bild doch bald ze früher eigentlich kein Thema war, denke ich derzeit zu veröffentlichen, damit sich das Thema nicht überholt mindestens einmal am Tag über den Tod nach. Hab hat. Wenn es nicht das eigene Ableben ist, auf das man auch schon ein Testament aufgesetzt. Meine fünf Jah- angesprochen wird, reagieren die meisten ja irgend- re jüngere Frau wünscht sich allerdings, dass es besser wie mit Humor. Wie sagt man so schön über den Tod: sei, wenn ich vor ihr abtrete. Allerdings nicht weil sie „Wenn er kommt, ist man weg.“ Es gibt ja schon lange so sehr am Leben hängt. Nein, weil sie glaubt, dass ich Lieder und Kinofilme darüber. Ich glaube, ich habe gar ohne sie nicht zurechtkomme. Wenn’s dann tatsächlich nicht so Angst vor dem Tod selbst, sondern vielmehr vor mal so weit sein sollte, gibt es bei uns in der Nähe von diesem komischen Siechtum, vor dieser Grauzone, die Bremen ein Familiengrab. Da liegt schon mein Vater, man nicht berechnen kann. Heinz Erhardt hat ja mal der ja ebenfalls Karl hieß, und mein Großvater auch – da bräuchten sie die Steine also gar nicht groß auszu- wechseln. Aber ich habe mich jetzt für ein anonymes THE EUROPEAN THE Seebegräbnis entschieden. Das kann man auch schon vorher bezahlen, ist auch gar nicht so teuer. Das macht dann ein freischaffender Prediger, der mich über Bord kippt. So einen habe ich im Fernsehen gesehen: ein Typ wie einer, der in der Kneipe die Aschenbecher leeren muss. Da gibt es eine Billigversion direkt bei Hamburg gleich hinter „Roter Sand“, eine Business-Version bei Sylt – aber oben bei Helgoland isses am teuersten, allein schon wegen der vielen Kotztüten an Bord! Egal, wo’s mich dann hintreibt, vermutlich bin ich das lustigste Fischfutter des 21. Jahrhunderts. Dann bin ich weg. Und dann steht mein Name auch hoffentlich nicht mehr groß in den Annalen. Und hoffentlich pilgert dann niemand meinetwegen irgendwohin. Denn ich möchte auch irgendwann vergessen werden. Ich habe seit meinem 25. Lebensjahr damit zu tun, eine bekann- te Fresse zu haben. Und nach 50 Jahren im Showbusi- ness würde ich später ganz gern anonym den Rest mei- nes Nicht-mehr-Daseins verbringen. Kurzum: Natürlich hab ich irgendwie Angst vorm Tod, aber die spannende Frage ist ja vor allem: Wann kommt er? Während der Autofahrt bei 180? – Kann sein. Auf der Bühne? – Das würde ich sehr ungern tun, dort auf die Knie zu sin- ken. Man will ja so wenig wie möglich andere Leute mit seinem eigenen Abtreten belästigen. Daheim in den Armen seiner Frau den letzten Atemzug zu machen, ist aber auch nicht gerade sehr charmant. Es gibt da einfach keine Ideallösung. Gespannt bin ich jetzt schon auf die entsprechenden Nachrufe, die die Journalisten ja meistens schon lange in den Giftschränken haben. Bei mir wird der „Spiegel“ sicher keine halbe Seite fab- rizieren, das passiert vermutlich ganz hinten unter „fer- ner liefen“. Dann werden sie sich aber hoffentlich mal fair verhalten mir gegenüber. Bleibt die Frage, was ich machen werde, wenn ich mal tot bin. Ich denke, nichts. Denn ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tode. Ich glaube auch nicht, dass man irgendwann wieder auf die Welt kommt. Nein, danach ist nichts – gar nichts mehr! Vor über 40 Jahren bin ich aus der Kirche aus- getreten. Die längst verstorbene Schauspielerin Brigitte Horney ist bei der Kirche in Ungnade gefallen, weil sie sich vom Glauben verabschiedet hatte, wurde daraufhin neben der Friedhofsmauer begraben. Das finde ich gut. Danebenzuliegen, wo nicht die ganzen anderen „Haus- schweine“ liegen, und damit zu einer ganz eigenen eli- tären Truppe zu gehören. So wie ich mein ganzes Leben lang danebengelegen habe … 102 THE EUROPEAN 103

„Bock!“ ist eine neue Zeitschrift! 2016! Aus eige- ner Initiative, ohne Verlagsriesen. Ohne Markt- forschung, ohne Anwälte, ohne Controller, ohne Spaßbremsen. Vielmehr noch ist „Bock!“ aber ein Lebensgefühl. Eine Überraschung. Inspiration. Für alle, die Lust haben, sich an den humorigen Absur- ditäten des Alltags zu erfreuen. Die sammeln wol- len, begreifen, rumspinnen und finden. Mit was zum Ausmalen und Ausschneiden. Zum Wundern, Ärgern und Durchpausen. Für all diejenigen, die nicht immer schon beim Abflug wissen müssen, wo sie landen werden. Für alle also – der Untertitel verrät es –, die Lust auf geilen Scheiß haben. Haste Bock, mach! Haste keinen, lass sein! Der Bock will Spaß machen, und das meint er ernst. Doch Obacht! „Bock!“ ist keine Satire. Und nicht politisch. Und erst recht nix für Miesepeter. So was wie „Bock!“ gab’s noch nicht. Bild und Text: © Karl Dall – Bock Dall © Karl und Text: Bild IMPRESSUM THE EUROPEAN THE

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THE EUROPEAN THE und Leser,

die Reise mit und für „The European“ geht ein Grund zur Dankbarkeit. Danken möchte für mich nun zu Ende. Nach dem Kauf des ich auch unseren Anzeigenkunden und Spon- Debattenmagazins durch die Weimer Media soren, die „The European“ als die Plattform Group im August 2015 war ich sehr gerne für ihre Werbebotschaft entdeckt und schät- noch ein weiteres Jahr in der Übergangs- zen gelernt haben. Danke an Nils Höfert und phase involviert. Diese Zwischenperiode ist Zakaria Rahim für die Vermarktung und Mar- vorüber und ich bleibe auch im kommenden kus Hohmeier für die Leitung des Verlags. akademischen Jahr an der Harvard-University im US-Bundesstaat Massachusetts und for- Und natürlich geht mein Dank an Wolfram sche dort am Center for European Studies im Weimer und seine Frau Christiane Goetz- Bereich Politik und Religion. Ich freue mich, Weimer, den Eigentümern von „The Europe- dass wir mit Oswald Metzger einen profilier- an“, für das Interesse an unserem Produkt ten Mann der Debatte und des Diskurses als und den Kauf, der für das Magazin den Be- Nachfolger für mich in der Rolle des Chef- ginn einer nachhaltigen Zukunft bedeutet redakteurs gewonnen haben. Ich bin zuver- hat: Danke Euch! sichtlich, dass er weiterhin für die weltoffene, liberale, interdisziplinäre und internationale Die Debattenkultur in Deutschland, in Euro- Ausrichtung des Magazins stehen wird. pa, hat sich in den sieben Jahren verändert, ALEXANDER GÖRLACH IST CHEF- Werbeverbot wegen zu viele werden sagen: zum Negativen. In der Tat REDAKTEUR UND HERAUSGEBER Wenn ich für mich persönlich die sieben Jahre hat die Polarisierung zu- und die Bereitschaft, VON „THE EUROPEAN“. 2014 ER- mit dem von mir gegründeten Magazin Revue anderen Argumenten zuzuhören, abgenom- vieler Pferdestärken SCHIEN SEIN BUCH „WIR WOL- passieren lasse, bin ich vor allem eines: sehr men. Wir haben damals den Namen „The Eu- LEN EUCH SCHEITERN SEHEN. dankbar – meinen Kolleginnen und Kollegen, ropean“ für das neue Magazin gewählt, weil WIE DIE HÄME UNSER LAND die mit mir in dieser Zeit an dem Magazin ge- wir damit ein Ausrufezeichen setzen wollten ZERFRISST“ (CAMPUS). arbeitet haben, Florian Guckelsberger, Sebas- hinter unsere Mission, die auf der reichen tian Pfeffer, Louisa Löwenstein, Martin Eier- europäischen Tradition des Argumentierens mann, Thore Barfuss, Julia Korbik, Alexandra und Debattierens aufbauen sollte. Medien Wo soll das noch hinführen? www.theeuropean.de/alexander-goerlach Schade, Lars Mensel, Clemens Lukitsch und sind Hüter und Verwalter des Diskurses in of- Max Tholl, um die wichtigsten zu nennen. fenen, pluralen und säkularen Gesellschaften. Die wirtschaftlichen Köpfe des Magazins wa- „The European“ hat sich als ein solches Me- Werbeverbote schaden ren in den sieben Jahren Christoph Blumberg dium einen Platz in der Medienlandschaft in und Guillaume Vaslin. Sie haben „The Euro- Deutschland in den ersten Jahren seines Be- pean“ in für die Medienbranche schwierigen stehens hart erarbeitet. Und so geht die letz- Zeiten sicher navigiert: Danke! te Danksagung hier an Sie, liebe Leserinnen der deutschen Wirtschaft. und Leser von „The European“: Besten Dank, Danken möchte ich auch meinem Mitgründer dass Sie „The European“ zu Ihrer Lektüre ge- Kolja Hebenstreit als Verantwortlichem von macht haben. Bleiben Sie dem Magazin auch Team Europe Ventures und unseren Investo- in Zukunft gewogen! ren, allen voran Dario Suter. Beide sind über die Zeit des gemeinsamen Arbeitens an der Herzlich und für die Debattenkultur in Deutschland zu meinen besten Freunden geworden: wieder Ihr Alexander Görlach Braucht auch Regulierung ihre Grenzen? Natürlich sollen Konsumenten über Risiken informiert werden. Aber ein komplettes Werbeverbot für ein legales Produkt stellt eine kritische Entwicklung dar, deren Ende kaum absehbar ist. www.zigarettenverband.de 106

DZV_Kampagne_Werbeverbot_PS_210x280_European_RZ01.indd 1 08.08.16 16:06 Liebe Leserinnen und Leser,

Werbeverbot wegen zu vieler Pferdestärken Wo soll das noch hinführen? Werbeverbote schaden der deutschen Wirtschaft.

Braucht auch Regulierung ihre Grenzen? Natürlich sollen Konsumenten über Risiken informiert werden. Aber ein komplettes Werbeverbot für ein legales Produkt stellt eine kritische Entwicklung dar, deren Ende kaum absehbar ist. www.zigarettenverband.de

DZV_Kampagne_Werbeverbot_PS_210x280_European_RZ01.indd 1 08.08.16 16:06 Brauchen wir eine neue Einlagensicherung, die riskantes Handeln fördert?

Vertrauen verträgt kein Fragezeichen. Für Stabilität. Für Sicherheit. Für die Zukunft unserer Wirtschaft.

Wir sind das Land der Sparerinnen und Sparer – weil wir uns auf sichere Gut- haben verlassen können. Doch dieser Standard ist bedroht durch die geplante zentrale Einlagensicherung der EU: In Zukunft sollen die Finanzmittel, die deutsche Kreditinstitute heute zur Absicherung ihrer eigenen Kunden bereit- stellen, auch die Risiken fremder Banken abdecken. Die deutsche Wirtschaft stellt sich diesem Plan entgegen. Denn wer das Vertrauen der Sparer schwächt, der setzt die Stabilität der gesamten Wirtschaft aufs Spiel. damit-sicher-sicher-bleibt.de #sicherbleibtsicher

DSSB_AZ_Einlagensicherung_European_210x280_ET2508_ICv2_01.indd 1 08.08.16 15:51