„Warum ich so gerne nach Italien fahre...“. Anmerkungen zur kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung

Burkhart Lauterbach*

In der Festschrift für einen unserer volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Fachkolle- gen heißt es ganz allgemein: Simple Erklärungsmuster sind selten richtig, auch wenn sie oft einen wahren Kern treffen. [...]. Darum lernt der Geistes- und Kulturwissenschaftler schon im Proseminar, sich bei der Beurtei- lung und Interpretation von Texten, Meinungen, Bildern, Realien, Handlungsabläufen, Verhal- tensweisen und so weiter der Vergangenheit stets der Dimensionen von Zeit, Ort und konkretem Gebrauch zu vergewissern, also die inhaltlichen, formalen und funktionalen Zusammenhänge zu beachten. Damit ist das Problem des Fremdverstehens in zeitlicher, räumlicher und gesellschaft- licher Hinsicht angesprochen, das heißt, unsere Schwierigkeit, Erscheinungen außerhalb unseres eigenen begrenzten Erfahrungshorizonts angemessen zu beurteilen1. Über das Phänomen der Italien-Reisen ist viel geschrieben worden, heute, gestern, vorgestern, monodisziplinär, multidisziplinär, interdisziplinär. Da gibt es immer wie- der beliebte Themen wie etwa die Grand Tour der jungen britischen Adeligen oder die bald darauf stattfindenden Reisen aus Gründen der religiösen Verehrung, der Ausei- nandersetzung mit dem Altertum, der Auseinandersetzung mit der Kunst und der Aus- einandersetzung mit den Wissenschaften2. Und dennoch gibt es immer wieder Deside- rate wie etwa die genaue Erkundung des (west-)deutschen Italien-Urlaubs in der Nachkriegszeit, weswegen ich im folgenden einen eigenen Vorstoß in dieses For- schungsfeld unternehme: Wie eng der Horizont um 1951 war, und in welch bescheidenen Größenordnungen man damals noch dachte, bewies die musikalische Aufforderung der kleinen : Pack die Ba- dehose ein, / nimm Dein kleines Schwesterlein, / und dann nischt wie raus nach Wannsee! / Ja, wir radeln wie der Wind / durch den Grunewald geschwind / und dann sind wir bald am Wann- see [...]3. Nun, der Pack-die-Badehose-ein-Welle, die gar nicht anders kann, als in die direkte Nahwelt zu führen, folgen dann, das ist bekannt, die „Freß- und Textilwelle“ und bald schon die „Komfort- und Reisewelle“. Das heißt, ab Mitte der 1950er Jahre sind die

* WOLFGANG BRÜCKNER mit allen guten Wünschen zugeeignet. 1 BRÜCKNER, WOLFGANG: Stereotype Anschauungen über Alltag und Volksleben in der Auf- klärungsliteratur. Neue Wahrnehmungsparadigmen, ethnozentrische Vorurteile und merkanti- le Argumentationsmuster. In: GERNDT, HELGE (Hg.): Stereotypvorstellungen im Alltagsle- ben. Beiträge zum Themenkreis Fremdbilder, Selbstbilder, Identität. FS f. GEORG R. SCHROUBEK (= Münchner Beiträge zur Volkskunde 8). München 1988, S. 121-131, hier S. 121. 2 MAURER, MICHAEL: Italienreisen. Kunst und Konfession. In: BAUSINGER, HERMANN/ BEY- RER, KLAUS/ KORFF, GOTTFRIED (Hgg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tou- rismus. München 1991, S. 221-229. 3 MEZGER, WERNER: Schlager. Versuch einer Gesamtdarstellung unter besonderer Berücksichti- gung des Musikmarktes der Bundesrepublik Deutschland (= Untersuchungen des Ludwig- Uhland-Instituts der Universität Tübingen 39). Tübingen 1975, S. 188. 218 Burkhart Lauterbach

Deutschen, zumindest die aus dem Westen, wieder mit von der Partie, was das touristi- sche Reisen betrifft, auch wenn die Anfänge mit Campingurlaub und ähnlichen Aktivi- täten sich eher bescheiden gestalten. Von einem massenhaften Italienreisen kann also noch gar keine Rede sein; davon lässt sich erst ab ungefähr 1960 sprechen4. Im Medium der popularen Musik drückt sich das dann in einer Flut von Liedern aus, in Schlagern wie „O mia bella Napoli“ und „Caprifischer“, „Chianti-Lied“ und „Arrividerci Roma“, nicht zu vergessen „Komm ein bisschen mit nach Italien“5. Ein Lied jedoch, 1961 komponiert und 1962 auf dem ersten Platz bei den Deutschen Schlager-Festspielen gelandet, scheint mir für die damalige Umbruchzeit in besonde- rem Maße charakteristisch zu sein, nämlich ein ebenfalls von Cornelia (bzw. mittler- weile Conny) Froboess interpretiertes Lied: , die träumen von Napoli, / von Tina und Marina, die warten schon lang auf sie. / Zwei kleine Italiener, die sind so allein. / Eine Reise in den Süden ist für andre schick und fein, / doch zwei kleine Italiener möchten gern zuhause sein. / Oh Tina, oh Marina, wenn wir uns einmal wiedersehn! / Oh Tina, oh Marina, dann wird es wieder schön! / Zwei kleine Italiener vergessen die Heimat nie, / die Palmen und die Mädchen am Strande von Napoli. / Zwei kleine Italiener die sehen ein: / Eine Reise [...] / Zwei kleine Italiener, am Bahnhof da kennt man sie! / Sie kommen jeden Abend zum D-Zug nach Napoli. / Zwei kleine Italiener seh'n stumm hinter- drein. / Eine Reise [...]6. In diesem Text treffen mehrere Bewegungen in nord-südlicher wie auch süd- nördlicher Richtung zusammen. Zunächst geht es um die Arbeitsmarktentwicklung: Die amtlich organisierte Anwerbung [ausländischer Arbeitnehmer] hatte schon Mitte der 1950er Jahre begonnen, als die Erschöpfung des einheimischen Arbeitskräfteangebots absehbar zu wer- den schien [...]. Bundesregierung, Bundesanstalt für Arbeit, Arbeitgeberverbände und Gewerk- schaften betrachteten, bei allen Unterschieden in der Einschätzung des Problems, eine stärkere Ausländerbeschäftigung als geeigneten Ausweg7. Man ist übergreifend der Ansicht, ausländische Bürger zum Zweck der Partizipati- on am hiesigen Erwerbsleben ins Land zu holen. Eigene wirtschaftliche Interessen ste- hen dahinter: Die Wirtschaft floriert, was auch dazu führt, dass man sich zunächst überhaupt keine Gedanken macht, wie man mit diesen Arbeitskräften umgehen kann und muss in Bereichen, die über das reine Ableisten von Arbeitsvorgängen hinausrei- chen. Man hält die Anwesenheit dieser Arbeitskräfte für eine kurz- bis mittelfristige Angelegenheit; nicht von ungefähr entsteht die nicht-amtliche Bezeichnung „Gastar- beiter“: Ein Gast hält sich, sei es in einem anderen Land, sei es bei einer Party von Schülern, Studierenden oder Universitätsprofessoren, nur für begrenzte Zeit auf. Man

4 Vgl. KNOLL, GABRIELE: Kulturgeschichte des Reisens. Von der Pilgerfahrt zum Badeurlaub. Darmstadt 2006, S. 136-143. – LUTHER, TAMMO: Die Italienreise im 20. Jahrhundert. In: SIEBENMORGEN, HARALD (Hg.): Wenn bei Capri die rote Sonne ... Die Italiensehnsucht der Deutschen im 20. Jahrhundert (Ausstellung des Badischen Landesmuseums, Karlsruhe, vom 31. Mai bis 14. September 1997). Karlsruhe 1997, S. 82-95, hier S. 90-92. 5 MEZGER, 1975 (wie Anm. 3), S. 190-192. 6 NEUNER ALEXANDRA: „Mandolinen der Liebe erklingen ...“. Italien im deutschen Schlager. In: SIEBENMORGEN, 1997 (wie Anm. 4), S. 144-153, hier S. 150. 7 BADE, KLAUS J.: Einheimische Ausländer: „Gastarbeiter“, Dauergäste, Einwanderer. In: DERS. (Hg.): Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart. 3. Aufl. München 1993, S. 393-401, hier S. 393 f.