ORIENTIERUNGEN ZUR WIRTSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSPOLITIK

122Dezember 2009

Mitarbeiterbeteiligung Kapitalanteile für Lohnverzicht? Arbeitsmarktpolitik Kündigungsschutz und Arbeitsförderung Sachverständigenrat Die Zukunft nicht aufs Spiel setzen China Innovationen statt Imitationen G-20-Finanzgipfel in Pittsburgh Ergebnisse und Aussichten Ökonomie-Nobelpreis 2009 Zur Bedeutung von Institutionen

LUDWIG - ERHARD - STIFTUNG BONN Inhalt

Ordnungspolitische Positionen Mitarbeiterbeteiligung am Unternehmen Hagen Lesch Was bringen Kapitalbeteiligungen von Mitarbeitern im Sanierungsfall? ...... 2 Ulrich Hocker Die Belegschaftsaktie verdient eine neue Chance ...... 6 Wolfgang Mansfeld Kapitalanteile für Lohnverzicht? ...... 8 Volker Rieble Mitarbeiterbeteiligung – Wer bezahlt, muss das Stimmrecht haben . . . . 13 Martin Kannegiesser Mitentscheiden heißt Mitverantworten: Die Kapitalbeteiligung von Mitarbeitern ist kein Wundermittel ...... 18

Arbeitsmarkt Frank Christian May Reform des Kündigungsschutzes: Horst M. Schellhaaß Ein Weg zu mehr Beschäftigung? ...... 21 Josef Schmid Kontinuität und Wandel in der Arbeitsmarktpolitik ...... 29

Wirtschaftspolitik national Otto Graf Lambsdorff Ludwig-Erhard-Lecture 2009: „Nach der Wahl ist vor der Wahl“ ...... 35 Peter Westerheide Jahresgutachten des Sachverständigenrates: „Die Zukunft nicht aufs Spiel setzen“ ...... 41

Wirtschaftspolitik international Wolfgang Klenner Von „Made in China“ zu „Made by China“ ...... 51 Gerhard Scherhorn Vereitelt die Finanzkrise die nachhaltige Entwicklung? ...... 58

Theoretische Grundlagen Martin Kolmar Warum sind Institutionen wichtig? – Zu den Ökonomie-Nobelpreisträgern 2009 ...... 64

Buchbesprechung Philip Kovće Zu einem Buch von Michael Opielka et al.: Freiheit, Gleichheit, Grundeinkommen? ...... 71

Nachruf Otto Graf Lambsdorff ...... 72 Editorial

Der Staat laviert in der Schuldenfalle

Nach der Rezession wird es wieder mal einen Aufschwung geben. Man muss kein Ökonom sein, um eine solche Prognose zu wagen. Die Vorhersage wirkt so sicher, weil sie so ungenau ist. Für die Bedürfnisse der Politik reicht das in vielen Fällen. Nicht aber für die Bedürfnisse der Bürger. Die möchten nämlich wissen, mit welchem wirtschaftlichen Umfeld sie zu rechnen haben, wenn sie sich daran machen, ihre und ihrer Kinder Chancen abzuschätzen: im Beruf, in der Ausbildung, in der Absicherung von kalkulierbaren Risiken, in der Finan- zierung dessen, was man in bürgerlichen Kreisen „fundierte Vorsorge“ nennt.

Das meiste davon hat mit „Kapitalbildung“ zu tun. Mit dem Sparen für den Fortbildungskursus im Berufsumfeld, für das Eigenheim, für die Wahrneh- mung von Bildungschancen für die Kinder. Es geht nicht überall so zu. Aber so ungefähr wird in den Familien gedacht, gesprochen und geplant. Es ist die Gedankenwelt, die zu Ludwig Erhards besten Zeiten auch einmal in den „Din- gen des Staates“ üblich war. Und die Sprache hat das Verhalten geprägt: im – nicht immer, aber regelmäßig gelungenen – Versuch, die Ausgaben und Leistungsverpflichtungen des Staates wenn nicht im perfekten Gleichschritt, dann doch im verlässlichen Kontakt mit den Einnahmen zu halten, über die das Gemeinwesen – gestützt auf die Zahlungskraft der Bürger – verfügen konnte.

Auch damals wurden Schulden gemacht. Aber die Sorge, der Staat werde sich überheben, seine Leistungsfähigkeit werde unter den Schulden ersticken, hat doch die Bürger nicht bewegt. Man traute „Vater Staat“ so etwas wie eine wä- gende Langzeitperspektive seiner Finanzgestaltung zu. Für eine solche – teils belegbare, teils empfundene – Sicherheit gibt es heute keine verlässliche Be- gründung. Im Gegenteil: Was über den Zustand der öffentlichen Haushalte und Parafisci, über die in die Höhe schnellenden Kennziffern der Verschul- dung in Analysen veröffentlicht wird, lässt den Staat im finanziellen Sinn als unsicheren Kantonisten erscheinen. Die Ökonomen belegen das mit umfang- reichen Tabellenteilen ihrer Gutachten. Die Notenbanken – die Europäische Zentralbank, die Deutsche Bundesbank – scheuen sich nicht, in die Begriff- lichkeit des „Nichtmehrhandbaren“ zu gehen, um vor den Risiken der dra- matisch gewachsenen Staatsschulden nicht nur in Deutschland zu warnen.

In Deutschland, in Europa, in Amerika lavieren Regierungen nicht nur am Rand, sondern bereits in der Tiefe der Schuldenfalle. Das hat Folgen für die Erfüllung von Staatsaufgaben. Wachstumsvorsorge durch die Bereitstellung von Kollektivgütern; Sozialausgleich durch das weitsichtige Management von Vorsorgesystemen; Hilfe für schuldlos Gescheiterte; wirtschaftliche Stützungs- aktionen, wo sie Sinn machen: Ein Staat, der das „Schuldenmanagement“ bis zur Überschuldung getrieben hat, kann niemandem mehr ein Helfer in der Not sein. Darin liegt die Unmoral des Verweigerns der Konsolidierung.

Hans D. Barbier

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 1 Ordnungspolitische Positionen

Mitarbeiterbeteiligung am Unternehmen

Was bringen Kapitalbeteiligungen von Mitarbeitern im Sanierungsfall?

Dr. Hagen Lesch Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW)

Die Idee, Mitarbeiter zu Miteigentümern eines Unternehmens zu machen, feiert regelmäßig eine Renaissance. Beim sogenannten Investivlohn tauschen die Arbeitnehmer einen Teil ihres Barlohnes gegen eine Kapitalbeteiligung am Unternehmen, das sie beschäftigt. Dabei sind verschiedene Varianten denkbar, wie Mitarbeiterdarlehen, Genussscheine oder Belegschaftsaktien. Bei allen Va- rianten wird ein Arbeitnehmer Miteigentümer, aber nicht jede Form der Be- teiligung ist mit einem Stimmrecht verbunden.

Steuerliche Förderung der Kapitalbeteiligung

Im April 2009 trat eine Reform des Mitarbeiterkapitalbeteiligungsgesetzes in Kraft, in deren Rahmen der steuer- und sozialabgabenfreie Höchstbetrag für die Überlassung von Kapitalbeteiligungen am Unternehmen von 135 Euro auf 360 Euro pro Jahr angehoben wurde. Mit der Erhöhung der Einkommens- grenze – bei Alleinstehenden von 17 900 auf 20 000 Euro, bei Ehepartnern von 35 800 auf 40 000 Euro – wurde der Kreis der Förderungsberechtigten er- weitert. Neu ist auch die Einrichtung von Mitarbeiterbeteiligungsfonds. Dies sind spezielle Fonds, zum Beispiel für einzelne Branchen, die wie direkte An- lagen im eigenen Unternehmen gefördert werden.

Ursprünglich war die verbesserte steuerliche Förderung von der Großen Koa- lition in der Absicht beschlossen worden, die Arbeitnehmer im Aufschwung am Unternehmenserfolg teilhaben zu lassen. Inzwischen hat die Diskussion über die Kapitalbeteiligung von Arbeitnehmern jedoch einen anderen Fokus erhalten. Anstatt als „Gratifikation für Boomzeiten“ soll die Kapitalbeteiligung nun als „Tauschmittel für Krisenfälle“ dienen.1 Die Mitarbeiter verzichten auf Lohn und erhalten dafür Kapitalanteile ihres Unternehmens.

Laut Gesetz werden Kapitalbeteiligungen steuerlich gefördert, wenn sie zu- sätzlich zum festen Bruttoentgelt bezahlt werden. Überschreiben Unterneh- men ihren Mitarbeitern im Gegenzug für einen Lohnverzicht Kapitalanteile, greift die steuerliche Förderung nicht. Das Bundesarbeitsministerium hat des- halb im September 2009 Eckpunkte vorgelegt, nach denen eine Umwandlung von Barlohn in eine Form der Mitarbeiterbeteiligung bis zu einer Höchstgren- ze von 12 000 Euro pro Jahr steuerlich freigestellt werden soll. Eine Steuer- und Beitragspflicht soll erst mit einer Rückumwandlung der Beteiligung in Barlohn greifen. Durch die nachgelagerte Besteuerung wird gewährleistet, dass Steuer- und Beitragsausfälle nur vorübergehend entstehen.

1 In der Krise boomt die Mitarbeiterbeteiligung, Handelsblatt vom 31. März 2009, Seite 3.

2 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Mitarbeiterbeteiligung

Die neue Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP hat diesen Vorstoß aufge- griffen. Im Koalitionsvertrag heißt es, die Regierung werde die Möglichkeiten der Mitarbeiterkapitalbeteiligung erweitern. Auf freiwilliger Basis sollen die Beschäftigten auch steuerbegünstigt werden, wenn sie Teile ihres Entgeltes ge- gen Anteile an ihrem Unternehmen tauschen. Eine Fördergrenze wurde aller- dings nicht genannt.

Beschränktes Interesse an Kapitalbeteiligung

Ob eine steuerliche Förderung der Mitarbeiterkapitalbeteiligung sinnvoll ist, wird ebenso kontrovers diskutiert wie die Frage, ob eine Entgeltumwandlung im Sanierungsfall wirklich hilft. Im internationalen Vergleich fällt auf, dass hierzulande nur eine Minderheit der Betriebe ihre Belegschaft am Unterneh- men beteiligt. Laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung lag deren Anteil im Jahr 2005 bei gerade einmal zwei Prozent aller Betriebe, in Betrieben mit mindestens 500 Beschäftigten waren es mit sieben Prozent etwas mehr. Vor allem Kapitalgesellschaften nutzen den Investivlohn, indem sie Belegschafts- aktien ausgeben. Auf sie entfallen derzeit nach Schätzungen der Arbeitsge- meinschaft Partnerschaft in der Wirtschaft (AGP) zwei Drittel der gesamten Kapitalbeteiligungen, bei einem Volumen von 7,6 Milliarden Euro.

Die begrenzte Verbreitung von Kapitalbeteiligungsformen deutet an, dass sich dieses Instrument längst nicht für jedes Unternehmen und jede Rechtsform eignet. Grundsätzlich kann eine Kapitalbeteiligung positive Wirkungen für Arbeitgeber wie Arbeitnehmer entfalten. Die Arbeitnehmer identifizieren sich als „Mitunternehmer“ stärker mit ihrer Firma und sind motivierter. Da sie neben ihrem Arbeitseinkommen ein Kapitaleinkommen erhalten, profitieren sie im Aufschwung unabhängig von tarifvertraglich ausgehandelten Lohner- höhungen von einem steigenden Wert ihres Unternehmens. Im Unterschied zur Gewinnbeteiligung werden steigende Gewinne aber nicht direkt ausge- schüttet, sondern als Vermögenszuwachs verbucht und einbehalten. Ändert sich die Wirtschaftslage, kann aus dem Zuwachs auch ein Verlust werden. Da- durch entsteht ein doppeltes Risiko: Zusätzlich zum Beschäftigungsrisiko tra- gen die Arbeitnehmer ein finanzielles Risiko. Auch das unterscheidet die Ka- pitalbeteiligung von der – haftungsbeschränkten – Gewinnbeteiligung, bei der die Belegschaft von steigenden Gewinnen profitiert, ohne an Verlusten betei- ligt zu werden.

Aus Sicht des Unternehmens verbessern Kapitalbeteiligungen die Liquidität und erhöhen je nach Ausgestaltung die Eigenkapitalquote. Ein Unternehmen kann zudem wählen, ob es eine Mitarbeiterbeteiligung mit oder ohne Stimm- recht verknüpft. Wird eine Einflussnahme der Belegschaft nicht gewünscht, bieten sich Mitarbeiterdarlehen oder stille Beteiligungen an. Trotzdem beste- hen vor allem in Familienunternehmen immer noch große Vorbehalte gegen- über dieser Beteiligungsform. Eine Erklärung ist der Wunsch nach Unabhän- gigkeit, der oft die entscheidende Triebfeder für das Engagement der Eigen- tümer ist. Erhalten die Arbeitnehmer über Beteiligungen Mitspracherechte, fühlen sich die Eigentümer in ihrer Unabhängigkeit eingeschränkt. Dies trägt auch zur Erklärung bei, warum der Verbreitungsgrad von Kapitalbeteiligungen mit der Betriebsgröße zunimmt. Bei börsennotierten Aktiengesellschaften ist die Beteiligung von Mitarbeitern über Belegschaftsaktien üblich und in Bezug auf die Mitspracherechte weniger problematisch. Dafür sind Belegschaftsak- tien aber eher Finanzanlage als Motivationsinstrument.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 3 Ordnungspolitische Positionen

Alternatives Bündnis für Arbeit

Durch die Wirtschafts- und Finanzkrise hat sich der Fokus der Diskussion ge- ändert. Sollten die Arbeitnehmer bislang neben dem Arbeitsplatzrisiko nicht auch noch ein Kapitalrisiko tragen, will vor allem die IG Metall nun Mitarbei- terbeteiligungen als Sicherheitspfand nutzen. Die Gewerkschaften führen an, dass die Arbeitnehmer im Sanierungsfall keinesfalls sicher seien, von einem Lohnverzicht profitieren zu können. Während bei einem klassischen Bündnis für Arbeit Lohnverzicht gegen einen erweiterten Kündigungsschutz getauscht wird, kann eine Beschäftigungsgarantie im Sanierungsfall gerade nicht für alle Arbeitnehmer ausgesprochen werden. Wie die Diskussion über die Rettung von Opel zeigt, setzt die Fortführung des Unternehmens einen Abbau der Be- legschaft zwingend voraus. Damit die Arbeitnehmer in solchen Situationen nicht ohne eine Gegenleistung auf Lohn oder Freizeit verzichten, sollen sie am Unternehmen beteiligt werden. Kollektives Belegschaftskapital soll zudem nach Auffassung der Gewerkschaften die Ertragskraft, die Liquidität und das Eigenkapital der Unternehmen stärken.

Tatsächlich stellt die Entgeltumwandlung im Sanierungsfall eine Alternative zum klassischen Bündnis für Arbeit dar. Kommt es zum Arbeitsplatzverlust, kann ein Entlassener bei einer Rettung des Unternehmens trotzdem indirekt profitieren, wenn der Wert des Unternehmens steigt. Ob das ausreicht, um den Verzicht auf eine Beschäftigungsgarantie aufzuwiegen, hängt vom einzelnen Arbeitnehmer ab. Daher sollte der Lohnverzicht gegen Kapitalbesitz nur auf freiwilliger Basis angeboten werden. Die Entscheidung über eine Entgeltum- wandlung sollte auf der Betriebsebene getroffen werden. Tarifliche Öffnungs- klauseln könnten den rechtlichen Rahmen dafür abstecken.

Offiziell geht die IG Metall diese neue Strategie der Krisenbewältigung bislang eher behutsam an; sie spricht von Einzelfällen. Dennoch werden Bedenken ge- äußert. So titelte die Zeitschrift Wirtschaftswoche im September 2009 mit dem Spruch „Das Kapital bin ich“ und präsentierte IG-Metall-Chef Berthold Huber in Anspielung auf das Zitat „L’état, c’est moi“ in der Gestalt eines Sonnenkönigs. Die Zeitschrift baut ein Szenario auf, in dem die Mitarbeiter kriselnder Unter- nehmen auf Lohn verzichten und ihre dafür erworbenen Unternehmensan- teile mitsamt den damit verbundenen Stimmrechten an Beteiligungsfonds ab- treten, die von Betriebsräten und Gewerkschaften kontrolliert werden. Die Bündelung von Arbeitnehmeranteilen in Fonds, deren Stimmrechte von den Gewerkschaften übernommen werden, würde die unternehmerische Mitbe- stimmung der Gewerkschaften stärken. Als Vertreter der Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat und gleichzeitig als Anteilseigner könnten die Organisationen mehr Einfluss auf die Strategie der Unternehmen nehmen.

Sinkende Kapitalkosten helfen Unternehmen

Wird ein fester Lohnbestandteil investiv in Eigen- oder Fremdkapital des eige- nen Unternehmens oder indirekt über einen Fonds angelegt, bleibt die Nach- frage der Unternehmen nach Arbeitnehmern zunächst unverändert, denn die Unternehmen werden nicht von Arbeitskosten entlastet. Was sie beim Barlohn weniger aufwenden müssen, wird ihnen über den Investivlohn in Rechnung ge- stellt. Nur wenn das Belegschaftskapital günstiger als zu Marktkonditionen be- reitgestellt wird, sinken die Arbeitskosten unter die Summe aus Bar- und In- vestivlohn. Dadurch entsteht ein positiver Beschäftigungseffekt.

4 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Mitarbeiterbeteiligung

Die Beschäftigten werden allerdings nur bereit sein, dem Unternehmen güns- tigere Konditionen als marktüblich einzuräumen, wenn sie auf ihre Kapitaltitel höhere Rückflüsse erwarten als externe Gläubiger. Bei gleichem Informa- tionsstand und gleicher Risikobewertung ist dies in normalen Zeiten eher un- wahrscheinlich. Im Fall einer Sanierung könnten die Arbeitnehmer aber bereit sein, eine geringere Rendite zu akzeptieren, um die Überlebenswahrschein- lichkeit ihres Unternehmens zu erhöhen. Darüber hinaus kann staatliche För- derung helfen: Wird eine Kapitalbeteiligung steuerlich subventioniert, könn- ten die Beschäftigten eher eine Rendite unter dem Marktniveau akzeptieren.

Kapitalbeteiligungen wirken auch positiv auf die Beschäftigung, wenn sie aus- schließlich jenen Mitarbeitern gewährt werden, die zum Zeitpunkt des Ver- tragsabschlusses beschäftigt sind, und Neueingestellten nur der vereinbarte Ba- sislohn gezahlt wird. Eine solche Lohndifferenzierung bewirkt zweierlei: Zu- nächst führt eine Lohnsenkung zu einer Gewinnerhöhung, die an die beschäf- tigten Arbeitnehmer in Form einer Unternehmensbeteiligung übertragen wird; es kommt zu einer Verschiebung zwischen Lohn- und Gewinnsumme, oh- ne dass sich die Einkommenshöhe ändert. Da im Fall einer Beschäftigungsaus- weitung nur der Barlohn – ohne Investivlohn – gezahlt werden muss, entsteht ein zweiter Effekt: Für die Unternehmen wird es rentabel, neue Arbeitsplätze zu schaffen.

Eine permanente Diskriminierung von Alt- und Neubeschäftigten widerspricht zwar dem gewerkschaftlichen Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. In Er- gänzungstarifverträgen wird dieses Prinzip aber ohnehin durchbrochen. Frag- lich ist indes, ob ein Unternehmen im Sanierungsfall den geringeren Barlohn oder sinkende Kapitalkosten tatsächlich zur Einstellung neuer Mitarbeiter nutzt. Die Kapitalbeteiligung dient bei drohender Insolvenz vielmehr dazu, über Belegschaftsdarlehen an möglichst günstiges Beteiligungskapital zu kom- men, um den Fortbestand des Unternehmens zu sichern.

Tariffonds sind ordnungspolitisch bedenklich

Fraglich ist, ob die Unternehmen eine günstigere Kapitalbeschaffung auch anstreben, wenn sie an eine stärkere gewerkschaftliche Einflussnahme auf die Unternehmenspolitik geknüpft wäre. Dies wäre der Fall bei einer Bünde- lung der Belegschaftsanteile in Fonds, die von den Gewerkschaften verwaltet würden.

Tariffonds als Alternative zu einer direkten oder indirekten betrieblichen Be- teiligung wurden schon Anfang der 1970er Jahre diskutiert. Vorrangiges Ziel einer Fondslösung, die regional oder überregional, branchenbezogen oder branchenübergreifend organisiert werden kann, ist die Risikostreuung. Fonds verhindern nicht nur eine einseitige kapitalmäßige Bindung des Arbeitneh- mers an das jeweilige Unternehmen. Sie stellen auch für solche Unternehmen eine Option dar, die eine Eigenkapitalbeteiligung nicht anbieten können oder wollen. Die angestrebte Risikostreuung wird aber gemindert, wenn der Fonds einen Großteil seiner Mittel in die Unternehmen investieren muss, deren Ar- beitnehmer in den Fonds eingezahlt haben.

Tariffonds könnten auch dazu genutzt werden, den Gewerkschaften einen grö- ßeren Einfluss auf die Unternehmenspolitik einzuräumen. Dieser Weg wäre ordnungspolitisch bedenklich. Nehmen die Gewerkschaften neben der Mitbe- stimmung auch Entscheidungsrechte der Eigentümer wahr, wird eine „schlei- chende Politisierung“ von betrieblichen Entscheidungen erwartet. Außerdem

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 5 Ordnungspolitische Positionen

drohen wachsende Intransparenz bei der Entscheidungsfindung und Verwäs- serung der unternehmerischen Verantwortung. Zu den Zielkonflikten zwi- schen Management und Kapitalgebern kommt die Gefahr hinzu, dass die am Entscheidungsprozess Beteiligten keine Verantwortung sowie keine Haftung für Fehlentscheidungen übernehmen und sich die Verantwortung aufgrund intransparenter Entscheidungsstrukturen nicht eindeutig zuweisen lässt. Aus Sicht vieler Unternehmen dürften diese Gefahren einen möglichen Zinsvorteil überkompensieren, sodass eine fondsbasierte Kapitalbeteiligung daher keine relevante Option wäre.

Weitere Fragen und Probleme stellen sich bei der praktischen Ausgestaltung von Mitarbeiterkapitalbeteiligungen. Wann kann das erworbene Kapital wie- der veräußert werden? Was passiert beim Ausscheiden eines Mitarbeiters aus dem Unternehmen mit seinen Anteilen? Sind die Anteile übertragbar? Und: Werden die Anteile gegen Insolvenz geschützt? Diese offenen Punkte dämp- fen die Bereitschaft, Kapitalbeteiligungen einzuführen. Unstrittig ist auch, dass Investivlöhne eine partnerschaftliche Unternehmenskultur vorausset- zen. Damit sind sie aber keinesfalls ein Instrument für Schönwetterperioden. Gerade Unternehmenskrisen können dazu führen, dass Unternehmenslei- tung und Belegschaft enger zusammenrücken und eine partnerschaftliche Kultur anstoßen.

Die Belegschaftsaktie verdient eine neue Chance

Ulrich Hocker Hauptgeschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz e. V. (DSW)

Die Bekanntgabe der Aktionärszahlen in Deutschland durch das Deutsche Aktieninstitut gleicht Jahr für Jahr einer Hiobsbotschaft. Die Akzeptanz der Ak- tie als Unternehmensanteil lässt bei den Bundesbürgern stark zu wünschen übrig, die Quote hat sich seit dem Jahr 2000 nahezu halbiert. Und das, obwohl inzwischen täglich in allen Fernsehprogrammen und Zeitungen über den Deutschen Aktienindex (DAX) und dessen Mitglieder, vielfach sogar über klei- nere Werte berichtet wird, obwohl der deutsche Leitindex der Finanzkrise trotzt und sich seit dem Frühjahr in einem steilen Aufwärtstrend befindet, und obwohl die hiesige Aktienkultur inzwischen auch schon einige Jahre besteht. Ein Impuls war ohne Zweifel die Privatisierung der Staatsbetriebe Telekom, Lufthansa und Post Mitte bis Ende der 1990er Jahre.

Die Zahl der Aktionäre ist erschreckend niedrig und bleibt deutlich hinter den Werten in anderen großen Industrienationen zurück. So hat in den USA jeder vierte Einwohner Aktien, in den Niederlanden sogar annähernd jeder dritte. Bei uns hingegen ist es nur jeder Zwanzigste. Anders gesagt: Nur fünf Prozent der Bundesbürger investieren am Aktienmarkt.

Am finanziellen Spielraum mangelt es den Menschen sicher nicht. Die Spar- quote liegt absolut und relativ zum frei verfügbaren Einkommen der Anleger über dem Durchschnitt in vergleichbaren Industrienationen. Ebenso gehört die Bundesrepublik zu den reichsten Ländern der Erde. Umso besorgniserre- gender sind die niedrigen Akzeptanzquoten der Aktie. Besonders erschre- ckend ist dies im historischen Vergleich: Seit 1989 ist die Zahl der Aktionäre

6 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Mitarbeiterbeteiligung

nicht gestiegen, obwohl zeitgleich durch die Deutsche Einheit die Zahl der Einwohner um 25 Prozent angewachsen ist.

Unverdientes Schattendasein der Belegschaftsaktie

Bei der Frage nach den Gründen dafür gibt es mehrere Antworten. Ein Grund liegt sicher in der mangelhaft geförderten ökonomischen Bildung der Bundes- bürger. Die meisten Deutschen kommen zum ersten Mal mit dem Thema Geld, Geldanlage und Kapitalmarkt in Kontakt, wenn sie ihre ersten selbstverdienten Ersparnisse anlegen müssen. Für sie ist es sehr schwierig, auf Anhieb die Zu- sammenhänge am hochkomplexen Kapitalmarkt zu verstehen. Die Folge davon ist eine überdurchschnittlich ausgeprägte Skepsis vieler Anleger gegenüber Unternehmen und der Aktie als Unternehmensanteil. Diese negative Grund- einstellung wird dadurch verstärkt, dass innerhalb der vergangenen zehn Jahre gleich zwei verlustträchtige Perioden am Aktienmarkt zu verkraften waren: Die jüngste Finanzkrise und der Crash nach dem Platzen des Neuen Marktes Ende 2000.

Ein weiterer Hauptgrund ist die kaum vorhandene Durchsetzung des Marktes mit Programmen zur Mitarbeiterkapitalbeteiligung. Wenn überhaupt, dann haben nur die Mitarbeiter großer Konzerne die Chance, Aktien des eigenen Unternehmens zu speziellen Konditionen zu erwerben. Bei kleinen und mittelständischen Unternehmen sucht man die Belegschaftsaktien-Program- me zumeist vergeblich. Nur jedes fünfte Unternehmen mit mehr als 200 Mit- arbeitern hat entsprechende Programme im Angebot. Die Konsequenz ist: Die Aktionärsbilanz wird in diesem Bereich besonders stark belastet. Inzwi- schen zählt das Deutsche Aktieninstitut nur noch knapp eine Million Beleg- schaftsaktionäre.

Dieses Schattendasein hat die Belegschaftsaktie nicht verdient, erfüllt sie doch gleich zwei wichtige Funktionen für das Gelingen im ökonomischen Gesamt- kreislauf: Wenn die Belegschaftsaktie ein entsprechend großes Verbreitungsni- veau erreicht, kann sie zu einer Säule der privaten Altersvorsorge werden, die von der Politik seit Jahren als notwendige Ergänzung zur staatlichen Rente pro- pagiert wird. Andererseits verstärken Mitarbeiterbeteiligungsprogramme das Zugehörigkeitsgefühl zum eigenen Unternehmen und fördern bei den Ar- beitnehmern das unternehmerische Denken.

Beides sind sehr positive Effekte, die derzeit nicht ausreichend genutzt werden. Die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) setzt sich daher dafür ein, die Belegschaftsaktie zu fördern und endlich salonfähig zu machen – analog zu vielen anderen Ländern, in denen dies bereits üblich ist. Diese För- derung könnte beispielsweise über finanzielle Anreize gesteuert werden. Die Novelle, die der Gesetzgeber im Jahr 2009 durch die Erhöhung des geförder- ten Betrags von 135 auf 360 Euro angestoßen hat, ist dafür nicht ausreichend. In anderen Industrienationen, wie etwa Großbritannien, den Niederlanden oder Österreich, ist der finanzielle Anreiz deutlich höher. So können in Groß- britannien bis zu 3 000 Pfund gefördert werden, in Österreich sind es immer- hin 1 460 Euro. Auch Deutschland braucht höhere Förderbeträge, möglichst in Verbindung mit einem nachvollziehbaren Gesamtkonzept der Besteuerung von Wertpapieren. Die bestehende Abgeltungssteuer ist diesbezüglich verbes- serungsbedürftig.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 7 Ordnungspolitische Positionen

Belegschaftsaktie in Sanierungsfällen sind kritisch

Allerdings darf man bei aller Wertschätzung der Belegschaftsaktie eines nicht verschweigen: Für die Mitarbeiter, die entsprechende Programme in großem Stil nutzen, entsteht dadurch ein zweites Risiko, über das sie sich im Klaren sein müssen. Solange die Unternehmensgewinne steigen und sich der Börsenkurs entsprechend aufwärts bewegt, steigen auch der Wert der Mitarbeiteraktien und die Höhe der Dividende, also der jährlichen Gewinnbeteiligung. Umge- kehrt wird es jedoch problematisch: Der am Unternehmen beteiligte Mitar- beiter hat zunächst das Risiko, seinen Arbeitsplatz etwa im Fall einer Insolvenz zu verlieren. Als Aktionär und Miteigentümer des Unternehmens trägt er da - rüber hinaus das Kapitalrisiko, dass sein Anteilspaket deutlich an Wert einbü- ßen könnte.

In diesem Zusammenhang ist die von Gewerkschaften geäußerte Idee, dass Mitarbeiter bei sanierungsbedürftigen Unternehmen auf Lohn verzichten und stattdessen mit Aktien bezahlt werden, eher kritisch zu sehen. Zumal die Grundidee, dass eine Kapitalbeteiligung der Mitarbeiter auch zu einer größe- ren Identifikation mit dem Unternehmen führt, nur dann zum gewünschten Effekt führt, wenn der Mitarbeiter als privater Eigentümer handeln kann und nicht die Gewerkschaft als Mittler zwischengeschaltet ist oder sogar als Treu- händer die Aktien der Mitarbeiter hält.

Dies hätte zusätzlich einen kaum wünschenwerten Nebeneffekt. Wenn die Ar- beitnehmerorganisationen große Aktienpakete eines Unternehmens halten, besteht die Gefahr der Über-Mitbestimmung. Die Gewerkschaften würden im mitbestimmten Aufsichtsrat dann nicht nur auf der Arbeitnehmerseite sitzen, sondern durch ihr Aktienpaket auch auf der Kapitalseite. Dies könnte im Ex- tremfall sogar zu Mehrheiten führen, die aus Sicht der freien Aktionäre uner- wünscht sein können.

Dennoch bleibt die Belegschaftsaktie ein förderungswürdiges Instrument zum privaten Vermögensaufbau sowie zur Stärkung des unternehmerischen Den- kens und der Aktienkultur in Deutschland. In der Praxis zählen das einzelne Unternehmen und die Ausgestaltung des Beteiligungsprogramms.

Kapitalanteile für Lohnverzicht?

Dr. Wolfgang Mansfeld Präsident des Bundesverbandes Investment und Asset Management e. V. (BVI) in Frankfurt am Main und Vorstandsmitglied der Union Asset Management Holding

Die Beteiligung von Arbeitnehmern am Unternehmenskapital gilt über Par- teigrenzen hinweg als wünschenswert. Eine Vielzahl politischer Initiativen, zu- letzt im April dieses Jahres durch das Mitarbeiterkapitalbeteiligungsgesetz, wur- den diesem Ziel gewidmet. Sie haben es indes nicht vermocht, dieser Idee zu einem Durchbruch zu verhelfen.

Eine bemerkenswerte neue Variante ist zuletzt von Gewerkschaften und SPD ins Gespräch gebracht worden: die Verknüpfung von Lohnverzicht mit Vermö- gensbeteiligung. Der Hintergrund: Aufgrund der Wirtschaftskrise wird Arbeit- nehmern in vielen Fällen Lohnverzicht nahegelegt, um das Unternehmen zu retten und Arbeitsplätze zu sichern. Warum also den Lohnverzicht nicht

8 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Mitarbeiterbeteiligung

„gegenfinanzieren“ mit der Hergabe von Unternehmensanteilen durch den Arbeitgeber – und damit die Krise nutzen, um der Arbeitnehmerbeteiligung ei- nen Schub nach vorn zu geben?

Ziele und Zielkonflikte bei der Mitarbeiterbeteiligung

Darüber, dass Mitarbeiterbeteiligung wünschenswert ist, gibt es breite politisch- gesellschaftliche Übereinstimmung. Hinter diesem vordergründigen Konsens stehen aber sehr unterschiedliche Motivationen und Begründungen. Sie gilt es immer wieder herauszuarbeiten und klar auszusprechen. Ansonsten enden Vorschläge, Diskussionen und konkrete politische Maßnahmen leicht in Miss- verständnissen und Enttäuschungen. Mindestens drei Motive spielen in der Praxis eine Rolle:

Mitarbeiterbeteiligung führt zu persönlicher, finanzieller Vermögensbil- dung der Arbeitnehmer. Das ist aus Gründen der Altersvorsorge wünschens- wert und kann als Kompensation dafür angesehen werden, dass seit geraumer Zeit die Arbeitnehmereinkommen langsamer wachsen als die Unternehmens- und Vermögenseinkommen.

Mitarbeiterbeteiligung erhöht die Identifikation mit dem Unternehmen, in- dem sie die Arbeitnehmer einerseits vom Unternehmenserfolg abhängig macht und ihnen andererseits Mitspracherechte gewährt.

Mitarbeiterbeteiligung – zumindest wenn sie zu zusätzlicher Kapitalbildung führt und das Kapitalangebot vergrößert – kann die Finanzierungsquellen von Unternehmen erweitern.

Welches dieser Ziele im Vordergrund steht, beeinflusst die erforderliche Aus- gestaltung einer Vermögensbeteiligung. Dabei ist rasch feststellbar, dass nicht alle der genannten Ziele gleichzeitig erreichbar sind. Im Gegenteil, es beste- hen teilweise beachtliche Zielkonflikte: Erstens ist die Beteiligung am eigenen Unternehmen nicht unbedingt der ideale Weg zum Vermögensaufbau hin- sichtlich Liquidität, Sicherheit und Ertrag. Zweitens entsteht ein positiver Fi- nanzierungseffekt nur, wenn die Beteiligung durch Konsumverzicht – also durch Verzicht auf laufendes Einkommen der Arbeitnehmer – finanziert wird. Das widerspricht jedoch dem Ziel, Vermögensbeteiligung als Mittel der Vertei- lungspolitik zu nutzen.

Die Grundidee der Mitarbeiterbeteiligung legt eine Beteiligung auf betrieb- licher Ebene nahe: durch Belegschaftsaktien oder bei Unternehmen, die nicht als Aktiengesellschaft firmieren, durch GmbH-Anteile oder stille Betei- ligungen. Hinzu kommt allerdings – jedenfalls im Fall einer staatlichen För- derung der Mitarbeiterbeteiligung – das Erfordernis, dass eine überbetriebli- che Variante als alternative Option bestehen muss. Andernfalls würden Ar- beitnehmer nicht in den Genuss der Förderung kommen, wenn der eigene Arbeitgeber entweder keine Unternehmensbeteiligungen anbieten kann, zum Beispiel im öffentlichen Dienst, oder will: Viele Arbeitgeber wollen keine Beteiligung Dritter oder scheuen den administrativen Aufwand, der gerade für mittelständische Unternehmen beträchtlich sein kann. Weiterhin dient die überbetriebliche Variante dazu, den Arbeitnehmer nicht zu zwingen, ein „Klumpenrisiko“ – die Kumulierung von Arbeitsplatz- und Anlagerisiko – so- wie eine stark eingeschränkte Veräußerbarkeit und Übertragbarkeit der An- teile in Kauf zu nehmen.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 9 Ordnungspolitische Positionen

Umgekehrt kann die überbetriebliche Variante das Mitsprache- und Identifi- kationsziel nicht und das Finanzierungsziel kaum unterstützen. Wenn man die- se Ziele aber als vorrangig ansieht – und das dürfte mehrheitlich so sein –, darf die überbetriebliche Variante nur die Ausnahme von der Regel sein. Wenn da- gegen – wie im Fall der Förderung von Vermögensbeteiligungen nach dem Einkommensteuergesetz bzw. Vermögensbildungsgesetz – die überbetriebliche Variante die Regel ist und die betriebliche Beteiligung die Ausnahme, ist frag- lich, ob die Förderung und der gesamte Ansatz möglicherweise die vorrangi- gen Bedürfnisse der Arbeitnehmer verfehlen.

Staatliche Förderung mit begrenzter Wirkung

Dass die Mitarbeiterbeteiligung ein öffentliches Anliegen ist und staatlicher Förderung bedarf, gilt seit Jahrzehnten und über verschiedene Bundesregie- rungen hinweg als unumstritten. Dennoch darf die Frage gestellt werden, wa- rum eine erweiterte Mitarbeiterkapitalbeteiligung nicht durch marktwirt- schaftliche Kräfte hervorgebracht wird. Immerhin dienen Vermögensaufbau, Mitsprache und Erweiterung der Finanzierung sowohl Arbeitnehmern als auch Unternehmen.

Es gibt aber auch Argumente dafür, dass Marktkräfte hier unerwünschte Er- gebnisse liefern. Das kann zum Beispiel mit fehlender Aktien- und Kapital- marktkultur oder mit Vorbehalten gegenüber neuen Wegen zu tun haben. Im Ergebnis hat sich ein politisch-gesellschaftlicher Konsens herausgebildet, dass die Verbreitung der Mitarbeiterbeteiligung unterhalb des wünschenswerten Ni- veaus liegt und ohne staatlichen Anschub nicht ansteigen wird.

Entsprechend vielfältig sind die bisherigen politischen Initiativen gewesen: zum Beispiel das Vermögensbildungsgesetz, die Förderung von Vermögensbe- teiligung nach § 19a Einkommensteuergesetz und das Mitarbeiterbeteili- gungsgesetz, das die Große Koalition 2009 auf den Weg gebracht hat. Trotz all dieser Maßnahmen ist insgesamt eine Stagnation der Arbeitnehmerbeteiligung auf mäßigem Niveau feststellbar, sodass Handlungsdruck besteht, wenn am Ziel festgehalten wird.

Schwächen bei der staatlichen Förderung

Kapitalbeteiligungen sind nicht weit verbreitet: Rund zwei Millionen Arbeit- nehmer halten eine Kapitalbeteiligung am eigenen Unternehmen. Speziell im Mittelstand werden Kapitalbeteiligungen kaum genutzt; weniger als fünf Pro- zent der Unternehmen mit bis zu 500 Beschäftigten bieten entsprechende Mo- delle an. Und der Trend ist negativ: Die Zahl der Belegschaftsaktionäre, die vom Deutschen Aktieninstitut halbjährlich ermittelt wird, ist in den letzten Jah- ren von 1,66 Millionen im Jahr 1998 auf nur noch eine Million Mitte 2008 ge- sunken.

Die Mitarbeiterbeteiligung ist scheinbar weder Unternehmen noch Arbeit- nehmern eine Herzensangelegenheit. Vor allem mittelständische Unterneh- men scheuen fremden Einfluss und die hohen formalen Lasten, gerade wenn nicht die Rechtsform der Aktiengesellschaft besteht. Gewerkschaften sind be- sorgt, dass ihre Klientel in das Lager des Kapitals abwandert. Und die Arbeit- nehmer sehen die betriebliche Beteiligung als eine wenig attraktive Kapitalan- lage, die – wenn überhaupt – nur bei spürbarer staatlicher Förderung und in überbetrieblicher Form, insbesondere als Anlage in Aktienfonds, eingegangen

10 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Mitarbeiterbeteiligung

wird. Die staatliche Förderung hat bisher nicht vermocht, diese Vorbehalte nachhaltig zu überwinden, da sie zwei Schwächen hat:

Erstens führt die Förderung auf vielen Schienen zu einem kleinteiligen För- derlabyrinth. Besser wäre eine einheitliche steuerliche Förderung für be- stimmte Kapitalbeteiligungen durch Freistellung von Einkommensbestandtei- len, die zum Erwerb von Unternehmensanteilen dienen. Gleichzeitig müsste eine deutliche Erweiterung des Rahmens erfolgen: Um wirkliche Anreize zu bieten, müssten mehrere Tausend Euro begünstigt investiert werden können, wie Erfahrungen aus dem Ausland belegen.

Zweitens ist an die spätere Entnahme- oder Nutzungsphase zu denken. Die Abgeltungssteuer, die auf laufende Erträge und bei späterer Veräußerung von Kapitalbeteiligungen fällig würde, macht manch gut gemeinte Förderung zu- nichte. Richtig wäre eine nachgelagerte Besteuerung, die eine Anbindung an die geförderte Altersvorsorge erleichtern würde.

Kapitalbeteiligung für Lohnverzicht – Ein gangbarer Weg?

Die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise haben die Idee der Mitarbeiterbe- teiligung neu belebt. Wenn Unternehmen in Notlagen geraten, entsteht Druck auf die Arbeitnehmer, das Überleben des Unternehmens zu unterstützen und Arbeitsplätze durch Gehaltsverzicht zu retten. Warum sollte ihnen nicht im Gegenzug eine Kapitalbeteiligung eingeräumt werden? Ein faires Tauschge- schäft statt einseitigen Verzichts, wird von Gewerkschaftsseite argumentiert – nicht ganz unbegründet, auch wenn die eigentliche Gegenleistung für den Einkommensverzicht wohl primär der Erhalt der Arbeitsplätze ist. Hat der Lohnverzicht Erfolg und erholt sich das Unternehmen, würden die Arbeit- nehmer doppelt profitieren: durch die Sicherung der Arbeitsplätze und durch Beteiligung an der Steigerung des Unternehmenswerts.

Die neue Regierungskoalition hat die Absicht erkennen lassen, hierfür inso- weit den Weg zu bereiten, als der Erwerb von Kapitalanteilen des eigenen Unternehmens durch Entgeltumwandlung in das Mitarbeiterkapitalbeteili- gungsgesetz einbezogen werden könnte. Das hieße allerdings auch, dass die Förderung nicht auf – wie immer zu definierende – Krisen- oder Sanierungssi- tuationen beschränkt würde. Eine Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer wür- de erreicht und eine ordnungspolitisch problematische Unterstützung insol- venzbedrohter Unternehmen insofern vermieden.

Die Kapitalbeteiligung für Lohnverzicht könnte also in die bestehende Syste- matik der Förderung einbezogen werden, wobei es situationsbedingt andere Akzente gäbe. Von der Zielsetzung her wird die bisherige Pyramide gleichsam auf den Kopf gestellt: Die Finanzierungsfunktion rückt an die erste Stelle, der Mitspracheeffekt folgt, während der Vermögensaufbau eher als „Hoffnungs- wert“ gelten muss. Der Aufrechnung von Sanierungsbeitrag und Beteiligung entspricht eine durch Gehaltsverzicht finanzierte Mitarbeiterbeteiligung; be- merkenswert ist dabei eine vermögenspolitische Kehrtwende – gilt doch bisher als unverzichtbare Anforderung, dass Kapitalbeteiligungen nicht durch Um- wandlung von Ansprüchen entstehen, sondern zusätzlich zum ohnehin ge- schuldeten Arbeitslohn gewährt werden. Eine staatliche Förderung, wie sie kurz vor der letzten Bundestagswahl von den Ministern Peer Steinbrück und Olaf Scholz vorgeschlagen wurde – steuerliche Freistellung bei der Umwandlung von Lohn in Kapitalbeteiligungen bis zu 12 000 Euro im Jahr – wäre in ihrer Grö- ßenordnung ungewöhnlich, aber systematisch nicht neu.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 11 Ordnungspolitische Positionen

Der Charme der Lösung läge nicht nur in der Chance, Unternehmensinsol- venzen zu vermeiden und Arbeitsplätze zu sichern ohne direkte staatliche Unterstützung. Auch die Widerstände gegen eine Vermögensbeteiligung, die bisher sowohl bei kleinen und mittleren Unternehmen, aber auch bei Ge- werkschaften bestehen, würden in Sanierungssituationen eher aufgegeben. Vermögenspolitische Erfolge könnten sich auf die Weise rascher einstellen, als es bisher möglich schien.

Vorprogrammierte Interessenkonflikte

Allerdings gibt es erhebliche Nachteile: Mit Vorsicht zu würdigen ist die von Vertretern der Gewerkschaften erklärte Zielsetzung, die so entstehenden Stimmrechte von Arbeitnehmern zu bündeln, damit sie als „aktiver Investor“ die Unternehmenspolitik mitgestalten können. Als Hauptziel dabei wird ange- geben, dass auf die Weise sichergestellt werden soll, dass die Arbeitsplatzsiche- rung auch nach erfolgter Sanierung Teil der Unternehmenspolitik bleibt.

Nun wird man Arbeitnehmern, die Kapitaleigner geworden sind, nicht ver- wehren können, ihre Stimmrechte zu bündeln, solange die einschlägigen rechtlichen Rahmenbedingungen beachtet werden. Das Unternehmen erhält dann Kapitaleigner, die mehr Einfluss nehmen können, als wenn jeder Arbeit- nehmer seine Stimmrechte als Aktionär einzeln ausübt. Die Frage ist jedoch, welche Interessen, die nicht auf ein Wachstum des Unternehmenswertes ge- richtet sind, damit in die Unternehmenspolitik einfließen.

Von Gewerkschaftsvertretern wird in der aktuellen Diskussion darauf verwie- sen, dass Mitarbeiter – anders als andere Privatinvestoren – langfristige Ziele der Unternehmenssicherung verfolgen würden. Das mag so sein. Die Interes- sen von Unternehmer- und Arbeitnehmer-Kapitaleignern stimmen in vielen Phasen der Unternehmensentwicklung – zumal in akuten Krisen – sicher über- ein. Richtig ist aber auch, dass es in Unternehmen Situationen gibt, in denen der Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit Schritte erfordert, die nicht den Erhalt al- ler bestehenden Arbeitsplätze erlauben oder die Verlagerung von Betriebstei- len notwendig machen. Dann wird sich erweisen, dass es den Arbeitnehmer- Aktionären nicht um Arbeitsplätze generell geht, sondern um die konkret be- stehenden Arbeitsplätze – jedenfalls solange die Kapitalbeteiligung nicht so groß ist, dass sie das Interesse am Erhalt des Arbeitsplatzes überlagern könnte.

Eine Frage der gesellschaftspolitischen Bewertung

Die Möglichkeit, die Kosten- und Finanzierungssituation durch die Hergabe von Kapitalanteilen im Wege der Gehaltsumwandlung zu verbessern, würde ge- rade mittelständische Unternehmen vor schwierige Abwägungen stellen. Frag- würdig wird es, wenn die Gewerkschaften einen Schritt weitergehen und die Beteiligungen in gewerkschaftlichen Beteiligungsfonds bündeln wollen. Damit wird eine alte Idee aufgegriffen: Bereits in früheren Jahrzehnten gab es immer wieder Überlegungen, die auf paritätisch verwaltete Branchenfonds und In- vestitionslenkung zielten. Der Gesetzgeber sollte entsprechende Öffnungen des Tarifvertragsrechts mit äußerster Skepsis betrachten. Besonders kritisch ist dies in Verbindung mit der ohnehin bestehenden Mitbestimmung einzuschät- zen. Die Kombination beider Elemente kann am Ende zu einer Überparität der Arbeitnehmervertretungen führen.

12 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Mitarbeiterbeteiligung

Ob die Mitarbeiterkapitalbeteiligung als ein Thema öffentlicher Förderung gelten kann, ist zunächst einmal eine Frage der gesellschafts- und ordnungs- politischen Bewertung. Die Möglichkeit, dass Arbeitnehmer für Lohnverzicht in Krisenzeiten Kompensation durch Kapitalbeteiligungen erhalten, könnte in die bestehende Fördersystematik integriert werden, indem Kapitalbeteiligung gegen Gehaltsumwandlung in die bestehenden Regeln integriert wird. Die gleichmäßige Behandlung aller Arbeitnehmer und aller Unternehmen bliebe dadurch gewahrt wie auch das Prinzip der Freiwilligkeit. Die bisherigen For- men der betrieblichen und überbetrieblichen Anlagen müssen aber nicht er- weitert werden, insbesondere bedarf es nicht der Einrichtung organisierter fondsähnlicher Strukturen zur Bündelung von Arbeitnehmerinteressen. Ar- beitnehmer, die betriebliche Beteiligungen erworben haben, haben sehr wohl die Möglichkeit, ihre hieraus erwachsenden Vertretungsrechte innerhalb der rechtlichen Rahmenbedingungen zu bündeln.

Mitarbeiterbeteiligung – Wer bezahlt, muss das Stimmrecht haben

Prof. Dr. Volker Rieble Zentrum für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht (ZAAR), München

Die Mitarbeiterbeteiligung am Unternehmen ist eine alte und im Grund- satz gute Idee: Mitarbeiter werden über den Investivlohn zu Miteigentümern, vereinen also Arbeit und Kapital, was den Grundinteressenkonflikt mildert. Be- triebe in teilweisem Belegschaftsbesitz hat es immer wieder gegeben, man den- ke nur an die Mitarbeiter-Kommanditgesellschaft des Spiegel-Verlags.

Mitarbeiterbeteiligung heißt auch Mitbestimmung: Während die traditionelle Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen auf eine reine Partizipation an der Entscheidung zielt, setzt die Kapitalbeteiligung auf eine materielle Partizi- pation an den Eigentumsrechten des Unternehmens – mit entsprechendem Substanzwert und Ertragsrechten sowie mit Entscheidungsrechten, die auf ei- ner eigentumsbezogenen Legitimation fußen.

Meinungswandel bei den Gewerkschaften

Früher standen die Gewerkschaften der Mitarbeiterbeteiligung skeptisch gegenüber, weil der Arbeitnehmer in der Unternehmenskrise nicht nur seinen Arbeitsplatz, sondern auch sein Kapital verliert. Das hat sich geändert: Gerade die IG Metall hat erkannt, dass nur die Substanzbeteiligung am Unternehmen echte „gleichberechtigte“ Teilhabe ermöglicht, weil sie eine umfassende Rechtsstellung begründet. Gesetzliche Mitbestimmungsrechte sind funktional begrenzt und müssen die Unternehmerfreiheit respektieren. Das zeigt sich be- sonders daran, dass die Unternehmensmitbestimmung auf das Aufsichtsorgan beschränkt ist und keinerlei Kompetenzen in der Hauptversammlung schafft. Dort werden die Grundsatzentscheidungen des Unternehmens von den Ei- gentümern getroffen. Wer hier teilnehmen will, muss Miteigentümer und Mit- unternehmer sein.

Die Rechtsordnung sieht die Mitarbeiterbeteiligung nur als Sonderfall der Ver- mögensbildung für Arbeitnehmer und regelt mit dem Mitarbeiterkapitalbetei-

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 13 Ordnungspolitische Positionen

ligungsgesetz, das seit 1. April 2009 in Kraft ist, die Voraussetzungen der steu- erlichen Förderung, vor allem durch § 3 Nr. 39 Einkommensteuergesetz. Bis- her wird diese Möglichkeit kaum genutzt, weil die Unternehmen das Modell nur wenig attraktiv finden.

In der Wirtschaftskrise ist die IG Metall erfinderisch: Lohnverzicht als Sanie- rungsbeitrag der Arbeitnehmer soll vergolten werden mit einer institutionel- len Beteiligung der Belegschaft am Unternehmen. Bislang konzentriert sich die Diskussion auf die Automobilindustrie, wo es allerdings nicht nach einem Erfolgsmodell aussieht: Bei Opel ist der Plan der Verselbständigung von Gene- ral Motors vorerst gescheitert; bei Daimler scheint aus der Umwandlung rück- ständiger Entgeltforderungen in Miteigentum nichts zu werden, weil hierzu je- der Beschäftigte seine Zustimmung geben muss; bei Volkswagen könnte in der Tat eine institutionelle Beteiligung der Belegschaft gelingen – fragt sich nur, wer das bezahlt. Volkswagen und IG Metall könnten sich damit gegen den zu erwartenden Fall des VW-Gesetzes wappnen: durch einen Belegschafts-Anker- aktionär, dessen Rechtsstellung nicht von der Laune des Gesetzgebers oder des Europäischen Gerichtshofs abhängt. So ließe sich der Machtfilz bei Volkswagen um eine zusätzliche Komponente steigern.

Individuelles oder kollektives Mitarbeitereigentum?

Für die ordnungspolitische und rechtliche Bewertung ist die Zuordnung der Eignerrechte entscheidend. Das Mitarbeiterkapitalbeteiligungsgesetz und die traditionellen Ansätze der Mitarbeiterbeteiligung zielen auf die individuelle Eignerstellung: Der Arbeitnehmer erhält Aktien, über die er grundsätzlich frei verfügen kann, als Eigentümer ist er verwertungsberechtigt. Auch das aus der Mitgliedschaft in der Gesellschaft resultierende Stimmrecht kann er indivi- duell ausüben.

Diesem „liberal-kapitalistischen“ Individualeigentum setzt die IG Metall ein kollektives Belegschaftseigentum entgegen. Nicht der Einzelne soll berechtigt sein, vielmehr geht es um einen kollektiven Rechtsträger, der für die nicht rechtsfähige „Belegschaft“ die Anteile hält: einen Verein oder eine Stiftung. Das bedeutet zunächst, dass der einzelne Arbeitnehmer keine Verfügungs- rechte hat. Er kann keine Aktien veräußern, und die Dividende steht nicht ihm, sondern dem Kollektiv-Rechtsträger zu, und kann für gemeinwohlorien- tierte Projekte eingesetzt werden.

Die zentrale Frage betrifft die Ausübung der Stimmrechte: Sie erfolgt einheit- lich und zentral über die zur Willensbildung vorgesehenen Organe des Rechts- trägers, also durch den Vorstand des Vereins oder der Stiftung. Ein Beleg- schaftsverein ist ein besonderes korporatives System, der Betriebsverfassung vergleichbar. Die konkrete individuelle Mitgliedschaft bringt dem Arbeitneh- mer ein Recht, die Vereinsorgane zu wählen; das lässt sich als Demokratisie- rung der Wirtschaft begreifen. Demgegenüber hat eine Stiftung als mitglie- derloser Kollektivrechtsträger den Vorteil, von Individualwünschen der Arbeit- nehmer unbelastet agieren zu können. Eine Wahl findet nicht statt; Stiftungs- organe werden im Weg der Selbstergänzung besetzt. So lässt sich eine beson- dere Form kollektiver Herrschaft sicherstellen.

Von Mitarbeiterbeteiligung kann man im Fall der Stiftung nicht mehr spre- chen. Vielmehr geht es um eine Sonderform „kollektiver Selbstverwaltung“ von Gemeinschaftseigentum, welches allen gehört – also niemandem. Das Ad- jektiv „demokratisch“ vernebelt, worum es geht: um ein kontrollfreies kollekti-

14 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Mitarbeiterbeteiligung

ves Herrschaftsinstrument. Ordnungspolitisch ist das verfehlt, weil es Eigen- tum ohne einen verantwortlichen Eigentümer nicht geben kann. Deswegen ir- ritiert der Spruch des Vorsitzenden der IG Metall Berthold Huber, Arbeitnehmer seien „die besseren Aktionäre“. Sich als die besseren Aktionäre zu erweisen, da- zu erhalten sie gar keine Gelegenheit, weil die Aktionärsstellung einem anony- men funktionärsgesteuerten Kollektiv zugeordnet wird.

Und dass gewerkschaftlich beherrschte Beteiligungsstiftungen sich als die bes- seren Ankeraktionäre erweisen, darf mit Blick auf die gescheiterte Gemein- wirtschaft bezweifelt werden: Nicht nur Neue Heimat, Coop, Volksfürsorge und die Bank für Gemeinwirtschaft sind solchen verantwortungsfreien Selbstver- waltungsstrukturen zum Opfer gefallen. Zuletzt gab in Österreich im Jahr 2006 die Bank für Arbeit und Wirtschaft (BAWAG) ein abschreckendes Beispiel der strukturellen gewerkschaftlichen Unfähigkeit, unternehmerische Verantwor- tung zu tragen.

Enteignung der Arbeitnehmer

Die Frage, wer Eigentumsrechte im System einer Mitarbeiterbeteiligung aus- übt, steht in unmittelbarer Wechselwirkung zur Frage, wer das bezahlen soll. Eine mittelbare Staatsfinanzierung über die steuerliche Förderung hinaus kommt nicht in Betracht. Es ist nicht die Aufgabe des Staates, die Anteilseig- nerschaft an Unternehmen zu reorganisieren.

In Krisen- und Sanierungsszenarien zahlen die Arbeitnehmer selbst den Preis für die Mitarbeiterbeteiligung durch Entgeltverzicht: Rückständige Sonder- zahlungen können in eine Kapitalbeteiligung gewandelt werden, nach dem Vorbild der betriebsrentenrechtlichen Entgeltumwandlung. Dass Arbeitneh- mer in Krisenzeiten solche Entgeltopfer als Sanierungsbeitrag typischerweise auch ohne Gegenleistung erbringen, schließt ein Entgegenkommen des Unternehmens nicht aus. Hier ist alles Verhandlungssache. Immerhin macht es stutzig, dass Insolvenzverwalter solche Modelle scheuen und auf den klassi- schen Handel setzen: Sanierungsopfer gegen – vorläufigen – Arbeitsplatzer- halt, wie zum Beispiel bei Arcandor.

Wenn aber der einzelne Arbeitnehmer aus seinen erarbeiteten Entgeltansprü- chen ein Kapitalbeteiligungsmodell finanziert, ist schwer vermittelbar, dass nicht er selbst, sondern ein Kollektiv Träger der Anteilsrechte werden soll. Das ist letztlich eine Enteignung der Arbeitnehmer. Sie scheitert schon aus Rechts- gründen, wenn dem Arbeitnehmer ein Individualanspruch erwachsen ist, auf den das Kollektiv – also Betriebsrat oder Gewerkschaft zusammen mit dem Ar- beitgeber oder dessen Verband – keinen Zugriff nehmen kann. Der Arbeit- nehmer müsste dem Zugriff auf sein Geld zustimmen, was er zur Finanzierung einer diffusen Kollektiveinrichtung nicht tun wird.

Das Mitarbeiterkapitalbeteiligungsgesetz setzt auf die vom Arbeitgeber finan- zierte Kapitalbeteiligung. In der Tat kann der Arbeitgeber als freiwillige Ent- geltleistung auch Aktien oder Aktienoptionen vorsehen. Letztlich wird das Ent- geltopfer aber auch dann vom Arbeitnehmer getragen: Die Aktie tritt an die Stelle einer anderweitigen freiwilligen Vergütung. Zwingen kann der Arbeitge- ber den Mitarbeiter zum Anteilserwerb nicht. Jede Mitgliedschaft – auch in ei- ner Aktiengesellschaft – kann wegen der negativen Vereinigungsfreiheit des Ar- tikel 9 Absatz 1 Grundgesetz nur mit Zustimmung des künftigen Mitglieds be- gründet werden. Und dass der Arbeitgeber mittelbaren Druck ausübt, indem er übertarifliches Entgelt nur als „Zwangsaktie“ anbietet, dürfte mit Blick auf

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 15 Ordnungspolitische Positionen

das Barzahlungsgebot (§ 107 Gewerbeordnung) und das Maßregelungsverbot des § 612a Bürgerliches Gesetzbuch zumindest fragwürdig sein. Im Kern gelten ein umfassender Freiwilligkeitsvorbehalt und das Prinzip freier Anlagenwahl. Somit verfestigt sich die Wertung, dass der Arbeitnehmer selbst zahlt.

Damit verträgt sich wiederum keine Kollektivierung. Auch Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen sind kein taugliches Mittel, um den Arbeitnehmer zu enteignen – abgesehen davon, dass sie auch vorhandenen Anteilseignern kei- nen Mitgesellschafter aufzwingen können. Dementsprechend geht die Erwä- gung fehl, dass die durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung geregelten kollektiven Arbeitnehmeropfer ohne Weiteres in eine Beteiligung gelenkt wer- den können. Eine Umleitung der den Arbeitnehmern zustehenden Vermö- genswerte in eine Stiftung oder einen Belegschaftsverein ist tarifrechtlich schon gar nicht möglich. Eine solche Stiftung steht außerhalb des Tarifrechts, das nur gemeinsame Einrichtungen beider Tarifparteien zulässt.

Wechselwirkungen zur Mitbestimmung

Miteignerschaft ist eine Form der Mitbestimmung und gerät darum ebenfalls in unmittelbare Wechselwirkung mit den Mitbestimmungssystemen. Augen- scheinlich wird das bei der Unternehmensmitbestimmung. Sobald die Arbeit- nehmerseite als Anteilseigner ein Aufsichtsratsmitglied bestimmen kann, kippt die paritätische Mitbestimmung nach dem Mitbestimmungsgesetz: Anstelle des vom Gesetzgeber gewollten strukturellen Anteilseigner-Übergewichts folgt aus der Addition autonomer Eigner-Mitbestimmung und gesetzlicher Mitbestim- mung ein Übergewicht der Arbeitnehmerseite. Dass die IG Metall angeblich derzeit keine zusätzlichen Sitze im Aufsichtsrat anstrebe, heißt nichts: Gesetzli- che Mitbestimmung und autonome Miteignerschaft vertragen sich nicht.

Die Lösung wird schwierig. Die Mitarbeiterbeteiligung auf stimmrechtslose Vorzugsaktien zu beschränken, verfehlt das Ziel der Mitsprache in der Haupt- versammlung. Eine Anrechnungsbestimmung, die jedes autonome Mandat auf die den Arbeitnehmern gesetzlich zustehenden Sitze im Aufsichtsrat anrech- net, setzt voraus, dass jedes von den Eignern bestimmte Aufsichtsratsmitglied eindeutig der Eigner- oder der Arbeitnehmerseite zugeordnet werden kann. Das dürfte in der Praxis schwerfallen. Man stelle sich nur vor, die Gewerkschaft verständige sich mit Aktionärsschützern auf ein gemeinsames „neutrales“ Mit- glied.

Dieser Systeminkompatibilität kann nur durch Modifikation der gesetzlichen Mitbestimmung begegnet werden, etwa durch die im europäischen Recht be- reits bewährte Verhandlungslösung, mit deren Hilfe unternehmensspezifische Regeln zum Zusammenspiel beider Mitwirkungsebenen verhandelt werden können.

Ein weiteres Problem ergibt sich aus dem Machtzuwachs für einzelne Arbeit- nehmervertreter: Die Neigung des Unternehmens, sich auf ein Co-Manage- ment insbesondere starker Betriebsräte einzulassen, könnte steigen. Je stärker aber Arbeitnehmervertreter, die im Aufsichtsrat sitzen, in das operative Ge- schäft eingreifen, desto eher werden sie zu faktischen Geschäftsführern oder Vorständen – und die dürfen nach § 105 Aktiengesetz gerade nicht Mitglied des Aufsichtsrats sein, weil sie sich dann selbst kontrollieren müssten.

Wechselwirkungen zur betrieblichen Mitbestimmung entstehen, wenn als Trä- ger der Kapitalbeteiligung ein Verein oder eine Stiftung gewählt wird. Dieser

16 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Mitarbeiterbeteiligung

Rechtsträger agiert dann gleich dem Betriebsrat als Haupt einer verfassten Unternehmens- oder Konzernbelegschaft. Theoretisch ist sogar denkbar, dass ein solcher Kollektivaktionär die Belange der Mitarbeiter unmittelbar bei der Unternehmensführung geltend macht. Ob damit die Betriebsratsarbeit entge- gen § 119 Absatz 1 Nr. 2 Betriebsverfassungsgesetz behindert wird, ist schwer zu sagen. Einerseits lässt sich mithilfe von Belegschaftsvereinen durchaus eine „Gegenbetriebsverfassung“ aufbauen. Diese Gefahr hat das Bundesarbeitsge- richt allerdings etwa bei einem Redaktionsstatut verneint. Die Entscheidung ist im Kern richtig: Autonome Miteignerschaft in Werkvereinen muss der Be- triebsverfassung vorgehen. Eine direkte Mitbestimmungskonkurrenz tritt al- lenfalls in wirtschaftlichen Angelegenheiten der §§ 106 ff. Betriebsverfassungs- gesetz auf; hier kommt dem Betriebsrat grundsätzlich nur ein beratender Ein- fluss zu.

Gewerkschaften mit Arbeitgeberfunktion

Das zentrale Folgeproblem tritt im System der Arbeitnehmerinteressenvertre- tung auf. Die Anerkennung einer Arbeitnehmervereinigung als Koalition und damit auch als Tarifpartei hängt in Deutschland davon ab, dass sie gegnerfrei und gegnerunabhängig organisiert ist. Die Koalitionsfreiheit will eine bipolare und getrennte Interessenvertretung von der Arbeitnehmerseite und der Ar- beitgeberseite. Wenn aber eine Gewerkschaft über Stiftungen oder Vereine maßgebenden Einfluss auf die Aktiengesellschaft ausüben kann, übt sie selbst Arbeitgeberfunktion aus, überwindet damit die in Artikel 9 Absatz 3 Grundge- setz vorausgesetzte Trennung von Kapital und Arbeit. Das kann gerade im Zu- sammenwirken mit der gesetzlichen Mitbestimmung dazu führen, dass die Ar- beitgeberseite gewerkschaftlichem Einfluss ausgeliefert wird. Vor allem aber kann die Gewerkschaft selbst Arbeitgeberfunktion ausüben und mutiert so selbst zum Gegner. Dass eine Gewerkschaft die eigenen Beschäftigten nicht or- ganisieren kann, liegt auf der Hand.

Sobald also eine Gewerkschaft über von ihr mitverwaltete Eignerrechte – und sei es in Verbindung mit den Machtmitteln der gesetzlichen Unternehmens- mitbestimmung – maßgebenden Einfluss auf ein Unternehmen ausüben kann, verliert diese Gewerkschaft für die Arbeitnehmer dieses Unternehmens den Schutz der Koalitionsfreiheit. Dann steht zu befürchten, dass die Gewerkschaft sich nicht bloß von den ihr anvertrauten Arbeitnehmerinteressen leiten lässt, sondern auch Unternehmensinteressen mitberücksichtigt.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 17 Ordnungspolitische Positionen

Mitentscheiden heißt Mitverantworten: Die Kapitalbeteiligung von Mitarbeitern ist kein Wundermittel

Martin Kannegiesser Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Berlin

Es klingt nach einer verblüffend einfachen und fairen Lösung: Ein Unterneh- men braucht in der Krise Geld – die Mitarbeiter verzichten auf Teile ihres Ent- gelts und erhalten dafür Anteile am Unternehmenskapital. Die alte Debatte über die Kapitalbeteiligung der Mitarbeiter an ihrem Unternehmen ist durch die Vorstöße der IG Metall, insbesondere im Zusammenhang mit dem avisier- ten Verkauf von Opel an die kanadisch-russische Investorengruppe Magna, neu belebt worden. Deshalb geht es nicht nur um die Bewertung der aktuellen Vorschläge, sondern auch um die dahinter stehenden grundsätzlichen Fragen, die mit dem Thema verbunden sind.

Dazu ist es ratsam, einen Schritt zurückzugehen und unabhängig von der mo- mentanen Krisensituation auf die Vor- und Nachteile dieses Modells zu blicken. Keine Frage: Eine Kapitalbeteiligung kann positive Wirkung auf alle Beteilig- ten entfalten. Die Arbeitnehmer identifizieren sich stärker mit ihrem Unter- nehmen und sind motivierter, in den Betrieben entsteht eine Kultur der Trans- parenz und des Miteinanders. Außerdem erhalten die Arbeitnehmer die Chan- ce, am Vermögenszuwachs zu partizipieren und einen Teil ihres Einkommens aus Kapitaleinkünften zu beziehen, sich also neben dem Arbeitsentgelt ein zweites Standbein aufzubauen. Auch betriebswirtschaftlich bietet die Kapital- beteiligung Vorteile: Sie verbessert die Liquidität des Unternehmens und er- höht je nach Ausgestaltung die Eigenkapitalquote. Kapitalbeteiligung kann al- so für alle ein Gewinn sein.

Offensichtlich stehen diesen Vorteilen jedoch Nachteile entgegen. Wenn die Kapitalbeteiligung so uneingeschränkt vorteilhaft wäre, würden fast alle der insgesamt rund 3,5 Millionen Betriebe in Deutschland ein entsprechendes Mo- dell nutzen; schließlich gibt es niemanden, der einen Betrieb daran hindert. Und doch sind es nur knapp 4 300 Unternehmen, die ihre Mitarbeiter über stille Beteiligungen, Belegschaftsaktien, Darlehen, Genussrechte, Genossen- schafts- und GmbH-Anteile beteiligt haben. Das zeigt schon, dass sich das Ins - trument der Kapitalbeteiligung offensichtlich nicht für jedes Unternehmen und jede Rechtsform eignet.

Probleme der Kapitalbeteiligung

Zunächst einmal kommt eine Beteiligung – von Ausnahmen abgesehen – nur für Unternehmen von überschaubarer Größe und mit einer relativ stabilen Be- legschaft infrage. Wird ein Unternehmen zu groß und damit zu anonym, schwindet tendenziell die Identifikation der Arbeitnehmer. Mag auch das Be- triebsklima hervorragend sein und der Arbeitgeber sonst alles richtig machen – die Kapitalbeteiligung dürfte in solchen Fällen dennoch eher den Charakter einer Finanzanlage besitzen, die man bei attraktivem Kurs wieder gewinnbrin- gend veräußert. Verfügt ein Unternehmen nicht über eine ausreichend stabile Belegschaft, ist also die Fluktuation hoch, kann die Kapitalbeteiligung eben-

18 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Mitarbeiterbeteiligung

falls nicht ihren Zweck erfüllen, die Mitarbeiter an die Firma und deren lang- fristiges Wohlergehen zu binden.

Problematisch kann die Kapitalbeteiligung aber auch für kleine und mittlere Familienunternehmen werden. Unabhängigkeit ist hier oft eine entscheiden- de Triebfeder für das Engagement der Eigentümer, und gerade die Unabhän- gigkeit – die nicht immer der bequemere Weg ist – ermöglicht die sehr lang- fristige Perspektive, die für viele Familienunternehmen typisch ist. Wenn nun durch die Beteiligung die Mitsprache der Arbeitnehmer und ihrer Vertreter überdehnt wird, ist diese Unabhängigkeit gefährdet und damit eine wesentli- che Motivation vieler Unternehmer. Hinzu kommen praktische Aspekte der Umsetzung: Aktiengesellschaften können relativ einfach Belegschaftsaktien ausgeben, die Handhabung von GmbH-Anteilen beispielsweise ist deutlich komplizierter.

Und auch vonseiten der Mitarbeiter gibt es legitime Gründe dafür, ein Ange- bot zur Kapitalbeteiligung sorgfältig abzuwägen. Wenn die Beteiligung nicht als Zusatzleistung bezahlt wird, müssen die Mitarbeiter auf Teile ihres Einkom- mens – oder Vermögens – verzichten. Dann ist aber nicht nur der Arbeitsplatz, sondern auch die Kapitalanlage mit dem Wohlergehen des Betriebs verbun- den: Einkommens- und Beschäftigungsrisiko sind so gebündelt.

Aus diesen Argumenten lassen sich zwei wesentliche Erkenntnisse ableiten. Ers- tens: Die Entscheidung, ob und wie eine Beteiligung eingeführt wird, muss je- des Unternehmen für sich treffen. Dies ist eine zutiefst individuelle Entschei- dung der Eigentümer und der Belegschaften. Wie die genannten Zahlen zei- gen, fällt sie nur zu einem sehr geringen Prozentsatz zugunsten einer Beteili- gung aus. Und zweitens: Ein entsprechendes Modell kann nur bei uneinge- schränkter, beiderseitiger Freiwilligkeit funktionieren.

Kapitalbeteiligung als Kriseninstrument?

Dies ist zugleich die Überleitung von der grundsätzlichen Betrachtung zur Aus- einandersetzung mit der jüngst diskutierten Variante. Hier ging es um Unter- nehmen in einer existenziellen Krise. Um die Krise zu bewältigen, ist auch ein Beitrag der Mitarbeiter erforderlich. Das ist soweit nicht ungewöhnlich, ent- sprechende Vereinbarungen gibt es viele; in der Metall- und Elektro-Industrie haben unsere Tarifverträge sogar eine entsprechende Möglichkeit geschaffen. In diesem sogenannten Pforzheim-Abkommen ist damit eine Gegenleistung verbunden: Standortsicherung, Investitionen oder der Erhalt von Arbeitsplät- zen stehen typischerweise im Vordergrund. Im Tarifvertrag „Beschäftigungssi- cherung“ erhalten Mitarbeiter für den Verzicht auf Einkommen ausdrücklich eine Beschäftigungsgarantie.

Nun aber stellte sich die Gewerkschaft vor, dass die Mitarbeiter als Gegenleis- tung für den Verzicht auf bestimmte Einkommensteile über die Jobgarantie hinaus am Kapital des Unternehmens beteiligt werden sollen. Natürlich ist nachvollziehbar, dass die Arbeitnehmer für solche Zugeständnisse eine Sicher- heit haben wollen. Diese Sicherheit aber kann ihnen nur ein zukunftsfähiger Arbeitsplatz bieten, nicht ein aus der Not geborenes Wertpapier. Ein sicherer Job ist ihnen viel wichtiger als eine Beteiligung im Wert von ein paar hundert Euro. Beides zusammen kann es nicht geben; die Arbeitnehmer können sich ihre Zugeständnisse nicht doppelt bezahlen lassen. Ein Verzicht gegen Beteili- gung ist eben gerade kein Verzicht.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 19 Ordnungspolitische Positionen

Neben dieser rhetorischen Pirouette ist es aber vor allem die vorgeschlagene Konstruktion, die Unbehagen auslösen muss. Die Gewerkschaftsvorsitzenden werden nicht müde zu erklären, dass die Arbeitnehmer die besseren Investo- ren seien, weil sie ein langfristiges Interesse am Unternehmen hätten und da- her – so die Formulierung – stabile Ankeraktionäre seien. Die Anteile am Unternehmen sollen aber in einem Fonds oder einer Beteiligungsgesellschaft gebündelt werden, verwaltet von der Gewerkschaft.

Die frisch gebackenen Eigentümer können also nicht mehr über ihr Eigentum verfügen, und es sind eben nicht mehr die eigenen Mitarbeiter, sondern be- triebsfremde Funktionäre, die bei der Unternehmenspolitik mitreden. Dem Ziel einer stärkeren Identifikation mit dem Betrieb wird diese Konstruktion nicht mehr gerecht. Von einer „Wirtschaftsdemokratie“ kann ebenfalls nicht die Rede sein, vielmehr werden die Arbeitnehmer entmündigt. Die Folge wäre eine schleichende Politisierung von betrieblichen Entscheidungen mit der Ge- fahr einer Verfilzung. Wir dagegen wollen transparente, dezentrale und auto- nome Entscheidungen sowie eine Vielfalt an Modellen, die alle dem Prinzip Haftung und Verantwortung folgen. Doch das alles wäre mit einem solchen Fonds nicht vereinbar.

Besser sind Modelle der Erfolgsbeteiligung

Bei einer nüchternen Abwägung der Möglichkeiten und Grenzen einer Kapi- talbeteiligung zeigt sich also: Das Risiko, dass die erhoffte positive Wirkung ausbleibt, ist groß – entweder weil die Arbeitnehmer in der Beteiligung bloß ei- nen gewöhnlichen Wertpapierbesitz sehen oder weil der Unternehmer von An- teilseignern abhängig wird, die zu wenig betriebswirtschaftlich und strategisch denken.

Anstelle der freiwilligen Kapitalbeteiligung, die auch künftig unverändert mög- lich ist, setzen wir lieber auf Modelle der Erfolgsbeteiligung. Hierfür gemein- sam Modelle zu entwickeln, darin sollte unser Ehrgeiz als Tarifparteien liegen. Dem Arbeitnehmer ist es dann selbst überlassen, wo und wie er sein Kapital einsetzen möchte, und der Unternehmer entscheidet frei, wo und wie er sich zusätzliches Eigenkapital beschaffen will. Ein Beteiligungsangebot an seine Mitarbeiter stellt eine mögliche Variante dar.

20 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Reform des Kündigungsschutzes: Ein Weg zu mehr Beschäftigung?

Dr. Frank Christian May/Prof. Dr. Horst M. Schellhaaß Staatswissenschaftliches Seminar an der Universität zu Köln

Sowohl Wissenschaftler als auch Praktiker sind vielfach der Ansicht, dass eine Lockerung des Kündigungsschutzes zu höherer Beschäftigung führt. Theorie und Empirie können jedoch nur einen geringen Einfluss des Kündigungsschutzes auf die Beschäftigung nachweisen.

In ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl Einschnitte beim Kündigungsschutz bringen uns 2009 hat die FDP vier konkrete Vorschläge zur Re- nicht aus der Krise.“ form des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) mit dem Ziel einer Flexibilisierung des Kündigungs- Demgegenüber herrscht unter Ökonomen ein schutzes formuliert: breiter Konsens, dass die Ursache der Beschäfti- gungsprobleme in der Europäischen Union (EU) die Anhebung der Kleinbetriebsschwelle auf durchaus in den institutionellen Rigiditäten der Betriebe mit mehr als 20 (bislang zehn) vollzeitbe- Arbeitsmärkte zu suchen ist.1 Eine aktuelle empiri- schäftigten Arbeitnehmern (§ 23 KSchG); sche Studie kommt zum Ergebnis, dass Verände- rungen im Volumen der Arbeitslosigkeit auf Ver- die Erhöhung der gesetzlich normierten Pro- änderungen der institutionellen Rahmenbedin- bezeit von bislang sechs Monaten auf eine Be- gungen zurückzuführen sind, während konjunktu- triebszugehörigkeit von mindestens zwei Jahren relle Schocks für sich genommen die unterschied- (§ 1 KSchG); liche Arbeitsmarktentwicklung der Mitgliedslän- der der Organisation für wirtschaftliche Zu- ein Wahlrecht, das dem Arbeitnehmer ermög- sammenarbeit und Entwicklung (OECD) nicht er- lichen soll, bereits bei Unterzeichnung des Ar- klären können.2 Die Misere scheint also hausge- beitsvertrags auf den gesetzlichen Kündigungs- macht. schutz im Fall einer betriebsbedingten Kündigung zu verzichten, wenn dafür eine Abfindungszah- Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob lung oder eine vom Arbeitgeber zu finanzierende die vorgeschlagene Flexibilisierung des Kündi- Weiterbildung vereinbart wird; gungsschutzes langfristig zu besseren Beschäfti- gungsergebnissen sowie höheren Wachstumsra- die Abschaffung des generellen Vorbeschäfti- ten führt oder ob sich die Deregulierungsbemü- gungsverbots für sachgrundlos befristete Einstel- hungen der Bundesregierung nicht besser auf an- lungen, wenn zwischen den wiederholten Beschäf- dere Felder der Arbeitsmarktpolitik konzentrie- tigungen mindestens drei Monate liegen. ren sollten.

Allerdings stießen diese Reformvorhaben bei den Partnern der Regierungskoalition auf wenig Gegenliebe. In den Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP ist allein die Erleichterung der wiederholten sachgrundlosen Befristung von Beschäftigungsverhältnissen eingegangen, aller- 1 Vgl. Charles R. Bean, European Unemployment: A Survey, in: Jour- nal of Economic Literature 32, 1994, Seiten 573–619; , dings mit einer auf ein Jahr erhöhten Wartezeit Labor Market Rigidities: At the Root of Unemployment in Europe, in: zwischen den aufeinanderfolgenden Verträgen. Journal of Economic Perspectives 11 (3), 1997, Seiten 37–54; Ste- Im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen hielt der phen Nickell/Richard Layard, Labor Market Institutions and Econo- mic Performance, in: Orley Ashenfelter/David Card (Hrsg.), Hand- CSU-Generalsekretär fest: „Wir haben es am Ar- book of Labor Economics, Volume 3C, Amsterdam 1999, Seiten beitsmarkt mit konjunkturellen Belastungen zu 3029–3084. 2 Vgl. Stephen Nickell/Luca Nunziata/Wolfgang Ochel, Unemploy- tun und nicht mit strukturellen Fehlstellungen. … ment in the OECD Since the 1960’s: What Do We Know?, in: Econo- mic Journal 115, 2005, Seiten 1–27.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 21 Arbeitsmarkt

Entwicklung des Kündigungsschutzes Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Kündi- in Deutschland gung kommen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts drei Prinzipien zur An- Die Einführung des Kündigungsschutzgesetzes im wendung: Jahr 1951 hat Entlassungen auf Fälle beschränkt, in denen der Arbeitgeber das Vorliegen eines be- Das Prognoseprinzip verlangt, dass der Kündi- sonderen Grundes nachweisen kann. Nach § 1 gungsgrund nicht nur vorübergehender Natur ist, KSchG sind Kündigungen „sozial ungerechtfer- sondern auch in Zukunft andauern wird. tigt“, sofern sie nicht personen-, verhaltens- oder betriebsbedingt erfolgen. Die Zielsetzung des Ge- Nach dem ultima-ratio-Prinzip ist eine Been- setzgebers war, die Arbeitnehmer gegen willkürli- digungskündigung erst dann zulässig, wenn alle che Auflösungen der Beschäftigungsverhältnisse anderen innerbetrieblichen Maßnahmen, die das zu schützen. In der Regierungsvorlage zum Kün- Beschäftigungsverhältnis erhalten könnten, ausge- digungsschutzgesetz von 1951 heißt es unmissver- schöpft worden sind. ständlich: „Das Gesetz wendet sich nicht gegen Entlassungen, die aus triftigem Grund erforder- Schließlich ist im Rahmen der Interessenabwä- lich sind, sondern lediglich gegen solche Kündi- gung das Interesse des Arbeitnehmers an einem gungen, die hinreichender Begründung entbeh- Fortbestand des Beschäftigungsverhältnisses ge- ren und deshalb als eine willkürliche Durch- gen das betriebswirtschaftliche Interesse des Ar- schneidung des Bandes der Betriebszugehörigkeit beitgebers an einer Beendigung abzuwägen. erscheinen.“ Die Interessenabwägung ist damit von der gesamt- Die Novellierung des Kündigungsschutzgesetzes wirtschaftlichen Ebene auf die bilaterale Ebene 1969 hat die Verfügungsrechte des Arbeitgebers von Arbeitgeber und Arbeitnehmer eingeengt weiter eingeschränkt, indem der reine Bestands- worden. Arbeitslose kommen im deutschen Ar- schutz aus § 1 KSchG durch einen Schutz des Ar- beitsrecht nicht vor. Die einseitige Interpretation beitnehmers vor Änderungskündigungen in § 2 des Kündigungsschutzes zugunsten eines Schutzes KSchG ergänzt wurde. Während der Arbeitneh- der Arbeitsplatzinhaber hat mit der erklärten Ziel- mer zuvor in Abwesenheit eines sachlichen Kündi- setzung des Gesetzgebers, den Arbeitnehmer ge- gungsgrundes allein ein Recht auf den Fortbe- gen eine willkürliche Auflösung des Arbeitsver- stand seines Beschäftigungsverhältnisses, nicht hältnisses zu schützen, nur noch wenig zu tun – aber auf die Einzelheiten seines Arbeitsvertrags und mit einer Vermeidung von Trennungen noch hatte, sind einseitige Änderungen der Vertrags- weniger. Arbeitsgerichtliche Prozesse enden selten konditionen – insbesondere des Lohnsatzes – sei- mit dem Erhalt des Arbeitsplatzes, sondern dege- tens des Arbeitgebers nunmehr ausgeschlossen. nerieren in der Regel zu einem reinen Abfin- dungshandel. Seitdem haben sich die gesetzlichen Regelungen zum Bestandsschutz von Arbeitsverhältnissen im In der Systematik der OECD lassen sich bei der Grunde wenig geändert. Dennoch ist der allge- Entlassung einer Arbeitskraft mit unbefristetem meine Kündigungsschutz im Zeitablauf immer ri- Arbeitsvertrag drei Dimensionen des Kündigungs- gider geworden. Dies liegt zum einen daran, dass schutzes unterscheiden:3 die Tarifvertragsparteien erweiterte Kündigungs- schutzvorkehrungen vereinbart haben, die bis der Verwaltungsaufwand, mit dem sich der Ar- zum Ausschluss der ordentlichen Kündigung für beitgeber konfrontiert sieht, wenn er den Kündi- bestimmte Arbeitnehmergruppen in den Mantel- gungsprozess einleitet; tarifverträgen reichen. Zum anderen hat die rich- terliche Rechtsfortbildung in Deutschland die die gesetzlichen Fristen, die einzuhalten sind, Möglichkeiten des Arbeitgebers, die Beschäfti- bevor die Kündigung in Kraft tritt, sowie die Ab- gung den betrieblichen Nachfrageschwankungen findungszahlungen, die an den entlassenen Ar- anzupassen, immer weiter eingeschränkt. Zwar beitnehmer zu entrichten sind. Beide Größen vari- wird die Fortentwicklung des Rechts auf vielen Ge- ieren typischerweise mit der Dauer des Beschäfti- bieten zunächst durch wegweisende Urteile ange- gungsverhältnisses; stoßen, jedoch in der Folge durch entsprechende Anpassungen der Gesetze kodifiziert. Anders im Arbeitsrecht: Hier haben die Gerichte die Rolle des Gesetzgebers übernommen. 3 Vgl. OECD, Employment Outlook, Paris 2009, Seiten 54 ff.

22 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Kündigungsschutz

die Schwierigkeit der Durchführung einer Ent- wertet werden dürfte, dass bei einer Kündigungs- lassung, die durch die rechtlichen Möglichkeiten schutzklage noch höhere Abfindungen winken. bestimmt wird, Entlassungen vor Gericht als unge- recht anzufechten. Einzelne Länder unterschei- den sich zum einen bezüglich der „Nachsichtig- Ökonomische Begründung des keit“, mit der die Arbeitsgerichte Kündigungs- gesetzlichen Kündigungsschutzes schutzklagen behandeln, und zum anderen hin- sichtlich der dem Arbeitgeber drohenden Folgen Die ökonomische Theorie identifiziert vor allem unwirksamer Kündigungen in Form von Kompen- zwei Funktionen des Kündigungsschutzes, welche sationszahlungen und Wiederanstellungen. die Regulierung des betrieblichen Entlassungsver- haltens übernehmen soll: Zum einen werden Ein- Zu diesen drei Gesichtspunkten kommen zusätzli- kommensschwankungen durch Stabilisierung des che rechtliche Anforderungen im Falle von Mas- Beschäftigungsverhältnisses im Konjunkturverlauf senentlassungen sowie die Regulierungen, welche abgefedert; zum anderen trägt der Arbeitgeber die die Begründung temporärer Beschäftigungsver- Wiedereingliederungskosten bei Beendigung des hältnisse betreffen. Beschäftigungsverhältnisses.

Nach Untersuchungen der OECD nimmt Deutsch- Sind die Arbeitnehmer risikoscheu und die Ar- land 2008 in der Rigidität des Kündigungsschutzes beitgeber risikoneutral, können Arbeitsverträge den Platz 22 von 30 ein. Die einzigen EU-Länder, auch Versicherungskomponenten wie Kündi- die einen noch rigideren Bestandsschutz aufwei- gungsschutz und Abfindungszahlungen enthal- sen, sind Portugal, Frankreich, Griechenland, Spa- ten.5 Daraus resultieren kompensierende Lohndif- nien und Luxemburg.4 Jedoch steckt der Teufel im ferenziale zwischen den Firmen, die mit ihrer Be- Detail: Gegenüber diesen Ländern schneidet legschaft „normale“ Arbeitsverträge schließen, Deutschland zum Teil nur besser ab, weil befristete und den anderen, die zusätzlich Bestandsschutz- Beschäftigungsverhältnisse weniger stark reguliert leistungen anbieten. Letztere müssen geringere sind. Hinsichtlich des Bestandsschutzes bei regulä- Direktlöhne zahlen, wobei der Differenzbetrag als ren Arbeitsverhältnissen nimmt Deutschland vor Versicherungsprämie zur Finanzierung der Be- Portugal und der Tschechischen Republik den standsschutzleistungen interpretiert werden kann. drittletzten Rang aller dreißig Länder ein. Auffällig Damit entsteht ein impliziter Versicherungsmarkt. ist, dass auf dem deutschen Arbeitsmarkt vor allem Aus dieser Perspektive erscheint ein staatlicher der Verwaltungsaufwand, die rechtlichen Schwie- Kündigungsschutz überflüssig, denn sofern vom rigkeiten einer Entlassung sowie die Regelungen Arbeitnehmer eine Absicherung gegen Einkom- zu Massenentlassungen für den hohen Wert des mensschwankungen gewünscht wird, könnte sie – Kündigungsschutzindex verantwortlich zeichnen, in beiderseitigem Interesse – einzelvertraglich ver- während Kündigungsfristen und Abfindungszah- einbart werden. lungen eine eher unbedeutende Rolle spielen. Jedoch kann es zu einer Fehlsteuerung des Markt- Der Gesetzgeber hat mit der letzten Reform des prozesses kommen: Hat der Arbeitgeber keine Kündigungsschutzgesetzes im Jahr 2004 den ers ten Möglichkeit, die Leistungsfähigkeit und -willigkeit Versuch unternommen, die strikten rechtlichen eines Bewerbers vor Vertragsabschluss zu beobach- Vorgaben in finanzielle Kündigungshemmnisse zu ten, werden Arbeitsverträge mit Bestandsschutz transformieren. Die Einführung des § 1a KSchG vermehrt von „verhaltensauffälligen“ Arbeitskräf- räumt dem Arbeitnehmer bei betriebsbedingten ten nachgefragt. Die Abmilderung der Entlas- Entlassungen das Wahlrecht ein, gegen Erhalt ei- sungsdrohung durch den vertraglichen Kündi- ner Abfindung auf eine Kündigungsschutzklage zu gungsschutz macht es schwierig, die Belegschaft verzichten. Die Abfindungshöhe ist auf ein halbes gegen Bummeln zu motivieren. Darüber hinaus Monatsgehalt für jedes Jahr der Betriebszugehörig- vermindern Abfindungszahlungen die Kosten des keit normiert. Allerdings hat diese Regelung die Arbeitsplatzverlustes. Im Ergebnis werden Unter- Rechtssicherheit nicht wesentlich erhöht, da das ar- nehmen mit freiwilligen Kündigungsschutzverträ- beitgeberseitige Angebot einer Abfindung nach gen aufgrund verminderter Produktivität von der § 1a KSchG vom Arbeitnehmer als Indiz dafür ge- Konkurrenz verdrängt. Da in einer solchen Situa-

4 Vgl. Danielle Venn, Legislation, Collective Bargaining and Enfor- 5 Vgl. Christopher A. Pissarides, Employment Protection, in: Labour cement: Updating the OECD Employment Protection Indicators, Economics 8, 2001, Seiten 131–159; Giuseppe Bertola, A Pure The- OECD Social, Employment and Migration Working Papers 89, 2009, ory of Job Security and Labour Income Risk, in: Review of Economic Seite 8 (www.oecd.org/els/workingpapers). Studies 71, 2004, Seiten 43–61.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 23 Arbeitsmarkt

tion ein impliziter Versicherungsmarkt nicht zu- wirtschaft ist. Untersucht man in Anlehnung an ein stande kommt, obwohl dafür prinzipiell ein Be- von Giuseppe Bertola7 entwickeltes Modell (siehe Kas- dürfnis bei den Arbeitskräften besteht, können ten), wie der Kündigungsschutz auf die Einstellungs- einheitliche staatlich verordnete Kündigungs- und Entlassungsentscheidungen von Unternehmen schutzregelungen diese Marktlücke schließen. wirkt, lassen sich folgende Ergebnisse festhalten:

Das zweite Argument für staatliche Kündigungs- Im Einstellungsszenario bei guter Konjunktur- schutzregeln resultiert aus der Tatsache, dass der lage führt die Sorge um die möglicherweise zu- Arbeitgeber bei seiner einseitigen Entlassungsent- künftig fälligen Entlassungskosten aufgrund einer scheidung nur die ihm selbst entstehenden Kosten schlechteren Wirtschaftslage dazu, dass das Unter- und entgehenden Erträge berücksichtigt, jedoch nehmen weniger Arbeitskräfte einstellt. sämtliche Wiedereingliederungskosten vernach- lässigt, die beim Arbeitnehmer infolge des Arbeits- Im Entlassungsszenario haben die Kündigungs- platzverlustes anfallen.6 Dazu gehören beispiels- schutzkosten eine intuitivere Wirkung: Die Freiset- weise Bewerbungskosten, Umzugs- und Fortbil- zung von Arbeitskräften ist umso unattraktiver, je dungskosten, aber auch die immateriellen Kosten, mehr sie mit Kosten belastet wird. Die Entlassung die durch den Verlust des sozialen Umfelds entste- könnte sich auch als Fehler erweisen, weil sich die hen. Die Vernachlässigung der Folgen, welche die Wirtschaftslage bald wieder bessert; dann wären Handlungen des Arbeitgebers an anderer Stelle die Kündigungsschutzkosten umsonst aufgewen- der Volkswirtschaft hervorrufen, in seinem be- det worden. Besteht Aussicht auf eine Erholung triebswirtschaftlichen Kalkül führt dazu, dass die der Wirtschaftssituation, erscheint ein Durchhal- Zahl der auf unregulierten Arbeitsmärkten ausge- ten des Arbeitnehmers unter Inkaufnahme kurz- sprochenen Entlassungen aus volkswirtschaftlicher fristiger Verluste vorteilhaft. Sicht überhöht ist. Deshalb hat der Kündigungsschutz stärkeren Ein- Die durch den staatlichen Kündigungsschutz her- fluss auf die betriebliche Entlassungsneigung als vorgerufenen Entlassungskosten sollen idealer- auf die Einstellungsanreize. Das Unternehmen be- weise den Wiedereingliederungskosten des Arbeit- treibt eine Strategie des „Hortens“, indem es mehr nehmers entsprechen. Sind die Wiedereingliede- Arbeitskräfte im Abschwung durchhält als in einer rungskosten höher als die Kosten bei einem Ver- Situation ohne Kündigungsschutz. Die unmittel- bleib im Unternehmen, soll das Arbeitsverhältnis bare Auswirkung des Kündigungsschutzes besteht fortgesetzt werden und umgekehrt. Aus dieser Pers - darin, dass er die Beschäftigungsschwankungen im pektive erscheint der Kündigungsschutz als Ins- Konjunkturverlauf glättet. Im Extremfall ist sogar titutionalisierung des Verursacherprinzips im Ar- denkbar, dass die Belegschaft trotz zyklischer Än- beitsrecht. In dem Maße, wie der staatliche Kündi- derungen der Geschäftslage über gewisse Zeit- gungsschutz das Versagen des impliziten Versiche- spannen stabil bleibt. Der Kündigungsschutz hat rungsmarktes kompensiert oder die Zahl volks- also langfristig nur einen geringen Effekt auf die wirtschaftlich ineffizienter Trennungen reduziert, durchschnittliche Beschäftigung einer Volkswirt- erhöht er die Effizienz des Arbeitsmarktes. Re- schaft. Dieser Effekt kann negativ, aber auch posi- formerfordernisse bestehen aus ökonomischer tiv sein – je nachdem, ob die beschäftigungshem- Sicht allein bei denjenigen Aspekten des Bestands- menden Anreize im Einstellungsszenario oder die schutzes, welche die Funktionsweise von Arbeits- beschäftigungsstabilisierenden Wirkungen im Ent- märkten beeinträchtigen. lassungsszenario dominieren.

Kündigungsschutzregeln können als Ursache für Einfluss des Kündigungsschutzes Unterschiede in der Beschäftigungsdynamik aus- auf die Beschäftigung gemacht werden und insbesondere eine Erklä- rung dafür liefern, warum die Schaffung neuer Ar- Ob eine Flexibilisierung des Kündigungsschutzes beitsplätze nur gering ausfällt, obwohl die aktuelle wirtschaftspolitisch geboten ist, hängt davon ab, ob Auftragslage gut ist, aber die Zukunftserwartun- die Regulierung des betrieblichen Entlassungsver- gen pessimistisch sind. Sie können jedoch nicht haltens ein wesentlicher Faktor zur Erklärung an- unbedingt geringere durchschnittliche Beschäfti- haltender Beschäftigungsprobleme in einer Volks- 7 Vgl. Giuseppe Bertola, Job Security, Employment and Wages, in: European Economic Review 34, 1990, Seiten 851–879; derselbe, Mi- 6 Vgl. Horst M. Schellhaaß, Sozialpläne aus ökonomischer Sicht, croeconomic Perspectives on Aggregate Labor Markets, in: Orley in: Zeitschrift für Arbeitsrecht 20, 1989, Seiten 167–207. Ashenfelter/David Card (Hrsg.), a. a. O., Seiten 2985–3028.

24 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Kündigungsschutz

Beschäftigungswirkungen des Kündigungsschutzes

Euro Wertgrenzprodukt 1

Wertgrenz- produkt 2

D Zuschlag C A Lohnsatz

Abschlag E

B2 B2’ B1’ B1 Beschäftigung Ein Gewinn maximierendes Unternehmen stellt so lange neue Arbeitskräfte ein, wie deren zusätzlicher Beitrag zum Unternehmensertrag größer ist als die mit ihrer Beschäftigung verbundenen zusätzlichen Arbeitskosten. Dabei nimmt das sogenannte Wertgrenzprodukt der Arbeit mit zunehmender Belegschaftsgröße ab, das heißt die Arbeitsnachfragefunktion („Wertgrenzprodukt 1“) hat einen fallenden Verlauf. Dies hat einerseits produk- tionstechnische Ursachen – die Verdopplung der Arbeitskräfte an einem bestimmten Arbeitsplatz führt in der Regel nicht zu einer Verdopplung des physischen Produktionsausstoßes – und liegt andererseits darin begrün- det, dass zunehmende Ausbringungsmengen nur zu geringeren Absatzpreisen an die Konsumenten verkauft wer- den können. In Abwesenheit von Fluktuationskosten ergibt sich die optimale Einstellungspolitik des Unterneh- mens im Schnittpunkt A des (als konstant angenommenen) Lohnsatzes mit der Kurve „Wertgrenzprodukt 1“. Dem entspricht die auf der horizontalen Achse abzulesende Beschäftigungsmenge B1. Kommt es im Zeitablauf zu einem Konjunkturabschwung, sinkt das Wertgrenzprodukt der Arbeitskräfte, was in der Abbildung durch eine Verlagerung der Arbeitsnachfrage auf die Kurve „Wertgrenzprodukt 2“ zum Ausdruck kommt. Das Unternehmen entlässt so lange Arbeitskräfte, bis im Schnittpunkt C erneut der Lohn mit dem Wertgrenzprodukt der letzten weiterbeschäftigten Arbeitskraft in Einklang gebracht worden ist. Damit geht ein neuer Beschäftigungsstand B2 einher. Die Beschäftigung schwankt mit der wirtschaftlichen Entwicklung zwi- schen den Beschäftigungsständen B1 und B2. Ausgehend von dieser Referenzsituation können nun die Aus- wirkungen eines staatlichen Kündigungsschutzes analysiert werden. Werden Entlassungen für den Arbeitgeber durch den Bestandsschutz teurer, verändert sich zum einen die betriebswirtschaftlich optimale Einstellungspolitik: Das Wertgrenzprodukt der letzten im Aufschwung einge- stellten Arbeitskraft muss nicht nur die aktuelle Lohnzahlung, sondern zusätzlich einen kalkulatorischen Zu- schlag für potenzielle Bestandsschutzkosten erwirtschaften, denn mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit könnte sich die Wirtschaftslage in der nächsten Periode wieder verschlechtern und die heute eingestellte Arbeitskraft müsste unter Aufwand von Kündigungsschutzkosten entlassen werden. Im Einstellungsszenario gilt: Zuschlag auf den Lohnsatz = Änderungswahrscheinlichkeit x Barwert der marginalen Kündigungsschutzkosten. Die Be- schäftigung, die sich unter Berücksichtigung des Zuschlags auf den Lohnsatz im Punkt D ergibt, beträgt B1’. Zum anderen wird die betriebswirtschaftlich optimale Entlassungspolitik durch die Existenz von Kündi- gungsschutzkosten beeinflusst. Es werden zwei Abschläge vom aktuellen Lohn vorgenommen: Erstens könnte sich die Entlassung in der nächsten Periode als Fehlentscheidung erweisen, weil sich die Wirtschaftslage wie- der bessert; in diesem Fall wären die Kündigungsschutzkosten umsonst aufgewendet worden. Zweitens führt eine Verzögerung der Entlassung um eine Periode dazu, dass das Unternehmen die Annuität der Kündigungs-

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 25 Arbeitsmarkt

schutzkosten einspart. Im Entlassungsszenario gilt also: Abschlag vom Lohnsatz = (Änderungswahrscheinlich- keit + Zinssatz) x Barwert der marginalen Kündigungsschutzkosten. Der Beschäftigungsstand bei schlechter Auf- tragslage ergibt sich im Schnittpunkt E und beträgt B2’. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Im Einstellungsszenario führt die Sorge um die möglicherweise zu- künftig fälligen Entlassungskosten dazu, dass das Unternehmen weniger Arbeitskräfte einstellt. Im Entlas- sungsszenario ist die Freisetzung von Arbeitskräften umso unattraktiver, je mehr sie bereits heute mit Kosten belastet wird. Besteht darüber hinaus Aussicht auf eine Erholung der Wirtschaftssituation, erscheint ein Durch- halten des Arbeitnehmers unter Inkaufnahme kurzfristiger Verluste erst recht vorteilhaft. Deshalb hat der Kün- digungsschutz einen stärkeren Einfluss auf die betriebliche Entlassungsneigung als auf die Einstellungsanreize, was in der Abbildung darin zum Ausdruck kommt, dass der Abschlag vom Lohn bei schlechter Auftragslage größer ist als der Zuschlag auf den Lohn bei guter Auftragslage. Die unmittelbare Auswirkung des Kündigungs- schutzes besteht darin, dass er die Beschäftigungsschwankungen im Konjunkturverlauf glättet; in der Abbildung finden Beschäftigungsschwankungen nur noch zwischen B1’ und B2’ statt. Treten gute und schlechte Konjunk- turzustände im Zeitablauf in etwa mit gleicher Wahrscheinlichkeit ein, verringert der Kündigungsschutz eindeutig die auf der vertikalen Achse abzulesende Durchschnittsproduktivität, da der Abschlag vom Lohnsatz im Kon- junkturtal höher ist als der Zuschlag auf den Lohnsatz bei Hochkonjunktur.

gungsstände erklären, sodass es nicht korrekt ist, lich das Reallohnniveau. Deshalb stellt sich die Kündigungsschutzregelungen in einer Linie mit Frage, ob der Kündigungsschutz einen indirekten hohen Arbeitskosten und geringer Produktnach- Beschäftigungseffekt hat, indem er systematisch frage zu den Hauptursachen hoher Arbeitslosig- den Lohnfindungsprozess beeinflusst. keit zu zählen. Von einer Liberalisierung des Kün- digungsschutzes sollte man deshalb keine tief grei- Die erste Möglichkeit besteht darin, dass die Ar- fenden Beschäftigungsimpulse erwarten. beitskräfte den Kündigungsschutz als eine „geld- werte Leistung“ im Sinne des Versicherungsmotivs Während man vorsichtig sein sollte, den hohen betrachten und zu äquivalenten Lohnabschlägen Kündigungsschutz allzu schnell zur Ursache der bereit sind. Insbesondere Abfindungen, die im Ent- schwachen Arbeitsmarkterfolge in der Europäi- lassungsfall direkt an die Arbeitnehmer ausgezahlt schen Union zu erklären, können Kündigungs- werden, können Anreize für Lohnzurückhaltung schutzregeln sehr wohl bestimmte Charakteristika stiften. Im günstigsten Szenario sind die Lohnab- der europäischen Beschäftigungsentwicklung er- schläge ausreichend hoch, um den negativen Effekt klären, beispielsweise das Phänomen der Langzeit- des Kündigungsschutzes im Einstellungsszenario arbeitslosigkeit. Stabilisierung der Beschäftigung vollständig zu kompensieren.9 Da der beschäfti- bedeutet als Reflex auch Beharrlichkeit der Ar- gungsstabilisierende Effekt im Abschwung davon beitslosigkeit. Derzeit sind nach OECD-Berech- unberührt bleibt, würde dies langfristig positive Be- nungen 54 Prozent aller Arbeitslosen in Deutsch- schäftigungswirkungen implizieren. land langzeitarbeitslos; dies liegt weit über dem OECD-Durchschnitt von 26 Prozent. Sämtliche aus Ein anderer Einfluss des Kündigungsschutzes auf den theoretischen Überlegungen gewonnenen die Löhne wird vom sogenannten Insider-Outsi- Voraussagen über die Wirkung von Kündigungs- der-Ansatz in den Mittelpunkt der Betrachtung ge- schutzregeln stehen im Einklang mit den empiri- stellt.10 Auf einem Arbeitsmarkt ohne Fluktua- schen Forschungsergebnissen.8 tionskosten müssten die etablierten Arbeitnehmer (Insider) stets den Marktlohn akzeptieren, denn sonst würde das Unternehmen neue Arbeitskräfte Einfluss des Kündigungsschutzes anheuern. Folglich wird der Lohnsatz stets auf den auf das Reallohnniveau von den Arbeitssuchenden (Outsidern) mindes- tens geforderten Lohn herunter konkurriert. Ist es Der Kündigungsschutz zeichnet für die Struktur jedoch kostspielig, die beschäftigten Arbeitskräfte der Arbeitslosigkeit, nicht aber für die grundle- zu ersetzen, entsteht ein Lohnsetzungsspielraum, genden Unterschiede in der langfristigen Beschäf- tigungsentwicklung zwischen verschiedenen Volks- 9 Vgl. Edward P. Lazear, Job Security Provisions and Employment, in: wirtschaften verantwortlich. Entscheidend für die Quarterly Journal of Economics 105, 1990, Seiten 699–726. Beschäftigungserfolge am Arbeitsmarkt ist letzt- 10 Vgl. Assar Lindbeck/Dennis J. Snower, The Insider-Outsider The- ory of Employment and Unemployment, Cambridge 1988; dieselben, Insiders versus Outsiders, in: Journal of Economic Perspectives 15, 8 Vgl. Stephen Nickell/Richard Layard, a. a. O.; OECD, a. a. O. 2001, Seiten 165–188.

26 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Kündigungsschutz

den der Arbeitnehmer, sobald er den Insider-Sta- der Arbeitslosen übersteigt, in Verbindung mit ei- tus erlangt hat und der Kündigungsschutz greift, nem sehr rigiden Kündigungsschutz bereits bei ei- in einer Nachverhandlung des Lohnes vollständig nem wesentlich geringeren Niveau (potenziell so- ausschöpfen kann. Solange seine Lohnforderung gar unterhalb der Sozialhilfe) zu unfreiwilliger Ar- nicht den Einsteigerlohn zuzüglich der margina- beitslosigkeit führen. len Entlassungskosten übersteigt, hat das Unter- nehmen keinen Anreiz, ihn gegen einen ansons- Die Bekämpfung dieser Arbeitslosigkeit durch ge- ten gleichwertigen externen Bewerber zu ersetzen. eignete Arbeitsmarktreformen ist für die Insider, Ein vorausschauendes Unternehmen berücksich- die in der Regel die Mehrheit der Wahlbevölke- tigt bereits bei der Einstellungsentscheidung, dass rung stellen, mit empfindlichen Einschnitten ver- die Arbeitskräfte den Kündigungsschutz zur bunden. In erster Linie würden sich Maßnahmen Durchsetzung von Lohnsteigerungen nutzen, so- anbieten, welche die Verhandlungsmacht der Ar- bald die Probezeit abgelaufen ist, indem es bei ge- beitsplatzbesitzer im Lohnfindungsprozess ein- gebenem Einsteigerlohn einen geringeren Be- dämmen. Da solche Maßnahmen politisch unpo- schäftigungsstand wählt.11 pulär sind, könnte dies für Reformprojekte spre- chen, die die Entstehung „zweigleisiger“ Arbeits- Um aus der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit heraus märkte begünstigen, in welchen es Stammbeleg- zu gelangen und sich einen Weg in die begehrten schaften gibt, die sämtliche Insider-Rechte genie- Insider-Arbeitsplätze zu bahnen, müssten die Ar- ßen, sowie Randbelegschaften mit befristeten Ar- beitssuchenden imstande sein, ihren Einsteiger- beitsverträgen und geringeren Löhnen. lohn hinreichend abzusenken. Dies erfordert nicht nur eine Unterbietung des Lohnsatzes, der für die geschützte Kernbelegschaft gilt, sondern Beurteilung der Reformoptionen für die Dauer der Probezeit sogar Einstiegslöhne, die unterhalb des eigenen Anspruchslohnes – also Es gibt gute ökonomische Gründe für eine staatliche des Lohnes, zu dem ein Arbeitnehmer gerade Regulierung des betrieblichen Entlassungsverhal- noch bereit ist, seine Arbeitskraft anzubieten – lie- tens. Theoretische Analysen und empirische Stu- gen.12 Die Outsider werden durch die Bestands- dien können zudem für den Kündigungsschutz nur schutzregelungen insofern diskriminiert, als sie geringe Niveaueffekte auf die Beschäftigung nach- bei gleicher Produktivität nicht die gleiche Ent- weisen. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist des- lohnung erhalten können. Die Konfliktlinie am halb das falsche Stichwort für eine Reform des Kün- Arbeitsmarkt verläuft folglich nicht zwischen „Ka- digungsschutzes. Die Arbeitsvermittlung und der pital“ und „Arbeit“, sondern zwischen beschäftig- Lohnfindungsprozess erscheinen als sinnvollere An- ten und arbeitslosen Erwerbspersonen. satzpunkte für eine Steigerung der Beschäftigung.13

In dieser Schilderung tritt deutlich die Nebenbe- Optimierungsbedarf besteht jedoch hinsichtlich dingung zutage, die erfüllt sein muss, damit der der Ausgestaltung des Kündigungsschutzes. Die Kündigungsschutz die vom Insider-Outsider-An- rein administrativen Kosten des deutschen Be- satz postulierte negative Beschäftigungswirkung standsschutzes in Form von rigiden Formvor- hat und nicht einfach nur zu einer intertempora- schriften und ineffizienten Gerichtsverfahren soll- len Umverteilung der Arbeitskosten führt: Es müs- ten in Abfindungen und betriebliche Hilfen bei sen Beschränkungen existieren, die eine hinrei- der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz über- chende Absenkung der Einsteigerlöhne verhin- führt werden. Auf diese Weise können unproduk- dern, um ein vorausschauendes, die späteren tive Verwaltungskosten in Nutzen erhöhende Lohnforderungen der eintretenden Arbeitneh- Transferleistungen an die entlassenen Arbeitneh- mer antizipierendes Unternehmen dazu zu veran- mer umgewandelt werden. Der Kündigungsschutz lassen, sie einzustellen. Diese Nebenbedingung würde den Betroffenen und nicht den rechtsbera- dürfte in der Realität zumeist erfüllt sein, denn ta- tenden Berufen zugutekommen. Dies ist eine not- rifliche oder gesetzliche Mindestlöhne begrenzen wendige Voraussetzung für ein Klima, in dem die faktisch die Möglichkeiten der Lohnunterbietung für ein steigendes Beschäftigungsvolumen erfor- von Berufseinsteigern. Dabei kann ein Mindest- derliche Lohnmäßigung Aussicht auf Erfolg hat. lohn, der auf einem reibungslosen Arbeitsmarkt Folglich sollten diesbezügliche Reformvorschläge erst greifen würde, wenn er den Anspruchslohn nicht von der politischen Agenda verschwinden, sondern weiter diskutiert werden. 11 Vgl. Giuseppe Bertola 1990, a. a. O. 12 Vgl. ebenda. 13 Vgl. Stephen Nickell/Richard Layard, a. a. O.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 27 WIRTSCHAFTSPUBLIZISTIK 20082004 Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik Ausschreibung 2010

Die Ludwig-Erhard-Stiftung vergibt alljährlich einen von Ludwig Erhard gestifteten Preis für Wirtschaftspublizistik. Neben dieser Auszeich- nung wird ein Förderpreis verliehen.

Dieser Förderpreis wird hiermit öffentlich ausgeschrieben. Er ist für Journalisten, Wissen- schaftler und Angehörige anderer Berufe bestimmt, die jünger als 35 Jahre sind. Über die Preisvergabe entscheidet eine unabhängige Jury; das Preisgeld beträgt 5 000,– d.

Die Jury berücksichtigt Presseartikel, Arbeiten der wissenschaftlichen Publizistik sowie Hörfunk- und Fernsehbeiträge, die zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 2009 im In- oder Ausland verbreitet wurden und in enger Beziehung zur Sozialen Marktwirt- schaft stehen. Bewerbungen oder Vorschläge Dritter müssen der Stiftung zusammen mit einem kurzen Lebenslauf bis zum 1. Februar 2010 zugehen.

Einsendeschluss: 1. Februar 2010 Beiträge und Vorschläge bitte an: Ludwig-Erhard-Stiftung Der Vorstand der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V. Johanniterstraße 8 53113 Bonn Hans D. Barbier Telefon 02 28/5 39 88-0 Ulrich Blum • Otmar Franz • Michael Fuchs • Telefax 02 28/5 39 88-49 Martin Grüner • Thomas Hertz • Christian Watrin [email protected] Kontinuität und Wandel in der Arbeitsmarktpolitik

Prof. Dr. Josef Schmid Universität Tübingen

Die Gestaltung der Arbeitsmarktpolitik fällt vor allem in den Zuständigkeitsbereich des Bundes. Seit Ende der 1960er Jahre haben sich die Bundesländer immer stärker eingebracht. Hinzu kommen seit Ende der 1990er Jahre beschäftigungspoli- tische Maßnahmen der Europäischen Union.

Die Arbeitsförderung in Deutschland soll nach De- Zum einen ist auf die hohe Kontinuität und zum finition des § 1 Sozialgesetzbuch III dem Entste- anderen auf die institutionelle Spezifik der deut- hen von Arbeitslosigkeit entgegenwirken, die Dau- schen Arbeitsmarktpolitik zu verweisen – das Phä- er der Arbeitslosigkeit verkürzen sowie den Aus- nomen des „Politikerbes“.1 Mit dem Gesetz über gleich von Angebot und Nachfrage auf dem Aus- Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung bildungs- und Arbeitsmarkt unterstützen. Dabei ist wurde im Jahr 1927 ein Entwicklungspfad einge- durch die Verbesserung der individuellen Beschäf- schlagen, der bis heute das Handlungsfeld prägt. tigungsfähigkeit insbesondere Langzeitarbeitslo- Zu den wesentlichen Elementen dieser bemer- sigkeit zu vermeiden. Die Gleichstellung von Frau- kenswert stabilen institutionellen Konfiguration en und Männern ist als durchgängiges Prinzip der gehörten: die Organisation als Sozialversicherung Arbeitsförderung zu verfolgen. Zudem sollen ein in Form einer Reichsanstalt bzw. später Bundesan- hoher Beschäftigungsstand erreicht und die Be- stalt für Arbeit, die weitgehende Finanzierung schäftigungsstruktur ständig verbessert werden. über Beiträge, aus denen die Leistungsansprüche Schließlich ist die Arbeitsförderung auf die be- nach Art und Höhe abgeleitet werden, sowie die schäftigungspolitischen Zielsetzungen der Sozial-, Beteiligung der Sozialpartner an der Leitung. Wirtschafts- und Finanzpolitik auszurichten. Hieraus ergibt sich nicht nur die organisatorische Komplexität einer großen Bürokratie wie bei der Arbeitsmarktpolitik im Sozialstaat Bundesanstalt für Arbeit hinlänglich kritisiert wur- de, sondern auch eine institutionelle Verzerrung Die deutsche Arbeitsmarktpolitik umfasst insbe- zugunsten der passiven Maßnahmen und zulasten sondere Maßnahmen, die darauf abzielen, Ar- makroökonomischer Steuerungsformen sowie die beitslose in eine reguläre Beschäftigung wieder generelle Tendenz zu einer Problemverschiebung einzugliedern: Fort- und Weiterbildung, Arbeits- zwischen politischen Ebenen und Feldern.2 Die beschaffung, Strukturanpassungsmaßnahmen, politisch-institutionellen Rahmenbedingungen Lohnkostenzuschüsse an Arbeitgeber, Förderung prägen die Einstellungen der relevanten Akteure von Existenzgründungen und beruflicher Mobi- und die öffentlichen Diskurse, was sich etwa in der lität, Betreuung und Beratung sowie Vermittlung Beurteilung der jüngeren Reformen niederge- von Arbeitslosen. Institutionell sind vor allem die schlagen hat. Arbeitsmarktpolitik ist im deutschen Bundesagentur für Arbeit, die Bundesländer und Sozialversicherungsmodell in erster Linie Arbeits- die Kommunen zuständig sowie zunehmend die losenversicherung. Sie entspricht der Typik, die Europäische Union (EU). Daneben existieren dem Regime unter Bismarck bzw. dem konservati- zwei weitere Handlungsfelder: die Arbeitsmarkt - ven Wohlfahrtsstaat zugeschrieben werden. Inso- ordnungspolitik, die auf die Gestaltung der Ar- fern unterscheidet sie sich von den in liberalen beitsmärkte und ihrer Rahmenbedingungen zielt, sowie die passive bzw. kompensatorische Arbeits- marktpolitik, also die Zahlung von Lohnersatzleis- 1 Vgl. dazu Tobias Ostheim/Manfred G. Schmidt, Die Lehre vom Po- litikerbe, in: Manfred G. Schmidt (Hrsg.), Der Wohlfahrtsstaat: Eine tungen, um den Lebensunterhalt bei Arbeitslosig- Einführung in den historischen und internationalen Vergleich, Wies- keit zu sichern. baden 2007. 2 Vgl. detaillierter Josef Schmid et al., Wer macht was in der Ar- beitsmarktpolitik? Maßnahmen und Mitteleinsatz in den westdeut- schen Bundesländern, Münster 2004.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 29 Arbeitsmarkt

oder sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten der Dritte Weg“5 charakterisieren lässt. Hinzu trat praktizierten Formen.3 eine keynesianische Komponente in der Begrün- dung der Arbeitsmarktpolitik, wonach durch die Lohnersatzleistungen eine Stabilisierung der Arbeitsförderung seit der Weimarer Republik Nachfrage erfolgte. Zugleich gewannen Qualifizie- rungsmaßnahmen Bedeutung, um den Herausfor- Die ersten Ansätze zur Etablierung einer umfas- derungen des technologischen Wandels Rech- senden öffentlichen Arbeitsmarktpolitik fanden in nung zu tragen. der Weimarer Republik statt und waren geprägt von den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, der Trotz dieser Modernisierung und Erweiterung des Novemberrevolution, der Demobilmachung und Instrumentariums zeigten die „ökonomischen Ver- der Hyperinflation. Arbeitslosigkeit war ein ge- änderungen der 1970er Jahre … der Arbeits- samtgesellschaftliches Massenphänomen und des- marktpolitik bald ihre Grenzen auf. Die Hoff- halb kollektiv zu bewältigen. Im Jahr 1927 trat das nung, Vollbeschäftigung durch staatliches Han- Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosen- deln herstellen und sichern zu können, blieb letzt- versicherung in Kraft. Damit wurde der Pfad in lich eine Illusion.“6 Immer wieder stieg die Ar- der Logik des Bismarck’schen Sozialpolitik-Modells beitslosigkeit ebenso wie die Kosten; vor allem die gelegt: „Betrachtet man … den Zeitabschnitt von aktiven Maßnahmen fielen dabei immer wieder fis- der Verabschiedung des Arbeitsnachweisgesetzes kalischen Überlegungen zum Opfer. Zugleich ent- im Jahre 1922 bis zum Aufbau der Reichsanstalt hüllen Wirtschaftskrisen die Defizite des Systems: für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversiche- „Mindestens zweimal, mit dem Haushaltsstruktur- rung 1929/30, lässt die Zeit von der Endphase der gesetz von 1975 und dem Arbeitsförderungs-Kon- Weimarer Republik bis zur Währungsreform von solidierungsgesetz 1981/82, ist die aktive Arbeits- 1948 einmal außer acht und nimmt dann wieder marktpolitik von der Bundesregierung daran ge- die 50er Jahre in den Blick, so zeichnet sich ein re- hindert worden, ihren Beitrag zur Bekämpfung lativ hohes Maß an Kontinuität, ja sogar Pfadab- der Arbeitslosigkeit antizyklisch auszuweiten. Wa- hängigkeit in der deutschen Arbeitsmarktpolitik rum dies ausgerechnet unter einer sozialliberalen ab. Von der Anlage, der Zielstellung und dem Ins - Koalition geschah, hatte verschiedene Gründe. Ei- trumentarium her knüpfte die Arbeitsmarktpolitik ner davon ist bis heute wichtig geblieben: Letztlich in der frühen Bundesrepublik an die Entwicklung betrachten alle großen politischen Kräfte, die So- der Weimarer Republik an, die 1933 abrupt unter- zialdemokraten, die Gewerkschaften sowieso, aber brochen worden war. Dies wird schon allein daran auch die Christdemokraten und selbst die Arbeit- deutlich, dass das Gesetz über Arbeitsvermittlung geberverbände, die Einschränkung der aktiven Ar- und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) von 1927 beitsmarktpolitik als das kleinere Übel, das einer zur Grundlage des Auf- und Ausbaus der neuen Kürzung der Lohnersatzleistungen oder einer Bei- Bundesanstalt ab 1952 wurde.“4 tragserhöhung allemal vorzuziehen sei. Wenn es hart auf hart kommt, so wird der Besitzstand der Auch wurde das Nebeneinander von Arbeitslosen- Arbeitslosenversicherung geschützt, während man unterstützung und Arbeitslosenfürsorge bzw. Sozi- den ‚Luxus‘ einer aktiven Arbeitsmarktpolitik in alhilfe wieder aufgenommen – was aber im Schat- der Krise gerne über Bord wirft.“7 ten des „Wirtschaftswunders“ wenig Beachtung fand. Mit dem Arbeitsförderungsgesetz von 1969 Ein weiterer großer Einschnitt in die Arbeits- kam es nach ersten Wachstumseinbrüchen zu ei- marktpolitik stellte die Deutsche Einheit dar; aber ner Neuregelung, die für die Folgezeit das Instru- auch hier wurde durch den schnellen „Institutio- mentarium der Arbeitsmarktpolitik bzw. Arbeits- nentransfer“8 die Kontinuität des etablierten Mo- förderung prägte, doch bewegte es sich weitge- dells gewahrt – allerdings bei enormen materiel- hend in den vorgefundenen Bahnen. Allerdings dominierte in der Öffentlichkeit eine Rhetorik 5 So Günther Schmid/Frank Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und der Neuerung, die sich durch Stichworte wie Arbeitslosenversicherung 1966–1974, in: Bundesministerium für Ar- beit und Soziales und Bundesarchiv (Hrsg.), Geschichte der Sozial- „Steuerungsoptimismus, aktive Gesellschaft und politik in Deutschland seit 1945, Band 5, Baden-Baden 2006, Seite 334. 6 So das Urteil von Hans Walter Schmuhl a. a. O., Seite 255. 3 Vgl. Josef Schmid, Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Soziale Siche- 7 Ebenda, Seite 6. rungssysteme in Europa, Opladen 2002. 8 Gerhard Lehmbruch, Institutionentransfer im Prozess der Vereini- 4 Hans Walter Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung gung: Zur politischen Logik der Verwaltungsintegration in Deutsch- in Deutschland 1871–2002, in: Institut für Arbeitsmarkt- und Be- land, in: Arthur Benz et al. (Hrsg.), Verwaltungsreform und Verwal- rufsforschung (Hrsg.), Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsfor- tungspolitik im Prozess der deutschen Einigung, Baden-Baden 1993, schung (BeitrAB 270), Nürnberg 2003, Seiten 135 ff. Seiten 41–66.

30 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Arbeitsförderung

len Herausforderungen und fiskalischen Folgen. Inhalt und Bedeutung der Hartz-Reformen Im Zuge der wirtschaftlichen Transformation kam – Ein Bruch mit dem Politikerbe? es in den neuen Bundesländern zu massenhafter Arbeitslosigkeit, die in manchen Regionen die 20- Die Umsetzung der Aktivierungsstrategie in Prozent-Marke überstieg. Die Bundesregierung Deutschland ist zentral mit den Vorschlägen der und die Arbeitsverwaltung reagierten mit einem Kommission „Moderne Dienstleistungen am Ar- bislang ungekannten Einsatz der arbeitsmarktpoli- beitsmarkt“ verbunden, die ihre Ergebnisse im Au- tischen Instrumente: Kurzarbeit sollte den Anstieg gust 2002 vorgestellt hat. Mit den vier Gesetzen für der Arbeitslosigkeit eindämmen, ältere Arbeitneh- moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wur- mer sollten durch Frühverrentung dem Arbeits- den die Arbeitsverwaltung und die Arbeitsvermitt- markt entzogen und ein Teil der Arbeitslosen soll- lung grundlegend umstrukturiert und mit neuen te auf einem zweiten Arbeitsmarkt – etwa in Form Instrumenten versehen, um sie durchgreifend zu von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Struk- verbessern; es war sogar von einer „Zeitenwende turanpassungsmaßnahmen – untergebracht wer- am Arbeitsmarkt“ die Rede. Dabei wurde aus der den. Auf diese Weise nahmen zeitweilig mehr als Bundesanstalt die Bundesagentur für Arbeit als 500 000 Arbeitslose in Ostdeutschland an Fortbil- kundenorientierter, moderner Dienstleister am dungs- und Umschulungsmaßnahmen teil, was die Arbeitsmarkt, und das traditionelle Nebeneinan- sozialen Folgen erheblich abmilderte und zur po- der zweier Leistungen für langzeitarbeitslose Men- litischen Stabilisierung beitrug. schen – Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe – sollte ein Ende finden bzw. durch die einheitliche Seit Ende der 1990er Jahre – beginnend mit dem Grundsicherung für Arbeitssuchende ersetzt JobActiv-Gesetz der ersten rot-grünen Koalition – werden. bildet „Aktivierung“ ein neues Strategieelement der deutschen Arbeitsmarktpolitik. Damit ist zum Allerdings hat die Gesetzgebung eine Reihe von einen das Prinzip von „Fördern und Fordern“ ge- zähen Verhandlungen innerhalb der rot-grünen meint: Die Berechtigung zum Bezug wohlfahrts- Koalition sowie zwischen Bundesrat und Bundes- staatlicher Leistungen ist an die Bedingung einer tag hervorgerufen. So sind zum Beispiel bei nach bestimmten Kriterien definierten aktiven Ar- Hartz II die Regelungen zu den subventionierten beitssuche, die Teilnahme an Qualifizierungsmaß- Mini-Jobs und zur untertariflichen Entlohnung nahmen oder die Annahme einer subventionier- der Leiharbeiter umstritten gewesen; ähnlich strit- ten Beschäftigung im Niedriglohnsektor (zum Bei- tig war bei Hartz IV die Beteiligung der Kommu- spiel Ein-Euro-Job) geknüpft. Zum anderen ist das nen an der Arbeitsvermittlung durch eine „Expe- damit verbundene neue Ziel nicht mehr allein die rimentierklausel“. Allerdings sind letztlich im Ver- Verringerung der Arbeitslosigkeit, sondern die mittlungsausschuss nach schwierigen Verhand- Steigerung der Erwerbs- bzw. Beschäftigungsquo- lungsprozessen Kompromisse gefunden worden, te, besonders bei Frauen und Älteren. Auf diese was Christine Trampusch als „informelle Große Koa- Weise sollen aus passiven Empfängern von staat- lition“ in der Arbeitsmarktpolitik interpretiert. lichen Leistungen aktive Erwerbstätige werden.9 Dieses Vorgehen hat jedoch zur Folge, dass die Ef- Dadurch verschiebt sich der Fokus der aktivieren- fizienz und Effektivität von Beschlüssen leidet bzw. den Arbeitsmarktpolitik von relativ gut qualifizier- deren technisch-administrativer Tiefgang fehlt – ten Männern – als Ernährer der Familie, was aus weil sie entweder nicht operational definiert sind feministischer Sicht kritisiert worden ist – bzw. ge- oder schlicht die Zeit für Feinheiten fehlt. Zu- werkschaftlich organisierten Kernbelegschaften gleich haben in der Ära Schröder der Politikstil und auf alle Erwerbsfähigen, was vor allem die Ziel- wichtige Institutionen erhebliche Veränderungen gruppen der Frauen und Langzeitarbeitslosen erfahren: Staatliche Interventionen und parado- betrifft. xerweise ein gleichzeitiges Mehr an Markt gehen zulasten von korporatistischen Aushandlungsmus- tern zwischen Staat und Verbänden.10

Vor allem mit den als Hartz IV bekannt geworde- nen Maßnahmen haben sich eine kritische öffent-

10 Vgl. Christine Trampusch, Sozialpolitik in Post-Hartz-Germany, 9 Vgl. etwa Susanne Blancke/Josef Schmid, Bilanz der Bundesre- in: WeltTrends, Nr. 47, 2005, Seiten 77–90; Josef Schmid, Arbeits- gierung Schröder in der Arbeitsmarktpolitik 1998–2002, in: Chris- markt- und Beschäftigungspolitik – Große Reform mit kleiner Wir- toph Egle et al. (Hrsg.), Das rot-grüne Projekt, Wiesbaden 2003, Sei- kung?, in: Christoph Egle/Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Bilanz der Re- ten 215–238. gierung Schröder, Wiesbaden 2007, Seiten 271–294.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 31 Arbeitsmarkt

liche Resonanz und Widerstand der Betroffenen Industriepolitik sowie ihre Beschäftigungswirkun- ergeben. Besonders die Gewerkschaften kritisier- gen; die Strategie der Personalausweitung in der ten eine übermäßige Belastung kleiner und mitt- Kommunal- und Landesverwaltung, die in den lerer Einkommen, den drohenden Verlust des Le- 1970er Jahren und vor allem in Nordrhein-Westfa- bensstandards bei längerer Arbeitslosigkeit durch len stattgefunden hat.12 das neue Arbeitslosengeld II sowie mangelndes Fördern im Verhältnis zum durchgesetzten For- Der Blick auf beide Ebenen der Arbeitsmarktpoli- dern. Man kann das durchaus als Legitimations- tik zeigt, dass sich typische Handlungsmuster und und Motivationskrise des deutschen Sozialstaats- Konstellationen eingestellt haben. Die Länder wei- modells interpretieren. Vor allem die Einführung sen einige Stärken und der Bund weist einige typi- des Arbeitslosengeldes II wird als Wechsel des So- sche Schwächen auf. Für die Bundesländer spricht zialstaatsmodells sowie als Verlust des Ziels der Le- nicht nur die kontinuierliche Erhöhung der Aus- bensstandardsicherung wahrgenommen und steht gaben für aktive Arbeitsmarktpolitik, während sich den aus dem Beitrags- und Äquivalenzprinzip ab- die Bundesagentur und der Bund eher prozyklisch geleiteten normativen Erwartungen entgegen. Das verhalten haben. Wichtiger ist, dass die Länder bei gilt dann als ungerecht. Die Überlegung, dass da- der Gestaltung ihrer Maßnahmen mehr Flexibilität mit bei den „Outsidern“ – den ehemaligen Sozial- zeigen und innovativer sind. Dabei spielt sicherlich hilfeempfängern und Langzeitarbeitslosen – die auch eine Rolle, dass sich die Organisation, die Integrationschancen bzw. ihre Leistungen erhöht Interessenvermittlung und die Kultur dieser Poli- werden und zugleich ein Einstieg in eine am Bür- tikdomäne auf beiden Ebenen unterscheiden: Die gerstatus orientierte Grundversorgung eingeleitet Bundes-Arbeitsmarktpolitik ist korporatistisch und wird, hat sich nicht öffentlichkeitswirksam durch- als Sozialversicherung aufgebaut; hieraus resultie- gesetzt.11 ren erhebliche Zentralisierungs- und Unitarisie- rungsimpulse – auch gefördert durch die Tarifpar- teien, die im Rahmen der Selbstverwaltung der Die vernachlässigte Rolle Bundesagentur einflussreich sind. Ein solcher Kor- der Bundesländer und der EU poratismus ist in den Ländern kaum anzutreffen; hier dominiert die Ministerialbürokratie. Freie Trä- Der Bund spielt in der Arbeitsmarktpolitik die zent- ger im Bereich Qualifizierung oder regionale Ko- rale Rolle: Die Bundesagentur für Arbeit tätigt ordinierungsstellen werden erst in der Implemen- rund 80 Prozent der Ausgaben. Die Bundesländer tationsphase eingebunden. haben jedoch mit ihren freiwilligen Aktivitäten so- wohl in finanzieller als auch in konzeptioneller Zusammenfassend könnte man diese Unterschie- Hinsicht enorme Bedeutung gewonnen. Ein Bei- de zwischen Bund und Ländern funktionalistisch spiel: Das Land Baden-Württemberg hat seine als eine Form der Arbeitsteilung beschreiben, die Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik seit 1968 von allerdings in der Praxis einige Tücken im Detail einer knappen halben Million Euro auf knapp 100 aufweist. Vertreter des Bundes tendieren zum Bei- Millionen Euro im Jahr 2006 gesteigert – das ent- spiel dazu, die Aktivitäten der Länder – aus der Lo- spricht einem Wachstum von 20 000 Prozent und gik der Statistiken der Bundesagentur – als „Sons- ist damit ein bemerkenswertes Beispiel für die Ge- tiges“ abzuwerten. Umgekehrt befürchten die Ak- nese und Dynamik eines Politikfeldes. teure aus den Ländern – ganz im Sinne politischer Unternehmer –, dass sich der Bund die „Rosinen In ihren Ursprüngen, den 1950er und 1960er Jah- pickt“ und die erfolgreichen Innovationen über- ren, basierte die Landes-Arbeitsmarktpolitik auf nimmt und sie sich dann im Land neu profilieren mehreren Maßnahmen, die sie konzeptionell prä- müssen. gen: die berufliche Bildung, die besonders für ar- beitslose Jugendliche ausgerichtet war; Beschäfti- Ähnlich wie die Bundesländer in der Arbeits- gungsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose; sozial- markt- und Beschäftigungspolitik eine nicht zu pädagogische Begleitung und Schaffung von zu- vernachlässigende Rolle spielen, hat sich auch die sätzlichen, gemeinnützigen Arbeitsmöglichkeiten Europäische Union auf dieses Feld begeben. Seit aus dem Kontext der Sozialhilfe; die Struktur- und den 1990er Jahren hat es sich von einem „Rand- zu einem Kernbereich“ der Brüsseler Politik entwi- 11 Diese Spannungslinie zwischen Insidern und Outsidern ist gerade ckelt. „Beschränkte sich die Europäische Beschäf- für sozialdemokratische Parteien prekär, was möglicherweise er- tigungsstrategie (EBS) anfänglich eher auf Einzel- klärt, warum das Thema so defensiv angegangen wurde; vgl. dazu David Rueda, Insider-Outsider Politics in Industrialized Democracies, in: American Political Science Review, Nr. 99/1, 2005, Seiten 61–74. 12 Vgl. ausführlicher Josef Schmid et al., a. a. O.

32 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Arbeitsförderung

Gesetzgebung zu den Vorschlägen der Hartz-Kommission

Erstes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz I) Einrichtung von Personal-Service-Agenturen; Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes; Änderungen im Leistungsrecht (Wegfall der Dynamisierung, Flexibilisierung der Sperrzeiten, leichte Verschärfung der Zumutbarkeit); Einführung von Bildungsgutscheinen Zweites Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz II) Existenzgründerzuschuss (Ich-AG); Reform der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse (Mini-Job); Einführung einer Gleitzone; Förderung haushaltsnaher Dienstleistungen Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt Reform des Kündigungsschutzes; Anhebung der maximalen Befristungsdauer bei befristeten Beschäftigungsverhältnissen in neu gegründeten Unternehmen; Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes; Neuregelung (Renten-)Erstattungspflicht des Arbeitsgebers Gesetz zur Änderung der Handwerksordnung und zur Förderung von Kleinunternehmen (kleine Handwerksnovelle) Ausübung einfacher Tätigkeiten, die nicht zum Kernbereich eines Handwerks gehören, durch Nichthandwerksbetriebe Drittes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz III) Reform der Bundesanstalt für Arbeit; Änderung der Altersteilzeit Drittes Gesetz zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerklicher Vorschriften (große Handwerksnovelle) Vereinigung der Zahl der Gewerbe mit Meisterzwang; Erleichterung der Übernahme eines Handwerksbetriebs durch erfahrene Gesellen; Aufgabe des Inhaberprinzips Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz IV) Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe, Arbeitslosengeld II

maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit, zielt sie heute Der Hintergrund und die Motive dieser Europäi- auf umfassende Beschäftigungsförderung.“13 Der sierung sind vielfältig: Zum einen spielen die Aus- Weg verläuft über verschiedene Stationen: wirkungen von Wirtschaftskrisen auf den Arbeits- markt eine Rolle; zum anderen erfordern die Der Beschäftigungsgipfel von Luxemburg be- Binnenmarkt- und Erweiterungspolitik entspre- schließt den gleichnamigen Prozess mit Zielvorga- chende Anpassungen und Abfederungen bei den ben, Zeitplänen und Monitoring-Verfahren Beschäftigungssystemen; schließlich kann dieses (1997/1998); neue Element eines sozialen Europas Legitimation für das Projekt der Europäischen Union und sei- der Gipfel von Lissabon differenziert die ar- ner Institutionen schaffen. So konstatiert die Eu- beitsmarktpolitischen Ziele aus und entwickelt die ropäische Kommission: „Letztendlich steht und Offene Methode der Koordinierung als europäi- fällt die Zukunft Europas damit, inwieweit es uns sches Handlungsinstrument (2000); gelingt, all unseren arbeitswilligen Bürgern ange- messene und entsprechend bezahlte Arbeitsplätze der Entwurf des EU-Verfassungsvertrags (Teil I, zu bieten.“14 Artikel 3 und 11) bestimmt schließlich Vollbe- schäftigung als Ziel und eine Zuständigkeit der Ge- Charakteristisch für die Politikgestaltung und Po- meinschaft (2003). litiksteuerung der EU in einem heterogenen Mehr-Ebenen-System ist die offene Methode der

14 Nach Antje Stephan, Die Beschäftigungspolitik der EU, Baden-Ba- den 2008, Seite 19; siehe auch Hans-Wolfgang Platzer (Hrsg.), Ar- 13 Deutsche Bank Research, EU-Arbeitsmarktpolitik, EU-Monitor, Nr. beitsmarkt und Beschäftigungspolitik in der EU. Nationale und eu- 53, Frankfurt am Main 2008. ropäische Perspektiven, Baden-Baden 2008.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 33 Arbeitsmarkt

Koordinierung. Dies entspricht dem Umstand, tuellen Wirtschaftskrise dadurch bestätigt, dass in dass trotz der gewachsenen Kompetenzen die EU der Arbeitsmarktpolitik und der Arbeitsförderung im Bereich der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungs- das Kurzarbeitergeld – eine das Einkommen und politik weder über eine eigenständige Rechtset- den Status stabilisierende Leistung – hohe Prio- zungskompetenz noch über finanzielle Ressour- rität unter den Maßnahmen genießt. Dies erlaubt cen jenseits der begrenzten Möglichkeiten im Rah- die weitere Orientierung am etablierten System men der EU-Strukturfonds verfügt. Daher des deutschen Sozialstaats und des Normalarbeits- herrscht eine Tendenz zur regulativen Politik be- verhältnisses und befriedigt die Interessen der ein- ziehungsweise weichen Steuerung vor. Das heißt, flussreichen Klientel. es wird nicht mit Geld oder Macht, sondern mit Wissen und Überzeugung operiert: Bei der offe- Gleichwohl hat sich dieses Modell immer wieder nen Methode der Koordinierung handelt es sich als anpassungs- und belastungsfähig erwiesen; um ein mehrstufiges Verfahren der gemeinschaft- Pfadabhängigkeit und Politikerbe meinen keines- lichen Definition von Zielen sowie der Förderung falls Konstanz. Sowohl die Ausweitung des Instru- ihrer Umsetzung in den Mitgliedsländern. Das mentariums im Zuge des Arbeitsförderungsgeset- Ziel ist, nationale Reformprozesse sowie die Qua- zes, die Umorientierung in Richtung Aktivierung lität und Kompatibilität der beschäftigungs- und oder der massive Ressourceneinsatz zur Bewälti- sozialpolitischen Strategien der Mitgliedstaaten zu gung der Folgen der Deutschen Einheit belegen fördern. Dazu sollen die EU-Länder in permanen- dies eindrücklich. Das Aktivierungskonzept geht ten Informations- und Erfahrungsaustausch tre- dabei über eine traditionellere wohlfahrtsstaatli- ten, Aktionspläne erlassen und Indikatoren entwi- che Vollbeschäftigungspolitik hinaus. Sie erfordert ckeln, mit denen Fortschritte bewertet und be- ergänzende Infrastruktur, wie etwa bei der Kinder- währte Verfahren mit Vorbildfunktion identifiziert betreuung. Zudem ruft diese neue Strategie er- werden können. hebliche Veränderungen der korporatistisch-büro- kratischen Implementationsnetzwerke der Arbeits- Umstritten ist allerdings, inwieweit die offene Me- marktpolitik hervor, da mehr Flexibilität gefordert thode der Koordinierung als Reformmotor in der ist. Das muss nicht zwingend als neoliberale Politik Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik gewirkt interpretiert werden. hat, da es widersprüchliche Indizien gibt. „Wäh- rend ältere Analysen eher geringe politische Ef- Allerdings bestehen strukturelle Probleme, durch fekte konstatieren, bescheinigen neuere Untersu- die Arbeitsmarktpolitik die Defizite des Marktes zu chungen der offenen Methode der Koordinierung beheben – gerade unter den Bedingungen der durchaus Wirkkraft.“15 Ein Beispiel dafür ist die Globalisierung, der Wissensgesellschaft und des Rolle der EU als Agenda-Setter, was in einigen technischen Wandels. Gleichwohl geht es gerade Ländern zum Politikwechsel beigetragen hat, wie aus der Sicht der Betroffenen um wichtige und un- zum Beispiel im Fall der Hartz-IV-Reform in verzichtbare Leistungen sowie aus der Sicht der Deutschland. Gesellschaft um soziale und ökonomische Stabili- sierung. Dringt man allerdings zum normativen und institutionellen Kern vor – wie der Beitrags- Zwischen Politikerbe und äquivalenz als Gerechtigkeitsnorm –, wird die neuen Herausforderungen Grenze der Veränderbarkeit erreicht, wie die hef- tigen Reaktionen auf Hartz IV gezeigt haben. Gut Die betonte Kontinuität von Weimar bis heute bzw. gemeint – so eine wohl meinende Interpretation die institutionelle Verzerrung werden in der ak- der Reform – kommt nicht immer gut an.

15 Deutsche Bank Research, a .a. O, Seite 12.

34 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Ludwig-Erhard-Lecture 2009: „Nach der Wahl ist vor der Wahl“

Dr. Otto Graf Lambsdorff

„Die ordnungspolitische Bilanz der Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre ist deprimierend. ... Anstatt Freiräume zu schaffen durch einen liberalen Ordnungsrahmen, der die Kräfte des Marktes zur Entfaltung bringt, vertrauen Politiker auf unkoordinierte Staatsinterventionen.“

Zunächst einmal bedanke ich mich bei Dr. Barbier, In nur vier Jahren lassen sich die vielen ordnungs- der mich zu dieser Lecture der Ludwig-Erhard- politischen Sünden, die unser Staat begangen hat, Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Universitäts- nicht beheben. Dies wird eine Daueraufgabe. Club Bonn eingeladen hat. Als Fürsprecher der Marktwirtschaft – auch in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise – bin ich mit der Ludwig-Erhard- Vier Programme zur Konjunktursteuerung Stiftung seit vielen Jahren verbunden. Somit habe ich diese Einladung angenommen – auch wenn es Tatsache ist, dass es in unserer Volkswirtschaft seit gelegentlich unterschiedliche Ansichten gibt. Langem gravierende Fehlentwicklungen gibt, die dringend korrigiert werden müssen. Wir haben ei- Ich bin der festen Überzeugung, dass die Fehlent- nen enormen Schuldenberg angehäuft, den es wicklungen, die sich in den letzten Monaten und gilt, in den nächsten Jahren abzubauen: ohne In- Jahren international wie auch hierzulande gezeigt flation und Steuererhöhungen. Aber ist das über- haben, aus Politikversagen, nicht aber aus Markt- haupt möglich und realistisch? Das Hamburgische versagen resultieren. Dies zu sagen, ist insbeson- WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) sagt eine Horror- dere wichtig, da Deutschland aktuell – zwei Tage Inflation voraus. Stecken wir nicht viel zu sehr im nach der Bundestagswahl – am Scheideweg steht. Sumpf der ordnungspolitischen Sünden fest? Meiner Ansicht nach hat das Land drei Möglich- keiten: erstens den Verbleib beim Status quo; zwei- Politik zur Überwindung der Wirtschafts- und Fi- tens die Einlösung der zahlreichen Wahlverspre- nanzkrise hätte bedeutet, die Wachstums-, Be- chen diverser Parteien, die den Schuldenberg wei- schäftigungs- und Investitionsbedingungen zu ver- ter erhöhen werden und dem unmündigen Bür- bessern sowie der Wirtschaft Freiräume zu schaf- ger einen unternehmerischen Staat präsentieren; fen und ihre Belastungen zu reduzieren, damit sie oder drittens die Rückbesinnung auf Ordnungs- mit den jetzigen Schwierigkeiten besser fertig wird politik, also das Denken in Gesamtzusammenhän- und leichter Risiken übernehmen kann. Aber die gen, um Deutschlands Wachstums- und Beschäfti- letzte Bundesregierung meinte – verfangen in gungspotenzial auszuschöpfen. Machbarkeitsillusionen –, auf längst überwunden geglaubte keynesianische Nachfragepolitik zu- Für Deutschland wäre die erste Alternative folgen- rückgreifen zu müssen. Inzwischen sind wir bei schwer, die zweite dagegen katastrophal. Ganz nicht weniger als vier Konjunkturprogrammen – oben auf der politischen Agenda darf jetzt also auch wenn die Nummerierung der Bundesregie- nichts anderes stehen als die Durchsetzung von zu- rung eine andere ist: verlässigen marktwirtschaftlichen Reformen und Rahmenbedingungen. Doch wie wahrscheinlich ist Das erste Konjunkturprogramm wurde bereits das? Nachträglicher Wahlkampf macht wenig Sinn. im Jahr 2006 in Genshagen beschlossen – mitten Mir geht es vielmehr darum – unabhängig vom im Aufschwung. Wer kennt es noch? parteipolitischen Geschehen – zu zeigen, was in Deutschland wirtschaftspolitisch passieren muss, Das zweite Konjunkturprogramm – genannt um das Land auf einen positiven Wachstums- und Konjunkturprogramm I – datiert aus dem Novem- Beschäftigungspfad zurückzuführen. Dies wird ber 2008. Der Sachverständigenrat qualifizierte es nicht nur Aufgabe der nächsten Legislaturperiode: als Sammelsurium.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 35 Wirtschaftspolitik national

Das dritte Konjunkturprogramm – genannt Die Garantie des Eigentums, die nur in eng be- Konjunkturprogramm II – wurde im Januar dieses grenzten Fällen aufgehoben werden darf, gehört Jahres beschlossen. Es brachte die absurde Ab- zu den fundamentalen Prinzipien unserer freiheit- wrackprämie und den auf industriepolitische lichen Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung. Intervention zielenden Wirtschaftsfonds. Am 10. Sie darf nicht infrage gestellt werden – schon gar August 2009 titelte Die Welt: „Konjunkturpro- nicht durch ein auf einen Einzelfall bezogenes Ge- gramm II kommt nicht in Gang.“ – Kein Wunder! setz als Ausdruck staatlicher Willkür.

Das vierte Konjunkturprogramm kam Ende Das müssen wir auch im Auge behalten, wenn Mai. Es enthält mit der Einführung der Ist-Besteu- es um den Fall Opel geht. Hier ist in eklatanter erung bei der Umsatzsteuer, den Erleichterungen Weise in die Marktwirtschaft eingegriffen worden. beim Verlustausgleich sowie der Teilrücknahme Ludwig Erhard hat davor gewarnt, den Staat vom der völlig verfehlten Zinsschranke und des Ver- Schiedsrichter zum Mitspieler zu machen. Bei lustvortrages begrüßenswerte Maßnahmen. Aber Opel ist die Politik in diese Falle gelaufen und zu spät graute selbst dem Finanzminister vor dem kommt nun nicht mehr heraus. Ich bin nicht der Blick auf unsere öffentlichen Finanzen: „Dies Überzeugung, dass Opel auf die Weise langfristig nährt meine Skepsis gegen weitere Konjunktur- erhalten wird. Die entscheidende Frage ist, ob das programme“, sagte er. Hätte er diese Skepsis doch Unternehmen Autos bauen kann, für die es Käu- schon früher gehabt. fer gibt. Ich habe da meine Zweifel. Und meines Erachtens hat die europäische Wettbewerbskom- Wir haben uns mit der Konjunktursteuerung über- missarin Neelie Kroes Recht, wenn sie hier eine un- nommen. Sie stellt sich wegen der vielfältigen Ver- zulässige Beihilfe sieht. zögerungen oft als prozyklisch heraus und bewirkt meist nicht mehr als ein Strohfeuer – hier sei auf Der Staat hat mit der Etablierung des Deutschland- die Abwrackprämie hingewiesen. De facto besteht fonds nicht nur ein weites Tor aufgestoßen für in- eine Asymmetrie des finanzpolitischen Verhaltens dustriepolitische Einflussnahme auf das Wirt- im Konjunkturzyklus. Denn die Politik erweist sich schaftsgeschehen. Er hat zugleich signalisiert, dass als unfähig, bei guter Konjunktur zu konsolidie- seine Taschen unter dem Etikett des Samariters und ren. Genau dieses Versäumnis kennzeichnete die Helfers in der Not offen sind – dem Wahlkampf sei Finanzpolitik der vorigen Bundesregierung. es gedankt, und wunderte sich, dass immer mehr in die Taschen hineingriffen: Schaeffler, Heidelberger Druck, Porsche, Infineon, Arcandor und wer sonst Der Deutschlandfonds: noch alles haben sich bereits beim Fonds gemeldet. Industriepolitik gegen die Krise Jüngst kam TUI dazu. Inzwischen sollen es über Tausend Unternehmen sein. Eine weitere ordnungspolitische Sünde war der geplante „Deutschlandfonds“, um nach der Ret- tung der Banken weiteren Not leidenden Firmen Scheitern gehört zum Wettbewerb zu helfen. Ich betone dabei: Wie die Regierungen zur Stützung des Finanzsektors reagierten, hielt Die ganze Diskussion krankt daran, dass selektiv ich damals für vollkommen richtig. Alle weiteren auf die Erhaltung der Arbeitsplätze in den betrof- Überlegungen, die uns die enormen Schulden- fenen Unternehmen abgestellt wird. Ausgeblen- berge eingebracht haben, dagegen nicht. Im Ge- det werden aber die Opportunitätskosten, die be- spräch waren neben Bürgschaften auch direkte trächtlich sein können, möglicherweise größer als Verstaatlichungen. Beides sorgt für Wettbewerbs- der vermeintliche direkte Nutzen der Staatsinter- verzerrungen, weil der Fonds einzelne Unterneh- vention. Die Monopolkommission konstatiert zu men subventioniert. Recht, dass gegen alle diese Maßnahmen die Be- denken ins Feld zu führen sind, die allgemein Eine Beteiligung des Staates an der Commerz- gegenüber Subventionen gelten: Die Wettbewer- bank halte ich ordnungspolitisch für nicht hin- ber werden benachteiligt, am Markt nicht wettbe- nehmbar. Hier erhielt der Staat eine direkte Betei- werbsfähige Kapazitäten bleiben bestehen, der ligung mit Sperrminorität. notwendige Strukturwandel wird verzögert, Wirt- schaft und Verbraucher insgesamt haben die Kos- Einem ordnungspolitischen Gau kam das Ret- ten zu tragen. Das beeinträchtigt entweder die tungsübernahmegesetz gleich. Es dient allein der Wettbewerbsfähigkeit oder reduziert die Nachfra- Enteignung von Aktionären der Hypo Real Estate. ge der Konsumenten. Subventionen werden so zu

36 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Ein Zehn-Punkte-Programm

einem unmittelbaren Nachteil der betroffenen Große Koalition unverfroren über die Rechtspre- Wettbewerber und zum mittelbaren Nachteil der chung des Europäischen Gerichtshofs hinweg. Volkswirtschaft im Ganzen. Ausgeprägter planwirtschaftlicher Interventio- Ob im Endergebnis tatsächlich Arbeitsplätze er- nismus offenbart sich in der Forschungspolitik. halten bleiben, ist fraglich. Sicher ist nur, dass der Wer kennt schon die sogenannte Zwölf-Milliarden- Steuerzahler für all die Fehlentwicklungen aufzu- High-Tech-Strategie der Bundesregierung? Ganz kommen hat. Die Bundesregierung – abgesehen im Sinne industriepolitischen Interventionismus vom Wirtschaftsminister – schien die Gefahren hat die letzte Bundesregierung 17 Zukunftsfelder nicht zu sehen. Anpassung ist das Gebot allen identifiziert, in denen sie die begünstigten Berei- Wirtschaftens. Auch das Scheitern gehört zum che an die Weltspitze führen, also zu Global Play- wettbewerblichen System. Wer es verhindert, he- ern machen will. Das ist Anmaßung von Zukunfts- belt eine der tragenden Säulen unseres wirtschaft- wissen. Walter Eucken hat das einmal so beschrie- lichen Erfolges aus. Mit Protektion und Subven- ben: „Wenn Wirtschaftspolitik punktuell betrieben tion gewinnt man nicht die Zukunft. wird, Stück für Stück, kasuistisch und fragmenta- risch, dann handelt der Staat wie ein Mann, der willkürlich Eisenteile zusammensetzt – so entsteht Orientierungslose Politik keine Maschine.“

Ordnungspolitische Orientierungslosigkeit ist kein Jenseits aller marktwirtschaftlichen Regeln ist die neues Phänomen. Sie kennzeichnet die Wirtschafts- Gesundheitsreform. Mit der staatlich angeordne- politik seit Jahren. Und es wäre verfehlt, die gegen- ten Vereinheitlichung der Beitragssätze, mit der wärtige Desorientierung der Politik allein dem Schaffung des Gesundheitsfonds oder der staat- Wahlkampf zuzuschreiben. Wir leisten uns mindes- lichen Determinierung der Arzthonorare wurden tens vier große Umverteilungssysteme: das Einkom- die planwirtschaftlichen Elemente sogar verstärkt. mensteuersystem, die Rentenversicherung, das Ge- sundheitswesen und die Arbeitslosenversicherung. Hinzu kommt die vielfältige Objektförderung. Kein Deprimierende ordnungspolitische Bilanz Mensch weiß heute, wer wie viel gibt und wer was be- kommt. Das widerspricht allen wirtschaftspoliti- Ein wichtiger Grundsatz marktwirtschaftlicher Po- schen Prinzipien. Der Wohlfahrtsstaat ist bei uns litik ist die Respektierung der Tarifautonomie. Der ausgeufert. Er fördert Anspruchsdenken und Be- Arbeitsminister zielte dagegen auf flächendecken- schaffungsmentalität. Er verteilt nicht nur Wohlta- de, gesetzliche Mindestlöhne ab und hebelte auf ten, er verursacht auch erhebliche Fehlsteuerun- die Weise einen wichtigen Bereich der Tarifauto- gen. Er bestraft den Erfolg und begünstigt den Miss- nomie aus. Mindestlöhne erhöhen zudem das Ri- erfolg. Und vor allem: Er entmutigt die Leistungs- siko von Arbeitslosigkeit gerade für die Schwächs - träger und beschädigt die Arbeitsmoral – zumin- ten der Gesellschaft, werden missbraucht zur Absi- dest, wenn er deutsche Dimensionen erreicht hat. cherung von Monopolen und befreien die Wirt- schaft zugleich von ihrer Verantwortung, für den In der Wettbewerbspolitik ist der Politik die Orien- Niedriglohnbereich vernünftige Lösungen zu fin- tierung völlig verloren gegangen. Erinnert sei an den. Zugleich sollen von Staats wegen die Mana- die unsägliche Ministererlaubnis für die Fusion gergehälter begrenzt werden. Sicher hat es hier von E.ON und Ruhrgas. Die Wettbewerbsintensität zum Teil unerträgliche Entwicklungen gegeben. auf den deutschen Energiemärkten hat daraufhin Aber ist es Aufgabe des Staates vorzuschreiben, wie erheblich abgenommen – mit der bekannten Kon- viel Manager verdienen dürfen? Liegt das nicht in sequenz monopolistischer Preisaufschläge auf der Verantwortung der Eigentümer? Ist das nicht Energie. Der Telekom wurden für das neue Breit- vielmehr eine Frage des Corporate-Governance- bandtelekommunikationsnetz „Regulierungsfe- Systems, das in Deutschland ohne Frage verbessert rien“ versprochen und so eine Monopolposition in werden kann? Es würde helfen, wenn die Verfasser dem Bereich gesichert. Der Post wurde das Mono- des Corporate-Governance-Kodex sich selbst an ih- pol im Briefbereich trickreich und sozial verbrämt ren Kodex halten würden. mithilfe von Mindestlohnvorschriften erhalten. Und in den Netzindustrien verweigert sich die Finanzpolitisch wäre es geboten gewesen, den Bundesregierung klarer Entflechtungsregeln, die Staat auf den Kern seiner Aufgaben zurückzufüh- Voraussetzung für mehr Wettbewerb sind. Mit ih- ren. Aber statt die Ausgaben zurückzufahren, hat rer Gesetzgebung zum VW-Gesetz setzte sich die die letzte Bundesregierung mit der Anhebung der

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 37 Wirtschaftspolitik national

Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte und an- Sie ist das ethisch, moralisch und wirtschaftlich deren Steuererhöhungen das Gegenteil gemacht. überlegene System, das allerdings vom Staat be- Sie war offensichtlich der irrigen Meinung, dass wahrt werden muss – durch einen starken und sou- das Geld der Bürger in ihren Händen besser auf- veränen Staat, der nicht zur Beute der Interessen- gehoben sei. Und so könnte man fortfahren. Un- gruppen und Verbände wird, durch einen Staat, ser Steuersystem ist zu kompliziert, zu ungerecht, der Schiedsrichter und nicht Mitspieler ist. zu leistungsfeindlich und genügt ordnungspoliti- schen Grundsätzen schon seit Langem nicht mehr. Ein Zehn-Punkte-Programm In der Familienpolitik – so stellte der Sachverstän- digenrat im Jahr 2007 zutreffend fest – hat sich ein Reformen sind daher unabdingbar und dringlich. nicht zu durchschauender Wust expliziter und im- Doch was ist konkret zu tun? Wo können wir an- pliziter Fördermaßnahmen ergeben, den niemand setzen? Wir können derzeit nicht mehr übersehen, mehr durchblickt. Die Rente wurde zum Spielball dass wir einen unglaublichen Schuldenberg ange- der Politik, indem die Rentenformel wiederholt häuft haben. Den wieder abzubauen, gilt als eine ausgesetzt wurde. Unverantwortlich war die Ent- der wichtigsten politischen Aufgaben unserer na- scheidung, die Renten in Zukunft niemals sinken tionalen Zukunft. Doch wie kommen wir von den lassen zu wollen, auch nicht, wenn das Einkom- Schulden wieder runter? Sie müssen vom Staat – mensniveau sinkt. Besonders kritikwürdig war es, am besten ohne inflationäre Wirkung – beseitigt dass der Bundesfinanzminister und leider auch werden. Dazu ist jedoch wirtschaftliches Wachs- der Bundeswirtschaftsminister dieser Regelung im tum nötig, das so hoch ausfallen muss, dass die Kabinett zugestimmt haben, um sie zwei Tage spä- Schulden damit abgebaut werden. Aber Vorsicht: ter zu kritisieren. Und die begrüßenswerten Refor- Auch damit verringern sich die Schulden nicht ab- men zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes wur- solut, sondern nur in der Schuldenquote im Ver- den teilweise wieder zurückgenommen. gleich zum Wachstum. Wie auch immer man die Verringerung der Schuldenquote bewertet, eins Das alles auszuführen, dazu reicht die Zeit nicht. steht fest: Die neue Regierung muss alles verhin- Die ordnungspolitische Bilanz der Wirtschaftspoli- dern, was das Wachstum hemmt, und alles tun, was tik der vergangenen Jahre ist deprimierend. Es mi- das Wachstum nachhaltig stärkt. Dazu zählen in schen sich konjunkturpolitische Machbarkeitsillu- meinen Augen die folgenden zehn Punkte: sionen mit planwirtschaftlichen Politikansätzen, mit verteilungspolitischem Aktionismus in einem Rückbau staatlicher Aufgaben und Haushalts- ohnehin überbordenden Wohlfahrtsstaat und mit konsolidierung: Die Staatsquote – das Verhältnis ordnungspolitischer Orientierungslosigkeit. Es der Staatsausgaben zum Sozialprodukt – bewegt fehlen Visionen, ein Zukunftsziel, zu dem sich in Richtung 49 Prozent. Das heißt, dass fast je- Deutschland geführt werden soll. Anstatt Freiräu- der zweite Euro über die staatliche Bürokratie um- me zu schaffen durch einen liberalen Ordnungs- verteilt wird. Politik zur Stärkung der Sozialen rahmen, der die Kräfte des Marktes zur Entfaltung Marktwirtschaft aber bedeutet, den Staat zurück- bringt, vertrauen Politiker auf unkoordinierte zuführen: durch Begrenzung der Staatsausgaben, Staatsinterventionen. durch weniger Belastungen von Verbrauchern und Unternehmen mit Steuern und Abgaben, Für die meisten Missstände sind jedoch leider durch Konsolidierung über die Ausgabenseite. nicht die Richtigen verantwortlich gemacht wor- Dies kann nicht über die Einnahmeseite gesche- den. Gehäuft hat sich in den letzten Monaten die hen, wie es in der letzten Legislaturperiode zum Kritik an der Sozialen Marktwirtschaft als solche Beispiel durch die Anhebung der Mehrwertsteuer wie auch am Kapitalismus, der angeblich zu einem versucht wurde. Das Ziel des ausgeglichenen Haus- Raubtierkapitalismus verkommen sei. Aber wer halts muss weiter verfolgt werden. Nur durch kon- diese Schlussfolgerung zieht, liegt falsch. Er ver- sequenten Abbau der Nettoneuverschuldung kennt, dass die Funktionsvoraussetzungen für kann der Staat seine Handlungsfähigkeit zurück- marktwirtschaftliche Prozesse permanent einge- gewinnen. engt wurden. Und er verkennt, dass der Markt- wirtschaft etwas in die Schuhe geschoben wird, für Stärkung des Wettbewerbs: Im wirtschaftspoliti- das nicht sie selbst, sondern die Politik die Verant- schen Handeln muss langfristig wieder das Leit- wortung trägt. Die Marktwirtschaft ist nicht das bild eines freien, unverfälschten Wettbewerbs im Zerrbild, das die Feinde der offenen Gesellschaft, Vordergrund stehen. Der Gesundheitsmarkt, der die Gegner des Neoliberalismus von ihr zeichnen. diesen Namen nach Einführung des Gesundheits-

38 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Ein Zehn-Punkte-Programm

fonds weniger denn je verdient, muss unter markt- ben nicht aufgefangen werden können. Die Folge wirtschaftlicher Ordnung neu organisiert werden. ist keine geringere, sondern höhere Arbeitslosig- Wettbewerbliche Strukturen müssen in vielen In- keit. Unsozialer geht es nicht! Die Ausdehnung dustrien geschaffen werden: allen voran in den des Mindestlohns auf das Wach- und Sicherheits- Netzindustrien der leitungsgebundenen Strom- gewerbe, die Entsorgungswirtschaft, die Pflege- und Gasversorgung, der Telekommunikation, der dienste, Großwäschereien und Bergbauspezial- Postdienstleistungen und des Eisenbahnwesens. dienste ist ein Schritt zu mehr Staatseinfluss und Unsere Bundes- und Landesregierungen dürfen weniger Tarifautonomie. Beim Postmindestlohn nicht mehr steuernd in das Wirtschaftsgeschehen werden sogar Monopole gesichert. Deshalb: Die eingreifen. Staatliche Fördermittel an einzelne Möglichkeit der Allgemeinverbindlichkeitserklä- Unternehmen schaffen keinen Wettbewerb, son- rung bei Tarifverträgen ist abzuschaffen. Alles dern politisch konforme Beteiligungs- und Markt- muss getan werden, damit neue Arbeitsplätze ge- strukturen. Das gilt ebenso für eine pauschale Aus- schaffen werden, wie zum Beispiel die Lockerung weitung der politischen Kontrolle über Finanzin- des Kündigungsschutzes oder eine Einschränkung vestitionen im Außenwirtschaftsgesetz: Dies schafft der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. keinen funktionierenden Markt, sondern staatli- che Industriepolitik. Abbau von Subventionen: Staatliche Förderun- gen setzen vielfach Fehlanreize. Sie begünstigen – Staatswirtschaft zurücknehmen und Privatisie- bei hohen Kosten für die Allgemeinheit – eine Er- rungen beschleunigen: Der Bund und seine zeugung von Gütern, für die bei der gegebenen Sondervermögen sind an Hunderten von Unter- Kostenstruktur keine Marktnachfrage besteht. nehmen direkt oder indirekt beteiligt. Noch viel Dies führt lediglich zu Überkapazitäten oder ei- weiter geht die wirtschaftliche Betätigung von Län- nem Übermaß an angebotserweiternden Investi- dern und Kommunen bei Landesbanken, Sparkas- tionen. Staatliche Subventionen halten Unterneh- sen, Messen, Flughäfen, Wasser, Verkehr, Elektri- men am Leben, die nicht wettbewerbsfähig sind. zität, Wohnungsbaugesellschaften oder Kranken- So kann kein Strukturwandel in Deutschland er- häusern. Der Staat wurde immer mehr wirtschaft- folgen. Subventionen müssen daher konsequent lich tätig, er wurde immer mehr zum Unterneh- weiter abgebaut werden und dürfen in Zukunft mer. Verschärft hat sich die Situation zuletzt in der nur mit größter Zurückhaltung gewährt werden – Finanzkrise, als der Staat nicht nur dem Not lei- eben nur dort, wo der Markt versagt: Aus stagnie- denden – systemrelevanten – Bankensektor half, renden Branchen muss ausgestiegen werden, um sondern in Beteiligungen für Not leidende Fir- die produktiven Kräfte in wachstumsstarke Berei- men zu versinken drohte. Damit muss Schluss sein: che zu lenken. Wettbewerb und privatwirtschaftliches Engage- ment müssen zurückkehren. Ein gutes Beispiel wä- Senkung von Steuern: Ob dies kurzfristig in der re ein Fortsetzen des seit 2008 gestoppten Privati- derzeitigen Beschäftigungs- und Schuldensitua- sierungsprozesses der Deutschen Bahn. tion durchführbar ist, bleibt zweifelhaft. Das Wachstum steigt mit einer Steuersenkung sicher- Abbau von Regulierungen und Bürokratismus: lich, doch wie verhält es sich mit den Schulden? In Deutschland herrscht ein viel zu dichtes Regel- Kann Deutschland sich das überhaupt leisten? werk, das vor allem dem Mittelstand schadet. Aber: Nicht jede Steuersenkung führt automatisch Überreguliert ist vor allem der Arbeitsmarkt: Ta- zu einer Schuldenerhöhung. Auch niedrigere rifkartelle, Mindestlöhne, Tarifvorbehalt, Flächen- Steuersätze können zu höheren Einnahmen füh- tarif, Anspruch auf Teilzeit und Ausbau der be- ren – wir erinnern uns an die Schröder’sche Einkom- trieblichen Mitbestimmung. All dies steht für die mensteuersenkung aus dem Jahr 2001 oder an die Verkrustung des Arbeitsmarktes, die es abzubauen Reformen Anfang der 1980er Jahre, als Gerhard gilt. Ziel einer modernen Arbeitsmarktpolitik Stoltenberg und ich Verantwortung trugen. Steuer- muss sein, mehr auf zeitlich begrenzte Hilfen für senkungen sind bei der desolaten Haushaltslage Entlassene zu setzen wie Umschulungen und bes- aktuell sicher nicht möglich. Das Potenzial dafür sere Qualifikationen. Das unterstützt den Wandel muss sich die Politik erst erarbeiten: durch strikte und stärkt das wirtschaftliche Wachstum. Ausgabendisziplin. Aber wichtig ist, dass sich die Politik jetzt zu Steuersenkungen verpflichtet und Stärkung der Tarifautonomie: Geleistete Arbeit sie entsprechende Beschlüsse fasst. Keinesfalls muss angemessen vergütet werden. Ein gesetz- aber darf man in dieser Lage die Steuern erhöhen, licher Mindestlohn führt aber zu Kostensteigerun- auch nicht, um Schulden abzubauen. Jede Steuer - gen im Niedriglohnbereich, die von vielen Betrie- erhöhung hindert das Wachstum der Wirtschaft

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 39 Wirtschaftspolitik national

und erschwert den Schuldenabbau. Außerdem er- Ordnungspolitisches Gewissen laube ich mir eine despektierliche Bemerkung: Keynes hat die Rolle der Politik falsch eingeschätzt, Wir dürfen gespannt sein, was in dieser Legislatur- die gern Schulden macht, aber ungern zurück- periode passiert. Die Bevölkerung wird einsehen zahlt. Wer der Politik den Weg zur Steuererhö- müssen, dass es nicht so weitergehen kann wie bis- hung eröffnet, verschließt den Weg zum Schul- her. Dies ist unbequem und risikoreich, aber un- denabbau durch Ausgabenkürzung. Politiker ge- vermeidbar. Ansonsten riskieren wir mit struktur- ben gern Geld aus, und ungern konsolidieren sie konservierenden Maßnahmen nach altem Rezept auf der Ausgabenseite. eine Stagnation von Einkommen, Beschäftigung und Staatseinnahmen sowie sinkende Leistungsfä- Stärkung marktwirtschaftlicher Prinzipien im higkeit des Sozialstaats und eine immer geringere internationalen Finanzsektor: Die Finanzkrise hat Wettbewerbsfähigkeit. Alles andere wäre eine Illu- eine hohe Flexibilität der Notenbanken erforder- sion. Die Zukunft eines rohstoffarmen Landes wie lich gemacht. Die so geschaffene Ausweitung der Deutschland kann nur in der Forschung, in Inno- Geldmenge gilt es in den nächsten Monaten zu- vationen und in steigender Arbeitsproduktivität rückzunehmen, damit daraus keine weiteren In- liegen. Nostalgisches Denken geht nicht einher flationspotenziale erwachsen. Ich fürchte, wir ha- mit dem Strukturwandel, ohne den wir keine ben längst wieder eine Inflation in Teilen der Ver- Chance haben auf Wachstum und mehr Wohl- mögenswerte. Der DAX-Anstieg ist gewiss teil- stand für alle. weise auf zu viel Liquidität im Markt zurückzufüh- ren. Der vorherige Staatsinterventionismus dient Wird die neu gewählte Regierung eine Wirt- dem Finanzsektor auf Dauer nicht: Das Finanz- schaftspolitik verfolgen, die von klaren marktwirt- marktstabilisierungsgesetz muss also an die Zeit schaftlichen Orientierungen geleitet ist? Dies wäre nach der Krise angepasst werden. Auch die Mög- eine Wirtschaftspolitik, die der Erhaltung und lichkeit des Bundes, sich in einer stillen Beteili- Stärkung des Wettbewerbs Priorität einräumte, die gung oder sogar als Aktionär an Unternehmen für offene Märkte nach innen und nach außen des Finanzsektors zu beteiligen, muss rückgängig sorgte, die dem Privateigentum und der Vertrags- gemacht werden. freiheit Vorrang einräumte, die wirtschaftliches Handeln verbinden würde mit Verantwortung und Mehr Markt und Eigenverantwortung in den Haftung, die durch solide Finanzen gekennzeich- sozialen Sicherungssystemen: Das auf dem Umla- net wäre, die durch Konsistenz, Stetigkeit und Ver- geprinzip basierende Sozialversicherungssystem ist lässlichkeit geprägt wäre. Sprich: eine Regierung, angesichts des demographischen Wandels – im- die sich zurücknimmt. Spes moritur ultima. – Die mer weniger Beitragszahler müssen für immer Hoffnung stirbt zuletzt. mehr Leistungsempfänger aufkommen – nicht zu- kunftsfähig. Wer das Gegenteil behauptet, macht Gefordert ist vor allem das Bundesministerium für den Menschen etwas vor. Wir brauchen eine kon- Wirtschaft. Es hat darauf zu achten, dass die Re- sequente Einführung von Kapitaldeckungsele- formen vorankommen, in sich stimmig sind und menten in der Gesundheits-, Pflege- und Alters- marktwirtschaftlichen Orientierungen folgen. Es vorsorge, damit ein breiter Kapitalstock aufgebaut hat den Nexus zwischen marktwirtschaftlichem werden kann. Anspruch und wirtschaftspolitischem Handeln herzustellen und durchzusetzen. Dazu braucht das Stärkung von Wirtschaftswissen und Unterneh- Ministerium nicht nur eine überzeugende politi- mergeist: Leider ist marktwirtschaftliches und sche Führung, sondern auch Kompetenz. Zeit- unternehmerisches Denken auf dem Rückzug. Die weise degenerierte seine Zuständigkeit zu einem Zustimmung zu unserer Wirtschaftsordnung ero- Sammelsurium von Gewerbe, Industrie, Energie, diert, die Globalisierung gilt immer noch als Technologie und Handelspolitik. Die traditionelle Schreckgespenst. Dies liegt auch an der mangeln- Funktion des ordnungspolitischen Gewissens, des den Vermittlung von Wirtschaftswissen. Wichtig marktwirtschaftlichen Wächters kann es so nicht ist, das ökonomische Denken junger Menschen zu wahrnehmen. Es darf nicht zum Förderministe- fördern, zu mehr Eigenverantwortung und Risiko - rium degenerieren. Bei den Grundsatzfragen der bereitschaft zu animieren sowie Lust auf unter- Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik sowie bei nehmerisches Handeln und Leistungsbereitschaft Geld und Kredit muss es deshalb die alleinige Zu- zu machen. Ohne diese Eigenschaften wird ständigkeit zurückerhalten – wie zu Zeiten Ludwig Deutschland im globalen wirtschaftlichen Wettbe- Erhards. Dem Verfall des ordnungspolitischen werb zurückfallen. Denkens muss Einhalt geboten werden.

40 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Jahresgutachten des Sachverständigenrates: „Die Zukunft nicht aufs Spiel setzen“

Dr. Peter Westerheide Wirtschaftswissenschaftler im Forschungsbereich „Internationale Finanzmärkte und Finanzmanagement“ am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim

Kernthema des Gutachtens 2009/2010 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Ent- wicklung ist die schwierige Gratwanderung der Geld- und Fiskalpolitik zwischen dem gegenwärtigen expansiven Kurs und der mittelfristig notwendigen Konsolidierung. Weitere Schwerpunkte setzt der Rat mit einer Analyse der Industrie- und Innovationspolitik sowie mit bildungspolitischen Empfehlungen. Das Gutachten ist im Internet abrufbar unter www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de.

Mit einem erwarteten Wachstum von 1,6 Prozent im Jahr 2010 positioniert sich der Sachverständi- Mitglieder des Rates genrat am oberen Ende des gegenwärtigen Prog- nosespektrums. Zu berücksichtigen ist dabei aller- Prof. Dr. Dr. h.c. mult. dings ein erheblicher Überhang aus dem laufen- (Vorsitzender) den Jahr: Selbst wenn das Bruttoinlandsprodukt Prof. Dr. Peter Bofinger (BIP) im kommenden Jahr auf demselben Niveau Prof. Dr. Christoph M. Schmidt wie zum Jahresende 2009 bliebe, würde statistisch Prof. Dr. bereits ein Wachstum von 0,7 Prozentpunkten ge- Prof. Dr. messen. Ursache dafür ist der tiefe Konjunktur- einbruch zu Jahresbeginn und die allmähliche Er- Bauinvestitionen werden nur um rund ein Prozent holung im Jahresverlauf. Aus diesem Grund liegt zunehmen. Die stärksten Impulse kommen hier das jahresdurchschnittliche Bruttoinlandspro- vom öffentlichen Bau (+14,9 Prozent), während dukt – die Referenzgröße für die Berechnung der der Wohnungsbau nur schwach zulegen kann Wachstumsrate – erheblich unter dem Stand am (+0,4 Prozent) und der traditionell der Konjunk- Jahresende. tur nachlaufende Gewerbebau voraussichtlich um 3,1 Prozent schrumpfen wird.

Langsam wieder anziehende Auch der private Konsum wird sich – vor dem Konjunktur 2010 Hintergrund sich verschlechternder Arbeitsmarkt- perspektiven – im nächsten Jahr nicht als Kon- Den höchsten Wachstumsbeitrag liefert mit 0,9 junkturstütze erweisen können: Nachdem die pri- Prozentpunkten der Außenbeitrag. Die Exporte vaten Konsumausgaben im Jahr 2009 – unter an- werden nach ihrem drastischen Einbruch um derem wegen der Abwrackprämie – noch um 0,8 knapp 15 Prozent im laufenden Jahr um voraus- Prozent zulegen konnten, ist für das kommende sichtlich etwas mehr als sechs Prozent im kom- Jahr mit einem schwachen Rückgang um circa 0,1 menden Jahr wachsen. Die etwas weniger kon- Prozent zu rechnen. Wie im Jahr 2009 werden junkturreagiblen Importe, die im laufenden Jahr auch im kommenden Jahr staatliche Ausgaben ei- um neun Prozent einbrachen, werden dagegen im ne wesentliche Konjunkturstütze sein. Der fiskali- kommenden Jahr nur um rund 4,5 Prozent zu- sche Impuls belief sich 2009 auf circa 1,6 Prozent nehmen. Die Ausrüstungsinvestitionen, die im des Bruttoinlandsprodukts, 2010 wird er noch 0,4 Jahr 2009 um mehr als ein Fünftel eingebrochen Prozent ausmachen. sind, werden auch im Jahr 2010 mit 1,5 Prozent voraussichtlich nur verhalten wachsen. Grund da- Die Verbraucherpreise werden im Jahr 2010 nur für sind – neben möglichen Finanzierungsproble- verhalten ansteigen und mit einer jahresdurch- men der Unternehmen – auch Vorzieheffekte auf- schnittlichen Steigerungsrate von 1,2 Prozent grund des Auslaufens degressiver Sonderabschrei- noch weit unterhalb des von der Europäischen bungsmöglichkeiten zum Jahresende. Auch die Zentralbank (EZB) angestrebten Schwellenwertes

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 41 Wirtschaftspolitik national

von knapp weniger als zwei Prozent liegen. Recht zu inflationären Impulsen. Bei wieder anziehen- optimistisch bleibt der Sachverständigenrat für der privater Nachfrage und stark gestiegenen den Arbeitsmarkt. Zwar wird die Zahl der regis- Staatsschulden sei die Lage gleichwohl anders zu trierten Arbeitslosen um rund 533 000 Personen beurteilen. steigen. Mit einem Gesamtvolumen von knapp vier Millionen Personen bleibt die Gesamtzahl der Ar- Aufgrund der Unabhängigkeit der wichtigsten No- beitslosen aber erheblich unter früheren Befürch- tenbanken – der EZB und der US-Notenbank – be- tungen, nach denen erneut die Fünf-Millionen- fürchtet der Rat keine inflationäre Geldpolitik, Schwelle überschritten werden könnte. Nach den auch wenn der politische Druck im Hinblick auf Prognosen des Sachverständigenrates sind vom einen akkommodierenden geldpolitischen Kurs Anstieg der Arbeitslosigkeit nahezu ausschließlich möglicherweise zunehmen wird. Den Notenban- die alten Bundesländer betroffen. Allerdings wei- ken könnte die Konsolidierung aber erheblich er- sen die Sachverständigen auf die erhebliche Unsi- leichtert werden, wenn die Fiskalpolitik die erfor- cherheit der Arbeitsmarktprognosen hin: Im ver- derliche Konsolidierung einleiten würde. Sonst gangenen Jahr habe sich aufgrund höherer Flexi- bestünde die Gefahr eines zunehmenden Zielkon- bilität des Arbeitsmarktes (zum Beispiel Öffnungs- flikts zwischen Wachstum und stabilitätsorientier- klauseln in Tarifverträgen) und wegen des ver- ter Geldpolitik: Die Geldpolitik sähe sich genötigt, stärkten Einsatzes arbeitsmarktpolitischer Instru- die Zinsen zu erhöhen, was die Staatsschuldenpro- mente, insbesondere der Kurzarbeit, der Zu- blematik verschärfen und wirtschaftliches Wachs- sammenhang zwischen Konjunktur und Beschäfti- tum dämpfen, konjunkturpolitische Spielräume gung gelockert: „Es ist nur schwer abzusehen, in verringern sowie Spielräume für Zukunftsinvesti- welchem Umfang Unternehmen das damit ver- tionen in Bildung und Innovationen senken wür- bundene Horten von Arbeitskräften im Jahr 2010 de. „Insgesamt würde es zu einem ‚schlechten beibehalten werden“ (TZ 100). Gleichgewicht‘ mit hohen Zinsen und einer stei- genden Staatsverschuldung bei einem schwachen Die Staatsverschuldung wird im laufenden und im Wirtschaftswachstum kommen“ (TZ 115, zum Teil kommenden Jahr drastisch ansteigen. Ohne Be- fremdzitiert). rücksichtigung der aktuellen Pläne für weitere Steuererleichterungen werden die öffentlichen In die Leistungsfähigkeit des europäischen Stabi- Haushalte im kommenden Jahr mit einem Defizit litäts- und Wachstumspaktes (SWP), der fiskalpoli- von knapp 125 Milliarden Euro abschließen. 2009 tische Disziplin (Erfüllung der Maastricht-Krite- war der negative Finanzierungssaldo mit 72,1 Milli- rien) auch nach dem Eintritt in die Wirtschafts- arden Euro ungefähr halb so groß. Dies wird die und Währungsunion gewährleisten soll, setzt der staatliche Schuldenstandsquote in nur zwei Jahren Rat wenig Vertrauen. Explizit verweist das Gutach- von 65,9 Prozent des BIP im Jahr 2008 auf 75,3 ten auf das Beispiel Griechenlands, dem es „nahe- Prozent im Jahr 2010 nach oben katapultieren. zu über ein ganzes Jahrzehnt hinweg gelungen [sei], eine Neuverschuldung von teilweise deutlich mehr als 3,0 vom Hundert einzugehen, ohne auch Fiskalpolitik auf Entzug setzen nur in die Nähe der Sanktionen des SWP gelangt zu sein“ (TZ 118). Ursache dafür seien Probleme Angesichts dieser Entwicklung mahnt der Sachver- bei der korrekten statistischen Erfassung der ständigenrat eindringlich eine entschlossene Kon- Haushaltslage und eine ausgeprägte Tendenz zu solidierung der Staatsfinanzen an. In engem Zu- kreativer Buchführung. Zudem werden die Konso- sammenhang damit steht eine ausführliche Erör- lidierungsanstrengungen der Mitgliedsländer am terung der geldpolitischen Handlungsmöglichkei- Kriterium der Verringerung des konjunkturunab- ten und -notwendigkeiten. Sowohl der Fiskal- als hängigen strukturellen Defizits beurteilt: ein auch der Geldpolitik stehe eine schwierige Grat- gleichermaßen intransparentes wie mit erheb- wanderung bevor, um allmählich vom bisherigen lichen technischen Schwierigkeiten behaftetes expansiven Kurs auf einen Konsolidierungspfad Verfahren. Angesichts ähnlicher Interessenlagen einzuschwenken. Bislang diente die stark expansi- in vielen großen EU-Staaten bestünde auch aus po- ve Fiskalpolitik nicht nur in Deutschland, sondern litökonomischer Sicht die Gefahr, dass keine Straf- auch in den anderen großen Industrieländern da- maßnahmen gegen Defizitsünder eingeleitet oder zu, fehlende private Nachfrage zu ersetzen und zumindest alle zeitlichen Spielräume ausgenutzt das Finanzsystem zu stabilisieren, um weitere Ver- werden, um Sanktionen so lange wie möglich hi- mögensverluste zu vermeiden. In dieser Situation nauszuzögern. Letztlich seien Strafmaßnahmen in kam es trotz der extrem lockeren Geldpolitik nicht Form von Strafzahlungen auch kontraproduktiv,

42 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Sachverständigenrat

da sie die Lage der Staatsfinanzen weiter ver- umsteuern und die Überschussliquidität aus dem schlechtern würden. Markt nehmen.

Besondere Risiken sieht der Sachverständigenrat Expansiver Kurs der Geldpolitik in der hohen Verschuldung mittel- und osteuropä- schnell umkehrbar ischer Länder. Diese Länder könnten Opfer spe- kulativer Attacken werden, die zu einer Abwer- Aus den genannten Gründen schlägt der Rat vor, tungs- und Schuldenspirale führen könnten. Ein den SWP durch einen zeitlich begrenzten Konsoli- Ausweg wäre eine stärkere Anbindung dieser Län- dierungspakt zu flankieren. Dieses Regelwerk soll- der an den Euro, zum Beispiel im Rahmen des te verbindliche Ausgabenpfade für die beteiligten Wechselkursmechanismus II. Die EZB könnte spe- Länder bis zum Erreichen eines Haushaltsaus- kulative Attacken dann durch Devisenmarktinter- gleichs vorsehen. Zugleich sollte die Steuerpolitik ventionen zugunsten der betroffenen Länder ab- auf der Einnahmeseite festgelegt werden, damit wehren. Probat sei dieses Mittel aber nur, wenn Ausgabenregeln nicht durch Steuerrechtsände- von den entsprechenden Ländern verbindliche rungen unterlaufen werden. Eine solche ausga- Konsolidierungsmaßnahmen eingeleitet würden. benorientierte Konsolidierungspolitik wäre leicht überprüfbar und könnte schneller zu Sanktionen Wie schon in den Vorjahren diskutiert der Rat wie- führen. In diesem Zusammenhang spricht sich der der die Gefahren globaler Ungleichgewichte, in Rat für mögliche Sanktionen in Form von Steuer - diesem Fall das drastische Anwachsen der Dollar- erhöhungen („Schuldensoli“, TZ 128) anstelle von reserven in den asiatischen Schwellenländern. Im Strafzahlungen aus, um die Schuldenproblematik Fall eines zu schnellen Ausstiegs dieser Länder aus nicht noch zu verschärfen. dem Dollar, etwa im Fall zunehmender Inflations- erwartungen wegen der hohen Staatsverschul- Gleichwohl sei es fraglich, ob die europäische Staa- dung in den USA, käme es zu massiven Turbulen- tengemeinschaft die Disziplin aufbringen würde, zen am Devisenmarkt. Es sollten daher nach Mög- sich auf ein entsprechendes Regelwerk festzulegen. lichkeit multilaterale Vereinbarungen getroffen Dies bedürfte einer qualifizierten Mehrheit im Eu- werden, die einem unkoordinierten und über- ropäischen Rat für Wirtschaft und Finanzen, bei ei- stürzten Abbau der US-Dollar-Reserven entgegen- ner Teillösung einer Kooperation von mindestens wirken. acht EU-Mitgliedsländern. Ganz pessimistisch sind die Sachverständigen nicht: „Eine solche Sicht- weise unterschätzt allerdings, dass in der aktuellen Erheblicher Reformbedarf im Finanzsystem Situation auch hohe Anreize für eine verbesserte Koordination bestehen. Für die Mitglieder besteht Nach wie vor bleibt das Finanzsystem eine Groß- der Vorteil eines solchen Ansatzes vor allem darin, baustelle. Auch warnt der Sachverständigenrat vor dass ein glaubhafter Konsolidierungsprozess dazu einer zu optimistischen Beurteilung der aktuellen beitragen kann, dem Aufkommen von Inflationser- Situation: Die noch verbliebenen Belastungen aus wartungen der Marktteilnehmer wirksam ent- toxischen Wertpapieren wie auch die noch für die gegenzutreten“ (TZ 129). Zukunft zu erwartenden Kreditausfälle stellten er- hebliche Risiken dar. Die jüngst wieder deutlich Der Geldpolitik werde der Ausstieg aus dem ex- gestiegenen Erträge der Banken führt der Rat auf pansiven Kurs voraussichtlich leichter fallen als Sonderfaktoren (Erträge aus dem Eigenhandel) der Fiskalpolitik. Die Zentralbanken haben neben zurück, die nicht ohne Weiteres in die Zukunft Zinssenkungen auch qualitative Maßnahmen zur fortgeschrieben werden dürften. Lockerung der Geldpolitik ergriffen, indem sie zum Beispiel vermehrt längerfristige Refinanzie- Detailliert diskutiert das Gutachten den nach wie rungskredite ausgereicht, Aktiva mit schlechter vor bestehenden Reformbedarf, um eine erneute Bonität gegen solche mit hoher Bonität getauscht Krise zu verhindern. Die massiven Stützungsmaß- oder selbst Staatsanleihen erworben haben, um nahmen des Staates hätten die Anreizprobleme im die Anleiherenditen zu senken. Insgesamt werden Bankensektor erheblich verstärkt und den Hand- diese extrem expansiven Maßnahmen der Geldpo- lungsbedarf nochmals vergrößert: „Die wirkliche litik als richtig angesehen, zumal in der aktuellen Herausforderung besteht im Rückzug aus der im- Situation davon (noch) keine inflationären Im- pliziten Absicherung privater Risiken durch die pulse ausgehen. Die Zentralbanken könnten zu- Allgemeinheit“ (TZ 171). Der Rat fordert eine um- mindest in technischer Hinsicht schnell wieder fassende, möglichst international koordinierte

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 43 Wirtschaftspolitik national

Neuregulierung des Finanzsektors. Gleichzeitig Detaillierte Reformvorschläge verdeutlichen die Ausführungen im Gutachten, für das Bankwesen dass trotz aller bisher unternommenen Anstren- gungen bis dahin noch ein weiter Weg zurückzule- Eindringlich warnt der Rat vor der „japanischen gen ist, der darüber hinaus auf wohlorganisierten Krankheit“, die dann drohe, wenn auf eine grund- Widerstand stoßen dürfte: „Wie bei der Finanzpo- legende Restrukturierung des Bankensektors ver- litik werden die Widerstände der Partikularinter- zichtet werde und man dann eine jahrelange essen erheblich und mit an Sicherheit grenzender Unterversorgung der Realwirtschaft mit Kapital in Wahrscheinlichkeit sogar besser organisiert sein“ Kauf nehme. Die sehr ausführlichen Reformvor- (TZ 171). Nicht zuletzt zeigten die deutlich gestie- schläge des Rates konzentrieren sich auf die fol- genen Aktienkurse der Banken, dass das Szenario genden Bereiche: einer umfassenden Neuregulierung mit geringe- ren Ertragspotenzialen in der Öffentlichkeit nicht Reduzierung systemischer Risiken: Große und besonders ernst genommen würde. komplexe Banken mit einer dominanten Markt- stellung, deren Portfolio hochkorreliert mit dem Das Management der Finanzkrise in Deutschland anderer Institute ist und die mit anderen Teilen wird ambivalent beurteilt. Einerseits sei es gelun- des Finanzsektors eng vernetzt sind, können als gen, mit dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz potenziell systemrelevant eingestuft werden. Je sys- und der Einrichtung des Sonderfonds Finanz- temrelevanter diese Unternehmen aber sind, des- marktstabilisierung (SoFFin) Schlimmeres zu ver- to eher können sie damit rechnen, wegen erheb- hindern. Andererseits kritisiert der Rat die bei der licher gesamtwirtschaftlicher Auswirkungen im Stabilisierung der Hypo Real Estate aufgetretenen Krisenfall gerettet zu werden. Daraus resultieren Defizite. Auch die Regelungen des „Gesetzes zur Fehlanreize zu riskantem Verhalten. Diese könn- Fortsetzung der Finanzmarktstabilisierung“, das ten zum Beispiel beseitigt werden, indem auf eu- unter anderem die Einrichtung von Zweckgesell- ropäischer Ebene ein Stabilisierungsfonds einge- schaften für schlechte Bankaktiva (Bad Banks) er- richtet wird, in den Banken in Abhängigkeit von möglicht, werden als unzulänglich angesehen. der Höhe ihrer Verbindlichkeiten und ihrer Sys- Zwar weise das Bad-Bank-Modell der Bundesregie- temrelevanz Beiträge einzahlen. Kernproblem ist rung eine Reihe von Vorzügen auf, da es die Ban- allerdings, den Grad der Systemrelevanz eindeutig ken durch eine zeitliche Verteilung der Risiken und einheitlich zu messen. Hier könnten zunächst entlaste und die Haftung zugleich bei den Banken sogenannte Scoring-Modelle zum Einsatz kom- belasse. Allerdings seien nicht alle rechtlichen Un- men, bevor weiter gehende Verfahren der Mes- sicherheiten hinsichtlich der Bilanzierung der sung systemischer Risiken (Netzwerkanalyse, Va- künftigen Verbindlichkeiten geklärt. Darüber hi- lue-at-Risk-Ansätze) praxisreif sind. Auch für be- naus induziere die Gründung eines Bad-Bank-Mo- stimmte Produktkategorien sollten Maßnahmen dells wegen der damit zutage tretenden künftigen zur Reduzierung der von ihnen ausgehenden sys- Lasten möglicherweise Nachteile bei der Eigenka- temischen Risiken angestrebt werden. So sollten pitalbeschaffung und veranlasse die Banken dazu, zum Beispiel bestimmte Derivate stärker standar- überhöhte Risiken einzugehen. disiert werden und der außerbörsliche Handel stärker reguliert, das heißt auf eine zentrale Mit dem Gesetz sei es darüber hinaus nicht ge- Gegenpartei oder Börsen überführt werden. lungen, eine einheitliche Lösung für die Landes- banken zu schaffen, die nach wie vor über kein Frühzeitige Intervention bei Schieflagen: Die tragfähiges Geschäftsmodell verfügten und be- Bankenaufsicht müsse künftig früher als bisher trächtliche Risiken in den Büchern hätten, zum eingreifen können, wenn klar definierte Schwel- Beispiel in der Schiffsfinanzierung und der Fi- lenwerte überschritten werden und wirtschaftliche nanzierung von Gewerbeimmobilien. Die Lan- Schwierigkeiten einzelner Institute erkennbar wer- desbanken könnten zwar im Rahmen des mit den. Ihr sollte eine breitere Palette an Instrumen- dem Gesetz zur Fortsetzung der Finanzmarktsta- ten zur Verfügung stehen als bisher, die stärker auf bilisierung eingeführten Konsolidierungsbank- eine Stabilisierung und Weiterführung des Ge- modells nicht-strategienotwendige Geschäftsbe- schäftsbetriebs abziele. Besonders wichtig sei dabei reiche abspalten. Ein wesentlicher Konstruk- auch die internationale Koordination, zu der tionsfehler dieses Modells sei aber, dass die Ent- ebenfalls der vorgeschlagene europäische Stabili- scheidung darüber den Eigentümern der Lan- sierungsfonds beitragen könnte. „Ohne interna- desbanken selbst überlassen bleibe. tional abgestimmte Mechanismen … werden sich die jeweiligen Heimatländer immer an ihrem na-

44 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Sachverständigenrat

tionalen Interesse orientieren und die Auswirkun- außergewöhnliche Maßnahmen: „In der Ökono- gen auf andere Länder und Märkte zu wenig ge- mie ist es (manchmal) wie in der Medizin: Bei wichten. Das Resultat ist immer suboptimal, schwerer Krankheit ist die Verabreichung wirksa- manchmal auch katastrophal“ (TZ 226). mer Medizin angezeigt. Ist der Patient hingegen gesund oder nur leicht erkältet, sind starke Medi- Erhöhte Krisenfestigkeit und geringere Prozy- kamente überflüssig und gegebenenfalls schäd- klizität: In diesem Zusammenhang spricht sich der lich“ (TZ 243). Sachverständigenrat bei Vorliegen systemischer Krisen für eine Umwandlung bestimmter Fremd- Der Preis dieses starken konjunkturpolitischen Im- kapitalinstrumente in Eigenkapital aus („contin- pulses ist gleichwohl hoch: „Konsequenz ist aber gent debt conversion“). Außerdem sollten die Li- eine dramatisch steigende Staatsverschuldung, die quiditätsvorschriften für Banken präzisiert und die in den vergangenen Jahren erzielten Konsoli- das Ausmaß der maximal möglichen Fristentrans- dierungsfortschritte zunichte gemacht und die formation vorgeschrieben werden. Konsolidierungspläne für den Bundeshaushalt über den Haufen geworfen hat“ (TZ 253). Ange- Neuregelung der Finanzmarktaufsicht: Flan- sichts der verfassungsrechtlich verankerten Schul- kiert werden sollten neue Regeln durch eine mög- denbremse, nach der bis zum Jahr 2016 auf lichst international koordinierte oder auf suprana- Bundesebene nur noch eine strukturelle Neuver- tionaler Ebene angesiedelte Aufsicht. Ansätze zu schuldung von 0,35 Prozent des BIP erlaubt ist wirklich tragfähigen neuen Lösungen seien hier und auf Länderebene ab 2020 gar keine neuen allerdings kaum zu erkennen: Die bisher eingelei- Schulden mehr gemacht werden dürfen, kommen teten Schritte (Einrichtung eines „Europäischen nun extreme Herausforderungen auf die Politik Ausschusses für Systemrisiken“) seien angesichts zu: „[D]ie Finanzminister in Bund und Ländern des fehlenden Zugangs zu Daten einzelner Institu- sind um ihre geradezu herkulesianische Konsoli- te wenig Erfolg versprechend: „Wieder einmal dierungsaufgabe nicht zu beneiden“ (TZ 266). muss der Eindruck entstehen, dass selbst große Krisen an der mangelnden Bereitschaft, originäre Orientiert man sich am Konsolidierungsziel der Aufsichtskompetenzen auf die supranationale Schuldenbremse, dann errechnet sich bei einer Ebene zu verlagern, nichts ändern“ (TZ 237). Auf angenommenen nominalen Wachstumsrate von nationaler Ebene begrüßt der Sachverständigenrat 3,25 Prozent im Zeitraum von 2010 bis 2016 ein die Ansiedlung der Bankenaufsicht unter dem Konsolidierungsbedarf von 37 Milliarden Euro. Dach der Deutschen Bundesbank, fordert aber, Die dabei unterstellte reale Wachstumsrate des auch, die Versicherungsaufsicht, zumindest soweit Produktionspotenzials von jährlich etwa 1,4 Pro- dies systemrelevante Institute betrifft, dorthin zu zent wird vom Rat noch als optimistisch eingestuft. verlagern. Kurz angesprochen wird auch eine Re- Noch gar nicht in dieser Rechnung enthalten sind form der Einlagensicherung, die von einer „zent- die in den Koalitionsverhandlungen diskutierten ralen Einlagensicherungsbehörde“ (TZ 239) ver- zusätzlichen Steuerentlastungen in Höhe von waltet werden könnte. In diesem Zusammenhang rund 24 Milliarden Euro pro Jahr. bringt der Rat wiederum den schon zuvor disku- tierten europäischen Stabilisierungsfonds, aber Auch wenn der Sachverständigenrat die Schulden- auch eine dauerhafte Etablierung des SoFFin mit bremse selbst als zu ambitioniert ansieht – aus einem entsprechend veränderten Aufgabenfeld wachstumstheoretischer Sicht würde eine Redu- ins Gespräch. zierung auf eine Neuverschuldung in Höhe der staatlichen Investitionen ausreichen –, sei ein kla- rer Konsolidierungskurs nun unabwendbar. Völlig Gewaltige Herausforderungen verfehlt sei die Hoffnung darauf, dass die Konsoli- für die Finanzpolitik dierung allein über künftiges Wachstum gelingen könne. Der Konsolidierungsbedarf würde sich bei Die in den Konjunkturpaketen I und II gegebe- einem um 0,75 Prozentpunkte höheren Wachstum nen zusätzlichen konjunkturellen Impulse in Hö- lediglich um circa ein Drittel reduzieren. Weitere he von 85 Milliarden Euro hält der Sachverständi- Steuersenkungen würden den Konsolidierungsbe- genrat im Großen und Ganzen für angemessen. darf nur noch weiter erhöhen: „Selbst unter güns - Dies solle jedoch keineswegs als Abkehr von sei- tigsten modelltheoretischen Bedingungen beläuft nem üblichen Credo für den Verzicht auf diskre- sich der Selbstfinanzierungsgrad von Lohnsteuer- tionäre Konjunkturpolitik verstanden werden. senkungen auf maximal 50 vom Hundert, mit ei- Außergewöhnliche Situationen erforderten auch nem höheren Wert bei einer Reduzierung der Ka-

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 45 Wirtschaftspolitik national

pitaleinkommensbesteuerung“ (TZ 274). Vor die- besteuerung. Eine Beispielrechnung des Rates sem Hintergrund könnten die in den Koalitions- zeigt, dass im Unternehmen angelegtes Eigenka- verhandlungen in Aussicht gestellten und nicht pital eine Vorsteuerrendite von 8,56 Prozent er- gegenfinanzierten Steuersenkungen nur als unse- zielen muss, um dieselbe Nachsteuerrendite wie riös bezeichnet werden. eine risikolose, mit sechs Prozent verzinste Bank- einlage zu erzielen. Langfristig gehe also kein Weg an Steuererhöhun- gen oder Ausgabensenkungen vorbei. Der Rat Bei der Umsatzsteuer sollte darüber nachgedacht zeigt hier klare Prioritäten auf: Der wachstumspo- werden, die ermäßigten Steuersätze für eine Rei- litisch beste Weg wäre über Ausgabensenkungen he von Gütern abzuschaffen, für deren Begünsti- zu realisieren. Eine gute Orientierungslinie für gung weder positive externe noch verteilungspo- Ausgabenkürzungen im Bundeshaushalt böte das litische Aspekte sprächen. Dazu gehört nach An- von der FDP vorgelegte liberale Sparbuch. Hier sicht des Rates auch die ermäßigte Besteuerung wurde allerdings nach Regierungsantritt die erste des öffentlichen Schienennahverkehrs: „Die er- Maßnahme – die Streichung jeweils einer Staatsse- mäßigte Besteuerung soll die Nahpendler begüns- kretärs-Stelle in den Ministerien – bereits suspen- tigen, die aber schon die Entfernungspauschale diert: „Auf die Umsetzung der restlichen Sparvor- in Anspruch nehmen können. Für eine doppelte schläge darf man gespannt sein“ (TZ 276). und dazu noch selektive Begünstigung besteht kein Grund“ (TZ 297). Sofern Steuererhöhungen erforderlich seien, sol- le aus wachstumsorientierter Sicht eher an der Mehrwertsteuerschraube gedreht werden als an Rentengarantie: Ein schwerer Fehler der Einkommensteuer. Dies berge zwar vertei- lungspolitische Konflikte, sei aber angesichts des Erwartungsgemäß findet sich im aktuellen Gut- ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Lebens- achten deutliche Kritik an der Rentengarantie, die mittel und der Steuerfreiheit für Mieten auch un- 2009 ein eigentlich erforderliches Absinken der ter Verteilungsgesichtspunkten vertretbar. Renten verhindert hat. Die Kopplung der Löhne an die Renten sei damit gelockert worden. Dies sei denjenigen, die die Zahllasten tragen müssten, Reformbedarf im Steuersystem nur schwer zu vermitteln. Darüber hinaus sei auch sehr fraglich, ob die als Ausgleich vorgesehenen Deutliche Kritik übt der Sachverständigenrat an Minderungen künftiger Rentensteigerungen tat- der Reform der Erbschaftsteuer, die er als „rund- sächlich eintreten würden: „Tatsächlich besteht um misslungen“ (TZ 284) bezeichnet. Wenn in wenig Grund zu der Annahme, dass sich zukünfti- der Erbschaftsteuer alle Vermögensarten nicht ge Bundesregierungen bei der Rentenanpassung nur gleich bewertet, sondern auch gleich besteu- weniger opportunistisch verhalten als die Große ert würden, wäre es möglich, die Steuersätze auf- Koalition“ (TZ 305). Dennoch mahnt der Rat kommensneutral erheblich zu senken. Der Illiqui- noch einmal eindringlich an, „bei der Rentenan- dität von Immobilien- und Betriebsvermögen passung bisher ausgesetzte Rentendämpfungen könnte man durch großzügige Stundungsregelun- möglichst schnell nachzuholen und von weiteren gen Rechnung tragen. Keineswegs sollte man da- Aufweichungen bestehender Regelungen abzuse- gegen den Weg unterschiedlicher regionaler Steu- hen“ (TZ 299). ersätze und Freibeträge beschreiten, um das Steu- errecht nicht noch komplizierter zu machen und Nach der ausführlichen Diskussion des Gesund- keine Auswegreaktionen zu induzieren. heitsfonds im letzten Jahresgutachten ist der Ge- sundheitspolitik diesmal nur ein recht kurzer Ab- Auch in der Unternehmensbesteuerung bleiben schnitt gewidmet. Wie schon in den Vorjahren noch wichtige Probleme ungelöst, die gleichwohl dringen die Sachverständigen auf eine weiter ge- auf kurze Sicht vor dem Hintergrund der Konso- hende Abkopplung der Krankenversicherungsbei- lidierungserfordernisse nicht angegangen wer- träge von den Löhnen. Sie fordern zudem aber- den können. Nach wie vor werde risikotragendes, mals die Schaffung eines einheitlichen Versiche- im Unternehmen investiertes Eigenkapital steuer- rungsmarktes, in dem keine Selektion der guten lich zu stark belastet, sowohl im Vergleich zu Risiken in die private und der schlechten Risiken Fremdkapital als auch im Vergleich zu risikolosen in die gesetzliche Krankenversicherung mehr Bankanlagen. Grund sei die unzureichende Inte- möglich ist. Erhebliche Effizienzsteigerungen las- gration der Abgeltungssteuer in die Einkommens- sen sich nach Ansicht des Rates auch auf der Aus-

46 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Sachverständigenrat

gabenseite realisieren: Hier steht unter anderem Sanierung einzuleiten, in Deutschland vergleichs- das Mehrbesitzverbot für Apotheken in der Kritik, weise selten genutzt: „So wurden von 1999 bis 2007 das die Entstehung von Apothekenketten mit ent- bei durchschnittlich 34 000 Unternehmensinsol- sprechenden wettbewerbsfördernden und effi- venzen pro Jahr über den gesamten Zeitraum hin- zienzsteigernden Effekten verhindere. weg nur rund 1 500 Anträge für Insolvenzpläne ge- stellt“ (TZ 326). Dieses Indiz und auch eine inter- Im Hinblick auf die Pflegeversicherung spricht national vergleichende Studie legten nahe, dass an sich der Sachverständigenrat für einen Pauschal- der praktischen Umsetzung des Insolvenzrechts beitrag in einem System ohne Versicherungs- nachgebessert werden könne. pflichtgrenze aus, der notwendige Sozialausgleich solle über das Steuersystem erfolgen. Eine Second- Entschieden lehnt der Rat Hilfen zur Erhaltung best-Lösung zur Verminderung der intergenerati- bestimmter Unternehmen oder Wirtschaftsberei- ven Umverteilung würde in gesplitteten Beträgen che ab: Dazu habe der Staat weder die Entschei- für Rentner und Erwerbstätige bestehen. Auch dungs- noch die Handlungskompetenz. Außer- der vom Rat früher schon ins Spiel gebrachte Um- dem gebe es bei unternehmensspezifischen stieg auf ein vollkommen kapitalgedecktes System Unterstützungsmaßnahmen eine Verzerrung zu- findet wieder Erwähnung: Eine kapitalgedeckte gunsten von Großunternehmen. Angesichts der Ergänzungslösung, wie sie im Koalitionsvertrag größeren Anzahl auf dem Spiel stehender Ar- skizziert ist, wird dagegen nicht befürwortet. beitsplätze schienen politische Rettungsversuche zwar verständlich: „Jedoch kann die Öffentlich- Die Arbeitslosenversicherung schließlich müsse keit jene Arbeitsplätze, die durch den Eingriff bei nachhaltig finanziert werden, um stabile Beiträge Konkurrenten wegfallen, kaum als dessen Konse- im Konjunkturzyklus zu ermöglichen. Ein nach- quenz erkennen“ (TZ 328). Wie der Fall Opel ge- haltiger Beitragssatz für die Arbeitslosenversiche- zeigt habe, mangele es der Politik darüber hinaus rung muss nach Ansicht des Sachverständigenra- offensichtlich auch an der nötigen Professiona- tes über vier Prozent liegen (aktuell 2,8 Prozent). lität, um derartige Verhandlungen möglichst ef- fektiv zu führen.

Orientierungspunkte zur Im Grundsatz fällt das Urteil der Sachverständigen Industrie- und Innovationspolitik über die Wirtschaftspolitik in der aktuellen Krise dennoch recht positiv aus. Zum einen sei zu be- Ein ausführliches Kapitel des diesjährigen Gutach- rücksichtigen, dass viele Entscheidungen unter tens befasst sich – aus gegebenem Anlass – mit der großem Zeitdruck hätten gefällt werden müssen. Rolle des Staates in der Wirtschaft. An den Anfang Bei der Einrichtung des Wirtschaftsfonds Deutsch- seiner Ausführungen stellt der Rat das Postulat der land sei viel dafür getan worden, dass der Wettbe- Wettbewerbsneutralität: Auch wenn – wie in der werb möglichst wenig verzerrt werde: „Letztend- aktuellen schweren Rezession – umfangreiche lich kann die besondere Krisensituation diese di- Stützungsmaßnahmen des Staates unabdingbar rekte Form der Unterstützung von Unternehmen seien, müsse darauf geachtet werden, dass der rechtfertigen, denn in der Güterabwägung mit Wettbewerb nicht verzerrt werde. Krisen müssten dem möglichen Szenario einer weiteren Erosion auch als Chance für eine Beschleunigung des der Wirtschaftsstruktur sind [die] Nachteile [einer Strukturwandels begriffen werden: „Rezessionen direkten Unterstützung von Unternehmen] ver- sind Phasen mit ausgeprägten gesamtwirtschaft- mutlich das geringere Übel“ (TZ 345). Allerdings lichen Wohlfahrtsverlusten, eröffnen aber auch solle das Programm auf jeden Fall zum Jahresende die Chance für Restrukturierung“ (TZ 324). 2010 befristet bleiben.

Die institutionellen Rahmenbedingungen erleich- Wenig Verständnis zeigt das Gremium allerdings terten es dem deutschen Staat, in der Rolle des für eindeutig wettbewerbsverzerrende Maßnah- Unparteiischen zu bleiben: Einerseits würden die men und strukturkonservierende Rettungsversu- Folgen struktureller Umbrüche in Deutschland che, namentlich zugunsten der Autoindustrie. So durch die sozialen Sicherungssysteme abgemil- habe die Abwrackprämie einseitig die Automobil- dert. Zum anderen böte das Insolvenzrecht grund- hersteller begünstigt, anderen Branchen sowie sätzlich die Möglichkeit, überlebensfähige Unter- den Werkstätten und Gebrauchtwagenhändlern nehmen wieder auf Erfolgskurs zu bringen. Aller- dagegen Nachfrage entzogen. Eindeutiges Missfal- dings werde die bereits 1999 geschaffene Möglich- len äußern die Sachverständigen für den Versuch keit, ein Insolvenzplanverfahren mit dem Ziel der der Rettung von Opel: Hier seien einerseits die

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 47 Wirtschaftspolitik national

Verhandlungen wenig professionell geführt wor- funktionierenden Innovationssystems im Zu- den. Andererseits sei der Eingriff als solcher ange- sammenwirken von Bildungsinstitutionen, Hoch- sichts der schon lange bestehenden wirtschaft- schulforschung und Unternehmen herausgearbei- lichen Schwierigkeiten bei Opel und der Überka- tet. Die recht abstrakten Ausführungen zu diesem pazitäten in der Autoindustrie nicht zu rechtferti- Themenkreis münden in Forderungen nach ei- gen. Nach den Kriterien des Deutschlandfonds – nem transparenten Konzept mit konkreten Ziel- wonach nur Unternehmen gefördert werden dür- vorgaben, der Betonung von Wettbewerb und Ei- fen, die erst durch die Krise in ernste Schwierig- genverantwortlichkeit sowie regelmäßiger Evalua- keiten gekommen sind – hätte die Rettung von tion und Befristung von Förderaktivitäten. In der Opel gar nicht erst angegangen werden dürfen. praktischen Umsetzung in Deutschland sieht der Sachverständigenrat Ansatzpunkte sowohl in der Ausführlich befasst sich das Gutachten mit den Bildungspolitik (Schaffung eines ausreichenden Möglichkeiten und Grenzen einer vertikalen na- Angebots an Fachkräften), der Zuwanderungspo- tionalen Industriepolitik, die etwa auf Leitmärkte litik (Ermöglichung qualifizierter Zuwanderung), der Zukunft oder die Förderung von Industrien der Hochschulpolitik (Stärkung der Eigenverant- mit breiter öffentlicher Bedeutung (zum Beispiel wortung), der Stärkung der internationalen Ver- die Energieversorgung) abzielt. Sowohl aus theo- netzung sowie in der Kooperation zwischen Wirt- retischer Sicht (nicht bestimmbare Nettoeffekte, schaft und Forschung. Flankierende Maßnahmen Effizienzverluste wegen der Abschirmung vom des Innovationssystems stellen die finanzielle steu- Wettbewerb) als auch aus praktischer Erfahrung erliche Förderung (Steuergutschriften, Behand- (industriepolitische Förderung in Japan und lung von Verlustvorträgen beim Mantelkauf) und Frankreich) lassen sich keine eindeutigen Argu- die Förderung technologieorientierter Unterneh- mente für vertikale industriepolitische Strategien mensgründungen dar. Letztlich müsse aber auch ableiten. Auch die deutsche Energiepolitik könne für die Innovationspolitik gelten, dass sie immer hier mit Negativbeispielen aufwarten. Dies betrifft wieder selbst überprüft und redefiniert werden einerseits die Förderung des nationalen Steinkoh- müsse: Auch bei der Steuerung des Innovations- lebergbaus, die nach Ansicht des Sachverständi- systems handele es sich um einen Lern- und Ent- genrates weder mit der Sicherung der nationalen deckungsprozess. Energieversorgung noch mit Wettbewerbsvortei- len für die Produzenten von Bergbautechnologie begründet werden kann: „Es ist daher nicht einzu- Bessere Entwicklung am Arbeitsmarkt sehen, dass in Deutschland ein kostenintensiver als erwartet subventionierter Übungsbergbau aufrechterhal- ten wird“ (TZ 371). Aber auch die Förderung der Das arbeitsmarktpolitische Kapitel des Gutach- Solarenergie durch das Energie-Einspeise-Gesetz tens stellt einerseits die Weiterentwicklung der ar- wird massiv kritisiert: So hätten die überhöhten beitsmarktpolitischen Instrumente, andererseits Einspeisevergütungen dazu geführt, dass sich ver- die Bildung und Qualifizierung in den Mittel- altete Technologien (traditionelle Photovoltaikan- punkt. Die weitgehend krisenresistente Entwick- lagen statt neuer Dünnschichttechnologie) länger lung des deutschen Arbeitsmarktes im Jahr 2009 am Markt gehalten hätten und nunmehr die asia- (Rückgang der Erwerbstätigen um lediglich 6 000 tische Konkurrenz die Kostenführerschaft über- Personen, der sozialversicherungspflichtig Be- nommen habe. Auch die geringen klimapoliti- schäftigten um 18 000 Personen, Zunahme der schen Wirkungen und die nur schwer bestimmba- Zahl der Arbeitslosen um 164 000 Personen im ren beschäftigungspolitischen Nettoeffekte könn- Jahresdurchschnitt) sei vor allem auf den Rück- ten die Förderung nicht rechtfertigen. gang der Arbeitszeit pro Beschäftigten und die Inanspruchnahme von Kurzarbeitergeld zurück- zuführen: In einer Modellrechnung kalkuliert Innovationspolitik in der Breite der Rat einen theoretisch möglichen Rückgang statt spezieller Industriepolitik der Anzahl der Arbeitnehmer um rund 2,2 Milli- onen Personen im Jahr 2009, wenn die Unter- Das Gutachten befasst sich ausführlich mit der Ge- nehmen nicht die Arbeitszeit verkürzt und er- staltung eines staatlichen Rahmens zur wettbe- hebliche Senkungen bei der Arbeitsproduktivität werbspolitisch weitgehend neutralen Förderung in Kauf genommen hätten. von Innovationen als Gegenpol zur speziellen, strukturbeeinflussenden Industriepolitik. In die- Im Allgemeinen war der Arbeitsmarkt nach Ein- sem Kontext wird vor allem die Bedeutung eines schätzung des Rates in den Jahren 2006 bis 2008

48 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Sachverständigenrat

durch eine höhere Dynamik gekennzeichnet als in Argument, das die Außergewöhnlichkeit der früheren Jahren, was neben dem konjunkturellen gegenwärtigen Krise verdeutlicht. Aufschwung auch auf eine höhere Arbeitsmarkt- flexibilität zurückgeführt werden könne. Dies ge- Gleichwohl schreibt der Rat der Lohnpolitik für be Anlass für vergleichsweise optimistische Zu- die kommenden Jahre wieder die Orientierung kunftserwartungen: „Insgesamt kann bisher nicht am Produktivitätsfortschritt ins Stammbuch und davon gesprochen werden, dass die Entwicklung fordert sie dazu auf, im Interesse der Beschäfti- auf eine erhebliche Verfestigung des bisher zu ver- gungssteigerung die entstehenden Spielräume für zeichnenden Anstiegs der Arbeitslosigkeit hin- Lohnsteigerungen nicht voll auszuschöpfen. Der weist“ (TZ 418). Vorteil einer zurückhaltenden Lohnpolitik habe sich deutlich in den Erfolgen am Arbeitsmarkt vor Allerdings zeigt das Gutachten auch in der Ar- der Krise gezeigt. Auch in der aktuellen Konjunk- beitsmarktpolitik eine Reihe von alten und neuen turlage dürfe – im Interesse der internationalen Baustellen auf: Anlässlich der Verlängerung der Wettbewerbsfähigkeit – der Grundsatz der pro- Anspruchsberechtigung beim Kurzarbeitergeld in duktivitätsorientierten Lohnpolitik nicht über der aktuellen Krise diskutiert der Rat die Frage, ob Bord geworfen werden. man nicht die Bezugsdauer des Arbeitslosengel- des I von der konjunkturellen Situation abhängig machen sollte. Die Anreizprobleme, die mit der Leitlinien für die Bildungspolitik Verlängerung der Bezugsdauer einhergehen, seien in Rezessionsphasen geringer als in Phasen Einen ausführlichen Abschnitt widmet das dies- wieder anziehender und guter Konjunktur. Eine jährige Gutachten der Bildungspolitik: Ausgangs- solche „atmende“ Politik könne sich durchaus an punkte seiner Überlegungen sind das im interna- objektiven Kriterien, wie zum Beispiel dem Ver- tionalen Vergleich nur mittelmäßige Bildungsnive- hältnis der Anzahl offener Stellen zu den Arbeits- au deutscher Schüler und die Ungleichheit der losen, orientieren. Darüber hinaus wird auch im Verteilung von Bildungschancen. Dies zeigten die aktuellen Gutachten der Vorschlag eines nach Pisa-Tests. Außerdem liege die Abschlussquote im dem Entlassungsverhalten differenzierten Arbeit- Bereich von Universitäten und Hochschulen in- geberbeitrags zur Arbeitslosenversicherung aufge- klusive der Fachschulen und Berufsakademien in bracht. Deutschland mit rund einem Drittel eines Jahr- gangs deutlich unter der durchschnittlichen Hinsichtlich der auch vom Bundesverfassungsge- OECD-Quote (48 Prozent). Zudem verlassen 8,4 richt angestoßenen Neuordnung der arbeits- Prozent eines Jahrgangs jährlich eine allgemein- marktpolitischen Kompetenzen begrüßt der Sach- bildende Schule ohne Abschluss. Die Ungleichheit verständigenrat das im Koalitionsvertrag skizzierte der Bildungschancen äußere sich in den sehr Modell eines kooperativen Jobcenters. Dies biete unterschiedlichen Bildungskarrieren von Kindern die Möglichkeit, die Vorteile beider Träger – der aus Akademikerhaushalten und solchen Kindern, Bundesagentur für Arbeit und der Kommunen – deren Eltern keine Akademiker sind. Besondere gemeinsam zu nutzen. Nachteile hätten Kinder mit Migrationshinter- grund. Obwohl die Lohnpolitik 2009 eigentlich die durch die Produktivitätsentwicklung gegebenen Spiel- Seine Empfehlungen zur Bildungspolitik fasst der räume weit überschritten hat, wird sie nicht mit Sachverständigenrat in folgenden Punkten zusam- der in diesen Fällen sonst üblichen Deutlichkeit men: kritisiert. Zum einen sei die Berechnung des Pro- duktivitätsfortschritts gegenwärtig besonders Die – nach neueren Erkenntnissen für den spä- schwierig, zum zweiten sei ein erheblicher Teil der teren Bildungserfolg eminent wichtige – frühkind- Tariflohnsteigerungen schon vor der Krise verein- liche Bildung solle durch ein erweitertes Betreu- bart worden, und drittens seien die Löhne de facto ungsangebot unterstützt werden. Insbesondere – wegen der Arbeitszeitverkürzungen – in vielen solle das Betreuungsgeld für Eltern, die ihre Kin- Unternehmen gesunken. Darüber hinaus „erwie- der nicht in einer frühkindlichen Bildungsein- sen sich die Lohnerhöhungen als Stütze des priva- richtung betreuen lassen, nochmals auf den Prüf- ten Konsums in der schweren Rezession des Jahres stand gestellt werden. Darüber hinaus solle ein 2009“ (TZ 433) – ein im Arbeitsmarktkapitel des obligatorisches Vorschuljahr eingeführt werden. Sachverständigenrats-Gutachtens ungewöhnliches

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 49 Wirtschaftspolitik national

Der unzureichenden Unterstützung von Kin- dienwunsch allein an der finanziellen Last auf- dern in vielen Familien solle durch ein erweitertes grund von Studienbeiträgen und anderen Ausga- Angebot von Ganztagsschulen Rechnung getragen ben für ein Studium scheiter[n]“ (TZ 464), was werden. durch Studienkredite auch gewährleistet werden könne. Man könne auch darüber nachdenken, Die bisher vierjährige Grundschulzeit solle ge- Studienbeiträge und die zusätzlichen nicht-kon- nerell – wie zum Beispiel schon in Berlin – auf sumtiven Aufwendungen für ein Studium später sechs Jahre ausgedehnt, die Schulzeit in der Se- wie einen Verlustvortrag bei der Einkommensteu- kundarstufe 1 entsprechend verkürzt werden. er zu berücksichtigen.

Der Wettbewerb zwischen den Schulen sollte in- Abschließend spricht sich der Sachverständi- tensiviert werden. Schulen in privater Trägerschaft genrat für eine stärkere Durchlässigkeit zwischen sollten die gleiche öffentliche Finanzierung erhal- dualer Berufsbildung und Hochschulausbildung ten wie öffentliche Schulen. Der Qualitätskontrolle sowie einen Ausbau der Dualen Hochschulen sollten externe zentrale Prüfungen dienen. (den früheren Berufsakademien) aus.

Der Spezialisierungsgrad der beruflichen Aus- Wie in jedem Jahr schließt das Arbeitsmarktkapitel bildung solle zumindest in den ersten beiden Jah- mit einem Minderheitsvotum des Ratsmitglieds Pe- ren durch die Bildung breiterer Berufsgruppen ter Bofinger, der keine Vorteile einer zurückhalten- zurückgefahren werden. Darüber hinaus sollten den Lohnpolitik erkennen kann und weitere Fle- spezielle Angebote für kompetenzschwache Ju- xibilisierungen der institutionellen Rahmenbedin- gendliche gemacht werden. Auch die Weiterbil- gungen am Arbeitsmarkt ablehnt. Auch der von dung von Arbeitnehmern im Sinne eines lebens- der Ratsmehrheit abermals postulierten Ableh- langen Lernens solle stärker gefördert werden. nung von allgemeinen Mindestlöhnen kann er sich nicht anschließen. Studienbeiträge lehnt Bo- Im Hinblick auf die Hochschulen spricht sich finger mit dem Argument ab, dass diese eher vom der Rat für die allgemeine Erhebung von Studien- Studium abschreckten und dies dem Ziel der Er- gebühren aus. Allerdings dürfe auch „kein Stu- höhung der Studierendenzahlen widerspreche.

50 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Von „Made in China“ zu „Made by China“

Prof. Dr. Wolfgang Klenner Ruhr-Universität Bochum

China hat die Erhöhung seiner technologischen Kompetenz zum zentralen politischen Ziel erklärt. Dem entspricht die Abkehr chinesischer Unternehmen von der Nachahmung fremder Produktionsprozesse hin zur Verwirklichung eigener Ideen.

Der Innovationsabstand zu anderen Industrielän- Grundlagen für Chinas Wirtschaftsdynamik dern ist noch riesig, aber China ist eine ernst zu nehmende Wirtschaftskraft in wichtigen technolo- Die meisten Beobachter haben Chinas Wirt- gischen Bereichen geworden. Hierzu gehören die schaftskraft erst nach Beginn seiner außenwirt- Informationstechnologie, die Elektrotechnik, die schaftlichen Öffnung in den 1980er Jahren wahr- Gen- und Biotechnologie, der Flugzeugbau, die genommen. Die Grundlagen für Chinas Dynamik, Raumfahrttechnik, die Nuklearwirtschaft, die Ma- für seinen Erfindungsgeist und für die Wirt- terialtechnologie, die Fahrzeugtechnologie und schaftsgesinnung wurden jedoch wesentlich frü- die Energietechnik – um nur einige Beispiele zu her gelegt. So gibt es seit Jahrhunderten hochspe- nennen. zialisierte Handwerksbetriebe, die ihre Produkte und Produktionsverfahren über Generationen Staatliche Unternehmen und Forschungsinstitute, hinweg verfeinerten und auf diese Weise für ihre etablierte private Firmen, betriebliche Ausgrün- Produktionstechnik, ihre Qualität und ihr Design dungen staatlicher Forschungsstellen, Start-Ups, eine Art Monopolstellung errangen. Sie bemüh- die von Dritten finanziert und im Management ten sich stets, ihre Marktposition durch ständige unterstützt werden, sowie sonstige im High-Tech- Verbesserungen und – wegen fehlenden Patent- Sektor international übliche Unternehmensfor- schutzes – durch strikte Geheimhaltung zu bewah- men haben Kompetenzen in diesen Bereichen ren. Sie wussten um die wirtschaftliche Bedeutung entwickelt. Weitere Innovationen, die am chinesi- technologischen Wissens und wollten es deshalb schen Markt und am Weltmarkt angeboten wer- mit niemandem teilen. den, sind abzusehen. Somit dürfte sich auch im Fall Chinas die in Industrienationen gehegte Hoff- Chinas Händler verfügen zudem seit Jahrhunder- nung zerschlagen, Blaupausen für weniger indus- ten über landesweite Handelsnetze, die sie rasch trialisierte Volkswirtschaften entwickeln zu können und flexibel genutzt haben, um von regionalen und diese Länder als verlängerte Werkbank zu Unterschieden zu profitieren. Sie bauten indus- nutzen. trielle Produktionskapazitäten in den Küstenre- gionen und entlang der großen Flüsse auf. Dort Der Begriff Innovation ist weit gefasst. Hierunter entstanden zum Teil gewaltige Manufakturen, fallen zum Beispiel die gentechnologischen Erfol- manchmal in Kooperation mit dem Staat. In die- ge Chinas bei der Züchtung und Verbreitung neu- sen Fällen stellten Landesbeamte und Provinzfürs - er Baumwoll- und Reissorten, aber auch Einzelfäl- ten Kapital zur Verfügung und boten „Schutz“ – ei- le wie die Entsendung eines Mitarbeiters eines fa- ne Konstellation, die auch zurzeit nicht unge- miliengeführten Schuhbetriebs nach Italien, der wöhnlich ist. Die Marktkräfte fanden aber nicht dort einen maroden Schuhbetrieb aufkaufte und die für ihre Entfaltung und die Steigerung der ge- später Millionen in China hergestellter Schuhe sellschaftlichen Wohlfahrt notwendigen stabilen mit italienischem Label in der Europäischen Rahmenbedingungen. Trotzdem prägten sie wich- Union vermarktete. tige Elemente der Wirtschaftsgesinnung, die in China heute verstärkt zur Geltung kommen.

Stabile Rahmenbedingungen wurden erst nach Gründung der Volksrepublik geschaffen, aller-

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 51 Wirtschaftspolitik international

dings nicht für Marktkräfte, sondern für Pla- Manche Elemente sind zum Teil für die derzeitige nungsprozesse. An die Stelle selbstverantwortlich Entwicklung von Bedeutung. wirtschaftender Unternehmer traten an die Spitze von Betrieben Kader, die von der Politik und Wirt- Die Kulturrevolution war mit Chaos und persön- schaftsverwaltung definierte, an langfristigen und lichen Demütigungen verbunden, entwicklungs- gesamtwirtschaftlich orientierten Zielen ausge- politisch aber durch einige bemerkenswerte An- richtete Planvorgaben durchzusetzen hatten. Das sätze gekennzeichnet. China beendete das Pla- sowjetische „Innovations- und Imitationssystem“ nungssystem, in dessen Rahmen nur das Faktor- wurde übernommen, in dessen Rahmen in staat- aufkommen und der Güterbedarf zum Ausgleich lichen Forschungsstellen und Entwicklungsabtei- gebracht sowie aus Sicht der Gruppe um Mao Ze- lungen ausgewählter größerer staatlicher Betriebe dong jegliche wirtschaftliche Dynamik auf betrieb- Innovationen entwickelt und auf staatliche Anord- licher Ebene erstickt wurde. Hierzu wurde ein gro- nung hin in bestimmten Betrieben durchgesetzt ßer Teil der zentralisierten Wirtschaftsverwaltung wurden. Wenn sie sich als erfolgreich erwiesen, zerschlagen, und Betriebe – manchmal sogar die wurden sie zur Imitation weiteren Betrieben über- einzelnen Werkhallen oder noch kleinere Organi- geben. sationseinheiten, die Produktionsgruppen – wur- den zu Motoren für Innovation. Die Sowjetunion hatte auf diese Weise in einzel- nen Bereichen technologische Spitzenleistungen Auch die innerbetrieblichen Leitungsstrukturen erbracht, die allerdings selten sowjetischen Konsu- änderten sich. Vertikale hierarchische Strukturen, menten zugute kamen. China war dagegen in den die über die Leiter von Produktionsgruppen mit 1950er Jahren zur Entwicklung eigener Innovatio- den Werkhallenleitern und der Betriebsführung nen kaum in der Lage. Das Land konzentrierte verbunden waren, wurden abgeschafft. Stattdessen sich auf den Aufbau von in der Sowjetunion entwi- wurden auf allen betrieblichen Ebenen unabhän- ckelten Großprojekten, vor allem im Bereich der gige Kommissionen gegründet, in denen Arbeiter, Schwerindustrie. Hierbei handelte es sich um für Ingenieure und Buchhalter bei der Entwicklung China gewaltige Neuerungen: moderne Technolo- neuer Technologien und Produkte zusammenar- gien, verbunden mit komplexen betrieblichen Ab- beiten sollten. Moderne städtische Großbetriebe läufen, vielfältigen Beschaffungs- und Absatz- entsandten ihre Techniker als Berater in weniger wegen sowie aufwendigen Serviceorganisationen. moderne Betriebe, vor allem auf dem Land, um Zudem bemühte sich China um die Beherrschung dort gemeinsam mit der Belegschaft das technolo- des von der Sowjetunion zur Verfügung gestellten gische Niveau anzuheben. Wissens über die Nukleartechnologie und den Flugzeugbau. Damit einhergehend wurde eine Gleichzeitig sollte der ländliche Bereich industria- große Zahl von Fachleuten ausgebildet, die mit lisiert werden. Hierfür gab die Regierung generel- modernen Technologien vertraut wurden und le industriepolitische Richtlinien vor und keine bald vergleichbare Projekte aufbauen konnten. Sie konkreten Planvorgaben. Im Einzelnen sollten bildeten die personelle Grundlage, von der später von den zu mobilisierenden Bauern neben der ausländische Firmen und chinesische Privatunter- ländlichen Arbeit die sogenannten fünf kleinen nehmen profitierten. Industrien aus „eigener Kraft“ aufgebaut werden: Betriebe zur Herstellung von landwirtschaftlichen Geräten und Maschinen zur Verarbeitung land- Abkehr vom sowjetischen Planungsmodell wirtschaftlicher Produkte, Düngerfabriken, Kohle- bergwerke, Wasserreservoirs und Gülleanlagen Nach einem knappen Jahrzehnt wandte sich Chi- zur Energiegewinnung, Transportbetriebe. So na aus gesellschaftlichen und politischen Gründen wurde ein Großteil der chinesischen Bevölkerung vom sowjetischen Planungsmodell ab. Das Land neben der laufenden Produktion zur Entwicklung vermutete, mithilfe des sowjetischen Planungssys- eigenständiger Innovationen angehalten, wenn tems Entwicklungserfolge erzielen zu können, auch häufig auf niedrigem technologischen Ni- letztlich aber hinter der Sowjetunion zurückzu- veau. bleiben. Es folgten zwei turbulente Jahrzehnte mit wechselnden wirtschaftspolitischen Konzepten. Das Resultat dieses neuen „Innovations- und Imi- Während der sogenannten Kulturrevolution ver- tationssystems“ waren Millionen erfindungsreicher suchte China, ein eigenständiges Wirtschafts- und Kleinbetriebe mit Hunderten von Millionen Be- Entwicklungskonzept zu verwirklichen, das sich schäftigten. Die Betriebe erwiesen sich unter wirt- deutlich von dem der Sowjetunion unterscheidet. schaftlichen Gesichtspunkten insgesamt aber als

52 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) China

Fehlinvestitionen, weil die Investitionen ohne Be- sprach, mit fundamentalen Wirtschaftskrisen ver- rücksichtigung der Kosten durchgeführt worden bunden. Zudem nahm China wahr, dass das Wirt- waren. Die damalige Kooperation zwischen Inge- schaftswachstum in Japan, Südkorea und Singapur nieuren und Arbeitern erinnert an japanische Be- nicht nur den „Kapitalisten“ Vorteile brachte, son- triebsführungssysteme, die wegen ihrer Erfolge dern auch der Bevölkerung zugutekam. Das Land später im westlichen Ausland Beachtung fanden. befasste sich daher intensiver mit den Wirtschafts- Der Unterschied war aber, dass man sich in China systemen marktwirtschaftlich orientierter Volks- nicht um Preise kümmerte. Das ganze Land wurde wirtschaften, zu denen auch die Soziale Marktwirt- zum Experimentierfeld für neue primitive Tech- schaft der Bundesrepublik gehörte. Von ihr wand- nologien. Das führte daher nicht, was im Allge- te man sich aber bald wieder ab. Der Grund war meinen von Innovationsprozessen zu erwarten ist, nicht ein Zuviel von Marktelementen. Stattdessen zu steigender, sondern im Gegenteil zu sinkender wirkten das damals große Gewicht des Staatssek- Produktivität. tors und vor allem der sozial stark abgesicherte Status der Arbeiter abschreckend.

Erstes Interesse am Kapitalismus So fiel der Blick bald auf diejenigen Volkswirt- schaften, in denen Marktkräfte weniger stark sozi- Nach dem Tod Mao Zedongs im Jahr 1976 entfiel al abgefedert waren, wie Südkorea und Singapur. die politische Rückendeckung für derartige Expe- Von Bedeutung war auch, dass sich diese Länder rimente, sodass sie eingestellt wurden. Gesucht vor allem mithilfe ausländischer Technologien wurde nunmehr nach Konzepten, die China in die entwickelt hatten. Es handelte sich um eine Op- Lage versetzen würden, ein von Produktivitätsstei- tion, die für China nach den missglückten Versu- gerungen getragenes wirtschaftliches Wachstum chen der Entwicklung „aus eigener Kraft“ Aktua- zu verwirklichen, das dem Bedarf der Bevölkerung lität gewann. Südkorea wies diesbezüglich – zeit- – und nicht wie während der Planungsphase den versetzt – Erfahrungen mit zwei unterschiedlichen Vorstellungen der Kader und während der Kultur- Konzepten auf. Zunächst hatte es sich am revolution den Wunschvorstellungen politischer „Growth-Cum-Debt-Modell“ orientiert: Der Staat Aktivisten – entsprach. Zunächst versuchten Chi- hatte Auslandskredite aufgenommen, hierfür mo- nas Politiker, durch einen Wiederaufbau der zent- derne Technologien importiert und sie ausge- ralen Wirtschaftsverwaltung die Wirtschaft wieder wählten Unternehmen, in der Regel den größeren in den Griff zu bekommen und unproduktive Be- Betrieben, den sogenannten Chaebols, zur Verfü- triebe zu schließen oder mit größeren Betrieben gung gestellt. So war es möglich, mehr und besse- zusammenzulegen. Hierbei wurden Kostenerwä- re Produkte zu produzieren, die Einkommen zu gungen angestellt, jedoch nicht auf der Basis von erhöhen, zusätzliche Ersparnisse zu bilden und Marktpreisen, sondern von Planpreisen. mithilfe von zusätzlichen Exporten die für die Rückzahlung der Schulden erforderlichen Devi- Unter Innovationsgesichtspunkten bedeutete die sen zu erwirtschaften. Entmachtung der Aktivisten der Kulturrevolution erst einmal das Ende weiterer Neuerungen, weil China zeigte zunächst Interesse an diesem Kon- das herkömmliche am Konzept der Sowjetunion zept und begann im kleinen Rahmen, von auslän- ausgerichtete Innovations- und Imitationssystem dischen Banken bereitwillig angebotene Kredite nur rudimentär vorhanden war. Wenn überhaupt, zu akzeptieren und hierfür moderne Technolo- war man bei neuen Vorhaben lediglich in der La- gien einzukaufen. Bald wurde jedoch befürchtet, ge, bereits im Land existierende technische Lö- dass die technologisch rückständigen und trägen sungen einzusetzen. Das veranlasste einen der da- Staatsbetriebe, anders als die ehrgeizigen fami- maligen Kritiker der chinesischen Wirtschaftspoli- liengeführten koreanischen Chaebols, nicht wil- tik, Sun Yefang, Chinas Wirtschaftsaufbau als „Ver- lens oder zumindest nicht in der Lage sein wür- doppelung von Antiquitäten“ zu charakterisieren. den, die kreditfinanzierten neuen Technologien wirtschaftlich zu nutzen. Befürchtet wurde, dass Die Dynamik marktwirtschaftlicher Systeme war sich China immer mehr verschuldete, ohne seine damals für einen sehr kleinen Teil der chinesi- Produktion und seine Exporte auszuweiten. Es schen Wirtschaftsführung sicherlich attraktiv, zu- hätte dann sehr bald seine Kreditverpflichtungen mal in den westlichen Ländern über mehrere nicht mehr erfüllen können. Jahrzehnte hinweg ein relativ stetiges Wachstum zu beobachten war. Der Kapitalismus wurde daher nicht mehr, wie es dem marxistischen Denken ent-

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 53 Wirtschaftspolitik international

Anwerbung ausländischer Investoren männische Unterlagen einzureichen. Sie wurden von den Behörden unter anderem daraufhin über- Daher richtete man den Blick auf ein Konzept, das prüft, ob die eingebrachten Anlagen hinreichend Südkorea neuerdings sowie Singapur, Thailand modernes Know-how verkörperten. In welchem und Malaysia bereits seit mehreren Jahren verfolg- Umfang die eingereichten Blaupausen auch kon- ten: die Akzeptanz und Anwerbung ausländischer kurrierenden chinesischen Unternehmen zur Ver- Direktinvestitionen in Form von Joint Ventures fügung gestellt wurden, ist schwer abzuschätzen. und hundertprozentigen ausländischen Töchtern. Einige ausländische Investoren sind der Ansicht, Attraktiv an diesem Ansatz war, dass man neben dass ihre technologischen Konzepte bereits in die Auslandskapital moderne Technologien, Manage- Hände chinesischer Unternehmen gelangten, be- ment-Know-how und den Zugang zu Auslands- vor sie überhaupt den ersten Spatenstich getan märkten erhielt, verbunden mit der Entschlossen- hatten. heit des ausländischen Investors, ein funktionsfä- higes und profitables Projekt zu verwirklichen. Als Das wäre für China ein sehr kostengünstiger Imi- Gegenleistung verpflichtete sich China, die aus- tationsprozess gewesen, der aber die Gefahr barg, ländischen Unternehmen entsprechend ihrem dass in Zukunft weitere Investoren vor einem En- Kapitalanteil am Gewinn teilhaben zu lassen. gagement in China abgeschreckt würden. Es gab Wenn Projekte misslangen, bestanden, anders als tatsächlich Phasen, in denen bezweifelt wurde, ob beim Growth-cum-debt-Prozess, keine Rückzah- China der richtige Investitionsstandort sei. Damit lungsverpflichtungen. der Erfolg der neuen Entwicklungsstrategie nicht infrage gestellt wurde, bemühte sich China stets, Chinas Wirtschaftspolitiker waren von einem sol- durch Verbesserungen der Investitionsbedingun- chen Ansatz angetan, nicht zuletzt, weil das Land gen und weitere Öffnung des riesigen Binnen- bei ausbleibenden Erfolgen nicht in die Schulden- marktes als Investitionsstandort attraktiv zu blei- falle geriet. Zunächst wagte man nur kleine Schrit- ben. Letztlich wurden daher von ausländischen te. In ausgewählten, wirtschaftlich bisher noch Unternehmen die Chancen eines China-Engage- kaum erschlossenen Gebieten wurden von den ments – hierzu gehörten Niedriglöhne, erfahrene Nachbarregionen abgeschottete sogenannte und zuverlässige Fachkräfte sowie der Zugang zum Sonderwirtschaftszonen ausgewiesen, in denen In- Welt- und Binnenmarkt – größer eingeschätzt als vestoren Steuer- und Zollerleichterungen sowie die Gefahr, ihre technologische Überlegenheit zu Zugang zum Weltmarkt bekamen. Zunächst inves- verlieren. Heute gibt es im Ausland und in China tierten dort vor allem Hongkonger Geschäftsleute, wohl kaum jemanden, der nicht den in Bezug auf die unter Nutzung der Niedriglöhne einfache Pro- Auslandskapital von China gegangenen Weg als er- dukte für den Weltmarkt herstellten. Nachdem folgreich bezeichnen würde. Der große Umfang das Vertrauen in die neue Wirtschaftspolitik der moderner, von Ausländern errichteter Produk- chinesischen Führung gestiegen und die Infra- tionsanlagen, Chinas hohe Exportquote, der hohe struktur verbessert worden war, wurden auch kapi- Anteil in ausländischen Produktionsanlagen her- talintensivere Produktionsbereiche in die Sonder- gestellter Hightech-Produkte an den Exporten so- wirtschaftszonen verlagert. wie die ständig wachsenden Devisenreserven sind deutliche Erfolgsindikatoren. Als die wirtschaftlichen Erfolge der Sonderwirt- schaftszonen unübersehbar wurden, begann man, ausgewählte Industrieregionen in den Großstäd- Technologische Entwicklung ten für ausländische Direktinvestitionen zu öff- in privaten Unternehmen nen. Diese boten ausländischen Investoren Be- schaffungsmöglichkeiten vor Ort und Zugang zum Das auf ausländischen Direktinvestitionen basie- chinesischen Binnenmarkt, wodurch sich China rende Wirtschaftskonzept ist wohl die entschei- einen weiteren Investorenkreis erschloss. Dieser dende – im Ausland fast ausschließlich wahrge- war bereit, hochmoderne kapitalintensive Anlagen nommene – technologische Entwicklungsschiene zu errichten, chinesische Zuliefererbetriebe bei Chinas seit den 1980er Jahren. Daneben gibt es der technischen Modernisierung zu unterstützen zwei weitere in ihrer Bedeutung im Ausland falsch und Fachpersonal auszubilden. eingeschätzte Schienen, auf denen China seinen hochgesteckten technologischen Zielen näher Ausländische Investitionsvorhaben mussten in je- kommt. Sie gewinnen immer mehr Bedeutung, dem Einzelfall bewilligt werden. Hierzu hatten verbinden sich miteinander und werden zusam- Unternehmer detaillierte technische und kauf- men mit ausländischen Direktinvestitionen in Zu-

54 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) China

kunft wohl zu einem deutlichen technologischen an Eliteuniversitäten, wo sie Ingenieurwissenschaf- Schub beitragen. ten oder Betriebswirtschaftslehre studieren, um sich für die Nachfolge zu qualifizieren. Die eine Schiene bilden die technologischen Ent- wicklungen in den privaten chinesischen Unter- Auch kleinere Unternehmen weisen eindrucksvol- nehmen. Privatunternehmen wurden seit den le Geschäftstätigkeiten auf. Hierzu gehören etwa 1980er Jahren geduldet. Bei ihnen handelte es sich die Geschäfte einer Möbelfabrik aus Zhejiang, die zunächst überwiegend um Kleinstbetriebe, die ein- Holz aus Laos und Kambodscha importiert, und, fache Produkte für lokale Märkte erstellten. Bald weil dort die Löhne relativ hoch sind, Tausende machten sich zahlreiche der während der Kultur- Kilometer entfernt in Chinas Westprovinzen pro- revolution gegründeten Betriebe selbständig, die duziert und ihre Produkte an wohlhabende Kon- häufig von ehemaligen Aktivisten auf legale oder il- sumenten in Shanghai und Peking, aber auch in legale Weise in den Griff genommen und später in Italien und Frankreich verkauft. ihr Eigentum überführt wurden. Die Aktivisten wa- ren in der Regel nur wenig gebildet. Sie hatten Verwundern mag, dass diese zweite Schiene in ei- aber ihre Betriebe zusammen mit anderen Bauern ner noch vor Kurzem planwirtschaftlich geführten oder Arbeitern aufgebaut und geführt sowie, wenn Wirtschaft so erfolgreich ist. China unterscheidet auch nicht im marktwirtschaftlichen Umfeld, wich- sich damit von der Sowjetunion, in der Privat- tige unternehmerische Erfahrungen erworben. unternehmen bei technologischen Neuerungen bisher nur eine begrenzte Rolle spielen. Ein Millionen ehemaliger Kollektivbetriebe wurden Grund könnte paradoxerweise in Chinas Kultur- nunmehr auf eigene Rechnung geführt. Sie deck- revolution liegen. In der Sowjetunion war der Pla- ten zunächst vorwiegend den Bedarf der lokalen nungsapparat stets allmächtig und ließ kaum wirt- Bevölkerung, der wegen der vorherigen Mangel- schaftliche „Basisinitiativen“ zu. In China dagegen wirtschaft und damaligen lockeren Geldpolitik konnten Aktivisten wegen der Zerschlagung des außerordentlich groß war. Viele von ihnen wuch- Planungsapparats bereits Führungserfahrungen sen und begannen, benachbarte Regionen zu ver- erwerben, lange bevor man sich zu marktwirt- sorgen, wodurch der Wettbewerb zunahm. Es ent- schaftlichen Reformen entschloss. Insofern könn- standen zahlreiche blühende Unternehmen. Eini- te die Kulturrevolution im Gegensatz zur damals ge Eigner zählen heute zu den chinesischen Milli- verfolgten Absicht zum Aufbau eines von dynami- ardären. In Provinzen wie Zhejiang, südlich von schen Privatunternehmern getragenen modernen Shanghai, ist ihr Anteil an der Gesamtzahl der Be- China beigetragen haben. triebe sehr groß, anders als in Guangdong, Fujian oder Shanghai, wo man stärker auf ausländische Direktinvestitionen setzte. Die Erfolge staatlicher Unternehmen

Die erfolgreichen Unternehmen scheinen zufällig Die dritte Wachstums- und Innovationsschiene bil- die sich später als richtig erweisenden Entschei- det Chinas Staatssektor, dessen Betriebe zuvor die dungen getroffen zu haben. Die Entscheidungen „fortschrittlichste“ Betriebsform repräsentierten. bezogen sich nicht nur auf die Produktionstech- Seit Beginn der Reformen galten Staatsbetriebe als nologie, das Produktionssortiment, die Wahl der Hemmnis des wirtschaftlichen Fortschritts. Weil in Beschaffungs- und Absatzwege sowie die Art der ihnen allerdings der größte Teil der Arbeiter und Kooperation mit ausländischen Partnern, sondern Angestellten beschäftigt war, konnte aus sozial- auch auf die Pflege der komplexen Beziehungen und regionalpolitischen Gründen nicht auf sie ver- zur lokalen sowie zur übergeordneten Verwaltung zichtet werden. Über viele Jahre hinweg wurden und Parteiorganisation. Diese Unternehmen sind ihnen Kredite zu Sonderkonditionen zugeteilt, inzwischen hoch modern und hoch spezialisiert, selbst dann, wenn abzusehen war, dass sie die Kre- produzieren zum Beispiel elektrische Schaltun- dite nie bedienen können würden, weil sie den gen, Bauteile für Motoren sowie Messgeräte und größten Teil zur Zahlung von Löhnen einsetzen beliefern renommierte westliche Unternehmen. mussten. Ihre formal wenig gebildeten Firmengründer ver- fügen über hoch qualifiziertes technisches und Zunächst begannen nur wenige Betriebe, vom kaufmännisches Fachpersonal sowie eindrucksvol- Ausland nahezu unbemerkt, Fortschritte zu erzie- le Forschungs- und Entwicklungsabteilungen, in len. Ihre Manager hatten das zur Verfügung ge- denen an neuen Produkten und Technologien ge- stellte Kapital nicht allein zur Zahlung von Löh- arbeitet wird. Ihre Kinder schicken sie ins Ausland nen genutzt. Sie setzten auch Modernisierungen

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 55 Wirtschaftspolitik international

durch und passten das Produktionsprogramm die ausführlich über Erfolge bei der Umstruktu- dem Marktbedarf an. Inzwischen zählen einige rierung berichtete. von ihnen zu den weltgrößten Unternehmen, die sich nicht nur am chinesischen, sondern auch am Die positive Grundhaltung ist aber auch auf etwas Weltmarkt behaupten. Ein nicht unerheblicher zurückzuführen, das man in China mit dem Teil des Staatssektors ist daher nicht mehr eine Sprichwort „Hühner statt Eier“ beschreibt. Be- volkswirtschaftliche Last, sondern hat seine Stär- dürftigen Personen, genauso wie Unternehmen ken entwickelt und seine weltweite Konkurrenzfä- und Volkswirtschaften, solle man nicht Geschenke higkeit unter Beweis gestellt. machen, da sie diese nur konsumieren würden. Die Beschenkten befänden sich dann bald wieder Wie bei den Privatunternehmen ist es auch bei in derselben miserablen Lage. Stattdessen sollte den Staatsbetrieben schwer, generelle Erfolgsre- man ihnen kreditfinanzierte Produktionsmittel zepte zu finden. Ihre Ausgangssituation war unter- zur Verfügung stellen. Sie wären dann in der Lage, schiedlich. Betriebe aus der Schwerindustrie in ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, und den Industriezentren des Nordostens stießen auf gezwungen, die erhaltenen Mittel wirtschaftlich größere Anpassungsschwierigkeiten als Betriebe einzusetzen, um die Schulden zurückzuzahlen. Ei- der Leichtindustrie. Die Erfolge lassen sich ver- ne solche Haltung erklärt wohl, weshalb Arbeiter mutlich durch drei Ursachen erklären: und Angestellte maroder Staatsbetriebe keine Hil- fe vom Staat forderten und bereit waren, einen Die Manager der Betriebe haben Marktnischen Teil der Finanzmittel zur Unternehmensmoderni- erkannt, die Betriebe modernisiert und umstruk- sierung einzusetzen. turiert. Unterstützt wurden sie durch ein Bündel staatlicher Maßnahmen. Der Staat stellte über vie- Die wirtschaftliche Lage der Staatsbetriebe ist le Jahre Liquidität zur Verfügung, auch wenn kurz- schwer abzuschätzen. Chinesischen Statistiken zu- fristig keine Erfolge erkennbar waren. Gleichzeitig folge tragen sie insgesamt immer noch weniger „härtete“ er die betrieblichen Budgets, das heißt, zum Wachstum bei als ausländische Firmen und er reduzierte die jährlich zur Verfügung gestellten Privatunternehmen, erhalten aber den größten Mittel. Teil der gewährten Kredite. Daher stellt sich die Frage, ob der staatliche Sektor letztlich nicht doch Außerdem erhöhte der Staat den Wettbewerbs- noch zu den massiv subventionierten Problembe- druck durch aktive Wettbewerbspolitik. Viele reichen gehört. Vermutlich kann dies nicht gene- Staatsbetriebe verfügten faktisch über ein regiona- rell verneint werden. Allerdings müssen die statis- les Monopol, weil sich regionale Wirtschaftsver- tischen Angaben hinterfragt werden. Sicherlich ist waltungen gegen Produkte anderer Regionen ab- davon auszugehen, dass die Kreditnehmer die schotteten. Die zentrale Wirtschaftsführung er- Staatsbetriebe sind. Offen ist aber, ob diese Mittel kannte, dass hieraus für Chinas Reformen und nur im Staatssektor investiert werden oder ob Modernisierungsprozesse erhebliche Gefahren re- Staatsbetriebe einen Teil weiterleiten. Denkbar sultieren, und setzte in vielen Branchen durch, sind viele Möglichkeiten. So können sie Produk- dass regionale Behinderungen abgebaut wurden tionsbereiche in private Firmen auslagern und ih- und Betrieben der gesamte chinesische Markt of- nen Finanzmittel zur Verfügung stellen oder sich fen stand. Auf diese Weise wurden der Wettbe- an privaten chinesischen oder von Ausländern ge- werbs- und Innovationsdruck erhöht. führten Unternehmen beteiligen. All das ist nicht unwahrscheinlich, weil die Grenzen zwischen Der dritte Grund lag in der spezifischen Wirt- staatlichen und nicht staatlichen Betrieben immer schaftsgesinnung der Bevölkerung. In den An- undeutlicher werden sowie die breite Diversifizie- fangsjahren der Reformen, als sogar ehemalige rung und Verflechtung von Unternehmensfor- Vorzeigebetriebe zu Transferzahlungsempfängern men seitens der Regierung unterstützt wird. wurden, begann sich im gesamten Land eine pes- simistische Stimmung auszubreiten, die den Re- Das hat die Verflechtung der drei Entwicklungs- formplan hätte nachhaltig beeinträchtigen kön- schienen zur Folge. So kooperieren ausländische nen. Bald aber begann ein wachsender Teil der Unternehmen mit staatlichen Betrieben. Inländi- Bevölkerung, die positiven Auswirkungen der Re- sche und ausländische Unternehmen schließen formen wahrzunehmen und in ihnen eine Chance sich zusammen. Staatliche Betriebe privatisieren für sich zu sehen. Hierzu trug sicherlich die Be- Teilbereiche ihrer Unternehmen. Private chinesi- richterstattung der staatlich gelenkten Presse bei, sche Firmen kooperieren mit staatlichen Unter- nehmen und Forschungsstellen. Staatliche For-

56 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) China

schungsinstitutionen gründen und finanzieren ge nach Renminbi steigen, wodurch deren Außen- von ehemaligen Mitarbeitern geführte private wert zunimmt. Unternehmen. Staatlich und privat geführte Fir- men kooperieren mit Firmen im Ausland, um dort Änderungen im wirtschaftlichen und gesellschaft- zu produzieren und sich ausländische Forschungs- lichen Umfeld dürften sich dagegen dämpfend kapazitäten zu erschließen. Von diesen vielfältigen auswirken. Die derzeitige Wirtschaftsdynamik fin- Möglichkeiten sind Innovationsimpulse zu erwar- det in einer Art Goldgräberstimmung statt. Für ten, die China einen weiteren technologischen diejenigen, die nicht einseitig auf den Gelderwerb Sprung ermöglichen könnten. ausgerichtet sind, wird sie als bedrückend emp- funden. Unternehmen stehen in starker Konkur- renz miteinander, können aber ihr Kapital mit Zukünftige Wirtschaftsentwicklung: Glück und Geschick in wenigen Wirtschaftsperio- Impulse und Probleme den wieder erwirtschaften. Dazu tragen nicht al- lein die niedrigen Löhne bei. Arbeitskräfte kön- Positive Impulse könnten auch aus einer Aufwer- nen jederzeit entlassen werden, nur wenige Ar- tung der chinesischen Währung Renminbi er- beitsschutz- und Arbeitszeitregelungen kommen wachsen. Betriebe wären gezwungen, ihre Produk- zur Anwendung, und Betriebe können jederzeit tivität durch Innovationen und Imitationen zu er- neue Arbeitskräfte finden. Außerdem sind die Ei- höhen, um am Weltmarkt konkurrenzfähig zu gentumsrechte häufig ungeklärt, was von findigen bleiben. Derartige Effekte waren in der Vergan- Bau- und Immobilienunternehmen ausgenutzt genheit in Japan, Südkorea und Singapur zu be- wird. Zudem stoßen Unternehmer bei problemati- obachten. Eine Aufwertung ist nicht nur zu erwar- schen Projekten auf wenig Widerstand, weil es kei- ten, weil sie wegen der zunehmenden Devisenre- ne Bürgerbewegungen gibt. „Modern“ zu sein, ist serven von vielen Handelspartnern gefordert zur Verhaltensmaxime geworden, auch wenn Häu- wird. Auch in China wird kritisiert, dass wegen des serkomplexe, Schnellstraßen und umweltbelasten- niedrigen Außenwerts des Renminbi wertvolle de Vorhaben die Lebensqualität mindern. Die we- Ressourcen an das Ausland verschleudert würden. nigen, die sich dennoch an Verwaltungsbeamte Gefordert wird, die Kaufkraft der eigenen Bevöl- und Parteikader wenden, stellen häufig fest, dass kerung zu erhöhen, statt die Welt mit Billigpro- diese mit den Bauunternehmen und Geschäftsleu- dukten zu versorgen. Weitere Aufwertungsimpulse ten, gegen die sie vorgehen möchten, eng ver- werden sich vermutlich aus der derzeitigen be- flochten sind. grenzten Regionalisierung des Renminbi ergeben. So hat China, das seine Währung schrittweise libe- All das wird längerfristig nicht durchzuhalten ralisieren und internationalisieren will, akzeptiert, sein. Die Folge wird sein, dass innovative Unter- dass sie für ausgewählte Geschäfte in den Nach- nehmer ihre Vorhaben weniger leicht verwirk- barländern, unter anderem in Russland, Kasachs- lichen können. Innovationsprozesse würden ten- tan, der Mongolei, Vietnam, den Philippinen, Ma- denziell gedämpft, letztlich aber vermutlich in ei- laysia, Laos und Kambodscha, Verwendung findet. ne der Gesamtwohlfahrt dienlichere Richtung ge- Dementsprechend wird die ausländische Nachfra- lenkt werden.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 57 Wirtschaftspolitik international

Vereitelt die Finanzkrise die nachhaltige Entwicklung?

Prof. Dr. Gerhard Scherhorn Professor emeritus für Konsumökonomik der Universität Hohenheim, Stuttgart, und Senior Consultant des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie

Die Konferenz der G-20-Staaten in Pittsburgh vom 24. bis 25. September 2009 hat demonstriert, dass die führenden Poli- tiker bestrebt sind, eine weitere Finanzkrise zu verhindern. Doch die erzielte Einigung reicht dafür nicht aus. Die Ursa- chen der Krise liegen tiefer als von den Konferenzteilnehmern bedacht.

Die G-20-Staaten haben beschlossen, die Verwirkli- Wenn die nächste Krise kommt, werden die öf- chung ihrer Einsichten bezüglich der Vermeidung fentlichen Kassen leer sein. Dann wird den Regie- künftiger Krisen teilweise bis 2012 hinauszuschie- rungen nichts anderes übrig bleiben, als unver- ben. Bis dahin wird ein Vorgehen nach dem Motto züglich die Regeln zu ändern. Dafür müssen ferti- „Politics as usual“ wohl dafür sorgen, dass keine ge Pläne in den Schubladen liegen. Und mehr mächtigen Interessen verletzt werden. Unbeque- noch: Die Öffentlichkeit und die politischen Ent- me Notwendigkeiten haben offenbar nur dann ei- scheidungsträger müssen sich auf die Situation ne Chance auf Umsetzung, wenn in der Krise die vorbereiten, indem sie begreifen, dass die Krisen- Leidtragenden aufbegehren, die Verursacher be- ursachen in drei zusammenhängenden Fehlent- troffen um sich blicken und die Gesellschaft Kon- wicklungen liegen: sequenzen fordert. in der Deregulierung des Finanzwesens, die die Doch solche Konsequenzen sind nicht erfolgt. Kei- Übernutzung der Finanzmärkte bewirkt hat; ne einzige „systemrelevante“ Bank ist aufgeteilt worden, manche sind durch Fusion noch größer im Vorrang des Kapitals vor Arbeit und Natur, geworden, der Zusammenschluss anderer – der der die nachhaltige Entwicklung blockiert; deutschen Landesbanken zum Beispiel – wird an- gestrebt. Keine Signale wurden gesetzt, dass die in der Priorisierung des nationalen Eigeninte- Banken die ihnen zur Verfügung gestellten öffent- resses, die das weltwirtschaftliche Gleichgewicht lichen Mittel und zinsgünstigen Zentralbankgel- demoliert. der in Kredite für Investitionen in Klimaschutz, Umweltschutz, erneuerbare Energien, Kreislauf- Alle drei führen zu künftigen Krisen, weil sie die führung von Rohstoffen usw. lenken müssen. Kein Gemeingüter aufzehren, die die Lebens- und Pro- Versuch ist gemacht worden, das Finanzkapital duktionsgrundlagen der Menschheit bilden. Erst selbst an den Aufwendungen zu beteiligen, etwa wenn ihr Zusammenwirken verstanden wird, ist indem man die Immobilienkredite im Ausmaß des auch die nächste Finanzkrise zu verhindern. Preissturzes ermäßigt oder indem man den über- schuldeten Banken einen Passivtausch verordnet hätte, durch den stille Einlagen und nachrangige So wie die Klimakrise durch Übernutzung der Ge- Obligationen in Eigenkapital umgewidmet wor- meingüter fossile Ressourcen und Klimasystem den wären. So sind die Banken nun sicherer denn verursacht wurde, so wurde die Finanzkrise durch je, dass der Staat sie nicht in Konkurs gehen lässt. Übernutzung des Gemeinguts Finanzmärkte ver- Schon ein Jahr nach dem Ausbruch der Krise ist ursacht: von der Betroffenheit nichts mehr zu merken – und das in einer Situation, in der nicht nur die Fi- Eine fossile Ressource wie das Erdöl gehört der nanzmärkte Anlass geben, einen weiteren Zu- ganzen Menschheit, auch wenn sie im Besitz ein- sammenbruch zu befürchten. zelner Firmen oder Staaten ist. Sie als Gemeingut zu behandeln, erfordert, dass in die kreislaufför- mige Wiedergewinnung der Ressource oder in

58 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) G-20-Finanzgipfel

den Ersatz durch erneuerbare Energien reinves- sum hingegen orientierten sich weiter an den bis- tiert wird. Solange das nicht geschieht, werden die herigen hohen Steigerungsraten, sodass das Preis- Kosten, die nicht dem Verursacher in Rechnung niveau stieg. gestellt, sondern auf künftige Nutzer überwälzt werden, das Klimasystem belasten und die Erdöl- Die Stagflation sollte durch Schwächung der Ge- vorräte unwiederbringlich verringern. werkschaften, Aufhebung von Mobilitäts- bzw. Handelsbarrieren und Stimulierung des Finanz- Dasselbe passiert mit den Finanzmärkten. Ihre sektors überwunden werden. Man wollte an die Funktion besteht darin, der realen Wirtschaft die Stelle der gesunkenen Wachstumsraten der Real- Finanzierung von Investitionen und die Begren- wirtschaft ein Wachstum der Finanzwirtschaft set- zung von Risiken so zu vermitteln, dass die Pro- zen, als wäre das Muster des Strukturwandels – duktionsmittel Arbeit, Kapital und Natur optimal wachsende Märkte lösen stagnierende ab oder tre- eingesetzt werden. Spätestens seit der Jahrtau- ten neben sie – auf das Verhältnis von Realwirt- sendwende wurde diese Funktion in ihr Gegen- schaft und Finanzwirtschaft übertragbar. teil verkehrt. Die Liberalisierung des Kapitalver- kehrs hat dazu geführt, dass die Finanzmärkte Anfangs schien das sogar zu gelingen: Im Ver ei- mit dubiosen und intransparenten Schuldver- nigten Königreich und in den USA stieg der Anteil schreibungen überschwemmt wurden, sodass ih- des Finanzsektors am Sozialprodukt von etwa fünf re gesamtwirtschaftliche Funktion außer Kraft ge- Prozent auf 25 bis 30 Prozent – dies aber um den setzt wurde. Preis, dass sich in der Zeit zwischen 1983 und 2001 der Tagesumsatz auf den internationalen Finanz- märkten von 2,3 Milliarden auf 130 Milliarden Die Übernutzung der Finanzmärkte wurde durch Dollar erhöht hat, auf mehr als das 50-fache also. ihre neoliberale Deregulierung nach der Devise Von diesen 130 Milliarden Dollar wurden weniger „Märkte regulieren sich am besten selbst“ ermög- als drei Milliarden gebraucht, um den internatio- licht. In Wahrheit bewirkte die Deregulierung, nalen Handel und die weltweiten Investitionen in dass die Marktregeln von da an am Gewinnstreben den produktiven Sektor abzuwickeln.2 Alles ande- orientiert waren: re waren reine Finanztransaktionen, Spekulatio- nen mit dem Kauf von Unternehmen, Aktien, An- Die Berufung auf „den Markt“ appellierte zwar an leihen, Devisen und Derivaten – Wetten auf die die Vorstellung vom Wettbewerb, der nach den Zukunft also, die aber überwiegend auf Kredit ab- ökonomischen Lehrbüchern die Ressourcen in geschlossen, das heißt durch die nahezu unkont- diejenige Verwendung lenkt, die den Knappheiten rollierte Geldschöpfungsmacht der Banken finan- und Bedürfnissen am effektivsten und effizientes- ziert waren. Diese Aufblähung hat das Finanzkapi- ten Rechnung trägt. Doch de facto wurde nicht tal von der realen Produktion zu weit entfernt; die der marktwirtschaftliche, sondern der kapitalisti- Blase musste platzen. sche Wettbewerb durchgesetzt:1 Die Märkte wer- den nicht durch einen die jeweiligen Anfangsge- winne immer wieder verringernden Wettbewerb, Instrumente der Deregulierung waren die Aufhe- sondern durch Erzwingung hoher Kapitalrenditen bung des Trennbankensystems im Vereinigten Kö- und Ausschüttungen gelenkt. nigreich 1986 und in den USA 1999, die Politik des billigen Geldes in den USA seit 2001, niedrige Die Politik – voran die Regierung unter Margaret Kapitalunterlegungspflichten für Bankkredite, Thatcher im Vereinigten Königreich seit 1979 und Verschonung der Hedgefonds und Private Equity unter Ronald Reagan in den USA seit 1980 – wollte Fonds von der Banken- und Börsenaufsicht, man- so aus der Stagflation (gleichzeitiges Auftreten von gelnde Transparenz neuer Finanzprodukte, feh- Stagnation und Inflation) der 1970er Jahre he- lende Aufsicht über Bankgeschäfte außerhalb der rauskommen. Das Wachstum der Realwirtschaft Bilanz, geduldete Verschiebung von Gewinnen in war nach dem Zweiten Weltkrieg von Wiederauf- Steueroasen:3 bau und Massenwohlstand angetrieben, bis die entwickelten Industriegesellschaften ein Niveau Im Ursprung war die Deregulierung der Finanz- erreicht hatten, auf dem die Sozialprodukte mit märkte Teil einer breiten Revision von Marktre- immer geringerer Rate wuchsen. Löhne und Kon-

2 Vgl. David Harvey, a. a. O., Seite 199. 1 Vgl. David Harvey, Kleine Geschichte des Neoliberalismus, Zürich 3 Vgl. Gerhard Scherhorn, Geld soll dienen, nicht herrschen, Wien 2007; sowie Paul Krugman, Nach Bush, Frankfurt am Main 2008. 2009.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 59 Wirtschaftspolitik international

geln, die noch aus der Vorkriegs- oder Kriegszeit ren und durch strengere Liquiditätsanforderun- stammten und inzwischen als obsolet empfunden gen ergänzt werden. Dies sind Elemente des „Basel wurden, weil sie die Globalisierung von Produk- II Capital Framework“, wie es vom Basel Commit- tion und Handel behinderten. Seit den 1970er tee on Banking Supervision weiterentwickelt wird. Jahren wurde eine Vielzahl von als einschränkend Die Details sollen international harmonisiert wer- empfundenen Regeln für Luftlinien, Lkw-Trans- den, bis 2011 sollen alle größeren Finanzzentren porte, Versorgungsunternehmen, Telekommuni- der G-20 das Regelwerk übernehmen (Text Ziffer kation sowie schließlich das Bank- und Börsenwe- 13) – im Prinzip jedenfalls, denn die Harmonisie- sen geändert. rung der unterschiedlichen Bilanzierungsstan- dards zwischen EU und USA wird wohl bis dahin Die Revision im Ganzen war begründet, hat aber nicht abgeschlossen sein. im Einzelnen wenig bis keine Rücksicht auf das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung genommen, Ferner soll es strenge internationale Regeln für das doch spätestens seit 1992 weltweite Geltung be- Manager-Einkommen und variable Vergütungen anspruchen konnte. Die Lockerung einengender geben, die vom neu eingerichteten Financial Sta- Vorschriften wäre durchaus mit dem Grundsatz bility Board entwickelt werden, der auch ihre Ein- vereinbar gewesen, zugleich die Praxis der Abwäl- haltung überwachen soll. Bonuszahlungen sollen zung privater Kosten auf die Allgemeinheit zu- nicht mehr über Jahre und erfolgsunabhängig ga- rückzuführen. rantiert werden können. Sie sollen nicht vor der vollständigen Abwicklung der belohnten Geschäf- Die Deregulierung der Finanzmärkte hat darüber te gezahlt werden. Sie sollen künftig statt in Bar- hinaus die Maßstäbe des kaufmännischen Anstan- geld eher in Beteiligungen am Unternehmen aus- des unterwandert, indem sie die Grenze zwischen geschüttet werden, in der Höhe begrenzt und in sauberen und unsauberen Finanzgeschäften ver- der Begründung transparent sein, und sie sollen wischte. Die dadurch verursachte Finanzkrise hat von unabhängigen Stellen überprüft und begrenzt die öffentlichen Mittel abgeschöpft, die dringend werden können. Der Financial Stability Board soll an anderer Stelle gebraucht worden wären, um bis März 2010 die Implementierung der neuen den drohenden Klimawandel zu verhindern. Standards verfolgen und gegebenenfalls weitere Maßnahmen vorschlagen (Text Ziffer 13). Den G-20 geht es darum, die besagte Grenze wie- der deutlich zu markieren. Dieses Bekenntnis Auch für die striktere Regelung und Überwa- zieht sich durch das „Leaders’ Statement“, in dem chung des Handels mit Derivaten und verbrieften die Beschlüsse und Absichten der Konferenz in Wertpapieren, die Transaktionen von Hedgefonds Pittsburgh niedergelegt sind:4 Man will „Schwä- und die Praktiken der Rating-Agenturen soll der chen in Regulierung und Überwachung“ beseiti- Board Vorschläge ausarbeiten und den G-20 vor gen, um die Exzesse zu zügeln, die zur Finanzkrise ihrer nächsten Konferenz vorlegen (Text Ziffern geführt haben. Wo „rücksichtsloses Verhalten und 11 und 13). Er hat dafür allgemeine Anweisungen fehlende Verantwortlichkeit“ am Werk waren, da bekommen, die weitgehend offen lassen, mit wel- will man den Finanzinstitutionen nicht erlauben, cher Schärfe der künftige Missbrauch verhindert dieses Verhalten fortzusetzen (Präambel Ziffer 16, werden soll. Regeln für die Behandlung systemre- Text Ziffer 10). levanter Unternehmen soll er bis Ende Oktober 2010 vorschlagen. Im Zentrum der Reform soll die Verpflichtung der Banken stehen, ihre Kredite mit höheren Eigen- kapital-Anteilen zu unterlegen (Präambel Ziffer All das weist in die richtige Richtung, lässt aber so 17). Die G-20 wollen international akzeptierte Re- lange Zeit Spielraum für Einflussnahme und Auf- geln bis Ende 2010 entwickeln und bis 2012 ein- weichung, dass das Ergebnis sehr offen erscheinen führen, um zu verhindern, dass künftig wieder muss: Käufe von Wertpapieren oder Unternehmen zu 50 bis 80 Prozent mit Krediten finanziert werden kön- Helmut Schmidt fordert in dem Zusammenhang zu- nen. Die Kapitalstandards sollen mit der Konjunk- mindest eine „nationale deutsche Gesetzgebung turlage steigen und fallen, mit einem Risiko-Index zum Zwecke einer wirksamen Aufsicht über alle und einer Verschuldungsquote für Finanztransak- Arten von Finanzinstituten und Wertpapieren“.5 tionen innerhalb und außerhalb der Bilanz variie- Dieser Schritt muss in jedem Fall geschehen, weil

4 www.pittsburghsummit.gov 5 Helmut Schmidt, Die Zeit vom 26. November 2009, Seite 21.

60 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) G-20-Finanzgipfel

die nationale Regelung und Kontrolle auch für ei- Und nicht zuletzt könnte die nationale Gesetz- ne internationale Lösung notwendig sein wird – al- gebung Pionierarbeit leisten im Hinblick auf die so warum nicht vorbereitend schon jetzt? Aspekte, die im „Leaders’ Statement“ der G-20 zu wenig berücksichtigt werden. Sie könnte Konse- Das Argument, ein einzelnes Land könne sich quenzen daraus ziehen, dass die Finanzkrise keine einen Alleingang nicht leisten, ist nicht stichhaltig. unabhängige, isoliert zu betrachtende Erschei- Die nationale Gesetzgebung würde sich an den nung ist. Sie hängt mit den ökologischen Krisen von den G-20 formulierten Zielen orientieren, wie dem Klimawandel, der Rohstoffverknappung, auch wenn sie teilweise über sie hinausginge, und der Bodenerosion und Desertifikation, der Überfi- könnte unter dem ausdrücklichen Vorbehalt ste- schung der Weltmeere und dem Artenschwund zu- hen, dass sie an eine spätere internationale Rege- sammen. Und sie ist Ausdruck einer sozialen lung angepasst wird. Sie müsste deshalb solche Re- Schieflage, die sich sowohl in der Zunahme natio- gelungen aussparen, die wirklich nur im interna- naler Einkommensdiskrepanzen auswirkt als auch tionalen Gleichschritt eingeführt werden können. in weltwirtschaftlichen Ungleichgewichten.

Das nationale Vorgehen könnte die deutschen Finanzmärkte vor Intransparenz und hohen Risi- Die Aufblähung des Finanzkapitals geht letztlich ken schützen und auf andere Länder anregend darauf zurück, dass Politik, Wirtschaft und Wirt- wirken. National könnten viele Details erprobt schaftswissenschaft auf den Vorrang des Kapitals werden, die die G-20 noch nicht geklärt haben. gesetzt haben: Reichen die bisher angedachten Regelungen aus, um die Vermögensinflation, die in der Finanzkrise Das Wachstum des Sozialprodukts hat in den ers- zutage trat, zu bekämpfen? Ist es gerechtfertigt, ten Nachkriegsjahrzehnten dem Wiederaufbau aus den Kapitalstandards für die Banken erstklassi- und der Steigerung des allgemeinen Wohlstands ge Staatsanleihen auszunehmen, sodass für diese gedient. In den entwickelten Industrieländern war kein Eigenkapital vorgehalten werden muss? Müs- in den 1970er Jahren beides erreicht, sie hätten sen die Standards nicht auch mit der Größe der sich damit begnügen und in einen anderen Gang Bank zunehmen, damit die systemrelevanten schalten können. Denn damals wurde bereits er- Unternehmen eingehegt werden? Kann es bei der kannt, dass die Lebens- und Produktionsgrundla- Aufhebung des Trennbankensystems bleiben, und gen nicht erhalten werden, wenn das Kapital wei- wenn ja, welche Vorkehrungen können die Invest- ter Vorrang hat, also das Expansionsprivileg behält mentbanker daran hindern, auf beiden Seiten der und deshalb Wirtschaftswachstum erzwingt. Das von ihnen vermittelten Geschäfte zu profitieren? Privileg besteht darin, dass Kapital sich exponen- Wie ist zu erreichen, dass Finanz- und Nachhaltig- tiell vermehren darf, während Arbeit und Natur keits-Ratings nicht das Recht der Meinungsfreiheit gleich bleiben, das heißt sich zyklisch erneuern. für sich in Anspruch nehmen können, sondern daran gemessen werden, wie nachprüfbar, zutref- Mit dem Begriff „Kapital“ kann heute, wohlge- fend und unabhängig sie sind? merkt, nicht mehr nur der Besitz großer Vermö- genswerte gemeint sein, die ein leistungsloses Eine nationale Gesetzgebung wäre eine Grund- Zins- und Dividendeneinkommen abwerfen; er lage für den Ausbau der nationalen Bank- und schließt inzwischen auch die Positionen derjeni- Börsenaufsicht, die in jedem Fall erfolgen muss, gen Anwälte, Ärzte, Künstler, Manager, Politiker, gerade auch wenn eine koordinierende interna- Sportler, Wissenschaftler usw. ein, denen ihre be- tionale Aufsichtsbehörde eingerichtet wird. Der- sondere Leistung oder Bekanntheit ein Spitzen- zeit haben weder die Bundesanstalt für Finanz- einkommen verschafft. Zu denen, die am Expan- dienstleistungsaufsicht noch die Deutsche Bundes- sionsprivileg materiell interessiert sind, gehören bank die Kapazität, die nationalen Banken, Fonds, heute auch viele, die in einem Beschäftigungsver- Agenturen und Finanzprodukte zu überwachen. hältnis stehen und nach früheren Maßstäben eher Allein eine Genehmigungs- und Überwachungs- der „Arbeit“ als dem „Kapital“ zugerechnet wür- pflicht für neue Finanzprodukte, erst recht aber den. So schimmert der alte Gegensatz zwischen die laufende Überprüfung der eingegangenen Ri- Reich und Arm wieder durch die Begriffe Kapital siken und voraussichtlichen Wirkungen – zum Bei- und Arbeit hindurch. spiel bei den Firmenübernahmen der Private Equity Fonds – stellt an sie zusätzliche Anforde- In dieser Interpretation bedeutet das Expansions- rungen, an die man sich schrittweise herantasten privileg, dass die Kapitalvermehrung – die Rendite muss. – zulasten der Arbeit gehen darf, wenn der Anteil

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 61 Wirtschaftspolitik international

der Lohneinkommen sinkt, weil Arbeitsplätze ab- Anteile ärmer werden. Nach dem dritten Armuts- gebaut, Löhne gesenkt, krank machende Arbeits- und Reichtumsbericht der Bundesregierung sind bedingungen nicht verbessert werden; und dass die Einkommen des obersten Zehntels von 2003 sie zulasten der Natur gehen darf, wenn Reinvesti- bis 2006 real um 4,2 Prozent gestiegen, die des tionen in naturgegebene Ressourcen (Gesund- untersten Zehntels jedoch um zwölf Prozent ge- heit, Ökosysteme, Klima, Rohstoffvorräte) unter- sunken. bleiben, sodass diese aufgezehrt werden. So ist der Vorrang – der „Primat“ – des Kapitals gleichbe- deutend mit Bereicherung durch Umverteilung Die Standortkonkurrenz macht die Staaten zu Vehi- nach oben sowie mit Substanzverzehr. keln der Kapitalexpansion, die Währungskonkur- renz führt zu globalen Ungleichgewichten. Auch sie Den Blick dafür hat die rasche Folge ökologischer gehören zu den Ursachen der Finanzkrise: Krisen geöffnet, vom Waldsterben über Ölkrisen und Artenschwund bis zur Klimakrise. Im Jahr Die Deregulierung der Finanzmärkte war mehr als 1962 erschien das Buch „Der stumme Frühling“, ein partielles Versagen bei der Neuordnung des 1972 „Die Grenzen des Wachstums“, 1992 der globalen Wettbewerbs. Sie entsprang dem Vorrang Brundtland-Report, und seit der Konferenz von der Ansprüche des Kapitals an das Sozialprodukt, Rio beansprucht das Konzept von der nachhalti- der die Ansprüche von Natur und Arbeit be- gen Entwicklung den Charakter eines weltum- schneidet. Dass die Deregulierung die Schere zwi- spannenden Ziels. Es fordert die Umkehr von der schen den Einkommen der obersten Schicht sowie Maximierung des Gewinns zulasten der Gemein- denen der mittleren und unteren so weit geöffnet güter hin zur Reinvestition in deren Erhaltung hat, deutet darauf hin, dass die von den G-20 ver- und Kultivierung. kündete Absicht, starkes, nachhaltiges und ausge- glichenes globales Wachstum zu schaffen (Präam- Dem stellte der Neoliberalismus unbeirrt den Pri- bel Ziffer 13), sich in ihr Gegenteil verkehrt, wenn mat des Kapitals entgegen: Das Unternehmen ge- dieses Wachstum einseitig der Kapitalexpansion hört den Kapitaleigentümern, das Management ist dient. Nachhaltige Entwicklung ist nur mit einem ausschließlich auf die Erhaltung und Mehrung ih- Wirtschaftswachstum vereinbar, das ohne Kosten- res Vermögens verpflichtet. Entlohnung der Ar- abwälzung auf die Allgemeinheit erzielt wird. Es beit und Restitution der Natur sind Kosten, und darf weder zulasten der naturge gebenen Lebens- Kosten dürfen zulasten der Gemeingüter redu- und Produktionsgrundlagen gehen, des Naturka- ziert werden. Das wurde in den Jahren der Dere- pitals, noch zulasten der gesellschaftlich gegebe- gulierung zementiert – etwa durch die Schwä- nen Lebens- und Produktionsgrundlagen, des So- chung der Gewerkschaften, Aufhebung von Fi- zialkapitals. Dazu tragen zum Beispiel auch eine nanzmarktkontrollen und Erleichterung der Mo- Gleichheit der Bildungschancen und eine als ge- bilität. In der Konsequenz wuchs das Finanzkapital recht empfundene Partizipation am Einkommens- überproportional in einem dreifachen Sinn: Es lo- erwerb bei. ckerte seine Bindung an die reale Produktion, um sich selbst vervielfachen zu können; es zwang die Die G-20 präzisieren ihre Absicht: Sie wollen zum Realwirtschaft, ihre Gewinne durch vermehrte Ab- Zweck nachhaltigen Wachstums zum Beispiel wälzung von Kosten auf das Natur- und Sozialkapi- Messmethoden entwickeln, mit denen nicht nur tal zu steigern; und es konzentrierte einen immer den „ökologischen Dimensionen der wirtschaft- höheren Anteil des Volkseinkommens bei den ho- lichen Entwicklung“, sondern auch den „sozialen hen Einkommen und großen Vermögen. Dimensionen“ besser Rechnung getragen werden kann (Text Ziffer 5). Doch wollen sie nichts dage- Die Wirtschaft wurde zwar vor einem totalen Zu- gen unternehmen, dass das Finanzkapital seine sammenbruch wie 1929 bewahrt, doch die für die Renditen zunehmend mithilfe des Staates erzielt. Rettung des Finanzkapitals aufgewendeten Mittel Wo die Möglichkeiten der privaten Wirtschaft aus- fehlen bei der Erhaltung von Arbeit und Natur, am gereizt sind, da werden öffentliche Gelder abge- schmerzlichsten bei der Abwendung der Klimakri- schöpft. se. Und die Wirtschaft wird weiter von der Maxi- mierung der Kapitalrendite getrieben. Seit den So wie das Finanzkapital in der Finanzkrise ge- 1970er Jahren steigt die Kapitalquote und steigt schont wurde, wie die Millionen-Boni für Invest- der Anteil der obersten zehn Prozent, noch mehr mentbanker bereits wieder sprudeln dürfen, wie aber des obersten ein Prozent am Volkseinkom- die seit Langem vorgeschlagene Steuer auf Fi- men – sie werden reicher, während die unteren nanztransaktionen im „Leaders’ Statement“ der

62 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) G-20-Finanzgipfel

G-20 nicht auftaucht und ein Austrocknen der rung zu verschulden, die weltweiten Ersparnisse „Steueroasen“ nur allgemein erwähnt wird (Text an sich zu ziehen (weil sie in Direktinvestitionen Ziffer 15), so ist in dem Dokument keine Rede und Dollar-Reserven angelegt werden) und mit davon, dem Prinzip der Besteuerung nach der dem Geld der anderen den eigenen Überkonsum Leistungsfähigkeit wieder mehr Geltung zu ver- zu finanzieren. Seit der Einführung flexibler schaffen. Seit den 1970er Jahren sind die Steuern Wechselkurse 1973 und vor allem seit der ab 2001 auf Kapitalerträge und höchste Einkommen ge- von der US-Notenbank betriebenen Politik des bil- sunken; der Anteil der veranlagten Einkommen- ligen Geldes sind die USA dieser Versuchung in steuer am Steueraufkommen ist seit 1960 von 31 solchem Umfang erlegen, dass ein gravierendes Prozent auf heute zwei Prozent gefallen. Das globales Ungleichgewicht entstanden ist, in dem oberste Hundertstel der Einkommen wurde 2005 „die ärmeren Länder die reicheren finanzieren“.7 im Durchschnitt mit 35 Prozent besteuert zuzüg- lich eines geringen Prozentsatzes an Sozialversi- Auch von diesem Ungleichgewicht ist bei den G-20 cherungen. Ein alleinstehender Geringverdiener nicht die Rede, obwohl es zur Finanzkrise wesent- dagegen zahlte einschließlich Sozialabgaben 47 lich beigetragen hat: Ohne das billige Geld der Prozent. Würden die reicheren zehn Prozent wie- amerikanischen Zentralbank wäre die Immobi- der so besteuert wie 1960, hätte die öffentliche lienblase nicht so groß geworden, dass sie platzen Hand in Deutschland 110 Milliarden Euro mehr musste. Doch Überschuldung und Importüber- Einnahmen pro Jahr.6 Dem steht gegenüber, dass schuss der USA sind das dritte der drei Probleme, für 2009 die Neuverschuldung auf 126 Milliarden die gelöst werden müssen, wenn es nicht zu erneu- Euro geschätzt wird. ten Finanzkrisen kommen soll. Ebenso wie in ei- nem Importüberschuss kann sich die Verfolgung Die Schonung der Reicheren wird damit gerecht- der nationalen Interessen in einem gravierenden fertigt, dass das Kapital ein scheues Reh sei, das Exportüberschuss auswirken, der andere Länder man nicht vergraulen dürfe, weil es sonst zu ande- am Aufbau eigener Industrien hindert und im ei- ren Standorten fliehe. Dass die Regierenden in ei- genen Land die Nachfrage schwächt. nem so lukrativen Standort wie Deutschland ernst- lich darauf hereingefallen sein könnten, ist allzu Die Lösung liegt in einer Reform des Weltwäh- unwahrscheinlich; dass sie zu den Einbläsern des rungssystems, die über die nationalen Währungen Standortarguments einen zu einseitigen Kontakt eine globale stülpt, der die Funktion der Leit- und haben, klingt schon plausibler. Vor allem zeugt es Reservewährung übertragen wird.8 Sie könnte von mangelndem Realitätssinn, denn seit die Völ- vom Weltwährungsfonds verwaltet werden, der da- ker dieser Welt ihre Probleme nur noch gemein- für einst geschaffen wurde. Er würde dafür sorgen, sam lösen können, wird als erstes der Standort- dass nationale Export- und Importüberschüsse zu- wettbewerb zwischen den Staaten kontraproduktiv rückgeführt sowie dennoch auftretende Defizite und dürfte nicht mehr akzeptiert werden, weder aus einem gemeinsamen Reservefonds ausge- als Richtschnur noch als Entschuldigung. glichen werden.

Eine besondere Form des Wettbewerbs zwischen Künftige – und schwerere – Finanzkrisen könnten Staaten ist die Konkurrenz zwischen „härteren“ vermieden werden. Die Beschlüsse der G-20 sind und „weicheren“ Währungen, die sich in der he- hoffentlich ein Anfang auf dem Weg, die Finanz- rausgehobenen Rolle des Leitwährungslandes zu- märkte strikter zu regulieren, die Kapitalexpan- spitzt. Die USA haben seit der Neuordnung des sion auf nachhaltige Entwicklung zu begrenzen so- Weltwährungssystems 1944 auf diese Rolle bestan- wie internationale Ungleichgewichte durch Ein- den, obwohl sich schon damals abzeichnete, dass führung einer Weltwährung einzudämmen. Aber es angemessener wäre, eine Weltwährung sowie ei- hat die Weltgemeinschaft verstanden, dass allen ne sie betreuende und überwachende „Clearing drei Forderungen der Imperativ zugrundeliegt, Union“ einzuführen. Für ein Leitwährungsland ist kein Wachstum mehr zu dulden, das durch die Ab- die Versuchung groß, mehr von der eigenen Wäh- wälzung von Kosten auf die Gemeingüter er- rung in Umlauf zu bringen, als es für die eigenen schlichen wird? Transaktionen braucht, sich in der eigenen Wäh-

7 Harald Schumann/Christiane Grefe, Der globale Countdown, Köln 2008, Seite 131. 8 Vgl. Joseph Stiglitz, Die Chancen der Globalisierung, München 6 Vgl. Gero Jenner, Das Pyramidenspiel, Wien 2008, Seite 29. 2006.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 63 Theoretische Grundlagen

Warum sind Institutionen wichtig? – Zu den Ökonomie-Nobelpreisträgern 2009

Prof. Dr. Martin Kolmar Institut für Finanzwissenschaft und Finanzrecht, Universität St. Gallen

Bedeutende Wissenschaft geht oft einfachen Fragen nach, deren Beantwortung das Verständnis der Wirklichkeit funda- mental bereichert. Ronald Coase, der für seine Arbeiten im Jahr 1991 den Wirtschafts-Nobelpreis erhielt, stellte eine sol- che Frage: Was ist der Unterschied zwischen dem Markt und den Unternehmen? Die diesjährigen Träger des Preises, Eli- nor Ostrom und Oliver Williamson, haben auch solche einfachen Fragen nach der Rolle von Institutionen gestellt, und sie stehen nicht nur in dieser Hinsicht in der Tradition von Coase.

Die zentrale Frage der ökonomischen Forschung nisationsform überlegen ist, muss man die jeweils ist, wie man durch die Organisation des Wirtschaf- spezifischen Transaktionskosten identifizieren, tens das Problem der Knappheit lösen kann. Märk- quantifizieren und miteinander vergleichen. Diese te, Unternehmen und der Staat lassen sich als ide- Überlegung ist der Ausgangspunkt der „neuen Ins- altypische Organisationsweisen der Wirtschaft ver- titutionenökonomik“. stehen; es sind spezifische Regelsysteme, die An- reize schaffen und – mal besser und mal schlech- Elinor Ostrom und Oliver Williamson haben diesen ter – die Knappheit lindern. Anders als im Ordoli- Ausgangspunkt gemein, jedoch entwickelten sie beralismus Deutschlands wurde im neoklassischen ihre Forschungen in jeweils eigene Richtungen. Mainstream der zweiten Hälfte des zwanzigsten Beide stehen stellvertretend für eine Entwicklung, Jahrhunderts die Frage nach der Organisation der die als vertragstheoretische Wende bezeichnet Wirtschaft entweder nicht oder so gestellt, dass die werden kann. Das Hauptaugenmerk liegt dabei Antworten unbrauchbar waren. Idealtypische nicht mehr auf den technologischen Bedingun- Märkte können in der neoklassischen Welt das gen der Produktion, sondern auf den Verträgen Knappheitsproblem weitestgehend lösen. und Regeln, die zur Realisierung möglicher Han- delsgewinne Anwendung finden können. Wenn aber der Marktmechanismus so leistungsfä- hig ist, warum gibt es dann Unternehmen? Konse- quent wäre doch, alle Transaktionen über Märkte Der Markt als effiziente Organisationsform zu organisieren. Die große wissenschaftliche Leis- für den Tausch privater Güter tung von Ronald Coase besteht darin, auf dieses Er- klärungsvakuum aufmerksam gemacht und darauf Im Jahr 1968 veröffentlichte Garrett Hardin einen hingewiesen zu haben, dass man die Frage nach wegweisenden Artikel, in dem er darauf hinwies, der Organisationsweise der Wirtschaft nicht sinn- dass bei sogenannten Allmende-Gütern die dezent- voll stellen kann, wenn man ihre spezifischen Kos- rale Entscheidung über ihre Bereitstellung bzw. ten nicht versteht.1 Die neoklassische Theorie be- Nutzung dazu führt, dass sie zu wenig bereitge- schreibt eine Welt ohne Reibung, doch gerade die stellt bzw. zu stark genutzt werden.2 Ein Blick in Reibung ist der zentrale Erklärungsfaktor. Coase die Tageszeitungen scheint ihm recht zu geben: nennt diese Reibung Transaktionskosten: Kosten, Derzeit werden zum Beispiel die Bestände an die durch die Organisation des Wirtschaftens ent- Thunfisch oder Kabeljau so übernutzt, dass diese stehen. Wenn man verstehen möchte, welche Or- Arten kurz vor der Ausrottung stehen, und zahlrei- ganisationsform der Wirtschaft in Abhängigkeit che Umweltprobleme weisen Elemente der „Tra- von der jeweiligen Situation einer anderen Orga- gödie der Allmende“, also der Gemeindewiese, auf. Wie Jared Diamond auf anschauliche Weise nachge-

1 Vgl. Ronald Coase, The Nature of the Firm, in: Economica 4, 1937, Seiten 386–405; sowie derselbe, The Problem of Social Cost, in: 2 Vgl. Garrett Hardin, The Tragedy of the Commons, in: Science 162, Journal of Law and Economics 3, 1960, Seiten 1–44. 1968, Seiten 1243–1248.

64 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Ökonomie-Nobelpreis

zeichnet hat, gibt es in der Menschheitsgeschichte besitzen, muss er ihm einen für beide Seiten vor- zahlreiche Beispiele für den Zusammenbruch gan- teilhaften Tausch vorschlagen. Wenn alle Tausch- zer Kulturen, die auf ein nicht gelöstes Allmende- partner alle relevanten Informationen haben und Problem zurückgeführt werden können.3 die miteinander geschlossenen Verträge auch durchsetzbar sind, ist zu erwarten, dass die mög- Allmende-Güter sind nach der gängigen Lehr- lichen Handelsgewinne ausgeschöpft werden und buchdefinition Güter, die rivalisierend im Konsum dass sich die Marktteilnehmer auf das Angebot sol- sind, von deren Nutzung aber Dritte nicht ausge- cher Güter spezialisieren, von denen sie sich die schlossen werden können. Ein Beispiel ist Sauer- größten Vorteile versprechen. Ein solcher idealer stoff, der entweder von der einen oder der ande- Markt ist also in der Lage, zwei zentrale Probleme ren Person eingeatmet werden kann. Allerdings ist zu lösen: erstens das Problem, bestehende Güter- es nicht oder nur unter extremem Aufwand mög- mengen effizient auf die Individuen zu verteilen, lich, eine Person vom Einatmen des Sauerstoffs ab- und zweitens das Problem, jedem Individuum die zuhalten. Ähnliche Probleme tauchen bei wan- richtigen Anreize zur Investition und Produktion dernden Fischpopulationen auf. Im Gegensatz da- zu geben. Diese letzte Eigenschaft resultiert daraus, zu gilt bei privaten Gütern ebenfalls die Rivalität dass durch die Institution des Privateigentums je- im Konsum, es ist aber Ausschließbarkeit gegeben. des Individuum sicher sein kann, dass es die Erträ- Beispiele hierfür sind Konsumgüter wie Äpfel ge seiner Investitionen wird realisieren können. oder Autos. Diese Eigenschaften gelten auch, wenn die Markt- Die Eigenschaft der Ausschließbarkeit hat wichtige teilnehmer nur unvollständig informiert sind, zwi- Bedeutung für die Institutionen, die an der Pro- schen ihnen aber hinreichend großer Wettbewerb duktion und der Verteilung von Gütern beteiligt existiert. Wettbewerb ist ein Regulativ zu den po- sind. Zum Beispiel basieren Märkte auf der Garan- tenziellen Vorteilen für Einzelne, die durch Macht- tie des Privateigentums, das die Möglichkeit des positionen aufgrund eines Informationsvor- Ausschlusses voraussetzt. Die Überzeugung, dass sprungs resultieren können. Märkte eine effiziente Institution sind, um private Güter zu produzieren und zu verteilen, ist Teil der Wenn ein Ausschluss von der Nutzung aber nicht ökonomischen Grundüberzeugung und hat seit möglich ist, kann ein Markt nicht funktionieren, da Adam Smiths Metapher von der unsichtbaren Hand die Güter auch ohne Gegenleistung von Dritten des Marktes verschiedene Untermauerungen ge- konsumiert werden können. Dies ist insbesondere funden. So erklärt die allgemeine Gleichgewichts- für Investitionsentscheidungen ein Problem, da die theorie, die in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Investoren nicht sicher sein können, dass sie die Er- Jahrhunderts über weite Strecken prägend für das träge ihrer Investitionen auch genießen können. ökonomische Denken war, die Funktionsweise des Die Nutzung der Allmende ist ein Beispiel für ein Preismechanismus und die damit einhergehende solches Anreizproblem auf Ebene der Investitio- Effizienz des Marktergebnisses.4 Und Friedrich Au- nen: Könnte man die Gemeindewiese nur in einer gust von Hayek hat immer wieder auf die Eigen- Periode zur Fütterung des Viehs nutzen, wäre es ef- schaft des Marktes verwiesen, lokal vorhandene In- fizient, sie vollständig abzuweiden; welche Kühe formationen so zu bündeln, dass die Leistungsfä- wie viel Gras fressen, ist für die Effizienz unerheb- higkeit des Gesamtsystems die Leistungsfähigkeit lich. Ein Problem entsteht erst aus der Tatsache, eines zentral geplanten Systems um ein Vielfaches dass die Weide auch in der nächsten Periode zur übersteigt.5 Fütterung genutzt werden soll. Somit stellt ein Ver- zicht der Nutzung heute eine Investition in die möglichen Erträge der Wiese morgen dar. Die Kos- Übernutzung und Unterangebot ten eines Verzichts auf Nutzung in Form von schlechter ernährtem Vieh oder Zufütterung wer- Auf einem Markt ist es möglich, potenzielle Han- den damit vollständig vom einzelnen Nutzer getra- delsgewinne auszuschöpfen, weil jeder Marktteil- gen, die Erträge fallen aber allen Nutzern zu, so- nehmer das Eigentum aller anderen respektieren dass es einen Anreiz zur Übernutzung gibt. muss. Will er das Gut eines anderen Individuums Genau genommen ist eine Gemeindewiese ein schlechtes Beispiel für ein Allmende-Gut, weil in 3 Vgl. Jared Diamond, Collapse, London 2005. vielen Fällen eine Parzellierung der Wiese und die 4 Siehe etwa Gérard Debreu, Theory of Value, New York 1959. 5 Vgl. Friedrich August von Hayek, Wirtschaftstheorie und Wissen, Einführung von Privateigentum möglich sind, die Tübingen 2007. Allmende also in diesen Fällen zu einem privaten

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 65 Theoretische Grundlagen

Gut wird. Nach der gängigen ökonomischen Leh- Weg ist, Anreizprobleme zu lösen, da die indivi- re würde daher die Lösung des Problems in der duellen und die gesellschaftlichen Anreize zu weit Schaffung von Privateigentum liegen. Da aber Pri- auseinanderfallen. Gemeinschaftseigentum erzeu- vateigentum und funktionierende Märkte nur not- ge selbst eine Form des Allmende-Problems. Wenn wendige, aber nicht hinreichende Bedingungen dies aber so ist, bleibt nur noch die Bereitstellung für eine effiziente Steuerung sind, ist die Erfor- der Gemeinschaftsgüter durch den Staat. Aller- schung alternativer Steuerungsmechanismen von dings gibt es in der Realität zahllose Beispiele des zentraler Bedeutung, um die Vor- und Nachteile gelungenen dezentralen Umgangs mit dem All- alternativer Organisationsweisen des Wirtschaf- mende-Problem, und häufig ist es gerade eine tens besser zu verstehen. Darüber hinaus ist klar, Form des Gemeinschaftseigentums, die ein nach- dass es zahlreiche und gesellschaftlich wichtige haltiges Bewirtschaften ermöglicht. Beispiele für „echte“ Allmende-Güter gibt, sodass das gewonnene Wissen in diesen Bereichen an- Eine der zentralen Leistungen Elinor Ostroms be- wendbar sein kann. Der Begriff Gemeinschaftsgut steht darin, durch viele Studien diese unterschied- soll hier verwendet werden, wenn ein rivalisieren- lichen Mechanismen erfasst und strukturiert zu des Gut gemeint ist, das nicht Privateigentum ist haben, sodass sie in ihrer Systematik verstehbar und nicht durch den Marktmechanismus verteilt werden. So konnte gezeigt werden, dass neben der wird. Die unzureichende Bereitstellung eines riva- individuellen Bereitschaft, freiwillig an der Lösung lisierenden Guts in einer Situation ohne Institu- von Allmende-Problemen mitzuwirken, Institutio- tionen – seien es Märkte oder andere – wird All- nen in einem engeren Sinn eine wichtige, wenn mende-Problem genannt. auch komplexe Rolle spielen. Sie betrifft sowohl die individuelle Motivation als auch die äußeren Anreize. Hierbei erwies sich die vertragstheoreti- Regeln für die Bewirtschaftung sche Wende in der Institutionenökonomik als von Gemeinschaftsgütern fruchtbar, da sie erlaubte, den Fokus auf die mit dem Gemeinschaftseigentum einhergehenden Das Allmende-Problem gibt nur einen theoreti- formellen und informellen Regeln zu legen, de- schen Referenzpunkt an, der aufzeigt, welche nen Mitglieder einer Gruppe unterliegen. Die Ar- „Rückfallposition“ eine Gesellschaft hat, wenn sie beit von Ostrom zeigt auf, dass drei Klassen von Re- keine Institutionen entwickelt, die das stets poten- geln existieren, die bei einer Bewirtschaftung von ziell existierende Anreizproblem lösen. Institutio- Gemeinschaftsgütern zur Anwendung kommen: nen und kooperatives Verhalten existieren daher gedanklich immer vor dem Hintergrund von „Boundary Rules“ geben an, welcher Personen- nichtkooperativem Verhalten. Kooperation, wie kreis in die Gruppe der das Gemeinschaftsgut nut- Jack Hirshleifer es formulierte, entsteht stets im zenden Personen aufgenommen wird. Dabei stellt Schatten des Konflikts.6 An diesem Punkt stellt sich heraus, dass sich die unterschiedlichen Bewirt- sich die zentrale Frage nach den Institutionen, die schaftungsmodelle unterscheiden nach Wohnsitz einer Gesellschaft zur Verfügung stehen, um das oder Mitgliedschaft, persönlichen Attributen wie Allmende-Problem zu lösen. Dabei ist zum einen Alter, ethnische Zugehörigkeit, Kaste, Ausbildung wichtig zu verstehen, welche Mechanismen prinzi- sowie dem Verhältnis zwischen Person und Res- piell zur Verfügung stehen. Zum anderen sind die source (Gewohnheitsrecht durch langfristige Nut- Anwendungsbedingungen dieser Mechanismen zung, Nutzung spezieller Technologien wie dem entscheidend bei der Beantwortung der eher wirt- Netztyp beim Fischen sowie temporärer Rechte schaftspolitisch-normativen Frage, wie man mit durch ein anerkanntes Zuordnungsverfahren). Allmende-Problemen umgehen sollte. „Position Rules“ geben an, welche speziellen Po- Elinor Ostroms Forschung beginnt, wenn man so sitionen zur Überwachung der Bewirtschaftungsre- will, an diesem Punkt.7 Dabei fällt ihr multidiszi- geln geschaffen und wie sie ausgefüllt werden. Da- plinärer Forschungsansatz auf, in dem sie experi- bei ist Überwachung nötig, wenn die Ressource mentelle Methoden mit Fallstudien verknüpft. Un- wertvoll genug ist, gut angeeignet werden kann ter Ökonomen schien klar zu sein, dass Gemein- und hinreichende Größeneffekte der Überwa- schaftseigentum an Gütern kein überzeugender chung existieren. Allerdings scheint in vielen Fäl- len die Funktion der Überwachung eher symbo- 6 Vgl. Jack Hirshleifer, The Dark Side of the Force, Cambridge 2001. lisch zu sein und der Erfolg nicht auf der Aus- 7 Einen guten Überblick über Ostroms Denken geben die Bücher: Eli- nor Ostrom, Governing the Commons, Cambridge 1990, sowie die- übung von Zwangsgewalt zu basieren. Darüber hi- selbe, Understanding Institutional Diversity, New Jersey 2005. naus werden häufig Sanktionsregeln geschaffen,

66 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Ökonomie-Nobelpreis

die von Strafzahlungen über einen teilweisen Ver- Lösungsmodelle sollte keinesfalls unterschätzt lust der Nutzungsrechte bis hin zu Haftstrafen rei- werden, sodass auf den ersten Blick der Rechtferti- chen. gungsdruck auf den einfachen Modellen des Mainstream lastet. Man sollte sich aber die Ant- „Choice Rules“ legen fest, was eine spezifische wort auf diese provokative Frage auch nicht zu ein- Person in einem bestimmten Umweltzustand tun fach machen, wenn es darum geht, aus der Analy- darf, tun kann bzw. nicht tun darf. Die Regeln be- se Ostroms Schlussfolgerungen für derzeitige bzw. stehen fast immer aus zwei Komponenten: einer zukünftige Allmende-Probleme zu ziehen. Zuweisungsregel (gegeben zum Beispiel durch ei- nen Prozentsatz der Gesamtmenge der Ressource, Erstens zeigen die Arbeiten zwar, dass Systeme des einer Menge der Ressource oder einem zeitlichen Gemeinschaftseigentums mit Selbstmanagement bzw. räumlichen Nutzungsrecht) sowie einer Spe- funktionieren, nicht aber, dass sie teilweise besser zifikation eines persönlichen Attributs wie der funktionieren als mit dem Marktmechanismus ge- Landgröße, der vergangenen Nutzung, der Lage paartes Privateigentum. Wenn es sich beim Ge- des Landes oder dem Bedarf der Person, die die meinschaftsgut um ein privates Gut handelt, lohnt Nutzung bestimmen. sich ein Rückgriff auf von Hayek, der betont hat, dass in solchen Fällen gerade Märkte das Problem In der Realität findet sich eine auf den ersten Blick des nur lokal verfügbaren Wissens in den Griff be- überwältigende Vielfalt an Kombinationen dieser kommen. Zweitens legt eine Analyse der Bestim- Regeltypen bei der Bewirtschaftung von Gemein- mungsfaktoren von Kooperation einige Grund- schaftsgütern. Zwischen den beiden extremen Or- pfeiler für das erfolgreiche dezentrale Manage- ganisationsformen der Wirtschaft – Privateigen- ment frei: Kooperation wird erleichtert, wenn die tum in Kombination mit dem Marktmechanismus Vertragspartner wiederholt miteinander interagie- und zentralisierte Regulierung durch staatliche ren und genügend weit in die Zukunft reichende Entscheidungsträger – existiert ein dritter Weg der Interessen haben, wenn die Gruppe relativ klein Lösung von Anreizproblemen: das Selbstmanage- und wenn sie bezüglich ihrer Mitglieder stabil ist. ment innerhalb der Gruppe von Betroffenen, das Darüber hinaus legt die sozialpsychologische For- nicht auf Privateigentum, sondern auf Gemein- schung nahe, dass die Identifikation der Gruppen- schaftseigentum mit spezifischen Regeln basiert. mitglieder miteinander und mit der gemeinsamen Sache die Bereitschaft zur Kooperation erhöht. Diese Organisationsform wurde lange Zeit von Vertretern des ökonomischen Mainstream nicht in Für viele der von Ostrom untersuchten Beispiele Betracht gezogen und spielte auch für die Politik- treffen diese Bedingungen zu, und es ist weitge- beratung – insbesondere in der Entwicklungspoli- hend unstrittig, dass sie auch in kleinräumigen tik – keine Rolle. Ein solches Denken in dezentra- und traditionellen Strukturen, wie der lokalen Be- len Strukturen hat seine geistigen Wurzeln in den wirtschaftung von Wäldern, Bewässerungssyste- Arbeiten zur politischen Ökonomie von James men oder Fischgründen, funktionieren. Dies hat Buchanan sowie den Arbeiten von Hayeks über die wichtige Folgen für die Entwicklungspolitik, den Relevanz lokalen Wissens. Eine wesentliche Leis- Umgang mit dem Subsidiaritätsprinzip und den tung Ostroms ist, die Tatsache ins Bewusstsein ge- föderalen Aufbau von Staaten. Bei den Problemen rückt zu haben, dass dieser dritte Weg in der Praxis wie der Überfischung der Meere oder dem vom vielfach erfolgreich beschritten wird. Menschen verursachten Klimawandel sind diese Bedingungen aber nicht erfüllt, sodass unklar ist, inwieweit das Wissen auf diese Bereiche übertrag- Voraussetzungen von bar ist. Leider handelt es sich in diesen Bereichen Kooperation und Selbstmanagement um echte Allmende-Güter, bei denen der Markt nicht funktionieren kann, sodass wir uns bei ihrer Fraglich ist, ob diese Ergebnisse darauf beruhen, Lösung mit nur sehr dürftigem Kartenmaterial auf dass in den gängigen ökonomischen Theorien we- den Weg machen müssen. sentliche Variablen fehlen, die dafür verantwort- lich sind, dass die Realität nicht erklärt werden kann, oder ob die untersuchten Gesellschaften Was ist der Staat? – noch nicht die Überlegenheit der von Ökonomen Eine differenzierte Betrachtung vorgeschlagenen neuen Organisationsformen ver- standen haben. Die Leistungsfähigkeit der auf Die Arbeiten von Ostrom stellen auch das Verständ- dem Weg der kulturellen Evolution entstandenen nis vom Staat auf die Probe. Wird nach dem Staat

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 67 Theoretische Grundlagen

gerufen, handelt es sich dabei oft um ein nebulö- unterwerfen. Fraglich ist, an welcher Stelle Syste- ses Wesen, das sich gerade aufgrund seiner man- me des Selbstmanagements in die obige Struktur gelnden Fassbarkeit hervorragend für Projektio- eingeordnet werden. Wenn sie innerhalb eines nen eignet. So wird in der Wohlfahrtsökonomik Staatswesens mit einem gefestigten Rechts- und mit der Fiktion eines wohlwollenden Planers gear- Rechtsdurchsetzungssystem (Ebene 2) stattfinden, beitet, eine Annahme, die gerade in der politi- können sie auf die gegebenen Spielregeln zurück- schen Ökonomie kritisiert wird. Im Sinne der ver- greifen und sind damit als Governance-Strukturen tragstheoretischen Wende kann der Staat als ein auf Ebene 3 interpretierbar. Sie lassen sich aber Regelsystem aufgefasst werden, das bestimmte Auf- auch selbst als Schaffung einer institutionellen gabenbereiche schafft, die von den Individuen Umwelt (Ebene 2) verstehen, denn der Staat ist ausgefüllt werden, sei es als Präsident, Minister, Be- ebenfalls ein Selbstmanagement einer Gruppe amter oder staatlicher Angestellter. Um den Be- durch die Schaffung von Regeln. Allerdings tritt griff des Staates besser zu verstehen, ist es nützlich, in dieser Sichtweise stärker als in der ersten Inter- mit Oliver Williamson zwischen vier unterschied- pretation hervor, dass solche Regelsysteme selbst- lichen institutionellen Ebenen der Analyse gesell- durchsetzend sein müssen, da sie nicht auf die schaftlicher Prozesse zu unterscheiden:8 Zwangsgewalt eines vorgelagerten Staates zurück- greifen können. Die Schaffung einer individuel- Gesellschaftliche Einbettung (Ebene 1): Auf len Motivation, die selbstgeschaffenen Regeln ein- dieser Ebene finden sich informelle Institutionen zuhalten, tritt dabei ins Zentrum der Aufmerk- wie Bräuche, Traditionen, Normen und Moral. Sie samkeit. wurden üblicherweise von Ökonomen nicht ins Zentrum der Analyse gerückt, sondern bilden den Hintergrund, vor dem eine Gestaltung von Institu- Unterschiede zwischen tionen erfolgt. Markt und Unternehmen

Institutionelle Umwelt (Ebene 2): Auf dieser Diese Überlegungen bauen eine Brücke zu den Ebene sind die formalen Regeln angesiedelt, zum Arbeiten Oliver Williamsons.9 Sein wesentliches Ver- Beispiel die Verfassung und die untergeordneten dienst liegt in den Beiträgen zur Klärung der Fra- Gesetze einer Gesellschaft. Hier wird etwa auch ge, warum es Unternehmen gibt bzw. was der der föderale Aufbau eines Staates vorgegeben. Unterschied zwischen der Organisationsform Markt und der Organisationsform Unternehmen Governance-Strukturen (Ebene 3): Hier sind ist. Seine Arbeiten haben wesentliche Impulse ge- die auf der Ebene der institutionellen Umwelt vor- geben sowohl für das volkswirtschaftliche Denken gesehenen Institutionen angesiedelt. Sie können über Institutionen und die richtige Regulierungs- politisch (zum Beispiel das Parlament, Ministe- und Wettbewerbspolitik als auch für das betriebs- rien, Gerichte) oder ökonomisch (zum Beispiel wirtschaftliche Denken über die richtige Integra- Aktiengesellschaften, Stiftungen) sein. tionstiefe von Unternehmen.

Ressourcenallokation (Ebene 4): Die überge- Ausgangspunkt der Überlegungen ist eine simple ordneten Ebenen bilden den Hintergrund, vor Beobachtung: Untersucht man das Verhalten von dem die ökonomischen Entscheidungen der In- Unternehmen innerhalb einer Wertschöpfungs- dividuen ablaufen. Hierzu zählen die individuel- kette, lassen sich mindestens drei Organisations- len Nachfrage- und Angebotsentscheidungen, weisen unterscheiden: Manche Unternehmen die durch die institutionelle Umwelt gesteuert kaufen Vorprodukte auf sogenannten Spot-Märk- werden. ten spontan bei Bedarf ein, andere Unternehmen schließen langfristige Verträge über die Lieferung Im Sinne dieser Struktur folgt, dass die Ebene 3 von Vorprodukten, und wiederum andere Unter- bei der Bereitstellung von Gemeinschaftsgütern nehmen stellen die Vorprodukte selbst her. Darü- eine Form von Staatlichkeit darstellt, da innerhalb ber hinaus ist das Steuerungsmodell dieser oder außerhalb eines Staatswesens eine institutio- Schnittstellen nicht ein für alle mal vorgegeben, nelle Umwelt zusammen mit Governance-Struktu- sondern verändert sich über die Zeit, wie die In- ren geschaffen wird, der sich Individuen freiwillig und Outsourcing-Wellen zeigen. Damit stellt sich

9 Folgende Bücher geben einen guten Einblick in das Denken Willi- 8 Vgl. Oliver Williamson, The New Institutional Economics: Taking amsons: Oliver Williamson, Markets and Hierarchies. Analysis of Stock, Looking Ahead, in: Journal of Economic Literature 38, 2000, Antitrust Implications, New York 1975, sowie derselbe, The Econo- Seiten 595–613. mic Institutions of Capitalism, New York 1985.

68 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Ökonomie-Nobelpreis

die Frage, ob die spezifische Organisation der die Situation eines gegenseitigen Monopols ver- Schnittstelle zwischen Vorprodukt und Endpro- wandelt wird. Dies ist ohne Relevanz, solange sich dukt für das Wirtschaftsergebnis eine Rolle spielt. beide Seiten entweder vor Beginn in einem voll- ständigen Vertrag binden können oder sich im Williamson hat eine provozierende Frage gestellt, Laufe der Geschäftsbeziehung keine gegenseiti- die als Williamson-Puzzle in die Literatur einge- gen Abhängigkeiten bilden. Solche Abhängigkei- gangen ist: Angenommen, zwei voneinander un- ten entstehen aber, wenn die Vertragspartner In- abhängige Unternehmen produzieren Güter mit vestitionen tätigen müssen, deren Wert innerhalb einem bestimmten Gewinn. Warum kann man die der Geschäftsbeziehung größer ist als außerhalb. beiden Unternehmen nicht zu einem zusammen- Aus solchen beziehungsspezifischen Investitionen schließen und alles unverändert lassen, außer in entsteht ein Potenzial für Ausbeutung, das soge- Bereichen, in denen die dezentralen Aktivitäten nannte Hold-up-Problem, das dazu führen kann, offensichtlich ineffizient sind? Auf diese Weise dass profitable Projekte nicht zustande kommen. müsste sich ein mindestens ebenso großer Gewinn Markt und Unternehmen wirken unterschiedlich wie bei getrennten Unternehmen ergeben. Zu En- auf dieses Problem. Transaktionskosten entstehen de gedacht sollte man die gesamte Ökonomie als in dieser Theorie aufgrund vertraglicher Unvoll- ein großes Unternehmen organisieren. Damit hät- ständigkeiten. te man aber eine Form der Zentralverwaltungs- wirtschaft geschaffen. Zur Veranschaulichung diene ein einfaches Bei- spiel: Ein Zulieferer Z ist Hersteller von Beschlä- Williamsons Antworten führten mit zur vertrags- gen für Möbel. Er kann durch eine Investition von theoretischen Wende in der ökonomischen For- 100 000 Euro seine Produktionsanlagen so verän- schung. Unternehmen sind spezifische vertragli- dern, dass er speziell für einen Möbelhersteller M che Strukturen auf Ebene 3, die „eingehängt“ sind Beschläge anfertigen kann. Tut er dies, und passt in die Kultur (Ebene 1) und die allgemeinen Ge- auch der Hersteller seine Produktion so an, dass setze (Ebene 2) eines Landes. Unternehmen er die Beschläge einbauen kann, steigt der erwar- zeichnen sich dabei durch die Elemente hierar- tete Umsatz des Möbelherstellers um 400 000 Eu- chische Organisation, geringe Anreize für die Mit- ro im Vergleich zum Einbau von Standardbeschlä- arbeiter und – als Kompensation – relativ starke di- gen. Die Kosten der Anpassung bei M seien eben- rekte Kontrolle aus. Märkte funktionieren umge- falls 100 000 Euro. Allerdings kann Z die spezi- kehrt ohne hierarchische Organisation und Kont- fisch hergestellten Beschläge nur an M verkaufen, rolle, aber mit starken Anreizen. Dabei bilden die- und M kann aufgrund der Umrüstung nur Be- se vertraglichen Strukturen jeweils nur die End- schläge von Z verwenden. Die Investition ist be- punkte eines Kontinuums möglicher Organisa- ziehungsspezifisch. Z und M haben einen Anreiz, tionsformen. miteinander in eine Geschäftsbeziehung einzutre- ten, da Handelsgewinne von 400 000 Euro minus 100 000 Euro minus 100 000 Euro gleich 200 000 Transaktionskosten aufgrund Euro existieren. unvollständiger Verträge Wenn sie vor Beginn der Geschäftsbeziehung ei- Die Transaktionskosten auf dem Markt und von nen Vertrag über die Aufteilung der Handelsge- Unternehmen werden in diesem Ansatz durch die winne schließen können, ist davon auszugehen, Unmöglichkeit erklärt, Transaktionen vollständig dass ein effizienter Vertrag geschlossen wird. Ist durch Verträge abzusichern: Wenn es möglich wä- dies nicht möglich, so entsteht ein potenzielles re, eine beliebig komplizierte Transaktion durch Problem, da sich nach den Investitionen Z und M einen Vertrag zu strukturieren, wäre der Unter- in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis schied zwischen Markt und Unternehmen hinfäl- befinden: Z kann versuchen, M auszubeuten, da es lig. Williamson hat zahlreiche Ursachen für die Un- für M kostspielig ist, seine Produktionsanlagen vollständigkeit von Verträgen herausgearbeitet wieder so umzurüsten, dass auch andere Beschläge und gezeigt, wie sich diese Unvollständigkeit auf verwendbar sind, und M kann versuchen Z auszu- die jeweiligen Transaktionskosten auswirkt. Seine beuten, da dieser die Beschläge nur an M verkau- berühmteste Überlegung ist: Mit dem Beginn ei- fen kann und ebenfalls eine kostspielige Umrüs- ner Geschäftsbeziehung findet eine fundamentale tung tätigen müsste, um wieder flexibel zu sein. Transformation statt; vor Beginn existiert eine Si- Die Organisationsformen Markt und Unterneh- tuation des gegenseitigen Wettbewerbs, die durch men beeinflussen den Grad der jeweiligen Abhän- das Zustandekommen der Geschäftsbeziehung in gigkeit, da sich der Drohpunkt einer Beendigung

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 69 Theoretische Grundlagen

der Geschäftsbeziehung verändert: Auf einem Perspektive. Aber auch die praktische Relevanz ist Markt beendet man die Zusammenarbeit zwischen zum Beispiel für die Frage nach In- oder Outsour- M und Z, in einem integrierten Unternehmen cing klar. Diese Sichtweise auf das Organisations- kündigt man dem jeweiligen Manager. problem macht die Theorien Williamsons sowohl für die volkswirtschaftliche als auch für die be- triebswirtschaftliche Forschung höchst relevant, Fließender Übergang vom und sie baut eine Brücke zwischen den beiden Dis- Wettbewerb zur Zentralverwaltung ziplinen.

Mit der Theorie von Williamson lässt sich besser verstehen, unter welchen Voraussetzungen die Institutionen in Wirtschaftstheorie drei idealtypischen Organisationsformen für eine und Wirtschaftspolitik Transaktion jeweils möglichst effizient sind: Eine wichtige Lehre aus den Arbeiten Williamsons Schnittstelle Markt, Zukauf auf Spot-Märkten: ist, dass ein Markt und damit Privateigentum nur Unternehmen haben keinen Anlass zur Integra- dann das volkswirtschaftliche Anreizproblem zu- tion, falls die Vorleistung keine Beziehungsspezi- friedenstellend lösen kann, wenn entweder Wett- fität aufweist und die Anzahl von Anbietern und bewerb existiert oder in Verträgen alle anreizrele- Nachfragern hinreichend groß ist, um eine Situa- vanten Elemente glaubwürdig festgelegt werden tion vollständigen Wettbewerbs zu erzeugen. Dies können. Ist dies nicht möglich, und entstehen bei- ist in der Regel bei standardisierten Produktionen spielsweise aufgrund beziehungsspezifischer In- zu erwarten. In dem Fall genügt es, den Bedarf vestitionen Abhängigkeiten, so muss der Investor kurzfristig auf Märkten zu decken, und es gibt kei- die Kosten der Investition tragen, ein Teil der Er- nen Anreiz, eine solche Beziehung zu verändern. träge fällt aber dem anderen Vertragspartner zu. Dies ist exakt das Problem, das dem Allmende- Schnittstelle Markt, langfristige Verträge: Eine Problem zugrunde liegt. Die möglichen Ursachen Geschäftsbeziehung kann zwischen juristisch selb- für das Auftreten des Problems sind unterschied- ständigen Unternehmen mithilfe langfristiger Ver- lich, aber die von Ostrom und Williamson entwickel- träge erfolgen, wenn die notwendigen Investitio- ten Theorien über organisatorische Lösungsmo- nen einen gewissen Grad an Beziehungsspezifität delle basieren aufgrund der identischen Problem- aufweisen, dem aber durch langfristige Verträge struktur auf den gleichen theoretischen Baustei- Rechnung getragen werden kann, weil in ihnen al- nen, wie zum Beispiel individuelle Motivation, Re- le relevanten Elemente glaubwürdig vertraglich putation und Glaubwürdigkeit. geregelt werden können. Die Arbeiten beider Wissenschaftler haben einen Schnittstelle Unternehmen: Wenn beziehungs- wichtigen Beitrag dazu geleistet, das Problem der spezifische Investitionen auf unvollständige Ver- Anreizsteuerung durch Institutionen aus der rich- träge stoßen, tritt das Hold-up-Problem auf, sodass tigen Perspektive wahrzunehmen. Darüber hinaus Bedingungen existieren können, unter denen ei- liefern sie wichtige Einsichten in die Rolle von Ins - ne Integration beider Stufen der Wertschöpfung titutionen zur Lösung dieses Problems. Dennoch in einem Unternehmen Vorteile gegenüber dem bleibt viel ungeklärt: Wichtige Fragen werden der- Markt bieten. zeit etwa bezüglich der kulturellen und motivatio- nalen Einbettung (Ebene 1) gestellt, und anders Der Übergang zwischen völlig atomistischen Märk- als früher verstehen Ökonomen immer besser, ten und einer völlig zentralverwalteten Wirtschaft dass es keine allgemeingültige Theorie guter Insti- ist also fließend, und klassische volkswirtschaftli- tutionen gibt. Details sind wichtig. Das macht die che Diskussionen über Markt- versus Staatswirt- Übertragung der Erkenntnisse in die wirtschafts- schaft bekommen eine neue, weniger ideologische politische Beratung kompliziert.

70 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) Zu einem Buch von Michael Opielka et al.

Freiheit, Gleichheit, Grundeinkommen? – Eine Analyse gesellschaftlicher Wertemuster Seit einiger Zeit ist zu beobachten, dass in Deutschland die Idee des bedingungslosen Grundein- kommens als Alternative zur gängigen Sozialstaatspraxis kontrovers diskutiert wird. Unzählige Po- lemiken dagegen, viele Apologien dafür und manche abwägenden Überlegungen sind bereits ge- druckt oder vorgetragen worden, von Wirtschafts- und Politikeliten ebenso wie von engagierten Bürgern. Die Idee offenbarte sich dabei kurzerhand als spannungsreiches Instrumentarium, das unterschiedliche gesellschaftliche Werteorientierungen zum Vorschein bringt. Denn wer seine Mei- nung zum Grundeinkommen kundtut, verrät meist mehr über sich und seine eigenen normativen Hintergründe, als bei der bloßen Einschätzung einer politischen Perspektive zu er- warten wäre.

Anstatt in den Chor der Jubilierenden und Schimpfenden einzustimmen, hat sich unter Federführung Michael Opielkas ein Forscherteam formiert, das in einer em- pirischen Analyse die Zusammenhänge sozialer Werteorientierungen mit der Idee des Grundeinkommens genauer untersuchen wollte. Die Ergebnisse dieses Pro- jekts liegen inzwischen in Buchform vor – und bieten allerhand interessante Funde.

Opielka, Professor für Sozialpolitik an der Fachhochschule Jena, stellt mit seinen Kollegen einleitend fest, dass „die Idee des Grundeinkommens in konträren politi- schen und sozialen Gruppen Zustimmung findet“, wobei dieses „transzendierende Moment“ die Frage aufwirft, inwieweit das Grundeinkommen an strukturelle ge- Michael Opielka/Matthias Müller/Tim Bendixen/Jesco sellschaftliche Wertemuster anknüpft – etwa an verschiedene Gerechtigkeitside- Kreft, Grundeinkommen und ale. Die Hauptintention der Autoren wird hier bereits deutlich. Es sollen jene Fak- Werteorientierungen. Eine em- pirische Analyse, VS Verlag, toren erklärt werden, die viele Stellungnahmen zum Grundeinkommen Wiesbaden 2009, 166 Seiten. beeinflussen: soziale Wert- und Moralvorstellungen.

Für die Studie wurden zahlreiche Interviews geführt, deren Ergebnisse hier zusammengefasst sind. Nach einer anfänglichen Übersicht, die Werte als Gegenstand der soziologischen Theorie und em- pirischen Sozialforschung behandelt, sowie einer Auslotung verschiedener Gerechtigkeitskonzepte (Leistungs-, Verteilungs-, Bedarfs- und Teilhabegerechtigkeit) in ihrem Verhältnis zum Grundein- kommen, geht es bereits an die Rekapitulation der Gespräche. Sowohl einzelnen Personen als auch Fokusgruppen aus den Bereichen Wirtschaft, Politik und soziale Arbeit wurden Fragen zum Grund- einkommen gestellt, die mit der Methode der Deutungsmusteranalyse ausgewertet wurden. Die qua- litativen Aussagen sind weder repräsentativ noch lassen sie Rückschlüsse auf die tatsächliche Prak- tikabilität eines Grundeinkommens zu, „gleichwohl dürfte der Erkenntniswert erheblich sein“. Denn zu den unterschiedenen Themen „Menschenbild“, „operative Gerechtigkeit“ und „politischer Vollzug“ zeigen sich nicht selten gegensätzliche oder ambivalente normative Bezüge, die das Grundeinkom- men zu entlarven vermag.

Die Realisierung eines Grundeinkommens, das zeigt die Studie nachdrücklich, scheint weniger direkt von politischen und ökonomischen als von normativen Gründen abzuhängen, die es zu kennen gilt. Durch diesen überaus heterogenen Normen-Dschungel, speziell in Gerechtigkeitsfragen, navigiert die Publikation jedoch sicher und aufschlussreich, womit sie nicht nur zur Grundeinkommensdebatte, sondern zum gesamten Diskurs um die Zukunft der Wohlfahrtsstaaten einen konstruktiven, wert- vollen Beitrag leistet.

Philip Kovće

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) 71 Nachruf

Otto Graf Lambsdorff * 20. Dezember 1926 † 5. Dezember 2009 „Ich hatte zugesagt.“

Einer seiner letzten öf- schem Adel. Der junge Lambsdorff verbrachte die fentlichen Auftritte war Schulzeit in Berlin und auf der Ritterakademie in sein Vortrag zur „Ludwig- Brandenburg. Dann kam die Einberufung an die Erhard-Lecture“, gehal- Front. Als Kriegsversehrter kehrte Lambsdorff 1946 ten zwei Tage nach der aus der Gefangenschaft zurück. Die durch eine Wahl zum Bundestag und Verwundung notwendig gewordene Oberschenkel- nur wenige Wochen vor amputation erlebte und erlitt er bis zu seinem Tod seinem Tod. Wir sagen als Herausforderung, an der die Öffentlichkeit das nicht mit Stolz, denn tunlichst nicht mehr teilzuhaben hatte als durch es ist nicht unser Ver- den Anblick eines mit durchaus energischer Gra- dienst, dass Otto Graf zie gehandhabten friderizianisch anmutenden Lambsdorff auch im Gebot Gehstocks. seiner selbst auferlegten Pflichterfüllung so war, wie er eben war. Wir sagen es mit Bewunderung Mit einem solchen Handikap konnte der diszipli- für die Energie eines Mannes, der sein Wort hält – niert lebende Graf zurechtkommen. Fast niederge- und sei es sitzend vor dem Mikrofon: Es gilt die ge- worfen hätte ihn allerdings der – im Verfahren nicht gebene Zusage. Zu seinem Auftritt ließ Lambsdorff bestätigte – Vorwurf der Bestechlichkeit im Zu- sich von einem Helfer bis vor den Vortragssaal des sammenhang mit der Flick-Parteispenden-Affäre Bonner Universitätsclubs fahren. Er erschien, vor- der frühen 1980er Jahre. Ihm dies vorzuwerfen, hat bereitet und pünktlich wie eh und je, denn: „Ich Lambsdorff damals tief gekränkt. Ganz verwunden hatte zugesagt.“ hat er es über viele Jahre nicht, vielleicht zur Gänze nie. Als er im Jahr 1984 angeklagt wurde, legte er So war er und so wird er nicht nur den Mitgliedern sein Ministeramt nieder. Am Ende des Verfahrens der Ludwig-Erhard-Stiftung in Erinnerung blei- wurde die Anklage „Bestechlichkeit“ fallen gelassen. ben. Sie haben ihn als klugen Ratgeber für das Lambsdorff wurde wegen Steuerhinterziehung – be- Wohl der Stiftung und für die Pflege der Erinne- gangen nicht zu seinen Gunsten, sondern zuguns- rung an Ludwig Erhard, den Gründer und Spiritus ten der FDP – zu einer Geldstrafe verurteilt. Das En- Rector der Stiftung, im beratenden Gespräch er- de des Verfahrens war nicht das Ende seiner Karrie- lebt. Erlebt, nicht in schriftlichen Voten nachgele- re: Ein Jahr nach der Urteilsverkündung wählte die sen: Es hat, soweit erinnerlich, keine Jahresver- FDP ihn zu ihrem Bundesvorsitzenden. Hatte sie je sammlung und keine Preisverleihung gegeben, an einen besseren? Antworten auf solche Fragen sind der Otto Graf Lambsdorff nicht teilgenommen hätte, auch zeitbedingt. Aber dass die Frage – wenn auch wenn es ihm mit Blick auf den Terminkalender ei- letztlich unter dem Vorzeichen der objektiven Un- nes amtshohen Politikers irgend möglich war. Zu- beantwortbarkeit – gestellt wird, ist doch schon als rückhaltend bei der Wortmeldung, aber immer Indiz nicht ohne Bedeutung. Wo „der Graf“ war und hilfreich für den Fortgang der Beratungen und wirkte, da hat er Maßstäbe hinterlassen. die Wertbeständigkeit von gelegentlich ohne Vor- bereitungen zu fassende Beschlüsse: Das preußi- Wir in der Ludwig-Erhard-Stiftung werden das An- sche „ich dien’“ galt ihm überall, wo er sich zum denken an Otto Graf Lambsdorff hochhalten. Und Engagement bereit erklärt hatte. nicht nur wir. Auch diejenigen, die uns in Amt und Mitgliedschaft folgen werden, haben allen Grund, Dass Karrieren nicht immer ruhig verlaufen und dem „Marktgrafen“ neben Ludwig Erhard, dem Stif- dass Beweglichkeit eine Pflicht sein kann, hat tungsgründer und „Vater der Sozialen Marktwirt- Lambsdorff schon als Kind in seiner Familie als He- schaft“, einen Ehrenplatz in den Annalen der Stif- rausforderung erlebt. Otto Friedrich Wilhelm von der tung zu reservieren. Wenge Graf Lambsdorff wurde 1926 in Aachen gebo- ren. Die Familie des Vaters entstammte westfäli- Hans D. Barbier

72 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 (4/2009) ORIENTIERUNGEN ZUR WIRTSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSPOLITIK 122

Impressum

Herausgeber Ludwig-Erhard-Stiftung e. V. Anschrift Johanniterstraße 8, 53113 Bonn Telefon 02 28/5 39 88-0 Telefax 02 28/5 39 88-49 E-Mail [email protected] Internet www.ludwig-erhard-stiftung.de

Bankverbindung Deutsche Bank AG Bonn, Konto-Nr.: 0272005, BLZ 38070059

Redaktion Dipl.-Volksw. Berthold Barth Dipl.-Volksw. Natalie Furjan Dipl.-Volksw. Lars Vogel

Autoren dieser Ausgabe RA Ulrich Hocker Martin Kannegiesser Prof. Dr. Wolfgang Klenner Prof. Dr. Martin Kolmar Philip Kovće Dr. Otto Graf Lambsdorff † Dr. Hagen Lesch Dr. Wolfgang Mansfeld Dr. Frank Christian May Prof. Dr. Volker Rieble Prof. Dr. Horst M. Schellhaaß Prof. Dr. Gerhard Scherhorn Prof. Dr. Josef Schmid Dr. Peter Westerheide

Foto auf Seite 72: Henning Lüders, Berlin

Graphische Konzeption Werner Steffens, Düsseldorf

Druck und Herstellung Druckerei Gerhards GmbH, Bonn-Beuel

Vertrieb Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH, Gerokstraße 51, 70184 Stuttgart, Telefax: 0711 / 24 20 88

ISSN 0724-5246 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 122 – Dezember 2009. Die Orientierungen erscheinen vierteljährlich. Alle Beiträge in den Orien tierungen sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigung bedürfen der Geneh migung der Redaktion. Namensartikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion bzw. des Herausgebers wieder.