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Sendung vom 21.12.1999

Dr. Klaus von Dohnanyi Ehemaliger Erster Bürgermeister von im Gespräch mit Klaus Kastan

Kastan: Herzlich willkommen bei Alpha-Forum. Über unseren heutigen Gast hat der SPD-Politiker Hans-Ulrich Klose einmal geschrieben: "Zum Anfassen ist er nicht, aber auf distanzierte Weise liebenswert." Ich begrüße sehr herzlich Klaus von Dohnanyi bei uns. Herr von Dohnanyi, stimmt dieses Zitat so in etwa? Dohnanyi: Also, man weiß das von sich selbst nie. Ich weiß, dass die Menschen meinen, dass es nicht so einfach ist, mit mir eine unmittelbare Beziehung herzustellen. Ich glaube das eigentlich nicht. Das ist vielleicht mehr die äußere Wirkung als der Inhalt des Pakets, aber andere müssen es besser beurteilen. Kastan: Beurteilt wird natürlich auch Ihr Bruder, der bekannte Dirigent. Ich kann mir vorstellen, dass Sie oft miteinander verwechselt werden, denn Sie sehen sich relativ ähnlich. Kommt es hin und wieder vor, dass Sie falsch angesprochen werden? Dohnanyi: Am Telefon entstehen solche Verwechslungen, wenn man uns nicht sieht. Für viele gilt mein Bruder auch als etwas distanziert. Das liegt vielleicht an unserer Erziehung, die etwas auf Zurückhaltung ausgerichtet war. Kastan: Christoph von Dohnanyi ist ein Jahr jünger als Sie. Sind Sie sich sehr ähnlich? Dohnanyi: Wir sind uns auf jeden Fall sehr nahe über diese vielen Jahrzehnte geblieben, und es gab fast keinen Streit. Selbst als Kinder haben wir uns ganz selten richtig gestritten. Wir sind uns sehr nahe, aber ob wir uns ähnlich sind, das muss auch wieder jemand anderer beurteilen. Wie gesagt, die Beurteilung, wir seien etwas distanziert - auch im Beruf -, trifft wohl auf beide zu. Kastan: Sind Sie ein bisschen neidisch auf ihn, den bekannten Dirigenten? Dohnanyi: Das ist schwer zu sagen. Ich habe immer gesagt, dass er mehr Beifall bekommt, wenn er sich dem Publikum mit dem Rücken zuwendet, als ich, wenn ich mit dem Publikum rede. Nein, neidisch bin ich nicht. Ich habe einen anderen Beruf und ein anderes Interessenfeld gehabt. Er verdient sehr viel mehr Geld als ich und hat auch einen sehr schönen Beruf, aber neidisch bin ich eigentlich nicht einmal als Kind gewesen, obwohl er schon früh eine sehr ungewöhnliche Begabung hatte. Er konnte schon sauber singen, bevor er ein Wort sprechen konnte. Kastan: Das konnten Sie nicht? Dohnanyi: Nein. Das war wirklich nicht meine Fähigkeit. Kastan: Sie konnten aber Cello spielen. Dohnanyi: Ja, aber das habe ich aus Rücksicht auf meine Nachbarschaft sehr schnell wieder aufgegeben. Kastan: Sie wurden 1928 in Hamburg geboren. Wenn man sich mit Ihrer Biografie auseinandersetzt, kann ich mir vorstellen, dass es keine ganz einfache Jugend war, denn Sie sind in der Nazizeit aufgewachsen. Sie hatten einen Vater, der von den Nazis 1945, kurz vor Kriegsende, im Konzentrationslager Sachsenhausen umgebracht wurde. Hat Sie das sehr geprägt? Dohnanyi: Das Schicksal meines Vaters hat mich sehr geprägt. Über die Jugend würde ich etwas anders urteilen. Wir hatten einen sehr jungen Vater. Mein Vater war Jahrgang 1902, und als meine Schwester geboren wurde, war er 24, und als ich geboren wurde, 26 Jahre alt. Er war ein sehr sportlicher Mann, konnte gut basteln und wundervolle kleine Puppentheater bauen. Er war ein sehr begabter Mann in vielen Beziehungen. Er konnte auch sehr gut zeichnen und malen. Wir hatten eine sehr intelligente und warmherzige Mutter, die uns das Fehlen des Vaters - der sehr viel unterwegs und eingespannt war, auch nach 1933 in dieser Widerstandsarbeit - vergessen und verschmerzen ließ. Insofern war das bis zum Krieg und den damit verbundenen Schrecken für uns eine doch sehr beschützte, von sehr viel Liebe begleitete Jugend. Insofern haben wir auch sehr viel Substanz aus dieser Jugend gezogen. Kastan: Man kann auch in schwierigen Zeiten sehr geprägt werden und das Positive aus dieser Zeit mitnehmen. Dohnanyi: Ja, sicher, aber wenn man Kinderbilder von uns sieht - so bis zum Alter von acht Jahren -, sieht man doch, wie behütet das trotz aller Probleme war, und das - glaube ich - ist sehr stark meiner Mutter zu verdanken gewesen. Mein Vater war auch uns sehr nahe. Ich würde eigentlich sagen, dass ich bis zum Krieg - und den damit verbundenen Schrecken und der Verhaftung meiner Eltern - eine behütete und glückliche Jugend hatte. Kastan: Ihre Mutter ist eine geborene Bonhoeffer. Das war auch ein bekannter Name in der Nazizeit und auch noch danach, als man erfuhr, was die Bonhoeffers geleistet hatten. Wie haben Sie die Nazizeit erlebt? Dohnanyi: Zwiespältig. Wenn ich heute darauf zurückschaue, würde ich sagen, dass wir auch unseren Schutz hatten, trotz dieser Sorgen, die unsere Mutter seit 1933 um unseren Vater hatte. Mein Vater musste eine Doppelrolle spielen: einerseits war er im System, andererseits nicht in der Partei, und dennoch musste er versuchen, die Regierung zu untergraben. Kastan: Er war Reichsgerichtsrat. Dohnanyi: Ja. Geprägt hat mich sehr viel mehr der spätere Teil meiner Jugend, als uns klar wurde, welche Rolle und Ziele mein Vater hatte. Ich werde nie vergessen, als ich meine Eltern vom Nebenzimmer aus hörte: Es war der 24. Juni 1940, Paris war gefallen, und die Deutschen marschierten in Paris ein. Mein Vater kam völlig verzweifelt nach Hause und sagte: "Das ist das Ende." Er hatte also das Gefühl, Hitler könnte jetzt sogar den Krieg gewinnen. Das hat mich schon sehr stark geprägt. Kastan: Sie sollten auch gegen Ende des Krieges zum Militär, was Ihre Mutter aber verhinderte. Dohnanyi: Ja, die SS wollte mich einziehen. Da sieht man, wie schlecht das Organisationssystem war. Ich war ungefähr 1,86 Meter groß, blond, und die Leute hatten das Gefühl, dass ich etwas für die Waffen-SS wäre. Meine Mutter sagte ihnen dann, dass mein Vater im KZ sei. Das gab erst den Ausschlag, dass sie mich nicht einzogen. Kastan: Ich hatte gedacht - ich bin ja nach dem Krieg aufgewachsen -, dass das System so perfekt war, dass das aufgefallen wäre. Dohnanyi: Das System war in dieser Beziehung überhaupt nicht perfekt. Man muss auch bedenken, dass es ein System war, das sich nur sechs Jahre ohne Krieg etablieren konnte. Anschließend war es ein System, das nur auf die Kriegsereignisse ausgerichtet war. Das System war sehr zufällig in vielen Beziehungen, und da hatten sie einfach nicht aufgepasst. Kastan: Die Judenverfolgung jedoch war perfekt organisiert. Dohnanyi: Ja, man hatte das aus den Einwohnermeldeämtern, bei denen man die Religion angeben musste. Das war einer der Gründe, weshalb wir das nie wieder als Pflicht bei Volkszählungen machten - das war ein später Widerhall solcher Erfahrungen. Kastan: Haben Sie mit Ihren Eltern in den letzten Kriegsjahren über die Tätigkeit Ihres Vaters sprechen können? Dohnanyi: Nein. Mein Vater war wirklich in der Konspiration. Er versuchte 1938 zum ersten Mal, sich an der Organisation eines Staatsstreichs zu beteiligen, und er wirkte im Krieg immer wieder an diesen frühzeitig gescheiterten Attentatsversuchen mit. Er war im Gegensatz zu manchen anderen ein völlig verschwiegener und sich auf diese Aufgabe konzentrierender Mann, und er hätte niemals zu seinen Kindern auch nur ein Wort darüber gesagt. Kastan: Wahrscheinlich auch, weil er Sie damit nicht belasten wollte. Dohnanyi: Ja, aber auch, weil es einfach zu riskant und zu gefährlich war. Er mokierte sich auch immer über die Leute, die Tagebuch führten oder Briefe schrieben. Er selber führte unglückseligerweise eine Akte über die Naziverbrechen und andere Dinge. Vom Gefängnis aus ließ er die Leute wissen, dass sie die Akte vernichten sollten. Generaloberst Beck, der als Generalstabchef 1939 zurückgetreten war, glaubte, auf diese Akten - für den Fall eines gelungenen Staatsstreichs als Beweismittel gegen die Nazis - nicht verzichten zu können, und hat dann verfügt, sie zu bewahren. Nach dem 20. Juli wurden sie doch noch von den Nazis gefunden und hatten am Ende auch einen entscheidenden Einfluss auf die weiteren Prozesse gegen meinen Vater. Die Gestapo hat ihn dann als "geistiges Haupt zur Beseitigung des Führers" bezeichnet und damit wohl auch erkannt, welche Rolle diese Akte und die Tätigkeit meines Vaters in diesem ganzen Zusammenhang gespielt hat. Wenn Sie zu Beginn nach der Einschätzung unseres Charakters gefragt haben, würde ich sagen, dass das eine ganz entscheidende Prägung meines Vaters war: nur keine Mätzchen, nichts nach außen, was nicht sein muss, sich den Aufgaben widmen, wie sie sind. Das hatte eine starke Wirkung auf uns. Kastan: Wie haben Sie von der Ermordung Ihres Vaters erfahren? Dohnanyi: Wir erfuhren sehr viel später davon. Es gab unmittelbar nach dem Einmarsch der Russen in Berlin - ich war im Reichsarbeitsdienst eingezogen, und der Rest der Familie war in Berlin alleine - ein Gerücht, dass die Russen meinen Vater in Sachsenhausen vorgefunden und ihn entführt hätten, um von ihm alle möglichen Informationen über die Lage in Deutschland zu bekommen. Das war eine Unsicherheit, die uns noch längere Zeit begleitete, bis wir nach einigen Monaten sicher waren, dass das nicht so sein konnte. Tatsächlich war es ja so, dass er am selben Tage wie der Bruder meiner Mutter, , einen Standgerichtsprozess hatte, den einige SS-Leute aufgrund einer Anweisung Adolf Hitlers organisierten. Am 9. April 1945 wurde er in Sachsenhausen und Bonhoeffer in Flossenbürg hingerichtet. Kastan: Nach solchen Erlebnissen gibt es zwei Möglichkeiten. Möglichkeit eins ist, dass man mit Politik nichts mehr zu tun haben möchte. Dohnanyi: Das ist eine unverständliche Reaktion. Kastan: Dennoch gab es viele, die sich nach dem Krieg sagten, dass sie damit nichts mehr zu tun haben möchten. Die andere Möglichkeit wäre natürlich, dass man - das war ja auch Ihr Weg - sich für die Politik entscheidet. Die andere Variante wäre für Sie also nie in Betracht gekommen? Dohnanyi: Nein. Ich habe hier in München studiert und habe mein Studium sehr früh abgeschlossen: im 5. Semester machte ich meine Referendarprüfung, und im 6. Semester promovierte ich. Ich habe versucht, so schnell wie möglich nach Amerika zu gehen. Kastan: Sie haben auch in Amerika studiert. Dohnanyi: Ja, ich habe in Amerika das Studium noch einmal wiederholt. Es gab eine Versuchung - eine Idee -, man könnte in Amerika bleiben. Ich habe in Amerika an Universitäten mit recht gutem Erfolg studiert, und ich hätte sicher große Möglichkeiten gehabt, in Amerika zu bleiben. Der Gedanke kam mir aber nie ernsthaft. Ich glaube, das lag schon daran, dass man das Gefühl hatte, man gehörte hierher, wo die Dinge wieder in Ordnung zu bringen sind. Kastan: Nach Ihrem Jurastudium entschieden Sie sich dann gleich für die Wirtschaft und landeten schließlich bei Ford auf der Management-Ebene. Ich glaube, Sie waren für Projektplanung bei Ford zuständig. War das von Vorteil für Ihre spätere politische Karriere, dass Sie Politik und Wirtschaft miteinander verknüpfen konnten? Dohnanyi: Ich glaube, es ist sehr schwer in unserer Zeit und in der Zeit, als ich mit der Politik begann, Politik zu machen, ohne die Wirtschaft zu kennen. Ich sah das immer wieder - auch bei Kollegen, die keinerlei wirtschaftliche Erfahrung hatten - mit welcher Naivität viele über Betrieb, Unternehmer, Markt, Steuer diskutierten, weil sie eben die Erfahrung nicht selbst machten, die ich in dem Unternehmen in München - bei dem ich auch beteiligt war – machte. Sie wussten nicht, was es bedeutete, mit den Kräften des Marktes umzugehen, was Wettbewerb bedeutete, wie wenig Macht man darüber hat, wie man sich darauf einlassen muss, um darin zu bestehen, wie viel Sorgen ein selbständiger Unternehmer hat, wenn die Aufträge nicht eingehen usw. Das sind alles Dinge, die dem öffentlichen Angestellten an Erfahrung völlig fehlen und über die er erst sehr schnell und leicht redet. Ich glaube, dass mir das in der Politik sehr half, pragmatisch vernünftige und dennoch nach vorne gerichtete Wege zu finden. Kastan: Das Unternehmen, an dem Sie beteiligt waren, war INFRATEST. Das Unternehmen kennt inzwischen jeder, und es ist eines der großen europäischen Meinungsforschungsinstitute. Lange blieben Sie nicht dort. Wenn man Ihre Biografie ansieht, stellt man fest, dass es Sie immer nur zehn Jahre irgendwo hielt. Dohnanyi: Zehn Jahre sind aber auch eine lange Zeit in einem Berufsleben. Kastan: 1968 holte Sie als beamteten Staatssekretär ins Bundeswirtschaftsministerium nach Bonn. Sagten Sie sich, dass dort nun die politische Karriere losgeht? Dohnanyi: Nein, vorher hatte ich schon einen Fehlschlag. Der hessische Ministerpräsident hat kurz vorher versucht, mich als Justizminister für Hessen zu gewinnen. Das scheiterte an der Fraktion. Ich glaube, weil ich nicht ganz ideologisch genau argumentierte. Ich habe vielleicht manches zu pragmatisch angefasst, jedenfalls wollte mich die Fraktion nicht, obwohl der bayerische Landesvorsitzende der SPD damals eine Empfehlung für mich abgab. Ich glaube, ich habe mich dort vielleicht ungeschickt pragmatisch bewegt und war deshalb nicht erfolgreich. Die Zeit dann im Wirtschaftsministerium war eine sehr interessante Zeit. Kastan: Was war der Grund dafür, dass Sie in die SPD eintraten? Dohnanyi: Der Grund war nicht die wirtschaftliche Überzeugung der SPD, sondern er lag in deren Geschichte und in der Tatsache, dass sie in den großen, historischen Entscheidungen der Geschichte Deutschlands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und auch in den zwanziger Jahren auf der richtigen Seite stand. Ich habe immer diese Grundsätze und Grundpositionen der SPD geschätzt und bewahre sie für mich. Ich habe mich immer mit der Partei in wirtschaftlichen Fragen sehr viel streiten müssen. Kastan: Sie waren also kein treuer Parteigänger, sondern jemand, der aneckte. Dohnanyi: Der treueste Parteianhänger ist derjenige, der der Partei die Wahrheit sagt. Kastan: Das ist eine gute Definition. Karl Schiller holte Sie wahrscheinlich auch, weil Sie in vielen wirtschaftlichen Fragen übereinstimmten. Von da an ging Ihre politische Karriere richtig los: Sie waren beamteter Staatssekretär, und dann gaben Sie ein kurzes Zwischenspiel in Rheinland-Pfalz. Dohnanyi: Nein, ich wurde unmittelbar nach der Wahl 1969 parlamentarischer Staatssekretär im Bildungsministerium und dann Bundesminister für Bildung und Wissenschaft. Kastan: Sie wurden aber in der Zwischenzeit Landesvorsitzender der SPD in Rheinland Pfalz. Dohnanyi: Ich konnte nur parlamentarischer Staatssekretär werden, wenn ich im Parlament war. Ich kam in das Parlament nach der Wahl 1969 und war als Abgeordneter sowohl parlamentarischer Abgeordneter als auch Bundesminister für Bildung. 1974 schied ich mit aus und wurde dann Landesvorsitzender in Rheinland-Pfalz, später Staatsminister im Auswärtigen Amt. Kastan: Hat Sie das besonders gereizt, im Auswärtigen Amt tätig zu sein? Als Staatsminister spielt man nur die zweite Geige in einem Ministerium. Als Minister für Bildung und Wissenschaft waren Sie die erste Geige. Dohnanyi: Ja, das ist richtig. Das Ministerium wurde von dem FDP-Vorsitzenden Genscher geführt, mit dem ich mich auch sehr gut verstand. Die SPD stellte einen Staatssekretär dort als Stellvertreter für europäische Fragen, und ich war damals fünf Jahre lang - 1976 bis 1981 - der Europaminister der Bundesrepublik. Das war schon sehr interessant und auch mit vielen Streitfragen - die noch heute eine große Rolle spielen - verbunden, nämlich mit dem ständigen Trieb der Europäischen Gemeinschaft - der heutigen Europäischen Union -, alle Dinge zu vereinheitlichen. Ich vertrat immer die Meinung, dass man in den Ländern alles so lassen sollte, wie es ist, auch wenn dadurch andere Formen von Wettbewerb entstehen. Ich würde sagen, dass diese Frage noch heute ansteht. Kastan: Man könnte die Frage heute genauso formulieren und bekäme wahrscheinlich dieselben Antworten darauf. Dohnanyi: Ja, aber ich glaube, inzwischen hätte man bei dieser Frage viele Verbündete, weil man doch sieht, dass die gleichen Längen für Sardinen, die gleichen Größen für Äpfel und das Verbot der Buchpreisbindung in Deutschland am Ende kein wirkliches Europa entstehen lässt. Europa hat seine große kulturelle Kraft aus der Vielfalt gewonnen, die in der Kommunikation und der Auseinandersetzung zwischen den Kulturen in Europa entstanden ist. Je mehr Europa sich aus reinen finanziellen oder Wettbewerbsgründen vereinheitlicht, umso weniger wird Europa in der Welt an Kraft ausstrahlen können. Kastan: Sie sind eher ein Euroskeptiker. Dohnanyi: Nein, ich bin ein Euroföderalist. Ich bin wirklich der Auffassung: "Mehr zurück an die Nation" - auch auf die Gefahr hin, dass es mehr Wettbewerb zwischen den Nationen gibt. Man soll aber den verschiedenen Kulturen ihre Form des Lebens lassen, soweit das irgendwie möglich ist. Kastan: Wer hat Ihnen 1981 gesagt: "Lieber Klaus von Dohnanyi, nun müssen Sie Erster Bürgermeister von Hamburg werden."? Dohnanyi: Das war eine schwierige Situation. - er war Hamburger Bundestagsabgeordneter - wurde gebeten, eine Art Findungskommission ins Leben zu rufen, und er bemühte sich, die Personen dafür zu finden. Willy Brandt machte mich darauf aufmerksam, da ich ja auch in Hamburg geboren war. Die Lage in Hamburg war sehr schwierig, denn Hans-Ulrich Klose war ganz zu Unrecht in eine für ihn politisch fast ausweglose Situation gekommen und trat zurück. Die Hamburger Partei war in einem ziemlich schwierigen Zustand. Man suchte jemanden von draußen. Ich war sehr zögerlich, und es war sehr merkwürdig, denn am Ende überzeugte mich nicht Willy Brandt, sondern , der etwas sehr Schmeichelhaftes zu mir in dieser Situation sagte. Er meinte, dass man in so einer Situation auch die Verantwortung auf sich nehmen müsse. Ich glaube, für Hamburg war es gut, und fast jeder andere Kandidat hätte in diesem Wahlkampf gegen Leisler Kiep 1982 verloren. Es war für Hamburg eine richtige Lösung, obwohl ich zugebe, dass in all diesen Stadtstaaten - und dasselbe gilt in gewisser Weise auch für Bayern - die lange Regierung durch eine Partei im Grunde nicht von Vorteil ist, d. h., dass es auch in den Stadtstaaten einmal einen Wechsel geben muss, um das Personal zu erneuern und um neue Gedanken einzubringen. Kastan: Das erlebt man zur Zeit in einigen Bundesländern. Sind Sie gerne nach Hamburg gegangen? Haben Sie sich immer als Hamburger gefühlt? Dohnanyi: Ich wusste immer, dass ich in dieser Stadt geboren war und meine Kinderjahre dort verbrachte, dann ging ich jedoch nach Berlin und München. Es spielte für mich schon eine Rolle, und ich ging gerne nach Hamburg. Es war natürlich auch wundervoll, in einem solchen Stadtstaat an der Spitze Verantwortung zu tragen. Das machte schon Spaß. Kastan: Wenn man so im Archiv nachliest, was in Hamburg während Ihrer Regierungszeit alles vorgefallen ist, dann liest man ständig von Krisen. Ich kann mir vorstellen, dass Sie vor allem mit Problemen zu tun hatten, mit schweren, großen Problemen. Dohnanyi: Ja, es war eine sehr schwierige Zeit, denn die frühen achtziger Jahre waren geprägt von den Auswirkungen der Ölkrise und der wachsenden Arbeitslosigkeit. Hamburg hatte große Probleme. Wir formulierten dann etwas, was in Hamburg bis heute praktiziert wird, nämlich eine auf den Stadtstaat bezogene Standortpolitik. Ich leitete das mit einer Rede unter dem Stichwort "Unternehmen Hamburg" ein, die noch heute in Hamburg viel zitiert wird, und versuchte, die Bevölkerung und die Partei aufzurufen, die Stadt als eine Einheit zu betrachten, die sich in dieser neuen, veränderten Welt behaupten und bestätigen kann und soll. Das war eine krisenhafte Zeit, aber es war auch eine interessante Zeit. Kastan: Sie waren nie ein großer Freund der Grünen. Dohnanyi: Nein, ich möchte das etwas anders formulieren: Ich schätze die Menschen, die in der Grünen Partei sind, meistens sehr. Ich habe dort sehr viele liberale, intelligente, eigenständige Menschen getroffen. Ich würde das nicht von allen Parteien so in dieser Dichte sagen. Es waren wirklich sehr interessante Leute dabei. Das dogmatische Gehäuse, das, in dem sich die Grünen bis dahin - heute hat sich das ja verändert - bewegten, war mir zu wirtschaftsfern, zu ideologisch und entsprach nicht den Voraussetzungen, die die Politik braucht und schaffen muss, damit sich ein Land oder eine Stadt behaupten und in der Entwicklung nach vorne gebracht werden kann. Das war nicht vorhanden in diesem grünen Spektrum. Deswegen war ich immer ein Freund der Grünen, aber kein Freund der Grünen Partei. Kastan: Wie sieht das heute aus? Der Realo-Flügel mit Fischer an der Spitze hat sich durchgesetzt. Dohnanyi: Ja, aber ich glaube, nur unter dem Druck der Verantwortung in der Regierung selbst, und heute sehe ich das mit großem Respekt. Es ist immer noch so, dass wir in diesen Wochen und Monaten in der schwierigen Reform, in der wir uns gegenwärtig bewegen, eben doch eine große Kraft brauchen, um die Parteien - sowohl die SPD als auch die Grünen - ans Ziel zu bringen. Ich habe eigentlich noch weniger Neigungen zur rot-grünen Koalition gehabt, weil ich nirgendwo gesehen habe, dass sie sich wirklich erfolgreich betätigt hat. Die rot-grüne Bundesregierung hat auch das Ziel noch nicht erreicht, und ich hoffe, dass sie es noch erreichen wird. Kastan: Zwei Ereignisse in den achtziger Jahren, die für Schlagzeilen sorgten, waren die Auseinandersetzung mit der Atomkraft - gerade natürlich auch in Hamburg -, und das andere war die bekannte Hafenstraße in Hamburg. Sie schafften es nach langem Hin und Her, mit den Menschen, die in der Hafenstraße lebten - die ja nicht gerade einfach waren, schon gar nicht für den Ersten Bürgermeister -, einen Vertrag zu schließen. Wie denken Sie heute an diese Gespräche zurück? Dohnanyi: Die Lage war doch anders, als sich die meisten Menschen daran erinnern, nämlich folgende: Als ich nach Hamburg kam, waren diese Häuser bereits vermietet, und diese Leute, die sie mieteten, wurden dann schrittweise zu Besetzern. Wir hatten – bevor es in der Hafenstraße so eskalierte - eine sehr schwierige Situation, weil wir ständig Prozesse mit diesen Besetzern führten. Wenn wir einen Prozess gewonnen hatten und die Leute von der Polizei herausgeholt wurden, dann kam wenige Stunden später jemand mit einem Zettel, auf dem stand, dass er dort Untermieter wäre, und dann fing der ganze Kram wieder von vorne an. Nach der Wahl 1987 hatten wir dann das Gefühl, dass wir hier einen anderen Weg gehen mussten, weil wir mit dem Herausklagen nicht weiter kamen. In meiner Zeit in Hamburg war kein einziges Haus länger als 24 Stunden besetzt, bevor es dann geräumt wurde, weil ich sah, was das in Berlin und Hamburg bedeutete. Kastan: Das war eine bayerische Dohnanyi-Art. Dohnanyi: Nein, ich fand, dass die Leute nach 24 Stunden heraus müssten. Es geht nicht, dass man Häuser besetzt. Das führt weder in der gesellschaftlichen noch in der städtischen Entwicklung voran. Wenn ein Haus besetzt ist, muss man versuchen, in ziviler Weise damit fertig zu werden. Die Eskalation in der Hafenstraße führte dazu, dass auf der einen Seite der Senat einen Vertrag machen wollte, auf der anderen Seite die Leute in der Hafenstraße dem Senat aber nicht trauten. Sie glaubten, dass wir ihnen am Ende doch keinen Vertrag geben würden, und so räumten sie ihre Barrikaden nicht. In dieser Stunde, als das gegenseitig so blockiert war, sagte ich: "Passt auf, wenn ihr den Vertrag nach der Räumung der Barrikaden nicht bekommt, dann trete ich zurück." Das glaubten sie mir, räumten dann die Barrikaden ab, und genau nach 24 Stunden bekam ich einen Anruf aus der Hafenstraße. Es war die nette Stimme eines jungen Mannes, der sagte: "Herr Bürgermeister, die Hafenstraße ist besenrein." Das fand ich eine sehr beruhigende Angelegenheit. Damals haben wir die Hafenstraße zum Teil ohne Blutvergießen in Ordnung gebracht und ohne den Sturm von vielen Tausenden von Polizisten auf einige wenige Häuser mit unvorhersehbaren Folgen. Kastan: Kurz darauf, 1988, sind Sie dann zurückgetreten. Keiner hatte damit gerechnet. Dohnanyi: Ja, richtig. Denn wenn jemand damit rechnet, dass man zurücktritt, dann ist es meistens schon zu spät. Am Rande einer Senatssitzung fragte ich: "Gibt es noch etwas unter 'Verschiedenes'?" Die Kollegen verneinten. Ich sagte: "Doch, ich bin gerade zurückgetreten." Kastan: Im Hintergrund hatten Sie aber trotzdem schon an den Strippen gezogen, denn Ihr Nachfolger stand im Grunde fest: . Sie haben mit ihm wahrscheinlich vorher schon gesprochen. Dohnanyi: Nein. Kein Mensch sprach mit ihm. Wenn Sie mit irgendjemandem darüber sprechen, ist die Geschichte sofort weg. Kastan: Mit Ihrer Frau sprachen Sie auch nicht darüber? Dohnanyi: Nein. In dem Augenblick, in dem Sie jemandem sagen, dass Sie zurücktreten, ist die Geschichte draußen, und dann können Sie es nicht mehr machen. Sie sind dann erledigt, weil Sie dann nur noch eine lahme Ente sind. Kastan: Haben Sie da lange überlegt, oder kam das spontan? Dohnanyi: Ich hatte bereits ein halbes Jahr im Voraus aus diesem Grunde beim Notar einen Rücktrittsbrief hinterlegt, so dass niemand auf die Idee kam, dass ich aus aktuellen Problemen zurücktrat. Es war sehr gut organisiert und auch sehr vernünftig. Ich blieb dann aber im Amt und habe nicht - wie andere es machen - den Bleistift liegen und mich von niemandem sprechen lassen. Kastan: Sie waren also weiterhin Ansprechpartner. Dohnanyi: Ja, sicher. Ich habe auch meinen Nachfolger organisiert, und ich habe dafür gesorgt, dass es einen wirklich perfekten Übergang gab. Niemals hätte ich mein Amt über Nacht im Stich gelassen und wäre nach Hause gefahren mit der Begründung, dass ich nicht mehr zu sprechen wäre. Das fände ich verantwortungslos. Kastan: Damals konnten Sie noch nicht ahnen, was ein Jahr später passieren sollte, nämlich die Wiedervereinigung. Da begann ein ganz neues Kapitel in Ihrem Leben. Sie gingen in die neuen Länder, um wirtschaftlich tätig zu werden. Hat Sie das sehr gereizt? Dohnanyi: Die Mauer fiel in dieser tränenreichen Nacht nicht aus nationalen Gründen, sondern weil die Freiheit einzog. Ich vergleiche das immer mit dem letzten Akt des "Fidelio", wenn die Gefangenen aus dem Keller kommen. Die Leute aus der DDR fanden plötzlich die Mauer offen und riefen immer nur "Wahnsinn!", weil sie da plötzlich durchgehen konnten. Das war für mich auch der Zeitpunkt, an dem ich nochmals verstanden hatte, dass das, was meine Generation nach 1945 in einem großen Teil Deutschlands nicht tun konnte, sie nun tun könnte, nämlich nun auch dort ein demokratisches, soziales und wirtschaftlich stabiles Land aufzubauen. Da ich kein Amt und mich zurückgezogen hatte, um zu schreiben, war natürlich sofort klar: Wenn ich eine Chance bekäme, würde ich mich gleich engagieren. Kastan: Das Leipziger Schwermaschinenwerk TAKRAF wurde Ihre neue Heimstätte, hier wurden Sie aktiv. Sie mussten es auflösen, haben aber daraus etwas Neues gemacht. Dohnanyi: Ja. Es war kein Unternehmen, es waren Produktionsstätten. Ein organisiertes Unternehmen in unserem Sinne war es nicht. Die Produktionsstätten bestanden aus 27 Tochtergesellschaften und knapp 30000 Menschen, unter denen auch noch eine Reihe von Rentnern waren. Wir haben es zerlegt, privatisiert und konnten etwa 10000 Arbeitsplätze retten, was für den Maschinenbau ein sehr ungewöhnliches Ergebnis war. Es sind 17 Gesellschaften übrig geblieben. 1994/95 zogen wir Bilanz, was wir erreichte hatten, und ich möchte - wenn es geht und ich die Mittel dafür finde - im Jahr 2000 noch einmal eine Bilanz machen, was nun wirklich daraus geworden ist, denn der Aufbau eines Unternehmens in den neuen Ländern war sehr schwer und er ist auch sehr schwer geblieben. Kastan: Vor allem haben Sie auch immer hervorgehoben und kritisiert, dass die früheren DDR-Betriebe dann als Betriebe in den neuen Ländern keine Märkte hatten, und sind dort auch aktiv geworden, d. h., Sie suchten neue Märkte. Dohnanyi: Ja, das ist richtig. Ich habe immer wieder versucht, Türen zu öffnen und Kontakte herzustellen. Märkte sind eine Frage von Vertrauen, Erfahrungen, Kontakten, alten Beziehungen. In München gibt es wahrscheinlich 500 Schuhgeschäfte, aber wenn man sich ein Paar neue Schuhe kaufen möchte, dann haben Sie "Ihre" zwei oder drei Geschäfte, in die Sie gehen. Das liegt daran, dass Sie da schon einmal waren, dass Sie wissen, wo sich das Geschäft befindet usw. So ist das überall in der Wirtschaft - Märkte sind Vertrauensfragen. Das hatte man in der ehemaligen DDR natürlich nicht, weil man dort keine Marktbeziehungen herstellen konnte. Das wiederherzustellen und mit zusätzlicher Hilfe zu untermauern, schien mir wichtig, um die Unternehmen, die Arbeitsplätze und damit auch die sozialen Grundlagen der ehemaligen DDR zu erneuern. Kastan: Was haben Sie rückblickend, zehn Jahre nach dem Mauerfall, aus dieser Zeit gelernt? Was konnten wir alle lernen? Dohnanyi: Etwas Negatives zunächst: Wir lernten mit Blick auf die DDR, was ein totalitärer Sozialismus anrichten kann und wie gefährlich diese Leute sind - wenn sie über längere Zeit das Heft in die Hand bekommen -, weil sie ein ganzes Gesellschaftssystem zerstören können, in dem dann sehr schwer wieder etwas anwachsen kann. Man hat natürlich auch gelernt, wie tief solche Veränderungen in den Menschen in Ost und West sitzen und wie lange es dauert, bis so ein Riss mitten durch ein Land - man darf nicht vergessen, dass die Region der ehemaligen DDR 1945 wirtschaftlich etwas stärker war als die Region der späteren Bundesrepublik Deutschland West - wieder zusammenwächst und wie man darauf achten muss, dass die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen kreativ bleiben. Es ist auch heute für die Bundesrepublik wichtig zu erkennen, wo Reformen notwendig sind, um sich der evolutionären Menschheitsentwicklung nicht zu versagen, dabei zu bleiben in der Entwicklung von Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Sozialsystem. Kastan: Sie haben damals auch viel geschrieben, gerade am Anfang, als die neuen Länder dazukamen, u. a. einen "Brief an die Deutschen Demokratischen Revolutionäre". Haben Sie alles so vorausgesagt, wie es dann eingetreten ist? Dohnanyi: Der "Brief an die Deutschen Demokratischen Revolutionäre" war eigentlich ausgerichtet auf das Thema: "Fürchtet euch nicht, es wird zwar ganz schwierig werden, aber Freiheit ist doch etwas Schönes. Freiheit ist ein Windzug. Es zieht dann auch in dem Raum, in dem man sich befindet, denn die Fenster sind offen, aber es ist sehr schön." Im Sommer 1990 veröffentlichte ich ein Buch "Das Deutsche Wagnis". Es gibt zwei Ausgaben davon, und in beiden Vorworten habe ich dann geendet mit: "Warum hört hier eigentlich keiner richtig zu?". Ich hatte das Gefühl, dass es unglaublich unterschätzt wird, wie schwer diese Aufgabe sein wird. Meine Prognosen waren sehr zutreffend, und man könnte dieses Buch "Das Deutsche Wagnis" - das nun fast zehn Jahre alt ist - eigentlich so wieder drucken, und die Leute hätten das Gefühl, dass es in diesem Jahr erst geschrieben wurde. Ich habe es sehr bedauert, dass man nicht gesehen hat, wie schwer die Aufgabe ist. Kastan: Wir müssen heute natürlich noch einen Punkt ansprechen, und zwar die Auseinandersetzung, durch die Sie auch in die Schlagzeilen gerieten. Die Stichworte waren damals "Walser" und "Bubis". Walser kritisierte die Berichterstattung in Deutschland, nämlich dass zuviel berichtet wird über die Vergangenheit - die Nazizeit -, und warnte ein bisschen vor einer Ritualisierung. Dohnanyi: Ich bin nicht sicher, ob Sie ihn richtig wiedergeben. Walser hat im Grunde ganz unmissverständlich gesagt, dass er sich nicht von Leuten vorhalten lassen will, was deutsche Geschichte war, wenn er - der das weiß und mit dieser "unauslöschlichen Schande" lebt - das Gefühl hat, dass diese Menschen das instrumentalisieren. Bubis reagierte darauf und sagte, wenn ihm das immer wieder im Fernsehen begegnet, dann müsse er wegschauen. Ich kann das überhaupt nicht sehen im Fernsehen, denn mein Nervensystem hält das nicht aus. Ich weiß, was war, und ich kann es nicht sehen. Bubis reagierte aus seiner persönlichen Erfahrung. Ich fand, dass er überreagiert hat, weil er Walser einen "geistigen Brandstifter" nannte, was ich für ein unziemliches Wort halte. Kastan: Dagegen haben Sie sich dann gewandt. Dohnanyi: Ja. Ich finde, wenn in einer Veranstaltung, bei der der Bundespräsident Herzog und andere dabei waren, alle diese Rede als etwas zum Nachdenken Bedeutsames empfanden, man dann vorsichtig sein soll, wenn man es ganz alleine anders versteht. Ich sagte es auch Bubis, dass ich es nicht tolerant fand. Ich schätzte Bubis sehr und empfand ihn immer als Mitstreiter auf demselben Weg. Warum soll man aber mit einem Mitstreiter nicht einmal streiten, wenn man das Gefühl hat, der Mitstreiter zieht in die Irre? Ich fand, dass diese Reaktion ein Fehler von Bubis war, und sie war auch für die Debatte in Deutschland nicht richtig, weil ich es für ganz falsch halte, so zu tun, als ob wir auf dem Wege des Vergessens wären. Wenn ich mich in Deutschland umhöre, ist es eigentlich umgekehrt: Wir dringen immer tiefer in unsere Geschichte ein, reden immer offener und mit immer mehr Schrecken über die Nazizeit. Kastan: Im Nachhinein haben Sie ein gutes Gefühl, dass damals auf Einladung der FDP in Frankfurt noch so ein Schlichtungsgespräch mit Ignatz Bubis zustande kam. Dohnanyi: Mit der FDP war das ein bisschen anders. Ich war von der FDP eingeladen - gleichzeitig mit Bubis, und zwar schon bevor der Streit ausgebrochen war - , um zu dem Holocaust-Mahnmal ein sachkundiges Urteil abzugeben. Ich habe Herrn Gerhardt gebeten: "Wenn wir das schon machen und uns dort begegnen, dann möchte ich vorher mit Herrn Bubis in Ruhe reden, damit wir dort nicht mehr als Streiter auftreten, sondern uns vorher einigen." Das hat Herr Gerhardt freundlicherweise wunderbar organisiert. Bubis und ich waren dann alleine in einem Zimmer, und es hat weniger als 30 Sekunden gedauert, bis wir uns auf eine gemeinsame Haltung zu dieser Frage verständigt hatten. Keiner hat dem anderen weh tun wollen, und wenn er das getan hat, dann hat er sich dafür entschuldigt. Ich bin natürlich bei meiner These geblieben und bleibe dabei, dass Martin Walser kein "geistiger Brandstifter" ist. Kastan: Vielen Dank für dieses Gespräch. Das war Alpha-Forum, unser Gast war heute Klaus von Dohnanyi, Staatssekretär, Minister, Bürgermeister, Wirtschaftsmanager und vieles andere mehr. Vielen Dank.

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