VERBRECHEN

17 Jahre lang saß der Amerikaner Damien Echols in der Todeszelle, er sollte drei achtjährige Jungen umgebracht haben. Doch es gab keine Beweise. Nach der Freilassung wird er nun von seinen Erinnerungen geplagt. Von Thomas Hüetlin

Das meiste an ihm ist schwarz. Buch ist ein schauriges Zeugnis davon, Das Haar, die Kleidung, die Tät- wie jemand in die Fänge der amerikani- owierungen, die Sonnenbrille. Er schen Justiz gerät, dabei fast umkommt, trägt sie um zehn Uhr vormit- durch Schreiben und Meditation überlebt, tags in der Küche seines Hauses schließlich befreit wird. in Salem, Massachusetts. Das alles, lakonisch erzählt, ohne Echols legt die Brille auf den Empörung, ohne Wehleidigkeit, würde Tisch. „Wollte nur kurz sehen, „Mein Leben nach der Todeszelle" bereits A wie Sie aussehen", sagt er. "18 P zu einem bemerkenswerten Buch ma- D

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Jahre in der Zelle haben mich C chen, aber Echols zeigt darüber hinaus, N A I L halbblind gemacht." L was es heißt, im reichsten Land der Erde A

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Echols ist 38 Jahre alt, 1994 R jung und arm zu sein, zu den Aussätzigen U T C I zum Tode verurteilt, entlassen P des amerikanischen Traums zu gehören. /

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2011, als herausgekommen war, O Es ist kalt in Echols' Küche. Trotzdem D N A dass seine DNA nicht zu den L trägt er nur dieses schwarze T-Shirt. Die Spuren am Tatort eines Drei- Verdächtigter Echols 1993*; Die Zelle als Kloster Heizung aufdrehen geht nicht. Hitze, das fachmordes passt. Drei acht- ist für ihn die Erinnerung an die jährige Jungen waren auf grausame Armut einer Kindheit im Süden, Weise getötet worden. Echols, so hatte ohne Klimaanlage. das Gericht geurteilt, soll einer der Täter 85 Prozent seines Buches gewesen sein. Er hat das immer bestri- habe er im Gefängnis geschrie- tten. ben, sagt Echols, den Rest da- Die Menschen in Arkansas glauben an nach. Er habe unzählige Zettel Gott und die Todesstrafe. Sogar Bill Clin- und Hefte gefüllt. Das meiste ton wagte es nicht, dies in seiner Zeit als hätten ihm die Gefängniswärter Gouverneur dort in Frage zu stellen: Ei- gestohlen und vernichtet. nem Schwachsinnigen mit einem IQ von Die übrigen Andenken sind 70 verweigerte er die Begnadigung. Als unruhige Nächte und ein aus- diesem die letzte Mahlzeit serviert wurde, gebranntes Nervensystem. Die stellte er den Nachtisch beiseite. Den Nuss- Folge von 18 Jahren „Fighter kuchen wollte er am nächsten Tag essen. Flight", einem hohen Adre- Der Republikaner Mike Huckabee, einer nalinspiegel bei dauerhafter von Clintons Nachfolgern in Arkansas, Tafel in West Memphis 1993: Eifrige Bibelchristen Angst — zum Beispiel vor Wäch- der ebenfalls Präsident werden wollte, ist tern, die nachts in die Zelle ein- ein Mann, der die Evolution leugnet. Als Rockmusiker und Henry dringen, alles durchsuchen, den Sträfling im Jahr 1996 der Dokumentarfilm „Para- Rollins oder Filmregisseur . ausziehen, an die Gitterstäbe ketten und dise Lost" über den Dreifachmord ver- „Sie haben mich nicht rausgelassen we- ihn so heftig prügeln, dass sich sein Urin öffentlicht wurde, kamen Zweifel an der gen der Beweise", sagt Echols. Seit fast später rot färbt. Schuld Echols auf. Huckabee sagte da- zwei Jahrzehnten hätte es genügend Be- „Wenn sich die Menschen über Guan- mals, das seien keine Belege, keine weise gegeben für seine Unschuld. „Sie ha- tanamo aufregen, denke ich: Moment Dokumente, das sei nur nachgestelltes ben mich rausgelassen, weil der Staat end- mal, das ist nichts Besonderes. Das pas- Schauspielerzeugs. lich merkte, dass der Rest der Welt dabei siert in Amerika jeden Tag", sagt Echols. Wahrscheinlich wäre Echols heute tot, zusah, wie sie sich darauf vorbereiteten, ei- Er habe die 18 Jahre auch überlebt, hätte es nicht Menschen gegeben, die sich nen unschuldigen Menschen umzubringen." weil ihm gleich anfangs ein kahlgescho- für ihn einsetzten und Geld auftrieben, Echols hat seine Geschichte nun selbst rener Mithäftling einen Brief übergeben weil seine Geschichte irgendwie auch ihre aufgeschrieben. Seine Erinnerungen hei- habe. „Du kannst hier entweder verrückt Geschichte war — die eines jungen Au- ßen „Life After Death", sie sind jetzt auf werden oder langsam verrotten", stand ßenseiters, der sich nicht einschüchtern Deutsch unter dem Titel „Mein Leben darin, „oder du fängst an zu meditieren." ließ von eifrigen Bibelchristen. Seine Un- nach der Todeszelle" erschienen**. Das Der Sträfling, ein geständiger Mörder und terstützer waren junge Außenseiter, die späterer Zen-Meister, wurde Mitte der das Glück hatten, auf einem Filmset zu * Polizeifotos. neunziger Jahre hingerichtet. ** Damien Echols: „Mein Leben nach der Todeszelle". landen oder in einer Band. Menschen wie Aus dem amerikanischen Englisch von Rainer Schmidt. Echols hielt sich an dessen Rat. Seine der Schauspieler oder die Goldmann Verlag, München; 416 Seiten; 19,99 Euro. Zelle wurde eine Art Kloster in der Hölle.

DER SPIEGEL 2 1/2 0 1 3 Eine seiner Exerzitien sah folgenderma- ßen aus: erst zwei Stunden auf der Stelle joggen, barfuß, auf Beton, bis die Füße bluten. Dann meditieren, fünf Stunden lang. Sehen, wie das Blut durch die So- cken läuft, keinen Schmerz spüren, nur Energie, „die das Gefängnis wegschmel- zen lässt", sagt Echols. Mit seinen Übungen schuf sich Echols eine innere Welt, die Richter und Gefäng- niswärter nicht antasten konnten. Bis auf den kahlgeschorenen Zen-Meister, sagt Echols, habe er niemanden gehabt, mit dem er sich hätte unterhalten können. „Normale Menschen bringen nicht andere Menschen um. An Mördern ist etwas fundamental Gestörtes." Genauso wenig werde ein normaler Mensch in Amerika Gefängniswärter. „Es gibt keine kleinen Kinder, die sagen: ,Wenn ich einmal groß bin, möchte ich diesen Beruf ergreifen.' Nur, viele von denen, die sich dafür entschieden haben, kommen sogar in ihrer Freizeit her." Hier hätten sie das, was ihnen draußen im normalen Leben fehle: absolute Macht. Echols hat zwei Stunden lang erzählt, jetzt hat er Hunger und nichts im Kühl schrank. Er muss das Haus verlassen. Lunch. Immer noch das schwarze T-Shirt. Mit ihm läuft er durch den eisigen Wind. Einige Menschen blicken Echols hinter her. Er geht in kleinen, schlurfenden Schritten. Fußfesselschritte. Das Erbe von 18 Jahren Ketten an den Füßen. Auf einem kleinen Platz im Zentrum von Salem stehen graue Gedenksteine. Im Jahr 1692 wurden hier 13 Frauen als Hexen gehängt, ein 80-Jähriger, der sich weigerte, gegen seine Frau auszusagen, wurde zu Tode gefoltert. Salem ist heute eine der liberalsten Städte Amerikas, in West Memphis dagegen, sagt Echols, herr sche das Mittelalter, immer noch. Ohnmächtig dieser engen, gottesfürch tigen Gesellschaft ausgeliefert zu sein, das war sein Lebensgefühl von Anfang an. Vertrauen gab es nicht, kein Zuhause, keine Sicherheit. Männer kamen und gingen, mal zog die Mutter mit den Kindern in den fens- terlosen Hinterraum einer Kirche, mal in eine Bruchbude auf dem Land, umgeben von staubigen Feldern, ohne Strom, ohne Gesellschaft. Nur ein Pestizide sprühen- des Flugzeug kam regelmäßig vorbei. „Halt dich vom Brunnen fern, wenn der Flieger sich nähert", sagte die Mutter. Kultur gab es nur in Form einer fanatisch- ignoranten Kirchengemeinde, deren Religionsstifter versuchte, mit Olivenöl Krankheiten zu kurieren. „Mein Stief- vater konnte nur seinen Vor- und Nach- namen schreiben", sagt Echols. „Ein Buch hat er nie gelesen." Bücher, habe es bei Buchautor Echols Vertrauen gab es nicht, keine Sicherheit

DER SPIEGEL 2 1/2 0 1 3 Inhaftierter Echols 2010, Ehepaar Echoas* Deal mit der Staatsanwaltschaft MacBook Pro ihnen geheißen, seien nur etwas für „rei- Als Echols' Mutter einen Lagerraum Echols heute, habe er damals gedacht. che Leute". aufräumte, fiel ihr ein mottenzerfressener „Das ist der natürliche Ablauf der Dinge. Als die Familie in einen Trailer Park schwarzer Trenchcoat vor die Füße. Die Evolution bei der Arbeit." zog, glaubte Echols, er sei im Paradies. Echols zog ihn an. „Ich hatte das Gefühl, Sein Weg von unten nach ganz unten Endlich Strom, andere Menschen, Nach- in Sicherheit zu sein, wenn ich diesen beschleunigte sich, als am 6. Mai 1993 barn. Sogar ein kleiner See, auch wenn Mantel trug", erzählt Echols. „Die beste drei achtjährige Jungen tot, nackt und ge- das Wasser faulig roch und schäumte und Schmusedecke von allen." Er begann, fesselt in einem Wald bei West Memphis der Grund übersät war mit Abfall aus der Skelette von Tieren zu sammeln, die er gefunden wurden. Es machten sofort Ge- Wohnwagensiedlung. in der Umgebung fand. Knochen von rüchte die Runde, dass diese bestialischen Wieder nichts, was man Heimat nen- Eichhörnchen, Waschbären, Schlangen. Kindermorde nur das Werk wahnsinniger nen konnte. „Ich hatte keine neuen Turn- Er fing auch ein Tagebuch an. Ein dunkles Satanisten sein konnten. Jerry Driver schuhe, keine Ahnung, welche Videos auf Heft von einem Beerdigungsunterneh- schickte die Polizei zu Echols. Einen Mo- MTV liefen, nie die angesagten Filme ge- men. Seine Großmutter hatte es bei der nat später wurde Echols zusammen mit sehen", sagt Echols. Selbst in der Siedlung Bestattung ihres Mannes ausgelegt, für seinem Heavy-Metal-Freund Jason Bald- der Ärmsten blieb er ein Ausgestoßener. Beileidsbezeugungen. Niemand hatte win und einem Sonderschüler aus dem Ein Freak. „Mit meinen 12 oder 13 Jahren eine Zeile hineingeschrieben. Trailer Park namens Jessie Misskelley an- war ich zu dem Schluss gekommen, dass Mit 14 die erste Freundin. Einmal blieb geklagt. Misskelley hatte einen IQ von das Leben hoffnungslos ist." sie nachts bei ihm, beide brachen in einen 72. Er hatte ein Geständnis abgelegt und Die Schule bot keinen Ausweg. „Bil- leeren Wohnwagen ein. Dort fand die die beiden anderen belastet. dung, das war bestenfalls etwas für diese Polizei sie, sperrte Echols ins Gefängnis. Der Prozess war eine Farce. Mit schuss- Wesen, die wir aus dem Fernsehen kann- Ein Mann vom Jugendamt, er hieß Jerry sicheren Westen wurden die Angeklagten ten und die ein fabelhaftes Leben führten Driver, verhörte Echols, fragte ihn, ob er ins Gericht gefahren. Ein knappes Jahr in New York oder Kalifornien", sagt etwas von Satanisten gehört habe, von später das Urteil. Misskelley, lebensläng- Echols. „Ebenso gut hätte ich mir wün- deren „Plänen, Opfer zu bringen oder in lich plus 40 Jahre. Baldwin, lebensläng- schen können, mit einer selbstgebauten Kirchen einzubrechen". Echols verneinte, lich. Echols, Tod durch Giftspritze. Rakete auf den Mars zu fliegen." aber Driver glaubte ihm kein Wort. Es gebe nichts, was einen auf einen Echols flüchtete. In eine neue Welt. Die Nach einigen Tagen im Gefängnis bot solchen Richterspruch vorbereite, sagt Welt von Stephen King, Horrorfilmen, Driver Echols an, ihn freizulassen, wenn Echols heute. Nicht der Hass der Zuschau- Skateboards und Heavy Metal. Auch hier er sich in eine geschlossene psychiatrische er, nicht die ehrgeizigen Staatsanwälte, war es einsam, zunächst. Ein Skateboard Klinik begebe. Echols willigte ein, bekam die wiedergewählt werden wollten, nicht vom Flohmarkt und ein Stück Straße. Antidepressiva; als er rauskam, fühlte einmal die Low-Budget-Horrorfilme, die Aber einmal als Außenseiter, als Freak sich das Leben in Freiheit an, als würde er und seine Freunde nächtelang ansahen positioniert, fand er andere Freaks, Freun- er im Treibsand versinken. Die Mutter im Trailer Park. de. Jason Baldwin hieß einer von ihnen. riet ihm, sich beim Sozialamt Behinder- Echols wusste damals nichts von sei- Beide hörten nächtelang Kassetten mit tenunterstützung zu holen. Den Test be- nem einzigen Vorteil. Die Staatsanwalt- Songs von Guns N' Roses, , Iron stand er ohne Probleme. Er war nun offi- schaft hatte in ihrem ungebremsten Pro- Maiden, deren Song „Run to the Hills" ziell geistig behindert und tröstete sich filierungstrieb Kameras im Saal zugelas- zu ihrer Hymne wurde. Es geht darin um mit einem Mädchen, das er nicht liebte. sen, die jedes Detail filmten. Indianer, die von Weißen überfallen wer- Sie wurde schwanger. Er steuerte jetzt ge- Zwei Jahre später erschien die Doku- den und um ihr Leben rennen. Baldwin nau auf das Trailer-Park-Leben zu, dem mentation „Paradise Lost" beim Filmfes- und Echols waren die Indianer. er immer hatte entkommen wollen: ab- tival in Sundance, danach lief sie beim hängig, unglücklich, ohne Kraft, ohne Kabel-Kanal HBO. Die abgekartete In- * Nach Echols' Haftentlassung 2011. Sinn. „So ist eben unser Dasein", sagt szenierung der Justiz wurde in dem Film

DER SPIEGEL 2 1/2 0 1 3 sichtbar, es gab Proteste, Aufrufe, Promi- nentenstimmen, nur für Echols änderte sich nichts. Er blieb im Todestrakt. Dann sah eine junge Architektin in New York den Film. Sie hieß Lorri, sie verliebte sich, Heirat 1999. Danach hatte die Frau eigent- lich nur noch einen Beruf: die Unschuld ihres Mannes zu beweisen. Es war mühsam und sehr teuer. Zum Beispiel das DNA Testverfahren. Es wird zur einzigen Hoffnung für den Inhaftier- ten. Aber die Staatsanwaltschaft ver- schiebt die Termine, Echols muss die Kos- ten vorfinanzieren, 2007 schließlich das Ergebnis: null Übereinstimmung zwi- schen der DNA von Echols und den Spu- ren am Tatort. Keine Wiederaufnahme des Verfahrens. Nur neue Kosten, neue Eingaben, neue Akten. Lorri Echols gibt nicht auf, im Jahr 2010 bietet die Staatsanwaltschaft einen Deal an. Er ist so kurios verdreht wie das ganze Verfahren bis dahin: Die Angeklagten, so der Vorschlag, sollten sich schuldig be- kennen, aber auf ihrer Unschuld behar- ren. Daraufhin würde der Staat sie frei- lassen, aber nicht freisprechen. Die Voraussetzung, dass der Deal gilt: Alle drei Mordhäftlinge müssen zustim- men, kein Ton darf an die Medien drin- gen, zwei Wochen lang. „Ich wusste", sagt Echols, „wenn wir diesen Deal nicht annehmen, werden wir im Gefängnis sterben. Egal wie viele Filme noch über den Fall gedreht werden. Egal wie viele Bücher noch darüber geschrieben werden." Am Abend der Freilassung gibt Eddie Vedder auf dem Dach des vornehmsten Hotels in Memphis eine Party. Echols soll gefeiert werden. Er hat kaum Erinnerun- gen daran, nur eine: viele Hände, die auf seine Schultern klopfen. Am Morgen da- nach geht es in Vedders Privatjet ins Haus des Sängers nach Seattle, dann für ein Jahr in das New Yorker Apartment von Regisseur Peter Jackson. Es ist Nachmittag in Salem. Die Sonne ist herausgekommen, der Wind bleibt ei- sig, immer noch. Echols steht vor seinem Haus. Er hat es gekauft von dem Geld, das er für sein Buch und die Filmrechte bekam, aber er hat genug von seiner Ge- schichte. Deshalb ist er aus Los Angeles, wo er als Todeszellen-Überlebender her- umgereicht wurde, nach ein paar Tagen geflüchtet. Mit jedem Interview geht er zurück in jene Zelle, deren Tür er gern zuschließen würde. Für immer. Ein Postbote bringt ein Päckchen. Der Absender ist eine Musikfirma. Echols soll seine eigene Heavy-Metal-Show be- kommen. Man kann sich den Vorspann bereits vorstellen. Die Metal-Show mit Damien Echols, dem Mann, der den Todestrakt überlebte. Da geht sie wieder auf, die Tür zu seiner alten Zelle. •

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