Studien 3/2012

Qualität der Medien

Kriminalitätsberichterstattung in der Schweizer Presse

Schweiz Suisse Svizzera

fög / Universität

QdM_Studie_03_2012.indd 1 29.07.13 14:30 Die vorliegende Studie «Kriminalitätsberichterstattung in der Schweizer Presse» ist bereits im Jahrbuch 2012 Qualität der Medien publiziert worden (fög – Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft / Universität Zürich [Hg.]: Jahrbuch 2012 Qualität der Medien. Schweiz – Suisse – Svizzera. Basel: Schwabe, S. 332–360). Die Sterne hinter einzelnen Begriffen verweisen auf das Glossar des Jahrbuchs. Diese ePublikation verfügt u.a. über folgende Funktionen: Volltextsuche und Verlinkungen zu Internetseiten.

Copyright © 2013 Schwabe AG, Verlag, Basel, Schweiz und fög – Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft/ Universität Zürich Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages und des fög – Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft/Universität Zürich in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Gestaltung: Thomas Lutz, Schwabe Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel, Schweiz ISBN 978-3-7965-3229-0 ISSN 2296-5114

[email protected] www.foeg.uzh.ch www.schwabeverlag.ch

QdM_Studie_03_2012.indd 2 29.07.13 14:30 Studien 3/2012 Qualität der Medien

Schweiz – Suisse – Svizzera

Kriminalitätsberichterstattung in der Schweizer Presse

Mark Eisenegger, Patrik Ettinger

Herausgegeben vom fög – Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft/Universität Zürich im Auftrag der Stiftung Öffentlichkeit und Gesellschaft, Zürich

Schwabe Verlag Basel

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Zusammenfassung • Zunahme der Kriminalitätsberichterstattung: Die Langzeituntersuchung der Kriminalitätsberichterstattung in den drei Leitmedien NZZ, Tages-Anzeiger und im Zeitraum von 2002 bis 2011 zeigt einen wellenartig zunehmenden Berichterstattungsverlauf. Die Berichterstattungsdynamik wird wesentlich durch die politischen Kampagnen der SVP sowie durch publizistische Strategien, namentlich des Blick, bestimmt. Einen massgebli- chen Einfluss haben zum einen Wechsel in der Chefredaktion des Blick. Zum anderen ist die Dynamik stark durch die Politisierung von Kriminalität bestimmt. Als Schlüsselereignis erweist sich unter anderem der Ver­ gewaltigungsfall einer Schülerin in Zürich-Seebach Ende 2006. Dieser Fall wurde von vielen Medien und ins- besondere von Exponenten der SVP und dann der SP instrumentalisiert. In der Folge prägte das Thema Aus- länderkriminalität generell und die Kriminalität ausländischer Jugendlicher im Besonderen die Wahlen von 2007. • Parallelität der Kriminalitätsberichterstattung und der Bedrohungswahrnehmung der Bevölkerung: Der Vergleich mit Umfragedaten (gfs.bern, Sorgenbarometer) zeigt, dass sich die mediale wie die politische Thematisierung der Kriminalität auf die Bedrohungswahrnehmung in der Bevölkerung auswirkt. Die Bedrohungswahrneh- mung entwickelte sich im ­Zeitraum von 2002 bis 2011 weitgehend in Übereinstimmung mit der Intensität der Berichterstattung und der politischen Kampagnenführung. • Schwere Gewaltdelikte gegenüber der Kriminalstatistik überrepräsentiert: Der Vergleich der Kriminalitätsbericht- erstattung mit der polizeilichen Kriminalstatistik für das Jahr 2011 zeigt, dass Gewaltdelikte gegen Leib und Leben in der untersuchten Pressearena im Vergleich zur Polizeistatistik am stärksten überrepräsentiert sind (+26,4 Prozentpunkte [PP]). Die Überrepräsentation zeigt sich besonders ausgeprägt bei Tötungsdelikten. Diese sind medial im Vergleich zur Kriminalstatistik um das 434fache überrepräsentiert. Besonders stark im Medienfokus stehen Tötungsdelikte, denen ein Sexualverbrechen vorausgeht. Sexualdelikte (ohne Tötung) sind im Vergleich zur Kriminalstatistik ebenfalls überrepräsentiert (+10 PP). Deutlich im Fokus stehen dabei sexuelle Delikte an Kindern. Diese sind gegenüber der Kriminalstatistik um das rund 15fache überrepräsentiert. • Boulevardzeitungen: Die Boulevardzeitungen weisen von allen untersuchten Pressetypen anteilsmässig das grösste Berichterstattungsvolumen bezüglich Kriminalität auf. Die Berichterstattung ist insgesamt von niedri- ger Qualität. Sie ist stark ereigniszentriert, primär auf den unmittelbaren Tathergang fokussiert, kaum einord- nend und ausgesprochen stark moralisch-emotional* aufgeladen. Eine Spezialität der Boulevardzeitungen ist es, die Tat bereits im Titel aufmerksamkeitsheischend emotional zuzuspitzen und in einen politischen Kontext zu stellen (Bsp.: «Kosovare schlitzt Schwinger die Kehle auf», Blick 30.11.2011). Von allen Pressetypen sind bei den Boulevardzeitungen Gewaltverbrechen und hier vor allem Tötungsdelikte (+36 PP) sowie Delikte gegen die sexuelle Integrität (+11,4 PP, ohne Tötung) im Vergleich zur Kriminalstatistik am stärksten überre­ präsentiert. Während beim Blick primär Gewaltverbrechen stark übervertreten sind, sind es beim Sonntagsblick die Delikte gegen die sexuelle Integrität – speziell Sexualdelikte an Kindern. Wie auch bei der Gratiszeitung zeigt sich die Tendenz, die Angeschuldigten solcher Delikte zu diskreditieren (z. B.: «Sex-Bestie», «Chat Grüsel»). • Gratiszeitung: Die Gratiszeitung bewirtschaftet die Kriminalitätsberichterstattung 2011 am zweit- stärksten. Auch hier überwiegen die Qualitätsdefizite deutlich: Die Berichterstattung ist stark episodisch*, sie fokussiert ebenfalls primär auf den unmittelbaren Tathergang, aber kaum auf die juristische Aufarbeitung, Hin- tergrundberichte fehlen praktisch ganz und der Eigenleistungsanteil ist im Vergleich aller Pressetypen am geringsten. In der Gratiszeitung sind Delikte gegen die sexuelle Integrität nach dem Boulevard am zweitstärks- ten im Vergleich zur Kriminalstatistik übervertreten (+10,5 PP, ohne Tötung), wobei besonders häufig pädo- phile Vergehen thematisiert werden. Auch hier werden die Angeschuldigten moralisch diffamiert (z. B. «Pädo-

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Grüsel», «Porno Lehrer»). Im Vergleich aller Pressetypen sind bei der Gratiszeitung 20 Minuten wenig relevante, minderschwere Vermögensdelikte gegenüber der Kriminalstatistik am wenigsten untervertreten (–39,6 PP). Die Gratiszeitungen nutzen diesen Delikttyp am meisten, um basierend auf Agentur- oder Polizeimeldungen res- sourcenschonend Berichterstattungsvolumen zu generieren. • Abonnementszeitungen: Das Volumen der Kriminalitätsberichterstattung ist bei den Abonnementszeitungen im Verhältnis zu den Gratis- und Boulevardzeitungen geringer. Auffallend ist bei den Abonnementszeitungen die ausgeprägte Regionalisierung der Kriminalitätsberichterstattung: Strafrechtlich relevante Delikte werden gross- mehrheitlich im jeweiligen Regionalressort* thematisiert. Auf der Titelebene zeigen sich grosse Unterschiede zwischen den drei erfassten Abonnementszeitungen. Im Bereich der Kriminalitätsberichterstattung hat der Tages-Anzeiger ein Profil, das in Teilaspekten jenem der Boulevard- und Gratiszeitungen ähnelt. So weist der Tages-Anzeiger anteilsmässig eine sogar noch leicht umfangreichere Kriminalitätsberichterstattung auf als der Gratistitel 20 Minuten. Ebenfalls sind beim Tages-Anzeiger Gewaltverbrechen im Vergleich zur Kriminalstatis- tik annähernd so stark übervertreten wie beim Sonntagsblick (+26,2 PP). Allerdings ist der Stil des Tages-Anzei- gers deutlich sachlicher als jener der Boulevard- und Gratistitel. • Wochenmedien: Im Vergleich der Pressetypen sind bei den Presseerzeugnissen Weltwoche und WochenZeitung (WoZ) die meisten einordnenden Beiträge zu verzeichnen, wobei die WochenZeitung Täter und Tat deutlich mehr einordnet. Kennzeichnend ist bei beiden eine stark moralisch-emotionale Aufladung der Kriminalitäts- berichterstattung, dies allerdings wiederum stärker bei der Weltwoche, die gesamthaft qualitativ hinter die WochenZeitung zurückfällt. Die Auswahl und die Form der Darstellung der Kriminalitätsfälle ist bei beiden Titeln Ausdruck einer weltanschaulich geprägten Redaktionslinie. Bei beiden Pressetiteln ist die Deliktkatego- rie gegen den öffentlichen Frieden im Vergleich zur Kriminalstatistik stark überrepräsentiert (+15,6 PP). Wäh- rend die Weltwoche in Übereinstimmung mit ihrer rechtspopulistischen Linie in dieser Rubrik unter anderem auf linksextreme Gewalt fokussiert, beleuchtet die linksalternative WochenZeitung hier beispielsweise das ­Problem des Hooliganismus und dessen politischer Bewältigung. • Qualität der Berichterstattung über die Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches (AT-StGB): Die mediale Fokussierung auf schwere Delikte gegen Leib und Leben und die sexuelle Integrität beeinflusst auch die ­Diskussion um die Rechtsetzung und Rechtsprechung. Anhand der Diskussion um die Revision des AT-StGB, mit der unter anderem kurze Gefängnisstrafen durch Geldstrafen ersetzt wurden, lässt sich die Interdependenz von Medienlogik und politischer Logik zeigen. Nach der Tötung einer jungen Frau durch einen vorbestraften Täter (Fall Lucie T.) intensivierte sich die Diskussion über die Revision des Strafgesetzbuches sprunghaft. Die Boulevard- und Gratiszeitungen nehmen das Thema auf und fokussieren auf jene parteipolitischen Positionen, denen aufgrund ihrer konfliktiven Zuspitzung ein hoher Nachrichtenwert* zukommt. Damit ändert sich der Charakter der Berichterstattung deutlich. Was in der überregionalen Abonnementspresse als Expertendiskurs in einem sachlichen Berichterstattungsstil* begann, wird durch die politische Aufladung dieses Tötungsdelikts zu einer auf die parteipoli­tische Auseinandersetzung fokussierten und durch die Gratis- und Boulevardzeitun- gen episodisch gestalteten sowie moralisch-emotional aufgeladenen Berichterstattung. • Vielfalt* der Argumente zur Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches (AT-StGB): Argumente gegen die Revision dominieren die Berichterstattung und nehmen im Zeitverlauf deutlich zu. Das resonanzstärkste Argument gegen die Revision spricht den Geldstrafen eine abschreckende Wirkung auf die Täter ab. Das zweit- häufigste Argument gegen die Revision diskreditiert diese pauschalisierend als Ausdruck einer «Kuscheljustiz». Dieses Argument wird vor allem von Parteiakteuren sowie von den Gratis- und Boulevardmedien vorgebracht und vermag sich im Kontext des Falls Lucie T. zu etablieren. Widerspruch erwächst diesem populistischen Argument nur von Seiten der Experten und Teilen der Abonnementspresse. Im Vergleich der Printmedien­ typen* zeigt sich, dass Gratis- und Boulevardmedien nicht nur einer geringeren Vielfalt von Argumenten ­Resonanz verleihen, sondern die pauschalisierende Kritik der Parteiakteure an der Revision («Kuscheljustiz») auch unhinterfragt übernehmen.

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Einleitung und Fragestellung matisiert? Hinsichtlich der Bedeutung der Legitima- In der massenmedial vermittelten öffentlichen Kom- tions- und Kontrollfunktion der Medien gilt es, die munikation wird durch die Form der Berichterstattung begründete Kritik an Institutionen der Rechtssetzung über Kriminalfälle sowie die Fokussierung auf spezi­ und der Rechtspflege von populistischen Skandalisie- fische Delikt-, Täter- und Opferkategorien einerseits, rungen* und Delegitimierungen zu trennen. Und hin- und durch die Resonanz, die politische Akteure mit sichtlich der Integrationsfunktion* der öffentlichen ihrer Problematisierung der Kriminalität erhalten Kommunikation ist danach zu fragen, inwieweit eine andererseits, eine spezifische Kriminalitätswahrneh- pauschalisierende Berichterstattung über spezifische­ mung etabliert. Aufgrund der medialen Selektions- Tätergruppen entlang ethnischer Zuschreibungen vor- und Darstellungslogiken und der Logik politischer liegt, die der Ausgrenzung dieser ethnischen Gruppe Kampagnenführung weicht die Wahrnehmung der Vorschub leistet. Kriminalität von der anhand extramedialer Daten Dieser Beitrag evaluiert die Qualität der Medien­ gemessenen Kriminalitätsentwicklung häufig ab. Dies berichterstattung über Kriminalität und Rechtspflege sowohl hinsichtlich schwerer Gewaltdelikte (vgl. anhand von drei Studien: ­Baumann 1995), als auch hinsichtlich spezifischer 1. Im ersten Teil des Beitrags, einer Längsschnittstudie, Täterkategorien (vgl. Brosius/Esser 1995; Fröhlich steht die Entwicklung der Kriminalitätsberichter- 1998; Dixon/Linz 2000). Die medial vermittelte Krimi- stattung im Zentrum (Kapitel 1). Hier interessiert, nalitätswahrnehmung beeinflusst die Wahrnehmung wie sich während der letzten zehn Jahre in drei Leit- der Bürgerinnen und Bürger, was die Dringlichkeit, medien der Deutschschweiz (NZZ, Tages-Anzeiger,­ Angemessenheit und Effizienz legislativer und judika- Blick) die Kriminalitätsberichterstattung verändert tiver Massnahmen betrifft. Eine intensive mediale und hat und welche Delikt- und Täterkategorien erhöhte politische Problematisierung der Kriminalität bewirkt Aufmerksamkeit erhalten. Zur Erfassung dieser eine gesteigerte Problemwahrnehmung und ein ver- ­Aufmerksamkeitsfokussierungen, die durch mediale stärktes Sicherheitsbedürfnis bei der Bevölkerung. wie durch politische Logiken gesteuert werden, wer- Diese Problematisierung führt deshalb regelmässig den jene Kommunikationsereignisse* ausgewählt, in zum Ruf nach strengeren Gesetzen und ihrer strikteren denen Kriminalität resonanzstark durch Medien Anwendung, aber auch zur Delegitimation von Akteu- oder durch politische Akteure thematisiert wurde. ren und Institutionen der Legislative wie der Straf- Auf diese Weise lässt sich rekonstruieren, welche rechtspflege. Das Schlagwort der «Kuscheljustiz» ist die Bedeutung die Kriminalitätsberichterstattung im semantische Verdichtung dieses Prozesses. Dies und die Allgemeinen erhält, welche spezifischen Kriminali- Möglichkeit der Bestimmung ‹ethnischer› Täterkate- tätsfälle besonders hervor­gehoben werden und gorien (z. B. «Balkanraser») machen das Thema Krimi- ­welche Resonanz mit Kriminalität verbundene poli- nalität für den Medienpopulismus* und den politi- tische Kampagnen in der Berichterstattung erhalten. schen Populismus* attraktiv (vgl. Plasser/Ulram 2003; Zudem werden in diesem ersten Teil im Sinne der Mazzoleni 2008). Im Themenfeld der (Ausländer-)Kri- eingangs skizzierten Wirkungsdimensionen mög­ minalität können rechtspopulistische Akteure die für liche Einflüsse auf die politische Agenda und die sie typischen Differenzsemantiken* gegen das «Fremde» Bevölkerungsagenda* diskutiert.­ (segmentäre Differenzsemantik) und gegen die «classe 2. Der zweite Teil der Studie besteht in einer Quer- politique» (stratifikatorische Differenzsemantik) kom- schnittanalyse der Kriminalitätsberichterstattung in binieren und sich als Vertreter des guten, aber bedroh- einem breiten Pressesample des Jahres 2011, das ten Volkes inszenieren (Imhof 2011, S. 176–181). sämtliche Pressetypen erfasst (Kapitel 2). Hier inter- Aufgrund der Bedeutung der Medien für moderne essieren die Über- bzw. Unterrepräsentation straf- Demokratien ist die Qualität* der Medienbericht­ rechtlich relevanter Deliktkategorien sowie spezi­ erstattung auch im Bereich der Kriminalität zu unter- fischer Täter- und Opfergruppen im Vergleich zur suchen. Inwiefern wird diese Berichterstattung der polizeilichen Kriminalstatistik. Zu diesem Zweck Forumsfunktion* öffentlicher Kommunikation gerecht, wird die Thematisierungsintensität verschiedener indem sie relevante Kriminalitätsentwicklungen the- Straftaten, Täter- und Opferkategorien ermittelt

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und mit der Kriminalstatistik verglichen. Darüber erzeugt. Die­jenigen Akteure, die sich mit diesem hinaus wird die Kriminalitätsberichterstattung im Thema zu profilieren suchen, erhalten bereits von Hinblick auf die Aspekte Sachlichkeit (Professiona- ­Seiten der Medien erhöhte Aufmerksamkeit; politische lität*) und Einordnungsleistung (Aktualität*) vali- ­Kampagnen, die sich den medialen Selektions-, Inter- diert. pretations- und Darstellungslogiken anpassen (vorab 3. Um die politische Relevanz der Kriminalitäts­ ­Strategien der Konfliktstilisierung* und des gezielten berichterstattung zu überprüfen, wird im dritten Tabubruchs) haben grosse Resonanzchancen. In der Teil die medienvermittelte Debatte über die Revision Interdependenz politischer und medialer Logiken ent- des Allgemeinen Teils des Schweizerischen Strafge- stehen dann ­Aufmerksamkeitsfokussierungen in der setzbuches (AT-StGB) untersucht (Kapitel 3). Die öffentlichen Kommunikation, die wir methodisch in 2007 in Kraft gesetzte Revision des AT-StGB ist eine Form sogenannter Kommunikationsereignisse erfassen. wichtige und zugleich stark umstrittene Änderung Diese methodische Konzentration auf jene Kriminali- des Strafgesetzbuches. Die medienvermittelte Dis- tätsfälle und -diskussionen, die hohe Aufmerksamkeit kussion über die Strafgesetzgebung und die Straf­­ erzeugen, ist auch vor dem Hintergrund möglicher gesetzpflege lässt sich anhand der Debatte um diese Einflüsse auf die Bedrohungsperzeption der Bürgerin- Revision exemplarisch zeigen. Die Qualität dieser nen und Bürger relevant, denn bei diesen Kriminalfällen Berichterstattung wird anhand der Indika­toren Viel- kann vorausgesetzt werden, dass sie von vielen Rezipi- falt der Akteure und Argumente sowie Sachlichkeit enten wahrgenommen werden. (Professionalität) und Einordnungsleistung­ (Aktua- lität) analysiert. Methodik der Längsschnittuntersuchung Zur Analyse der diachronen Entwicklung der Krimina- 1. Längsschnittuntersuchung: litätsberichterstattung werden für den Untersuchungs- Wandel der Kriminalitätsberichterstattung zeitraum von 2002 bis 2011 all jene Kommunikations- 2002–2011 ereignisse in den drei Leitmedien Blick, NZZ und Die Kriminalitätsberichterstattung ist nach medialen Tages-Anzeiger ausgewählt, die zumindest zehn Beiträge Logiken gestaltet, d. h. sie orientiert sich an sogenann- umfassen und in denen Kriminalität zentral thema­ ten Nachrichtenwerten. Die Auswahl dessen, was über tisiert wird. Daraus resultiert ein Untersuchungssample die Medienstellen der Polizei und die Nachrichten- mit 424 Kommunikationsereignissen. Diese Kommuni- agenturen (zu den Quellen der Kriminalitätsberichter- kationsereignisse werden anschliessend nach dem stattung vgl. Obermöller/Gosch 1995, 50f.) Eingang ins ­zentral thematisierten Delikttyp (u. a. Leib und Leben, Medium findet, geschieht in den Redaktionen immer sexuelle Integrität, Vermögensdelikte) sowie nach der auch vor dem Hintergrund der unterstellten Informa- Altersgruppe und der Staatszugehörigkeit der Täter tions- und Unterhaltungsbedürfnisse der Medienrezi- codiert. Die Codierung der Delikttypen orientiert sich pienten. Dasselbe gilt für die Entscheidung darüber, an den Kategorien des Strafgesetzbuches (StGB). welche Meldungen wie aufbereitet und durch Eigen­ Zusätzlich werden Delikte gegen das Strassenverkehrs- recherche vertieft oder bisweilen auch nur ausge- gesetzes (SVG) und das Betäubungsmittelgesetz schlachtet werden. Die Orientierung an Nachrichten- (BetmG) berücksichtigt, jedoch nicht weiter differen- werten führt dazu, dass vor allem jene Kriminalitätsfälle ziert. Wo mehrere Delikttypen gleichgewichtig be- Aufmerksamkeit erhalten, mit denen starke Emotionen handelt werden, wird die Ausprägung «Mehrfach­ – der Empathie mit einem Opfer oder der Abscheu vor delikte» vergeben (vgl. fög 2012, «Methodik»). einem Täter bzw. der Bedrohung durch ihn – geweckt werden können. Personalisierung* und Prominen­ zierung führen dazu, dass Kriminalitätsfälle, in die Schwerpunkte und Dynamiken Prominente verwickelt sind, ebenfalls mit erhöhter der Kriminalitätsberichterstattung Aufmerksamkeit rechnen können. Aufmerksamkeit Die Berichterstattung über Kriminalität in den drei für Kriminalität wird jedoch nicht nur durch die untersuchten Deutschschweizer Leitmedien während Medien, sondern auch durch politische Akteure der letzten zehn Jahre verläuft wellenartig und nimmt

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Leib und Leben Sexuelle Integrität Vermögen Mehrfachdelikte weitere Delikttypen Strassenverkehrsgesetz Öffentlicher Frieden

Darstellung 1: Intensität der Kriminalitätsberichterstattung nach Delikttypen 2002–2011 Die Darstellung zeigt die Intensität der Berichterstattung pro Jahr als Summe aller Artikel, die sich in allen erfassten Kommunikationsereignissen in den drei Zeitungen NZZ, Tages-Anzeiger und Blick pro Jahr finden. Diese Kommunikationsereignisse wurden nach dem zentralen Deliktfokus codiert. Die unterschiedlichen Farbsegmente der Säulen stellen die Anteile der wichtigsten Delikttypen an der gesamten Kriminalitätsberichterstattung dar. Lesebeispiel: 2003 thematisieren von den insgesamt 455 erfassten Beiträgen zur Kriminalität deren 209 Vermögensdelikte (Prozesse gegen Guido A. Zäch und die Verantwortlichen in Leukerbad sowie Diskussion um das Geschäftsgebaren der Erb-Gruppe); 92 Beiträge fokussieren auf Delikte gegen die ­sexuelle Integrität und 76 Beiträge auf Delikte gegen Leib und Leben. 30 Beiträge beschäftigen sich mit Verstössen gegen die Strassenverkehrsordnung (Raser) und 48 Beiträge behandeln weitere Delikte, die aufgrund der geringen Fallzahlen hier zusammengefasst wurden.

über die Zeit tendenziell zu (vgl. Darstellung 1). Die stark, so dass neben pressetypenspezifischen Effekten Dynamik der Berichterstattung wird erheblich durch und unterschiedlichen Kampagneneinflüssen seitens die Kampagnen der SVP und die Strategien des Boule- politischer Akteure auch unterschiedliche redaktio- vardblattes Blick bestimmt. Erstere sorgen für die nelle Strategien angenommen werden müssen. Im ­beiden höchsten Ausschläge in den Jahren 2007 und Zeitraum von Februar 2003 bis März 2007, in dem 2010. Umgekehrt bewirkt die zurückhaltende Krimina- Werner De Schepper Chefredaktor des Blick war, lag litätsberichterstattung im Blick in der Ära des Chef­ der Anteil der Kriminalitätsberichterstattung bei redaktors De Schepper vergleichsweise niedrige Werte unterdurchschnittlichen 5,4%; unter Ralph Grosse- in den Jahren 2003 bis 2006. Bley, der seit Juli 2009 (vorerst interimistisch) als Chef- Im Vergleich der drei analysierten Zeitungen bestätigt redaktor des Boulevardblattes wirkt, stieg er auf 8,4%. sich, dass Kriminalität ein klassisches Boulevardthema Dieser Unterschied bleibt auch bestehen, wenn wir, um ist. So umfasst die durch die Kommunikationsereignis- zeit- bzw. kontextspezifische Faktoren ausschliessen zu analyse* erfasste Kriminalitätsberichterstattung zwi- können, diese Werte jeweils mit jenen der NZZ ver­ schen 2002 und 2011 im Blick 7,0% der gesamten gleichen, deren Kriminalitätsberichterstattung die Berichterstattung des Boulevardblattes, während der geringsten Schwankungen aufweist. In der Ära Ralph entsprechende Anteil im Tages-Anzeiger bei 3,3% und Grosse-Bleys beträgt die Differenz 7,2 Prozentpunkte; in der NZZ bei 1,1% liegt. Diese Unterschiede zwi- in jener De Scheppers 4,5 Prozentpunkte. Der Ver- schen der Boulevardzeitung und der (überregionalen) gleich zwischen den beiden Chefredakteuren zeigt, dass Abonnementspresse variieren über die Zeit jedoch auch im Boulevard Kriminalität nicht zu jeder Zeit ein

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Darstellung 2: Aufmerksamkeit für Deliktkategorien Blick Neue Zürcher Tages- Presse Delikte nach Pressetitel Zeitung Anzeiger insgesamt Die Darstellung zeigt den prozentualen Leib und Leben 44,8% 23,4% 25,0% 30,7% Anteil, den die erfassten Deliktkategorien Sexuelle Integrität 20,2% 23,2% 21,7% 21,7% in der Berichterstattung der drei Vermögen 13,0% 22,5% 21,3% 19,0% Zeitungen NZZ, Tages-Anzeiger und Blick im Untersuchungszeitraum von 2002 bis Mehrfachdelikte 3,1% 9,3% 6,9% 6,4% 2011 einnehmen, sowie den Anteil, Öffentlicher Frieden 2,9% 5,7% 6,5% 5,1% den sie im Durchschnitt der gesamten Strassenverkehrsgesetz 5,6% 2,5% 4,0% 4,1% erfassten Pressearena erreichen. Freiheit 2,8% 2,5% 3,1% 2,8% Lesebeispiel: In der Kriminalitätsbericht­ Rechtspflege 1,5% 2,5% 2,6% 2,2% erstattung des Boulevardmediums Blick nehmen Delikte gegen Leib und Leben Betäubungsmittelgesetz 1,5% 2,3% 2,3% 2,0% 44,8% der gesamten über die Kom- Bestechung 0,8% 1,2% 2,1% 1,4% munikationsereignisse erfassten Ehre-, Geheim-, Privatbereich 1,0% 1,9% 1,4% 1,4% Kriminalitätsberichterstattung ein. Volkswille 0,5% 1,2% 0,8% 0,8% Gemeingefährliche Verbrechen und Vergehen 0,8% 0,7% 0,8% 0,8% Amts- und Berufspflicht 1,0% 0,3% 0,4% 0,6% anderes 0,2% 0,3% 0,7% 0,4% Urkundenfälschung 0,2% 0,4% 0,4% 0,3% Gesamt 100% 100% 100% 100%

gleich starkes Thema ist. Vielmehr variieren sowohl die ­solcher Delikte seitens der SVP Höchstwerte erzielen. Intensität als auch der Fokus der Kriminalitätsbericht- Delikte gegen Leib und Leben finden in den Jahren erstattung in Abhängigkeit von redaktionellen Leit­ 2007 sowie 2009 und 2010 die grösste Aufmerksamkeit. linien. Diese Aufmerksamkeitsfokussierung erklärt sich Hinsichtlich der Delikttypen zeigt sich, dass vor allem ­ebenfalls zu einem erheblichen Teil aus der Politisie- (schwere) Delikte gegen Leib und Leben (30,7% der rung der Gewaltdiskussion anhand zweier Fälle (Tötung ­Kriminalitätsberichterstattung) und die sexuelle Inte­ von Lucie T. 2009; Prügelnde Schüler auf Klassenfahrt grität (21,7%) sowie aufsehenerregende Vermögens­ in München 2009 und 2010) sowie aus der Gewalt­ delikte (19%) im Zeitraum von 2002 bis 2011 intensive zunahme an politischen Veranstaltungen (Wahlver­ mediale Resonanz erzielen (vgl. Darstellung 2). Die anstaltung der SVP in Bern 2007; 1. Mai 2007). viertgrösste Deliktkategorie, Verstösse gegen den Allerdings gibt es wiederum grosse Unterschiede in der öffentlichen Frieden, ist mit 5,1% bereits deutlich Fokussierung auf spezifische Delikttypen zwischen den weniger häufig Gegenstand der Berichterstattung. Pressetypen (vgl. Darstellung 2). Einen eindeutigen Auf diese vier Deliktkategorien des Strafgesetzbuches Schwerpunkt auf Delikte gegen Leib und Leben legt die (StGB) entfallen zusammen drei Viertel der gesamten Boulevardzeitung Blick. Sie berichtet beinahe doppelt Kriminalitätsberichterstattung. Die bereits in früheren so häufig über diese Deliktkategorie wie die überregio- Studien (Baumann 1995) festgestellte mediale Fokus­ nale Abonnementszeitung NZZ (45% der gesamten sierung auf schwere (Gewalt-)Delikte lässt sich also erfassten Kriminalitätsberichterstattung des Blicks im bestätigen. Im Zeitvergleich zeigt sich, dass die Bericht- Vergleich zu 23% bei der NZZ). Inhaltlich handelt es erstattung über Delikte gegen die sexuelle Integrität sich häufig um ‹Familiendramen› (z. B. die Tötung der nach dem Medienhype um den Vergewaltigungsfall Skirennfahrerin Corinne Rey-Bellet 2006). Daneben einer Schülerin in Zürich-Seebach Ende 2006 (vgl. fokussiert die Kriminalitätsberichterstattung im Blick Imhof 2007) deutlich zunehmen, und in den Jahren auf Täter, die als besonders bedrohlich dar­gestellt 2008 und 2009 in absoluten wie relativen Zahlen vor- ­werden («der Mitternachtsmörder»). Auch «Raser» nehmlich als Folge der intensiven Bewirtschaftung sind ein sehr präsentes Thema im Blick: Jene «Raser»-

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Fälle, die nicht unter das Strafgesetzbuch (StGB) fallen, der Kriminalitätsberichterstattung; und entsprechend sind ursächlich für die überdurchschnittlich hohen sind die Ausschläge in den Resonanzkurven der Par- Anteile der Kategorie «Strassen­verkehrsgesetz» im teien durch Verfahren gegen Politiker gekennzeichnet: Blick. Dagegen ist die Kriminalitätsberichterstattung 2003 die Skandale um den Präsidenten der Schweizer der NZZ stark auf Vermögensdelikte (vor allem die Paraplegiker-Stiftung und CVP-Politiker Guido A. Untersuchung und den Prozess gegen ehemalige SAir- Zäch und den CVP-Ständerat Filippo Lombardi; 2004 Group-Verantwortliche; das Verfahren gegen den die Affäre Behring, von der auch sozialdemokratische­ Swissfirst-Chef Thomas Matter und der Prozess gegen Politikerinnen und Politiker betroffen sind. Dies Guido A. Zäch) fokussiert. Über Delikte dieses Typs ändert sich deutlich Ende 2006 im Zuge der Bericht­ berichtet die NZZ gleich oft wie über Delikte gegen erstattung über den Vergewaltigungsfall einer Schüle- Leib und Leben sowie die sexuelle Integrität. Das Profil rin in Zürich-Seebach. Dieser Fall wird von vielen­ des Tages-Anzeigers ist durch eine etwas grössere Medien – durch Verbreitung von Anschuldigungen Berichterstattung über Delikte der Kategorie­ öffent­ Dritter ohne Faktenprüfung, Befragungen von Kin- licher Frieden gekennzeichnet, worunter sowohl Hoo- dern und Jugendlichen auf dem Pausenplatz und liganismus wie auch Verstösse gegen Art. 261bis, den Unterschlagung der Unschuldsvermutung resp. durch sogenannten Antirassismusartikel, fallen.­ Zudem eine auch in der Urteilsbegründung explizit beklagte berichtet der Tages-Anzeiger häufiger als die anderen Vorverurteilung – instrumentalisiert, aber auch von beiden Zeitungen über Bestechungsdelikte. den Parteien, insbesondere von der SVP und dann von Exponenten der SP. Mediale wie politische Zuspitzun- Politisierung der Kriminalitätsbericht­ gen des Falls und der daraus zu ziehenden Schlussfol- erstattung gerungen, die vor dem Abschluss der Untersuchungen Wie eingangs erwähnt, sind neben redaktionellen geäussert wurden, führten zu einer deut­lichen Auf- ­Leitlinien vor allem die Kampagnen der SVP und die merksamkeitsfokussierung. Gleichzeitig stieg 2007 die Reaktionen der anderen politischen Parteien auf diese Aufmerksamkeit für Gewaltereignisse an politischen Kampagnen für die Dynamik der Kriminalitätsbericht- Anlässen (1. Mai; Wahlveranstaltung der SVP in Bern). erstattung der letzten zehn Jahre verantwortlich. Das Sie werden medial als Ausdruck einer zunehmenden zeigt sich schon am Umstand, dass die beiden Jahre mit Polarisierung und einer Erosion der konsensorientier- der intensivsten Kriminalitätsberichterstattung in den ten politischen Kultur interpretiert. Dieser Konflikt- drei untersuchten Zeitungen die Jahre 2007 und 2010 frame verhilft Akteuren der SVP und der SP zu noch sind (vgl. Darstellung 1). Die SVP machte in ­diesen mehr Aufmerksamkeit. Zudem profitieren beide Par- Jahren die Kriminalität zum zentralen Thema ihrer teien vom etablierten Medienframe der ‹Polparteien›. Kampagne zu den Eidgenössischen Wahlen respektive Neben den medialen Logiken ist also die Intensität und zur Volksinitiative «für die Ausschaffung krimineller Form der politischen Kampagnenführung wesentlich Ausländer» (Ausschaffungsinitiative) – und reüssierte für die Aufmerksamkeitsfokussierung auf das Thema damit beide Male an der Urne. Kriminalität verantwortlich. Mit ihrer im Hinblick auf Um mit einem einfachen Indikator ein Indiz für die die Eidgenössischen Wahlen 2007 lancierten Volks­ Politisierung der Berichterstattung zu gewinnen, wur- initiative «für die Ausschaffung krimineller Ausländer» den all jene Beiträge in der Kriminalitätsberichterstat- (Ausschaffungsinitiative), die 2010 an der Urne ange- tung ermittelt, in denen die im Eidgenössischen Parla- nommen wurde, sorgte die SVP nicht nur dafür, dass ment vertretenen, vier grössten Parteien SP, SVP, FDP, das Thema der (Ausländer-)Kriminalität auch in den CVP erwähnt werden. folgenden Jahren auf der Agenda blieb, sondern hielt Wenn wir nun die derart gemessene Resonanz der poli- sich selbst im Gespräch. So erzielte sie in diesem Kom- tischen Parteien in der Kriminalitätsberichterstattung munikationsereignis 39% der Parteienresonanz und während des Untersuchungszeitraums betrachten (vgl. lag damit deutlich vor der SP (20%), der FDP (16%) Darstellung 3), so zeigt sich, dass bis ins Jahr 2006 der und der CVP (13%). Der SVP gelingt es zudem, das Politisierungsgrad der Kriminalitätsberichterstattung Deutungsmuster einer durch kriminelle Ausländer gering ist. Politische Akteure sind vor allem Objekte bedrohten Schweiz in der öffentlichen Kommunika-

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250 Darstellung 3: Resonanz der politischen Parteien in der Krimi- nalitätsberichterstattung 200 Die Darstellung zeigt die Resonanz, die die vier grössten Schweizer Parteien in der Kriminalitätsbericht- erstattung pro Untersuchungsjahr 150 erzielen. Abgetragen ist jeweils die Anzahl der Artikel, in denen sie erwähnt werden. Parteien bzw. 100 Parteiexponenten können dabei sowohl als Sprecher, als auch als Aussageobjekt auftreten. 50 Lesebeispiel: 2003 wird die CVP in 48 Beiträgen der gesamten Krimi- nalitätsberichterstattung und damit 0 am häufigsten von allen vier 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 grossen Parteien erwähnt. Die SP CVP FDP SP SVP findet in 29 Beiträgen Erwähnung, die FDP in 27 und die SVP in 19 Beiträgen. Resonanz finden die Parteien bzw. ihre Exponenten zumeist als Berichterstattungs­ objekte, was an der CVP, deren Exponenten in mehrere Gerichts- fälle verwickelt waren, besonders deutlich wird.

tion zu etablieren (Udris/Imhof/Ettinger 2011, S. 377). an der gesamten Berichterstattung 6%, in den Jahren Das Jahr der Abstimmung über die Ausschaffungs­ 2006 bis 2008, in denen der Fall Zürich-Seebach und initiative stellte denn auch den Höhepunkt der anhand seine ­Folgen breite mediale Aufmerksamkeit erfährt, der Parteienresonanz gemessenen Politisierung der schnellt der Wert auf 19% hoch, doch schon in der Kriminalitätsberichterstattung dar. 2011 sinken die Periode von 2009 bis 2011 sinkt er wieder auf 10%. Werte wieder auf das Niveau vor 2006 ab. Interessant ist der Befund, dass sich nicht wie erwartet vor allem die Boulevardzeitung Blick (7%) mit jugend- Täterkategorien lichen Tätern auseinandersetzt, sondern vielmehr die Eine Reihe früherer Studien hat eine Fokussierung der NZZ (16%). Dies erklärt sich vor allem aus dem Kriminalitätsberichterstattung auf spezifische Täter­ Umstand, dass die Jugendkriminalität mit grösserem kategorien, namentlich auf Ausländer respektive ethni- zeitlichem Abstand zu den unmittel­baren Fällen in der sche Minderheiten (Brosius/Esser 1995, Fröhlich 1998, NZZ auch als gesellschaftliches Phänomen in einer Dixon/Linz 2000) oder auf Jugendliche (Wayne/Hen- reflexiven Berichterstattung behandelt wird. Dafür ist derson/Murray/Petley 2008) gezeigt. Hinsichtlich der bei der Kategorie der jungen Erwachsenen, d. h. den letztgenannten Tätergruppe zeigt sich eine solche Tatverdächtigen­ und den verurteilten Tätern im Alter Fokussierung in dieser Untersuchung nur in beschränk- ­zwischen 18 und 25 Jahren, das Verhältnis beinahe tem Ausmass. Zwar beschäftigen sich 12% der gesamten exakt umkehrt. Hier setzt der Blick vor allem mit seiner Berichterstattung mit jugendlichen Tätern, doch kommt ausgeprägten Berichterstattung über junge Raser einen dieser Wert vor allem durch die Berichterstattung über Schwerpunkt (16%), während die NZZ diese Alters- den Fall Zürich-Seebach sowie über die Kampagnen zu kategorie nur in 8% ihrer Kriminalitätsberichterstat- den Eidgenössischen Wahlen (vgl. Udris/Ettinger/ tung thematisiert. Imhof 2007) zustande. In den Jahren 2002 bis 2005 Hinsichtlich der Fokussierung auf ausländische Täter beträgt der Anteil der Berichte über jugendliche Täter wirken in der Untersuchungsphase zwei Logiken

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Ausländer Schweizer und Ausländer Schweizer nicht bestimmbar

Darstellung 4: Häufigkeit der Täterkategorien nach der Unterscheidung Schweizer vs. Ausländer in der Kriminalitätsberichterstattung Die Darstellung zeigt die Häufigkeit, mit denen Täter der beiden Kategorien ‹Schweizer› und ‹Ausländer› in der Kriminalitätsberichterstattung pro Unter- suchungsjahr thematisiert werden. Abgetragen ist jeweils die Anzahl der Artikel in jenen Kommunikationsereignissen, in denen Ausländer oder Schwei- zer als Täter dominieren. Dort wo das Verhältnis etwa ausgeglichen ist, wurde der Bericht der Kategoire ‹Schweizer und Ausländer› zugeteilt. Wenn keine nationale Zugehörigkeit aus den Beiträgen eines Kommunikationsereignisses hervorging, wurde ‹nicht bestimmbar› vergeben. Lesebeispiel: 2006 werden in 439 Beiträgen Schweizer als Täter thematisiert (47%), in 291 Artikeln Ausländer (31%) und in 205 Beiträgen (22%) wird keine Nationalität genannt.

gegenläufig. Die Logik des politischen Populismus und Resonanz der Ausschaffungsinitiative der SVP erzielt des Medienpopulismus lassen eine hohe und im Zeit- (vgl. Darstellung 4). Dies kann als Erfolg der Kam­ verlauf zunehmende Fokussierung auf kriminelle Aus- pagne der SVP interpretiert werden, die unter Einsatz länder erwarten. Das in den Berufsethiken der Journa- von ‹paid media› (Werbung) und aufgrund von medi- listen und der Pressestellen der Polizei- und Justiz enwirksamen Tabubrüchen in den ‹free media› (Mas- enthaltene Diskriminierungsverbot (beispielsweise im senmedien) hohe Resonanz erzielte (vgl. Udris/Imhof/ Redaktionshandbuch der SDA oder in der Richtlinie Ettinger 2011, S. 377). 8.2 des journalistischen Codex des Presserates) verhin- Zu einer eigentlichen Kampagnenpartnerschaft zwi- dert in der Regel die Nennung der Nationalität von schen den Boulevardmedien und rechtspopulistischen Tätern, wo dies nicht unmittelbar für die Erklärung der Parteien, wie noch in den späten 1980er und frühen Tathintergründe oder die Kriminalitätsprävention 1990er Jahren zwischen der SVP und dem Blick in Bezug unabdingbar erscheint. auf Kampagnen gegen straffällige Asylbewerber («Dro- Die Analyse des Anteils der Kriminalitätsberichterstat- gen-Asylanten») (vgl. Imhof/Kamber 2001), kommt es tung, die ausländische Tatverdächtige oder Täter durch im Untersuchungszeitraum jedoch nicht. Das lässt sich die explizite Nennung ihrer ethnischen Herkunft oder auch daran ablesen, dass die Unterschiede zwischen Nationalität thematisiert, zeigt im Zeitverlauf – mit den drei untersuchten Printmedien klein sind. Sowohl Ausnahme der Jahre 2003 und 2011 – eine stetige, die Boulevardzeitung Blick als auch die überregionale wenngleich geringe Zunahme. Die höchsten Werte Abonnements- und Qualitätszeitung NZZ berichten zu werden in den Jahren 2009 und 2010 aufgrund der je 27% über von Ausländern begangene Delikte.

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Gesamt aller berichteten Delikte Leib und Leben Sexuelle Integrität Mehrfachdelikte Freiheit Gemeingefährliche Verbrechen und Vergehen Bedrohungsperzeption (gfs Sorgenbarometer)

Darstellung 5: Berichterstattungsintensität und Bedrohungsperzeption der Bevölkerung Die Darstellung zeigt die Intensität der Kriminalitätsberichterstattung als Gesamt und in Bezug auf Delikttypen mit schweren Delikten (blau/graue Säulen) im Vergleich zur Bedrohungsperzeption in der Bevölkerung (rote Linie). Die Bedrohungsrezeption wurde als Pro­zentzahl jener Bürgerinnen und Bürger erfasst, die in der jährlichen Befragung der gfs.bern angaben, zu ihren grössten Problemen gehörten ihre per­sönliche Sicherheit, die sie durch Kriminali- tät bedroht sahen. Lesebeispiel: Von 2006 zu 2007 steigt die Gesamtsumme der erfassten Artikel zur Kriminalität (Gesamt aller berichteten Delikte, graue Fläche) von 939 Beiträgen auf 1218 Beiträge, die Zahl der Beiträge über schwere Delikte gegen Leib und Leben (dunkelblaue Säule) steigt von 255 auf 398. Im gleichen Zeitraum nimmt der Anteil der Befragten, die sich durch Kriminalität bedroht sehen (rote Linie), markant, von 13% auf 30%, zu.

Auswirkungen der Medienagenda* Betrachten wir diese drei Zeitreihen, so zeigt sich eine auf die Bevölkerungsagenda hohe Übereinstimmung der Dynamiken. Mit Aus- Die Auswirkungen, die die Zunahme der Kriminali- nahme des Jahres 2006 entwickelt sich die durch Umfra- tätsberichterstattung über schwere, respektive spekta- gen gemessene subjektiv wahrgenommene Bedrohung kuläre Fälle und die Berichterstattung über Ausländer durch Kriminalität gleichlaufend zur Intensität der als Täter auf die Wahrnehmung der Kriminalitäts­ gesamten Berichterstattung über auf­sehenerregende bedrohung in der Bevölkerung haben, können mit den Kriminalfälle und Kampagnen. Dabei scheint der dieser Studie zugrundeliegenden Methoden empirisch Delikttyp nur bedingt von Bedeutung, denn die Zeit- nicht nachgewiesen werden. Der Vergleich der Daten reihe der ausgewählten schweren Delikte wie beispiels- der Kommunikationsereignisanalyse und der Erhe- weise Mord, Vergewaltigung oder Entführung weist bungen der gfs.bern erlaubt aber einige Plausibilisie- eine geringere Übereinstimmung mit der Bedrohungs- rungen. Gfs.bern ermittelt jährlich im Rahmen des wahrnehmung auf als die Deliktbericht­erstattung als sogenannten Sorgenbarometers (gfs.bern, 2002–2011) Ganze. die subjektiv durch Kriminalität empfundene Bedro- Allerdings zeigen sich hier nicht nur Medieneffekte. hung in der Schweizer Bevölkerung. Diese Bedrohungs­ Denn die Medienberichterstattung wird wie gezeigt rezeption wird in Darstellung 5 mit der Intensität der auch durch Strategien politischer Parteien beeinflusst. Kriminalitätsberichterstattung gesamthaft sowie der Für einen Einfluss politischer Strategien spricht der Berichterstattung über Deliktkategorien mit besonders Umstand, dass die beiden Jahre mit den gemäss Be- schweren Fällen verglichen. völkerungsumfragen höchsten Betroffenheitsraten die

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Jahre 2007 und 2010 sind. In diesen Jahren ist die Als Schlüsselereignis erweist sich der Vergewaltigungsfall ­Kriminalität das zentrale Kampagnenthema der SVP. einer Schülerin in Zürich-Seebach Ende 2006. Dieser Dass die höchste Steigerung in der Betroffenheitsrate Fall wird von den Medien und von den politischen Par- im Übergang von 2006 zu 2007 stattfindet, als die SVP teien – insbesondere von der SVP – instrumentalisiert: ihren Wahlkampf mit dem Thema Kriminalität führt, er wird zum Auslöser politischer Kampagnen mit inten- weist in dieselbe Richtung. Ebenfalls entscheidend für siver Medienresonanz. Mit ihrer im Hinblick auf die die Bedrohungswahrnehmung in der Bevölkerung ist, ­Eidgenössischen Wahlen 2007 lancierten Ausschaffungs- inwieweit ein Bild der Strafgesetzgebung und der Straf- initiative, die 2010 an der Urne angenommen wird, sorgt rechtspflege vermittelt wird, das die jeweiligen Institu- die SVP dafür, dass das Thema der (Ausländer)Krimina- tionen als nicht willens oder nicht fähig zu einer erfolg- lität auf der medialen und politischen­ Agenda bleibt. reichen Bekämpfung der Kriminalität darstellt. Ein Der Vergleich mit den Umfragedaten zeigt, dass sich die solches Framing* verbindet sich in der Berichterstat- mediale und politische Themati­sierung der Kriminalität tung häufig mit dem Schlagwort der «Kuscheljustiz». auch auf die Bedrohungswahrnehmung­ in der Bevölke- Auf diesen Aspekt wird im Kapitel 3 anhand der Aus- rung auswirkt: letztere entwickelte sich weitgehend in wertung der Berichterstattung über die Revision des Übereinstimmung mit der Intensität der Berichterstat- allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches (Revision tung und der politischen Kampagnenführung. ­AT-StGB) eingegangen. Zuvor aber werden im nach- folgenden Kapitel pressetypenspezifische Ausprägun- gen der Kriminalitätsberichterstattung sowie Verzer- 2. Querschnittuntersuchung: Vergleich der rungseffekte der Presseberichterstattung in Bezug auf Kriminalitätsberichterstattung mit der die von der polizeilichen Anzeigestatistik gemessenen polizeilichen Kriminalstatistik für das Kriminalitätsraten untersucht. Dieser Vergleich wird Untersuchungsjahr 2011 anhand des Untersuchungsjahres 2011 durchgeführt, Im Zentrum dieser Querschnittanalyse steht die Frage, da einerseits die systematisch erhobenen und umfang- inwieweit spezifische, strafrechtlich relevante Delikt­ reichen Daten aus der polizeilichen Kriminalstatistik typen in der Kriminalitätsberichterstattung der Presse- (PKS) erst seit 2009 vorliegen und andererseits die arena im Vergleich zur polizeilichen Kriminalstatistik Beschränkung auf ein Untersuchungsjahr es erlaubt, über- oder unterrepräsentiert sind, d. h. welche Ver­ das Sample der untersuchten Medien auszuweiten und zerrungseffekte sich in Bezug auf die Darstellung bei- alle Pressetypen einzubeziehen. spielsweise schwerer Gewaltkriminalität sowie be- stimmter Täter- und Opfergruppen bei den verschie- Fazit: Längsschnittanalyse denen Pressetypen und ihren Pressetiteln zeigen. Dar- Die Kriminalitätsberichterstattung in den drei Leit­ über hinaus interessieren das Gewicht sowie die Quali- medien NZZ, Tages-Anzeiger und Blick ist einerseits tätsmerkmale der Kriminalitätsberichterstattung bei durch (schwere) Delikte gegen Leib und Leben (31% der verschiedenen Pressetypen und -titeln in Bezug auf die Berichterstattung) sowie gegen die sexuelle Integrität Sachlichkeit (Professionalität) und die Einordnungs- (22%) geprägt, andererseits aber auch durch auf­ leistung (Aktualität). sehenerregende Vermögensdelikte (19%) wie z. B. den Im Einzelnen wird folgendes untersucht: Swissair-Fall. Zudem zeigt die Analyse der Bericht­ 1. Gewicht und Qualität der Kriminalitätsberichterstat- erstattungsintensität die bekannte Tatsache, dass sich tung: Welches Gewicht nimmt die Kriminalitäts­ der Boulevard auf Kriminalität fokussiert. Dabei ­können berichterstattung volumenmässig bei den unter- jedoch durch redaktionelle Leitlinien in der ‹Ära› eines suchten Pressetypen und -titeln im Vergleich zur Chefredaktors Unterschiede in der Intensität der Krimi- Gesamtberichterstattung ein? Wie ist die Qualität nalitätsberichterstattung auftreten. So wird die Dyna- der Kriminalitätsberichterstattung unter anderem mik der Kriminalitätsberichterstattung durch Wechsel hinsichtlich Sachlichkeit, Einordnungsleistung und in der Chefredaktion des Blicks zäsiert. Den zweiten Eigenleistung einzustufen? gewichtigen Erklärungsfaktor für die Dynamik der 2. Über- bzw. Unterrepräsentation spezifischer Delikt­ ­Kriminalitätsberichterstattung bildet ihre Politi­sierung. typen: Inwieweit sind spezifische Delikttypen wie

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jene gegen Leib und Leben, die sexuelle Integrität codiert: Position und Länge des Beitrags, Illustration oder das Vermögen in der Pressearena insgesamt des Beitrags, Beitragstyp (Kurzmeldung, Bericht, sowie bei den verschiedenen Pressetypen und -titeln ­Kommentar etc.), Quelle der Berichterstattung (Redak- im Vergleich zur polizeilichen Kriminalitätsstatistik tion, Agentur, keine Zeichnung etc.), Delikttyp (Leib über- oder unterrepräsentiert? und Leben, sexuelle Integrität, Vermögensdelikt etc.) 3. Über- bzw. Unterrepräsentation spezifischer Täter­ sowie Alter, Geschlecht und Nationalität der Täter. kategorien: Bei welchen Pressetypen und -titeln zeigt Ebenfalls werden die Qualitätsindikatoren Einord- sich eine überproportional starke Fokussierung auf nungsleistung (Aktualität) und Sachlichkeit (Professio- ausländische Delinquenten? nalität) erfasst. Sämtliche Beiträge werden auf der Basis der Variablen Länge und Position gewichtet. Ein auf der Zur Beantwortung dieser Fragen wurde die Kriminali- Titelseite publizierter Beitrag wird doppelt gezählt. tätsberichterstattung der fünf Pressetypen (Boule- Jeder Beitrag wird zudem mit einem Längenquotienten vard-, Gratis-, Abonnements-, Sonntags- und Wochen- multipliziert (Bsp.: Ein halbseitiger Beitrag wird mit zeitungen/Magazine) im Untersuchungsjahr 2011 dem Faktor 1/2 multipliziert, ein Beitrag mit der Länge inhaltsanalytisch detailliert untersucht und mit der einer sechzehntel Seite mit dem Faktor 1/16 etc.). polizeilichen Kriminalitätsstatistik (PKS) verglichen Die Kriminalitätsberichterstattung wird dann mit der (zur Methodik vgl. Kasten). polizeilichen Kriminalstatistik verglichen, wie sie via das Onlineportal* STAT-TAB des Bundesamts für Untersuchungsdesign und Methodik ­Statistik greifbar ist (www.bfs.admin.ch). STAT-TAB der Querschnittuntersuchung erlaubt Statistiken zu polizeilich registrierten Straftaten Gegenstand der Untersuchung bildet die mediale Kri- gemäss Strafgesetzbuch (StGB) abzurufen, unter ande- minalitätsberichterstattung 2011 über strafrechtlich rem differenziert nach Delikttyp, Ort der Straftat oder relevante Delikte. Erfasst wurden Delikte mit Bezug der Nationalität des Täters. Dies ermöglicht es, medien­ zum Schweizerischen Strafgesetzbuch (StGB), nicht vermittelte Über- oder Unterrepräsentationen z. B. in aber mit Bezug zum Betäubungsmittelgesetz (BetmG) Bezug auf das Gewicht der fokussierten Delikttypen zu oder zum Ausländergesetz (AuG). Aufgenommen ermitteln (vgl. fög 2012, «Methodik»). ­werden nur Beiträge über Delikte, die in der Schweiz verübt oder geahndet wurden. Analysiert werden sowohl Beiträge über den Delikthergang, die juristische 2.1 Gewicht und Qualität der Kriminalitäts­ Aufarbeitung und Ahndung als auch Hintergrund­ berichterstattung im Vergleich der Pressetypen beiträge beispielsweise zu spezifischen Delikttypen. Bei der in der Pressearena im Untersuchungsjahr 2011 Untersucht wird die Kriminalitätsberichterstattung erfassten Kriminalitätsberichterstattung handelt es sich (n = 1571) folgender Pressetypen und -titel: – nach den grundsätzlichen Auseinandersetzungen Gratiszeitung: 20 Minuten (n = 203) über die Ausschaffungsinitiative 2010 – aufs Ganze Boulevardzeitungen: Blick, SonntagsBlick (n = 288, 146) gesehen um eine stark ereigniszentrierte, hinter- Abonnementszeitungen: Tages-Anzeiger, , grundarme Berichterstattung, die in grossem Mass von Neue Zürcher Zeitung (n = 261, 137, 159) Polizeimeldungen und den Nachrichtenagenturen* Sonntagszeitungen: Der Sonntag, NZZ am Sonntag, gespeist ist und zumeist in Form von Kurzmeldungen SonntagsZeitung (n = 138, 108, 68) verarbeitet wird (55% Kurzmeldungen). Der Bericht- Wochenzeitung/Magazin: Weltwoche, WochenZeitung erstattungsstil ist überwiegend sachlich-vermeldend (n = 46, 17). (88% kognitiv-normativ*). Allerdings weichen ein- Pro Medium werden im Untersuchungsjahr 2011 zelne Pressetypen in ihrer Kriminalitätsberichterstat- 52 Ausgaben untersucht. Bei den Wochen- und Sonn- tung erheblich von diesen Durchschnittswerten ab. tagsmedien handelt es sich also um eine Vollerhebung, Darstellung 6 zeigt das anteilsmässige Gewicht der bei den Tageszeitungen wurden künstliche Wochen mit ­Kriminalitätsberichterstattung an der Gesamtbericht- rotierender Beitragsziehung gebildet. erstattung im Vergleich der verschiedenen Pressetypen. Die Beiträge werden hinsichtlich folgender Merkmale Wie bereits aus der Längsschnittuntersuchung hervor-

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und emotionalisierende Berichterstattung. Mit 32% ist Boulevard 4,5% die Berichterstattung bei den Boulevardzeitungen mehr als dreimal so stark moralisch-emotional auf­ Gratis 3,8% geladen wie bei der in dieser Hinsicht zweitplatzierten Gratiszeitung 20 Minuten (9,9% moralisch-emotio- Abonnement 2,5% nal). Wie im nächsten Abschnitt noch genauer gezeigt wird, konzentrieren sich die Boulevardzeitungen pri- Wochen-/Magazin 2,0% mär auf schwere Gewaltdelikte gegen Leib und Leben (40,7% der Fälle). Auf Titelebene fokussiert der Sonn- Sonntag 1,2% tagsblick am häufigsten auf Delikte gegen die sexuelle

0% 1% 2% 3% 4% 5% Integrität (16,9%, ohne Tötung). Es ist eine Spezialität der Boulevardzeitungen, den Tathergang im Titel auf- Darstellung 6: Gewicht der Kriminalitätsberichterstattung merksamkeitserheischend wiederzugeben («Lotto-Frau der Pressetypen im Vergleich zum Gesamtvolumen erwürgt», Blick 31.5.2011; «Kosovare schlitzt Schwin- Die Darstellung zeigt das prozentuale Gewicht der Kriminalitätsbericht­ erstattung über StGB-relevante Delikte im Vergleich zum Gesamtvolumen ger die Kehle auf», Blick 17.8.2011; «Basler Rentner von der jeweiligen Pressetypen. Zur Berechnung der Prozentwerte wurde in Einbrechern gefoltert!», Blick 30.11.2011) sowie die einem ersten Schritt das durchschnittliche Zeichenvolumen einer Zeitungs- Kriminalfälle mit eingängigen Etikettierungen zu ausgabe ermittelt. Dieses wurde in einem zweiten Schritt ins Verhältnis gesetzt zum durchschnittlichen Zeichenvolumen der Kriminalitätsbericht- ­versehen («Bielersee-Drama»), die die kontinuierliche erstattung der jeweiligen Zeitungsausgabe. Bewirtschaftung des jeweiligen Kriminalfalles erleich- Lesebeispiel: Beim Pressetyp der Boulevardzeitungen beträgt der Anteil tern. Verbreitet sind ebenfalls personalisierte Opfer­ der Kriminalitätsberichterstattung am durchschnittlichen Gesamtvolumen darstellungen. Die Opfer werden häufig beim Namen einer Zeitungsausgabe 4,5%. Die Boulevardzeitungen weisen demnach von allen Pressetypen anteilsmässig das grösste Kriminalitätsberichterstat- genannt oder mit lebensweltlichen Etikettierungen tungsvolumen auf. versehen («Alessia & Livia – Tot im Koffer?», Blick 15.4.2011; «Lotto-Frau erwürgt», Blick 23.5.2011). Trotz des hohen Gewichts der Kriminalitätsbericht­ erstattung bei den Boulevardzeitungen ist der Eigen- leistungsanteil vergleichsweise gering: Nach 20 Minu- ging (vgl. Kapitel 1) bewirtschaften die Boulevard­ ten weisen die Boulevardzeitungen den zweitgrössten zeitungen (4,5%) die Kriminalität anteilsmässig am Anteil an Agenturbeiträgen sowie an nicht gezeich­ stärksten, gefolgt von der Gratiszeitung (3,8%), den neten Artikeln auf (Agenturberichte/Ungezeichnete Abonnementszeitungen (2,5%), den werktags erschei- Beiträge: 47%). nenden Wochenmedien (WochenZeitung/Weltwoche) Auch die Gratiszeitung 20 Minuten bewirtschaftet die (2%) sowie den Sonntagszeitungen (1,2%). Kriminalitätsberichterstattung stark. Das zeigt sich Die untersuchten Boulevardzeitungen weisen nicht nicht nur am hohen Anteil im Verhältnis zum Gesamt- nur das anteilsmässig grösste Berichterstattungsvolu- volumen (vgl. Darstellung 6), sondern auch am gröss- men auf, sie produzieren auch – nach dem Magazin ten Anteil an prominent aufgemachten Front­beiträgen, Weltwoche – den grössten Anteil an grossflächigen die mindestens die Länge einer Viertelseite aufweisen. ­Beiträgen über Kriminalfälle (31% sind mindestens Die Berichterstattung der Gratiszeitung ist im Ver- 1/2 Seite lang), die häufig bebildert auf den Titelseiten gleich zu den Boulevardzeitungen noch stärker episo- landen. Die Berichterstattung ist nach derjenigen der disch-punktuell gehalten (62,6%), aber aufgrund der Gratiszeitungen am stärksten ereigniszentriert (62% noch höheren Zahl der Agenturmeldungen sachlicher episodisch-punktuell*) und fokussiert am häufigsten (90% kognitiv-normativ). Wie bei den Boulevard­ auf den unmittelbaren Tathergang (72%). Gerichts- zeitungen zentriert sich die Kriminalitätsbericht­ prozesse und die juristische Ahndung sind in den Bou- erstattung der Gratiszeitung­ auf den unmittelbaren levardmedien klar untervertreten. Fokussiert wird die Tathergang, während der juristische Prozess oder Tat, dann sinkt das Medieninteresse. Charakteristisch ­Hintergrundberichte praktisch inexistent sind. Der für die Boulevardzeitungen ist die stark moralisierende Eigenleistungsanteil ist im Vergleich aller Pressetypen

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am geringsten. Mehr als 60% der erfassten Beiträge (2,5%). Auffallend ist bei den Abonnementszeitungen sind ungezeichnete Artikel (somit Agenturbeiträge) die ausgeprägte Regionalisierung der Kriminalitäts­ oder redaktionell bearbeitete Agenturbeiträge. Die berichterstattung: strafrechtlich relevante Delikte Gratiszeitung thematisiert von den untersuchten Presse­ ­werden grossmehrheitlich im jeweiligen Regional­ typen am häufigsten minderschwere Delikte gegen das ressort thematisiert, am stärksten bei der NZZ (69,5%), Vermögen (33,6%). Die Gratiszeitung übernimmt gefolgt vom Tages-Anzeiger (53,9%) und der Basler besonders oft Berichte von Nachrichtenagenturen und Zeitung­ (40,8%). In Bezug auf die unterschiedlichen Polizeimeldungen und publiziert auch weniger rele- Deliktkategorien werden schwerwiegende Delikte vante Fälle zur Kleinkriminalität respektive zu Vermö- gegen Leib und Leben sowie solche gegen das Ver­ gensdelikten. Auffallend ist in diesem Zusammenhang mögen (in erster Linie: Einbruchdiebstähle sowie Ver- die Tendenz, den Nachrichtenwert minderschwerer mögensdelikte prominenter Personen) in etwa gleich Delikte durch die Betonung kurioser und unterhalten- stark thematisiert (28,5% bzw. 27,1%). Darüber hinaus der Aspekte zu steigern («Hund Sämi verjagt Einbre- zeigt sich, dass die Abonnementszeitungen das Feld der cher», 20 Minuten 3.1.2011; «Stiftin klaute Uhren und Kriminalitätsberichterstattung tendenziell den ande- Schmuck im BH», 20 Minuten 26.10.2011). In 20 ren Pressetypen überlassen und nur wenig Ressourcen Minuten findet sich im Vergleich deshalb der grösste in diesen Berichterstattungstyp investieren. Kriminal- Anteil an wenig relevanten Softnews*-Kriminalitäts­ fälle haben in den Abonnementszeitungen vor allem fällen mit Unterhaltungsakzent. dann eine Chance auf eine prominente Behandlung in Die Abonnementszeitungen weisen im Vergleich zu Form längerer Berichte, wenn eine gesellschaftspoli­ den Boulevard- und Gratiszeitungen ein prozentual tische Brisanz besteht oder politische und wirtschaft­ geringeres Berichterstattungsvolumen mit Bezug zu liche Eliten involviert sind (z. B.: «Potentatengelder: Kriminalfällen auf (vgl. Darstellung 6). Allerdings Finma untersucht vier Banken», Tages-Anzeiger ­zeigen sich auf Titelebene grosse Unterschiede. Mit 11.11.2011; «Bundesrat will härtere Strafen für Insider- einem Anteil von 3,9% an der Gesamtberichterstattung delikte», Tages-Anzeiger 2.9.2011; «SVP-Kandidat weist der Tages-Anzeiger­ anteilsmässig eine sogar noch Zuppiger unter Druck – Schwerwiegende Vorwürfe», leicht umfangreichere Kriminalitätsberichterstattung NZZ 8.12.2011). Im Vergleich aller Pressetypen auf als der Gratistitel 20 Minuten (3,8%). Die Bericht- ­widmen die Abonnementszeitungen dem juristischen erstattungsanteile der beiden Abonnementszeitungen Prozess (Gerichtsverhandlung und Ahndung) am Basler ­Zeitung und Neue Zürcher Zeitung sind im meisten Aufmerksamkeit (rund 20% der Kriminali- ­Vergleich nur rund halb so gross (1,9% bzw. 1,8%). Dass tätsberichterstattung). die Abonnementszeitungen (mit Ausnahme des Tages- In den beiden wöchentlich erscheinenden Presse­ Anzeigers) der Kriminalitätsberichterstattung weniger erzeugnissen Weltwoche und WochenZeitung ist die Bedeutung beimessen, zeigt sich daran, dass sie im ­Beitragsmenge zur Kriminalität im Vergleich mit den ­Vergleich aller Pressetypen am stärksten in Form von anderen Pressetypen unterdurchschnittlich tief. Bei Kurzmeldungen abgehandelt ist (65%). Zudem ist der den verhältnismässig wenigen Beiträgen zur Krimina- Anteil redaktioneller Beiträge (64,6%) zwar höher als lität handelt es sich überwiegend um gross aufge- bei den Boulevardzeitungen und der Gratiszeitung, machte Berichte, in die redaktionell stark investiert aber deutlich tiefer als bei den Sonntagszeitungen und wird. In diesen Titeln finden sich ausschliesslich redak- der Weltwoche. Korrelativ zum hohen Anteil an Kurz- tionelle Beiträge, aber keine Agenturberichte. Die Krimi- meldungen ist der Anteil einer rein ereigniszentrierten nalitätsberichterstattung wird überwiegend mittels Berichterstattung bei den Abonnementszeitungen ­ausführlicher Hintergrund­berichte, Reportagen oder annähernd so gross wie bei der Gratiszeitung (60,5% Interviews (74,6%) behandelt und ist systematisch episodisch-punktuell) und der Anteil an thematisch- politisch orientiert. Entsprechend ist der Anteil an erklärenden Berichten ist nur unwesentlich höher (4% Leitartikeln und Kommentaren im Vergleich aller thematisch-erklärend). Am höchsten ist der Anteil an ­Pressetypen am grössten (12,7%). Auch zeigt sich im Hintergrundbeiträgen bei der Basler Zeitung (5,1%), Vergleich der grösste Anteil an thematisch-einordnen- gefolgt vom Tages-Anzeiger (4,2%) und der NZZ den Beiträgen (68,3% thematisch insgesamt, davon

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22,2% thematisch-erklärend). Die Kriminalitätsbe- Darstellung 6). Dafür erscheinen aber prozentual am richterstattung beider Titel ist dadurch gekennzeichnet, meisten Beiträge auf den Titelseiten (8,6%). Die Kri- dass sie von allen Pressetypen am stärksten von minalitätsberichterstattung der Sonntagszeitungen ­konkreten Ereignissen abstrahiert und auf reflexive basiert überwiegend auf redaktionell gezeichneten Aspekte fokussiert. Auffallend ist der nach den Boule- ­Beiträgen und kaum auf Agenturmeldungen (87,9% vardzeitungen zweithöchste Anteil einer moralisch-­ Redaktion). Nach Weltwoche/WochenZeitung ist die emotionalen Bericht­erstattung (22%). Berichterstattung am stärksten thematisch-einordnend Allerdings zeigen sich zwischen den beiden Pressetiteln (26,8%, davon 14,3% thematisch-erklärend) und deutliche Unterschiede: Während die Weltwoche in zudem praktisch ausschliesslich im sachlichen Stil ihrer thematischen Berichterstattung primär Miss- gehalten (97,5% kognitiv-normativ). Allerdings finden stände problematisiert, ohne Erklärungen zu liefern sich in den Sonntagszeitungen auch viele Kurzmeldun- (56,5% thematisch-problematisierend, 13% thematisch- gen (57,3%). Insgesamt ist die Spannbreite der Bei- erklärend), sind bei der WochenZeitung die qualitäts- träge bei den Sonntagszeitungen im Vergleich aller besseren, thematisch-erklärenden Beiträge häufiger Pressetypen am grössten: Anzutreffen sind sowohl (17,7% thematisch-problematisierend, 47% thematisch- ­episodische Kurzmeldungen über Kriminaltaten erklärend). Zudem ist die Berichterstattung der Welt- («Toter Mann liegt auf der Strasse», NZZ am Sonntag woche stärker moralisch-emotional aufgeladen (23,9% 27.3.2011; «Vier Jugendliche verprügeln Ehepaar», moralisch-emotional bei der Weltwoche vs. 17,7% bei NZZ am Sonntag 30.1.2011; «Wüste Schlägerei in der WochenZeitung). Gesamthaft fällt die Weltwoche Freiämter­ Bar», Der Sonntag 30.1.2011), Beiträge mit deshalb qualitativ­ hinter die WochenZeitung zurück. Unterhaltungsfokus («Appenzeller Basterli vertreibt Die ­Auswahl und die Form der Bewirtschaftung der Einbrecher», NZZ am Sonntag 2.1.2011) als auch ­thematisierten Kriminalitätsfälle ist bei beiden Presse­ ­Hintergrundberichte («Die Mafia drängt in den titeln Ausdruck einer weltanschaulich geprägten Schweizer Immobilienmarkt», NZZ am Sonntag Redaktionslinie. So setzt die rechtskonservativ orien- 17.1.2011; «Cybermobbing: Das kann man dagegen tierte Weltwoche in ihrer Kriminalitätsberichterstattung tun», Sonntagszeitung 23.1.2011). Eine grosse Chance, Schwerpunkte auf linksextreme­ Gewalt, Sozialhilfe­ auf den Titelseiten der Sonntagszeitungen zu landen, betrug durch Ausländer, den «Datenklau» deutscher haben skandalträchtige Enthüllungen oder Kriminal- Steuerbehörden im Kontext der Bankgeheimnisdebatte fälle von staatspolitischer Relevanz («Landesweite sowie vermeintliche Vergehen politischer Kontrahen- Regeln nach Hafturlaub-Skandal gefordert», Der Sonn- ten (z.B: «Von aufreizender Passivität», Weltwoche tag 3.7.2011; «Hackerangriff: CIA ­spioniert in der 27.1.2011; «Ein schlechter Informant», Weltwoche Schweiz», Sonntagszeitung 9.1.2011; «Armee in Kritik 27.1.2011; «Mit dem Ferrari aufs Sozialamt», Weltwoche wegen Tötung von Polizist», Sonntagszeitung­ 29.5.2011; 30.6.2011; «Keller-Sutter: Verdacht auf Amtsmiss- «Sexualtäter: Fatale Pannen bei Behörden», Sonntags- brauch», Weltwoche 25.8.2011). Auch bei der Wochen- zeitung 3.7.2011). Zeitung ist die Selektions- und Interpretationslogik weltanschaulich orientiert. Die Wirtschaftskriminalität 2.2 Über- und Unterrepräsentation – ­Vergleich insbesondere mit Bezug zum Finanzplatz Schweiz, der Kriminalitätsberichterstattung mit der Gewalt gegen Frauen oder der Hooliganismus bilden Kriminalstatistik bei der linksalternativen WochenZeitung Schwerpunkte In diesem Abschnitt wird die Berichterstattung über (z. B.: «Die Schweiz und das Geld der Potentaten», Kriminalität mit dem Kriminalitätsaufkommen anhand WochenZeitung 10.2.2011; «Ein umstrittenes Verbot der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) verglichen. findet bei fast allen Zustimmung», WochenZeitung Von Interesse sind Unter- und Überrepräsentationen 2.6.2011; «Die sogenannte Lösung», WochenZeitung in Bezug auf die medial thematisierten Delikt-, Täter- 6.10.2011). und Opfertypen. Diese werden zunächst für die unter- Bei den Sonntagszeitungen erreicht die Kriminalitäts- suchte Pressearena ­insgesamt dargestellt. In einem berichterstattung im Vergleich aller Pressetypen pro- zweiten Schritt werden dann die Unterschiede auf der zentual das geringste Berichterstattungsvolumen (vgl. Ebene der Pressetypen und -titel herausgearbeitet.

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Die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) – delikte gegen Leib und Leben erhalten in der unter- ­Möglichkeiten und Limitierungen suchten Pressearena mit rund 31% aller erfassten Bei- Die polizeiliche Kriminalstatistik, die erst seit 2009 sys- träge mit Abstand am meisten Resonanz und sind tematisch für die gesamte Schweiz erhoben wird, gibt gegenüber der Kriminalstatistik um 26,4 Prozent- Auskunft über «Umfang, Struktur und Entwicklung punkte überrepräsentiert. Die Überrepräsentation registrierter Straftaten sowie über beschuldigte und zeigt sich besonders ausgeprägt bei Tötungsdelikten. geschädigte Personen. Sie umfasst die von den Polizei- Die polizeiliche Kriminalstatistik weist für das Jahr 2011 behörden registrierten strafbaren Handlungen gegen 229 solcher Fälle aus (0,04%). Demgegenüber steht eine das Strafgesetzbuch (StGB), gegen das Betäubungs­ mediale Aufmerksamkeitskonzentration auf Tötungs­ mittelgesetz (BetmG), gegen das Ausländergesetz delikte von 17,4%. Das entspricht einer medialen Über- (AuG) und gegen strafrechtlich relevante Artikel diver- repräsentation um das knapp 434fache. Besonders stark ser Bundesnebengesetze» (www.bfs.admin.ch). Im Hin- im Medienfokus stehen Tötungsdelikte, denen ein blick auf die Verwendung dieser Kriminalstatistik als Sexualverbrechen vorausgeht. Eine Überrepräsentation Massstab zur Beurteilung allfälliger «Verzerrungen» in der Tötungsdelikte in der Medienberichterstattung ist der Kriminalitätsberichterstattung ist zu beachten, dass zwar in Anbetracht des Schweregrades des Verbrechens es sich hierbei um eine Anzeigenstatistik handelt. In ihr bis zu einem gewissen Grad vertretbar. Die mediale werden – im Gegensatz zu Strafurteilsstatistiken oder Überrepräsentation ist allerdings derart ausgeprägt, Strafvollzugsstatistiken, die allerdings mit anderen dass die medienvermittelte Kriminalitätsdarstellung methodischen Mängeln behaftet sind und keine markant bedrohlicher ausfällt, als dies anhand der gesamtschweizerischen Vergleiche zulassen – keine ­Kriminalstatistik gerechtfertigt ist. rechtskräftigen Verurteilungen erfasst. Im Wissen, dass Vermögensdelikte sind in den Medien (22,5%) hin­ Strafanzeigen in zwischenmenschlichen Konflikten gegen gegenüber der Kriminalstatistik (73,2%) deut- auch als Mittel zur Schädigung des Kontrahenten ein- lich unterrepräsentiert, nämlich um 50,7 Prozent- gesetzt werden, dass strafrechtliche Anzeigen zu Frei- punkte. Die Unterrepräsentation bezieht sich medial sprüchen führen können und dass gewisse Delikte primär auf den Bereich minderschwerer Vermögens­ ­häufiger, andere weniger häufig oder gar nicht zur delikte (z. B. Diebstähle). Hier bestätigt sich der Befund Anzeige gelangen (Anzeigenwahrscheinlichkeit, Dun- anderer Studien, wonach leichtere Straftaten die kelziffer) wäre es verfehlt, diese Kriminalstatistik ein- ­medialen Selektionshürden seltener überspringen als fach als präzises Abbild einer tatsächlichen, kriminalis- schwerere (Schönhagen/Brosius 2004, S. 255). Jedoch tischen ‹Realität› zu betrachten. Vielmehr ist die zeigt sich auch im Bereich der Vermögensdelikte der Statistik in erster Linie ein Indikator für die in der Nachrichtenwert des Faktors Gewalt: Bewaffnete Gesellschaft auftretenden Kriminalitätszuschreibungen Raubüberfälle machen rund 3,3% der Berichterstat- und darauf bezogene Anzeigen. Trotzdem eignen sich tung aus und sind im Vergleich zur Kriminalstatistik diese Daten aufgrund ihrer wesentlich besseren Syste- (0,6%) signifikant überrepräsentiert. matik als aussermedialer Massstab für das so gemessene Delikte gegen die sexuelle Integrität sind in der Me- Kriminalitätsaufkommen. dienberichterstattung (11%) gegenüber der Kriminal- statistik (1,1%) ebenfalls deutlich überrepräsentiert, nämlich um knapp zehn Prozentpunkte. In Anbetracht der ausgesprochen starken, moralischen Diskreditie- Über- bzw. Unterrepräsentationen der StGB- rung pädophiler Handlungen stehen dabei sexuelle Delikttypen auf der Ebene Pressearena insgesamt Übergriffe an Kindern deutlich im Zentrum (3,7%) Darstellung 7 zeigt das prozentuale Gewicht der in der und sind im Vergleich zur Polizeistatistik (0,25%) um Kriminalitätsberichterstattung thematisierten StGB- das rund 15-fache überrepräsentiert. Ebenfalls über­ Delikttypen (rot) sowie die gemäss Kriminal­statistik repräsentiert sind die Delikte sexuelle Nötigung erfasste Anzeigenhäufigkeit (blau). Was bereits die (Medien: 1,6% vs. Kriminalstatistik: 0,1%), Vergewal- Längsschnittstudie gezeigt hatte (vgl. Kapitel 1) geht tigung (1,53% vs. 0,1%) sowie sexuelle Belästigungen auch aus dieser Querschnittstudie klar hervor: Gewalt- (1,3% vs. 0,2%).

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Darstellung 7: Gewicht der 31,1% Leib und Leben (n = 484) StGB-Delikttypen in der Presse- 4,7% bericherstattung im Vergleich zur Anzeigenhäufigkeit 22,5% Vermögen (n = 533) Die Darstellung zeigt – aufge­ 73,2% gliedert nach den verschiedenen StGB-Deliktkategorien – das pro- 11,0% Sexuelle Integrität (n = 130) zentuale Gewicht der Kriminalitäts- 1,1% berichterstattung (rote Balken) im 10,0% Vergleich zur Anzeigenhäufigkeit Öffentlicher Frieden (n = 100) 0,2% derselben Delikte in der polizei­ lichen Kriminalstatistik (blaue 7,4% Balken). Abgebildet sind jene Freiheit (n = 60) 13,4% StGB-Deliktkategorien, die 2011 mindestens 1 Prozent Resonanz 4,0% der gesamten Kriminalitätsbericht- Rechtspflege (n = 39) 0,3% erstattung erreicht haben. Lesebeispiel: 31% der Beiträge der 3,7% Amts- und Berufspflicht (n = 24) Kriminalitätsberichterstattung beziehen sich auf die StGB-Delikt- kategorie der Gewaltver­brechen 3,2% Gemeingefährliche Verbrechen und Vergehen (n = 62) gegen Leib und Leben. 0,5% Die Kriminalstatistik weist in dieser 2,0% Rubrik für das Jahr 2011 4,7% von Ehre-, Geheim-, Privatbereich (n = 17) sämtlichen, strafrechtlich regi­ 2,1% strierten Verzeigungen aus. Das 1,7% entspricht einer medialen Über­ Staat und Landesverteidigung (n = 15) repräsentation um rund 26 Pro- zentpunkte. 1,0% Öffentliche Gewalt (n = 19) 1,4%

0% 20%40% 60%80%

Medienberichterstattung Polizeistatistik

Medial ebenfalls deutlich überrepräsentiert, nämlich sismus-Strafnorm konfrontiert. Diese Politisierung ist um rund zehn Prozentpunkte, ist die Kategorie der­ eine wesentliche Triebfeder für das substantielle jenigen Delikte, die sich gegen den öffentlichen Frieden Berichterstattungsvolumen dieser hinsichtlich des richten (Medien: 10% vs. Kriminalstatistik: 0,15%). In Anzeigenverhaltens marginalen Deliktkategorie. die Rubrik der Delikte gegen den öffentlichen Frieden Dass die Deliktkategorie Freiheit medial (7,4%) gegen- fallen insbesondere Beiträge über Hooliganismus an über der Kriminalstatistik (13,4%) rund um die Hälfte der Schweizer Fussballmeisterschaft, über Ausschrei- unterrepräsentiert ist, hat vor allem damit zu tun, dass tungen im Zusammenhang illegaler Party-Kund­ die Polizeistatistik unter dieser Rubrik die besonders gebungen in Schweizer Städten, über linksextreme häufig zur Anzeige gelangenden Fälle von Nötigung Gewalt sowie über Beiträge zu Verstössen gegen die erfasst, die medial markant weniger Resonanz finden. Anti-Rassismus-Strafnorm. Gesamthaft ist der Typus Schwerwiegende Delikte gegen die Freiheit wie Fälle von Delikten gegen den öffentlichen Frieden am meis- schwerer Freiheitsberaubung und Entführungsfälle ten politisiert: So stehen 2011 Regulierungen gegen sind medial demgegenüber wieder deutlich überreprä- den Hooliganismus zur Debatte, gegen illegale Partys sentiert, nämlich um das mehr als 100-fache (Medien: werden in Städten Massnahmen eingeführt und poli­ 5,3% vs. Kriminalstatistik: 0,05%). Im Zentrum des tische Akteure werden mit Klagen gegen die Antiras­ Medieninteresses stehen 2011 eindeutig die Ent­

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führung der Zwillingskinder Alessia und Flavia, die episodisch (87%) und stark moralisch-emotional auf- besonders in den Boulevardzeitungen und in 20 Minu- geladen (36%). Das Interesse gilt zumeist nur dem ten ausgesprochen intensiv thematisiert wird. unmittelbaren Tatvorgang, der aufmerksamkeits­ Delikte gegen die Rechtspflege sind medial (4%) heischend aufbereitet wird, während die Aufmerksam- gegenüber der Kriminalstatistik übervertreten (0,3%). keit für die juristische Aufarbeitung entweder gänzlich Die Medienberichterstattung widmet sich grossmehr- fehlt oder rasch erlischt. Die ehrwürdige Gattung der heitlich Ermittlungen im Zusammenhang von Geld- Gerichtsberichterstattung, die wir dem öffentlichen wäscherei und vermuteten Potentatengeldern auf Gericht und damit der Aufklärung verdanken, wird Schweizer Banken. Gemeingefährliche Verbrechen sind durch den Boulevard nicht befördert. Auffallend ist die medial (3,2%) ebenfalls überrepräsentiert (Kriminal- im Typenvergleich zweitstärkste Überrepräsentation statistik: 0,5%). Behandelt werden in dieser Rubrik der Gewaltverbrechen gegen Leib und Leben bei den mehrheitlich Brandstiftungen. Die Rubrik Ehre-, Abonnementszeitungen (+24 PP im Vergleich zur Geheim- und Privatbereich ist medial in etwa gleich ­Kriminalstatistik). Am stärksten thematisiert der stark repräsentiert wie in der Polizeistatistik (2% vs. Tages-Anzeiger Delikte gegen Leib und Leben (30,9%), 2,1%). Es wird in erster Linie über Fälle von Ehr­ gefolgt von der NZZ (28,1%) und der Basler Zeitung verletzung (u. a. im Bereich des Internets) und über (23,8%). Am meisten redaktionelle Ressourcen setzt Hacker- und Lauschangriffe durch ausländische Ermitt- dabei der Tages-Anzeiger zur Bewirtschaftung solcher lungsbehörden berichtet, die medial wiederum über­ Gewaltdelikte ein. Der Anteil längerer, redaktionell repräsentiert sind. Symbolische Formen der Gewalt in gezeichneter Berichte ist beim Tages-Anzeiger signifi- Form von Gewalthetze oder Morddrohungen sind kant höher als bei den anderen untersuchten Abonne- medial (1%) im Vergleich zur Kriminalstatistik (1,4%) mentstiteln (40% längere Berichte, davon 37% redak- in etwa gleich stark repräsentiert. tionell gezeichnet). Ebenfalls bei sämtlichen Pressetypen überrepräsentiert Über- bzw. Unterrepräsentation der StGB-Delikt- ist die Berichterstattung über Delikte gegen die sexuelle typen auf der Ebene der Pressetypen und -titel Integrität (ohne Tötung). Am stärksten übervertreten Wie stark sind die verschiedenen Deliktkategorien auf ist diese Deliktkategorie bei den Boulevardmedien der Ebene der einzelnen Pressetypen und Pressetitel (+11,4 PP gegenüber der Kriminalstatistik), gefolgt über- bzw. unterrepräsentiert? Zur Beantwortung von der Gratiszeitung­ (+10 PP). Auf Titelebene zeigen ­dieser Frage werden im Folgenden die vier StGB- sich wiederum grosse Unterschiede zwischen den bei- Deliktkategorien mit der grössten Über- bzw. Unter­ den Boulevardblättern:­ Während bei den Gewalt­ repräsentation im Vergleich zur Kriminalstatistik verbrechen der Blick deutlich stärker vertreten ist, ist es berücksichtigt. Es sind dies die Deliktkategorien gegen in der Kategorie der Sexualdelikte gerade umgekehrt: Leib und Leben, gegen das Vermögen, gegen die Der SonntagsBlick thematisiert diesen Delikttyp von ­sexuelle Integrität und den öffentlichen Frieden. Diese allen untersuchten Titeln klar am häufigsten (16,9%). machen zusammen rund 75% der gesamten für 2011 Stark überrepräsentiert sind Sexualdelikte auch im erfassten Kriminalitätsberichterstattung aus. Sonntag (+13,7 PP), gefolgt von der Basler Zeitung Gewaltdelikte gegen Leib und Leben sind im Vergleich (+11 PP) und der Gratiszeitung 20 Minuten (+10 PP). zur Kriminalstatistik bei sämtlichen Pressetypen über- In der Rubrik gegen die sexuelle Integrität sind Sexual- repräsentiert, bei den Boulevardzeitungen aber ein­ delikte an Kindern eindeutig am stärksten überreprä- deutig am stärksten (+36 PP im Vergleich zur Krimi- sentiert, nämlich um den Faktor 15 (Medien: 3,7%; nalstatistik; vgl. Darstellung 8). Auf Titelebene zeigen Kriminalstatistik: 0,25%). Am stärksten sind Sexual­ sich allerdings markante Unterschiede zwischen dem delikte mit Kindern in der NZZ am Sonntag über­ täglich und dem sonntäglich erscheinenden Boule- vertreten (+12,4 PP; allerdings nur sechs Fälle), gefolgt vardblatt: So ist die Überrepräsentation beim Blick vom SonntagsBlick (+5,8 PP) und 20 Minuten (+4 PP). (+47,8 PP) sehr viel grösser als beim SonntagsBlick Bei den Gratis- und Boulevardzeitungen zeigt sich (+29,1 PP). Die Thematisierung der Delikte gegen Leib eine qualitätsdefizitäre Tendenz, die Angeschuldigten und Leben ist in den Boulevardmedien ausgesprochen ­moralisch wortstark zu diskreditieren (20 Minuten:

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Darstellung 8: Über- bzw. Unter- 36 PP repräsentation der StGB-Delikt- 11 PP typen bei den verschiedenen Boulevard 4 PP Pressetypen im Vergleich zur –54 PP Kriminalstatistik Die Darstellung zeigt die Über- 24 PP bzw. Unterrepräsentation der 8 PP StGB-Delikttypen Leib und Leben, Abonnement 14 PP ­sexuelle Integrität, öffentlicher –46 PP Frieden und Vermögen in der Medienberichterstattung der 23 PP verschiedenen Pressetypen im 9 PP Vergleich zur polizeilichen Krimi­ Sonntag 10 PP nalitätsstatistik im Jahr 2011. Lesebeispiel: Beim Pressetyp der –50 PP Boulevardzeitungen sind schwere 17 PP Gewaltdelikte, d. h. Delikte gegen 10 PP Leib und Leben, im Vergleich zur Gratis polizeilichen Kriminalstatistik um 17 PP 36 Prozentpunkte überrepräsen- –40 PP tiert. 14 PP 9 PP Wochen/Magazin 16 PP –56 PP

–60 PP –40 PP –20 PP 0 PP20 PP 40 PP 60 PP

Leib und Leben Sexuelle Integrität Öffentlicher Frieden Vermögen

«Pedo-Grüsel», «Sexgrüsel», «Porno Lehrer»; Sonntags- Deliktkategorie im Vergleich zu den anderen häufiger Blick: «Sex-Bestie»; Blick: «Chat Grüsel», «Bubenschän- anzutreffen sind. der», «Sex-Bestie», «Pornolehrer»). Als einzige Deliktkategorie sind Vermögensdelikte bei Auch die Deliktkategorie öffentlicher Frieden ist bei sämtlichen Pressetypen im Vergleich zur Kriminal­ sämtlichen Pressetypen im Vergleich zur Kriminal­ statistik deutlich unterrepräsentiert. Am grössten ist statistik überrepräsentiert, am stärksten bei der Gratis- die Unterrepräsentation bei den werktags erscheinen- zeitung (+17,1 PP gegenüber der Kriminalstatistik), den Wochenmedien (–56 PP im Vergleich zur Krimi- gefolgt von den werktags erscheinenden Wochen­ nalstatistik), gefolgt von den Boulevardzeitungen medien (+15,6 PP) und den Abonnementszeitungen (–53,7 PP), den Sonntagszeitungen (–49,7 PP) und der (+13,7 PP). Auf Titelebene sind in dieser Deliktkate­ Gratiszeitung (–39,6 PP). Am stärksten thematisiert gorie am stärksten die Basler Zeitung (+21,8 PP), somit die Gratiszeitung Vermögensdelikte (33,6%). 20 Minuten (+17,1 PP) und die Weltwoche (+13,5 PP) Vermögensdelikte sind beim Tages-Anzeiger am überrepräsentiert. Während die Basler Zeitung und wenigsten stark unterrepräsentiert (–43,5 PP), gefolgt 20 Minuten vor allem den Fussball-Hooliganismus von der NZZ am Sonntag (–46,9 PP) und Der Sonntag und die Facebook-Party-Krawalle in verschiedenen (–47,6 PP). Auffallend ist der bei 20 Minuten im Schweizer Städten thematisieren, fokussiert die Welt- ­Vergleich aller Pressetitel deutlich grösste Anteil an woche in Übereinstimmung mit ihrer rechtspopulisti- minderschweren Vermögensdelikten. Im Gratisblatt schen Ausrichtung primär auf linksextreme Gewalt werden wenig relevante, minderschwere Vermögensde- (Udris 2011, S. 313–315). Der hohe Politisierungsgrad likte (z. B. Diebstähle) also am häufigsten genutzt, um führt dazu, dass einordnende Berichte bei dieser ohne viel Aufwand Berichterstattungsvolumen zu

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Darstellung 9: Über- bzw. Unter- –0,4 PP repräsentation auslän­discher vs. schweizerischer Täter im Ver- Gratis 6,5 PP gleich zum Durchschnittswert –6,1 PP der Pressearena Die Darstellung zeigt die Über- 1,3 PP bzw. Unterrepräsentationen aus- ländischer vs. schweizerischer Täter Abonnement 5,2 PP in der Kriminalitätsberichterstat- –6,5 PP tung der verschiedenen Presse­ typen im Vergleich zum Durch- –2,8 PP schnitt in der gesamten Presse­ arena im Jahr 2011. Erfasst wurden Wochen/Magazin 2,7 PP die folgenden drei Ausprägungen: 0,1 PP Nennung ausländischer Täter (Ausländer/Asylanten), Nennung schweizerischer Täter und Nennung 3,2 PP sowohl ausländischer wie schwei- Sonntag –2,7 PP zerischer Täter (Schweizer/Aus­ –0,6 PP länder), beispielsweise wenn Tätergruppen/Tätercliquen thema­ tisiert werden. –0,4 PP Lesebeispiel: Beim Pressetyp der Boulevard –2,9 PP Gratiszeitung werden ausländische Täter in der Kriminalitätsbericht­ 3,3 PP erstattung häufiger unter Angabe –8 PP –6 PP –4 PP –2 PP 0 PP 2 PP 4 PP 6 PP 8 PP ihrer Nationalität benannt als im Durchschnitt der gesamten Presse­ arena: Die Anteile sind um 6,5 Pro- Schweizer/Ausländer Ausländer/Asylanten Schweizer zentpunkte höher.

generieren (z. B.: «Geld erbettelt», 15.4.2011; «In Frei- schweizerischer wie ausländischer Zusammensetzung). zeit Dieb erwischt», 29.9.2011; «Langfinger erwischt», Von einer kampagnenartigen, gegen Ausländer ge- 11.11.2011). Gleichzeitig zeigt sich, dass die Kriminali- richteten Kriminalitätsberichterstattung kann also tätsberichterstattung des Gratistitels im Quervergleich nicht gesprochen werden. Allerdings zeigen sich im am stärksten auf Agentur- und Polizeimeldungen Vergleich der Pressetypen wie auch mit Blick auf basiert, die Eigenleistung also stark limitiert ist. ­einzelne Delikttypen erhebliche Unterschiede. Der Darstellung 9 lässt sich entnehmen, dass die Gra- 2.3 Fokussierung auf ausländische vs. schweize­ tiszeitung am häufigsten über ausländische Täter rische Täter berichtet, d. h. 20 Minuten benennt ausländische Täter Die Längsschnittuntersuchung hat eine leicht zuneh- (bzw.: Tatverdächtige) mit der geringsten Zurück­ mende Tendenz der Fokussierung auf ausländische haltung – in 42,6% der Fälle. Das entspricht einer Täter (bzw.: Tatverdächtige) gezeigt (vgl. Kapitel 1). In Überrepräsentation im Vergleich zum Durchschnitts- diesem Abschnitt soll nun untersucht ­werden, wie sich wert sämtlicher Pressetitel um 6,5 Prozentpunkte. die Fokussierung auf inländische/­ausländische Täter Ebenfalls überproportional häufig werden ausländische im Vergleich der verschiedenen Pressetypen im Unter- Täter in den Abonnementszeitungen genannt (41,3%; suchungsjahr 2011 präsentiert. Wird die Nationalität +5,2 PP im Vergleich zum Presse­mittel). Für den ver- der Tatverdächtigen genannt, so stehen 2011 zu rund gleichsweise hohen Anteil auslän­discher Täter in der 60% Schweizer im Fokus, während ausländische Täter Kriminalitätsberichterstattung der Abonnements- zu rund 36% genannt werden (die restlichen 4% be- presse ist vorwiegend der Tages-Anzeiger verantwortlich­ ziehen sich auf Gruppen von Tätern mit sowohl (46,7% ausländische Täter; +10,6 PP im Vergleich zum

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Pressemittel). Die NZZ ist bei der ­Nennung ausländi- bezieht sich medial primär auf minderschwere Ver­ scher Täter zurückhaltender. Ebenfalls überproportio- mögensdelikte (u. a. Diebstähle). Jedoch zeigt sich auch nal häufig thematisieren die werktags erscheinenden in dieser Deliktkategorie der Nachrichtenwert des Wochenmedien ausländische Täter. Auch hier muss ­Faktors Gewalt: Bewaffnete Raubüberfälle sind im Ver- allerdings zwischen den Pressetiteln differenziert gleich zur Kriminalstatistik signifikant überrepräsentiert. ­werden: Während die rechtskonservative Weltwoche Auch Delikte gegen die sexuelle Integrität (ohne Tötung) ausländische Täter überproportional häufig benennt sind gegenüber der Kriminalstatistik übervertreten (39,6%; +3,5 PP im Vergleich zum Pressemittel), (+10 PP). Im Fokus stehen häufig sexuelle Delikte mit ­werden bei der linksalternativen WochenZeitung aus- Kindern. Diese sind im Vergleich zur Kriminalstatistik ländische Täter im Vergleich aller Pressetitel am um das rund 15fache überrepräsentiert. wenigsten thematisiert (22,2%; –13,9 PP im Vergleich Auf der Ebene der einzelnen Pressetypen zeigen sich zum Pressemittel). Hier machen sich Effekte der welt- folgende Profile der Kriminalitätsberichterstattung: anschaulichen Ausrichtung beider Titel bemerkbar. Boulevardzeitungen: Die Kriminalitätsberichterstattung Unterrepräsentiert sind ausländische Täter in den ist eine Domäne der Boulevardzeitungen. Sie weisen Sonntagszeitungen (33,4%; –2,7 PP) sowie – bemer- das anteilsmässig grösste Berichterstattungsvolumen kenswerterweise – in den Boulevardzeitungen (33,2%; im Bereich der Kriminalität auf. Die Berichterstattung –2,9 PP im Vergleich zum Pressemittel). Allerdings ist insgesamt qualitätsschwach. Sie ist stark ereignis­ sinkt – nicht nur bei den Boulevardzeitungen – die zentriert und primär auf den unmittelbaren Tathergang Zurückhaltung der Benennung ausländischer Täter im fokussiert, kaum einordnend und ausgesprochen stark Zusammenhang einzelner Delikte beträchtlich. In der moralisch-emotional aufgeladen. Eine Spezialität der Kategorie schwerer Gewaltverbrechen werden in der Boulevardzeitungen ist es, den Tathergang bereits im Boulevardzeitung Blick ausländische Täter in 49,7% Titel aufmerksamkeitsheischend wiederzugeben (Bsp.: aller Beiträge unter Angabe ihrer Nationalität genannt. «Kosovare schlitzt Schwinger die Kehle auf», Blick Am höchsten ist dieser Wert indessen bei der Welt­ 30.11.2011). Trotz des hohen Gewichts der Kriminali- woche. Werden Gewaltdelikte gegen Leib und Leben tätsberichterstattung ist der Eigenleistungsanteil gering. zum Thema, so werden ausländische Täter zu 60,8% Von allen Pressetypen sind bei den Boulevardzeitungen unter Angabe ihrer Nationalität genannt. Ein vergleich- Gewaltverbrechen (+36 PP) und Delikte gegen die barer Effekt – d. h. häufigere Nennung der ­Nationalität sexuelle Integrität (+11,4 PP, ohne Tötung) am stärksten ausländischer Täter – zeigt sich bei den ­anderen Delikt- überrepräsentiert. Während beim Blick primär Gewalt- typen, unter anderem jenem gegen die sexuelle Inte­ verbrechen stark übervertreten sind, sind es beim Sonn- grität, nicht. tagsBlick die Delikte gegen die sexuelle Integrität, spe­ ziell Sexualdelikte an Kindern. Wie bei der Gratiszeitung zeigt sich eine Tendenz, die Angeschuldigten solcher Fazit: Querschnittanalyse Delikte wortstark zu diskreditieren («Sex-Bestie», «Chat Schwerwiegende Gewaltdelikte gegen Leib und Leben Grüsel» u. ä.). erhalten in der untersuchten Pressearena mit Abstand Gratiszeitung: Die Gratiszeitung 20 Minuten bewirt- am meisten Resonanz und sind gegenüber der polizei­ schaftet die Kriminalitätsberichterstattung­ nach den lichen Kriminalstatistik am stärksten überrepräsentiert Boulevard-Zeitungen am zweitstärksten. Auch hier (+26,4 PP). Die Überrepräsentation zeigt sich beson- überwiegen die Qualitätsdefizite deutlich. Die Bericht- ders ausgeprägt bei Tötungsdelikten. Diese sind medial erstattung ist im Vergleich zu den Boulevard­zeitungen (17%) im Vergleich zu Polizeistatistik (0,04%) um das noch stärker episodisch-punktuell, sie fokussiert knapp 434fache überrepräsentiert. Die medienver­ ­primär auf den unmittelbaren Tathergang, aber kaum mittelte Kriminalitätsdarstellung schwerer Gewaltver- auf die juristische Aufarbeitung. Hintergrundberichte­ brechen fällt markant bedrohlicher aus, als dies anhand fehlen praktisch ganz. Der Eigenleistungsanteil ist im der Kriminalstatistik gerechtfertigt ist. Gegenüber der Vergleich aller Pressetypen am geringsten. Im Vergleich Kriminalstatistik deutlich unterrepräsentiert sind Ver- zur Kriminalstatistik am zweitstärksten übervertreten mögensdelikte (–50,7 PP). Die Unterrepräsentation sind Delikte gegen die sexuelle Integrität (+10,5 PP,

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ohne Tötung), wobei besonders häufig pädophile Ver­ Werktags erscheinende Wochenmedien: Die beiden gehen an Kindern thematisiert werden. Wie bei den ­Presseerzeugnisse Weltwoche und WochenZeitung ver­ Boulevardzeitungen zeigt sich auch bei der Gratis­ öffentlichen eine nur geringe Beitragsmenge mit Bezug zeitung eine qualitätsdefizitäre Tendenz, die Angeschul- zur Kriminalitätsthematik. Dabei handelt es sich aber digten moralisch zu diffamieren (z. B. «Pädo-Grüsel», überwiegend um gross aufgemachte Beiträge, in die «Porno Lehrer»). Im Vergleich aller Pressetypen sind stark investiert wird. Die Kriminalitätsberichterstat- bei der Gratiszeitung 20 Minuten wenig relevante, min- tung wird überwiegend mittels ausführlicher Hinter- derschwere Vermögensdelikte prozentual am häufigsten grundberichte, Reportagen und Interviews behandelt vertreten und deshalb sind die Vermögensdelikte­ gegen- und ist systematisch politisch orientiert. Auch ist im über der Kriminalstatistik am wenigsten untervertreten Vergleich der Anteil an thematisch-einordnenden Bei- (–39,6 PP). Die Gratiszeitung nutzt entsprechende­ trägen am grössten. Allerdings zeigen sich zwischen den Agenturberichte und Polizeimeldungen am meisten, beiden Pressetiteln deutliche Unterschiede: Während um ressourcenschonend Berichterstattungsvolumen zu die Weltwoche in ihrer thematischen Berichterstattung generieren. Auffallend ist in diesem Zusammenhang die primär Missstände problematisiert, ohne Erklärungen Tendenz, den Nachrichtenwert minderschwerer Delikte zu liefern, sind bei der WochenZeitung die qualitäts­ durch die Betonung kurioser und unterhaltender besseren, thematisch-erklärenden Beiträge häufiger Aspekte zu steigern. Bei der Gratiszeitung findet sich im vertreten. Zudem ist die Berichterstattung der Welt­ Vergleich aller Pressetypen deshalb der grösste Anteil an woche wesentlich stärker moralisch-emotional aufge­ wenig relevanten Softnews-Kriminalitätsfällen mit laden. Gesamthaft fällt die Weltwoche qualitativ hinter Unterhaltungsakzent (z. B.: «Stiftin klaute Uhren und die WochenZeitung zurück. Die Auswahl und die Form Schmuck im BH»). der Darstellung der Kriminalitätsfälle ist bei beiden Abonnementszeitungen: Das Volumen der Kriminalitäts- Titeln Ausdruck einer stark weltanschaulich geprägten berichterstattung ist bei den Abonnementszeitungen im Redaktionslinie. Bei diesen Presseerzeugnissen ist die Vergleich der täglich erscheinenden Pressetypen am Deliktkategorie gegen den öffentlichen Frieden im Ver- geringsten. Dass Abonnementszeitungen der Krimina- gleich zur Kriminalstatistik am stärksten überrepräsen- litätsberichterstattung weniger Gewicht beimessen als tiert (+15,6 PP). Während die Weltwoche in Überein- die Boulevardzeitungen sowie die Gratiszeitung zeigt stimmung mit ihrer rechtskonservativen Linie primär sich am hohen Anteil an Kurzmeldungen. Dies korre- auf linksextreme Gewalt fokussiert, beleuchtet die liert mit dem hohen Anteil an episodisch-punktueller ­linksalternative WochenZeitung hier vor allem das Pro- Berichterstattung. Auffallend ist bei den Abonnements- blem des Hooliganismus und die Form seiner poli­ zeitungen die ausgeprägte Regionalisierung der Krimi- tischen Bewältigung. nalitätsberichterstattung: Strafrechtlich relevante Sonntagszeitungen: Bei den sonntäglich erscheinenden Delikte werden grossmehrheitlich im jeweiligen Regio- Titeln erreicht die Kriminalitätsberichterstattung im nalressort behandelt. Auf Titelebene zeigen sich grosse Vergleich der Pressetypen das geringste Volumen. Die Unterschiede zwischen den drei erfassten Abonne- Beiträge landen allerdings am häufigsten auf den Titel- mentszeitungen Tages-Anzeiger, Basler Zeitung und seiten und basieren zumeist auf Eigenleistungen und NZZ. Im Bereich der Kriminalitätsberichterstattung hat nicht auf Agenturbeiträgen. Nach Weltwoche/Wochen- der Tages-Anzeiger ein Profil, das in Teilaspekten jenem Zeitung ist die Berichterstattung am stärksten einord- der Boulevard- und Gratiszeitung(en) ähnelt. So weist nend und sachlich. Die Sonntagszeitungen bewegen der Tages-Anzeiger anteilsmässig eine sogar noch leicht sich bezüglich Über- bzw. Unterrepräsentation der ver- umfangreichere Kriminalitätsberichterstattung auf als schiedenen Deliktkategorien im Pressemittel. Dies kor- der Gratistitel 20 Minuten. Ebenfalls sind beim Tages- respondiert mit der im Vergleich aller Pressetypen Anzeiger Gewaltverbrechen im Vergleich zur Kriminal- grössten Varianz der Kriminalitätsberichterstattung. statistik annähernd so stark übervertreten wie beim Episodische Kurzberichte über schwere Gewaltver­ SonntagsBlick (+26,2 PP). Allerdings ist der Stil des brechen sind ebenso vertreten wie Hintergrundberichte Tages-Anzeigers deutlich sachlicher, als jener der Boule- beispielsweise zum organisierten Verbrechen. vard- und Gratisblätter.

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3. Qualität der massenmedial vermittelten nalität (Berichterstattungsstil und Vermittlung von Auseinandersetzung um die Revision der Kontextwissen) für die verschiedenen Pressetypen allgemeinen Bestimmungen des Straf­ und -titel zu überprüfen. gesetzbuches (AT-StGB) Wie in den ersten beiden Teilen dieser Studie gezeigt Methodik wurde, ist die Kriminalitätsberichterstattung durch Für diesen Teil der Vertiefungsstudie werden alle eine Fokussierung auf Gewaltdelikte gegen Leib und ­Beiträge des Kommunikationsereignisses ‹Revision des Leben sowie gegen die sexuelle Integrität (insbe­ AT-StGB› in den Abonnementszeitungen NZZ, Le sondere von Kindern) geprägt. Zudem spielen die Temps und Tages-Anzeiger, in den Boulevardzeitungen Kampagnen politischer Akteure eine wichtige Rolle für Blick, SonntagsBlick und Le Matin, in den beiden Gratis- die Dynamik der Berichterstattung. In diesem dritten zeitung 20 Minuten und 20 minutes sowie in der Sonn- und abschliessenden Teil des Beitrags werden wir nun tagsZeitung und der Weltwoche (Sonntagszeitung/ untersuchen, wie sich diese Form der Kriminalitäts­ Magazin) im Zeitraum vom 1. Januar 2007 (Inkraft­ berichterstattung auf die Wahrnehmung der Straf­ setzung) bis zum 31. Oktober 2011 analysiert. Auf gesetzgebung und der Strafrechtspflege auswirkt. Dies ­Artikelebene werden der Berichterstattungsstil und die lässt sich anhand der öffentlichen Debatte über die Temporalität* erfasst. Auf Aussageebene werden maxi- Gesamterneuerung der allgemeinen Bestimmungen mal drei – nach Massgabe der Prominenz und des des Strafgesetzbuches (Art. 1–110 und 333–401 StGB) Gewichts der Aussage bestimmte – Akteure mit ihrer exemplarisch untersuchen.­ Bewertung der Revision und dem zentralen Argument, das sie zur Begründung dieser Bewertung vorbringen, Revision der allgemeinen Bestimmungen erhoben. Von diesen Akteuren werden zudem die des Strafgesetzbuches (AT-StGB) Akteurskategorie und die politische Orientierung, Den Kern der Revision bildete die Neuordnung und sofern diese im Beitrag explizit gemacht wird, erfasst. Differenzierung der Sanktionen in zwei zentralen Punkten: Einerseits sollte die kurze unbedingte Frei- heitsstrafe bis zu sechs Monaten weitgehend durch Dynamik der Berichterstattung über Geldstrafen oder durch gemeinnützige Arbeit ersetzt die Revision des AT-StGB werden. Anderseits sollte die Öffentlichkeit* nament- Die Berichterstattung über die Revision des AT-StGB lich durch die Einführung einer neuen Sicherungsver- ist in den ersten eineinhalb Jahren nach deren Inkraft- wahrung besser vor gefährlichen Gewalttätern geschützt treten (1. Januar 2007) durch einen Expertendiskurs werden (vgl. Botschaft zur Änderung des Schweizeri- (Strafrechts- und Kriminalitätsexperten, Richter und schen Strafgesetzbuches vom 21. September 1998). Staatsanwälte) geprägt, der mit geringer Intensität in Form von Hintergrundberichten in den überregiona- len Abonnementszeitungen (Le Temps / NZZ) geführt Aufgrund der Bedeutung der Revision der allgemeinen wird. In dieser ersten Phase überwiegen die zustim- Bestimmungen des Strafgesetzbuches (AT- StGB) eig- menden Argumente zur Revision. Die Gratis- und die net sich diese gut, um die Qualität der medienver­ Boulevardmedien nehmen sich des Themas erst an, als mittelten Kommunikation über die Rechtssetzung und Exponenten der SVP im Juli 2008 Kritik an der Revi- Rechtspflege zu analysieren. Sie eignet sich auch, um zu sion üben und eine Abschaffung der bedingten Geld- überprüfen, inwieweit die zunehmende Thema­ strafen fordern. Gleiches hatten zuvor schon Vertreter tisierung der Kriminalität in der öffentlichen Kommu- der FDP getan, doch hatten sie damit kaum Resonanz nikation die Wahrnehmung der Rechtspraxis beein- erzielt. Die nun beginnende Intensivierung der Bericht- flusst. Zu diesem Zweck wird einleitend die Dynamik erstattung wird durch zwei Ereignisse beeinflusst, die der Berichterstattung skizziert, um dann die Qualität Medienakteuren wie politischen Akteuren zur Illustra- der Presseberichterstattung über die AT-StGB-Revision ­ tion ihrer Kritik an der Revision des ­AT-StGB dienen. anhand der Indikatoren Vielfalt der Akteure und Beim ersten Fall handelt es sich um die Urteile im soge- ­Argumente sowie Sachgerechtigkeit und Professio­ ­ nannten «Sexskandal FC Thun» in der zweiten Hälfte

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2008, beim zweiten Fall um die Tötung der Jugendlichen In der Berichterstattung finden sich sieben Deutungs- Lucie T. im März 2009. Dieser zweite Fall führt zu perspektiven (vgl. Darstellung 10), unter denen die zu einem Quantensprung der Berichterstattung und zu Wort kommenden Akteure für oder gegen die Revision einer neuen Zusammensetzung der Resonanz erzielen- des AT-StGB argumentieren. Diese Deutungsperspek- den Akteure. Auf den Zeitraum von drei Monaten nach tiven sind allerdings, was ihre Resonanz betrifft, sehr der Tötung von Lucie T. entfallen beinahe die Hälfte ungleich verteilt. Die Berichterstattung wird vor allem (45%) aller Beiträge zur Revision des AT-StGB. Wie durch drei resonanzstarke Argumente geprägt, die schon angesichts der Urteile im Fall der Thuner Fuss- ­allesamt gegen die Revision ins Feld geführt werden. baller sind es auch im Fall Lucie T. vor allem die Boule- Das resonanzstärkste Argument gegen die Revision vardmedien und politische Akteure – allen voran die spricht den (bedingt ausgesprochenen) Geldstrafen SVP –, die die öffentliche Kommunikation* prägen eine abschreckende Wirkung auf die Täter ab. Das und den Vorwurf einer «Kuscheljustiz» bewirtschaften, Argument etabliert sich schon 2008 und bleibt über während die Gratismedien diese Vorwürfe unreflek- den gesamten Zeitraum prominent. Es wird vor allem tiert transportieren und damit der SVP ebenfalls eine von Parteiakteuren innerhalb wie ausserhalb des Parla- Bühne schaffen. Nur in der Abonnementspresse findet mentes, von Akteuren der Strafrechtspflege (insbeson- eine reflexive Auseinandersetzung mit diesem Vorwurf dere Staatsanwälte) sowie von Mitgliedern der Exeku- statt. Durch die Forderung nach einer Sondersession tive auf kantonaler Ebene wie auf Bundesebene im Nationalrat und durch die Sondersession im Juni geäussert (vgl. Darstellung 11). Wie die Positionierung 2009 intensiviert sich die Berichterstattung noch­ der Kugel in Darstellung 10 illustriert, wird diesem mals. Argumente gegen die Revision werden nun von Argument nur selten widersprochen. Widerspruch einem breiten Akteursfeld vorgetragen; und sie erhal- äussern vor allem Experten aus der Wissenschaft und ten in allen Pressetypen intensive Resonanz. Allerdings der Justiz. Das zweithäufigste Argument gegen die zeigen sich auch hier typenspezifische Unterschiede. So Revision beschränkt sich nicht mehr auf einen Aspekt, sorgen primär die Abonnementszeitungen für eine sondern diskreditiert sie pauschal als Ausdruck einer Fortführung der Hintergrundberichterstattung auf «Kuscheljustiz». Die Resonanz dieser pauschalisieren- der Basis von Expertenwissen, das die Revision nicht den Kritik an der Revision steigt nach der Tötung von nur im Licht von aktuellen Einzelfällen thematisiert Lucie T. markant an. Der erst 2008 sehr vereinzelt in und dadurch die Kritik relativiert. Eine letzte Intensi- der Berichterstattung zur Revision des allgemeinen­ vierung der Berichterstattung erfolgt, als der Bundesrat Teils des Strafgesetzbuches auftauchende Vorwurf der im Juli 2010 vorschlägt, die bedingten Geldstrafen­ wie- «Kuscheljustiz» ist bereits 2009 so etabliert, dass sich der abzuschaffen. Damit ist die ­Auseinandersetzung auch die NZZ prominent mit ihm ­auseinandersetzt um die Revision des AT-StGB entschieden. (z. B. 18.04.2009). Vorgebracht wird diese Form der pauschalisierenden Kritik an der Revision von Partei- Vielfalt der Argumente und Akteure akteuren ausserhalb des Parlamentes, insbesondere Um die Vielfalt der Argumente und Akteure zu ana­ von Vertretern der SVP, sowie von den Gratis- und lysieren, die in der Berichterstattung zur Revision des Boulevardmedien (z. B. Blick 11.05.2009: «Fünf aktu- AT-StGB Resonanz erhalten, wurde die Vielfalt der elle Beispiele für die neue Schweizer Kuscheljustiz»). Deutungsperspektiven erfasst, unter denen die Revi- Widerspruch erwächst dieser Kritik von Seiten der sion beurteilt wird. Zusätzlich wurde für jede Deu- Experten und der Abonnementspresse. Das dritte reso- tungsperspektive der Anteil der Argumente für und nanzstarke Argument gegen den revidierten AT-StGB gegen die Revision analysiert. Das Ziel einer vielfälti- kritisiert, dass die zu wenig durchdachten Bestimmun- gen Berichterstattung ist nicht die Gleichverteilung gen Ungerechtigkeit produzieren, indem beispielsweise hinsichtlich der Deutungsperspektiven, Argumente eine gravierende Übertretung der Strassenverkehrs­ und Akteure, wohl aber die Vermeidung von Verein­ ordnung mit einer bedingten Geldstrafe geahndet seitigungen in Bezug auf Deutungsperspektiven und würde, während eine geringfügige Übertretung mit Argumente sowie die Vermeidung von Pauschali­ einer Busse bestraft würde. Dieses Argument, das vor sierungen. allem von Akteuren der Strafrechtspflege verwendet

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–100 –80 –60 –40 –20 020406080100

Strafen haben keine Strafen haben abschreckende abschreckende Wirkung Wirkung

«Kuscheljustiz» Keine «Kuscheljustiz»

Schafft Ungerechtigkeit Schafft keine Ungerechtigkeit

Führt zu keiner Resozialisierung Dient der Resozialisierung

Entlastet Gefängnisse nicht Entlastet Gefängnisse

Schützt Opfer zu wenig Schützt Opfer hinreichend

Entspricht nicht internationalen Entspricht internationalen Standards Standards

CONTRA Revision PRO Revision

Darstellung 10: Debatte zur Revision der AT-StGB nach Deutungsperspektiven Die Darstellung zeigt die öffentliche Resonanz der verschiedenen Deutungsperspektiven zur AT-StGB-Revision während des gesamten Untersuchungszeit- raums (1. Januar 2007 [Inkraftsetzung] bis zum 31. Oktober 2011). Auf der x-Achse wird die Position auf dem Kontinuum zwischen den beiden je- weiligen Pro- und Contra-Argumenten innerhalb einer Deutungsperspektive markiert. Die Grösse der Kugel zeigt die Resonanz der jeweiligen Deutungs- perspektive; je grösser die Kugel umso resonanzstärker das Argument. Lesebeispiel: Die «Kuscheljustiz» ist die zweithäufigste Deutungsperspektive. Der Wert auf der x-Achse von rund –40 indiziert, dass sich die Position, wonach die Revision Ausdruck einer «Kuscheljustiz» sei, gegenüber der Position, wonach die Revision zu keiner «Kuscheljustiz» führe, deutlich durchsetzen konnte.

wird, erzeugt den geringsten Widerspruch. Nach der äussern, dann wird deutlich, dass die Berichterstattung Tötung von Lucie T. erhält zudem das Argument, das vor allem durch Medienakteure selbst, durch Akteure revidierte Strafgesetzbuch schütze die Opfer zu wenig, der Exekutive und durch Parteiakteure (innerhalb wie Aufmerksamkeit. ausserhalb des Parlamentes) bestimmt wird. Daneben Argumente für die Revision des allgemeinen Teils des finden insbesondere bis Mitte 2008 auch Experten Strafgesetzbuches finden hingegen nicht nur deutlich breite Resonanz. Diese letztgenannte Akteursgruppe ist weniger Resonanz, sondern sie sind auch umstrittener. die einzige, die sich in der Summe all ihrer Aussagen Dies gilt sowohl für das Argument, die Revision unter- mehrheitlich positiv zur Revision äussert. Den anderen stütze die Resozialisierung von Straftätern, als auch für Pol bilden die Parteiakteure, die sich innerhalb – und das Argument, durch die Revision seien die Gefäng- noch stärker ausserhalb – des Parlamentes sehr deutlich nisse entlastet worden. Letzteres Argument stösst vor ablehnend äussern. In dem Masse, wie die Parteiakteure allem gegen Ende des Untersuchungszeitraums ver- im Kontext der Tötung von Lucie T. und der Sonder- mehrt auf Widerspruch. Es gibt denn auch keine session im Nationalrat an Resonanz gewinnen, verlieren Akteurskategorie, die diese beiden Argumente promi- die Experten an Aufmerksamkeit. Zwischen diesen bei- nent vertreten würde. Am ehesten finden sie sich bei den Polen liegen die Medien, die sich je nach Medien- Vertretern der Abonnementspresse, bei Experten und typ unterschiedlich positionieren (siehe unten), sowie bei Vertretern der Exekutive. die Akteure der Strafrechtspflege und der Exekutive. Betrachten wir die Vielfalt und die Resonanzchancen Die Analyse der Akteure nach der jeweils im Beitrag der Akteursgruppen, die sich zur Revision des AT-StGB genannten parteipolitischen Orientierung zeigt erstens,

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–200 –150 –100 –50 Akzeptanz (–10005 bis +100) 0100

Experten/Wissenschaft 10

Medienakteure –43

Zivilgesellschaftliche Akteure –50

Akteure Rechtspflege –55

Akteure Exekutive –56

Akteure Legislative –67

Parteiakteure –81

Andere Akteure –100

02Resonanz 55075100 125150

Strafen haben abschreckende Wirkung Strafen haben keine abschreckende Wirkung Keine «Kuscheljustiz» «Kuscheljustiz» Schafft keine Ungerechtigkeit Schafft Ungerechtigkeit Dient der Resozialisierung Führt zu keiner Resozialisierung Entlastet Gefängnisse Entlastet Gefängnisse nicht Schützt Opfer hinreichend Schützt Opfer zu wenig Entspricht internationalen Standards Entspricht nicht internationalen Standards Andere Argumente Akzeptanz Revision

Darstellung 11: Akteure und ihre Argumente bezüglich der AT-StGB-Revision Die Darstellung zeigt für den gesamten Untersuchungszeitraum (1. Januar 2007 [Inkraftsetzung] bis zum 31. Oktober 2011) die öffentliche Resonanz der verschiedenen Akteurskategorien, unterteilt nach den einzelnen Argumenten, mit denen sie sich bezüglich der AT-StGB-Revision geäussert haben (mehr- farbige Balken im linken Bereich). Je häufiger eine Akteurskategorie öffentlich zu Wort kam, umso länger der entsprechende Balken. Die blauen Balken im rechten Bereich weisen die Akzeptanz der AT-StGB-Revision innerhalb der entsprechenden Akteurskategorie aus (–100 bis +100). Lesebeispiel: 41 Positionsbezüge entfallen auf Experten resp. Wissenschaftler. Der positive Akzeptanzwert von 10 indiziert dabei eine mehrheitlich posi- tive Haltung gegenüber der AT-StGB-Revision.

dass die Revision des AT-StGB nur noch bei den Grü- können. Die Resonanzlogik führt somit zu einer Ver- nen und der SP auf Akzeptanz stösst. Dagegen über- dünnung des Argumentariums. Demgegenüber sind wiegen bei der FDP ablehnende Stimmen und die die Aussagen der Exponenten der SP durch eine breite Exponenten der CVP und der SVP äussern sich gar Vielfalt gekennzeichnet, die von verschiedenen Argu- geschlossen ablehnend. Zweitens zeigt sich, dass die menten für die Revision bis zu populistischen Argu- SVP insbesondere nach dem Fall Lucie T. in diesem menten gegen sie reicht. Entsprechend gelingt es der SP Thema mit Abstand am meisten Resonanz zu gewin- auch nicht, eine einheitliche Position zu vermitteln; nen vermag. Ihre Argumente finden mehr als doppelt ihre Resonanz verpufft. Die Medienlogiken belohnen so häufig Resonanz wie jene der SP oder der FDP. eindimensionale und pauschalisierende Argumen­ ­Drittens zeigt die Analyse der Vielfalt der Argumente tarien. Diese erzielen über die Gratis- und Boulevard- pro Partei, dass sich die SVP und – mit deutlichem medien dann in der gesamten Medienarena* An- Abstand – die CVP auf die Vermittlung weniger Argu- schlusskommunikation. mente gegen die Revision konzentrieren und so ihrer Diese Befunde zur Pressearena lassen sich nun nach grundsätzlichen Position mehr Resonanz verschaffen Pressetypen und -titel differenzieren. Wie aus Darstel-

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Darstellung 12: Argumente bezüglich der AT-StGB-Revision Abonnement nach Pressetyp Die Darstellung zeigt für den gesamten Untersuchungszeitraum (1. Januar 2007 [Inkraftsetzung] Boulevard bis zum 31. Oktober 2011) die Verteilung der einzelnen Argu- mente, mit denen die Akteure sich bezüglich der AT-StGB-Revision Gratis geäussert haben, nach Pressetypen. Je häufiger ein Argument gemes- sen werden konnte, umso länger der entsprechende Balken. Sonntag/Magazin Lesebeispiel: Über 140 Positions­ bezüge wurden in den Abonne- mentszeitungen gemessen; das 02Resonanz 55075100 125150 dominierende Argument war dabei, dass Strafen keine ab- Strafen haben abschreckende Wirkung Strafen haben keine abschreckende Wirkung schreckende Wirkung mehr haben. Keine «Kuscheljustiz» «Kuscheljustiz» Schafft keine Ungerechtigkeit Schafft Ungerechtigkeit Dient der Resozialisierung Führt zu keiner Resozialisierung Entlastet Gefängnisse Entlastet Gefängnisse nicht Schützt Opfer hinreichend Schützt Opfer zu wenig Entspricht internationalen Standards Entspricht nicht internationalen Standards Andere Argumente

lung 12 ersichtlich wird, finden die drei resonanz- Temporalität der Berichterstattung, d. h. hinsichtlich stärksten Argumente gegen die Revision des AT-StGB des Verhältnisses zwischen einer thematischen, Ur- in den Pressetypen unterschiedlich grosse Beachtung. sache-Wirkungszusammenhänge vermittelnden Be- In der Abonnementspresse machen sie nur rund die richterstattung und einer episodischen, d. h. rein den Hälfte aller Argumente (52%) aus, da daneben weitere Ereignissen verhafteten Berichterstattung. Eine thema- Argumente Resonanz erhalten und da in diesem tisch-erklärende, d. h. Einzelfälle systematisch einord- ­Pressetyp die Contra-Argumente kritisch reflektiert nende und Hintergründe vermittelnde Berichterstat- werden. Dagegen dominieren diese drei Argumente in tung leisten die überregionalen Abonnementszeitungen der Gratispresse mit knapp zwei Dritteln (22 von ins- Le Temps (32% der Berichterstattung) und NZZ (28% gesamt 36 Argumenten) und in der Boulevardpresse der Berichterstattung). Die SonntagsZeitung und die mit drei Vierteln (32 von insgesamt 44 Argumenten). Weltwoche sind durch eine thematisch-problemati­ Dieser Befund spiegelt nicht nur die geringere Vielfalt sierende Berichterstattung charakterisiert, die zwar der Argumente in diesen beiden Pressetypen sondern Missstände problematisiert, aber keine Erklärungen auch die weitgehende Übernahme pauschalisierender validiert und somit die Form des Thesenjournalismus Argumente gegen die Revision. Das lässt sich exem­ annimmt. Dagegen sind die Gratiszeitungen durch plarisch am Argument «Revision ist Ausdruck der eine episodische Berichterstattung gekennzeichnet, die Kuscheljustiz» zeigen. Diesem Argument – das im bloss auf aktuelle Ereignisse rekurriert und keine Ein- ­Boulevard sehr häufig Resonanz erhält – wird in bei- ordnung vornimmt. Diese Form der Berichterstattung den Pressetypen kein einziges Mal widersprochen (vgl. macht bei 20 Minuten rund drei Viertel und im franzö- Darstellung 12). sischsprachigen Pendant 20 minutes sogar vier Fünftel Die Pressetypen unterscheiden sich aber nicht nur der Berichterstattung aus. Aber auch im Boulevardblatt ­hinsichtlich der Vielfalt der Argumente und ihrer Blick beträgt der Anteil der episodischen Berichterstat- Durchlässigkeit für populistische Argumente gegen die tung knapp drei Viertel. Unter den Boulevardzeitungen Revision des AT-StGB, sondern auch hinsichtlich der sorgt nur Le Matin mit zwei Beiträgen für eine minimal

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0% 20%40% 60%80% 100% Darstellung 13: Temporalität der Berichterstattung zur ­AT-StGB-Revision nach Pressetyp Sonntag/Magazin (n = 8) Die Darstellung zeigt für den gesamten Untersuchungszeitraum (1. Januar 2007 [Inkraftsetzung] bis zum 31. Oktober 2011) nach Abonnement (n = 106) Pressetypen den Anteil thema­ tischer und episodischer Bericht­ erstattung im Rahmen des ge­sam- Boulevard (n = 27) ten Kommunikationsereignisses zur AT-StGB-Revision. Je breiter der Balken zu einem Berichterstattungstyp, umso mehr Gratis (n = 27) Artikel sind mit der entsprechen- den Temporalität erfasst worden. Lesebeispiel: Die Gratismedien thematisch-erklärend thematisch-problematisierend episodisch-chronologisch episodisch-punktuell weisen mit nur sechs Artikeln den geringsten Anteil thematischer Berichterstattung auf.

einordnende Berichterstattung in dieser Regulations- die Revision und ihre Effekte in einen breiteren Kon- debatte (vgl. Darstellung 13). text stellt. Die unterschiedlich stark einordnende Leistung der Pressetypen zeigt sich auch im Zeitverlauf. Der durch Fazit: Qualität der medialen Auseinandersetzung eine Reflexion der Effekte der Revision des AT-StGB über die Revision AT-StGB geprägte Expertendiskurs in den ersten anderthalb Die Dynamik der Berichterstattung über die Revision ­Jahren nach dem Inkrafttreten der Revision wird des allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches ist wesent- ­ausschliesslich durch die Abonnementszeitungen ver- lich durch den Tötungsfall Lucie T. geprägt. Die Tötung mittelt. Mit der Kritik politischer Akteure an der Revi- einer Jugendlichen durch einen bereits vorbestraften sion ab Mitte 2008 und vor allem nach der Tötung von Täter bedient in hohem Mass die Medienlogiken, Lucie T. im März 2009 nehmen vermehrt auch die sodass der Fall eine breite Berichterstattung auslöst. ­Gratis- und Boulevardmedien an der Berichterstattung Dies wiederum schafft politischen Akteuren ein Auf- teil. Ihre überwiegend episodische Berichterstattung merksamkeitsfenster für ihre Kritik an der Revision des folgt weitgehend der politischen Agenda und bietet AT-StGB. Die Boulevard- und Gratiszeitungen nehmen damit politischen Akteuren eine Bühne für die Ver- das Thema der Revision auf und fokussieren auf jene mittlung ihrer Kritik an der Revision. Gleiches gilt für parteipolitischen Positionen, denen aufgrund ihrer die thematisch-problematisierende, d. h. einen Thesen- konfliktiven Zuspitzung ein hoher Nachrichtenwert journalismus pflegende, Berichterstattung in der Welt- zugeschrieben wird. Damit ändert sich der Charakter woche und der SonntagsZeitung in dieser Phase. Gleich- der Berichterstattung deutlich. Was in der überregio­ zeitig sorgen die Boulevard- und Gratiszeitungen 2009 nalen Abonnementspresse als Expertendiskurs in einem für eine moralisch-emotionale Aufladung der ansons- kognitiv-normativen Berichterstattungsstil begann, ten überwiegend kognitiv-normativ geprägten Bericht- wird nun zu einer auf die parteipolitische Auseinander- erstattung. Umgekehrt sind es wiederum die Abonne- setzung fokussierten Berichterstattung, die von den mentszeitungen, die auch in der intensivsten Phase der Gratis- und Boulevardzeitungen episodisch gestaltet Berichterstattung nach der Tötung von Lucie T. und und moralisch-emotional aufgeladenen wird. Nur während der Sondersession des Nationalrates für eine ­einzelne Abonnementszeitungen sorgen auch in der thematisch-erklärende Berichterstattung sorgen, die intensivsten Phase der Berichterstattung nach der von emotionalisierenden Einzelfällen abstrahiert und Tötung von Lucie T. und während der Sondersession

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des Nationalrates im Juni 2009 für eine thematisch- versität Zürich (Hg.), 2012: Jahrbuch 2012 Qualität der erklärende Berichterstattung, die von den emotionali- Medien. Schweiz – Suisse – Svizzera. Basel: Schwabe. Fröhlich, Rommy, 1998: Tatort Nachbarschaft: Frauen und sierten Einzelfällen abstrahiert und die Revision und ­Männer als Opfer und Täter in der lokalen Gewaltbericht­ ihre Effekte in einen breiteren Kontext stellt. erstattung, in: Publizistik, Jg. 43, S. 376–394. Entsprechend dominieren Argumente gegen die Revi- gfs, 2002–2011: Sorgenbarometer, abzurufen unter: http://www. sion die Berichterstattung, und sie nehmen nach der gfsbern.ch/Publikationen/Dossiers/Sorgenbarometer/ Tötung von Lucie T. deutlich zu. Das resonanzstärkste tabid/114/language/de-CH/Default.aspx (Zugriff: 18.8.2012). Argument gegen die Revision spricht den Geldstrafen Imhof, Kurt / Kamber, Esther, 2001: Politik und Gesellschaft im Strukturwandel der Öffentlichkeit. Zur Veränderung der eine abschreckende Wirkung auf die Täter ab. Das Konstitutionslogiken öffentlicher Kommunikation im Licht zweithäufigste Argument gegen die Revision diskredi- der Integrations- und Ordnungsdebatten, in: Gute Gesell- tiert sie pauschal als Ausdruck einer «Kuscheljustiz». schaft? Plenumsband A zum 30. Kongress der Deutschen Dieses Argument wird vor allem von Parteiakteuren Gesellschaft für Soziologie, hg. von Jutta Allmendinger, Opla- sowie von den Gratis- und Boulevardmedien vor­ den: Leske+Buderich, S. 425–453. gebracht und gewinnt im Kontext des Falls Lucie T. so Imhof, Kurt, 2007: Medienpopulismus schadet der Aufklärung, in: NZZ vom 8. Dezember 2007, abgerufen am 18.8.2012 viel Resonanz, dass selbst überregionale Qualitäts­ unter http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/medienpopulis- zeitungen sich damit auseinandersetzen müssen. Wider- mus-schadet-der-aufklaerung-1.595885. spruch erwächst diesem populistischen Argument nur Imhof, Kurt, 2011: Die Krise der Öffentlichkeit. Kommunikation noch von Seiten der Experten und der Abonnements- und Medien als Faktoren des sozialen Wandels, Frankfurt presse. Das dritte resonanzstarke Argument gegen den a.M.: Campus. revidierten AT-StGB kritisiert, dass die Anwendung Mazzoleni, Gianpietro, 2008: Populism and the Media, in: Twenty-First Century Populism. The Spectre of Western zu wenig durchdachter Bestimmungen Ungerechtigkeit European Democracy, hg. von Daniele Albertazzi / Duncan produziere. Im Vergleich der Printmedientypen zeigt McDonnell, Basingstroke: Palgrave, S. 49–64. sich, dass Gratis- und Boulevardmedien nicht nur eine Obermöller, Bernd / Gosch, Mirko,1995: Kriminalitätsberichter- geringere Vielfalt von Argumenten Resonanz verleihen stattung als kriminologisches Problem, in: Kritische Justiz. sondern die pauschalisierende Kritik von Parteiakteuren Vierteljahreszeitschrift für Recht und Politik, 28 (1), S. 45–59. an der Revision («Kuscheljustiz») unhinterfragt über- Plasser, Fritz / Ulram, Peter A., 2003: Striking a Responsive Chord: Mass Media and Right-Wing Populism in Austria, in: nehmen. Dem pauschalisierenden Argument «Revision The Media and Neo-Populism: A Comparative Analysis, hg. ist Ausdruck der Kuscheljustiz», das insbesondere im von Gianpietro Mazzoleni / Julianne Stewart / Bruce Hors- Boulevard sehr häufig Resonanz erhält, wird in beiden field, Westport, CT: Praeger, S. 21–44. Medientypen nicht widersprochen. Schönhagen, Philomen / Brosius, Hans-Bernd, 2004: Die Ent- wicklung der Gewalt- und Kriminalitätsberichterstattung im lokalen Raum, in: Publizistik, Jg. 49, S. 255–274. Literatur Udris, Linards / Ettinger, Patrik / Imhof, Kurt, 2007: Ausländer Baumann, Ulrich, 1995: Das Bild des Opfers in der Kriminali- und ethnische Minderheiten in der Wahlkampfkommunika- tätsdarstellung der Medien. Ergebnisse einer Untersuchung, tion – Analyse der massenmedialen Berichterstattung zu Mainz: Weisser Ring. den Eidgenössischen Wahlen 2007. Abgerufen am 18.8.2012 Botschaft zur Änderung des Strafgesetzbuches (Allgemeine unter: www.ekr.admin.ch/documentation/00139/index. Bestimmungen, Einführung und Anwendung des Gesetzes) html?lang=de. und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz Udris, Linards / Imhof, Kurt / Ettinger, Patrik, 2011: Problema­ über das Jugendstrafrecht vom 21. September 1998. tisierung des Fremden in der direkten Demokratie, in: Jahr- Abgerufen am 18.8.2012 unter: www.ejpd.admin.ch/content/ buch 2011 Qualität der Medien – Schweiz – Suisse – Svizzera, dam/data/sicherheit/gesetzgebung/strafgesetzbuch_allg/ hg. von fög – Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesell- bot-stgb-at-d.pdf. schaft / Universität Zürich, Basel: Schwabe, S. 377–407. Brosius, Hans-Bernd / Esser, Frank,1995: Eskalation durch Udris, Linards, 2011: Politischer Extremismus und Radikalismus. Berichterstattung. Massenmedien und fremdenfeindliche Problematisierung und diskursive Gelegenheitsstrukturen in Gewalt, Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften. der öffentlichen Kommunikation der Deutschschweiz, Wies- Dixon, Travis L. / Linz, Daniel, 2000: Race and Misrepresentation baden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. of Victimization on Local Television News, in: Communica- Wayne, Mike / Henderson, Lesley / Murray, Craig / Petley, Julian, tion Research, Jg. 27, S. 547–573. 2008: Television News and the Symbolic Criminalisation of fög – Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft / Uni- Young People, in: Journalism Studies, Vol. 9, S. 75–90.

QdM_Studie_03_2012.indd 30 29.07.13 14:30 Das Signet des 1488 gegründeten Druck- und Verlagshauses Schwabe reicht zurück in die Anfänge der Buchdrucker­kunst und stammt aus dem Umkreis von Hans Holbein. Es ist die Druckermarke der Petri; sie illustriert die Bibelstelle Jeremia 23,29: «Ist nicht mein Wort wie Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert?»­

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