www.magazin-mitbestimmung.de | Nr. 5 | Oktober 2017 Oktober 2017

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g Das Magazin der Hans-Böckler-Stiftung un mm Mitbesti

BETRIEBSRATSQUALIFIZIERUNG

In Sorge um

titelthema: gewerkschafts- industriepolitik und den Standort Gewerkschafter mahnen eine Energie- und Mobilitätswende an Jetzt die Weiterbildung für einen guten Start in die neue Amtszeit planen! -Verlag nd Bu

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Mein Lesetipp Liebe Mit einem überwältigenden Ver- trauensbeweis seiner Kolleginnen und Kollegen wurde Michael Leserinnen Vassiliadis auf dem IG-BCE-Kon- gress Anfang Oktober in Hannover

Foto: Karsten Schöne Foto: und Leser! wiedergewählt. In seinem Beitrag „Klotzen, nicht kleckern“ auf Seite 19 ff. untermauert er seine Forde- rung nach einem konzertierten Zukunftspakt für Mobilität, ohne on „tektonischen Verschiebungen“ in Deutschland ha- den die Verkehrswende nicht er- folgreich zu stemmen ist. ben manche Beobachter nach der Bundestagswahl ge- Vsprochen. Meist blieben die Analysen auf der Ebene der Parteien verhaftet. Nur wenige haben sich mit tiefer liegen- den Faltungen und Klüftungen in den Einstellungen der Wählerinnen und Wähler befasst. Eine dieser Studien hat die Hans-Böckler-Stiftung vorgelegt: „Einstellung und soziale Lebenslagen“. Auf ihrer Spurensuche nach Gründen für rechtspopulistische Orientierung, auch unter Gewerkschafts- mitgliedern, sind die Autoren auf massive Abstiegsängste gestoßen und vor allem auf einen tief empfundenen Kontroll- verlust über das eigene Leben, die Arbeit und die Politik. Da- ran knüpft der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann in seinem Kommentar zum Ausgang der Bundestagswahl auf Seite 55 an: Einen Übergang zu „business as usual“ darf es nach dieser Wahl nicht geben. Die Hans-Böckler-Stiftung wird diesen tektonischen Einstellungsveränderungen weiter nachgehen.

Michael Guggemos, Geschäftsführer und Herausgeber

[email protected]

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 3 In dieser Ausgabe …

titelthema: gewerkschafts- und industriepolitik

10 Gegen die Machtlosigkeit in Ungarns Autofabriken In einem Pilotprojekt proben IG Metall und die ungarische Vasas grenzüberschreitende Interessenvertretung. Von Stefan Scheytt 16 „An jedem Standort, in jedem Betrieb“ Der IG-Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann im Interview über Klima- und Umweltregulation, Wertschöpfungsketten und die Crux der Qualifikation 19 Klotzen, nicht kleckern Der IG-BCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis fordert einen konzertierten Zukunftspakt für Mobilität 22 Metamorphose eines Riesen Mit dem Streetscooter schreibt die Post-Tochter DHL ein Kapitel Elektromobilitätsgeschichte. Von Andreas Schulte 25 Mehr Akzeptanz für die Industrie 22 Wie das „Bündnis Zukunft der Industrie“ für einen attraktiven Standort Deutschland wirbt. Von Joachim F. Tornau

arbeit und mitbestimmung

28 Harter Weg zum besseren Schichtmodell Joachim F. Tornau über das neue Schichtmodell bei der Lear Corporation 31 Eine Stiftung für Kollegen in Not Andreas Kraft über die Belegschaftsstiftung bei den Fränkischen Rohrwerken

28 32 Guter Kompromiss Michaela Namuth über die Vereinbarung beim Internationalen Bund, die befristete Verträge eindämmt

politik und gesellschaft

34 Schutzschirm vor Übernahmen Europa will einen gesetzlichen Rahmen schaffen für ausländische Investitionen. Von Carmen Molitor 38 Wie das Krankenhaus krank macht Im Gesundheitswesen ist Burn-out so verbreitet wie sonst nirgendwo. Von Annette Jensen 42 Das lautlose Heer der „domestic workers“ 34 Die Dienstmädchen von einst vernetzen und organisieren sich. Von Michaela Namuth

4 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 Was Immer im Heft … sonst noch geschah kompakt

6 AGENDA Nachrichten, die Sie kennen sollten 8 CHECK Die Zahlen hinter der Zahl 9 PRO & CONTRA Ein Thema, zwei Experten aus der stiftung

46 RADAR Böckler-Tagungen, Böckler-Projekte, Meldungen 51 WIR — DIE STIFTUNG Die Chef-Planerin und ihr Chef

Preisgekröntes Magazin

2017 war ein überaus erfolgreiches Jahr für die „Mitbestimmung“. Mit einer 52 Nominierung für den begehrten Best- of-Content-Marketing-Preis (bcm), sozu- Porträt sagen der Oscar der Unternehmens­ kommunikation, hat das Magazin in der Altstipendiat daniel Hawkins Kategorie Non-Profit, Verbände, Institu­ arbeitet bei einer gewerkschaft- tionen eine Königsklasse erreicht. Der lichen Bildungseinrichtung verliehene Silberpreis – wir berichteten – bestätigte die überzeugende Kongruenz von Inhalten und optischer Präsentation 54 EVENTS Termine, die Sie sich merken sollten im Magazin. In gleich zwei Kategorien überzeugte 55 zur sache Reiner Hoffmann zum Ausgang der das Magazin jetzt im September die Jury Bundestagswahl der Fox Awards: Sowohl für das Design- konzept wie für das Kommunikations- konzept gab es Silber in der Kategorie medien Verbände, Vereine, Organisationen, Stif- tungen. „Der Preis bestätigt dem Kon- zept eine weit überdurchschnittliche 56 buch Rezensionen, Tipps & Debatten Wirkungskraft“, heißt es in der Begrün- 59 DAS POLITISCHE LIED Nina Hagen: „Unbeschreiblich dung der Jury. Auch hinter Fox Awards stehen Marketing- und Kommunikations- weiblich“ fachleute. 60 digital Links, Apps & Blogs Wir freuen uns – ein Erfolg für die Stiftung und für die Redaktion des Ma- gazins! Wir teilen ihn gerne mit unseren Autoren und Fotografen sowie mit den Layoutern von der Agentur Signum com- rubriken munication in Mannheim.

3 EDITORIAL 62 fundstück 64 Webresonanz 66 65 IMPREsSUM/Vorschau Margarete hasel ist leitende Redakteurin des

66 MEIN ARBEITSPLATZ Karsten Schöne Foto: Magazins Mitbestimmung.

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 5 Foto: Marcel Kusch/dpa Marcel Foto:

Protest der Stahlkocher Mitglieder der IG-Metall-Jugend protestieren am 22. September in orte wie Bochum würden als Erste dichtgemacht, fürchten die einen. Bochum zusammen mit Tausenden Demonstranten gegen die Fusi- Andere glauben gar, dass die Fusion mit Tata den Anfang vom Ende onspläne des Konzerns ThyssenKrupp und der indischen Tata-Gruppe, der Stahlproduktion im Ruhrgebiet einleiten wird. Die IG Metall gibt die ihr Stahlgeschäft zusammenlegen wollen. sich kämpferisch. Es stehen nicht nur Arbeitsplätze auf dem Spiel – Bis zu 4000 Arbeitsplätze sollen durch die Fusion verloren gehen. auch die Montanmitbestimmung ist gefährdet, wenn die Holding Die Demonstranten in Bochum sind in großer Sorge. Kleinere Stand- ihren Sitz, wie geplant, in den Niederlanden hat.

Mietpreisbremse GroSSe Unterschiede DGB fordert Sanktionen Angestellte haben geregeltere Arbeitszeiten

Angestellte Nachdem sich die Mietpreisbremse als Papiertiger erwiesen

51% Selbstständige hat, will der DGB allzu gierige Vermieter mit Nachbesse-

rungen am Gesetz ausbremsen. „Wir brauchen Sanktions- 44% möglichkeiten, um Verstöße ahnden zu können. Wer eine Wohnung mieten will, muss vom Vermieter erfahren kön-

nen, wie viel zuvor für die Wohnung gezahlt wurde“, fordert 25% 24% DGB-Vorstand Stefan Körzell. Der DGB hat zudem ein So- 6,5%

fortprogramm für mehr bezahlbaren Mietwohnungsbau 13% vorgeschlagen – inklusive 100 000 Sozialwohnungen jähr- lich. Eine Böckler-Studie hatte jüngst ergeben, dass viele Länger als 48 Stunden Arbeit zwischen Sonntagsarbeit Beschäftigte in Städten bis zu 50 Prozent ihres verfügbaren pro Woche 18 und 23 Uhr Einkommens für die Miete aufwenden. Quelle: Statistisches Bundesamt

6 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 kompakt

EINE FRAGE, Lehrerarbeitslosigkeit Stefan Schaumburg Länder schaden den Sozialkassen

Ferienzeit bedeutet für immer mehr Lehrer auch arbeitslose der Betriebsräte in Zeit. Denn während der Sommerferien müssen sich Tausende der Windbranche Lehrkräfte vorübergehend arbeitslos melden. Ihre befristeten rechnen mit einer Arbeitsverträge sind dann ausgelaufen. Nur wer Glück hat, wird negativen Marktent- zum neuen Schuljahr wieder angestellt. Die Bundesagentur für Arbeit verzeichnet deshalb jeden Sommer mehr als doppelt so wicklung. Ein Viertel

Foto: Andreas Pleines/IG Metall Andreas Foto: erwartet zudem einen viele arbeitslose Lehrer wie in den übrigen Monaten. Bei der Beschäftigungsabbau. jüngsten Erhebung für das Jahr 2016 waren es insgesamt 11 400. Der Grund: Seit der Jüngere Zahlen für Deutschland gibt es nicht, doch das Prob- Warum will die jüngsten Reform des Er- lem scheint sich jetzt drastisch zu verschärfen. Denn die Ge- IG Metall die neuerbare-Energien-Ge- setzes (EEG 2017) wird werkschaft Erziehung und Wissenschaft nennt für 2017 die 28-Stunden-Woche? die Höhe der Ökostrom- Zahl von 9000 Lehrern, die zu Ferienbeginn allein in Baden- Beihilfen im Wettbe- Württemberg arbeitslos waren. „Die Bundesländer als Arbeit- In der kommenden Tarifrunde werb ermittelt. Nur die geber sanieren sich auf Kosten der Beitragszahler der Sozial- Investoren mit dem ge- der Metall- und Elektroindust- kassen“, sagt die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe. ringsten Förderbedarf rie tritt die IG Metall für mehr bekommen den Zu- Selbstbestimmung der Beschäf- schlag. Das hat drasti- tigten über ihre Arbeitszeiten schen Folgen: 2016, bei GEWERKSCHAFTER IM an. Sie fordert eine individuelle der letzten Betriebsräte- Befragung, befürchtete Wahloption auf Verkürzung noch niemand einen der Arbeitszeit. Das bedeutet: Personalabbau. Gewinner und Verlierer Alle Beschäftigten sollen das Quelle: IG Metall Küste, Recht haben, ihre Arbeitszeit bundesweite Umfrage In der vergangenen Ausgabe haben auf bis zu 28 Stunden in der wir sechs Gewerkschafterinnen und Woche zu reduzieren. Ohne Gewerkschafter vorgestellt, die für Angabe von Gründen, ohne den Bundestag kandidierten. Drei Foto: Jörg Sarbach Jörg Foto: Rechtfertigungsdruck gegen- haben es geschafft: über dem Unternehmen. Der (Bild), Betriebsratsvorsitzender in Vorteil gegenüber Teilzeit: Das wissen sie … Bremerhaven, hat seinen Wahlkreis Rückkehrrecht ist garantiert. … dass starke Gewerk- für die SPD direkt gewonnen. Die Nach 24 Monaten arbeiten die schaften für eine gerech- SPD-Politikerin , Beschäftigten automatisch wie- tere Gesellschaft sorgen? ehemalige ver.di-Vorsitzende in Baden-Württemberg, und die der in Vollzeit. Die IG Metall Das ist das Ergebnis ei- Linken-Politikerin Susanne Ferschl, Gesamtbetriebsratsvorsit- ner Untersuchung des weiß auch: Kürzere Arbeitszei- zende von Nestlé, sind über die Landesliste ihrer Parteien in unabhängigen Econo- ten muss man sich leisten kön- mic Policy Instituts (EPI) den Bundestag eingezogen. Nicole Specker von der IG BCE nen. Daher wollen wir einen in Washington. Laut der (SPD) und Thorsten Hoffmann von der GdP (CDU) haben es sozial gestalteten Entgeltzu- Studie „How today’s dagegen nicht geschafft – die hohen Verluste ihrer Parteien schuss erreichen, wenn die Ar- unions help working haben dazu geführt, dass ihre Listenplätze nicht reichten. Der people“ steigen Bezüge beitszeit aus gesundheitlichen Grünen-Politiker und GEW-Aktive Martin Heilig ging eben- von Beschäftigten in Gründen, zum Beispiel zum den niedrigeren Einkom- falls leer aus. Dafür ist die GEW mit , die für die Ausgleich der Belastung bei mensgruppen, wenn der SPD in Bielefeld kandidierte, im Bundestag vertreten. Schichtarbeit, oder aufgrund Organisationsgrad der Nach vier Jahren im Bundestag sind der CDU-Politiker von Kinderbetreuung oder Arbeitnehmer hoch ist. Uwe Lagosky, Vorstandsmitglied in der Arbeitnehmerorgani- Sinkt dagegen der Orga- Pflege verkürzt wird. sation CDA, und der IG-Metaller Hans-Joachim Schabedoth nisationsgrad, klettern die Bezüge in den hohen nicht wieder gewählt worden. Immerhin ist Beate Müller- Stefan Schaumburg ist Leiter und höchsten Einkom- Gemmecke, umtriebige grüne Sprecherin für Arbeitnehmer- der IG-Metall-Tarifabteilung. mensgruppen. rechte, wieder im Bundestag.

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 7 Check Die Zahlen hinter der Zahl

Keine Mehrheit für Jamaica shutterstock Foto:

WahlfORSCHUNG Gewerkschafter stimmten bei der Bundestagswahl am häufigsten für die SPD. Aber nicht in Ostdeutschland. Hier stärkten sie die Ränder des Parteienspektrums.

Von Kay Meiners

Gesamtdeutschland: SPD vor CDU, AfD drittstärkste Kraft CDU Grüne FDP SPD Anteil der Zweitstimmen bei der Bundestagswahl (in Prozent) Linke Andere AfD * Alle Arbeitnehmerorganisationen (neben DGB-Gewerkschaften auch z. B. Beamtenbund)

Gewerkschaftsmitglieder*

15 24 Die Parteien der Großen Koali- Alle Wähler 5 tion, die CDU und die SPD, sind zusammen auch von Ge- werkschaftern nicht häufiger 12,6 gewählt worden als von ande- 5 12 7 ren Wählern – das zeigt eine 33 Auswertung des DGB. Nur 9,2 schlägt die SPD die CDU in dieser Sonderauswertung um 8 fünf Prozentpunkte. Die ande- 20,5 29 ren Parteien werden von Ge- 10,7 werkschaftsmitgliedern ähn- 8,9 lich häufig gewählt wie von anderen Wählern auch.

Quelle: Der Bundeswahlleiter/Forschungsgruppe Wahlen e.V., Mannheim

Gewerkschaftsmitglieder: Volksparteien im Westen stark, Linke und AfD im Osten gleich stark Anteil der Zweitstimmen bei der Bundestagswahl (in Prozent)

Alle Arbeitnehmerorganisationen (neben DGB-Gewerkschaften auch z. B. Beamtenbund)

West Ost Untersucht man das Wahl­ verhalten von Gewerkschafts- mitgliedern getrennt nach 14 West- und Ostdeutschland, 24 22 24 gibt es dramatische Unter- 5 schiede. Während die CDU im Osten so häufig gewählt wird 11 5 wie im Westen, stimmen je- 7 6 weils 22 Prozent der Gewerk- 9 22 3 schafter für Parteien am rech- 31 18 ten und linken Rand des Spektrums. Die SPD erreicht mit 18 Prozent nur Platz vier.

Quelle: Forschungsgruppe Wahlen e.V., Mannheim

8 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 kompakt

Pro & Contra ein Thema, zwei experten Brauchen wir ein staatliches Startguthaben für junge Erwachsene? Foto: BMAS Foto: Foto: Uli Baatz Foto:

Vielen Erwerbstätigen fehlen heutzutage die Das Startguthaben ist eine stabile nötigen Ressourcen, um sich beruflich neu zu und liebevolle Familie, eine angst- Ja. orientieren oder einen beruflichen Aufstieg Nein. freie Kindheit und eine solide und anzustreben, wenn sie es wollen. Ein Startguthaben – das Ar- möglichst kostenfreie Bildung. Meine Kinder haben es immer beitsministerium nennt es „persönliches Erwerbstätigenkonto“ – vermieden, die Toiletten in der Schule zu benutzen, weil sie seit würde jedem jungen Erwachsenen zur Verfügung stehen. Damit Jahrzehnten nicht erneuert wurden und dementsprechend aus- soll ihm ermöglicht werden, im Berufsleben umzusatteln. Mit sahen. Meine Tochter hat jahrelang eine Rechentherapie besucht, dem Geld kann eine außerbetriebliche Weiterbildung finanziert deren Kosten sich auf monatlich 280 Euro beliefen. Wer – außer oder beim Schritt in die Selbstständigkeit geholfen werden. Na- Professoren – soll sich das leisten können? Im Vergleich zu vie- türlich bleibt es wichtig, die schulische und berufliche Ausbil- len Ländern in der OECD schneiden Schulen in Deutschland dung zu verbessern. Aber wir müssen zugleich der Tatsache im Bereich der Inklusion schlecht ab, weil Sozialarbeiter und Rechnung tragen, dass es in einer Arbeitswelt, die sich ständig Therapeuten in den Schulen fehlen. Das liegt daran, dass verändert, nicht mehr ausreicht, eine gute Ausbildung zu haben. Deutschland noch immer weniger als der Durchschnitt der Ein Startguthaben würde bestehende Leistungen nicht ersetzen, OECD-Länder in die Bildung investiert. Ich würde daher die sondern ergänzen. Es hat nicht nur einen arbeitsmarkt- und bil- rund 20 Milliarden Euro, die jährlich für ein persönliches Start- dungspolitischen, sondern auch einen verteilungspolitischen guthaben aufgebracht werden müssten, für die Renovierung der Sinn: Ein solches Guthaben wäre ein Sozialerbe für alle Bürger. Schulgebäude, die Technikausstattung der Schulen, Sozialpä­ Jährlich werden Vermögen von 400 Milliarden Euro vererbt. dagogen und ein hochwertiges Schulessen investieren. Alle Bil- Würde ein kleiner Teil dieser Summe allen Bürgern zweckge- dungswege sollten mit einem großzügigen BAföG ausgestattet bunden zugutekommen, wäre dies zumindest ein kleiner Beitrag werden. Jeder und jede, die sich weiterbilden oder einen Schul- zu mehr Chancengleichheit. Die Idee steht für einen Sozialstaat, abschluss nachholen möchte, sollte dies finanziert bekommen. der nicht bevormundet, sondern Freiheit und Eigeninitiative Wenn dann noch etwas übrig bleibt, würde ich mir eine flächen- unterstützt. Ein Startguthaben würde den Sozialstaat zudem deckende Ausstattung der Schulen und Kindergärten mit Psy- überschaubarer machen. Mittelfristig könnten bestehende Leis- chologen, Computern, Musikinstrumenten, Sportplätzen und tungen wie das BAföG oder das Elterngeld in das Konto integ- einem Garten wünschen. Damit würden wir jungen Menschen riert werden und es je nach Bedarf aufstocken. den perfekten Start ins Erwachsenenleben ermöglichen.

Benjamin Mikfeld leitet die Grundsatzabteilung im BMAS und Anke Hassel ist Wissenschaftliche Direktorin des WSI und war war Mitglied der Böckler-Kommission „Arbeit der Zukunft“. ebenfalls Mitglied der Kommission.

Und Ihre Meinung? Was halten Sie von einem Startguthaben? Schreiben Sie an [email protected]

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 9 Fotos: Zsolt Andorka; AUDI AG 10 Mitbesti mm ung

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Okto ber 2017 ber titelthema: gewerkschafts- und industriepolitik

Gegen die Machtlosigkeit in Ungarns Autofabriken

INTERESSENVERTRETUNGSKETTE Im Niedriglohnland Ungarn, wohin es die deutsche Autoindustrie und ihre Zulieferer zieht, haben die IG Metall und die ungarische Gewerkschaft Vasas 2016 ein Pilotprojekt mit zwei Beratungsbüros gestartet.

Von Stefan Scheytt, Journalist in Rottenburg

ir möchten Sie darüber informieren, Million Audi-Modelle vom Band. Fast 12 000 Workshop mit IG-Metall-Organi- dass der Intercity aus Wien nach Buda- Menschen arbeiten inzwischen bei Audi Hunga- zing-Experte Michael Lichel (m.) in Győr: Imagezugewinn der ungari- pest 15 Minuten Verspätung hat, und ria, es gibt eine „Audi Aréna“ in Győr, an der Uni schen Gewerkschaften. Wbedauern dies.“ Diese Durchsage er- gründete der Autobauer eine Fakultät für Fahr- tönt – in perfektem Deutsch – im Bahnhof der zeugtechnik, er sponsert das städtische Orchester westungarischen Stadt Győr, wo auf der Anzei- und betreibt eine Schule für Mitarbeiterkinder. Audi-Produktion in Győr: „Testlabor gentafel auch die Wörter „Zeit“, „Bahnsteig“ und Rechnet man die Zulieferer und Dienstleister für die deutsche Autoindustrie“ „Zug“ stehen. Das hat mit der Nähe zur österrei- hinzu, die Audi hierher folgten, sind im Auto- chischen Grenze zu tun – Wien ist nur 120 Kilo- Cluster Győr rund 20 000 Menschen beschäftigt. meter entfernt – und ist eine angenehme Über- Audi in Győr und in Ungarn – das ist eine Macht, raschung für viele deutsche Geschäftsreisende, abzulesen an vielen Pressefotos, die Ministerprä- die in Győr aussteigen. Davon gibt es immer mehr, sident Orbán mit Audi- und VW-Vorständen ihr Ziel ist meist das zweitgrößte Unternehmen zeigen, bei Grundsteinlegungen, Werkseröffnun- Ungarns, dessen Markenzeichen vier ineinander- gen, im Parlament. greifende Ringe sind: Audi. Bald nach der „Wende“, 1993, gründete die Audi-Beschäftigte verdienen 400 bis 800 Euro VW-Tochter in der 130 000-Einwohner-Stadt ein Marika Varga von der IG-Metall-Vorstandsverwal- Unternehmen, das inzwischen als das weltweit tung, Bereich Transnationale Gewerkschaftspo- größte Motorenwerk gilt: Bis heute wurden in litik, hat eine andere Perspektive, die sich auf- Győr mehr als 30 Millionen Motoren für Audi drängt, wenn man auf die Mitarbeiterparkplätze und VW gebaut, rollten seit 2013 mehr als eine von Audi in Győr blickt. „Die wenigsten

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 11 Beschäftigten können sich einen neuen Audi leisten“, sagt Varga. „Bei Monatslöhnen von 400 bis 800 Euro brutto ist das aber auch nicht über- raschend.“ Die niedrigen Löhne in Győr mögen „Arbeitsplätze und Standards die Preise für Kunden in Westeuropa und den USA niedrig halten, für Audi-Mitarbeiter in In- in den deutschen Werken golstadt und Neckarsulm sind sie ein ständiges Druckmittel, dass sich andernorts günstiger pro- sind langfristig nur sicher, wenn duzieren lässt. Dass ein Mitarbeiter in Ungarn seinen deut- schen Arbeitgeber inklusive aller Abgaben nur auch in den ausländischen rund ein Viertel dessen kostet, was für einen Be- schäftigten im 400 Kilometer entfernten Deutsch- Werken die Arbeits- und land anfällt, ist aber nur ein Grund dafür, dass Audi, Daimler, Opel und viele Hundert andere Einkommensbedingungen deutsche Unternehmen Produktionsstätten in Ungarn errichtet haben. „Das Land entwickelt verbessert werden.“ sich zunehmend zum Testlabor für die deutsche Autoindustrie“, kritisiert IG-Metall-Vorstands­ mitglied Wolfgang Lemb. Getestet werden Wolfgang Lemb, Vorstandsmitglied der IG Metall intransparente Entgeltsysteme und belastende Arbeitszeitmodelle (beispielsweise Zwölf-­ Stunden-Schichten), die in Deutschland sofort Betriebsräte und Gewerkschaften auf den Plan rufen würden und kaum durchsetzbar wären. In Ungarn jedoch, wo Arbeitnehmervertreter schwa- IG Metall kaum noch statt. Und erst in diesem che Rechte haben, der Organisationsgrad gering Frühjahr, so berichtet Varga, sollte ein neues Ar- ist und es bei vielen Zulieferern und Dienstleis- beitszeitgesetz die Flexibilität der Unternehmen tern überhaupt keine Gewerkschaften und Be- massiv erweitern (u.a. durch eine Wochenarbeits- triebsräte gibt, nutzen die Unternehmen ihre zeit mit bis zu 72 Stunden). „Nach einem Auf- Freiräume ungeniert. „Der Kostendruck wird oft schrei in den Medien wurde der Testballon wie- an die Zulieferer weitergereicht, es wird Arbeit der eingefangen“, so Varga, „aber irgendwann ausgelagert, um Gewinnmargen zu steigern, und wird er wieder aufsteigen.“ es wird mit Verlagerung ins Ausland gedroht“, Gegen die Gefahr weiter sinkender Stan- sagt Wolfgang Lemb. „Das alles kann eine Ab- dards durch die globalen Wertschöpfungsketten wärtsspirale in Gang setzen, die erreichte Stan- der deutschen Autobauer setzen die IG Metall dards in Deutschland gefährdet.“ und die ungarische Metallgewerkschaft Vasas nun ihrerseits grenzüberschreitende „Interessen- Angedacht waren bis zu 72 Arbeitsstunden vertretungsketten für Arbeitnehmer“: Anfang pro Woche 2016 starteten sie gemeinsam die Transnationa- Hinzu kommt, dass die Unternehmen „oft üppi- le Partnerschaftsinitiative (TPI) und eröffneten ge Steuernachlässe oder Fördermittel bekommen ein Projektbüro in Győr; diese Bildungs- und und einen Zugang zur Regierung haben, der vom Beratungseinrichtung unterstützt die Betriebs- Feinsten ist“, weiß Marika Varga, die fließend Un- gewerkschaften und Betriebsräte von Vasas dabei, garisch spricht. Seit 2012 gab es massive Eingrif- bessere Arbeitsbedingungen und mehr Beteili- fe ins Streik- und Arbeitsrecht, ein sozialer Dialog gung der Arbeitnehmervertretungen insbeson- zwischen Regierung, Gewerkschaften und Wirt- dere an den Standorten deutscher Autobauer schaftsverbänden findet nach Einschätzung der und ihrer Zulieferer zu erkämpfen. „Arbeitsplät-

12 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 titelthema: gewerkschafts- und industriepolitik

in Győr und in der 200 Kilometer entfernten Stadt Kecskemét, wo sich 2012 Daimler mit sei- nem ersten europäischen Mercedes-Pkw-Werk

Foto: Michael Schinke/IG Metall Michael Schinke/IG Foto: außerhalb Deutschlands niederließ – und wo die TPI Anfang 2017 ihr zweites Projektbüro eröff- nete.

IG Metall vermittelt das ABC des Organizing An einem Tag Ende Juli steht Michael Lichel im Seminarraum des TPI-Büros in Győr neben ei- nem Flipchart, darauf steht „Organizing Special“. Vor ihm im Stuhlkreis acht Mitarbeiter eines Audi-Zulieferers, es sind Schicht- und Gruppen- leiter, eine Frau arbeitet in der Lagerverwaltung, einer ist Teamorganisator. Sie sind Mitglieder bei Vasas und erzählen von mageren Löhnen und viel zu vielen Überstunden, davon, dass immer wieder Kollegen nach Österreich oder Deutsch- land abwandern, weil sie dort als Kellner oder Erntehelfer mehr verdienen. Einer berichtet, dass er abgemahnt und seine Jahresprämie kassiert wurde, weil er in einer Raucherzone, die nicht zu seinem Arbeitsbereich gehört, Kollegen auf die Gewerkschaft ansprach. Sie wollen mehr Mit- sprache, planbare Arbeitszeiten, bessere Löhne, ze und Standards in den deutschen Werken sind und sie wissen, dass sie dafür mehr Mitstreiter langfristig nur sicher, wenn auch in den auslän- brauchen. Aber wie neue Kollegen gewinnen? dischen Werken die Arbeits- und Einkommens- Wegen der Vergangenheit im kommunistischen bedingungen verbessert werden“, sagt Wolfgang Ungarn haben die Gewerkschaften nicht den Lemb. „Wir zeigen da Präsenz, wohin die Kon- besten Ruf, erst in jüngerer Zeit bessert sich ihr zerne ausweichen, um mit niedrigen Löhnen Image. und Sozialstandards den maximalen Profit ein- Michael Lichel erzählt von den Erfolgen in zustreichen.“ der deutschen Windbranche und dass er gelern- „Working Class Heroes“ steht auf einem ter Industriemechaniker ist. Dann verwendet er Aufkleber an der Tür des TPI-Büros im ersten ein Bild, das alle verstehen: „Wenn die Kanten Stock des Gewerkschaftshauses in Győr. Im Büro einer Schraube abgerundet sind und der Schrau- steht Gewerkschaftssekretär Michael Lichel, 48, benschlüssel nicht mehr greift, muss man ein ein Bär von einem Mann, Pferdeschwanz, Drei- anderes Werkzeug nehmen – eine Flex, eine Zan- tagebart. Von Lichel gibt es ein spektakuläres ge, einen Hammer. Wir wollen euch zeigen, wel- Foto in einer IG-Metall-Dokumentation über che Werkzeuge es gibt, um erfolgreich zu sein.“ „Erschließungsarbeit und Organizing“: Es zeigt Dann breitet er während des folgenden zweitä- ihn 2011, wie er mit Helm, Handschuhen und gigen Seminars und im Doppelpass mit seinem knatternder IGM-Fahne in den Händen auf der ungarischen TPI-Kollegen Richárd Gede von Gondel eines Windrads steht, hoch überm weiten Vasas, der fließend Deutsch spricht und schon Land. Das Foto taugt heute als Symbol- und Kam- Blitzaktionen in deutschen Betrieben begleitet pagnenbild für erfolgreiches Organizing in der hat, die Werkzeuge vor ihnen aus: Betriebsland- einst unerschlossenen Windindustrie. Lichels karten, die zeigen, wo wie viele Kollegen arbeiten, neues Betätigungsfeld sind jetzt die Auto-Cluster wo sie häufig kommunizieren und wer

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 13 schon Gewerkschaftsmitglied ist; ein Rating acht Sicherheitsleuten beobachtet wurden, wo der Belegschaft, das erhellt, welche Kollegen of- sonst nur einer steht, erwidert Lichel: „Das ist fen für eine Ansprache sind, welche als Wortfüh- doch eine gutes Zeichen: Das Unternehmen rer gelten und schon einmal ihre Unzufrieden- nimmt euch offensichtlich ernst. Ihr seid auf dem heit geäußert und Verbesserungen eingefordert richtigen Weg.“ haben; Fragetechniken, Eins-zu-eins-Gespräche, Tatsächlich spricht manches dafür, dass sich Aktivenkreis, Kampagnenpläne… Und immer die Situation der Arbeitnehmer in Ungarn ver- wieder betonen Lichel und Gede, dass Vertrau- bessern kann – wenn sie sich zusammenschließen. ensleute beteiligungsorientiert arbeiten müssen: „Der erste Warnschuss ist gefallen“, titelte die Bu- „Ihr könnt Probleme nicht stellvertretend für die dapester Zeitung Anfang 2016 nach dem ersten Kollegen lösen wie ein Dienstleister, ihr müsst Warnstreik in der Branche nach der Wende in sie aktivieren.“ Ungarn beim Zulieferer Autoliv. Die Stimmung in dem Unternehmen, „wo die Schichten an Wo Gewerkschafter ausgegrenzt werden Hochsommertagen nicht selten bei 40 Grad Cel- Dabei erweist sich der Dortmunder Lichel als sius am Band absolviert werden müssen“, sei „der- einer, der glaubwürdig für „gute Stimmung“ maßen aufgeheizt, dass die Gewerkschaft spontan wirbt, es müsse Spaß machen, predigt er gut ge- zum Mittel des Warnstreiks griff“, schrieb die launt. Als ein Kollege von Vasas erzählt, dass bei Zeitung und bilanzierte: „Zu niedrige Löhne einem Zulieferer partout kein Mitarbeiter mit und schlechte Arbeitsumstände haben mitunter ihm reden wolle, auch weil die Betriebsleitung auch in Ungarn Nebenwirkungen.“ jeden Kontakt blockiere, macht ihm Lichel Mut: Die Gewerkschaft erstritt unter anderem eine „Und wenn du nur fünf oder auch nur zwei Han- bis zu zehnprozentige Lohnsteigerung. Auch bei Kollegen der ungarischen Metall­ dynummern von gesprächsbereiten Kollegen Audi in Győr drohte damals ein Streik, der in gewerkschaft Vasas im Projektbüro der Transnationalen Partnerschafts- bekommst, könnt ihr da bald eine schöne Aktion letzter Minute durch einen Tarifabschluss abge- initiative (TPI) in Győr: magere machen.“ Einem anderen, der berichtet, dass sie wendet wurde. Und im Mercedes-Werk in Kecs- Löhne, viele Überstunden bei einer Flugblattaktion vor dem Werkstor von kemét südlich von Budapest, wo rund 4000 Be- schäftigte arbeiten, erkämpfte Vasas durch einen Kurzstreik einen Zuwachs beim Grundlohn von jeweils zehn Prozent für 2017 und 2018, dazu weitere Verbesserungen, die das Lohnplus auf 26 Prozent innerhalb von zwei Jahren erhöhen. Die TPI-Projektbüros begleiteten die Lohnrun- den mit den notwendigen Bildungsmaßnahmen Foto: Zsolt Andorka Foto: und sorgten dafür, dass die deutschen Kollegen über die Arbeitskämpfe in Ungarn informiert wurden.

Die Folge schlechter Arbeitsbedingungen: Fachkräftemangel Das sind beachtliche Erfolge für die Beschäftigten, doch das Niveau, von dem aus sie starteten, ist erschreckend tief – so tief, dass selbst Fachkräfte und Akademiker scharenweise ins europäische Ausland abwandern, weil sie dort besser verdie- nen. Der Arbeitskräftemangel bereite den Unter- nehmen „sehr ernste Sorgen“, schrieb 2017 die Deutsch-Ungarische Industrie- und Handelskam- mer. In manchen Unternehmen komme es „be- reits zu Einschränkungen im laufenden Betrieb“,

14 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 titelthema: gewerkschafts- und industriepolitik

„Für die Arbeitnehmer in Ungarn gibt es viel zu verbessern – auch bei Daimler und seinen Zulieferern.“

Patrik Kovács, TPI-Mitarbeiter am Daimler-Standort Kecskemét

längerfristig seien Investitionspläne gefährdet. ständige Wechsel zwischen drei Schichten, die Organizing in globalen Wert- Die Regierung hat deshalb 2017 den Mindest- Arbeit an Samstagen und Sonntagen, die vielen schöpfungsketten In Mittelosteuropa ist ein lohn für unqualifizierte Arbeitskräfte um 15 Pro- Überstunden. „Ständig muss sich das Privatleben Experimentierfeld zur Flexibili- zent heraufgesetzt, für qualifizierte gar um nach der Arbeit richten, man kann kaum planen“, sierung und Absenkung von 25 Prozent: Damit liegt er jetzt allerdings bei nur was für Kovács besonders belastend war, weil er Arbeitsstandards entstanden – 2,35 Euro pro Stunde. nebenher ein Abendstudium absolviert. auch für deutsche Großunter- Gleichzeitig wurden die Arbeitgeber bei den Und ein Personaler habe auch noch gesagt, nehmen. Daraus erwächst eine Drohkulisse auch für die Sozialabgaben und Steuern massiv entlastet. Ku- er sehe abends am Werkstor nur lächelnde Mit- Beschäftigten an den deut- rioserweise ließ sich bereits 2013 der damalige arbeiter in den Feierabend gehen, das sei der schen Industriestandorten. Audi-Werksleiter in der Zeitung mit dem Satz Beweis, dass alles bestens sei im Werk. Also wech- Ob und wie Organisierung zitieren, Ungarn sei kein „Niedriglohnland“, wo- selte Vasas-Mitglied Kovács für zwei Jahre ins entlang der Wertschöpfungs- anders seien die Lohnkosten deutlich geringer. TPI-Büro. „Für die Arbeitnehmer in Ungarn gibt ketten diese Abwärtsspirale stoppen kann, diskutierten Inzwischen überlegt die Regierung, die abwan- es viel zu verbessern“, meint Kovács – bei Daimler 150 Gewerkschafter aus mehr dernden Arbeitnehmer durch Gastarbeiter aus und noch viel mehr bei den Zulieferern, um die als 20 Ländern auf der IG- Ländern wie Weißrussland, der Ukraine oder sich der 29-Jährige jetzt vor allem kümmert. Metall-Tagung „United and Serbien zu ersetzen. Neben Kovács und TPI-Geschäftsführer Li- Stronger Together: Transnatio- Im zweiten TPI-Büro am Daimler-Standort chel sind seit Februar noch drei weitere Mitar- nal worker Participation – Building Stronger Unions. Kecskemét sitzt Patrik Kovács, der bis vor weni- beiter zum Team gestoßen, einer von ihnen, An- Grenzüberschreitend gewerk- gen Monaten als Instandhalter bei Mercedes ar- drás Isán kommt von der Vasas; und für zwei schaftliche Gegenmacht auf- beitete. In dem Werk arbeiten rund 4000 Beschäf- Monate kam im Sommer die erfahrene IG-Me- bauen“ Anfang September in tigte, weitere 2500 sollen hinzukommen, wenn tall-Organizerin Susanne Nagel aus Frankfurt Berlin. Weitere Informationen: der Konzern bis zum Ende dieses Jahrzehnts rund dazu. Sie bauen Strukturen auf, knüpfen Kontak- marika.varga@igmetall eine Milliarde Euro in ein zweites Werk investiert te zu Vertrauensleuten in den Betrieben, halten hat – es soll durch vernetzte digitale Produkti- Workshops, entwickeln Pläne für die systemati- onssysteme höchst flexibel sehr unterschiedliche sche Ansprache neuer Mitglieder, machen Betrie- Fahrzeuge mit Front- und Heckantrieb produzie- be ausfindig für Blitzaktionen. „Die 26 Prozent ren können, Daimler spricht von einer „wandel- bei Mercedes waren ein großer Erfolg – für die baren Fabrik“. Er habe die Arbeit dort gerne ge- Mitarbeiter, aber auch für die Wahrnehmung der macht, sagt Patrik Kovács, der Arbeitsplatz sei Gewerkschaften“, sagt Vasas-Vizepräsident Zoltán sicher gewesen – einerseits. Andererseits: der László, „die Firmen rechnen jetzt mit uns.“

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 15 Foto: Frank Rumpenhorst/IG Metall Frank Foto:

„An jedem Standort, in jedem Betrieb“ INTERVIEW Der IG-Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann sieht Gewerkschaften und Betriebs- räte in der Pflicht, die Mobilitätswende aktiv zu gestalten – politisch, gesellschaftlich und in den Betrieben. Sonst droht der Verlust von Zehntausenden Arbeitsplätzen.

Mit Jörg Hofmann sprach Carmen Molitor am Rande der Automobilzuliefererkonferenz in Saarbrücken.

16 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 titelthema: gewerkschafts- und industriepolitik

2015 haben Sie gesagt: „Wenn die überhaupt etwas – zum Arbeiten haben. Im rela- Seit zwei Jahren ist Jörg Fahrzeugindustrie nicht das Schicksal tiv kurzen Zeitraum von 13 Jahren müssen wir Hofmann Erster Vorsitzender der größten Einzelgewerkschaft der Unterhaltungselektronik erleiden also 80 000 Menschen in eine neue Tätigkeit be- der Welt. Der 62-jährige Dip- soll, muss jetzt gehandelt werden.“ Nun haben wir gleiten. Und dies in einer aktuell boomenden lom-Ökonom stammt aus dem 2017. Ist es noch früh genug, das Lenkrad herum- Branche, die mit den Verbrennungsmotoren von Württembergischen, ist ver­ zureißen? heute unter Volllast fährt. Wenn wir das auf den heiratet und hat eine Tochter. Es ist zumindest nicht zu spät. Seit dem Die- einzelnen Betrieb herunterbrechen, stehen wir Seit den 80er Jahren arbeitet Hofmann in verschiedenen selskandal herrscht viel stärkerer Druck zur Ver- vor vielen Fragen, auf die wir heute personalpo- Funktionen bei der IG Metall änderung. Den muss die Branche aufnehmen. Sie litisch noch keine Antworten haben. Wir werden und hat als Bezirksleiter der kann nicht weiter in Selbstgefälligkeit vor sich auch keine finden, wenn Betriebsräte sie nicht IG Metall Baden-Württemberg hin bräsen wie in der Vergangenheit. Wir brau- mit aktiver Mitbestimmung einfordern. Ohne bahnbrechende Tarifvereinba- chen jetzt einen Pfadwechsel. Es stellt sich die Mitbestimmung wird das nicht gerecht zugehen! rungen verhandelt – wie 2004 das Pforzheimer Abkommen, Frage, wie wir zu einer möglichst klima- und das zur Beschäftigungssiche- umweltfreundlichen Mobilität der Zukunft kom- Da sind auch die Gewerkschaften gefordert. rung befristete Abweichungen men, die die individuelle Mobilität nicht ein- Die IG Metall begleitet den Veränderungsprozess vom Tarifvertrag ermöglichte, grenzt und den Betroffenen in der Fahrzeugin- auf all ihren Handlungsfeldern. Das fängt im oder über Leih­arbeit im Jahr dustrie eine Beschäftigungsperspektive gibt. Betrieb an, dem zentralen Ort unserer Hand- 2012. Hofmann ist Aufsichts- rat der Robert Bosch GmbH lungsmacht. Da muss man dem Arbeitgeber im- und der Volkswagen AG und Was macht die Mobilitätswende zu einer solch mer wieder die Fragen stellen: Welche Perspek- Präsident der IndustriAll Global großen Herausforderung? tive siehst du für den Standort? Welche Ideen Union. Der Sozial­demokrat Die Automobilbranche steht vor einer Reihe von hast du, mit dem Mobilitätswandel umzugehen, bringt als Co-Vorsitzender der Veränderungsprozessen, die ich sowohl in ihrer und was bedeutet er für die Beschäftigung und Plattform Arbeiten 4.0 des Bundesministeriums und Mit- zeitlichen Dynamik, aber vor allem in ihrer Qualifikation im Betrieb? Diese Debatte müssen glied im Leitungsgremium der Gleichzeitigkeit so noch nicht erlebt habe – und wir an jedem Standort, in jedem Betrieb führen. Plattform Industrie 4.0 des ich bin schon ein paar Jahre dabei. Es geht um Wenn ein Arbeitgeber darauf keine Antworten Bundeswirtschaftsministeriums Klima- und Umweltregulation, um die weiter hat, würde ich als Betriebsrat sehr nervös werden, Themen rund um die Digitali- ­gehende Globalisierung und um völlig neue denn dann ist die Beschäftigung hoch gefährdet. sierung voran. Wertschöpfungsketten. Wir müssen uns mit der Einfach so weiterzumachen wie bisher, kann sich Digitalisierung der Produkte und dem automa- angesichts der tief greifenden Veränderungen tisierten Fahren beschäftigten. Und es gibt die niemand leisten. Herausforderung der Digitalisierung der Produk- tionsprozesse, Stichwort Industrie 4.0. Diese Ver- Wie muss in den Betrieben eine aktivere Qualifika- änderungsprozesse treffen auf eine Arbeitswelt, tions- und Personalpolitik aussehen, die im Wandel die heute schon nicht gerecht ist. Sie könnten die möglichst viele Jobs sichert? Ursache dafür werden, dass das Arbeitsleben Wenn wir in die Realität der Personalpolitik in noch ungerechter wird, weil sie die Beschäfti- unseren Betriebe schauen, stellen wir zu oft eines gungsperspektiven der Arbeitnehmerinnen und fest: So was wie Personalentwicklung kennt der Arbeitnehmer infrage stellen und für mehr pre- Arbeitgeber allenfalls aus dem Lehrbuch, aber er käre Beschäftigung sorgen. macht sie nicht. Meine große Befürchtung ist, dass wir personalpolitisch überhaupt nicht für Wie viele Arbeitsplätze werden durch die Transfor- diesen Strukturwandel gerüstet sind. Aber wir mation der Branche voraussichtlich verloren gehen? brauchen Personalentwicklung hin zu den neuen Im Bereich des Antriebsstrangs sind in Deutsch- Tätigkeiten. Die Menschen müssen für sich Ent- land rund 320 000 Menschen beschäftigt.Wenn wicklungsperspektiven sehen können. wir die Klimaziele der EU erreichen wollen, müs- sen im Jahr 2030 25 Prozent der Zulassungen Qualifizierung wäre also ein Feld, in dem die Be- Elektroautos sein. Das heißt, dass dann ein Vier- triebsräte unbedingt Druck machen müssen? tel der Beschäftigten, die heute im Antriebsstrang Ja, aber das ist nicht einfach. Oft erwarten Be- tätig sind, bestenfalls etwas anderes – ich hoffe, schäftigte von Betriebsräten der IG Metall

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 17 gen. Das hat die IG Metall letztes Jahr mit ihren zehn Punkten zum Thema Klima- und Umwelt- regulation getan. Dazu gehören anspruchsvolle, aber realisierbare Regulationsziele, was den CO2- „Ohne bessere Qualifizierung Ausstoß angeht. Dazu gehört aber auch mehr Verbraucherschutz durch höhere Transparenz können wir nicht versprechen, und Ehrlichkeit bei den Verbrauchsangaben und eine Verpflichtung der Politik, den Klima- und dass bei der Transformation Umweltschutz für sich als Aufgabe zu begreifen, etwa durch bessere Verkehrsleitsysteme und an- keiner unter die Räder kommt.“ dere Maßnahmen. Dann muss das E-Auto nur noch Käufer finden. Die Elektromobilität fliegt nur, wenn sie dem Kunden schmeckt wie dem sprichwörtlichen Fisch der Wurm. Dazu braucht es in der Reich- vor allem eines: Lass mich in Ruhe weiterar- weite leistungsfähigere Batterien und unter an- beiten, gut verdienen und nach der Transforma- derem eine Infrastruktur von Schnellladestatio- tion auf dem gleichen Platz sitzen wie heute. nen, die mit dem gleichen Komfort wie beim Wenn der Betriebsrat aber jetzt, wo viele Betriebe Verbrenner ermöglicht, mit dem E-Auto längere noch mit Volllast fahren, um die Ecke kommt Distanzen zu bewältigen. Aber darauf sind unse- und sagt: Kollege, wenn du dich nicht veränderst, re Energieverteilnetze in keiner Weise vorbereitet, gibt es keine Sicherheit für deinen Job, dann hat und es gibt keinerlei Planungen für den notwen- er eine ganz beschissene Rolle. Es braucht viel digen Ausbau. Da müssten Milliardeninvestitio- Überzeugungskraft. Aber ohne Veränderungen nen getätigt werden. Obendrein ist im heutigen und bessere Qualifizierung werden wir nicht Strommix Elektromobilität nicht sonderlich versprechen können, dass keiner bei der Trans- umweltfreundlich. Die Energie dafür speist man formation unter die Räder kommt. aus Kraftwerken, die entweder auf Kohle- oder auf Erdölbasis arbeiten und deutlich mehr CO2 Welche Arbeitsmarktpolitik sollte den Transforma- emittieren, als Elektromobile nach längerer Lauf- tionsprozess unterstützen? zeit wieder einsparen. Zumal die Batteriezellen- Es kann nicht die Antwort sein, die Opfer dieses fertigung etwas hoch Energieintensives ist. Strukturwandels nach zwölf Monaten in Hartz IV zu bringen. Wir brauchen zur Abfederung des Was erwarten Sie von der neuen Bundesregierung, Wandels eine Arbeitsmarktpolitik, die stark auf damit Energiewende und Mobilitätswende endlich Qualifizierung und berufliche Neuorientierung besser aufeinander abgestimmt werden? setzt und die Menschen unterstützt. Sonst lässt Da ist meine Erwartungshaltung nur bedingt groß. sich dieser Prozess nicht sozial gestalten. Es ist Der Spannungsbogen denkbarer Koalitionskons- eine gute Idee, die Arbeitsagentur von der Ver- truktionen liegt zwischen den Grünen, die den mittlungs- zur Qualifizierungsagentur umzubau- Klima- und Umweltschutz hochheben und die en, wie es vorgeschlagen hat. Wir Mobilitäts- wie Energiewende in einem ökologi- müssen die Menschen dazu befähigen, dass sie schen Sinne treiben. Für den Rest einer möglichen auch morgen eine Beschäftigung mit einer Per­ Jamaika-Koalition spielt der Erhalt der Investitions- spektive haben. und Innovationsfähigkeit der deutschen Wirt- schaft eine zentralere Rolle. Ich möchte nicht Ist Ihnen die Politik einer bestimmten Partei für ausschließen, dass dieser Spannungsbogen zu eine Mobilitätswende besonders nah? produktiven Ergebnissen führen kann. Aber ich Wir sind als Gewerkschaften gut beraten, unsere halte persönlich einen faulen Kompromiss für eigenen Positionen zu definieren und einzubrin- wahrscheinlicher als die große Lösung.

18 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 titelthema: gewerkschafts- und industriepolitik

Klotzen, nicht kleckern VERKEHRSWENDE Rund 200 000 Menschen arbeiten bei Autozulieferern aus der Chemie, der Kautschuk- und der Glasindustrie oder der Kunststoffverarbeitung. Der Wandel der automobilen Wertschöpfungskette trifft auch sie mit voller Wucht. Der IG-BCE-Vorsitzende fordert deshalb einen konzertierten Zukunftspakt für Mobilität.

Von Michael Vassiliadis, Vorsitzender der IG Bergbau, Chemie, Energie

s könnte so einfach sein. Dieselautos grenz- geprellt haben, ist ein Skandal. Dahinter steckt aber wertkonform über Deutschlands Straßen auch ein Politik- und Behördenversagen. Welche rollen zu lassen ist eigentlich kein Problem, Verantwortung übernimmt eigentlich der zuständi- Esagen die Fachleute. Was man dafür braucht, ge Noch-Verkehrsminister ? Er sind beispielsweise eine stärkere und sichergestellte ist schließlich nicht nur als Maut-Minister Mitglied Beigabe des Harnstoffes AdBlue und geeignete Ka- der Bundesregierung. Software-Updates und „Um- talysatoren. Wie gesagt: Eigentlich. weltprämien“ allein reichen jedenfalls nicht aus. Die Autokonzerne jedoch haben jahrelang Denn was in diesen Tagen passiert, kann niemand Kostenoptimierung vor Nachhaltigkeit gestellt. wollen: dass Autofahrer wieder verstärkt auf Benzi- Denn natürlich wären die Fahrzeuge und ihr Betrieb ner setzen. Das würde unserer CO2-Bilanz alles an- mit diesen Komponenten teurer geworden. Dafür dere als guttun. Für den Klimaschutz ist der (saube- wäre jetzt aber alles andere besser: die Gesundheit re) Diesel im Vergleich zum Benziner die bessere der Menschen in den Städten, das Renommee der Wahl. Deshalb ist es wichtig, dass Innovationen, die Industrie, das Vertrauen der Autofahrer. den Diesel sauber machen, auch tatsächlich einge- Grenzwerte sind dazu da, eingehalten zu wer- setzt werden. den – nicht nur unter realitätsfernen Laborbedin- Übrigens: AdBlue stellt BASF her, beheizbare gungen oder bei bestimmten Wetterverhältnissen Katalysatoren Continental – zwei unserer mitglie- oder wenn die Software es so will. Dass die Auto­ derstärksten Konzerne. Das allein zeigt, warum uns bauer mit Tricksereien die Umwelt und ihre Kunden als IG BCE dieser Skandal und die Zukunfts-

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 19 peace 2025. Das Jahr 2020 ist noch nicht besetzt, aber da findet sich bestimmt noch jemand. Für uns in der IG BCE ist das ein Déjà-vu: Koh- lestrom, CCS, Verbrennungsmotoren ... Ständig reden wir in Deutschland mit großer Lust darüber, wie wir möglichst schnell aus unseren Kernbran- „Der Strukturwandel in chen aussteigen oder erst gar nicht einsteigen in den Zug in eine innovative Zukunft. Und das, ohne eine der Autoindustrie betrifft belastbare Antwort auf die Frage nach den Alterna- unsere Branchen und tiven zu haben. ir brauchen dringend mehr Substanz in der Diskussion um die Zukunft der Mo- unsere Kolleginnen und bilität. Denn ihr Wandel wird diesmal Wtiefgreifender sein denn je. Die Automo- Kollegen ganz direkt.“ bilwirtschaft steht erkennbar vor enormen Heraus- forderungen – und das entlang der gesamten Wert- schöpfungskette. Es gilt, neue Antriebstechnologien bezahlbar zu machen, die Digitalisierung der Fahr- zeuge voranzutreiben und mit ganz neuen Wettbe- werbern aus der IT-Branche zurechtzukommen. Verbrennungsmotoren werden den automobi- len Weltmarkt noch über viele, viele Jahre beherr- schen. Aber ab 2025, sagen die Auguren, könnten Elektrofahrzeuge im großen Stil durchstarten. Mit effizienteren Batterien und zu Kosten vergleichbar mit einem Diesel. Wir reden hier von der nächsten, sorgen der Mobilitätswirtschaft nicht kaltlassen. spätestens aber der übernächsten Fahrzeuggenera­ Gut 200 000 Menschen arbeiten in unseren Zulie- tion. Für die Autowelt ist das morgen. ferbranchen – in der Chemie, in der Kautschuk- und Längst wappnen sich alle Hersteller für den Um- der Glasindustrie, in der Kunststoffverarbeitung. schwung, haben ganze E-Flotten in Vorbereitung. Mit gewaltigen Auswirkungen auf die gesamte Wert- s gibt kein Fahrzeug, das nicht mit Kompo- schöpfungskette. Die Autos der Zukunft dürften in nenten unserer Zulieferer ausgestattet wurde. der Hälfte der Zeit produziert werden wie heutige. Sie zählen zu den Innovationstreibern und Und damit auch mit deutlich weniger Personal. ECO2-Sparern der Branche: mit rollwider- Der Strukturwandel betrifft unsere Branchen standsoptimierten Reifen, mit Leichtbau-Kunststof- und unsere Kolleginnen und Kollegen also ganz fen, mit Lacken, die helfen, Benzin zu sparen. Mehr direkt. Die Autohersteller haben es vergleichsweise als zwei Drittel der Wertschöpfung in einem Fahr- leicht, sich dem Wandel anzupassen. Im Zweifel zeug kommen heute von den Zulieferern. Noch ordern sie andere Ware künftig eben anderswo oder höher ist ihr Anteil an den Innovationen. produzieren sie gleich selbst. Erste Tendenzen in Kein Wunder, dass sie mit großer Sorge auf die diese Richtung bemerken wir bereits. Die Leidtra- aktuelle Diesel-Diskussion blicken. Denn sie hat sich genden sind wieder einmal die Automobilzulieferer. längst ausgewachsen zu einer Debatte über einen Deswegen erwartet die IG BCE, dass die neue Komplettausstieg aus der Verbrennertechnologie – Bundesregierung unverzüglich eine „Zukunftskom- mit einem sehr bekannten Mechanismus: Wer bietet mission Verkehrswende“ beruft, die belastbare weniger? Frankreich und Großbritannien wollen Grundlagen für die Transformation im Verkehrsbe- 2040 raus, die Grünen in Deutschland 2030, Green- reich erarbeitet. Das können wir nicht aus dem Blick-

20 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 titelthema: gewerkschafts- und industriepolitik

winkel konservativer Marktfetischisten lösen.Für eine Modernisierungsaufgabe von dieser Dimension benötigt man eine überzeugende Strategie, die Ori- entierung für Jahrzehnte bietet. Wir dürfen nicht im Klein-Klein der Dieselpro- blematik verharren. Auch sollten wir keine Aus- stiegswettkämpfe ausfechten, sondern uns auf ein „Deutschland braucht beherztes Schaffen guter Innovationsbedingungen konzentrieren. Deutschland braucht einen Zu- eine konzertierte Aktion kunftspakt für Mobilität. Eine konzertierte Aktion von Herstellern, Zulieferern, Energiebranche, Sozi- von Energie­branche, Her­ alpartnern und Politik, die uns zurück auf die Pole- position bringt und die Folgen des absehbaren Struk- turwandels abmildern hilft. Klotzen, nicht kleckern, stellern, Zulieferern, So- muss die Devise lauten – und das gilt für alle Betei- ligten. zialpartnern und Politik.“

enn wenn wir über die Zukunft der Mobili- tät reden, dann reden wir über Investitions- entscheidungen von ungeheurer Tragweite. DÜber Hunderttausende von Arbeitsplätzen. Über technologischen und sozialen Fortschritt. Über die Zukunft der Industrie in Deutschland. Und das alles verbunden mit Wirkung auf die Umwelt. Ein Beispiel: Deutschland war einst führend in der Batterietechnologie. Hier haben uns die Asiaten inzwischen den Rang abgelaufen. Bei Elektrofahr- zeugen entfallen aber auf die Batterie 40 Prozent der atürlich wird der Anteil der Erneuerbaren Wertschöpfung. Bei dieser Zukunftstechnologie in den kommenden Jahren zunehmen, zu- dürfen wir uns nicht von anderen abhängig machen. nehmen müssen. Und doch brauchen wir Gerade weil hier in den nächsten Jahren ein weiterer Ndringender denn je Antworten auf die Fra- Technologiesprung erwartet wird, ist der Zug auch ge, wie weit wir ein ohnehin schon auf Kante genäh- noch nicht abgefahren. Warum nicht die erste Me- tes Stromnetz noch belasten wollen. Die nächste gafabrik der nächsten Zellgeneration hier bauen? Koalition – ganz gleich welcher Konstellation – muss Natürlich EEG-befreit, alles andere wäre Utopie. einen Masterplan für eine integrierte Energie- und Noch ein Beispiel: Der Erfolg der Elektromobi- Mobilitätswende entwickeln. lität hängt entscheidend von der Verfügbarkeit des Wir als IG BCE werden jedenfalls nicht nur zu- Stroms ab. Dazu bedarf es natürlich eines flächen- sehen, wie sich die Politik in diesen entscheidenden deckenden Ladenetzes. Aber mindestens genauso Zukunftsfragen weiter durchwurschtelt. Auf unse- interessant ist die Frage: Wo kommt der Strom für rem Gewerkschaftskongress Anfang Oktober in die E-Autos eigentlich her? Würden heute alle Pkw Hannover haben wir deshalb die Idee formuliert, die elektrisch fahren, bräuchten sie gut 15 Prozent des Zuständigkeiten aus den Bereichen Energie, Verkehr im Land erzeugten Stroms. Das wäre mehr als die und Wohnungsbau zu einem neuen Energiewende- Hälfte dessen, was die Erneuerbaren liefern. Die Öko- Ministerium zusammenzuführen. Nur in einer Ge- bilanz von E-Autos rechnet sich aber nur, wenn ihre samtkonzeption können wir die großen Herausfor- Batterien mit CO2-freiem Strom geladen werden. derungen der Energie- und Verkehrswende Doch dessen Anteil liegt bislang erst bei gut einem anpacken, die bislang im unkoordinierten Klein- Drittel der gesamten Stromproduktion. Klein bestenfalls Stückwerk geblieben sind.

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 21 Metamorphose eines Riesen

Elektromobilität Weil die Autoindustrie der Deutschen Post kein E-Lieferfahrzeug bieten konnte, ging der Logistiker kurzerhand selbst unter die Autobauer. So gleicht er den Verlust von Arbeitsplätzen aus, die durch das schwächelnde Briefgeschäft wegfallen.

Von Andreas Schulte, Journalist in Köln

ls Boomtown ist Düren nicht bekannt. benachbarten Braunkohlereviere bereitet vielen Die 100 000-Einwohner-Stadt ist, einge- Dürenern zusätzlich Bauchschmerzen. Dabei zwängt zwischen den attraktiven Stand- leben hier schon jetzt 25 000 Menschen von Aorten Köln und Aachen, auch wirtschaft- Hartz IV. lich in der Klemme. Fast jeder Sechste ist hier Doch jetzt keimt Hoffnung auf. Ausgerech- arbeitslos oder steckt in einer Maßnahme der net Deutschlands wichtigste Branche, die Auto- Agentur für Arbeit. Das absehbare Aus für die industrie, hat die dahindämmernde Mittelstadt

22 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 titelthema: gewerkschafts- und industriepolitik

Die DHL-Elektroflotte in der Innenstadt von Passau, 2016: Ein Drittel der Entwick- lungskosten trägt der

Fotos: Armin Weigel/dpa Fotos: Bund.

für sich entdeckt. Ein modernes Autowerk soll CO2 sparen, Arbeitsplätze sichern Geförderte Ergonomie auf dem Gelände des Zulieferers Neapco im Sü- Doch was bedeutet der Wandel des Konzerns mit Der Streetscooter wird stetig weiterentwickelt. In regelmä- den Dürens entstehen. Doch nicht VW, Mercedes seinen 510 000 Mitarbeitern für Arbeitnehmer? ßigen Workshops beteiligt der oder BMW schaffen hier neue Arbeitsplätze. Es „Die Arbeitnehmer haben den Schritt hin zum Konzern die Zusteller, um die ist die Deutsche Post, die mit ihrem selbst gebau- E-Auto-Bauer begrüßt. Der Streetscooter ist ein mittlerweile drei Modelle mög- ten E-Lieferwagen Streetscooter klassischen Erfolgsschlager. Er hilft, die CO2-Einsparziele der lichst ergonomisch zu gestal- Auto­bauern Konkurrenz macht. Post einzuhalten, und er sichert Arbeitsplätze“, ten. So wurde etwa der Fah- rersitz verändert, um das Damit wächst nach der Übernahme der sagt ver.di-Vize Andrea Kocsis, die auch stellver- Ein- und Aussteigen zu er- Streetscooter GmbH durch die Post im Jahr 2014 tretende Post-Aufsichtsratsvorsitzende ist. Und leichtern. Für Rückwärtsfahr- in Düren die zweite Fabrik aus dem Boden. Eine tatsächlich werden in Düren Arbeitsplätze ent- ten gibt es jetzt eine Kamera. erste produziert bereits in Aachen. Schon jetzt stehen. „Einige Hundert“, sagt Sprecher Edenho- Auch ein schmalerer Einstiegs- fahren 2500 Streetscooter auf Deutschlands Stra- fer. Genauer wolle man sich noch nicht festlegen. holm, mehr Kopffreiheit an der Tür und die Sitzheizung gingen ßen. Langfristig soll die komplette Post-Flotte Das Problem: Das Unternehmen findet nach ei- auf die Wünsche der Fahrer hierzulande mit 47 000 Fahrzeugen emissionsfrei genen Angaben kaum qualifizierte Kräfte für die zurück. Die Laderampe ist hö- unterwegs sein. Sogar den Verkauf des Transpor- neuen Aufgaben. her gelegen als üblich, damit ters an Unternehmen haben die Bonner ange- Andrea Kocsis begrüßt die Standortwahl. „Damit sich die Zusteller möglichst kündigt. Und auch einen Export schließt die Post schafft die Post Arbeitsplätze in Deutschland.“ nicht bücken müssen. Ein Drit- tel der Entwicklungskosten nicht aus. „Wir sind jetzt zu einem Stück weit Denn an anderer Stelle bröckelt es im Konzern. trägt der Bund. auch Autobauer“, sagt Alexander Edenhofer, Spre- Jährlich sinkt die Zahl verschickter Brief um zwei cher des Logistikkonzerns. bis drei Prozent. Im Streetscooter-Stamm-

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 23 Was bisher geschah

Die Geschichte werk Aachen hat das E-Auto bereits Jobs des Streetscooters gerettet: Im Oktober 2012 stand dort ein Wag- gonwerk des Bombardier-Konzerns vor dem Aus. Viele der 600 Mitarbeiter wollten sich mit der Arbeitslosigkeit nicht abfinden. Sie bildeten sich weiter und machten sich fit für den Bau von Elektrofahrzeugen. Unter dem Namen Talbot

Foto: Armin Weigel/dpa Foto: Services fertigten anschließend immerhin 100 Mitarbeiter bald den Streetscooter, der zu jener Zeit noch von einer Ausgründung der RWTH Aachen gemanagt wurde.

Gewerkschaftsreviere klar abgesteckt Heute sind in der Fertigung 300 „Talbötter“ in In Aachen bastelte die Streetscooter GmbH schon zwei Schichten beschäftigt. Auf der Grundlage 2010 an einem Elektroauto für den Massenmarkt. eines Werkvertrags baut Talbot Services im Auf- Höchstens 10.000 Euro sollte es kosten. Das Konsorti- trag der Streetscooter GmbH im kommenden um der Technischen Universität (RWTH) mit 80 Mittel- ständlern hatte wenig Erfahrung im Autobau, aber Jahr 15 000 Fahrzeuge. „In unseren eigenen Rei- dafür umso mehr in der Produktionstechnik. Die Fach- hen haben wir keine E-Auto-Bauer. Uns bleibt leute konzipierten für ihr Auto eine Modulbauweise, daher derzeit nichts anderes übrig, als die Zusam- bei der so wenig wie möglich geschweißt und ge- menarbeit mit Servicegesellschaften auf Basis von schraubt wird. So senkten sie die Kosten radikal. Am Werkverträgen“, sagt Post-Sprecher Edenhofer. Zu Ende standen statt der üblichen 100 Montageschritte nur 50 und ein günstiger Prototyp, den das Start-up im Details des Vertrags äußert sich die Post nicht. Jahr 2011 stolz auf der internationalen Autoausstel- Die Talbötter werden von Talbot Services nach lung IAA präsentierte. Tarif bezahlt und haben längst einen Betriebsrat Erhofft hatte sich die Streetscooter GmbH eigent- gewählt. lich reges Interesse von Investoren aus den Reihen der großen Autobauer. Doch die wollten von E-Mobilität Anders sieht es in der Streetscooter GmbH nichts wissen. „Sie haben uns in die Schublade ‚Ju- aus. Die reine Post-Tochter beschäftigt 250 Inge- gend forscht‘ gesteckt“, sagt Günther Schuh, Profes- nieure, Vertriebler, Marketingfachleute und Ver- sor für Produktionssystematik an der RWTH und waltungskräfte. Einen Betriebsrat und eine Tarif- Streetscooter-Firmengründer, der auch Mitglied der bindung gibt es in der GmbH noch nicht – wie Expertenkommission „Arbeit der Zukunft“ der Hans- Böckler-Stiftung war. so oft in Start-up-Unternehmen. Doch die IG Me- Anders die Post: Vorstand Jürgen Gerdes suchte tall hat den Bedarf erkannt. „Wir erhalten von nach einer kostengünstigen und umweltfreundlichen dort Berichte über hohe Arbeitsbelastung“, sagt Alternative für die Postzustellung. Und war frustriert: Achim Schyns, Erster Bevollmächtigter der Etablierte Autobauer hatten ihm reihenweise einen IG Metall Aachen. Korb gegeben. Ein E-Auto für Pakete und Briefe? „Zu teuer, lohnt sich nicht“, winkten VW und Co. ab. Also Die IG Metall bei der Post? Das ist neu. Tra- fragte Gerdes die umtriebigen Aachener, ob sich ihr ditionell besitzt ver.di dort die Tarifhoheit. Und kleines E-Auto zum Lieferwagen umrüsten ließe. Und so soll es auch bleiben. „Thematisch mag es jetzt die GmbH begann sofort, erneut zu basteln – mithilfe Überschneidungen geben“, sagt Kocsis. „Mit der von rund 100 Post-Zustellern, die ihre Anforderungen IG Metall handeln wir einvernehmlich. Es hat und Anregungen für die neue Konstruktion einbrach- ten. 2013 wurden die ersten 50 Lieferwagen des Mo- bei der Post wegen des Streetscooters keinen dells „Work“ gebaut. Die Post war begeistert. Im Jahr Konflikt etwa um neue Mitglieder gegeben.“ Die darauf kaufte sie gleich das ganze Unternehmen. Reviere sind klar absteckt, hat auch Metaller Schyns festgestellt. „Autobau gehört eindeutig zur IG Metall.“

24 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 titelthema: gewerkschafts- und industriepolitik Foto: Höchst Foto:

Industriepark Frankfurt-Höchst

Mehr Akzeptanz für die Industrie

INDUSTRIE Was ist zu tun, damit Deutschland auch künftig ein erfolgreiches Industrieland bleibt? Im „Bündnis Zukunft der Industrie“ suchen Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und Bundeswirtschafts- ministerium gemeinsam nach Antworten. Eines ihrer Themen: die berufliche Bildung.

Von Joachim F. Tornau, Journalist in Hamburg und Kassel

er Kontrast könnte größer kaum sein: trie“ zur beruflichen Bildung vorgestellt. „Wir sich, so unterschiedlich die Interessen der In der Paul-Ehrlich-Berufsschule in stehen vor einem Riesenproblem“, sagte DGB- Bündnispartner ansonsten auch sein mögen, Frankfurt lernen die Auszubildenden Bundesvorstand Stefan Körzell. „Der Lernort auf diesem Gebiet in vielem einig ist. „Die Daus dem nahe gelegenen Industrie- Berufsschule wurde zu lange vernachlässigt.“ Industrie ist ein entscheidender Motor für park Höchst, einem der größten Chemie- und Auf rund 35 Milliarden Euro werde der Inves- Wohlstand und Arbeitsplätze in Deutschland. Pharmastandorte Europas, der mit seinen titionsstau bundesweit geschätzt. „Aus diesem Sie steht für Innovationskraft, Exportstärke, zahlreichen Unternehmen dazu beiträgt, dass Stiefmütterchendasein“, erklärte Peter Clever, sichere Beschäftigung und faire Einkommen“, am Finanzplatz Frankfurt nicht die Banken Mitglied der Hauptgeschäftsführung des Ar- heißt es in einer Erklärung des Bündnisses. der größte Gewerbesteuerzahler sind, son- beitgeberverbands BDA, „wollen wir die Be- „Diese Position muss jedoch täglich neu gesi- dern die Industrie. Doch der Zustand der rufsschulen herausholen.“ Schließlich sei die chert werden.“ Wie das angesichts umfassen- Schule lässt diese Bedeutung nicht entfernt qualifizierte Facharbeiterschaft nach wie vor der Herausforderungen – von demografi- erahnen. Fenster, die nicht richtig schließen. das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. schem Wandel über Digitalisierung und Toiletten, vor denen sich die Schüler ekeln. Dass Bund und Länder dringend mehr veränderte globale Handelsbeziehungen bis Bröckelnder Putz, marode Heizungen. Und Geld für die berufliche Bildung ausgeben zu Klimaschutz und Energiewende – gelin- vor allem: eine technische Ausstattung, die müssen, ist eine zentrale Forderung des Bünd- gen kann, darüber wurde in fünf Arbeitsgrup- ganz überwiegend so alt ist wie das ganze nisses, das Wirtschaftsverbände und Gewerk- pen beraten. Gebäude. Mehr als 40 Jahre. schaften im Frühjahr 2015 zusammen mit So wie an der Paul-Ehrlich-Schule in dem damaligen Bundeswirtschaftsminister Lernort Berufsschule attraktiver machen Frankfurt sieht es an vielen der 1500 Berufs- (SPD) ins Leben riefen. Die Die Arbeitsgruppe zum Thema Aus- und Fort- schulen in Deutschland aus. Ein geeigneter Initiative war von der IG Metall ausgegangen. bildung leiteten Peter Clever und Stefan Kör- Ort also, um darüber zu diskutieren, was sich Der korporatistische Zusammenschluss sollte zell. Um auch künftig den Fachkräftebedarf ändern muss. Anfang September wurden hier deutlich machen, wie groß die Bedeutung der der Industrie decken zu können, müsse die die Ideen des „Bündnisses Zukunft der Indus- Industrie für Deutschland ist – und dass man duale Ausbildung gestärkt werden, er-

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 25 ganz konkreten Fragen beschäftigen, etwa: „Nicht so sicher, Entsprechen die Berufsschulen unseren Qua- litätsansprüchen?

wie viele glauben“ Macht das Bündnis Lobbyarbeit? Wir vertreten ja nicht das Interesse einzelner INTERVIEW Gewerkschafter und „N3tzwerk“-Geschäftsführer Armin Unternehmen, nicht einmal einzelner Bran- Schild erklärt, warum er Lobbyarbeit für die deutsche Industrie leistet. chen. Es geht um einen übersektoralen Aus- tausch über lange Linien der Industriepolitik, transparent, im Dialog mit den Akteuren des Bündnisses, der Zivilgesellschaft und mit Bür- Herr Schild, das „N3tzwerk Zukunft der Indus- gerinnen und Bürgern. Wie wichtig das ist, trie“ schreibt sich ungewöhnlich: mit einer Drei zeigt das Beispiel der Automobilindustrie: anstelle des ersten E. Was soll uns das sagen? Deren Zukunft hängt, Stichwort Elektromo- Im „Bündnis Zukunft der Industrie“ wirken bilität, untrennbar mit Fragen der Energiepo- drei Akteure zusammen: Wirtschaftsverbände, litik oder der Verkehrsinfrastruktur zusam- Gewerkschaften und das Bundeswirtschafts- Rumpenhorst Frank Foto: men. ministerium. Für diese konzertierte Aktion ist unser „N3tzwerk“, das von den NGOs im Die Autoindustrie hat mit dem Dieselskandal Bündnis getragen wird, so etwas wie die ope- um manipulierte Abgaswerte viel Vertrauen rative Ebene. Die Drei steht aber auch für die verspielt. Als sich das Bündnis gründete, war drei Ziele, die wir haben: Wir wollen die Ak- davon noch nichts bekannt. Trotzdem sahen Sie zeptanz von Industrie in Politik und Gesell- schon damals die Notwendigkeit, die Akzeptanz schaft fördern. Wir entwickeln gemeinsame der Industrie zu steigern. War das prophetisch? Handlungsempfehlungen zum Erhalt indus- Uns geht es um ein grundlegendes Problem. trieller Wertschöpfung – und damit von gu- Die Zukunft der Industrie in Deutschland ist ten und modernen Arbeitsplätzen – in nicht so sicher, wie viele glauben. Doch seit Deutschland. Und wir wollen darüber bun- geraumer Zeit erleben wir eher, wie sie Tag desweit und regional mit den Bürgern in ei- für Tag infrage gestellt wird. Nehmen wir die nen Dialog treten. Klimapolitik: Es ist sinnlos, wenn wir das Er- reichen der Klimaziele in Deutschland damit Wie wollen Sie erreichen, dass Ihre Empfehlun- erkaufen, dass bei uns Industrie abgeschaltet gen nicht nur auf dem berühmten geduldigen und dafür anderswo auf der Welt Fabriken Papier stehen bleiben? mit einem höheren Schadstoffausstoß errich- Zum einen richten wir uns direkt an politisch tet werden. Stattdessen brauchen wir politi- Verantwortliche in Deutschland und Europa. sche Rahmenbedingungen, die es den Unter-

Zum anderen liefern wir mit den Empfehlun- Armin Schild (56) leitet als einer von nehmen ermöglichen, ihrer Verantwortung gen eine programmatische Grundlage für die zwei Geschäftsführern die Geschäfts- hierzulande durch aktive Transformation, rund 400 Gliederungen unserer Mitgliedsver- stelle des Vereins „N3tzwerk Zukunft durch Investitionen in Forschung und Ent- einigungen, ob das nun Kammern, Gewerk- der Industrie“ in Berlin. Der gelernte wicklung gerecht zu werden. Das Ziel, Stahlformenbauer hat Sozialpädago- schaften oder Arbeitgeberverbände sind. Auf Deutschland als Industrieland zu erhalten, gik studiert und anschließend als Ge- diesem Fundament können die Akteure auf werkschaftssekretär gearbeitet – zu- muss genauso geachtet werden wie der Klima- regionaler, kommunaler oder Unternehmens­ letzt zehn Jahre als Bezirksleiter der und Verbraucherschutz. ebene zusammenwirken und sich mit den IG Metall in Frankfurt. Die Fragen stellte Joachim F. Tornau.

26 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 titelthema: gewerkschafts- und industriepolitik

Anschließend präsentierten sie ihr Konzept dem Beirat der Initiative „Masterplan Indus- trie“ der Stadt Frankfurt, in der sich Akteure aus Wirtschaft, Politik, Gewerkschaften und Wissenschaft bereits seit mehreren Jahren Fotos: Frank Rumpenhorst Frank Fotos: gemeinsam für den Industriestandort Frank- furt engagieren.

Industriedialog ist das Zauberwort Mit mehr als 40 solcher regionalen Bündnis- se arbeitet das „N3tzwerk“ bundesweit zusam- men. Die Frankfurter Masterplan-Initiative ist darüber hinaus eine von sechs Modellregi- onen, in denen im Auftrag des Bundeswirt- schaftsministeriums exemplarisch nach neu- en Wegen für den zivilgesellschaftlichen Sozialpartner Peter Clever (l.), Stefan Körzell: Gemeinsames Interesse an der Berufschule als attraktivem Dialog über die Zukunft der Industrie ge- Lernort mit guter technischer Ausstattung und qualifizierten Lehrkräften sucht wird. In dem Projekt, das noch bis zum Jahresende läuft, werden unter anderem be- teiligungsorientierte Veranstaltungsformate klärten sie in Frankfurt. Dafür brauche es entwickelt und praktisch erprobt. So soll es eine flächendeckende Versorgung mit attrak- am 8. November in Frankfurt ein sogenanntes tiven und modernen Berufsschulen, in denen World Café zum städtischen Berufsschulent- sowohl die technische Ausstattung als auch wicklungsplan und zur beruflichen Bildung die Qualifikation der Lehrkräfte stets up to der Zukunft geben. Eingeladen zum kreati- date gehalten würden. „Der Lernort Betrieb ven Nachdenken sind Auszubildende, Lehrer darf nicht abgekoppelt werden vom Lernort und Eltern genauso wie Unternehmensver- Berufsschule“, sagte Körzell. treter, Betriebsräte und Politik. Damit es nicht bei wohlfeilen Worten Industriedialog ist das Zauberwort. Mög- bleibt, wurde neben dem tripartistischen lichst viele Menschen sollen so erreicht wer- Bündnis noch das „N3tzwerk Zukunft der den. Daneben ist das Netzwerk aber auch Industrie“ gegründet. Getragen von den ver- ganz klassisch im politischen Berlin aktiv – bandlichen und gewerkschaftlichen Bündnis- und erfolgreich, wie Körzell und Clever be- partnern, unabhängig von der Bundesregie- tonten. Man habe erreicht, dass sich die Kul- rung also, soll der gemeinnützige Verein eine tusministerkonferenz in einer gemeinsamen Das Bündnis Zukunft der Indus- breite industriepolitische Debatte anstoßen – Erklärung mit DGB und BDA zur Moderni- trie hat derzeit 17 Mitglieder. nicht nur über die konkreten Forderungen sierung der Berufsschulen bekannte. Und dass Neben dem Bundeswirt- des Bündnisses, sondern auch ganz grundsätz- der Fünf-Milliarden-Euro-Topf, den Noch- schaftsministerium sind die drei Industriegewerkschaften lich über Rolle und Bedeutung der Industrie Bundesbildungsministerin Johanna Wanka IG Metall, IG BCE und IG BAU, in Deutschland. Das Ziel ist ehrgeizig: Es geht (CDU) zur Digitalisierung an den Schulen die Gewerkschaft Nahrung- darum, der Industrie wieder mehr Akzeptanz angekündigt hat, auch den Berufsschulen zu- Genuss-Gaststätten sowie der zu verschaffen. In der Politik wie in der Be- gute kommen soll. DGB dabei. Auf Arbeitgeber- völkerung. Ein Anfang sei das, befand Gewerkschaf- seite sind die Dachorganisa­ tionen BDA und BDI, der Deut- Das Beispiel der beruflichen Bildung zeigt, ter Stefan Körzell, aber nicht mehr. Auch die sche Industrie- und Handels- auf welch verschiedenen Ebenen dabei agiert neue Bundesregierung, das machte sein Mit- kammertag (DIHK) sowie acht wird: In Frankfurt diskutierten Stefan Körzell streiter auf Arbeitgeberseite deutlich, wird Branchenverbände vertreten. und Peter Clever zunächst mit Stakeholdern sich deshalb auf Druck durch das Bündnis der Paul-Ehrlich-Schule – von Schülern und einstellen müssen: „Wir haben eine breite Eine Zwischenbilanz (2015– 2017) – gemeinsam den Lehrern über Vertreter von Unternehmen, Basis“, unterstrich Peter Clever. „Mit diesem Wandel gestalten! Download deren Auszubildende dort unterrichtet wer- Pfund werden wir bei den Koalitionsverhand- unter http://bit.ly/2hhLOkw den, bis zur Frankfurter Schuldezernentin. lungen wuchern.“

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 27 Harter Weg zum besseren Schichtmodell

LEAR CORPORATION WISMAR Über zwei Jahre dauerten die Verhandlungen. Am Ende hat der Betriebsrat ein besseres Schichtmodell durchgesetzt, das die gesundheitlichen Belastungen für die Mitarbeiter senkt.

Text Joachim F. Tornau, Journalist in Hamburg und Kassel – Fotos Iris vom Stein

Nominiert für den Deutschen ei Lear in Wismar setzt man auf Abschot- gen erzielen würde“, sagt der 45-Jährige. „Aber es Betriebsräte-Preis tung. Wer die Fabrik des US-amerikani- ist immer langwierig.“ Für die Betriebsvereinba- Das Projekt – wie auch die schen Automobilzulieferers an der meck- rung zur Schichtarbeit ist das allerdings noch Praxisbeispiele auf den nächs- ten Seiten – ist nominiert für Blenburg-vorpommerschen Ostseeküste weit untertrieben. Mehr als zwei Jahre dauerten den Deutschen Betriebsräte- besuchen möchte, darf weder fotografieren noch die Verhandlungen, nicht weniger als 62 Ge- Preis, eine Initiative der Fach- hinterher über seinen Besuch sprechen. „Jegliche sprächsrunden plus neun Sitzungen der Eini- zeitschrift „Arbeitsrecht im Be- Information, die Sie im Werk erhalten, darf nicht gungsstelle schlugen am Ende zu Buche. „Eine trieb“ des Bund-Verlags. Die an Dritte weitergegeben werden“, belehrt ein gewisse Hartnäckigkeit“, sagt Schulz, „war da Hans-Böckler-Stiftung ist Ko- operationspartner und stellt Aushang an der Pförtnerloge. Und das scheint schon vonnöten.“ mit Norbert Kluge, dem Leiter nach Ansicht der Werksleitung auch für Gesprä- Bei Lear in Wismar wird rund um die Uhr der Abteilung Mitbestim- che mit dem Betriebsrat zu gelten: Um zu erfah- an sieben Tagen in der Woche gearbeitet. Rund mungsförderung, ein Jurymit- ren, was es mit dem Schichtmodell auf sich hat, 100 der 300 Beschäftigten – einschließlich Leih- glied. Seit 2009 werden mit das der Arbeitnehmervertretung eine Nominie- arbeitern – leisten vollkontinuierlichen Schicht- dem Preis jährlich Praxisbei- spiele vorbildlicher Betriebs- rung für den Betriebsräte-Preis 2017 eingetragen dienst bei der Produktion von Elektrosteckern. ratsarbeit ausgezeichnet. In hat, muss man sich vor dem Werkstor treffen. Und das taten sie früher standardmäßig in Blö- diesem Jahr wird der Preis am cken von sieben Arbeitstagen, eine längere Frei- 14. Dezember auf dem Deut- 62 Gesprächsrunden, neun Sitzungen phase gab es erst nach drei Wochen. Das System schen BetriebsräteTag in Bonn Andreas Schulz lässt sich von so etwas längst basierte auf einer 42-Stunden-Woche und kann- verliehen. Von 77 Bewerbun- gen wurden zwölf Projekte no- nicht mehr aus der Ruhe bringen. Der Werkzeug- te keine bezahlten Pausen. „Das war brutal“, sagt miniert. macher ist erst seit 2014 Betriebsratsvorsitzender Schulz. Denn die eingesetzten Spritzgussmaschi- und hat doch schon viele Kämpfe ausfechten nen würden so heiß, dass in der Werkshalle zu- müssen. „Es ist nicht so, dass man keine Einigun- meist tropische Temperaturen herrschen. Häufi-

28 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 Arbeit und Mitbestimmung

ge Krankmeldungen waren die Folge. Also stieg unter Zugzwang setzte, bewegte sich nichts. Erst der Betriebsrat in Verhandlungen über ein neues im Einigungsstellenverfahren, das auf Antrag der Schichtmodell ein. Weniger Raubbau an der Ge- Arbeitnehmerseite schließlich eingeleitet worden sundheit, mehr Zeit für Freizeit und Regenera­ war (und alleine neun Monate dauern sollte), tion – das war das Ziel. „Wir wollten eine spür- zeigte sich das Unternehmen zum Einlenken bare Erleichterung für die Kollegen“, erklärt der bereit. Betriebsratsvorsitzende. Doch das Unternehmen habe auf stur geschaltet, nichts ändern wollen Konfliktfähiger Betriebsrat und versucht, die Arbeitnehmervertreter mit „Was diesen Prozess auszeichnet, ist die Konflikt- Hinhaltetaktik und Druck zu zermürben. Selbst fähigkeit von Betriebsrat und Belegschaft“, sagt als der Betriebsrat einseitig das alte Schichtmo- Daniel Friedrich, Erster Bevollmächtigter der dell aufkündigte und die Werksleitung damit IG Metall Lübeck-Wismar. „Gerade in einer

Andreas Schulz ist seit 2014 Betriebsratsvorsitzender in Wismar.

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 29 Das Unternehmen Lear Corporation, vor genau 100 Jahren in Detroit gegrün- det, ist mit 156 000 Beschäf- tigten in 38 Ländern einer der führenden Zulieferer der Auto- industrie weltweit. Produziert werden Sitze und Elektrobau- teile. In Deutschland arbeiten 6500 Menschen an 16 Stand- orten für das Unternehmen. Das Werk in Wismar gehört seit 2004 dazu. Wo zu DDR- Zeiten der VEB Elektroinstalla- tionen Wismar Haushaltsste- cker herstellte, produziert Lear heute rund 650 verschiedene Steckverbinder für die Auto- elektrik – und hat prall gefüllte Auftragsbücher.

Region mit hoher Arbeitslosigkeit ist das Die reale Wochenarbeitszeit sank damit auf 35 nicht selbstverständlich – und kann anderen Mut Stunden, es gibt 15 Freischichten mehr als früher. machen.“ Dem neuen Schichtmodell liegt eine Vor allem jedoch folgen in dem Schichtplan nie tarifliche Wochenarbeitszeit von nur noch 38 mehr als sechs Arbeitstage aufeinander. Im Stunden (und 40 Stunden für die Schichtleiter) Durchschnitt sind es fünf. Und nebenbei wurde zugrunde. Eine halbstündige Pause pro Schicht mit der Betriebsvereinbarung auch noch die vor zählt als Arbeitszeit, wird aber nicht bezahlt, son- wenigen Jahren wieder erkämpfte Tarifbindung dern mit Freizeit ausgeglichen. abgesichert. Kündigt das Unternehmen den Ta- rifvertrag, verliert es automatisch die nötige Zu- stimmung der Gewerkschaft zur vollkontinuier- lichen Schichtarbeit. Zum bevorstehenden Jahreswechsel dürfte das Unternehmen zwar noch auf ein alternativ vereinbartes Modell umsteigen, in dem es, bei gleicher Jahresarbeitszeit, auch Sieben-Tage-Blö- cke gibt. Doch sinnvoll, meint der Betriebsrats- „Es ist nicht so, vorsitzende, wäre das nicht – schon allein wegen des Krankenstands, der mit dem neuen System auf rund 4,5 Prozent gesunken sei. „Das Ding ist dass man keine ein Erfolg“, sagt Schulz. Einziger Haken: „Für das Modell hätten ei- Einigungen er- gentlich zehn weitere Leute eingestellt werden müssen.“ Und weil das nicht geschehen sei, ringen zielen würde. Betriebsrat und Werksleitung weiter miteinander. Jetzt geht es um die Mehrarbeit, die die Arbeit- Aber es ist immer nehmervertreter nicht einfach so genehmigen wollen. langwierig.“ Das Unternehmen wollte sich zum neuen Schichtmodell leider nicht äußern. Eine Anfra- ge des Magazins Mitbestimmung blieb unbeant- Andreas Schulz, Betriebsratsvorsitzender wortet.

30 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 Arbeit und Mitbestimmung

Eine Stiftung für Kollegen in Not

FRÄNKISCHE ROHRWERKE Mit dem Geld aus dem ERA-Fonds hat der Betriebsrat beim Marktführer im fränkischen Königsberg eine Belegschaftsstiftung für Kollegen initiiert, die in Not geraten sind.

Text Andreas Kraft, Journalist in Bamberg – Foto Till Mayer

ie gelben Drainagerohre der Fränki- schließlich 760.000 Euro übrig. Das Geld soll- Schreier forderten, dass das Geld ausgezahlt schen Rohrwerke liegen in Feldern in te, so war es vereinbart, den Beschäftigten wird.“ Doch in den kommenden Wochen zeig- ganz Deutschland. Durch sie fließt das durch eine verbesserte Infrastruktur zugute te sich, dass die Lautesten nicht immer in der DZuviel an Regenwasser ab. In vielen kommen. Da war eine Waschanlage im Ge- Mehrheit sind. Zudem sei ein Kollege krank Häusern liegen die Elektroleitungen in den spräch, ein Fitnessstudio, Kinderbetreuung in geworden. „Wäre das ein Fall für die Stiftung?“, Kabelführungsrohren, die hier im fränki- den Schulferien. „Aber wir haben einfach hätten die Kollegen ihn gefragt, erzählt Jackl. schen Königsberg gefertigt werden. Das Fa- nichts gefunden, wovon wirklich alle Beschäf- „Da haben viele erkannt, dass so eine Stiftung milienunternehmen verkauft seine Produkte tigten profitiert hätten“, sagt Jackl. Dann stieß ein Stück Sicherheit für alle ist.“ in die ganze Welt. Und hat vor Kurzem für er beim Deutschen BetriebsräteTag auf das Auf der Suche nach Möglichkeiten, die seine rund 1600 Beschäftigten ein solidari- Stiftungsmodell. „Da dachte ich sofort: Das 760.000 Euro anzulegen, kam den Stiftungs- sches Stück Sicherheit geschaffen – mit einer wäre doch was für uns.“ machern schließlich eine interessante Idee: Stiftung, die in Not geratenen Kollegen hilft. Ehe die Stiftung Realität werden konnte, Sie leihen das Stiftungsvermögen dem Unter- Bereits drei Beschäftigten konnte die im musste Jackl zunächst seine Betriebsratskolle- nehmen. Die Firma muss weniger Kredit Frühjahr gegründete Stiftung helfen. Einem gen überzeugen. Firmeninhaber Otto Kirchner aufnehmen und kann der Stiftung Zinsen Kollegen konnte nach einer Krankheit mit war sofort dabei, hatte aber eine Bedingung: zahlen, die sie am Finanzmarkt nie bekom- einer Einmalzahlung geholfen werden, zwei Auch die Belegschaft müsse hinter der Stiftung men könnte. Gut 20.000 Euro kann sie nun weiteren Kollegen stockt die Stiftung die Er- stehen. Bei einer ersten Betriebsversammlung jedes Jahr an Beschäftigte ausschütten, die das werbsminderungsrente um mehrere Hundert wehte Jackl ein rauer Wind entgegen: „Einige Geld gerade dringend brauchen. Euro auf – Monat für Monat. Dem Betriebs- ratsvorsitzenden Günther Jackl sieht man an, wie sehr ihn das Thema ärgert. „Die Kollegen haben 35 Jahre lang hier gearbeitet“, sagt er. „Jetzt sind sie krank, und die Erwerbsminde- rungsrente ist so niedrig, dass man davon nicht leben kann.“

760.000 Euro Stiftungskapital Doch bis zu den ersten Hilfen war es ein wei- ter Weg für Jackl und seine Betriebsratskolle- gen. Mit dem Tarifvertrag zur Umstellung des Entgelt-Rahmenabkommens (ERA), mit dem die Trennung von Arbeitern und Angestell- ten aufgehoben wurde, wurden die Arbeitge- ber verpflichtet, einen Fonds anzusparen, um eventuell anfallende Mehrkosten bei der Ein- führung der neuen Gehaltsgruppen aufzufan- gen. „Wir konnten ERA aber ziemlich kosten- neutral einführen“, sagt Jackl. Im Fonds bei den Fränkischen Rohrwerken blieben Betriebsratsvorsitzender Günther Jackl (l.) mit Mitgliedern des Stiftungsbeirats

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 31 Guter Kompromiss

INTERNATIONALER BUND Die Betriebsräte des IB kämpfen erfolgreich gegen befristete Verträge. Die 2016 unterschriebene Konzernvereinbarung könnte für die Branche der sozialen Träger zukunftsweisend sein.

Text Michaela Namuth, Journalistin in München und Rom – Fotos Frank Rumpenhorst

abine Skubsch sitzt heute ruhig im Frank- furter Verwaltungsbüro ihres Unterneh- mens. Das kommt eher selten vor. SSkubsch ist Konzernbetriebsratsvorsit- zende des Internationalen Bundes, eines der größ- ten sozialen Träger Deutschlands. „Ich bin immer unterwegs“, sagt sie. Die Einrichtungen des Ar- beitgebers sind über das ganze Land verstreut. Und überall gibt es Probleme zu lösen. Ein Dauer­ brenner sind befristete Verträge. Seit Jahren kämpfen die Betriebsräte dagegen an. Dann verschaffte ihnen der Fachkräfteman- gel unerwartet Rückenwind. 2015, nach der ers- ten Immigrantenwelle, waren ausgebildete Fach- kräfte gefragt, um die ankommenden Menschen richtig zu betreuen. Die Geschäftsleitung suchte verzweifelt Personal. Doch bei sozialen Trägern wie dem Internationalen Bund, kurz IB, sind die Jobs im Vergleich zu anderen Branchen nicht nur schlecht bezahlt, sondern meistens auch befristet und deshalb nicht besonders attraktiv. „Das war ein guter Moment, um unsere For- derung nach Eindämmung von Befristungen wieder auf den Cheftisch zu legen“, sagt Skubsch. Und diesmal hatten sie Erfolg. Auch der Vorstand sah ein, dass er bessere Arbeitsbedingungen bie- ten musste. 2016 wurde eine freiwillige Konzern- vereinbarung unterschrieben, die für die Branche der sozialen Träger zukunftsweisend sein könnte.

Hunderte Fristverträge entfristet Endlich werden Fristverträge, die oft über Jahre KBR-Vorsitzende Sabine Skubsch: „Familienplanung ist ein Riesenproblem, wenn man nicht hinweg immer wieder erneuert wurden, auf drei weiß, ob der Vertrag verlängert wird.“ Jahre begrenzt. Nach zwei Jahren sachgrundloser

32 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 Arbeit und Mitbestimmung

Befristung kann ein weiterer zeitlich begrenzter den. Hunderte von Fristverträgen konnten be- Vertrag nur noch für ein weiteres Jahr unterzeich- reits umgewandelt werden. net werden. Allerdings nur dann, wenn ein trif- Sabine Skubsch hat sich in den letzten Jahren tiger Grund wie eine Schwangerschaftsvertre- selbst ein Bild von der Lage in den verschiedenen tung vorliegt. Danach besteht ein Anspruch auf Einrichtungen gemacht. Vor allem Frauen spre- unbefristete Beschäftigung. chen sie oft an, um ihren Rat einzuholen. „Oft „Wir konnten nicht alle Forderungen durch- geht es um Schwangerschaften. Die Familienpla- setzen, aber es ist ein guter Kompromiss“, erklärt nung ist ein Riesenproblem, wenn man nicht die KBR-Vorsitzende. Von ihrem langfristigen weiß, ob der Vertrag verlängert wird“, so Skubsch. Ziel rückt sie nicht ab. „Die unbefristete Vollar- Dabei spricht sie aus Erfahrung. Sie selbst wurde Die Zentrale des Internationalen beitszeit sollte die Regel sein und nicht Teilzeit 1993 als Befristete vom IB als Lehrerin in der be- Bundes in Frankfurt am Main und nicht Befristung“, so Skubsch. ruflichen Bildung von benachteiligten Jugendli- In den vergangenen Jahren hatten ver.di und chen eingestellt. Für ihren unbefristeten Vertrag GEW das Unternehmen immer wieder kritisiert, musste sie 1997, als sie schon Betriebsrätin war, weil einzelne Geschäftsbereiche als selbstständi- klagen. Seit 2010 engagiert sie sich in der Kam- ge GmbHs ausgelagert wurden. Erst im Oktober pagne gegen Befristung. 2016 einigten sie sich mit der Geschäftsleitung auf einen Manteltarifvertrag, der für die Beschäf- Signal gegen Dumping tigten in den gemeinnützigen Bereichen des Auch die Geschäftsleitung hat nach Jahren der Unternehmens gilt. Auseinandersetzung eingesehen, dass Fristverträ- Beim IB, einem der wichtigsten Träger für ge nicht nur die Arbeitnehmer belasten, sondern Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit, sieht es ähn- auch Fachkräfte oft von einer Bewerbung abhal- lich aus wie bei den meisten Dienstleistern im ten. „Die Vereinbarungen machen den IB als sozialen Bereich. Das Unternehmen ist ein ver- Arbeitgeber deutlich attraktiver und familien- zweigtes Netzwerk aus Bildungszentren, Schulen, freundlicher“, erklärt der Vorstandsvorsitzende Jugendmigrationsdiensten, Kindertagesstätten, Thiemo Fojkar in einer Pressemitteilung. Akademien und Jugendgästehäusern im In- und Die Arbeitnehmervertreter sehen in der Ver- Ausland. Das Unternehmen spricht offiziell von einbarung auch ein Signal gegen das Dumping 14 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern inklu- in der Branche. Manche von der Bundesagentur sive Honorarkräften. Mehr als ein Viertel der Be- für Arbeit finanzierten Maßnahmen zur Förde- schäftigten hatte vor der Vereinbarung einen rung werden ausgeschrieben wie Bauvorhaben. Fristvertrag, in manchen Betrieben betraf dies Das billigste Angebot bekommt den Zuschlag. mehr als die Hälfte der Belegschaft. Die Mehrheit „Da macht der IB nicht mit, wir als Betriebsräte arbeitete Teilzeit, viele davon unfreiwillig. wehren uns dagegen“, sagt Sabine Skubsch. Typisch für die Situation vor der Vereinba- Doch trotz der Erfolge und der guten Verein- rung ist der Fall einer Kita-Erzieherin, die gern barung, die die IB-Betriebsräte durchgesetzt ha- Vollzeit gearbeitet hätte. Beim IB bekam sie aber ben, bleiben Probleme. „Wir haben immer noch nur einen Arbeitsvertrag über 30 Stunden. Zu- nicht genug Fachpersonal“, sagt Skubsch. Und sie sätzlich erhielt sie fünf Jahre lang immer wieder ist überzeugt: „Die niedrigen Gehälter im sozialen einen auf einige Monate befristeten Vertrag über Bereich sind ein gesellschaftliches Problem. Es ist zehn Stunden. Solche unsozialen Flickwerke wie nicht akzeptabel, dass Menschen, die unsere Kin- befristet aufgestockte Teilzeitverträge müssen der erziehen, schlechter bezahlt werden als dieje- nun nach Ablauf von drei Jahren entfristet wer- nigen, die unsere Autos bauen.“

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 33 politik und gesellschaft

Schutzschirm vor Übernahmen

GLOBALISIERUNG Der Hunger nach deutschen Firmen wächst. China ist nach den USA der zweitgrößte außer­ europäische Investor. Der Politik wird mulmig – sie versucht, gegenzusteuern. Auch die Gewerkschaften verlangen einen planvollen Umgang mit den Investoren.

Von Carmen Molitor, Journalistin in Köln ersten Halbjahr 2017 waren es noch 25 Firmen – für insgesamt 6,5 Milliarden Dollar. Angesichts solcher Deals wird es den Wirtschafts- politikern allmählich mulmig. Zwischen Weltoffenheit und Dummheit, so geht jetzt einigen Akteuren auf, liegt manchmal nur ein ­schmaler Grat. Die Bundesregierung hat deswegen im Juli die Außenwirtschaftsverordnung verschärft und so ihre Möglichkeiten einer Überprü- fung von Betriebsübernahmen durch außereuropäische Investoren in „sicherheitsrelevanten zivilen Wirtschafts- bereichen“ verbessert. Außerdem liegt auf Betreiben von Deutschland, Frankreich und Italien seit September ein europäischer Gesetzentwurf vor, der einen Rahmen für die Überprü- fung von ausländischen Investitionen vorgibt. „Wenn ein ausländisches Staatsunternehmen die Absicht hat, einen europäischen Hafen, einen Teil unserer Infrastruk- tur oder ein Unternehmen im Bereich der Verteidi- gungstechnologie zu übernehmen, dann sollte dies in aller Transparenz sowie nach eingehender Prüfung und Debatte geschehen“, sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.

ie Einkaufsliste vom ersten Halbjahr 2017 ist be- Der Fall Kuka hat die Politik aufgeweckt eindruckend: Die HNA Group, ein Mischkonzern Eine der treibenden Kräfte dieses neuen, schärferen Um- mit rund 175 000 Mitarbeitern und Sitz auf der gangs mit Investoren ist Matthias Machnig, Staatssekretär Dchinesischen Insel Hainan, wurde größter Anteils- im Bundeswirtschaftsministerium: „Künftig haben wir eigner der Deutschen Bank und kaufte nebenbei den in- klare Eingriffsbefugnisse bei staatlich gelenkten Direk- solventen Flughafen Frankfurt-Hahn. Die Pekinger Invest- tinvestitionen in europäische Unternehmen und können mentfirma Creat Group übernahm den Pharmakonzern erstmals auch ökonomische Kriterien in die Prüfung und Biotest aus Dreieich. Ein Konsortium aus der Zhengzhou Entscheidung einbeziehen“, erklärt er. „Zum Beispiel Coal Mining und der China Renaissance Capital sicherte können wir jetzt prüfen, wenn der Heimatstaat des Käu- sich Robert Bosch Starter Motors, die traditionelle Anlas- fers die Übernahme finanziell unterstützt.“ ser-Sparte des Bosch-Konzerns. Und auch beim Weltmarkt- Der Gesetzentwurf definiert erstmals die Technolo- führer für Laserstrahlformung, der LIMO Lissotschenko gien, bei deren Verlust eine „Gefahr für die öffentliche Mikrooptik aus Dortmund, griff mit Focuslight Techno- Sicherheit und Ordnung“ vorliegen könnte – darunter logies ein chinesischer Interessent zu. künstliche Intelligenz, Robotik und Halbleitertechno- An die Zahlen des Rekordjahres 2016 reichen die logien. „Die Übernahme von Kuka durch den chinesi- neuen Halbjahreszahlen zwar nicht mehr heran. Da- schen Investor Midea hätten wir eingehender prüfen mals übernahmen die Chinesen nach einer Studie der können, wenn es diese EU-Verordnung damals schon Beratungsfirma Ernst & Young 68 Firmen und zahlten gegeben hätte“, sagt Machnig. „Die Prüfung wäre viel-

Illustration: BRD/Wikimedia Commons; shutterstock Illustration: dafür zusammen 12,6 Milliarden Dollar. Aber auch im leicht anders ausgegangen.“

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 35 Kritische Infrastruktur braucht Schutz Obwohl die Gewerkschaften bislang überwiegend positive Erfahrungen mit chinesischen Unterneh- mern in Deutschland gemacht haben – weil diese Ein neuer euro­päischer Gesetzentwurf definiert häufig langfristige Interessen verfolgen und die Mitbestimmung unangetastet lassen –, sehen auch erstmals die Technologien, bei deren Verlust IG Metall, ver.di und IG BCE die Notwendigkeit eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und einer stärkeren staatlichen Kontrolle von Firmen- übernahmen – auch durch Vermögensverwalter Ordnung vorliegen könnte – darunter künstliche und Hedgefonds. „Die Gefahr besteht, dass mittel- Intelligenz, Robotik und Halbleitertechno­logien. fristig auch Forschung und Entwicklung abgezogen werden“, sagt Dierk Hirschel, ver.di-Bereichsleiter Deutschland gehört zu den Ländern, die schär- Wirtschaftspolitik. Aufstrebende Volkswirtschaften fere Regeln vorantreiben. wie die chinesische, fügt er hinzu, hätten ein „voll- kommen legitimes Interesse“ daran, die Technolo- gieleiter weiter nach oben zu steigen und „nicht auf Dauer die verlängerte Werkbank Europas oder der USA zu bleiben.“ Protektionismus könne entwick- lungspolitisch sinnvoll sein. Auch Deutschland Beim Verkauf des Augsburger Robotik-Spezia- hätte im 19. Jahrhundert ohne Schutzzölle und listen waren kritische Stimmen laut geworden, die Industriespionage nie den Sprung zur Industriena- fragten, ob sich Deutschland womöglich zu leicht- tion geschafft. fertig von sicherheitsrelevanter Technologie trenne. Die Frage sei, wie Europa heute damit umgeht. Ein Report der Hans-Böckler-Stiftung über „Chi- „In den USA ist es üblich, dass der Staat die eigene nesische Investitionen 2016“ stellt dar, dass die Ge- Forschung und kritische Infrastruktur gegenüber werkschaften den Chinesen ambivalent gegenüber- dem Ausland schützt. Dass die Politik hier jetzt ähn- stehen. Es heißt, diese seien keine Heuschrecken und lich reagiert, ist angemessen.“ Es gehe darum, die hätten in der Regel die Mitbestimmung unangetas- Technologieentwicklung und heimische Arbeits- tet gelassen – gleichzeitig sieht man die Pläne der plätze zu sichern und Standortverlagerungen vorzu- chinesischen Regierung, durch gezielten Know-how- beugen. Ein guter Hebel dafür sei mehr Mitbestim- Transfer den Abstand zu anderen Industrienationen mung: „Standorte können durch staatliche aufzuholen – „ärgerlicherweise mit Dumping-Me- Investitionsauflagen gesichert werden“, sagt Hirschel. thoden, wie die Subventionierung von Produkten „Besser ist es aber, die Unternehmensmitbestimmung zeigt, die den Wettbewerb deutlich verzerrt.“ dahingehend auszubauen, dass Standortverlagerun-

Etwa ein Zukauf pro Woche Übernahmen und Beteiligungen chinesischer Firmen in Deutschland, 2011 bis 1. Halbjahr 2017, in absoluten Zahlen

2015 2014 2012 2013 2011 39 22 26 28 36

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gen – wie es im VW-Gesetz steht – eine Zweidrittel- China müssen bis heute in einigen Branchen ein Mitbestimmungs-Report mehrheit im Aufsichtsrat erfordern.“ Joint Venture mit heimischen Unternehmen einge- Nr. 37 der Hans-Böckler- Stiftung hen, wenn sie investieren wollen. Der Markteintritt „Chinesische Investitionen Faire Investitionen ja, Ausverkauf nein für Unternehmen ist also an viele Voraussetzungen 2016 – Erfahrungen von Auch die IG Metall hat nicht grundsätzlich etwas ge- gebunden, die von chinesischen Behörden definiert Mitbestimmungsakteuren“, gen Firmenübernahmen durch außereuropäische werden“, erklärt Weis. Oktober 2017 Unternehmen: „Es geht nicht darum, die Chinesen Auch die IG BCE stemmt sich „gegen protekti- Kostenloser Download unter daran zu hindern, in Deutschland zu investieren. Zum onistische Entwicklungen“, betont Tomas Nieber, http://bit.ly/2xJ1RDd großen Teil haben wir gute Erfahrungen mit ihnen Leiter der Abteilung Wirtschafts- und Industriepo- gemacht“, betont Christian Weis, Ressortleiter Globa- litik. „Wir sind als Gewerkschaft durchweg in Bran- lisierungspolitik der IG Metall. Allerdings habe China chen unterwegs, die hoch internationalisiert sind.“ ein staatlich gesteuertes industriepolitisches Pro- Die deutsche Volkswirtschaft müsse offen bleiben, gramm, durch das das Land im Jahr 2025 in der Spit- aber Nieber sieht auch Branchen, in denen es „sinn- zentechnologie auf Augenhöhe mit dem Westen sein voll wäre, einen Wettbewerbsvorsprung durch tech- wolle. „In Deutschland und Europa haben wir dem nisches Know-how nicht wegzugeben“. kaum etwas entgegenzusetzen, weil industriepoliti- Die IG BCE befürwortet deswegen eine aktive sche Themen sträflich vernachlässigt wurden“, kriti- Industriepolitik. Es müsse mehr finanzielle Anreize siert Weis. „Es kann nicht sein, dass der Binnenmarkt geben, die wichtige Innovationsprozesse voranbräch- so offen ist, dass ganze Branchen aufgekauft werden.“ ten. „Gerade weil Länder wie China, Südkorea oder Weis befürchtet, dass komplette Wertschöp- die USA gezielt Industriepolitik machen und be- fungsketten aus Deutschland verschwinden werden. stimmte Sektoren und Branchen in ihren Ländern „Wir können den Chinesen keinen Vorwurf machen, unterstützen“, so der Gewerkschafter. dass sie einen Plan haben. Wir brauchen selbst einen, Doch das EU-Recht erschwere hierzulande wie sich unsere Wertschöpfungsketten entwickeln solch zielgenaue Investitionen, die einen Struktur- sollen – das nennt man Industriepolitik, und die wandel befördern, etwa im Automobilsektor, bei kommt zu kurz.“ Der Wirtschaftsexperte begrüßt den erneuerbaren Energien oder Speichertechniken. deshalb die politischen Initiativen für eine stärkere „Wenn man die industrielle Produktion stärken will, Regulierung. „Das erscheint uns trotz der vorsichtig muss man in Europa über neue Formen von Struk- positiven Einschätzungen bei Übernahmen ange- tur- und Industriepolitik nachdenken“, sagt Nieber. bracht“, sagt Weis. „Protektionismus wollen wir aber „Europa hat große Potenziale für eine CO2-arme und nicht“, betont er. „Wir haben ein Interesse am Wa- ressourceneffiziente Industrie, und wir sollten ver- renaustausch, an gegenseitigen Investitionen.“ suchen, diese hier zu entwickeln und nicht bereit- Allerdings seien die Bedingungen für beide Staa- willig zu exportieren. Die Produkte schon, aber ten nicht gleich: „Ausländische Unternehmen in nicht das Know-how und die Patente.“

2016

1. hälfte 68 2017 25 Quelle: Ernst & Young

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 37 Wie das Krankenhaus krank macht

ARBEITSBEDINGUNGEN Im Gesundheitswesen ist Burn-out so verbreitet wie sonst nirgends. Seit die Betriebswirtschaft den Klinikbetrieb dominiert, wird die Personaldecke ausgedünnt, der Krankenstand ist hoch, die Gefährdungsanzeigen steigen. ver.di engagiert sich mit den Beschäftigten und für die Patienten gegen diese unwürdigen Zustände.

Von Annette Jensen, Journalistin in Berlin

ls Ralf Schmid vor mehr als 20 Jahren eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Gesamtbetriebsratsvorsitzender der be- „Sie leiden darunter, dass sie sich den Patienten rufsgenossenschaftlichen Unfallkliniken zu wenig zuwenden können. Wie sie arbeiten, Ain Tübingen und Ludwigshafen wurde, entspricht nicht dem, was sie gelernt haben, und stand der Schutz der Pflegekräfte vor Skeletter- es belastet ihr Gewissen.“ Tiefe Erschöpfung, krankungen ganz oben auf seiner Prioritätenliste. nächtliches Aufschrecken, Angst, innere Leere „Burn-out war damals noch ein Fremdwort“, er- und das Gefühl, sich selbst nicht mehr im Spiegel zählt der 54-Jährige. anschauen zu können, sind die typischen Burn- Dank zahlreicher Hilfsmittel haben die Pfle- out-Reaktionen. genden heute deutlich seltener Rücken- oder Gelenkprobleme – aber immer mehr leiden an Menschlicher Kontakt immer unter Zeitdruck psychischen Erkrankungen. Deutschlandweit ist „Voraussetzung für unseren Beruf ist es, gern mit das Ausmaß alarmierend, wie der von der DAK Menschen zu arbeiten. Wir erleben sie in Aus- veröffentlichte „Psychoreport 2015“ belegt. Aus- nahmesituationen, die für sie wichtig sind, und gerechnet das Gesundheitswesen liegt bei den dadurch kriegt man einen Draht zu ihnen“, sagt krankheitsbedingten Fehltagen 50 Prozent über Silvia Habekost, die im Vivantes-Klinikum in dem Durchschnitt und mit weitem Abstand an Berlin-Friedrichshain als stellvertretende Leiterin der Spitze. der Anästhesie arbeitet und ver.di-Vertrauensfrau Die BG Unfallklinik in Tübingen etwa ist ist. Zugleich seien die Patienten existenziell auf spezialisiert auf Unfallchirurgie und Schwer- Hilfe angewiesen. Für beide Seiten sei es schwer brandverletzte, was Auswirkungen auf die Ar- auszuhalten, wenn der Kontakt immer unter beitsbedingungen hat, die jederzeit Tag- und Zeitdruck stattfinden muss, so die 54-Jährige. Nachteinsätze erfordern. Einige wenige Kollegin- Waren früher Gewinne im Krankenhaus ge- nen haben Betriebsrat Ralf Schmid anvertraut, setzlich verboten, verschob sich der Fokus vor was sie belastet. „Wer Burn-out hat, spricht selten allem seit der Einführung von Fallpauschalen im darüber“, bestätigt sein Amtskollege Baki Selcuk Jahr 2003 immer weiter in Richtung Betriebswirt- vom Berliner Emil-von-Behring-Klinikum, das schaft und Wettbewerb. „Nicht der Bedarf steht zum Helios-Konzern gehört. Was Selcuk dagegen im Zentrum, sondern das Budget“, fasst Silvia oft hört, sind Klagen des Pflegepersonals, den Habekost zusammen. Das Bündnis „Krankenhaus

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statt Fabrik“ hat zahlreiche Beispiele zusammen- 32,5 Prozent der Intensivpatienten in Deutsch- getragen, die den Irrsinn der Entwicklung bele- land versorgten. Demnach sind fast zwei Drittel gen: Lukrative Bandscheiben-OPs haben sich des Pflegepersonals nachts völlig allein auf der binnen weniger Jahre mehr als verdoppelt, die Station, sodass sich eine Person um durchschnitt- Implantation von Aortaklappen am Herzen sogar lich 26 Kranke kümmert. In manchen Fällen hat verzwanzigfacht. Gespart wird dagegen am Per- eine oder einer sogar die Verantwortung für über sonal. Beim Verhältnis von Pflegekräften zu Pati- 40 Menschen. enten bildet das relativ wohlhabende Deutsch- Viele Patienten bekommen nicht alle für sie land im europäischen Vergleich weit hinter Polen, erforderlichen Leistungen, weil schlicht die Zeit Spanien und Belgien klar das Schlusslicht, wie fehlt, gaben über drei Viertel der 4280 Befragten eine kürzlich veröffentlichte Böckler-Studie von an. Die Hälfte hatte in einer Nachtschicht wäh- Michael Simon und Sandra Mehmecke belegt. rend der vergangenen vier Wochen mindestens Die Gewerkschaft ver.di hat im März 2017 eine für einen Patienten gefährliche Situation Rettungsstelle, Vivantes-Klinikum den „Nachtdienstreport“ veröffentlicht. Die Da- erlebt, die bei einer besseren Personalausstattung in Berlin-Friedrichshain: Seit der ten beruhen auf Kurzinterviews mit Klinik­ vermeidbar gewesen wäre. Auch eine ausreichen- Einführung der Fallpauschalen beschäftigten, die in der Stichnacht vom 5. zum de Händedesinfektion unterbleibt in vielen Fäl- prägt die Betriebswirtschaft das 6. März 2015 21 Prozent aller Normal- und len. Das ist keine Lappalie: 10 000 bis 15 000 Verhältnis zum Patienten. Foto: Joachim Schulz/imago Joachim Foto:

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 39 Fotos: Rolf Schulten; Monika Blessing Fotos:

Menschen sterben jährlich an Krankenhaus- solle mir Hilfe von der zentralen Aufnahme ho- Silvia Habekost, ver.di-Vertrauens- keimen; eine ausreichende Händedesinfektion len, ist nur bedingt hilfreich. Da auch dort viele frau im Berliner Vivantes-Klinikum, Ralf Schmid, GBR-Vorsitzender der gilt als wichtigste Prophylaxe. Patientinnen und Patienten waren, war eine ad- BG-Unfallkliniken in Ludwigshafen äquate Hilfe nur in der Zeit von zwei bis drei und Tübingen: „Das System steht Authentische Beschreibung unwürdiger Uhr nachts möglich.“ vor dem Kollaps.“ Zustände Das Arbeitszeitgesetz schreibt mindestens Die Hetze beschreibt eine Krankenschwester im 30 Minuten Pause pro Schicht vor – zum Schutz Nachtdienstreport so: Nach dem Ausfall einer der Gesundheit. Doch 70 Prozent der Befragten Hilfskraft war sie allein für 32 Patientinnen und konnten diese Auszeit in der vorherigen Nacht- Patienten zuständig, „davon sind neun zu über- schicht entweder gar nicht nehmen oder wurden wachen, eine Patientin ist präfinal, vier Aufnah- dabei gestört. „Wenn eine Krankenschwester al- men, zwei umtriebige und stark sturzgefährdete lein auf der Station ist und ein Patient klingelt, Patienten, eine Isolation bei MRSA (jeder Kon- kann sie ihn ja nicht eine halbe Stunde lang war- takt mit der Patientin erfordert Schutzkleidung, ten lassen“, beschreibt Baki Selcuk die Situation. d. Red.), eine instabile Patientin, ein Patient, der Deshalb hatten er und seine Betriebskollegen im die C-PAP-Maske tragen muss, aber nicht toleriert, Helios-Krankenhaus in Berlin-Zehlendorf durch- zwei entgleiste Diabetiker (Werte müssen sehr gesetzt, dass nachts zwei zusätzliche Kräfte als häufig beobachtet werden, d. Red.).“ Pausenablösung von Station zu Station gehen Sie schreibt weiter: „Ein Patient kommt ein- oder auf gegenüberliegenden Stationen drei Pfle- gekotet in die zentrale Aufnahme. Während der gekräfte eingesetzt werden. pflegerischen Maßnahme ist es nicht möglich, die zu überwachenden Patientinnen und Patienten Krankenstand 20 Prozent adäquat im Auge zu behalten, da die Alarme erst „Wir haben festgestellt, dass einige Pflegekräfte auf dem Flur zu sehen sind. Angetrockneten Kot trotzdem auf die Pause verzichten und die Ablö- von den Leisten, Hoden, Penis und Gesäß zu ent- sung als Unterstützung nutzen, weil die Arbeit fernen, nimmt Zeit in Anspruch. Hierbei sollte sonst nicht zu schaffen ist“, berichtet Selcuk. Auf der Patient nicht ständig vertröstet werden müs- manchen Stationen der Helios-Klinik beträgt der sen, weil ich den Alarmen nachgehen muss – lei- Krankenstand 20 Prozent. Dadurch wird die so- der ging es nicht anders. Die Aufforderung, ich wieso schon sehr dünne Personaldecke noch

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löchriger, der Stress nimmt weiter zu, die Wahr- scheinlichkeit weiterer Ausfälle steigt. Viele Pflegekräfte gehen über ihre Grenzen, weil sie wissen, was ein weiterer Ausfall für die Kolleginnen bedeuten würde. „Bei Engpässen holen sich die Frauen inzwischen über Whats- App gegenseitig aus dem Frei“, berichtet Niko Stumpfögger, Fachbereichsleiter Gesundheit in der ver.di-Bundesverwaltung. Und ver.di-Vertrau- „Die Beschäftigten können ensfrau Habekost prognostiziert: „Das System steht vorm Kollaps. Irgendwann finden sie ein- nicht einmal ihre Freizeit nach fach kein Personal mehr.“ In ihrem Haus ist es schwierig, freie Stellen zu besetzen, und immer mehr arbeiten aufgrund der Belastungen Teilzeit, den eigenen Bedürfnissen berichtet sie. planen und verbringen, was Strafgelder wegen nicht gewährter Pausen Fällt jemand aus oder müssen überdurchschnitt- noch mehr Stress bedeutet.“ lich viele Patienten intensiv überwacht werden, können die Beschäftigten durch Gefährdungsan- zeigen zumindest die rechtliche Verantwortung Niko Stumpfögger, Fachbereichsleiter Gesundheit, ver.di-Bundesverwaltung für mögliche Schäden nach oben abgeben. Viele Betriebsräte verteilen Formulare, die die Pflege- kräfte an die Geschäftsführung faxen können. Im Prinzip müsste die sofort Verstärkung organisie- ren – doch spätabends und nachts sind die Büros nicht besetzt. Ralf Schmid registriert eine Zunah- Nicht nur arbeitet sie in einem Bereich, in dem Michael Simon/Sandra Meh- me von jährlich 15 Prozent bei den Gefährdungs- der Rationalisierung Grenzen gesetzt sind: mecke: Nurse-to-Patient Ratios. Ein internationaler Überblick anzeigen. Sein Gremium hat durchgesetzt, dass „Wenn kein Anästhesie- oder OP-Team da ist, fällt über staatliche Vorgaben zu in jedem Fall anschließend eine Besprechung die OP schlicht aus.“ Sie macht auch viel Sport einer Mindestbesetzung im stattfindet, an der die anzeigende Person, der und engagiert sich als ver.di-Vertrauensfrau für Pflegedienst der Kranken­ Vorgesetzte, der zuständige Direktor sowie ein die Verbesserung der Situation. Zusammen mit häuser. Working-Paper der Mitarbeitervertreter teilnehmen. „Bei solchen Kolleginnen hat sie den bisher größten Warn- Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung, Nr. 27, Besprechungen kriege ich dann oft mit, dass Kol- streik in ihrem Krankenhaus organisiert, der sich Februar 2017. legen schon seit Monaten krankgeschrieben sind“, am Vorgehen des Pflegepersonals in der Charité Kostenloser Download unter berichtet Schmid. orientierte. Dort sah sich die Geschäftsführung http://bit.ly/2fca4nH Dagegen ist sich Baki Selcuk sicher, dass vie- vor zwei Jahren gezwungen, während des elftägi- le Pflegende in seiner Klinik auf eine Gefähr- gen Streiks für mehr Personal ein Drittel der ver.di-Nachtdienstreport http://bit.ly/2jNr09j dungsanzeige verzichten, weil sie Angst haben, Betten zu sperren. Danach unterschrieb sie einen anschließend von den Vorgesetzten zur Rede Tarifvertrag, der eine Mindestbesetzung der Sta- Magazin Mitbestimmung, gestellt zu werden. Immer wieder treffen sich der tionen regelt. Ausgabe 3/17, Titelthema: Helios-Betriebsrat aus Berlin-Zehlendorf und die So schlagkräftig ist die Belegschaft im Vivan- Angst, Stress & Co. Geschäftsführung vor Gericht. Im vergangenen tes-Klinikum in Berlin-Friedrichshain zwar noch http://bit.ly/2ytRous Jahr musste der Konzern 150.000 Euro Strafe nicht. Aber Silvia Habekost arbeitet daran. Auf der zahlen, weil Dienstplanänderungen trotz fehlen- Anästhesie sind inzwischen 80 Prozent der Pflege- der Zustimmung des Betriebsrats einfach durch- kräfte Gewerkschaftsmitglieder, seit ein paar Tagen geführt wurden. Im April gab es erneut ein Urteil: hat Silvia Habekost auch im Aufsichtsrat ein Man- 88.000 Euro Ordnungsgeld wegen nicht gewähr- dat. „Meine Methode, psychisch nicht krank zu ter Pausen. werden, ist der Versuch, die kranke Situation zu Trotz allem ist Silvia Habekost davon über- ändern.“ Ein anderes Arbeitsfeld kommt für sie zeugt, dass sie keinen Burn-out bekommen wird. nicht infrage: Sie liebt ihren Beruf.

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 41 Das lautlose Heer der „domestic workers“

DIENSTLEISTUNGSGESELLSCHAFT Sie hüten Kinder und pflegen alte Menschen. Und kämpfen weltweit um ihre Anerkennung als Lohnarbeiterinnen: Die „domestic workers“ wollen nicht länger Dienstmädchen sein. Zunehmend vernetzen sich auch die NGOs der Unterstützerinnen, wie bei einem Treffen in Venedig.

Text und Fotos Michaela Namuth, Journalistin in München und Rom

ie Hausangestellte Myrtle Witbooi konn- schützen?“, fragte sie und brach damit eine Lawi- te lesen und schreiben. Das besiegelte ihr ne los, mit der sie nie gerechnet hätte. Es war das Schicksal. Denn eines Tages las sie in der Jahr 1967, in Südafrika herrschte die Apartheid. DZeitung, dass manche weiße Hausherren Ein Zeitungsreporter war so beeindruckt von ihren Dienstmädchen das Recht verweigerten, Myrtles Brief, dass er sie persönlich aufsuchte. Er Besuch von Freunden und Verwandten zu emp- überzeugte sie davon, ein Treffen mit anderen fangen. Sie ärgerte sich so sehr, dass sie einen Hausangestellten zu organisieren, und setzte ei- Protestbrief an die Zeitung schrieb. „Warum sind nen Aufruf in die Zeitung. Es kamen 250, vor wir anders? Warum gibt es keine Gesetze, die uns allem Frauen, und Myrtle Witbooi hielt eine

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Arbeiterinnen der ersten Stunde. Sie waren schon da, bevor es digitale Jobplattformen gab, und sie kämpfen schon lang dagegen an, rechtlos und unsichtbar zu sein. Jetzt verbuchen sie erste Er- folge. 2011 erhielt die Bewegung Auftrieb durch das Übereinkommen 189 der Internationalen Arbeits- organisation (ILO), das Hausangestellte als regu- läre Lohnarbeiterinnen anerkennt. Einige von ihnen saßen mit am Verhandlungstisch. Ein Jahr später schlossen sie sich in der International Do- mestic Workers Federation (IDWF) zusammen, die heute über 500 000 Mitglieder in 50 Ländern zählt. Ihre Präsidentin ist Myrtle Witbooi. „Es ist ein Irrglaube, dass Hausangestellte nicht organisierbar seien“, erklärt Sabrina Marchetti, die das europäische Forschungsprogramm DomEqual DomEqual-Netzwerktref- koordiniert. Sie ist Soziologieprofessorin an der fen im Juni in Venedig: Über 67 Millionen Ca’ Foscari Universität in Venedig. Im Rahmen arbeiten weltweit als des Programms organisieren sie und ihr Team Hausangestellte. auch Treffen, die den Frauen ein Forum bieten. Das letzte fand im Juni in Venedig statt. In den Uni-Räumen direkt über dem Canale Grande dis- kutierten Hausarbeiterinnen, Aktivistinnen und Forscherinnen zwei Tage lang ihre Erfahrungen. Das Leben vieler Hausangestellter ist bis heu- Rede, die der Reporter für sie geschrieben hatte. te eine Hölle – in den Villen der Steinreichen „Ich entdeckte das Talent, vor anderen und für von Monte Carlo bis Mexiko, aber auch in tristen andere zu sprechen“, erzählt sie heute. Nach dem deutschen Seniorenwohnungen, wo sie oft rund Fall des Apartheid-Regimes war das Arbeitsrecht um die Uhr und für wenig Geld Pflegedienste für Hausangestellte das erste von der neuen Re- leisten. Sie sind unsichtbare Hausgeister. Sie put- gierung verabschiedete Gesetz. zen, kochen und ziehen die Kinder anderer groß. Die Südafrikanerin Myrtle Witbooi ist Vor- Oder pflegen fremde Eltern, während ihre eigene streiterin einer Bewegung, die in den vergange- Familie oft Tausende Kilometer entfernt lebt. nen Jahren immer mehr Kraft gewonnen hat: die Nach ILO-Schätzungen verdienen über globale Bewegung der „domestic workers“. Auf 67 Millionen Menschen weltweit ihren Lebens- Deutsch: Haushaltsarbeiter. Oder korrekter: unterhalt als Hausangestellte. Ihre Zahl ist in den Haushaltsarbeiterinnen – denn die überwältigen- letzten 20 Jahren enorm gestiegen. Sie stellen de Mehrheit sind Frauen. Sie fordern Anerken- heute zwei Prozent aller Beschäftigten dar, eine nung als Beschäftigte. Ihre Themen sind Migra- von 25 arbeitenden Frauen ist eine Hausange- tion, Frauenarbeit, prekäre Beschäftigungs- und stellte. 11,5 Millionen von ihnen sind Migranten. Lebensbedingungen und das Arbeitsrecht, das In ihren Biografien geht es um das Alltagsleben für sie nicht existiert. ohne gültige Papiere und ohne Rechte, um die Isolation in einer Wohnung, um die Angst vor Gig-Arbeiterinnen der ersten Stunde kostspieligen Arztbesuchen, um Vergewaltigung, Die Hausarbeiterinnen stehen im Zentrum der Diskriminierung, Schuldenerpressung und die globalen Transformation, die derzeit unsere Ar- Trennung von den eigenen Kindern. beitswelt umkrempelt. Je mehr sich der Sozial- staat zurückzieht, desto dringender wird jemand Eine Filipina, die in London arbeitet gebraucht, der sich um Kinder, Kranke und Alte Für die Filipina Marissa Begonia war dies das kümmert. Die Hausangestellten sind die Gig- Schlimmste in ihrem Leben. Als sie ihr

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 43 Marissa Begonia und die anderen organisieren an den Wochenenden Sprach- und Computerkurse und ärztliche und rechtliche Betreuung für ihre Kolleginnen. Sie können dafür die Räumlichkei- ten der britischen Dienstleistungsgewerkschaft UNITE nutzen, wo viele von ihnen Mitglieder sind. Außerdem vertreten sie ihre Organisation bei internationalen Treffen wie der ILO-Arbeits- konferenz. Marissa und die anderen werden bei ihrer Basisarbeit von den Forscherinnen, die meist auch Aktivistinnen der Bewegung sind, unter- stützt. DomEqual und andere Projekte sind Teil eines Forschungsnetzes für die Rechte der Haus- arbeiterinnen, kurz RN-DWR. Im Rahmen dieser Initiative entstand, unter Leitung der Osnabrü- cker Soziologin Helen Schwenken, ein Hand- buch, das erklärt, wie man Interviews führt, um Informationen zu sammeln und Kontakte zu knüpfen. Durch ihre Erzählungen sollen die Frauen „Protagonisten ihrer eigenen Geschich- ten“ werden, so auch der Titel der Broschüre. Denn eine Geschichte haben sie alle zu er- zählen. Die Amerikanerin Ai-jen Poo kennt Hun- derte. Seit sie vor 20 Jahren das College verlassen hat, ist sie Aktivistin für die Sache der Hausarbei- terinnen. „Mich hat damals das lautlose Heer der Myrtle Witbooi, Vorstreiterin und Präsidentin der International Domestic Workers farbigen Frauen beeindruckt, die Kinder durch Federation (IDWF): Das Leben vieler Hausangestellter ist bis heute eine Hölle. Manhattan schoben, die offensichtlich nicht ihre eigenen waren“, erzählt sie.

Trotz Angst vor Repressalien entstand eine Gemeinschaft Land verließ, ließ sie drei kleine Kinder zu- Durch Treffen in kleinen Gruppen, an denen rück. „Ich wollte Geld verdienen, denn ich konn- trotz überlanger Arbeitszeiten und Angst vor te es nicht mehr ertragen, dass sie hungerten“, sagt Repressalien immer mehr Frauen teilnahmen, sie. Sie verdingte sich als Hausangestellte in entstand eine Gemeinschaft. 2007 gelang es die- Hongkong und Singapur und landete schließlich sen Gruppen, sich zu der National Domestic in London als eine der vielen Hunderttausend Workers Alliance zusammenzuschließen. Für Ai- sogenannten Overseas Filipino Workers. Sie wur- jen Poo war dies ein enormer Sieg. „Wir sind die de mehrmals Opfer von sexuellen Übergriffen in Einzigen in den USA, die arme weibliche Arbei- den Haushalten, in denen sie arbeitete. ter organisieren“, erklärt sie. Poo ist überzeugt, Heute trägt sie selbstbewusst ein T-Shirt mit dass von ihren Kämpfen und Errungenschaften der Aufschrift „Justice for Domestic Workers“. alle profitieren werden, die sich künftig in der Das ist der Name der Organisation, die sie vertritt. neuen prekären Arbeitswelt wiederfinden. „Es Sie erzählt, wie sie sich am eigenen Schopf aus geht um uns, aber auch um die Zukunft der Ar- der Misere herausgezogen hat. Der erste Schritt beit“, sagt sie. Links zu den erwähnten Orga- war die Gründung einer Selbsthilfegruppe vor Das sehen die ILO und andere Arbeitsorga- nisationen und Publikationen in der App-Version dieses zehn Jahren. „Wir waren damals zu acht“, erinnert nisationen inzwischen auch so. Für die italieni- Artikels unter sie sich. Heute hat die Vereinigung, kurz J4DW schen Gewerkschaften ist Hausarbeit seit den bit.ly/domestic-worker genannt, über 1000 Mitglieder. Gründerjahren ein Thema. Sie schlossen bereits

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„Es ist ein weitverbreiteter Irr- glaube, dass Hausangestellte nicht organisierbar seien.“

Sabrina Marchetti, Koordinatorin des europäischen Forschungs- programms DomEqual

1974 den ersten Tarifvertrag für Haushaltshilfen hat in dem Positionspapier den Teil über die ab. In der christlichen Arbeitervereinigung ACLI Pflegekräfte geschrieben, deren Präsenz in deut- gibt es seit den Nachkriegsjahren eine Gruppe schen Haushalten seit Jahren steil ansteigt. Aller- für Haushaltshilfen. Diese ist heute auch im Netz- dings hat weder ihre noch eine andere deutsche werk DomEqual aktiv. Gewerkschaft bislang nennenswert Hausange- Die „domestica“, das Hausmädchen, ist vor stellte organisiert. allem bei den wohlhabenden Familien des Sü- „Die Gewerkschaften sollten ausgetretene Pfa- dens, aber auch in den Stadtvillen des Nordens de verlassen und neue Allianzen eingehen“, sagt bis heute ein verbreitetes Phänomen. Seit einigen Karin Pape, die ebenfalls an dem DGB-Papier Jahren nimmt – wie in anderen europäischen mitgearbeitet hat. Sie ist Vertreterin des interna- Ländern – die private Alterspflege durch Migran- tionalen Frauennetzwerkes WIEGO und Europa- tinnen drastisch zu. Doch wird in den Privathaus- Koordinatorin des Hausarbeiterinnen-Bundes, halten vor allem schwarzgearbeitet, und die Ta- dem Myrtle Witbooi vorsitzt. Pape, die sich seit rifpolitik verliert als Schutzinstrument an vielen Jahren mit prekärer Frauenarbeit beschäf- Bedeutung. Um die Schwarzarbeit ans Licht zu tigt, plädiert für eine globale Strategie. Sie schlägt bringen, schlagen die italienischen Gewerkschaf- vor, dass sich die Gewerkschaften dort einklinken, ten jetzt die komplette Erstattung der Sozialver- wo sie direkten Kontakt zu den Hausangestellten sicherungsbeiträge für die Privathaushalte vor. bekommen. Sie könnten beispielsweise Ver- sammlungsräume und Beratungsdienste zur Ver- DGB: Privathaushalte aus der fügung stellen – wie es die britische UNITE, aber Schwarzarbeit holen auch der DGB mit dem Programm „Faire Mobi- Derselbe Vorschlag findet sich auch in dem DGB- lität“ für osteuropäische Beschäftigte praktizieren. Positionspapier „Arbeitsplatz Privathaushalt“. „Wichtig ist eine Vernetzung all derer, die Auch in Deutschland liegt der Anteil der Schwarz- bereits Erfahrungen in der Organisierung dieser arbeit bei geschätzten 80 bis 90 Prozent. Das ‚Unorganisierbaren‘ gemacht haben“, sagt Pape. Thema Privathaushalt ist brisant. „In diesem Be- Initiativen wie DomEqual öffnen dabei viele Tü- reich verändert sich der Arbeitsmarkt derzeit ren – vielleicht auch zu den bislang verschlosse- rasend. Es gibt auch immer neue Formen von nen Privathaushalten. Scheinselbstständigkeit“, erklärt Margret Steffen, Expertin für Gesundheitspolitik bei ver.di. Sie

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 45 böckler-Tagung Zwischen Traum und Tücke

ARBEITSRECHT Immer mehr Arbeitnehmer möchten im Homeoffice oder mobil arbeiten. Doch die Flexibilität hat Fallstricke. Es braucht klare Regelungen, so Experten beim Fachgespräch Arbeitsrecht der Hans-Böckler-Stiftung und des WSI.

aptop, Smartphone und eine schnelle Mit rund 100 Teilnehmern, darunter zahlrei- Gefahr der Selbstausbeutung“, so Experte Datenleitung – für zahlreiche Bürojobs che gewerkschaftsnahe Fachanwälte für Ar- Voigt. Beide Seiten setzen auf Vertrauensar- Lbraucht es nicht viel mehr. Kein Wunder, beitsrecht sowie Betriebsräte, war die Veran- beitszeit. In jedem Fall jedoch müssen Arbeit- dass sich Arbeitnehmer zunehmend ein staltung bis auf den letzten Platz ausgebucht. nehmer mindestens die gesetzlich vorge- Homeoffice wünschen. Aktuell arbeitet etwa Kein Wunder, die Inhalte waren, wie jedes schriebenen elf Stunden Ruhezeit einhalten ein Drittel aller Beschäftigten gelegentlich in Jahr, äußerst praxisnah. In Sachen Homeoffice können. Bei jeder noch so kleinen Unterbre- den eigenen vier Wänden, ein weiteres Drittel etwa, trug Peter Voigt vor, existieren kaum chung, wie etwa dem kurzen Aufrufen von würde dies gerne tun – wenn möglich regel- gesetzliche Vorgaben. Einen Rechtsanspruch, E-Mails, beginnt die Uhr von vorn zu laufen. mäßig. „Arbeitnehmer sind örtlich und zeit- wie etwa in den Niederlanden, gibt es in Einige Nachteile lassen sich nicht abfedern: lich flexibler, können zum Beispiel Beruf und Deutschland nicht. Klar ist immerhin, was Durch die fehlende Präsenz im Unternehmen Familie besser vereinbaren oder sich besser Homeoffice nicht ist – nämlich der Laptop kann der betriebliche Zusammenhalt oder um einen pflegebedürftigen Angehörigen auf dem Küchentisch. „Es muss einen fest auch der Draht zum Vorgesetzten leiden. kümmern. Außerdem sparen sie sich die eingerichteten Arbeitsplatz geben, sonst ist es Ist Homeoffice oft per Betriebsvereinba- Wege zur Arbeit“, so Peter Voigt, Syndikus- mobiles Arbeiten“, so Voigt. Organisatorisches rungen geregelt, sieht es bei Laptop-Nomaden rechtsanwalt in der Hauptverwaltung der gilt es auszuhandeln, etwa, welchen Teil der gänzlich anders aus. „84 Prozent arbeiten IG BCE, in seinem Vortrag. Bei allen Vortei- Ausstattung der Arbeitnehmer, welchen der ohne Vereinbarung mobil“, erläuterte beim len warnte er jedoch zugleich vor allzu gro- Arbeitgeber finanziert. Fachgespräch Arbeitsrechtlerin Lena Oerder. ßem Enthusiasmus: „Homeoffice hat auch „Die Zeitsouveränität ist für Arbeitneh- Ein Grund: Die Arbeitsstättenverordnung Fallstricke. Es braucht klare Regelungen.“ mer ein großer Vorteil. Jedoch besteht die greift für mobiles Arbeiten nur mittelbar. Die größte Gefahr sieht Lena Oerder darin, dass Laptop-Nomaden – wie auch Arbeitnehmer im Homeoffice – wie Unternehmer agieren. Zu Punkten wie sichere Arbeitsmittel und Gesundheitsschutz, aber auch Arbeitszeit las- sen sich jedoch Schutzmaßnahmen vereinba- Foto: Karsten Schöne Foto: ren. Spielraum für Betriebsräte ergibt sich durch die Änderung des Arbeitsplatzes und der Arbeitszeit. Mitunter ist auch mehr mög- lich. „Mobiles Arbeiten ist oft vom Arbeitge- ber gewollt. Hierin liegt für die Mitbestim- mungsseite eine große Chance“, so Lena Oerder. Von Dirk Schäfer

Dokumentation der Fachtagung „Fach­ gespräch Arbeitsrecht 2017“ (mit PDFs Lena Oerder, Andreas Priebe, Eva-Maria Stoppkotte, Nadine Absenger, Peter Voigt, Christopher Koll (v.l.) der Vorträge): bit.ly/arbeitsrecht-2017

46 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 aus der stiftung

böckler-Tagung „Wir müssen uns einmischen“

AUTOZULIEFERER Durch die Mobilitätswende wird in der Branche bald nichts mehr so sein, wie es war. Doch nur die wenigsten Unternehmen haben das schon verstanden, monieren IG-Metaller auf der Automobilzuliefererkonferenz. Foto: IG Metall Foto:

IAQ-Wissenschaftler Haipeter, IG-Metall-Bezirksleiter Köhlinger, VDA-Geschäftsführer Bräunig, Mann+Hummel-Vorstand Weber (v.l.) mit Moderatorin

assandrarufe werden nirgendwo gern Betriebe einfordern, mahnte der IG-Metall- lisieren, Zukunftskonzepte einfordern und gehört. Auch nicht in der Automobil- Vorsitzende Jörg Hofmann – siehe auch In- die Konfliktfähigkeit erhöhen“, sagte Jörg K zuliefererbranche. Die Auftragsbücher terview, Seite 16. Er sieht rund 80 000 Jobs in Köhlinger, Bezirksleiter der IG Metall Mitte. sind voll, der Laden brummt. Da fällt es der Branche auf der Kippe. Politik und Betrie- „Neue politische Kooperationen schmieden, schwer, auf Mahner zu hören, die voraussagen, be seien aufgefordert, mit aktiver Arbeits- den europäischen Schulterschluss suchen, dass das alte Geschäftsmodell bald nicht mehr marktpolitik und Qualifizierungsangeboten Geschäftsmodelle überprüfen“, sagte Klaus funktionieren wird. Und doch werden jene den Wandel sozial zu gestalten. Die Mitbe- Bräunig, Geschäftsführer des VDA. „Auf Kern- Stimmen immer lauter, die verkünden, dass stimmung sei jetzt auf vielen Ebenen gefragt. kompetenzen fokussieren und sie auf neue der Mix der Veränderungsprozesse durch die Die zweitägige Konferenz bot eine höchst Branchen anwenden“, meinte Alfred Weber, Mobilitätswende, die Digitalisierung und die lebendige Mischung von Fakteninput, Podi- Vorsitzender der Geschäftsführung von bevorstehenden Klima- und Umweltregulie- umsdiskussionen und Arbeitsgruppen. Einen Mann+Hummel. „Qualifizierung stärken“, riet rungen einen nie da gewesenen Strukturwan- Quell von Ideen dafür, auf welche Stärken sich Thomas Haipeter vom IAQ. „Die Vernetzung del in der Branche auslösen wird. Die IG Me- Zuliefererbetriebe in der Transformation von Betriebsräten der OEM und der Zuliefe- tall gehört dazu. konzentrieren sollten, bot eine von der Stif- rer anregen“, meinte Ercan Demir, BR-Vorsit- Aber wie soll man sich neu erfinden, wie tung geförderte neue Studie, die Martin zender Federal Mogul in Burscheid. Beschäftigung und Standorte sichern? Viele Schwarz-Kocher vom IMU-Institut vorstellte. „Ich habe mir vorher die ganze Zeit einen der 230 Betriebsräte und Gewerkschafter, die Das größte Pfund, mit dem die deutschen Kopf gemacht, was man machen kann“, resü- zur Automobilzuliefererkonferenz von Stif- Zulieferer in der internationalen Konkurrenz mierte Hartwig Geisel, GBR-Vorsitzender der tung und IG Metall nach Saarbrücken gekom- wuchern können, seien ihre innovativen Ent- Robert Bosch GmbH. „Hier habe ich viele men waren, machten aus ihrer großen Verun- wicklungen und die Kreativität und Qualität Antworten gefunden.“ Die vielleicht wichtigs- sicherung darüber keinen Hehl. Ihnen kommt ihrer Facharbeiter, sagte er. te: „Wir können den Arbeitgebern unsere die Rolle der Kassandra zu: Sie müssen die Spannendste Frage blieb: Was tun? Auf Zukunft nicht überlassen. Wir müssen uns Warner sein und hartnäckig Konzepte vom zwei Podien gab man Antworten: „Die Betrie- einmischen!“ Arbeitgeber für die Zukunftssicherung ihrer be für die Dynamik der Entwicklung sensibi- Von Carmen Molitor

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 47 Böckler-Projekte Gute Arbeit global

Studie Mitbestimmung in grenzüberschreitenden Zulieferketten und was die Regierung dafür tun könnte, wenn sie wollte.

minimaler Teil der Projekte müsse überhaupt eine Umwelt- und Sozialverträglichkeitsprü- fung ablegen. Dabei fände Mitbestimmung keinerlei Berücksichtigung. Insgesamt be- Foto: Taslima Akhter Taslima Foto: klagt die Studie mangelnde Transparenz bei Finanzierungen, vor allem entlang von Lie- ferketten. Ein weiteres wichtiges Instrument seien die OECD-Leitsätze für multinationale Un- ternehmen, die Mitbestimmung als zentrales Konzept enthalten. Sie können über die im BMWi angesiedelten nationalen Kontaktstel- len umgesetzt werden. Aber auch dies funk- tioniert bislang nicht. „Ihre Freiwilligkeit macht die Leitsätze in der Praxis nahezu wir- kungslos“, schreiben die Autoren. Als weitere Instrumente nennen sie die Außenhandels- Näherinnen in einer Textilfabrik in Bangladesch kammern, die Sozialabteilungen der Botschaf- ten, das UN-Netzwerk für verantwortliches Investieren sowie das Programm für Entwick- b Autos, Toaster oder Fruchtsäfte – fast rung alles tun könnte, wenn sie es mit ‚Gute lungs- und Schwellenländer, develoPPP, des alle Produkte, die wir kaufen können, Arbeit weltweit‘ ernst meinen würde“, fassen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zu- Okommen von weit her. Zumindest ihre die Autoren Christoph Scherrer und Alison sammenarbeit. Einzelteile oder ihre Zutaten. Unter welchen Schultz in ihrem Arbeitspapier zusammen. Der eingangs erwähnte Aktionsplan Bedingungen diese hergestellt werden, wissen Scherrer ist Professor für Globalisierung und könnte diese Instrumente koordinieren und wir meist nicht. Oder wir erfahren es nur, Politik an der Uni Kassel und Mitglied inter- sinnvoll bündeln. Voraussetzung: Arbeits- wenn eine Fabrik explodiert oder eine Obst- nationaler Forschungseinrichtungen. Schultz und Mitbestimmungsrechte würden verbind- plantage brennt und Menschen, die keine studiert Global Political Economy in Kassel. lich festgelegt, so das Fazit. Denn beschäfti- Arbeitsrechte haben, dabei sterben. Die Autoren stellen eine Reihe von exis- gungsfreundliche Normen auf freiwilliger Da diese Schlagzeilen zunehmen, steht tierenden Instrumenten der Außenwirt- Basis haben eine unerfreuliche Nebenwir- auch die Bundesregierung unter Druck. Sie schaftspolitik vor, die zur Förderung von kung: Wer sich daran hält, läuft Gefahr, von hat deshalb das Ziel „Gute Arbeit weltweit“ Arbeitsrechten, insbesondere Mitbestim- anderen Firmen unterboten zu werden. ausgegeben und hierzu Ende 2016 einen Na- mungsrechten, beitragen können. Allen voran Von Michaela Namuth tionalen Aktionsplan (NAP) „Wirtschaft und untersuchen sie die Exportförderung und die Menschenrechte“ beschlossen. Eine aktuelle Außengeschäftsabsicherung des Bundesmi- Studie der Hans-Böckler-Stiftung zum Thema nisteriums für Wirtschaft und Energie Alison Schultz/Christoph Scherrer: Mitbestimmung in Zulieferketten – Mitbestimmung in Zulieferketten kommt (BMWi), für die ein Regelwerk besteht, das Instrumente der deutschen Außenwirtschaft. jedoch zu dem Ergebnis, dass dieser kaum Arbeitsrechte im Ausland gewährleisten soll. Working Paper der Forschungsförderung Instrumente bereit halte, um die postulierten Diese würden im Prüfverfahren faktisch je- der Hans-Böckler-Stiftung, herunterzuladen Ziele zu realisieren. „Was die Bundesregie- doch völlig ignoriert, so die Kritik. Nur ein unter bit.ly/mb-zulieferketten

48 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 aus der stiftung

Zukunftssymposium Mitbestimmung Impulse für Europa

Berufe enthält die Datenbank des vom WSI betreuten Projektes www.lohnspiegel.de, das Transparenz bei Löhnen und Gehältern schafft.

Quelle: www.lohnspiegel.de Foto: Pasquale D’Angiolillo Pasquale Foto: Studienförderung Böckler-Stipendiatin diskutiert mit MdL Roth und MdB Petry (v.l.)

Ausstellung im Hans-Böckler-Haus Welchen Beitrag kann Mitbestimmung leisten, damit Europa wieder Fahrt aufnimmt in eine gute Richtung? Um diese Kernfrage drehte sich das Die fünfte Etage im Düsseldorfer Hans-Böckler-Haus, wo Zukunftssymposium der Hans-Böckler-Stiftung in Kooperation mit der die Kolleginnen und Kollegen der Abteilung Studienförde- Arbeitskammer des Saarlandes. Drei Tage diskutierten die überwiegend rung ihrer Arbeit nachgehen, firmiert seit Kurzem als „Ga- jungen Teilnehmenden Mitte September im saarländischen Friedrichsthal lerie 05“, genauer, seit der Stipendiat Jonas Walter Mitte über die Baustellen im europäischen Haus. Immer im Blick dabei: Was Oktober auf den Fluren die Fotoarbeiten seines Zyklus können die Akteure der Mitbestimmung tun, um ihre Anliegen voranzu- „Kraftwerk“ ausgehängt hat. Die großformatigen Fotos, auf- bringen? So entstanden in drei Arbeitsgruppen Zukunftsentwürfe für ein genommen mit einer klassischen Plattenkamera, erzählen soziales und mitbestimmtes Europa 2030. Eine stärkere soziale Säule, mehr eine bizarre deutsch-deutsche Geschichte: Bei Stendal in europäische Koordinierung zwischen den nationalen Akteuren der Mit- Sachsen-Anhalt leben sieben Männer zwischen gigantischen bestimmung, eine bessere Kontrolle der Einhaltung von EU-Arbeitsstan- Betonruinen. Ihr Job: Seit Jahren zerlegen sie, was zu DDR- dards und eine stärker an Nachhaltigkeit ausgerichtete Unternehmens- Zeiten das größte Atomkraftwerk Deutschlands hat werden kultur waren zentrale Anliegen. In einer Diskussion mit Vertretern der sollen, aber nie ans Netz ging, weil der Bau 1991 eingestellt unterschiedlichen Politikebenen in der EU wurde auch die Initiative wurde. Für seine Dokumentation hat Jonas Walter im Jahr „Europäisches Kollektiv Mitbestimmung“ vorgestellt. Diese Initiative von 2010 mehrere Monate mit den „lonesome Cowboys“, wie Stipendiatinnen und Stipendiaten der Stiftung will über Bildungsarbeit er sie nennt, auf der Baustelle gelebt. Ein Jahr lang werden für eine europäische Mitbestimmung werben. „Denn eines ist klar“, un- die Fotos nun die Wände der „Galerie 05“ schmücken. terstrich Mitveranstalter Norbert Kluge, „Europa – das sind wir!“ Von Michael Stollt www.jlwalter.de

Mehr Informationen und Eindrücke http://bit.ly/2yv3y6q Foto: Uli Baatz Foto:

„Denn eines ist klar: Europa – das sind wir!“

NORBERT KLUGE leitet die Abteilung Mitbestimmungsförderung Jonas Walter, Fotograf und Stipendiat in der Hans-Böckler-Stiftung.

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 49 EINE FRAGE, Mely Kiyak Gefördert Muss man Hassrede Europaweites Recherche- bekämpfen? Netzwerk

Das von der Hans-Böckler- Stiftung mit 125.000 Euro geförderte europäische Re- cherche-Projekt „Investigate

Europe“ nimmt an Fahrt auf. Der Tagesspiegel Fotos: Das Journalistenteam aus acht Ländern hat bereits mehrere Recherche-Ergeb- nisse veröffentlicht. So

Foto: A. Savin/Wikimedia Commons A. Savin/Wikimedia Foto: brachte der Berliner Tages- Elisa Simantke, Harald Schumann spiegel eine große Reporta- Von „Hassrede“ zu sprechen verschleiert das ei- ge über die Aufrüstung der EU-Außengrenze mit milliardenteurer Überwa- gentliche Problem. Nehmen Sie den Talkshow- chungstechnik und die Rolle von Lobbyisten. Zuletzt veröffentlichte die Zeitung auftritt von . Der äußerte, er eine Analyse der Berliner Journalisten Elisa Simantke und Harald Schumann wolle die Integrationsministerin Aydan Özoguz darüber, wie die Prekarisierung der Arbeit in Europa durch gewollte politische in Anatolien „entsorgen“. Er wurde von Frank Entscheidungen herbeigeführt wurde. Schumann und Simantke haben „Inves- Plasberg zwar vermeintlich in die Mangel ge- tigate Europe“ aus der Taufe gehoben. „Die Idee kam uns durch die Wirtschafts- nommen, doch der ritt auf dem Begriff der Ent- krise in den südeuropäischen Ländern und die Rolle der reichen EU-Staaten. sorgung herum, als ginge es um ein sprachästhe- Viele Themen kann man heutzutage nicht mehr allein durch den nationalen tisches Problem. Der Skandal ist nicht, dass Blickwinkel betrachten“, sagt Harald Schumann. „Wir arbeiten als Team und Gauland Frau Özoguz „entsorgen“ will. Der können dank der Förderung unabhängig vom journalistischen Tagesgeschäft Skandal ist der Ort der Entsorgung, nämlich Ana- arbeiten“, so Schumann. Derzeit recherchieren die Reporter über einen echten tolien. Warum Anatolien, wo doch Frau Özoguz Wirtschaftskrimi – mehr kann noch nicht verraten werden. Deutsche ist? Weil sie in den Augen der AfD trotz Staatsbürgerschaft eben nicht Deutsche ist, wes- halb man sie eben einfach nach Anatolien brin- gen kann, wenn sie etwas tut, von dem man findet, dass das nicht in Ordnung sei. WSI Das Problem ist nicht die „entgleisende“ Be- merkung. Wobei „Entgleisen“ sehr niedlich Nadine Absenger jetzt beim DGB klingt. Denn Gauland ist ein Blut-und-Boden- Rassist. Hinter all den Beispielen von „Hate Nadine Absenger, in der Stiftung zuletzt kommis- Speech“ hat man es fast immer mit Rassismus sarische Abteilungsleiterin des WSI, ist zum oder einer anderen Form von Diskriminierung DGB-Bundesvorstand nach Berlin gewechselt. zu tun. Rassismus ist Rassismus und kein Beitrag Seit dem 1. September leitet sie als Nachfolgerin zur Diskussion. Deshalb würde ich die Debatte Karsten Schöne Foto: von Helga Nielebock die Abteilung Recht. Die um „Hassrede“ gerne austauschen gegen eine Juristin, die 1975 in Madgeburg geboren wurde, Debatte um „Diskriminierung“. hat über den Kündigungsschutz und Abferti- gungszahlungen in Österreich promoviert. Sie war seit 2012 Leiterin des Referats für Arbeits- und Sozialrecht am WSI. In Berlin, so sagt sie, Mely Kiyak schreibt politische Kolumnen fur Zeit Online und das Gorki Theater. Am 8. September könne sie „sich noch stärker für die Verbesserung sprach sie vor Altstipendiaten des Netzwerks von Arbeitnehmerrechten und die Gestaltung des Medien über Rede im öffentlichen Raum. Nadine Absenger Rechts einsetzen“.

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WSI/imk Wir – Die Hans-Böckler-Stiftung Ausgezeichnete Rentenstudie

Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung über die

Vorteile des österreichischen Rentensystems ist Uli Baatz Foto: in Wien mit dem Kurt-Rothschild-Preis ausge- zeichnet worden. Florian Blank vom WSI und Rudolf Zwiener vom IMK zeigen zusammen mit der Berliner Wirtschaftswissenschaftlerin Camil- le Logeay und ihren österreichischen Kollegen Erik Türk und Josef Wöss die Vorteile der gesetz- lichen Rente im Nachbarland auf. Die Untersuchung belegt, wie und warum die Rentner in Österreich erheblich besser abge- sichert sind als in Deutschland. „Das Leistungs- niveau ist in Österreich höher. Dahinter steht der gesellschaftliche Konsens, dass man sich die ge- setzliche Alterssicherung bewusst mehr kosten lässt als in Deutschland – ohne dass darunter die Wirtschaftskraft leidet“, sagt Florian Blank. Mit der Studie wurde erstmals das aus deutscher Sicht wenig beachtete Rentensystem des Nachbarlan- des beleuchtet. Foto: Lea Pachta Foto:

Die Chef-Planerin und ihr Chef Preisträger Logeay, Wöss, Blank, (2.–4. v.l.) mit Jury- Mitgliedern Wenn IMK-Direktor Gustav Horn seine zahlreichen Termine koordinieren muss oder für ein Statement von Medien angefragt wird, kommt Hatice Karaca ins Der Kurt-Rothschild-Preis, der an den österrei- Spiel. Sie organisiert seit 2010 sein Büro: „Jeder, der zu Gustav Horn möchte, muss chischen Wirtschaftswissenschaftler und Keynes- über mich gehen“, erzählt sie augenzwinkernd. Damit das reibungslos funktioniert, Schüler Kurt Rothschild erinnert, wird vom wird die komplette Bandbreite an Kommunikationsmitteln genutzt. Weil der Karl-Renner-Institut der österreichischen Sozial- Ökonom viel auf Reisen ist und häufig auch im Berliner Büro der Stiftung arbei- demokraten und der SPÖ-Parlamentsfraktion tet, ist ihre Planung unverzichtbar: „Sie sorgt dafür, dass ich zum richtigen Zeit- getragen und jährlich vergeben. Mit dem Preis punkt mit den richtigen Unterlagen am richtigen Ort bin“, sagt Horn. Hatice werden herausragende wissenschaftliche Leis- Karaca ist seit der Gründung des IMK im Jahr 2005 dabei: „Ich bin sehr gerne tungen ausgezeichnet, die sich an die breite Öf- Sekretärin. Ich mag es, zu organisieren und dabei immer den Terminkalender im fentlichkeit richten. Das deutsch-österreichische Blick zu haben.“ Große Freude bereitet ihr es auch, Azubis zu betreuen – und Forscherteam plant weitere Kooperationen. ihnen während ihrer Ausbildung mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

IMK, Sekretariat Wissenschaftlicher Direktor Die Studie ist abrufbar unter Hatice Karaca, Telefon: 02 11/77 78-331, [email protected] http://bit.ly/2hlpVRE

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 51 52 Mitbesti W Von D Kämpfer für Menschenrechte Al den Staat auf Schadenersatz verklagt,weil Schadenersatz auf Staat den ropa befürchten: Mehrere Konzerne haben genau das passiert, was TTIP-Gegner in Eu- können.“nutzen ist Kolumbienkeiten In wie sie die Instrumente und Klagemöglich- zeigen,Gewerkschaften den wollen „Wir Hawkins. Umsetzung“, sagt deren chen überwa- „Wir festgeschrieben. beitsrechte Ar bestimmte Verträgen den in wurden meiden, dass sie Sozialdumping befördern, ver zu Freihandelsabkommen.Um onale undÖlsektor.“etwa zumKohle- Branchen, und Unternehmen zu Daten Informationen über den Arbeitsmarkt und halb versorgen wir die Gewerkschaften mit betreiben“,zu schung Hawkins.„Des- sagt sich dasBüro mit zweiKollegen. gen und kurzen Haaren. Tatsächlich teilt er Au- Blick,blauen freundlichem,direktem mit Australier ein Hawkins, groß“, sagt „Leiter der Forschungsabteilung, das klingt rechts oder wie man Verhandlungen führt. Arbeits- des Grundlagen die hier lernen die Rechtsberatung suchen. Gewerkschafter dungseinrichtung desLandes. (ENS),Sindical cional Bil- wichtigsten der er die Forschungsabteilung der Escuela Na- Anden hinaufzieht. Hier, in Medellín, leitet meer, das sich in der Ferne die Hänge der Hänge die Ferne der in meer,sich das B ildungseinrichtung inKolumbien –der aniel tstipendiaten der tstipendiaten Martin Kaluza, „Wir haben nicht die Mittel, eigene For Zur ENS kommen Männer und Frauen, Hawkins’ Spezialgebiet sind internati- sind Spezialgebiet Hawkins’ mm ung ic as e Fntr schaut, schweift sein Blick über ein Fenster Häuser dem aus tisch Schreib- vom Hawkins Daniel enn H

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erlin –Foto DianaZuleta Okto ber 2017 ber leitetdieForschungsabteilung dergrößten gewerkschaftlichen S tift ung , Medellin - - - - ihre erwarteten Gewinne erzielen können,erzielen Gewinne erwarteten ihre er dafür verantwortlich sei, dass diese nicht der Stiftung mitfinanzierten Kolleg zu glo und promovierte schließlich an einem von dank der Förderung in Kassel einen Master sich bei der Hans-Böckler-Stiftung, machte er bewarb ging, Deutschland nach dium seine damalige Frau 2004 mit einem Stipen- her.JahreAls 16 jetzt ist Kolumbien,das satz verklagt. Schadener auf Staat den Prodeco terfirma Südamerikas betreibt, hat über seine Toch- Steinkohletagebau größten den lumbien Ko in der Glencore,Konzern Schweizer der Auch Slim. Carlos Milliardärs schen mexikani des Mobilfunkunternehmen das Movil, America oder Fenosa Natural darunter der spanische Energiekonzern Gas E scuela Hawkins kam mit 25 aus Sydney nach Sydney aus 25 mit kam Hawkins Daniel Hawkins als N acional S indical inMedellin. S tipendiat

Foto: privatFoto: privat - - - - baler Sozialpolitik. „Einen institutionali- „Einen Sozialpolitik. baler werkschaft afrokolumbianischer Hausange Ge gegründete neu eine klein, sehr sind Landes des Gewerkschaften meisten Die gibt es in Kolumbien nicht“, sagt Hawkins. Deutschland in wie Arbeitskampf sierten auch anderswounterkommen.“ ich kann Erfahrung dieser „Mit Hawkins. sagt forschen“, zu international dern tig, nicht nur Arbeit vor Ort zu leisten, son- der Finanzierung. „Mir war es immer wich- Friedensprozesses aus – und damit ein Teil len Partnern wie dem DGB läuft wegen des Teil der Projekte der ENS mit internationa- Stelle wird von Jahr zu Jahr verlängert. Ein einlässt.“auch aufVerhandlungen nun sich Regierung die dass gezeigt, uns hat Friedensprozess der „DochHawkins. so, dassProteste unterdrücktwurden“, sagt Friedensvertrag mitdenFARC-Rebellen. einen unterschrieb Regierung die chen, kam 2016 den Friedensnobelpreis zugespro be Santos Kolumbien.Präsident in zesses Die ENS sieht sich als Teil des Friedenspro führer und ihre Familien lassen nicht nach.“ Doch die Drohungen gegen Gewerkschafts- zurückgegangen. Morde der Zahl die ist nen Arbeitsvertrag. ei- einmal nicht haben Menschen meisten der. Branchentarifverträge gibt es nicht, die Mitglie 300 einmal nicht hat etwa stellter gen Gewerkschafter“,gen Hawkins. sagt „Zwar „Bislang war es in Kolumbien immer Kolumbien in es war „Bislang Wie geht es mit Hawkins weiter? Seine „Ein großes Problem ist die Gewalt ge

------aus der stiftung

Daniel Hawkins vor einem Wand- bild in der ENS: „Wir sind Teil des Friedensprozesses.“

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 53 events termine, die sie sich merken sollten

Zukunftskonferenz Nicht nur über die Zukunft reden, sie auch gestalten wollen die Hans-Böck-

Foto: Stephan Pramme Foto: ler-Stiftung und die IG Metall Ingol- stadt gemeinsam mit Vertrauensleu- ten und Mitbestimmungsakteuren. Es sollen Handlungsoptionen zur Arbeit- nehmerbeteiligung an den Transfor- mationen in der Arbeitswelt erarbeitet werden. Anregungen liefern Ergebnis- se des Projektes „Vision Standort Ingolstadt 2030 – Digitalisierung und Zukunft der Mitbestimmung“. Veranstaltung am 11. November WSI-Herbstforum in Ingolstadt Jan-Paul Giertz, Hans-Böckler-Stiftung Telefon: 02 11/77 78-185 Thema der Veranstaltung sind in die- sem Jahr die sozialen Rechte in Europa. [email protected] Gewerkschaftsrechte, Tarifautonomie, aber auch soziale Sicherung, Mindest- löhne und Antidiskriminierung sind heute Bestandteile im Wertegerüst Engineering- und IT-Tagung Strategische Personalplanungen westlicher Gesellschaften und in der Die Tagung greift den neuen Begriff der mit Betriebsratsbeteiligung „Plattformökonomie“ auf. Vor allem sol- globalen Wertegemeinschaft. Im inter- Das von der Stiftung ge­förderte Projekt len die Konsequenzen für Beschäftigung nationalen Recht werden sie zuneh- hat einen sozialpartnerschaftlichen und Beschäftigte beleuchtet werden und Managementprozess der strategischen mend verankert. Sie einzufordern und Veränderungen bei betrieblichen Prozes- Personalplanung entwickelt und erprobt. durchzusetzen wird aber gleichzeitig sen. Nicht zuletzt wird der Blick auf die Der Ansatz ist besonders für mittelstän- immer schwieriger. Zudem erfordern Auswirkungen auf die Mitbestimmungs- dische Unternehmen geeignet und wird strukturen gerichtet. die Flexibilisierung von Arbeitsmärk- auf dem Workshop vorgestellt. ten, die Entgrenzung von Arbeit, neue Veranstaltung vom 15. bis 17. November Veranstaltung am 1. Dezember in Berlin Formen der Selbstständigkeit und in Düsseldorf komplexe Zuliefererbeziehungen Katharina Jakoby, Hans-Böckler-Stiftung Jan-Paul Giertz, Hans-Böckler-Stiftung neue Regeln. Telefon: 02 11/77 78-124 Telefon: 02 11/77 78-185 Das Herbstforum will klären, wie [email protected] [email protected] soziale Rechte heute definiert werden müssen, wie sie am wirkungsvollsten umgesetzt werden können und ob die von der EU-Kommission vorgeschla- gene Säule sozialer Rechte sozialpoli- Netzwerk Wissenschaft Prüfung des Jahresabschlusses Altstipendiaten und Altstipendiatinnen Das Seminar für Aufsichtsräte will Hilfe- tischen Fortschritt bedeutet. Mit dabei treffen sich, um sich zu informieren, wie stellung zur Arbeit mit dem Jahres- und ist die griechische Arbeits- und Sozial- sich der Karrierefaktor der Internationa­ Konzernabschluss geben. Im Zentrum ministerin Efi Achtsioglou. lität, etwa mit Blick auf eine Professur, stehen die kritische Analyse und das bestmöglich in individuelle Lebens- und Aufdecken möglicher Unklarheiten. Karriereplanungen integrieren lässt. Veranstaltung vom 7. bis 8. Dezember Veranstaltung vom 29. bis 30. Novem- Veranstaltung vom 24. bis 25. November in Düsseldorf ber in Berlin in Berlin Sebastian Campagna, Eva Jacobs, Hans-Böckler-Stiftung Nadine Raupach, Hans-Böckler-Stiftung Hans-Böckler-Stiftung Telefon: 02 11/77 78 118 Telefon: 02 11/77 78-276 Telefon: 02 11/77 78-170

[email protected] [email protected] [email protected]

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zur sache darüber sollten wir reden

„Sozialer Aufbruch mit Jamaika? Ja. Wenn es Jamaika wird, muss Jamaika das umsetzen.“

Foto: Alexander Paul Englert Alexander Paul Foto: Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann zum Ausgang der Bundestagswahl

ieser Wahlausgang ist erschütternd. Vor gemangelt hat. Hinter dem offenbaren fordert sind, weil Personal fehlt. Sie erzählen, allem für die Arbeitnehmerinnen und Rechtsruck steht nicht der Ruf nach mehr dass sie Politikern geschrieben haben, keine DArbeitnehmer ist das Ergebnis der Bun- Liberalisierung, sondern nach mehr sozialem Antwort bekamen und sie sich von der Politik destagswahl ein denkbar schlechtes. Zusammenhalt und nach Ordnung und Si- alleingelassen fühlen. Mit der FDP sitzt nun eine Partei im Bun- cherheit – Ordnung auf dem Arbeitsmarkt, Zwei Drittel der AfD-Wähler wollten, so destag, die vorab schon angekündigt hat, die Sicherheit, dass dieses wohlhabende Land viele Analysen, vor allem eines: ein Zeichen Interessen von Wenigverdienern zu beschnei- durch Krisen steuern kann. setzen. Dieses Zeichen darf kein weiterer po- den. Als Beispiel sei nur die Absicht genannt, Kann das Jamaika? Bei der möglichen Ko- litischer Rechtsruck sein und noch mehr Li- die Kontrollen bei Mindestlöhnen zu „entbü- alition wird spekuliert, dass die Grünen die beralisierung, sondern es muss ein sozialer rokratisieren“. Mit der AfD ist eine Partei dabei, soziale Rolle, die Verteidigung der Arbeitneh- Aufbruch sein: Die Menschen erwarten um- die rechtspopulistisch, menschenfeindlich, merrechte übernehmen müssen – weil sie die setzbare, konkrete Konzepte statt Kommissi- rassistisch und wirklich nicht arbeitnehmer- soziale Seite für sich reklamieren und weil sie onen für bessere Renten gegen die Altersar- freundlich ist. Die beiden – ehemals – großen bevorzugt mit den Sozialdemokraten koalier- mut. Sie erwarten sichtbare Investitionen in Parteien sind abgewählt worden trotz zum ten. Doch diesem kleinsten Koalitionär die Infrastruktur statt bröckelnde Straßen, und Teil ordentlicher Regierungsarbeit. Der Jubel „soziale Frage“ zu überlassen wäre grund- sie wollen Investitionen in Bildung statt Leh- aus den Lagern der Grünen und Linken über- falsch. Diese Verantwortung tragen alle Par- rer im Massen-Burn-out. tönt, dass auch sie nur minimal zugenommen teien, allen voran die CDU – deren Vorsitzen- Wie können gute Arbeit und ein gelin- haben. Aus all dem soll nun eine Koalition de in der vergangenen Legislatur wiederholt gendes Leben in Zeiten großer Veränderun- gebildet werden, erster Vorstoß: Schwarz, öffentlich Tarifparteien und Tarifbindung gen gestaltet werden? Das muss die kommen- Gelb, Grün – Jamaika. Hier wird bislang nicht lobte und zu fördern versprach. de, stabile Regierung beantworten. Mit gefragt, wie ein Koalitionsvertrag für Millio- Daran muss sie, müssen alle anknüpfen, Jamaika? Ja. Wenn es Jamaika wird, dann muss nen Beschäftigte aussehen müsste, aussehen denn bei jeder Umfrage geht es um unsichere Jamaika das umsetzen. Alle Parteien tragen könnte, sondern nur: Schaffen die das? Hält Perspektiven und fehlende Sicherheit für Ar- soziale Verantwortung. das? Was macht die CSU? beitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Men- Aber es geht um mehr: Die Ansage von schen erzählen, dass sie keine Arbeit finden, , es gehe uns gut, wir machen dass der Lohn nicht reicht, dass Altersarmut Eine Böckler-Studie geht auf „Spurensuche so weiter, ist nicht aufgegangen. Die Abwahl droht, dass sie immer wieder befristet arbei- nach Gründen für rechtspopulistische Orientie- der Großen Koalition zeigt, dass es an einer ten, dass Schulen in einem miesen Zustand rung, auch unter Gewerkschaftsmitgliedern“. konsequenten Umsetzung sozialer Konzepte sind, dass Kitas fehlen, dass Behörden über- Download unter http://bit.ly/2yrMi1P

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 55 gelesen Das gespaltene Land

Armes, reiches Deutschland

UNGLEICHHEIT Alexander Hagelüken beschreibt Deutschland als Land der großen Unterschiede. Er hat eine Idee, wie es wieder gerechter werden kann: Das 21. Jahrhundert soll vom 20. Jahrhundert lernen.

Wer in München arbeitet, muss viel diskutierte Phänomen bringt er zuoberst mit dem massiven nicht weit fahren, um in die Wohn- Abbau sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze in Verbin- gegenden der Reichen zu gelan- dung. „Aus Arbeitsplätzen wurden Jobs“, konstatiert Hagelü- gen. Alexander Hagelüken hat ken, und „aus Sprungbrettern“ in die Mittelschicht „klebrige sich – nach so manchem Kolle- Böden, an denen Menschen feststeckten“. Und an denen, um gen – auf den Weg an den Starn- im Bild zu bleiben, sich massenhaft rechtspopulistische Parolen berger See gemacht, wo Anwesen festsetzen. für bis zu 8,4 Millionen Euro an- Im zweiten, analytischeren Teil wird deutlich, warum sich geboten werden und jeder Ein- gerade Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) bei der Buch- wohner statistisch doppelt so viel vorstellung in Berlin mit dem Autor aufs Podium setzte. Unter Geld ausgeben kann wie der der Überschrift „Umsteuern, um das Land gerechter zu ma- Durchschnittsdeutsche. chen“ – die ganz genau so von stammen könn- Ganz anders dagegen Pirma- te – folgt ein engagiertes Plädoyer für Umverteilung: über eine sens in Rheinland-Pfalz, eine Gemeinde, in der im Schnitt auf Steuerpolitik, die zweckfreie Vergünstigungen abschafft, Ver- jeden Einwohner 8000 Euro Kredite allein für laufende Ver- mögen besteuert, Normalverdienern mehr netto gibt, Schlupf- waltungsausgaben, sogenannte Kassenkredite, kommen und löcher schließt, in Bildung investiert. von der ein örtlicher Pfarrer, 35 Jahre im Amt, sagt: „Hier sind Auch dem „Machtmissbrauch am Arbeitsmarkt“ gehöre alle Probleme der deutschen Gesellschaft zu sehen, nur ver- Einhalt geboten, schreibt Hagelüken, der „schrumpfenden größert.“ Macht der Gewerkschaften etwas entgegengesetzt“. Und so, auch Die beiden Ortsbesuche, bei denen der Autor Bürgermeis- wenn das schrecklich unmodern klingt, appelliert der Autor: ter, Immobilienmakler und Ärzte sowie Familien in ihrem „Um die Ungleichheit im 21. Jahrhundert zu reduzieren, sollte Alltag getroffen hat, machen den Buchtitel fast zwingend: „Das sich die Politik wieder am 20. Jahrhundert orientieren.“ gespaltene Land“ heißt das lesenswerte Buch des leitenden Von Jeannette Goddar, Berlin Wirtschaftsredakteurs der Süddeutschen Zeitung, der Unterti- tel „Wie Ungleichheit unsere Gesellschaft zerstört – und was die Politik ändern muss“. Stark machen es vor allem die Schlaglichter auf das gespal- tene Land im ersten Teil, vor allem weil so fassbar wird, was aus der Trennung von Arm und Reich alles folgt: eine schlech- Alexander Hagelüken: Das gespaltene Land. Wie Ungleichheit unsere Gesellschaft zerstört – und was die Politik ändern tere Gesundheit etwa, die mit einer dramatisch niedrigeren muss. München, Knaur 2017. 240 Seiten, 12,99 Euro Lebenserwartung einhergeht. „Wie lange jemand lebt“, heißt es in frappierender Prägnanz, sei „eine Frage des Geldbeutels“: „Generell sterben Wenigverdiener mit einer dreimal so großen Fazit Wahrscheinlichkeit vor 65, also bevor sie überhaupt den Ru- das BUCH wAR WIE GEMACHT ALS spd- hestand genießen können.“ WAHlkampfhilfe. die diagnose Neben dem Blick nach oben und unten gilt Hagelükens Augenmerk der Mittelschicht und ihrem Verschwinden. Das bleibt AUCH nach der wahl aktuell.

56 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 medien

Vater des modernen Tarifrechts Drei Fragen an Caspar Dohmen

Als Polizeipräsident ließ Hugo Sinzheimer (1875–1945) beschlagnahmte Nahrungs- mittel für kleines Geld an Notleidende verteilen. Als Rechtswissenschaftler und Parlamentarier der Weimarer Republik

begründete er die Koalitionsfreiheit, das Berlin Hoffotografen Foto: Schutzrecht der Gewerkschaften gegen ihre Illegalisierung. Der diese Freiheit garantierende Artikel des Grundgesetzes geht auf ihn zurück. Seither haben Ge- werkschaften und ihr Gegenüber das Recht, die Gesetzgebung mit eigenen, verbindlichen Normen zu ergänzen. Die deutsche Betriebsverfas- sung, die dieses Recht regelt, trägt wesentlich Sinzheimers Hand- Caspar Dohmen, Wirtschaftsjournalist, erzählt die Geschichte des schrift. fairen Handels. Ihn politisch zu verorten fällt so schwer, wie ihn beruflich zu eti- kettieren: War er Sozialist oder Sozialdemokrat, der parlamentarischen oder der Räterepublik zugeneigt, Berufspolitiker oder Universitätspro- Fairtrade gerät immer wieder auch in die Kritik. In Kürze: Taugt fessor, Volkspädagoge, Rechtsanwalt oder Verfassungsrechtler? Die das Modell etwas? Facetten dieses Sohnes aus bürgerlichem, jüdischem, pfälzischem Haus Ja. Es gibt immer Dinge, die man zu Recht kritisieren kann. zeichnet sein Biograf Otto Ernst Kempen wunderbar nach. Entscheidend ist: In dem begrenzten Umfang, in dem der Bis zur Novemberrevolution 1918 konnte jeder in einem Streik faire Handel etwas bewegen kann, glückt es oft, bessere Ar- erkämpfte Lohnabschluss gerichtlich wieder kassiert werden, galt er beitsverhältnisse zu schaffen. Das zeigt, dass es möglich ist, doch als Folge einer unzulässigen Beeinträchtigung der Vertragsfrei- Wirtschaft anders zu betreiben – und macht damit auch heit des Unternehmers. Ausgeblendet war die Existenznot des Arbei- ständig deutlich, wie unfair es im Welthandel zugeht. Das ters, die seiner Vertragsfreiheit enge Grenzen setzt. Sinzheimer hat bleibt natürlich das Hauptproblem. diese soziale Realität ins Bewusstsein der Rechtswissenschaft gehoben. Das von ihm inspirierte kollektive Arbeitsrecht hat dem Arbeits- Meist werden landwirtschaftliche Produkte angeboten: Kaffee, vertrag den Charakter des Herrschaftsvertrags genommen. Sinzhei- Bananen oder Schokolade. Was ist mit der Industrie? mer hat den Tarifvertrag – das macht die Finesse aus – mit dem In Indien beginnt Fairtrade International damit, das Modell bürgerlichen Freiheitsprinzip begründet. Erst durch ihn wird „aus in der Textilindustrie zu etablieren. Dabei sollen in der ge- einem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis ein Rechtsverhältnis“. samten Wertschöpfungskette, von Baumwoll-Bauern bis zu Nachdem die Rätebewegung das Kaiserreich hinweggefegt hat- Näherinnen, existenzsichernde Löhne gezahlt werden. Das te, wurden Sinzheimers Vorschläge geltendes Recht. Für die Nazis wäre ein großer Schritt. Ein Kriterium ist, dass Arbeiter ei- und die Deutschnationalen verkörperte er die „verjudete Republik“. ner Gewerkschaft ihrer Wahl beitreten dürfen – was wie- Hatte er doch in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss derum etwa in China ja gar nicht erlaubt ist. ihr Idol, von Hindenburg, ins Kreuzfeuer genommen. Der umju- belte Volksheld antwortete mit antisemitischer Hetze. Sinzheimer Gibt es deutsche Beteiligte? sah sich zunehmenden Angriffen ausgesetzt. Er verzichtete auf ein Ja, drei junge, kleine Firmen, die 3 Freunde, Brands Fashion, neuerliches Reichstagsmandat, kehrte nach Frankfurt und an die und Melawear heißen. Würden es mehr, könnte auch eine Universität zurück. Dort drangsalierte ihn der NS-Studentenbund Blaupause für das 2014 nach der Brandkatastrophe von Rana so lange, bis ihm nur noch der Weg ins Exil blieb. In seinem hol- Plaza vom Bundesentwicklungsministerium gegründete ländischen Versteck hat er mit seiner Familie überlebt. „Bündnis für nachhaltige Textilien“ entstehen. Dieses Von Peter Kern, Frankfurt schreibt sich zwar auf die Fahnen, über seine Mitglieder die Hälfte des deutschen Textilmarktes abzudecken. Aber es

Otto Ernst Kempen: Hugo Sinzheimer. Architekt des kollektiven geht leider kaum voran. Arbeitsrechts und Verfassungspolitiker. Frankfurt am Main, Die Fragen stellte Jeannette Goddar. Societätsverlag 2017. 176 Seiten, 14,80 Euro

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 57 Europa retten Folgen des Brexits

„Die Euro-Finanzminis- Dass Unternehmen, die stark in Großbritannien en- ter einigten sich (…) nach gagiert sind, vor Herausforderungen stehen, ist nicht monatelangem Hin und neu. Ein Mitbestimmungs-Report beschreibt ökono- Her auf die Freigabe von mische Effekte des Brexits, vor allem für die Chemie-, rund 8,5 Milliarden die Pharma- sowie die Metall- und die Elektroindus- Euro“ für das „überschul- trie. Über weite Strecken stellt er die Import- und dete Griechenland“ – Export­abhängigkeiten vor dem Brexit dar. Der Um- solche Überschriften satzanteil deutscher Branchen in Großbritannien konnte man in den letz- reicht von etwa fünf bis sechs Prozent (Auto- oder ten Jahren viele lesen. Chemiebranche) bis zu 14 oder 17 Prozent (Energie- Das war auch der Tenor und Baugewerbe). Die Autoren warnen Firmen, die der von der deutschen Regierung vertretenen Kri- nach Großbritannien exportieren, vor „teilweise gravierenden Einbußen“, tun sendiagnose, derzufolge die Eurokrise durch „Defi- sich aber mit quantitativen Prognosen schwer. Arbeitnehmervertreter finden in zitsünder“ wie Griechenland verursacht sei. dem Report aber Leitfragen, die hilfreich sein können, um systematisch Infor- Der von dem Sozialwissenschaftler Alexander mationen zu sammeln. Schellinger und dem Juristen Philipp Steinberg he- rausgegebene Sammelband „Die Zukunft der Euro- Henrik Steinhaus/Mandy Guttzeit/Sebastian Wolf: Auswirkungen des Brexits auf zone“ wählt dagegen eine grundsätzlich andere deutsche Unternehmen. Ökonomische Effekte für die Chemie-/Pharma- sowie Perspektive. Er beschreibt die Eurokrise nicht in Metall-/Elektroindustrie. Mitbestimmungsreport Nr. 36. Düsseldorf, 2017. erster Linie als Währungskrise, sondern als Ausdruck 44 Seiten der Krise der europäischen Integration: Die EU kann ihr Wohlstandsversprechen nicht mehr halten, die politische und soziale Divergenz nimmt sowohl in- nerhalb als auch zwischen den Mitgliedstaaten zu. Sie wollen mehr Publikationen aus der Hans-Böckler-Stiftung? Auf der Grundlage dieses Befundes präsentieren Besuchen Sie www.boeckler.de (Veröffentlichungen). Schellinger und Steinberg Vorschläge für die Reform der Eurozone und folgerichtig auch der gesamten EU. Die politische Stoßrichtung der als notwendig erachteten Reformen verdeutlicht Peter Becker von quergelesen der Stiftung Wissenschaft und Politik in seinem Bei- Von Helmut Ortner trag. Grundsätzlich, so schreibt er, gehe es darum, „die europäischen Volkswirtschaften in der Eurozone Noam Chomsky gehört zu den einflussreichsten enger zusammenzuführen“. Intellektuellen der USA. Er ist ein Vielschreiber, ein Eine ausschließlich auf Schuldenabbau und Aufklärer. In seinem neuen Buch widmet er sich dem Haushaltssanierung ausgerichtete Politik treibe die großen Thema unserer Zeit, der Ungleichheit zwi- Eurostaaten wirtschaftlich eher weiter auseinander schen Arm und Reich. Seine exemplarische Veror- und führe zu inakzeptablen sozialen Kosten für brei- tung: Trumps Amerika. Spannend kombiniert er te Bevölkerungskreise, so wie man dies vor allem in Philosophie, Geschichte und Ökonomie zu einer Griechenland bereits besichtigen könne. Wer kom- ernüchternden Melange, die den Niedergang eines petent für eine Zukunft des Euro und der EU in Landes beschreibt. Sein Fazit: Der amerikanische Zeiten ihrer existenziellen Bedrohung streiten will, Traum, der jeden mit sozialem Aufstieg belohnt, der sollte dieses Buch gelesen haben. hart arbeitet, gehört der Vergangenheit an. Es regiert Von Dirk Manten, Köln ein System eklatanter Ungleichheit, von dem nur wenige profitieren, bei dem viele aber draufzahlen. Chomskys Requiem auf die realen Verhältnisse in den USA ist ein Nachgesang von wuchtiger Direktheit. Unbedingt lesenswert. Alexander Schellinger/Philipp Steinberg (Hrsg.): Die Zukunft der Eurozone. Wie wir den Euro retten und Europa zusammenhalten. Bielefeld, transcript Ver- Noam Chomsky: Requiem für den amerikanischen Traum. München, Verlag Antje lag 2016. 222 Seiten, 19,99 Euro Kunstmann. 192 Seiten, 20 Euro

58 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 medien

Das politische Lied Foto: shutterstock Foto:

Nina Hagen: „Unbeschreiblich weiblich“ (1978)

Warum soll ich meine Pflicht als Frau erfüll’n? Für wen? Für die? Für dich? Für mich? Ich hab’ keine Lust, meine Pflicht zu erfüll’n Für dich nicht. Für mich nicht. Ich hab’ keine Pflicht!

Küssen und kotzen

ch war schwanger/Mir ging’s zum Kot- Profimusikern ihr Debütalbum „Nina Hagen aber er bleibt in den ersten drei Monaten straf- zen/Ich wollt’s nicht haben/musste gar Band“ auf. Sie haut dem Publikum eine Musik frei, wenn die Schwangere zur Beratung geht. Inicht erst nach fragen“. So kann 1978 nur um die Ohren, die schrill ist wie sie selbst, eine „Marlene hatte andre Pläne/Simone Beau­ eine über Schwangerschaftsabbrüche singen, Mischung aus Punk, Reggae und Disko-Funk- voir sagt: ‚Gott bewahr!‘/Und vor dem ersten und sie tut das mit vielen Kieksern und reich- Synthesizern. Hagen singt über Rollenkli- Kinderschrei’n/Muss ich mich erst mal selbst lich Ärger in der Stimme. Nina Hagen, in schees, über Sex mit einer Frau auf dem Bahn- befrei’n“, singt Nina Hagen. Ihr geht es nicht Ostberlin geboren und aufgewachsen, hat hofsklo, über das unsägliche Fernsehen – und nur um den Paragrafen, sondern um Aner- schon in der DDR gelernt, sich nicht zu ver- über Abtreibung. kennung der bewussten Entscheidung, keine biegen. Wolf Biermann, mit dem ihre Mutter, Die Debatte über Abtreibung hatte die Kinder zu bekommen: „Augenblicklich fühl DDR-Filmstar Eva-Maria Hagen, einige Jahre Bundesrepublik schon das ganze Jahrzehnt ich mich/unbeschreiblich weiblich“. Nina liiert war, hatte Nina das Gitarrespielen bei- über erhitzt. Schwangerschaftsabbrüche wa- Hagen hat selbst zweimal abgetrieben. In ih- gebracht. Auch als Querdenker wurde er ihr ren verboten. Der Abtreibungsparagraf 218 ren Erinnerungen beschreibt sie das als de- Vorbild. 1976 sollte sie ihm in die Bundesre- stammte noch aus dem 19. Jahrhundert und mütigende Erfahrungen. Sie war damals 15 publik folgen. Doch zunächst wurde sie Be- spiegelte schon lange nicht mehr die Wirk- und 16 Jahre und wurde dazu gedrängt. Die rufsmusikerin und sang Schlager: „Die ‚süße lichkeit wider. Die sozialliberale Regierung Boulevardpresse schlachtete dieses Bekennt- Kleine‘ durfte ihr süßes, kleines Mäulchen unter Willy Brandt nahm sich den Paragrafen nis genüsslich aus. Drei Jahre nach der Veröf- aufreißen, mit dem staatlich geprüften Hin- zusammen mit einer Reihe von Reformen vor. fentlichung von „Unbeschreiblich weiblich“ tern wackeln und in den Pausen von grauen Der Bundestag beschloss, dass Schwanger- bringt Nina Hagen ihre Tochter Cosma Shiva Betriebsfesten, graueren SED- und noch grau- schaftsabbrüche in den ersten drei Monaten zur Welt. Selbstbestimmung heißt ja gerade, enhafteren FDJ-Veranstaltungen den ihr ab- straffrei bleiben, wenn die Schwangere sich dass man die Wahl hat. verlangten geistigen Süßmüll absondern“, zuvor von einem Arzt beraten lässt – das war Von Martin Kaluza, Berlin schreibt sie in ihrer Autobiografie. die von der SPD favorisierte Variante. Der Frisch in den Westen übergesiedelt, fährt Bundesrat kassierte das Gesetz mit seiner Hagen weiter nach London, schließt sich der CDU/CSU-Mehrheit wieder ein. Bis heute ist Das Lied hören/ansehen: Punk-Bewegung an und nimmt dann mit vier der Schwangerschaftsabbruch rechtswidrig, bit.ly/Nina_Hagen

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 59 durchgeklickt

Anleitung zum Widerstand

https://arbeitsunrecht.de

er Webauftritt wird vom gleichnamigen Betroffenen. Sprachlich ist der Internetauftritt Verein aus Köln betrieben und entstand pa- unnötig überdreht. Schlagwörter wie „Lohnraub“, Drallel zu einer Studie der Otto Brenner Stif- „Widerstandstag“, und „skrupellose Profitmaxi- tung über das „Union Busting“ (frei übersetzt: mierer“ sind linken Aktivisten vertraut – fraglich Gewerkschaften plattmachen). Die Studie ist in- ist aber, ob diese Sprache normale Arbeitnehmer zwischen drei Jahre alt, der Verein samt Webseite erreicht, die in prekären Arbeitsverhältnissen le- ist bis heute aktiv. Hinter dem Verein stehen El- ben und gern aktiv werden würden. mar Wigand, Jessica Reisner und der bekannte Technisch ist die Webseite leider uralt. Es Alt-Linke Werner Rügemer. fehlen Bewegtbilder, die Navigation funktioniert Die Webseite dokumentiert Fälle, bei denen nur über eine einfache Menüleiste, das Layout Gewerkschafter und Betriebsräte bekämpft oder macht einen lieblosen Eindruck. Das ist schade, aus Unternehmen herausgedrängt werden. So be- denn inzwischen sind zahlreiche kostenlose schreiben die Macher als aktuelles Beispiel in ei- Homepage-Baukästen auf dem Markt, die einen nem umfangreichen Dossier, wie die schwedische zeitgemäßen Internetauftritt ermöglichen. Modekette H&M – die demnach ihre Mitarbeiter Von Gunnar Hinck, Berlin mit Ketten- und sogenannten Flex-Verträgen be- schäftigt – Betriebsräte herauszuklagen versucht. Dies geschieht teilweise mithilfe von Rechtsan- Fazit waltskanzleien, die sich auf das Kündigen von unliebsamen Mitarbeitern spezialisiert haben. Kämpferische Seite, aber Doch der Verein prangert Missstände nicht nur nicht sehr professionell an, sondern bietet auch Protest-Workshops an und vermittelt Kontakte zwischen Interessierten und aufgebaut

60 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 medien

apps nachgefragt Meine AzubiWelt Hinter dem putzigen Namen verbirgt sich eine Suchma- schine der Agentur für Arbeit für alle Ausbildungsberufe. Die lokale Suche nach offenen Stellen im Wunschjob funk- tioniert einwandfrei. Die Berufe werden kurz vorgestellt, teilweise mit kleinen Filmen. Nutzer können sich mit ihrem patricia erb ist Betriebsrats­ Profil direkt an die Arbeitsagentur wenden. Hilfreich wäre vorsitzende von Boehringer Ingelheim. es, angesichts der Digitalisierung mehr über die unter- Christian von Polentz/transitfoto Foto: schiedlichen Perspektiven der Berufe zu erfahren. Ich klicke auf … Abonniert habe ich …

Kostenlos für Android und iOS … zeit.de und die Internetseite … die Allgemeine Zeitung Bad des Europäischen Hochschul- Kreuznach als E-Paper und verbandes, da ich dort gerade verschiedene Newsletter wie Wedoo an einer Weiterbildung teil- „Arbeitsrecht im Betrieb“ vom Die App der IG Metall Baden-Württemberg richtet sich an nehme. Bund-Verlag. junge Leute, die in Metallberufen arbeiten. Nutzer können Fragen zu ihrer Ausbildung und Branche stellen – Antworten, Ich lese gerade … Abschalten kann ich … die für alle interessant sind, werden veröffentlicht. Aufgelo- ckert wird die App mit Ratespielen. Problematisch ist, dass der Nutzer seinen Arbeitgeber angeben muss, um die App … „Das ganze schrecklich … bei einem Spaziergang am schöne Leben“, die Biografie Bach mit unserem Hund. Beim richtig bedienen zu können. Es wird nicht klar, warum die von Konstantin Wecker, dem Plätschern des Wassers und App diese Daten braucht und was sie damit anstellt. wunderbaren Poeten, Musiker beim Glitzern der Sonne ist und Mitstreiter gegen rechts. vieles nicht mehr so wichtig.

Kostenlos für Android und iOS

interessanter kopf blog-tipp

Die ehemalige Abteilungsleiterin der privat Foto: O-Ton Arbeitsmarkt IG BCE hat in nur drei Jahren Karriere­ Der Blog wird vom Institut für Sozialpolitik und Arbeits- stationen erlebt, für die andere wohl marktforschung der FH Koblenz betrieben. Der Webauftritt, mehr Zeit bräuchten: Erst wurde sie im Jahr 2014 SPD-Generalsekretärin, dann für den der Sozialwissenschaftler Stefan Sell verantwortlich machte Andrea Nahles sie zur beamte- ist, bietet einen fundierten alternativen Blick auf den Ar- ten Staatssekretärin im Arbeitsministe- beitsmarkt und die Statistiken der Arbeitsagentur. So wird rium. Zuständig war sie dort für die die monatliche Arbeitslosenstatistik auseinandergenom- wichtigen Bereiche Arbeitsrecht und Rente. Jetzt zieht sie als direkt men: Die tatsächliche Zahl der Arbeitslosen liegt viel höher gewählte Abgeordnete für Hannover in den Bundestag ein und ge- hört damit zu den 59 SPD-Parlamentariern, die es über die Erststim- als die Zahl derjenigen, die als arbeitslos geführt werden. me in das Parlament geschafft haben. Ihr Posten als Staatssekretärin Über 58-Jährige, denen länger als ein Jahr keine Arbeit mehr hätte vermutlich gewackelt: Politische Beamte werden meistens in angeboten wurde, werden nicht als arbeitslos geführt – und den Ruhestand versetzt, wenn ein Ministerium eine neue Spitze be- ebenso wenig die über 700 000 Empfänger von „Stütze“, die kommt. Yasmin Fahimi ist keine, die sich in den Medien in den Vor- in Weiterbildungsmaßnahmen stecken. Im Blog erscheint dergrund drängelt. Praktisch unbemerkt hatte sie sich in der Hanno- veraner SPD um den nötigen Rückhalt bemüht und sich bei den mindestens einmal pro Woche ein neuer Beitrag. Nützlich parteiinternen Wahlen gegen zwei Mitbewerber durchgesetzt. Im ist die umfangreiche Datenbank zu sämtlichen Statistiken Wahlkampf setzte sie auf das Thema Gesundheitspolitik und trat für der Arbeitsmarktpolitik. eine Bürgerversicherung ein. Bei den Wählern kam das gut an.

www.o-ton-arbeitsmarkt.de www.facebook.com/yasmin.fahimi

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 61 RÄTSEL In den Tagen nach dem 9. November 1989 bilden sich lange Schlangen vor westdeutschen Banken und Sparkassen. Es sind Menschen aus der DDR, die ihr Begrüßungsgeld abholen.

Von Marc von Lüpke

62 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 fundstück

chlange stehen – das kannte man eher aus Rätselfragen dem Arbeiter- und Bauernstaat. Nach dem Welche Farbe hatte der be- SFall der Mauer am 9. November 1989 bilden rühmte Schal des Regierenden sich auch im Westen Menschentrauben, wie vor Bürgermeisters Walter Mom- dieser Berliner Filiale der Commerzbank am 12. per? November. 100 DM Begrüßungsgeld warten dort auf jeden DDR-Bürger – bar auf die Hand. So Am 19. März 1970 besuchte Willy Brandt als erster west- groß ist der Ansturm auf die Kreditinstitute, dass deutscher Regierungschef sie auf Anweisung von Westberlins Regierendem die DDR. In welcher Stadt Bürgermeister Walter Momper auch nachts öff- forderten die Bürger: „Willy nen. Kaum haben die Ostdeutschen das Geld Brandt ans Fenster!“? erhalten, tauschen sie es in westliche Waren um. Kaufhäuser und Supermärkte öffnen vielerorts In welcher Einzelhandelskette auch sonntags, um den Ansturm zu bewältigen. der DDR konnte man nicht mit „Nur noch Kohlköpfe“ hätten die Ostdeutschen Ostmark zahlen? zurückgelassen, unkte noch Jahre später das Nachrichtenmagazin Spiegel. Alle richtigen Einsendungen, Foto: Messerschmidt/ullstein bild Foto: Eingeführt wurde das Begrüßungsgeld für die bis zum 24. November 2017 DDR-Bürger 1970 unter der Regierung Willy bei uns eingehen, nehmen an Brandt. Bei Einreise in die Bundesrepublik er- einer Aus­losung teil. hielten Ostdeutsche sowie Deutschstämmige aus Polen zunächst 30 DM – maximal zweimal im Jahr. Im Jahr 1988 wurde die Summe auf Preise 100 DM erhöht, konnte allerdings nur einmal 1. Preis: Gutschein der Bücher- jährlich in Anspruch genommen werden. Auf- gilde Gutenberg, Wert 100 Euro grund der restriktiven Ausreisepolitik der DDR 2.–4. Preis: Gutschein der war das Begrüßungsgeld lange Zeit ein kleiner Büchergilde Gutenberg, Wert Posten im Bundesetat. Für die Abwicklung waren 50 Euro Auszahlungsstellen bei den Stadt- und Gemein- deverwaltungen zuständig. Schicken Sie uns die Lösung Redaktion Mitbestimmung Bis nach dem Mauerfall Hunderttausende Hans-Böckler-Straße 39 Ostdeutsche die Unterstützungsleistung in An- 40476 Düsseldorf spruch nehmen – auf einmal. Jetzt wird angeord- E-Mail: [email protected] net, dass alle Banken und Sparkassen das Geld Fax: 0211/7778-225 auszahlen. Ein paar Tage nach der Maueröffnung haben sich bereits drei Millionen Menschen das Auflösung der Begrüßungsgeld auszahlen lassen, zum Jahres­ Rätselfragen 4/2017 ende fast jeder der über 16 Millionen DDR-Bürger. Sir Owen Williams Schätzungen zufolge werden rund vier Milliarden 1971 DM ausgezahlt, bis es am 29. Dezember 1989 ein- Clement Atlee gestellt wird. Es kommt bisweilen zum Miss- brauch. Zwar wird jede Auszahlung im Personal- Den 1. Preis hat Luisa Ruser aus ausweis per Stempel vermerkt. Im Massenandrang Bremen gewonnen. Je einen kann allerdings nicht jeder Schalterbeamte genau 50-Euro-Gutschein erhalten hinschauen, ob er nicht manipuliert wurde. Zwei Matthias Appelt aus Berlin, Jahre nach der Wende verurteilt ein Gericht des- Nora Seibert aus Berlin und wegen einen Rentner. Sechsmal hatte er das Be- ­Lothar Treder-Schmidt aus grüßungsgeld erhalten. Luckau.

Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 63 leserforum

dazu geäußert: „Bundestagswahl: die Expertenkommission ‚Arbeit Die Pläne der Parteien zur Mitbe- der Zukunft‘ geleitet. Ein Ge- stimmung aus dem Magazin Mit- spräch über Debatten, Ergebnisse bestimmung! Die Mitbestim- und Aha-Effekte hier in ‚Mitbe- mung geht uns alle an!“ stimmung‘, dem neuen Online- magazin der Hans-Böckler-Stif- tung. Toll gemacht, dieses neue Medium.“ Armes, reiches Deutschland Auch der ver.di-Fachbereich bit.ly/hagelueken-rezension 10 Bezirke Duisburg- und Lin- SZ-Redakteur Alexander Hage- ker Niederrhein ist sehr angetan lüken verweist auf Facebook und meint: „Das ist doch mal eine selbst auf die Rezension seines super Sache! Jetzt kostenlos down- Buches „Das gespaltene Land“: loaden und regelmäßige Informa- „Wie das Magazin der Hans- tionen rund um das Thema der Böckler-Stiftung ‚Das gespaltene ArbeitnehmerInnen(vertretung) Land‘ bespricht #Zukunft #Dei- erhalten.“ Webresonanz neWahl“.

Die Wucht des digitalen Diese Gewerkschafter Wandels wollen in den Bundestag bit.ly/wucht-digitaler-wandel bit.ly/gewerkschafter-bundestag2 Susanne Pöchacker meint dazu: Nicole Specker macht auf ihrer „Interessanter Artikel – Digitali- Facebook-Seite Werbung für den sierung agil und partizipativ ein- Immobilienkonzern Bundestagswahl: Die Pläne Artikel, in welchem auch über sie führen.“ Deutsche Wohnen verbreitet der Parteien zur Mitbestim- selbst geschrieben wird: „Kleine Angstkultur mung Lektüre fürs Wochenende gefäl- bit.ly/deutsche-wohnen bit.ly/btw-plaene-parteien lig? Gewerkschafter in den Bun- Mario Dziedzinski schreibt auf Thomas Spychala hat zu diesem destag. – Ich bin froh, dass die Warum Deutschland die Facebook über diesen Artikel: Artikel, den Michael Bolte und SPD den Schulterschluss mit den Sozialcharta blockiert „Ein praktisches Beispiel, weshalb Rainald Thannisch vom DGB Gewerkschaften wieder gesucht bit.ly/deutschland-sozialcharta die Tarifbindung gestärkt werden über die Wahlprogramme der hat. Das ist der richtige Ansatz!“ Claus-Henry Fuchs beschwert muss.“ Parteien verfasst haben, eine kri- sich: „Immer wieder Deutsch- tische Anmerkung: „Das Wahl- land! Deutschland verlangt Ko- programm der Linken, analysiert operation, bietet aber keine Ko- von der gewerkschaftsnahen operation.“ So stressig ist die Arbeit Hans-Böckler-Stiftung im -Auf Unsere Bildungsreise mit der Polizei trag des DGB. Was mir auffällt – der Kommission „Arbeit der bit.ly/stress-polizei ein Schelm, der Böses dabei Zukunft“ Die Facebook-Seite der GdP Bun- denkt: dass der DGB die SPD und bit.ly/arbeitderzukunft-interview despolizei äußert sich kurz und ihr Programm über den grünen Die Facebook-Seite ver.di Essen knapp: „Lesenswert!“ Wenke Klee lobt und bei der Linken qua- nimmt das Interview mit den bei- Kießlich meint hierzu: „Ganz si zu erkennen gibt, dass es schon den Vorsitzenden der Kommissi- einfach (...) mehr Personal und fast zu viel Mitbestimmung ist. on „Arbeit der Zukunft“ zum Und Ihre Meinung? mehr Freizeitausgleich. Familie Für einen Gewerkschaftsverband Anlass, um auch ein grundsätzli- Sie haben sich so richtig und Beruf vereinbaren und mehr finde ich das seltsam.“ ches Lob abzusetzen: „Zwei Jahre geärgert über einen Beitrag oder Anreize schaffen. Und nicht an Auf der Facebook-Seite VKV lang haben der DGB-Vorsitzende fanden eine Reportage ganz toll? der Intelligenz der Bewerber spa- Covestro Standort Leverkusen Reiner Hoffmann und die Sozio- Schreiben Sie uns!

ren!“ der IG BCE wird sich wie folgt logieprofessorin Kerstin Jürgens [email protected]

64 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 vorschau

impressum In der nächsten Ausgabe …

Herausgeber: Hans-Böckler-Stiftung, Mitbestimmungs-, Nr. 6 | Dezember 2017 Forschungs- und Studienförderungswerk des DGB, Hans-Böckler-Straße 39, 40476 Düsseldorf Europa – wie geht Verantwortlicher Geschäftsführer: Michael Guggemos gute Nachbarschaft? Redaktion: Andreas Bullik, Telefon: 0211/77 78-196 Eurokrise, Brexit, autoritäre Regierungen in Osteuropa, Rechtsruck Cornelia Girndt, Telefon: 0211/77 78-149 in Österreich – die EU hat bessere Zeiten gesehen. Grund für uns, die Margarete Hasel (verantwortlich), Telefon: 0211/77 78-192 Kay Meiners, Telefon: 0211/77 78-139 Frage nach der guten Nachbarschaft zu stellen – in der großen Politik wie in der Gewerkschaftsarbeit und der Interessenvertretung vor Ort. Konzeption des Titelthemas: Girndt Wie wird die deutsche Regierung in der Arbeitsmarkt-, der Sozial- und Redaktion dieser Ausgabe: Bullik/Hasel/Meiners Redaktionsassistenz: Astrid Grunewald der Wirtschaftspolitik mit der Regierung Macron in Frankreich zu- Telefon: 0211/77 78-147 sammenarbeiten? Wie stellen sich Firmen auf, die besonders stark vom E-Mail: [email protected] Brexit betroffen sind? Was ist aus den interregionalen Gewerkschafts-

Projektmanagement/Layout/Produktion/Artdirection: räten in den Grenzregionen geworden? Wie kann den bedrängten Signum communication GmbH, Mannheim, Gewerkschaften in Mittel- und Osteuropa geholfen werden? Nicole Ellmann, Roger Münzenmayer, Rina Roki Wir wollen Foren des Austausches vorstellen, die Rückschläge

Titelfotos: Armin Weigel/dpa; Iris vom Stein; BRD/Wikimedia erfahren, aber immer wieder den Weg nach vorne finden. Jenseits des Commons; shutterstock Euro-Pessimismus und der Tendenzen zur Renationalisierung haben wir dabei jede Menge Engagement entdeckt, das dazu beiträgt, den Druck: Offset Company, Wuppertal Verlag: Bund-Verlag GmbH, Postfach, 60424 Frankfurt/Main Kontinent zusammenzuhalten und die Arbeits- und Lebensbedingun- gen in ganz Europa zu verbessern. Anzeigen: Bund-Verlag GmbH, Peter Beuther (verantwortlich) Thorsten Kauf Telefon: 069/79 50 10-602 E-Mail: [email protected]

Abonnentenservice und Bestellungen: Bund-Verlag GmbH Telefon: 069/79 50 10-96 E-Mail: [email protected]

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Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 65 mein arbeitsplatz

Mit vier Kollegen arbeite ich auf und Rettungssanitäter teil. Der Rest, also BURLESON, der Wache Nummer zwei in 25 Prozent, sind sogenannte Firecalls – Ein- Burleson, einer Kleinstadt in der sätze gegen Brände. Das kann sehr gefährlich TEXAS, Nähe von Fort Worth. Zur Feuerwehr kam und belastend sein. Einmal wurden wir bei ich durch einen Nachbarn. Der hatte mich einem Kirchenbrand vom Feuer eingeschlos- 620 MEMORIAL schon als kleinen Jungen am Wochenende sen und erst nach 15 Minuten von anderen zur Wache mitgenommen. Seit dieser Zeit Kollegen aus unserer gefährlichen Lage be- PLAZA stand mein Beruf für mich fest. freit. So etwas vergisst man nicht, und es Ich habe noch vier Kollegen auf der Stati- schweißt zusammen. Manche Ereignisse neh- on. Mit zwei anderen Feuerwachen sind wir men einen sehr mit. Kürzlich mussten wir für eine Gemeinde mit 40 000 Einwohnern einen zwei Jahre alten Jungen aus einem stark zuständig. Wir arbeiten in 24-Stunden-Schich- überhitzten abgeschlossenen Auto bergen, da ten. Dann wohnen, essen und leben wir prak- kam leider jede Hilfe zu spät. tisch zusammen. Ich habe in meinen Kollegen Ich denke oft an frühere Einsätze. Sogar Freunde fürs Leben gefunden, auf die ich die Gerüche, die dazugehören, bleiben in der mich immer verlassen kann. Angestellt bin ich Erinnerung. Angebrannte Bohnen zum Bei- bei der Gemeinde. Ich verdiene 56.000 Dollar spiel, die stinken fürchterlich. In meiner Frei- im Jahr, was nach Steuern 38.000 Dollar be- zeit fahre ich mit meiner Harley Davidson. deutet. Da mir die Arbeit Spaß macht, möch- Ich bin Vizepräsident eines Motorradclubs. te ich so lange arbeiten, wie es geht. Wir machen Charity-Aktionen, um Kollegen Die meisten unserer Einsätze, 75 Prozent, mit posttraumatischen Belastungsstörungen jeff hart, 41, ist Feuerwehrmann im US-Bundesstaat Texas. sind medizinische Notrufe. Um dafür gerüs- zu helfen. Unser Club kümmert sich auch um tet zu sein, nehmen wir an Qualifizierungs- Kinder, die an Krebs leiden oder Brandverlet- Text und Foto: Peter Roggenthin maßnahmen als Notfallmedizintechniker zungen erlitten haben.“

66 Mitbestimmung | nr. 5 | Oktober 2017 Magazin Mitbestimmung. Betriebsrat PLUS Jetzt auch als App!

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