Ackerbürgertum und Stadtwirtschaft

Zu Regionen und Perioden landwirtschaftlich bestimmten Städtewesens im Mittelalter

Vorträge des gleichnamigen Symposiums vom 29. März bis 1. April 2001 in

Herausgegeben von. Kurt-Ulrich Jäschke und Christhard Schrenk

2002 Stadtarchiv Heilbronn 00!~G?c)

KURT ANDERMANN

Ackerbürger in Heilbronn?

Stadtwirtscha/t und Stadtierfassung im Südwesten des mittelalterlichen ~eiches* Professor Dr. VIf Dirlmeier gewidmet

Ackerbürger in Heilbronn? Selbstverständlich Ackerbürger in Heilbronn! - Muss man demnach die aus einem fränkischen Königshof hervorgegangene, im hohen und späten Mittelalter blühende Handels- und Gewerbestadt am Neckar", die der allgemeinen Reichsmatrikel von 1521 zufolge hinsichtlich ihrer finanziellen Leistungskraft um die Wende zur Neuzeit gleichrangig war mit Dinkelsbühl in Schwaben und Soest in Westfalen, die Reichsstädte wie Rothenburg ob der Tau- ber, am Bodensee, Schwäbisch Gmünd, , , Kon- stanz, , am Rhein, im Harz und viele andere mit ihrem Steueraufkommen deutlich übertroffen hat" - muss man dieses ansehnli- che Heilbronn deshalb für eine Ackerbürgerstadt halten? Gemach! Max Weber, der soziologische Evangelist vieler Historiker, hat Acker- bürgerstädte als Orte definiert, »welche als Stätten des Marktverkehrs und Sitz der typischen städtischen Gewerbe sich von dem Durchschnitt der Dörfer weit entfernen, in denen aber eine breite Schicht ansässiger Bürger ihren Bedarf an Nahrungsmitteln eigenwirtschaftlich decken und sogar auch für den Absatz pro- duzieren. Gewiß ist das Normale, daß die Stadteinwohner, je größer die Stadt ist, um so weniger über eine irgendwie im Verhältnis zu ihrem Nahrungsbedarf ste- hende und ihnen vorbehaltene Ackerflur, meist auch: daß sie über keine hinläng- liehe, ihnen vorbehaltene Weide- und Waldnutzung zu verfügen pflegen, in der Art wie ein -Dorf sie besirzr«.' Die nach dieser Definition für eine Stadt charakteristischen Merkmale eines be- sonders ausgeprägten Marktverkehrs und typischer Gewerbe waren im mittelal-

* Mit Nachweisen versehener, nur geringfügig veränderter Text des am 29. März 2001 zur Eröffnung der Tagung »Ackerbürgertum und Stadtwirtschaft« im Heilbronner Schieß- haus gehaltenen Vortrags. Den Damen und Herren des Stadtarchivs Heilbronn danke ich für freundliche Unterstützung bei der Materialbeschaffung. 1 SCHRENK;WECKBACH;SCHLÖSSER,Helibrunna (1998). SCHRENK;WECKBACH,Region und Reich (992). MAURER,Baden Württemberg (1993), S. 148-164 2 Deutsche Reichstagsakten,JR Bd. 2 (1896/1962), S. 424-443 Nr. 56, hier S. 440 J WEBER,Wirtschaft und Gesellschaft (1976), S. 730 f. WEBER,Die Stadt (999), S. 67 f. Identisch mit Studienausgabe (2000), S. 5

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terlichen Heilbronn ganz zweifellos vorhanden. Jedoch hat es - das betrifft den zweiten und in unserem Zusammenhang entscheidenden Teil der Definition - in der Stadt am Neckar eben auch eine breite Schicht von Bürgern gegeben, die ihren Bedarf an Nahrungsmitteln wenigstens teilweise eigenwirtschaftlich ge- deckt und darüber hinaus sogar noch für den Absatz produziert haben, hatte doch Heilbronn von alters her eine sehr ausgedehnte Gemarkung. Einem Plan von 1840 zufolge 4 umfasste diese rund 3150 Hektar" und setzte sich zu etwa drei Prozent aus Gärten, zu 13 Prozent aus Wiesen, zu 28 Prozent aus Äckern, zu zwanzig Prozent aus Weingärten und zu 27 Prozent aus Wald zusammen - alles in allem sind das mehr als neunzig Prozent land- und forstwirtschaftlicher Nutz- fläche. Selbst wenn man diese Zahlen nicht kurzerhand ins späte Mittelalter zurückprojizieren will, darf man doch annehmen, dass bei etwa 5500 bis 6000 Einwohnern" die Relation zwischen der Größe der spätmittelalterlichen Popula- tion einerseits und dem Umfang der land- und forstwirtschaftlichen Nutzfläche andererseits hier nicht viel schlechter war als in manchem Dorf und dass der örtliche Nahrungsbedarf zumindest teilweise aus eigener Kraft gedeckt werden konnte. - Mithin würde das mittelalterliche Heilbronn die von Max Weber ge- nannten Kriterien für eine Klassifizierung als Ackerbürgerstadt sehr wohl erfül- len. Versuchen wir aber, uns dem Phänomen noch von einer anderen Seite zu nä- hern: Einer jüngeren, aus geographischer Sicht formulierten Definition zufolge sind Ackerbürgerstädte »physiognornisch [und] oft auch rechtlich-historisch stadt- ähnliche Siedlungjen von] geringer Zentralität, deren Bewohner überwiegend von der Landwirtschaft (oft vom Gartenbau, Rebbau etc.) leben«.? - Es liegt auf der Hand, dass diese Charakterisierung einer Ackerbürgerstadt auf Heilbronn sehr viel weniger zutrifft als die Max Webers; denn sowohl nach seiner baulichen wie nach seiner rechtlichen und sozialen Physiognomie ist Heilbronn nie bloß stadtähnlich, sondern spätestens seit dem ausgehenden Mittelalter immer ganz zweifelsfrei städtisch gewesen, und bei aller Bedeutung, die der Landwirtschaft im alten Heilbronn ganz offenkundig zugekommen ist, wird niemand ernstlich bestreiten wollen, dass dieser Stadt von alters her eine ausgeprägte Zentralität eigen war",

4 SradcA HN PKR 42; die präzisen Daten lauten: 306 Morgen Bauern-, Gras- und Kraut- gärten, 1338 Morgen Wiesen, 2748 Morgen Äcker, 1946 Morgen Weinberge und 2630 Morgen Waldung. Vg!. auch BAUER,Heidenweg (2000), S. 249-384 ) Beschreibung Heilbronn 2 (1903), S. 1 6 In Anlehnung an KAHL,Beiträge (1948/1994), S. 182 und SCHMOLZ,Heilbronn (1976). Vg!. auch MISTELE,Bevölkerung (1962)

7 TIETZE,Lexikon Geographie 1 (1968), S. 27; vg!. auch FEHN, Ackerbürgerstadt (1977), Sp. 81; BOCKHOLT,Ackerbürgerstädte (987), hier v. a. S. 14-39 8 SCHMOLZ,Heilbronn (976)

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Durch die Verkehrsgunst seiner Lage an einem Neckarübergang sind Heil- bronn schon früh wirtschaftliche Zentralfunktionen zugewachsen, ja die natur- gegebene Zentralität hat bei dem hiesigen Königshof überhaupt erst eine Stadt entstehen lassen": Markt, Münze und Fähre respektive Schiffslände - ein portus! - sind um die Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert bezeugt"; von einer Juden- siedlung, dem untrüglichen Indiz für Handel und vielleicht auch schon Kredit- geschäft, gibt es Zeugnisse bereits seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhundertsli. 1225 erscheint der Ort als opfpJidum12, ein gutes Menschenalter später als civitas, das heißt: nunmehr eindeutig als Stadt". Dazwischen, 1241 im Steuerverzeichnis der Reichsstädte, wird Heilbronn von der Zahlungspflicht freigestellt propter edificium": weil seine finanziellen Kräfte damals durch Baumaßnahmen - ver- mutlich an der Stadtmauer - gebunden waren. Gewissermaßen als Krönung des nach und nach Erreichten begabte König Rudolf die Stadt 1281 mit Speyrer Recht, dazu mit der Befugnis, einen Rat von Zwölfen aus dem Kreis der »Besse- ren« und »Nürzlicheren« zu wählen - duodecim consules, qui de melioribus et utilioribus civi[buJs debent eligi 15. Seit der 1371 durch Kaiser Kar! IV. verfügten Regiments- ordnung bestand der Rat sogar aus 26 Personen und rekrutierte sich je zur Hälfte aus der Bürgerschaft, das heißt aus dem Patriziat, und aus der Gemeinde, womit in diesem Fall die Gesamtheit der Handwerker gemeint ist; Zünfte hat es auf- grund kaiserlicher Entscheidung in der Stadt fortan nicht mehr gegeben"; Ein städtisches Siegel mit der Umschrift + SIGIL[LVM . CIV]ITATIS . HAIL- [BRNNEN - Siegel der Stadt Heilbronn - ist seit 1265 nachzuweisen", ein 18 Bürgermeister seit 1308 • Voraussetzung der hier in groben Zügen skizzierten Verfassungsentwicklung war eine über viele Generationen andauernde Blüte des Wirtschaftsplatzes Heil- bronn. Diese Blüte des örtlichen Handels und Gewerbes wird nicht zuletzt darin

9 Vg!. die einschlägigen Karten im Historischen Atlas von Baden-Württemberg III 3, III 4, Xl u. X 2 10 SCHNEIDER,Codex Hiesaugiensis (1887), S. 41 f. (fo1. 47'). Urkundenbuch Heilbronn 4 (1922), S. 801 f. Nr. 3468 (1146) 11 FRANKE,Juden Heilbronn (1963), S. 21 ff. mit Photo der einschlägigen Inschrift. SAUER, Die jüdischen Gemeinden (1966), S. 95. MAURER,Württemberg (1993), S. 150 12 Württembergisches Urkundenbuch 3 (1871), S. 181-183 Ne. 700; hiernach Regest im Urkundenbuch Heilbronn 1 (1904), S. 3 Nr. 12 13 Württembergisches Urkundenbuch 6 (1894), S. 205 f. Nr. 1811 (1265) 14 MGH Constitutiones, 3, S. 1-5, hier S. 3 1l Württembeegisches Urkundenbuch 8(903), S. 294-296 Nr. 3078 und Urkundenbuch Heilbronn 1 (1904), S. 9-11 Ne. 32, beide mit civitatis. NAGELE,Gerichtsverfassung (1940/1995), S. 23 f. 16 Urkundenbuch Heilbronn 1 (1904), S. 122-125 Ne. 287. NÄGELE,Gerichtsverfassung (1940/1995), S. 25-28 11 Württembergisches Urkundenbuch 6 (1894), S. 205 f. Nr. 1811; vg!. oben vor Fn. 13 18 Urkundenbuch Heilbronn 1 (1904), S. 31 f. Nr. 73; vg!. unten nach Fn. 22

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deutlich, dass zu dem bereits seit dem hohen Mittelalter bestehenden Wochen- markt im späten Mittelalter aufgrund königlicher Privilegierung noch ein drei- wöchiger Michaelis-Markt (1288), dann ein ebenfalls dreiwöchiger Johannis- Markt (1333) und schließlich 1487 ein weiterer, achttägiger Markt nach freier Terminwahl hinzugekommen sind'", Ganz unverkennbar ist demnach Heilbronn von jeher ein ansehnlicher Han- dels- und Gewerbeplatz gewesen, der alle ökonomischen Merkmale einer Stadt aufzuweisen hatte, dazu mit Mauern, Türmen, Rathaus, Kirchen und mehreren Ordensniederlassungen alle physiognomischen Merkmale sowie mit Rat, Bür- germeistern, Patriziat und einer vielfältigen Handwerkerschaft auch alle recht- lich-sozialen. Demzufolge könnte man die Frage, ob Heilbronn eine Ackerbürgerstadt war oder nicht, getrost auf sich beruhen lassen, hätte der Heilbronner Rat am Ende des Mittelalters nicht selbst wiederholt erklärt, man sei »eine arme Baustadt«, die ganz von ihren liegenden Gütern lebe'", Dieser in Schriftsätzen des Rates im ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert mehrfach verwendete Be- griff »Bausradt« besagt freilich nichts anderes als der moderne, im wissenschaft- lichen Diskurs gebräuchliche Begriff »Ackerbürgersradt« - er beschreibt die land- wirtschaftliche Prägung des städtischen Gemeinwesens. Zwar wird man diese Selbsteinschätzung der Heilbronner Regimentsoberen nicht kurzerhand igno- rieren dürfen - umso weniger, als die Landwirtschaft für die Stadt tatsächlich von großer Bedeutung war -, allerdings muss man ihr auch nicht unbesehen Glauben schenken. Denn die hier in Mitleid heischender Absicht zur Schau ge- tragene Bescheidenheit zielte einzig und allein darauf, die vom Kaiser und dem Schwäbischen Bund geforderten Steuern und Kriegskontributionen zu senken. Bezeichnenderweise haben Bürgermeister und Rat der Reichsstadt Heilbronn bei anderen Gelegenheiten, wenn sie nicht fürchten mussten, zur Kasse gebeten zu werden, ein ganz und gar ungetrübtes Selbstbewusstsein herausgekehrt - so etwa mit ihrem stattlichen Rathaus oder einem städtischen Kriegsknecht als Bekrönung der Turmspitze von St. Kilian! Insofern ist man wohl gut beraten, sich hinsichtlich der Stellung Heilbronns im Kreis der Reichsstädte auf die Zah- len der eingangs zitierten Reichsmatrikel zu verlassen, die zwar gleichfalls interprerationsbedürftig, in den Relationen aber doch einigermaßen verlässlich sind. Nein, eine »Ackerbürgersradr« im Sinne der historisch-geographischen De- finitionen ist Heilbronn nie gewesen, aber natürlich hat es in Heilbronn zu allen Zeiten Ackerbürger in großer Zahl gegeben, und das bis auf den heutigen Tag -

19 KAHL, Beiträge (1948/1994), S. 123-133 20 Urkundenbuch Heilbronn 2 (913), S.491 Nr. 1593 b (1491), S. 503 f. Nr. 1612 e (1491) u. S. 571 Ne. 1724 e(1495); ebd. 3(916), S. 331 Nr. 2292 a OS 12). KAHL, Beiträge0948/ 1994), S. 23 u. 181. ScHRENKlWECKBACH/ScHLÖSSER, Helibrunna (998), S. 39

12 Ackerbürger in Heilbronn? man denke allein an die vielen Heilbronner Weingärtner! Noch 1999 hat es im Stadtgebiet, freilich inklusive der inzwischen vorgenommenen Eingemeindun- gen (1970/74), nicht weniger als 265 landwirtschaftliche Betriebe gegeben, dar- unter immerhin 141 Haupterwerbsbetriebe, und nahezu zwei Drittel dieser 265 21 Betriebe waren Weinbaubetriebe • Und eben dem Weinbau - in Verbindung mit dem Weinhandel- ist in Heil- bronn schon immer die allergrößter Bedeutung zugekommen; die Weinwirt- schaft hat der Stadt Jahrhunderte lang ihr ganz eigenes Gepräge gegeben+'. Was Wunder, unter den periodisch wechselnden Bürgermeistern der Reichsstadt auch Weingärtner zu finden". Der Rang, den die Weingewerbe am Ende des Mittel- alters im Gefüge der Heilbronner Wirtschaft eingenommen haben, wird in einer 1514 von Seiten des städtischen Rates erstellten Musterungsliste augenfällig:". Von insgesamt 292 dort aufgeführten Gewerbetreibenden werden allein 87 als Weingärtner bezeichnet, das sind rund dreißig Prozent; und nimmt man noch die 27 Bender als den Weingärtnern besonders eng verbundene Berufsgruppe hinzu, kommt man auf beinahe vierzig Prozent Heilbronner Gewerbetreibende, die ihren Lebensunterhalt unmittelbar oder mittelbar aus der Weinwirtschaft bezogen haben. Keiner anderen Gruppe in der Stadt ist ein den Weingärtnern auch nur annähernd vergleichbares Gewicht zugekommen. Die in dem Aufgebot genannten 36 Krämer machen im Ganzen nur zwölf Prozent aus, die Metzger und Bäcker zusammengenommen acht Prozent, die Schuster und Schneider et- was mehr als acht Prozent, die Schmiede nicht einmal acht Prozent, die Zimmer- leute und Maurer fünf Prozent und die Fischer - immerhin liegt Heilbronn an einem ehedem fischreichen Fluss! - nur knapp drei Prozent. Wie umfangreich der mittelalterliche Bestand an Weinbergen auf der Heil- bronner Stadtgemarkung im Einzelnen gewesen ist, bleibt uns verborgen. Aber daran, dass die Weinberge die hauptsächliche Erwerbsgrundlage der Bürgerschaft dargestellt haben, besteht nach dem Gesagten keinerlei Zweifel. Und verschie- dentlich erfährt man auch, dass die Rebfläche zu Lasten des Ackerlandes immer noch weiter ausgedehnt wurde, so beispielsweise zu Beginn des 16. Jahrhunderts um mehr als zweihundert Morgen, das heißt um rund siebzig Hektar". Die Zehnt- berechtigten - unter ihnen der Kurfürst von der Pfalz" und der Stadtpfarrer Johann Lachmanrr" - haben gegen diese Umwidmung von Ackerflächen heftig

21 Landwirtschaftszählung 1999 (2000), S. 26-29 u. 100 f.

22 KAHL,Beiträge (1948/1994), S. 22-63. SCHMOLZ,Weinbau und Landwirtschaft (1986). SCHMITI,Weinbau (1997), S. 93-121. WESOLY,Handwerk (1997), S. 123-137 23 Vgl. etwa Urkundenbuch Heilbronn 2 (1913), S. 180 Nr. 1205 p (1490) in Verbindung mit ebd. S. 179 Nr. 1205 k (1486) 24 Urkundenbuch Heilbronn 3 (916), S. 392 f. Nr. 2344 b

2) Umrechnung nach HIPPEL,Maß und Gewicht (2000), S. 100 26 Urkundenbuch Heilbronn 2 (1913), S. 250-252 Nr. 1315 (1481 bis 1512) 27 Urkundenbuch Heilbronn 3 (1916), S. 390 Nr. 2336 e (1520)

13 KURTANDERMANN protestiert, weil sie dabei das Nachsehen hatten, denn ihr Zehntanspruch bezog sich allein auf Getreide, nicht aufWein. Allerdings konnten mit einer immer weiter gehenden Reduzierung des Ak- kerlandes auf der Stadtgemarkung auch Bürgermeister und Rat überhaupt nicht einverstanden sein, denn je weniger der städtische Bedarf an Brotgetreide aus eigener Kraft zu decken war, desto prekärer konnte sich in Krisenzeiten die Lage der Stadt entwickeln. Während nämlich die Bürgerschaft bei der Weinproduktion in der Regel kräftige Überschüsse zu erzielen vermochte, war sie zur Deckung ihres Getreidebedarfs allzeit aufZukäufe großen Stils angewiesen, auf den Markt, seine Lieferanten und seine Preise - und das heißt nicht zuletzt: auf den Getreide produzierenden Adel des Umlandes", Das waren Abhängigkeiten, die es mög- lichst gering zu halten galt, und folglich hat der Rat von Zeit zu Zeit die Um- wandlung von Ackerland in Weingärten ausdrücklich verborerr"; dabei ist es sogar vorgekommen, dass frisch gepflanzte Reben zur Strafe wieder ausgehauen werden mussten, um Ackerfeld wiederherzustellen und den Getreideanbau zu befördern". Entsprechende Probleme hat es offenbar in allen Weinbaustädten gegeben". Mochte auch der Weinbau den Getreidebau in Heilbronn bei weitem domi- niert haben, so hat es der Stadt doch mitnichten an gewöhnlicher Landwirtschaft gefehlt. Weil aber der ordinäre Ackerbau und die Viehzucht sehr viel weniger spektakulär sind als die vergleichsweise »vornehrne« Weinproduktion, treten sie hier wie anderwärts in der Überlieferung vergleichsweise wenig hervor. Gleich- wohl findet man, wenn man das Heilbronner Urkundenbuch aufmerksam durch- blättert, eine Vielzahl von Zeugnissen für Landwirtschaft in der Stadt und ihrer Gemarkung, kann man eine Vielzahl von Phänomenen beobachten, wie sie uns aus dem ländlichen Bereich und seinen Rechtsquellen geläufig sind. So geben beispielsweise Ratsverordnungen aus der Mitte des 15. Jahrhun- derts'" der Regelung des so genannten Untergangs breiten Raum, das heißt der Flurbegehung beziehungsweise der amtlichen Besichtigung von Feldern und strit- tigen Ackergrenzen. Neben den eigens zu diesem Zweck bestellten und verei- digten Untergängern oder Feldbesehern", die auch als Feldgericht bezeichnet wurden, gab es in Heilbronn selbstverständlich wie in jedem Dorf Feldschürzen'", das heißt Leute, denen die tägliche Aufsicht über die Feldflur sowie die Rügung

28 KAIIL,Beiträge (1948/1994), S. 180-190. Urkundenbuch Heilbronn 4 (1922), S. 599 f. Nr. 3301 (1530) und S. 662 f. Nr. 3353 (1531) 29 Urkundenbuch Heilbronn 2 (1913), S. 545 Ne. 1681 a (1507) 30 Urkundenbuch Heilbronn 4 (1922), S. 688 Ne. 3385 (1532) 31 Vg!. etwa HAFER,Wimpfen (1993), S. 177 32 Urkundenbuch Heilbronn 2 (913), S. 55-63 Nr. 1087 33 Urkundenbuch Heilbronn 3 (1916), S. 227 Ne. 2150, S. 253-255 Nr. 2182, S. 343 Nr. 2302, S. 406 f. Nr. 2372 e und S. 409-411 Nr. 2376 H Urkundenbuch Heilbronn 3, S. 392 Nr. 2344 und S. 409-411 Nr. 2376

14 Ackerbürger in Heilbronn? allfälliger Feldfrevel oblag. Geregelt hat der Rat darüber hinaus die Nutzung der Allmende, die Pflanzung von Bäumen und die Anlage von Krautgärren. Dass man auf der hiesigen Stadtgemarkung ebenso wie in den fruchtbaren Landschaf- ten der näheren und weiteren Umgebung die Dreifelderwirtschaft gepflegt hat", den jährlichen Wechsel von Winterfeld, Sommerfeld und Brache, versteht sich gleichfalls von selbst. 1461 wurde von der städtischen Obrigkeit eigens eine Verordnung bezüglich des Pflügens der Äcker und der Bestrafung von Unbau, das heißt der Vernachlässigung von Feldern erlassen'". Desgleichen finden sich Verfügungen hinsichtlich der Haltung von Schafen und Kühen", und 1510 musste unter Androhung von fünfzehn Pfennigen Strafe verboten werden, dass jemand eine saw auf der gassen laufen ließ", Wen mag es da noch wundern, dass Bürger- meister und Rat sich zu guter Letzt auch noch mit dem Problem des Mists zu befassen hatten, der innerhalb der Mauern entstanden beziehungsweise ange- sammelt worden ist39; war dieser schon nicht zu vermeiden, so sollte es den Bür- gern doch wenigstens verboten sein, ihre Misthaufen ausgerechnet an den Stra- ßenkreuzungen aufzutürmen". Auf seiner Hof- und Pilgerreise durch Westeuropa hat der böhmische Ritter Leo von Rozmital gegen Ende des Jahres 1465 auch Heilbronn passiert und an- schließend geschwärmt, circa urbem borti sunt pulcbri etprata amoena - die Stadt sei umgeben von schönen Gärten und lieblichen Wiesen41• Und mehr als dreihun- dert Jahre später rühmte noch Goethe: Alles, was man übersieht, ist fruchtbar, das Nächste sind Weinberge, und die Stadt selbst liegt in einer großen grünen Masse von Gürten. Der Anblick erweckt das Gefühl von einem ruhigen, breiten, hinreichenden Genuß", - Sowohl Rozmital wie Goethe schwärmen von den Heilbronner Gärten - das heißt natürlich nicht zuletzt: von den Weingärten -, daneben aber auch von den Wiesen. Von den vielen Äckern, die ebenfalls um die Stadt gelegen waren, spre- chen sie hingegen nicht, aber in der Feststellung, dass alles, was man sehen konnte, fruchtbar war, klingt das Vorhandensein der Äcker eben doch unüberhörbar an. Die Felder bleiben nur deshalb unerwähnt, weil sie im Mittelalter und noch um die Wende vom 18. zum 19.Jahrhundert auch für eine Stadt ganz und gar nichts Ungewöhnliches waren, zumindest nichts, was über das ausdrückliche Lob gro- ßer Fruchtbarkeit hinaus der Rede wert gewesen wäre.

~j Urkundenbuch Heilbronn 3, S. 128 Nr. 2050 e ~6 Urkundenbuch Heilbronn 2 (1913), S. 64-66 Nr. 1089 und S. 19S Nr. 122S 0 ~7 Urkundenbuch Heilbronn 4 (1922), S. 780 Nr. 3436 ~8 Urkundenbuch Heilbronn 3 (1916), S. 281 Nr. 2222 ~9 Urkundenbuch Heilbronn 1 (1904), S. 80 Nr. 175 und S. 151 Nr. 349 40 Urkundenbuch Heilbronn 4 (922), S. 783 Nr. 3442 41 Zitiert nach Beschreibung Heilbronn (1865), S. 194; vgl. Europäische Reiseberichte 1 (994), S. 153-157 42 Zitiert nach KAHL, Beiträge (1948/1994), S. 182

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Äcker und Ackerbürger hat es - wiewohl in sehr unterschiedlichem Maße - in allen alten Städten gegeben'". Nicht von ungefähr sind die meisten Definitio- nen der Ackerbürgerstadt betont relativierend gehalten, sprechen von »überwie- gender« Betätigung der Einwohner in der Landwirtschaft oder in städtischen Gewerben. Und tatsächlich war die Bedeutung, die dem Ackerbau und den Acker- bürgern in Stadtwirtschaft und Stadtverfassung zugekommen ist, von Stadt zu Stadt ganz verschieden - je nach den örtlichen Voraussetzungen und je nach dem da und dort erreichten Entwicklungsstand. So war Heilbronn mit seinem wein- und ackerbauliehen Schwerpunkt unter den mittelalterlichen Städten Südwest- deutschlandst' und weit darüber hinaus in allerbester Gesellschaft. Speziell der Weinbau stellte mitnichten in Heilbronn allein den hauptsächli- chen Erwerbszweig dar, sondern auch und vor allem in , in Stuttgart, Würzburg und Neustadt an der Haardt, darüber hinaus in Überlingen und am Bodensee, in Freiburg im , in Mergentheim, Wert- heim, Deidesheim, Oppenheim am Rhein, und Bingen sowie in vielen anderen Städten". Bedeutenden Ackerbau - nicht selten in Verbindung mit Weinbau - gab es unter anderem in Aschaffenburg, Darmstadt, Ladenburg, Land- , Bruchsal und Waiblingen, aber auch in den freien beziehungsweise Reichs- städten am Rhein, und am Main46• In einer ganzen Reihe bedeutender Städte, bei denen gewiss niemand auf den Gedanken verfiele, sie ernstlich als Ackerbürgerstädte zu qualifizieren, hatte die durch die Bürger ausgeübte Landwirtschaft nachgerade Verfassungsrang, indem es dort - anders als in Heilbronn, wo dergleichen seit 1371 vom Kaiser untersagt war" - eigene Zünfte für Ackerleute gegeben hat. So waren 1331 in Esslingen am Neckar all jene, die das ertricb mit der hant büwent, in einer gemeinsamen Zunft vereinigt, darunter die Weingartleute, die Ackerleute, die Gärtner und andere, die sich die Hände mit Erde schmutzig machten". Spezielle Rebleurezünfte ken-

43 KRAMM,Oberschichten (1968), S. 138. MAXEINER,Ländliches Leben (1979), S. 10.]oHANEK, Landesherrliche Städte (994), S. 9-25 44 SYDOW,Städte Südwesten (987). SCHEUERBRANDT,Südwestdeutsche Stadttypen (972) 41 SCHEUERBRANDT,Südwestdeutsche Stadttypen (972), S. 220 f. u. 404-433. Oberrheini- sche Stadtrechte, Überlingen (1908), S. 52-116 Nr. 22, hier S. 91-94, S. 152 Nr. 38, S. 162-277 Nr. 44, hier S. 243 u. 248-250. ZIMMERMANN,Wertheim (1975). MAXEINER, Ländliches Leben (979), S. 79-99. WEIZMANN,Wertheim und Miltenberg (1979). AN- DERMANN/SCHNABEL(Hg.), Deidesheim (1995) 46 SCHEUERBRANDT,Südwestdeutsche Stadttypen (972), S. 220 u. 404-433.]ÜLCH, Wimpfen (961), S. 96-99. DROLLINGER,Kleine Städte (1968), S. 45-66. MAXEINER,Ländliches Leben (1979). BOHL, Stockach (1987). TREFFEISEN,Breisgaukleinstädte (1991). HAFER, Wimpfen (1993), S. 171-188. WITZEL,Hersfeld (1994). BINGSOHN,Stadt im Territorium (996) 47 Urkundenbuch Heilbronn 1 (904), S. 122-125 Nr. 287 48 Quellen Wirtschafts- und Sozialgeschichte (982), S. 168-172 N r. 37, hier v.a. S. 169

16 Ackerbürger in Heilbronn? nen wir aus Konstanz'? und Freiburg". Im elsässischen gab es 142l so- wohl eine Rebleure- wie eine Ackerleurezunfc": in der diesbezüglichen Satzung 52 heißt es: wer ackerbuwe tribet und den pflug !üret, die geho'rent under die acker/üte • Desgleichen hatte im 15.Jahrhundert Worms eine eigene Zunft der Ackerleure'", und nicht von ungefähr stellt Heinrich Boos in seiner monumentalen -Geschich- re der rheinischen Srädrekulrur- fest, in der Wormser Kernstadt habe es während des Mittelalters selbstverständlich Scheunen und Stallungen gegeben und jeder Bürger habe wenigstens über ein Stück Garten, Acker oder Weinberg verfügt". Aus Speyer, in dessen Dom bekanntlich nicht weniger als acht Kaiser und Köni- ge begraben sind, ist zum Jahr 1327 eine Zunft der ko/henger [Kraurbauern], gertener unde acker/ute überliefert", und Gärtnerzünfte gab es darüber hinaus in (1264/69)56 sowie - nota bene! - in der seit dem hohen Mittelalter so be- deutenden Messestadt Frankfurt am Main (1355)57. Schließlich hatte Ulm im späten 14. Jahrhundert eine Bauleutezunft, in der aber nicht etwa - wie man vielleicht denken könnte - die an dem ehrgeizigen Münsterbau arbeitenden Stein- metzen und Maurer vereinigt waren, sondern ganz einfach die in der Stadt wirt- schaftenden Bauern". Wo Feldbau getrieben wurde, bedurfte es - gleichviel ob die jeweilige Ge- meinde dörflich oder städtisch verfasst war - entsprechender Verordnungen und Polizeimaßnahmen. Wenn die Stadt Mosbach 1398 ein Statut hinsichtlich ihrer Feld- und Waldpolizei erlassen hat59, mag man einwenden, das sei ja ohnehin nur eine landesherrliche Stadt gewesen, und Neuenburg am Rhein hatte seine einstige reichsstädtische Qualität längst verloren, als der Rat dieser vorder- österreichischen Landstadt 1616 einen Eid für den Feldbannwart forrnulierte'". Indes: Die Verhütung respektive Bestrafung von Feldfreveln musste jedem ge- wissenhaften Stadtregiment angelegen sein'"; dementsprechend kennen wir ein- 62 schlägige Ratsverordnungen des späten Mittelalters aus Ulm , Überlingen'",

49 BECHToLD,Zunftbürgerschaft und Patriziat (1981), S. 63-66 50 HARTFELDER,Zunftordnungen Freiburg (1879), S. 4

51 Oberrheinische Stadtrechte, Colmarer Stadtrechte (1938), S. 325 f. u. 337 52 Oberrheinische Stadtrechte, Colmarer Stadtrechte (1938), S. 336 f 53 Quellen Worms 3 (1893), S. 301-305 Nr.46 54 Boos, Städtekultur 3 (1899), S. 72 55 Urkunden Speyer (1885), S. 296 f. Nr. 371 56 Quellen Wirtschafts- und Sozialgeschichte (1982), S. 61-63 Nr. 4 57 Codex Frankfurt (1836), S. 635-650, hier v.a. S. 648 f. Boos, Städtekultur 3 (1899), S. 72. MAXEINER,Ländliches Leben (1979), S. 181-191 58 Das rote Buch Ulm (1905), S. 228 f. Nr. 461 und S. 230 Nr. 463 f. 59 Oberrheinische Stadtrechte, Fränkische Rechte (1895-1922), S. 560-562 60 Oberrheinische Stadtrechte, Neuenburg am Rhein (1913), S. 104-131 Nr. 64, hier S. 122. TREFFEISEN,Breisgaukleinstädte (1991), S. 19-31 und passim 61 Boos, Städtekultur 3 (1899), S. 77 62 Das rote Buch Ulm (1905), S. 144 f. Nr. 261

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Villingen64 und vielen anderen Städten. Die Speyrer Monatsrichterordnung von 1314 sah nicht allein Strafen für Gras-, Frucht- oder Holzdiebstahl vor, sondern ebenso für den Viehdiebstahl sowie für die widerrechtliche Beweidung von frem- den Gütern, Äckern und Wiesen65• Mit der Weide ist ein weiterer Sektor der städtischen Landwirtschaft ange- schnitten, die Viehhaltung. Selbstverständlich verfügte zu diesem Zweck nicht allein das kleine, wahrhaft ackerbürgerliche Hüfingen auf der Baar über eine städtische Allmende'". Auch die Bürgergemeinden Speyers'", Srraßburgs'", Ulms69 und zweifellos aller anderen Städte hatten Allmendgüter respektive Allmend- weiden?", Die stolzen Frankfurter genossen von alters her eine durch Könige und Kaiser wiederholt privilegierte Viehweide in den Reichswaldungen ihrer Nach- barschafc", desgleichen die noch stolzeren Nürnberger in ihrem Umland ". Aber mit der Allmende allein war es ja nicht getan. Wie jedes andere Gewer- be bedurfte auch die Viehwirtschaft - gleich ob es um Pferde, Rinder, Schweine oder Schafe ging - der Reglementierung, und nicht zuletzt bedurfte sie der Hir- ten. Entsprechende Ratsverordnungen, Weidgangsverträge und Eidesformeln sind praktisch allerorten überliefert, beispielsweise aus Engen im Hegau"; aus Villin- gen auf der Baar?", aus Ulmn, Überlingen"; Colrnar", Speyer" und aus vielen anderen Srädren'". Und nicht allein in Heilbronn galt es zu verhindern, dass die Einwohner ihre Schweine und sonstiges Getier allzu unbekümmert durch die

63 Oberrheinische Stadtrechte, Überlingen (1908), S. 1-28 Nr. 1, hier S. 7, und S. 52-116 Nr. 22, hier S. 60 f. 64 Oberrheinische Stadtrechte, Villingen (1905), S. 29-89 Nr. 26, hier S. 58 f. und S. 105- 108 Nr. 36 6' Urkunden Speyer (1885), S. 215-225 Nr. 282 66 Fürstenbergisches Urkundenbuch 6 (1889), S. 408-415 Nr. 251 67 Urkunden Speyer (1885), S. 172 f. Nr. 220

68 Urkundenbuch Srraßburg 7 Bde. (1879-1900), passim (Register) 69 Das rote Buch Ulm (905), S. 205 f. Nr. 398-400 70 Boos, Städtekultur 3 (1899), S. 72-77 71 Codex Frankfurt (1836), S. 462 f., 585 f., 722 u. 741. MAXElNER,Ländliches Leben (1979), S. 182 72 Nürnberger Urkundenbuch (959), S. 512-514 Nr. 868 73 Fürstenbergisches Urkundenbuch 7 (1891), S. 361-382 Nr. 213, hierv.a. S. 379 74 Oberrheinische Stadtrechte, Villingen (905), S. 4-6, Nr. 5, hier S. 5, S. 29-89 Nr. 26, hier S. 60, u. S. 134-159 Nr. 40, hier S. 149 75 Das rote Buch Ulm (1905), S. 229 f. Nr. 462 und passim 76 Oberrheinische Stadtrechte, Überlingen (1908), S. 408-567 Nr. 60, hier S. 484 77 Oberrheinische Stadtrechte, Colmarer Stadtrechte (1938), S. 319 f. u. 328 78 Urkunden Speyer (1885), S. 215-225 Nr. 282 79 Oberrheinische Stadtrechte, Neuenburg am Rhein (1913), S. 41-43 Nr. 31 u. S. 93-96 Nr. 57. DROLLINGER,Kleine Städte (1968), S. 58-63. MAXEINER,Ländliches Leben (1979), S. 125-129. TREFFEISEN,Breisgaukleinstädte (1991)

18 Ackerbürger in Heilbronn?

Gassen trieben, denn solches stand einer Stadt verständlicherweise schlecht zu Gesicht. Nicht von ungefähr wünschte der katholische Kurfürst Kar! Philipp von der Pfalz, als er 1720 aus Zorn über die protestantischen Heidelberger seine Residenz nach Mannheim verlegte, auf den Heidelberger Straßen und Plätzen möchten Gras wachsen und Kühe weiden'". In Berlin bedurfte es im späten 18. Jahrhundert einer königlichen Order, um dem hergebrachten Viehtrieb unter den Linden ein Ende zu setzen". Vieh hat die zumal in einer eng bebauten Stadt besonders lästige Angewohn- heit, Mist zu produzieren, und es nimmt daher nicht wunder, dass wir auch diesbezüglich über eine stattliche Zahl von Quellenzeugnissen verfügen. Dabei muss man sich indes bewusst machen, dass innerstädtische Misthaufen keines- wegs allein eine Folge der intramuralen Viehhaltung waren, sondern zu Zeiten, die Mülleimer und Grüne Tonne nicht kannten, ein Problem der städtischen Entsorgung überhaupr'". Im kleinen Hüfingen bei Donaueschingen war es ver- boten, Misthaufen entlang der Marktstraße anzulegen; wer seinen Mist dort län- ger als vom einen bis zum nächsten Samstag lagerte, wurde bestraft (1452)83. Das nicht viel größere Engen im Hegau wollte innerstädtische mistlegin über- haupt nur dann dulden, wenn diese von alters her zu einem Haus oder einer Scheune gehörten, und wer in der Stadt keine Mistlege hatte, der sollte seinen Unrat auf den bergfüeren in die gruben (1471)84. In Villingen war es untersagt, das nieman dehain misti legen sol zwischent den ringmuren und den glirten vor allen toren8S - schließlich galt es zu vermeiden, dass bei ankommenden Fremden gleich ein schlechter Eindruck entstand. Und nicht zu vergessen die Ratten und sonstiges Ungeziefer, dessen Ausbreitung es in der Stadt und ihrer Umgebung zu verhin- dern galt! Damit die mutmaßlich zahlreichen Misthaufen in Überlingen vor- schriftsmäßig gehalten wurden, bestellte der Rat dieser Reichsstadt eigens einen Mistschauer, dessen Amtseid überliefert isr", Und es dürfte kaum ein Spezifi- kum der königlich bayrischen Kreishauptstadt Speyer gewesen sein, wenn dort noch 1864 um die Mittagszeit auf der Hauptstraße Dung abgeladen wurde". Mist in der Stadt! - Vor mehr als zwanzig Jahren hat Ulf Dirlmeier einen Vortrag über städtische Ver- und Entsorgung im späten Mittelalter mit der »an- rüchigen« Feststellung begonnen, mittelalterliche Stadtluft habe nicht allein frei

80 SCHAAB, Kurpfalz 2 (1992), S. 174 81 SIEDLER,Stadtzentren Berlins (1997), S. 5

82 SYDOW,Versorgung und Entsorgung (1981)

83 Fürstenbergisches Urkundenbuch 6 (1889), S. 408-415 Nr. 251, hier S. 411 84 Fürstenbergisches Urkundenbuch 7 (1891), S. 42-44 Nr. 16

8~ Oberrheinische Stadtrechte, Villingen (1905), S. 29-89, Nr. 26, hier S. 58 86 Oberrheinische Stadtrechte, Überlingen (1908), S. 162-277 Nr. 44, hier S. 214 f.

87 FENSKE, Speyer (1983), S. 205

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gemacht, sondern - mit Verlaub - auch erheblich gestunken'". Wie wahr - und wie ernüchternd für unser hergebrachtes Bild von der Stadt des Mittelalters! Hat man uns diese Städte doch immer als blühende Zentren »der Wirtschaft und neuer Entwicklungen und Verbindungen von Handel und Gewerbe« beschrie- ben, als Motoren der Modernisierung, als »Sauerteig der modernen bürgerlichen Entwicklung und des modernen bürgerlichen Bewusstseins- (Bürgin)", Eini- germaßen bedenkenlos hat man auf die Stadt unsere sämtlichen Ideale bezüglich des sozialen und ökonomischen Fortschritts projiziert, und wie der sonntägliche Gottesdienst im Vaterunser, so kulminiert die bürgerliche Begeisterung für die Stadt in dem Satz: Stadtluft macht frei. Die innovative Kraft der Stadt soll hier gar nicht in Frage gestellt werden. Indes hat die jüngere Forschung viel zur Differenzierung und Entmythologisie- rung hergebrachter Historiengemälde im Stile Gustav Freytags beigetragen?", So haben wir inzwischen gelernt, dass es neben den großen Gewerbe-, Handels- und Messezentren eine Unzahl von kleinen Städten, ja Minderstädten gegeben hac", dass wir neben den mehr oder weniger glanzvollen Reichsstädten auch die schier zahllosen landesherrlichen Städte sehen müssen, Städte mit Privilegien von oft bescheidenem Zuschnitt oder überhaupt ganz ohne Privilegien'". Da wird schließlich auch die angeblich frei machende Stadtluft immer dünner, und gera- de jüngst ist uns eindrucksvoll bescheinigt worden, was wir eigentlich schon lange wissen sollten, dass nämlich die Gleichheit unter den mittelalterlichen Stadtbürgern weit mehr in der Theorie als in der Realität existiert hat?'. Bürger im Vollsinn des Wortes waren in Heilbronn, aber auch in Rotrweil?' und in vielen anderen Städten, allein die Angehörigen des Patriziats; alle übrigen Ein- wohner bildeten schlicht die Gemeinde der Handwerker und Gewerbetreiben- den". In allen größeren Städten des Mittelalters hat es Minisrerialen'", Patrizi-

88 DIRLMEIER,Zuständigkeiten süddeutscher Städte (981), S. 113-150; vg!. auch MAX- EINER,Ländliches Leben (1979), S. 12 und 105 89 BADER;DILCHER,Deutsche Rechtsgeschichte (999), S. 487-496. Vg!. außerdem RÖRIG, Die europäische Stadt (1964). PLANITZ,Stadt im Mittelalter (1973). KEllENBENz,Die europäische Stadt (1971), S. 1165-1188 90 DIESTELKAMP,Beiträge (982). ISENMANN,Stadt (1988), mit reichen Literaturnachweisen. SCHMIDT,Städte (994), S. 29-43 91 STOOB,Minderstädte (1959),S. 1-28. DROWNGER,Kleine Städte (1968).ScHEUERBRANDT, Südwestdeutsche Stadttypen (1972).JOHANEK,Landesherrliche Städte (994). FLACHEN- ECKER;KJESSLING,Städtelandschaften (1999) 92 TREFFEISEN;ANDERMANN,LandesherrlicheStädte (1994).FLACHENECKER;KIESSUNG,Städte- landschaften (999). FLACHENECKERlHEISS/OBERMAJR,Stadt und Hochstift (2000) 93 FRENZ,Gleichheitsdenken (2000) 94 ELBEN,Patriziat (964), S. 5-10 95 Urkundenbuch Heilbronn 1 (1904), S. 122-125 Nr. 287 96 MASCHKE/SYDOw,Stadt und Minisrerialirär(1973)

20 Ackerbürger in Heilbronn? er" und Adlige" gegeben, die zwar keineswegs alle gleich, aber doch alle relativ frei waren; daneben gab es innerhalb der Mauern Mittel-?? und Unterschich- ten 100, mit deren Freiheit es bisweilen gar nicht so weit her war'?', ja sogar Rand- gruppen und Minderheiren'F sowie Armut'?' will man in den Städten entdeckt haben - und schließlich auch noch Ackerbürger'?'! Ackerbürger hat es - wie bereits erwähnt - in allen mittelalterlichen und neuzeitlichen Städten gegeben, aber natürlich war das Gewicht, das der Land- wirtschaft jeweils zugekommen ist, von Stadt zu Stadt ganz unterschiedlich. Im spätmittelalterlichen haben rund 150 Einwohner ihren Lebensunter- halt in der Landwirtschaft verdient, das waren nur etwa anderthalb Prozent der gesamten Einwohnerschafc'?'. In Heilbronn waren, wie wir gehört haben, in der Weinproduktion alles in allem etwa vierzig Prozent der Gemeinde tätig, und nimmt man den übrigen Feldbau noch hinzu, dann wird man vielleicht mit fünfzig oder mehr Prozent an Ackerbürgern rechnen müssen. Die Bewohner der 1689 total zerstörten und von den Folgen der Französischen Revolution ein wei- teres Mal schwer in Mitleidenschaft gezogenen Stadt Speyer hatten noch 1833 ihren Einkommensschwerpunkt fast zur Hälfte in der Landwirtschaft'?'. Freilich sollte man - das gilt für kleine und große Städte gleichermaßen - »diese Land- wirtschaft nicht einfach dem Handwerk gegenüberstellen, eher ist an Mischfor- men zu denken«I07, sowohl an landwirtschaftlichen Haupt-, wie an landwirt- schaftlichen Nebenerwerb'?", Und genau daran lag es, dass in Ulm die Zunft der Bauleute vor Bürgermeister und Rat Klage führen musste, dass in der Stadt viele Leute busbäblid: sitzen und eilich aigen büwe haben, die alle pflegen allerlai sachen zu tun, derentwegen sie nach Recht und Gesetz in die Bauleutezunft gehörten, je- doch verweigerten sie sich der Gemeinschaft in der Zunft, was dieser unweiger-

97 ANDERMANN,Zunft und Patriziat (2001), S. 361-382

98 Der Adel in der Stadt (996). MINDERMANN,Göttingen und Srade (996)

99 MASCHKE;SYOOw, Städtische Mirtelschichten (1967). SCHOCH,Bevölkerung St. Gallen (997), passim 100 MASCHKE;SYOOw,Gesellschaftliche Unterschichten (972). ScHOCH,Bevölkerung St. Gallen (997), passim 101 ScHMITI, Oberamt Alzey (992), S. 77-93. KEITEL,Leibherrschaft (2000), S. 172-181 102 KIRCHGÄSSNER;REUTER,Randgruppen (986).!RSIGLER; LASSOTIA,Außenseiter 0984 und öfter)

103 SCHUBERT,Armut (2001), S. 659-697 104 FLINK,Mär (998), S. 12-32, siehe auch Artikel in diesem Band.

10~ CLASEN,Arm und Reich (984), S. 317 f. u. 322 f. 106 FENSKE,Speyer (1983), S. 211

107 STÖRMER,Städte und Märkte (999), S. 72 lOB Zur Problematisierung vgl, RÖRIG, Territorialwinschaft und Stadtwirtschaft (934), S. 461 f. HOfFMANN,Städte und Märkte (997), S. 268-275. PRÖVE,Ökonomie und Gesell- schaft (997), S. 205 f.

21 KURT ANDERMANN

lieh zum Schaden gereiche'P", Diese Klage hat sich ganz gewiss nicht allein ge- gen die in jeder Stadt übliche Schweine- und Schafhaltung durch Metzger, Mül- ler und Bäcker gerichtet!". Bei weitem nicht alle, die in einer Stadt Ackerbau getrieben haben, waren deshalb auch in der Ackerleutezunft organisiert. Längst ist die Forschung auf dem besten Weg, allzu idealisierende Vorstel- lungen hinsichtlich der Stadt zu revidieren. Dabei darf die Erkenntnis, dass in den Städten des Mittelalters Altes und Neues, Fortschritt und Beharrung sich auf vielerlei Art begegnet sind, eigentlich nicht verwundern. Neben Gewerbe und Handel hatte dort überall auch die Landwirtschaft ihren Platz, da etwas mehr, dort etwas weniger. Nichts ist natürlicher! Idealtypen, wie Max Weber und andere sie uns beschreiben'!', sind Hilfskonstruktionen; ihnen steht die bunte Vielfalt der Wirklichkeit gegenüber, und sie helfen uns, diese Vielfalt ordnend zu erschließen; aber das darf nicht heißen, dass wir uns von den Typen den Blick auf die historische Realität verstellen lassen - dergleichen wäre wohl kaum im Sinne Max Webers. Um ein Phänomen zu beschreiben, wird man selbstverständlich immer des- sen Besonderheiten herausstellen - an der Stadt eben die innovativen Entwick- lungen und Verbindungen von Handel und Gewerbe, die dort ihren Ursprung genommen haben, dazu natürlich den Freiheitsgedanken. Schließlich wäre das Phänomen Stadt schwer zu begreifen, wollte man es mittels der innerhalb der Mauern ganz selbstverständlich angesiedelten Landwirtschaft definieren, denn die Landwirtschaft war nun einmal bis in unsere jüngste Vergangenheit nicht das prägende Charakteristikum der Stadt, sondern des Dorfes!". Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass es zwischen dem Dorf einerseits und der Stadt andererseits zu allen Zeiten ein breites Spektrum von Übergangsformen gegeben hat, und dass wohl manches Dorfüber mehr Zentralität verfügt hat und insofern »städrischer« war als viele privilegierte Städte - Ackerbürgersrädre? Ackerbürger in Heilbronn? Gewiss doch! Und - denkt man nur an den hier wachsenden Wein! - glücklicherweise bis auf den heutigen Tag.

109 Das rote Buch VIm (905), S. 228 f. Nr. 461 110 Das rote Buch VIm(905), S. 120Ne. 214, S. 158-162 Ne. 285-288, S. 168Nr. 294 und S. 169-175 Nr. 298-311 III Vg!. etwa SCHEUERBRANDT,Südwestdeutsche Stadttypen (1972). ISENMANN,Stadt (988), S. 268 f. 112 ZIMMERMANN,Dorf und Stadt (2001)

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