/8 klette c3«rci[)cr 3citttitg WOCHENENDE Sammig/Sonnlag, September I9./20. 1981 Nr. 217 81

Beginn Boulevard, Angeles, legendären Strip prägen Der des Sunset Downtown Los wirkt eher Auf dem Sunset häufen sich die Bildbotschaften der Dichte Autokolonnen und eine ßlmkulissenhafie Architektur das bescheiden. , Musik-, Radio- und Konsumindustrie. Weichbild des Boulevards. Strasse der Sehnsucht Strasse der Träume

Die tausend Gesichter des

Von Peter Figlestahler (Text) und Willy Spiller (Photos)

magische «mystery Eine tour», auf der man tausend ver- gen hat. Sunset Boulevard ist nicht nur eine Strasse, an der sich Anfang, ist nicht zu finden. Menschen sieht man nur wenige. schiedenartige riesige Charaktere und Kulissen kennenlernen könne, Reklametafeln, dichte Autokolonnen und illusionistische Aber es ist historisches Gelände. Die älteste Kirche, an der Ecke einigen Angeles hat vor Jahren die «Los Times» die Fahrt auf Filmkulissen haufen. Auf dieser Strasse spiegeln sich auch all New Height/Macy Street gelegen, weist mit ihrem Namen Nue- längsten einer der und bekanntesten Strassen der kalifornischen die Sehnsüchte und Träume, die für viele Menschen mit dem stra Senora La Reina de Los Angeles auf den spanischen Ur- Grossmetropole, Zeitung sonnigen dem Sunset Boulevard, genannt. Die Leben im Kalifornien verbunden sind. sprung der Stadt hin. Auf der alten Plaza davor wurde Los spielte einzigartige auf die Beschaffenheit dieser Strasse an, die Angeles am 7. September 1781 von vierundvierzig spanischen Angeles Angeles wie kaum eine andere den Namen von Los und seines In Downtown Los macht diese Traumstrasse freilich Siedlern gegründet, die aus Mexiko kamen. In einem Interview Hollywoods, hinausgetra- berühmtesten Stadtteils, in alle Welt eher einen bescheidenen Eindruck. Eine Hausnummer eins, am mit der «Los Angeles Times» erklärte der Pastor der Kirche,

Kreuzung geht Naturschauspiel untergehende An der Sunset/Pacific Coast Highway es nicht mehr weiter. Das erklärt aber, woher die Strasse ihren Namen hat: Sie zielt direkt in die Sonne.

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Die Autokultur Kaliforniens manifestiert sich auf allen Teilstücken des Boulevards. Fussgänger sind auf dem Sunset eher eine Seltenheit.

Reverend Albert Vasquez, einmal, dass die placita einer der wenigen Orte in der Stadt sei, die die Leute noch echt an Mexiko erinnerten. «Sie kommen hier früh zur Messe; später kaufen sie ihr Brot bei La Luz del Dia.» Aber mit dem Platz verbinden sich auch für eine andere ethnische Minderheit Erinnerungen. Die Gegend beherbergte einst, vor dem Bau der mächtigen Union Station, das Viertel der Chinesen: Chinatown. Anfang der dreissiger Jahre musste es dem Bahnhof weichen, und eine nördlich der errichtete neue China City wurde wenig später, 1938, von einer Feuersbrunst zerstört. Nur wenige Gebäude wie der Hung Lee Market, die Kling On Lung Importers und das Restaurant New Lucky blieben erhalten. Aber die emsigen Chinesen gaben nicht auf. Sie zogen ein paar Strassen weiter, gründeten eine neue «community», eine neue Gemeinde, wo in einer eigenen priva- ten Schule chinesische Kinder und Jugendliche noch heute die Sprache ihrer Väter lernen. Sexgewerbe, tange omnipräsent, Verlässt man Chinatown, die alte spanisch-mexikanische Das Auto als Ort und Vehikel der Kommunikation. Das ist heute eher am Abflauen. Plaza, weitere historisch-ethnische Hinweise. stösst man auf beginnt je Rang Musikmetropole Park, Kreuzung begin- Hinter dem Silver Lake District sich das Gesicht des den, ohne New York freilich den als Echo kurz vor der Hollywood kündigt streitig nend, war um die Jahrhundertwende bis in die späten vierziger Sunset Boulevard zu wandeln. sich an. Die Nummer eins machen zu können. Es fehlen ihm dazu ersten tauchen auf, die das nahe Showbusi- Berichterstattung wichtige Jahre das Domizil betuchter europäischer Einwanderer. Sie leg- Reklametafeln auf die nationalen Medien. Die über ness 1911 erfolgt See an, der dem Park den Namen verweisen. An der Ecke Gower Street/Sunset wurde Konzerte und Tourneen nach wie vor in erster Linie in ten hier einen künstlichen gebaut; später lässige gab, umgaben ihn mit flachen Bungalows, heimeligen Schindel- das erste Filmstudio fünf Jahre errichtete hier der Stadt am East und Hudson River. Aber der Lebens- Leinwandepos stil, sonnige dächerhäusern und exotischen Palmenhainen. 1922 versuchte David Wark Griffith für sein monumentales das Klima Kaliforniens hat wie einst zu den Entste- gigantische babylonische Kulisse, hungszeiten veranlasst, Holly- sich der in Los Angeles bekannte Prediger Aimee Semple «Intolerance» eine die er erst der Traumfabriken viele Stars in 1920 Lage abzureissen, es am nötigen Geld Umgebung aufzuschlagen. Mcpherson mit einem monumentalen verschnörkelten Tempel- in der war weil ihm wood und ihr Domizil Entfernung Torbogen, riesigen Säulen, bau ein Denkmal für die Ewigkeit zu setzen. für die der turmhohen künstlichen Elefanten- und Löwenfiguren fehlte. Der Film und Die Veränderung Hollywoods zur Schallplattenmetropole Gegend jedoch weitgehend Heute ist die um den Echo Park seine Kulisse hatten Millionen verschlungen. wird auch an den zahllosen Prunkkarossen der Musikstars Ghetto, verkommen: Slum, bestehend aus halbverfallenen Häu- augenfällig. Auf den Strassen kaum einer anderen Stadt wird gesellschaftlich sern und bewohnt von einer frustrierten Misch- Auch die Ecke Sunset/North weckt filmhi- man derart viele statusträchtige, hochglanzpolierte Rolls-Roy- bevölkerung. Kubaner, Erinnerungen. englischen Minderbemittelte Mexikaner, Puertori- storische In dem flachen, Tudor-Ge- ce- und Mercedes-Benz-Autos finden wie in Hollywood und sei- Filipinos, Supermarkt caner, Südamerikaner, Chinesen und Vietnamesen bäude hinter dem befanden sich in den zehner und nem westlichen Stadtteil West Hollywood. fristen hier zusammen mit schwarzen Amerikanern ein erbärm- zwanziger Jahren die Studios von Charlie Chaplin. Heute ver- liches Dasein. Der «American dream», der amerikanische treibt von hier eine bekannte Schallplattenfirma ihre tönenden Der Sunset Boulevard nähert sich langsam seinem pulsieren- Traum, hat sich für sie nicht erfüllt. Die Enttäuschung hat sich Produkte in alle Welt. Hollywood ist in der letzten Jahren zu den Herzstück, dem Sunset Strip. Er ist die Strasse der Selbst- darstellung, tief in ihre hageren Gesichter eingegraben. einem der wichtigsten Schallplattenzentren in den USA gewor- ja des Exhibitionismus par excellence. Wer «in»

dreissiger elegante Billy Während der sogenannten Champs-Elystes-Periode. Mitte der zwanziger bis Mitte der Jahre, entstanden viele Geschäfte. Die Prunkvilla aus Wilders Film «Sunset Boulevard».

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sein will, muss sich hier zeigen, sei es im Auto, sei es auf einem augenfälligen «billboard» (Riesenplakat) über der Strasse. Der «Strip» hat in den letzten Jahrzehnten diverse Metamor- phosen durchlaufen. Wührend seiner Champs-Elysees-Periode, Mitte der zwanziger bis Mitte der dreissiger Jahre, versuchte er sich beispielsweise in der Rolle einer Promenier- und Flanier- strasse. Um sein eigenes Herzstück, die Sunset Plaza, entstan- den viele elegante Geschulte. Zahllose Restaurants, Bars und Strassencafes buhlten um die Gunst der Schaulustigen, Bumm- ler und Stars. In den spaten fünfziger Jahren kreierte die bekannte Fern- sehserie «77 Sunset Strip» oder «77 Sunset Eighties», wie sie in ihrem Originaltitel hiess, das Image einer aktionsgeladenen Strasse mit heiser krächzenden Detektiven, die hier vermeintli- che Verbrecher und Gangster jagten. Tatsächlich wurde der Sunset Strip Anfang der sechziger Jahre in den Augen vieler Bewohner zeitweilig zu einem Sündenpfuhl. Striptease-Lokale wie das Pink Pussycat, Le Crazy Horse und The Body Shop, die heute alle nicht mehr existieren, öffneten ihre Pforten. Aber die Burleske hielt sich nicht lange. Teils opponierten empörte puri- tanische Gemüter, teils bot das nur dreissig Flugminuten ent- fernte Vergnügungszentrum Las Vegas immer opulentere Floor Shows an. Mitte der sechziger Jahre hielt mit dem Aufkommen der Flower-Power- und Hippie-Bewegung zudem eine neue Bo- heme ihren Einzug am Sunset Strip, die für kommerzialisierten Sex nicht viel empfand. Sie konzentrierte sich statt dessen mehr auf friedfertige Love-ins, weniger harmlose psychedelische Trips und viel Musik. Die Wandlung Hollywoods und des Sun- set Boulevard zum Musik- und Schallplattenzentrum begann. Bekannte Musiklokale wie das «Whisky-Go-go» und das «Roxy» sowie Stars wie Bob Dylan, die Byrds und Jimi Hen- drix legten das Fundament dieser Entwicklung. lieber all die Jahre blieb der Sunset Strip jedoch das, was er von jeher gewesen war: das Zentrum der Hollywood-Agenten. Sie hatten und haben hier ihre Büros, von denen aus sie mit den Stars und Produzenten verhandeln. Der Sunset Strip lag und Maharadscha-Tempel und verspielte Zypressenhaine verleihen der Strasse einen Hauch von Tausendundeiner Nacht.

Las Vegas ist mit augenfälliger Werbung am Sunset vertreten.

liegt zentral zu den in allen Stadtteilen verstreuten Studios. Zu- dem bot und bietet er immense wirtschaftliche Vorteile. Das Strassenstück war seit je «unincorporated county territory», ohne Bindungen zur Stadt Los Angeles und völlig unabhängig von den dort geltenden Verordnungen. Auch weiter westlich, am Ende des Sunset Strip, verliert der Boulevard seine Bezüge zu Hollywood nicht. Die mondäne und pseudomondäne Wohnwelt von Beverly Hills öffnet sich. Traumvilla an Traumvilla reiht sich an die andere, umgeben von Swimming-pools und Palmenhainen. Man fühlt sich in ei- nen der alten Hollywood-Filme versetzt, wie sie einst einem Millionenpublikum den opulenten Lebensstil und Reichtum der Stars vorgaukelten. Der Boulevard windet sich, jetzt kurvenreich, an einem wei- teren Wohnviertel der Film- und Fernsehstars, Bei Air, und am akademischen Gebäude der UCLA, der University of California Los Angeles, vorbei. Kleinere Städtchen folgen; ein riesiger Na- turschutzpark, von dem bekannten Filmschauspieler Will Ro- gers gegründet und nach ihm benannt, liegt rechter Hand;

Das Warten auf öffentliche Verkehrsmittel füllt Sichtautofahrern oft schwer.

Wildnis und Naturschönheiten, wie sie einst den Grossraum Los Angeles kennzeichneten, werden hier zu bewahren ver- sucht. An der Kreuzung Pacific West Highway geht der Sunset Boulevard plötzlich nicht mehr weiter. Aber es wird hier augen- fällig, woher er seinen Namen hat: als Strasse, die direkt dem Sonnenuntergang entgegenführt. Siebzehn Strassenmeilen als Chronologie kalifornischer Kulturgeschichte und Panoptikum einer vielfältigen Bevölkerungsstruktur finden hier ihren Ab- schluss und Höhepunkt wenn man Glück hat und der Pazifik nicht zu viele Dunstwolken aufsteigen lässt in einem abendli- chen Naturschauspiel ohnegleichen. Strasse der Sehnsucht Strasse der Träume: Im Glanz und Glitter des Wassers glaubt man ihre tausend Charaktere und Kulissen noch einmal zu erkennen. Für viele ethnische Minderheiten hat sich der amerikanische Traum, den der Sunset reflektiert, offensichtlich nicht erfüllt.

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Neue Zürcher Zeitung vom 30.10.1976