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Kultur

die sich an Verlosungen von Radiosendern und Zeitungen beteiligen mussten. Der Kampf um die Tickets muss, so be- teuerten Kenner der Londoner Musikwelt, grausam gewesen sein. Sharleen Spiteri, Sängerin der schottischen Band Texas und von zu einem Auftritt erkoren, berichtete in einem Londoner Sender, sie habe nur fünf Karten erhalten – und Dut- zende von Anrufen bekommen von an- geblich uralten Freunden, an die sie sich nicht erinnern konnte: „Ich habe ja gar nicht geahnt, wie beliebt ich bin“, so Spi- teri, „bis bekannt wurde, dass ich ein paar Gäste zum Konzert mitbringen kann.“ Im Innern des Konzerthauses ist die obe- re Etage für Prominente reserviert – oder genauer: für alle, die ein farbiges „VIP“- Bändchen am Handgelenk tragen. Mick Jagger und Sting haben ihre Töchter mit- gebracht, die Oasis-Gebrüder Noel und ihre Freundinnen, einen bestickten neuen Mantel. Spice Girl flaniert neben Kon- kurrentinnen von der Mädchengruppe und Hollywood-Jungs wie Ewan ACTION PRESS ACTION Sängerin Madonna in : Schwarzer Chic statt barocker Pracht

SHOWGESCHÄFT REUTERS Im Net mit Madonna Madonna-Gast Melanie C, Begleiter Huldigung aus der Pop-Champions-League Nach jahrelanger Tournee-Abstinenz präsentierte sich US-Star McGregor. Aber auch Craig, Sieger des Madonna bei einem Clubabend in London britischen „Big Brother“-Wettbewerbs und vor 3000 Auserwählten – und vor Millionen Computernutzern. eine Art Zlatko der Insel, ist da. Nur einer sieht dem hysterischen Trei- er Londoner Stadtteil wur- geln sich um das Gebäude – und wieder ben zumindest äußerlich völlig unbeteiligt de als Kriegsschauplatz berühmt. sind viele von ihnen Pechvögel und Zu- zu. Jarvis Cocker, Sänger der Band Pulp, DBis heute ist rund ein Drittel der kurzgekommene: Menschen, die kein spielt seine Rolle als Bert Brecht der eng- Bewohner des Quartiers im Süden der Ticket bekommen haben und nun Phanta- lischen Popwelt an diesem Abend tadellos Hauptstadt aller Briten farbig, und bis siepreise bis zu 2000 Pfund (rund 6500 und wird immer von mindestens drei Frau- heute leben viele von ihnen an der unte- Mark) bieten für „Europas heißeste Party en umschwärmt, während er viel sagend ren Einkommensgrenze; 1981 haben sich des Jahres“, wie die Londoner Zeitungen dreinschaut und schweigt. die zu Außenseitertum und Arbeitslosig- das Spektakel genannt haben. Unten auf der Bühne aber singt nach keit Verdammten des britischen König- Madonna, der amerikanische Pop-Su- Sharleen Spiteri auch der sonst umjubelte reichs hier eine ebenso historische wie blu- perstar, hat sich zu einem Clubabend an- Schönling Richard Ashcroft gegen die Teil- tige Straßenschlacht mit der Polizei gekündigt – zu einer Gala, bei der angeb- nahmslosigkeit eines allein auf geliefert. lich alles umsonst ist: Die Sängerin selbst Auftritt fiebernden Publikums an. Selbst Auch am Dienstagabend vergangener nimmt, so heißt es, ebenso wenig eine sein Heuler „The Drugs Don’t Work“ Woche herrscht Belagerungszustand in Gage wie die Musikerkollegen, die sie zu lässt das Konversationsgebrüll im Zu- Brixton. Hunderte von Polizisten haben Auftritten im Rahmenprogramm geladen schauerraum nicht verebben. rund um einen ehrwürdig vergammelten hat. Die 3000 Tickets wurden allesamt um- Nein, der Abend gehört Madonna und Theater-Prachtbau mit dem schönen Na- sonst verteilt; unter den Stars des Show- sonst niemandem – und hat, so behaupten men „“ Straßensperren geschäfts, den Wichtigen der Musikindu- die Fachleute, vor allem den Zweck zu errichtet. Tausende von Menschen drän- strie, ein paar Journalisten und vielen Fans, beweisen, dass sie auch nach der Geburt

306 der spiegel 49/2000 ihres zweiten Kindes ihren Spitzenplatz in nicht. In diesem Herbst trägt Ma- der Champions League des Musikgeschäfts donna einfach mal Hut und Stiefel. souverän behauptet. Das ist amerikanisch, es ist einiger- Das Clubkonzert, drei Wochen nach ei- maßen überraschend, und es ist nem ähnlichen Auftritt in New York, ist (wie oft bei Madonna) der Verweis annonciert als Feier ihres neuen Albums auf eine gründlich vergessene und „Music“, der neuen Single „Don’t Tell Me“ diskreditierte Mode. – schon gut – und nebenbei auch als Ju- Cowboystiefel und Westernhut belfest über ihr privates Glück mit Baby waren bis vor ein paar Monaten Rocco und dessen Vater Guy Ritchie, den wohl das Letzte, womit sich junge sie laut jüngsten Gerüchten nun vielleicht Menschen ins Nachtleben gestürzt doch noch in diesem Jahr (am 22. Dezem- hätten – noch dazu, wenn es sich so ber, behauptet die Zeitung „Sun“) auf ei- erkennbar um glitzerigen Desi- nem Schloss in Schottland heiratet. gnerschund handelt, der jedes rea- Noch wichtiger ist der Abend aber als le Pferd zum Wiehern brächte. Zur Demonstration einer hippen Vermark- Londoner Show aber treten schon tungsstrategie – und die muss heutzutage, jede Menge weiblicher Madonna- logisch, das Internet nutzen. Weltexklusiv Fans mit Stiefeln und Hut zum überträgt der Software-Gigant Microsoft Ähnlichkeitswettbewerb an. über sein Network die Show im Internet. Das ganze Westerntalmi, mit

21 Kameras stehen dafür bereit, knapp 100 DPA dem Dolce und Gabbana die Brix- Brixton-Besucher*: Glitzer für den Superstar ton Academy voll gestopft haben, wirkt vor allem – wie billiger Kitsch. likt eines Rock’n’Roll-Größenwahns: zu Die Pferdesättel und Plastikstrohhalme er- teuer und zu langweilig. innern an die Sex- und Pornowelt, wie sie Die Show-Alternative entspricht der TV- die Filme „Boogie Nights“ und „Show- Vermarktung von Boxkämpfen: Der Auf- girls“ zeigten. Weil sie offenbar genau die- tritt selbst findet an einem überschaubaren sen Einfall hatten, lassen die Designer am Ort mit toller Atmosphäre vor wenigen Eingang zum VIP-Balkon ein halbnacktes Auserwählten statt, die zahlenden Massen Paar unter einer mit Glitzer-Reizwäsche sitzen zu Hause im Wohnzimmer. behängten Wäscheleine herumturnen. Zum Testlauf aber dürfen auch die Klar ist das wunderbarer Stoff für Kul- Microsoft-Benutzer umsonst zugucken – turkritiker, die wieder mal über die aktuel- und sehen, als Madonna endlich erscheint, le Vergötterung des Proletenlooks jammern knapp 30 Minuten reines Powerplay. Die können, und natürlich wird es auch ein paar Sängerin wirbelt umher, charmiert ohne Schlaumeier geben, die der 42-jährigen Ma- einen Moment des Verharrens und ein biss- donna ihr neuestes Image als irgendwie chen so, als wolle sie in dieser halben Stun- nicht so cool oder gar lächerlich ankreiden. de zeigen, wie viel Herz, Spielwitz, sozu- Doch der Bühnenstar Madonna fegt all die-

REUTERS sagen künstlerische Unschuld sie für diesen ses Gemäkel mit Würde, Wucht und lässi- All-Saints-Sängerin Natalie Appleton neuen Start angespart hat. ger Bescheidenheit hinweg – indem sie sich Wunderbar durchgeknallte Party Die Bühne – ach was: Das ganze Theater ganz aufs Singen und Tanzen konzentriert. wurde vom italienischen Designerpaar Do- Inszenierte sie früher noch jeden Auftritt als Millionen Mark soll allein die Werbekam- menico Dolce und Stefano Gabbana für fabelhaften Mummenschanz, mal in ba- pagne des Veranstalters Microsoft gekostet rund drei Millionen Mark mit einem Wes- rocker Üppigkeit, mal im lasziven Lack, so haben. tern-Ambiente ausstaffiert. Rundherum sil- zeigt sie nun die reife Sachlichkeit einer Angeblich neun Millionen Computer- berne Glitzerkakteen, Strohballen und Plas- unangreifbaren Diva in schwarzen Jeans nutzer sind an diesem Abend im Net mit tikattrappen skelettierter Rinderschädel. und schwarzen Shirts. Madonna – das gilt als Netz-Weltrekord. Was das wohl zu bedeuten hat? Wer eine So spartanisch wie ihre Garderobe ist Und doch ist es Quatsch zu behaupten, die- Botschaft sucht, soll sich Postkarten schi- das Programm des Kurz-Spektakels, das se Art der Vermarktung sei derzeit effekti- cken lassen – oder sich ein Madonna- den Namen Konzert nicht wirklich ver- ver als eine Fernsehübertragung: Allein bei T-Shirt kaufen. Beim Clubauftritt in New dient; fünf Songs vom neuen Album plus Madonnas „Wetten, dass…?“-Auftritt im York trug sie die Aufschrift „Britney der Klassiker „Holiday“, dann ist der Spaß ZDF sahen Mitte November 12,8 Millionen Spears“ auf der Brust, bei den MTV- vorbei – und doch ist es ein Triumph für Deutsche zu, wie Thomas Gottschalk sich Awards in Stockholm elf Tage später stand Madonnas „echte Arbeit am Unechten“, mit ahnungslosen Fragen blamierte – und da „Kylie Minogue“ zu lesen. Hier ist es die der deutsche Madonna-Bewunderer wie Madonna sich schließlich ziemlich ge- schlicht „Rocco“, der Name ihres vor Diedrich Diederichsen einmal pries. nervt noch während der Sendung in Rich- knapp vier Monaten geborenen Sohns. In Vielleicht ist eben das der Unterschied tung Flughafen verabschiedete. New York flatterte zu Beginn eine ameri- zwischen der Madonna der achtziger und Egal, Microsoft, die ganze New Eco- kanische Flagge himmelwärts, hier gleitet neunziger Jahre und der Madonna des Jah- nomy und natürlich Madonna selbst bele- der Union Jack in die Höhe – und gibt ei- res 2000: Es mag immer noch harte Arbeit gen mit der Netz-Show die Macht des tech- nen alten Ford Pickup frei, der irgendwo in sein, die sie zur ehrgeizigsten, wandlungs- nischen Fortschritts. Und liefern zugleich der Wüste gestrandet ist. fähigsten und für alle musikalischen Neue- ein schönes Exempel dafür, wie Pop-Groß- Hat eigentlich irgendwer kapiert, was es rungen aufgeschlossensten Popkünstlerin ereignisse künftig vor einem Millionen-Pu- auf sich hat mit der Rodeo- und Cowgirl- macht – nur sieht es nicht mehr wie Arbeit blikum stattfinden könnten. Denn spätes- Attitüde, die sich die Verwandlungskünst- aus. Sondern wie eine wunderbar durch- tens seit der mäßig erfolgreichen „Pop lerin Madonna zugelegt hat? Vermutlich geknallte, wunderbar turbulente und wun- Mart“-Tour der irischen Rockband U2 gel- derbar gut gelaunte Party. ten Stadiontourneen als verschnarchtes Re- * Stefano Gabbana, Kylie Minogue, Domenico Dolce. Christoph Dallach, Wolfgang Höbel

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