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Die Hamburger Orgeltagung der GdO von 1965 liegt fast 54 Jahre zurück 1, das ist Grund genug für einen erneuten Besuch der Stadt, zumal die vergangenen Jahrzehnte unzäh- lige kleinere und größere Veränderungen im Hamburger Orgelbestand gebracht haben und 2019 der 300. Todestag des Hamburger Orgelbauers Arp Schnitger begangen wird.
Die Freie und Hansestadt Hamburg kann auf eine vielhundert ährige Orgelgeschichte zurückblicken. Gustav Fock hat darüber grundlegend berichtet in seinem Aufsatz „Hamburgs Anteil am Orgelbau im niederdeutschen Kul- turgebiet“. 2 Nach heutigem Kenntnisstand weist lediglich die französische Hauptstadt Paris eine vergleichbare Orgel- geschichte auf. Wie in Paris gehen früheste Nachrichten über Orgeln in Hamburg bis in das Hochmittelalter zurück. Ebenso bildeten Orgelbau, Orgelspiel und Orgelkomposi- tion in beiden Weltstädten eine Symbiose. Hamburg hatte seit seiner Gründung im 12. Jahrhundert den Status einer Freien Stadt, war also nie einer feudalen Herrschaft unter- stellt, abgesehen von der kurzen Franzosenzeit 1 11 – 1 14. Die weltweiten Handelsbeziehungen förderten in eder Epoche den Austausch neuer Informationen und Erkennt- nisse, was sich auch auf die Orgelkunst auswirkte.
Zwei historische Ereignisse haben Orgelbau und Orgelmusik in amburg in besonderer Weise be ügelt, die Reformation und die von Italien ausgehende musikalische Stilwende um 1600, der Barock. Die lutherische Refor- mation tolerierte zunächst die Beteiligung der Orgel am ottesdienst, im auf des 1 . Jahrhunderts aber auch die allmählich aufkommende Begleitung des Gemeindegesangs durch die Orgel; diese gab dem Orgelbau starken Auftrieb. a rg nga annis a ig Indirekt wirkte auch die calvinistische Reformation, weil r s i n r ri s Org n rin wegen derer Ablehnung der Orgel viele Orgelbauer aus cipal 4′ des Oberwerks. Brabant neue Wirkungsstätten suchen mussten. Dazu zähl- Foto: Orgelbau R. v. Beckerath ten u. a. endrik ieho und Jasper Johannsen. ieho baute bedeutende Orgeln in St. Johannis zu üneburg, in St. Petri zu Hamburg und im Kölner Dom. Schon seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhundert wirkte in Hamburg die Hauptgehäuses. Pedaltürme unterstrichen auch an kleine- Orgelbauerfamilie Scherer, die den Orgelbau in Hamburg ren Orgeln sichtbar die im Barock bedeutsam werdende und darüber hinaus in ganz Norddeutschland – bis nach Funktion der Bassstimme, nicht nur im Generalbass, und Kassel und inden Weser so ma geblich beein usste, wurden so häufig gebaut, dass man solche Orgelprospekte dass man die Orgelbauer Scherer nach dem Zeugnis von „Hamburger Prospekt“ nennt. Praetorius einfach „die Hamburger“ nannte. Die Scherer erweiterten das aus Brabant stammende Prospektmodell Die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts war vom 30- äh- (Rückpositiv in der Balustrade, in der Mittelachse über der rigen Krieg bestimmt, der eine Migrationswelle auslöste. Spielanlage Haupt- und nicht sichtbares Oberwerk) durch Hamburg und das alte Herzogtum Oldenburg unter Graf die Hinzufügung von Pedaltürmen zu beiden Seiten des Anton Günther waren in ener kriegerischen Epoche Inseln des Friedens geblieben, was insbesondere zahlreiche Kunsthandwerker bewog, auf teils abenteuerlichen Wegen dorthin zu ziehen. Auf diese Weise gelangte auch Gott- 1 Vgl. Wolfgang Adelung, ri r i n rna i na Org a fried Fritzsche aus Meißen über Dresden und Wolfenbüttel g ng in a rg […]. In: Ars Organi, 14, 1966, H. 27, S. 925 – 930. nach amburg. Dass er dorthin übersiedelte, ging o enbar Tagungsleiter war Heinz Wunderlich. auf seine Bekanntschaft mit zwei Hamburger Organisten 2 Gustav Fock, a rgs An i a Org a i ni r s n rg i . In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschich- zurück, die Orgeln von ihm geprüft hatten, Jacob Praetorius te, Bd. 3 , 1939, S. 2 9 – 373. d. J. von St. Petri 1621 die Fritzsche-Orgel in St. Katharinen
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AO_01_2019.indb 3 10.03.2019 14:21:21 zu Braunschweig, Heinrich Scheidemann von St. Kathari- nen 1627 die Braunschweiger Fritzsche-Orgel in St. Ulrici. 3 Beide waren miteinander befreundet und von Jan Pieters- zoon Sweelinck in Amsterdam ausgebildet worden. Fritz- sche heiratete in Hamburg übrigens die Witwe des Pastors Johann Rist, die Mutter des Dichters Johann Rist. 4 Den Hamburger Orgelbau nach der ra Scherer bereicherte er durch zahlreiche Neuerungen wie z. B. die Verwendung von Holzpfeifen, doppelte Semitonien, neuartige Zungenregis- ter und das hohe, später unrichtig Scherer-Zimbel genannte Register. Er erweiterte den Werkaufbau um das Brustwerk und steigerte die Drei- zur Viermanualigkeit großer Orgeln, die der venezianischen Mehrchörigkeit vergleichbar ist, und baute es in bereits bestehende große Hamburger Orgeln ein, unter anderem in St. Jacobi, wo er auch die erste in Nord- deutschland bekannte Sesquialtera einbaute.
Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts war durch Erweiterungen der großen Orgeln Hamburgs gekennzeich- net, durch welche der musikalischen Entwicklung Rechnung getragen werden sollte. Joachim Besser aus Braunschweig erweiterte die große Scherer-Orgel in St. Katharinen um a rg a arin n s an r Org zwei 2 edaltürme ab D im rospekt , auf Betreiben 5 Foto aus Ch. Wolff, M. Zepf, Die Orgeln J. S. Bachs. von Jan Adam Reincken , dem Schüler und Nachfolger eipzig 2 , S. 5 . Scheidemanns an dieser Kirche. Reincken zählte neben Reinhard Keiser zu den Begründern der Hamburger Oper am änsemarkt 1 . Sie war das erste ö entliche Opern- haus in Deutschland; Oper war bis zu dieser Zeit aus- mit herausziehbaren Springerleisten. 7 Schnitger hat diese schließlich an Fürstenhöfen gespielt worden. Orgel seines ehrmeisters ollendet, war also mit Springla- den vertraut, ging aber als selbständiger Meister zu Schleif- Das Auftreten Arp Schnitgers war für die Entwick- laden über. Springladen sind im egensatz zu Schlei aden lung des Orgelbaus in Hamburg und Norddeutschland ein- nicht für Durchstecher anfällig. Da edoch Konstruktion schließlich der nördlichen Niederlande von großer Bedeu- und Bau der Springlade gegenüber der Schlei ade auf- tung, denn es markiert den Übergang von der Springlade wändiger sind, wurde schon damals der kostengünstigeren zur Schlei ade. Schnitger wurde 1 in Schmalen eth Schlei ade der orzug gegeben. Dennoch konnte sich die (Kirchspiel Golzwarden) in der oldenburgischen Weser- Springlade 9 bis weit ins 1 . Jahrhundert halten, insbeson- marsch geboren und erlernte das Tischlerhandwerk bei sei- dere im westfälischen Orgelbau mit seinem Hauptvertreter nem Vater. Seine Schulbildung war für einen Handwerker Johann Patroclus Möller. ungewöhnlich, da er auch eine ateinschule besucht hat. Den Orgelbau erlernte er nach der Tischlerlehre bei sei- Damit die Schlei ade gegen Durchstecher gefeit sein nem Vetter Berendt Hueß 6 in Glückstadt. Hueß stammte konnte, bedurfte es bestimmter Maßnahmen. Orgelbauer, aus dem Oldenburgischen und kam aus der westfälischen die zur Verhinderung von Schleifendurchstechern „spa- Orgelbautradition von Harmen Kröger, den es im 30- äh- nische Reiter“ anwendeten, das sind sich kreuzende Ker- rigen Krieg von Minden Weser nach Oldenburg verschla- ben auf der Unterseite des eweiligen Pfeifenstocks, um gen hatte. Kröger hielt noch an der Springlade fest, wie den schleichenden Wind nach außen abzuführen, waren z. B. in St. aurentius in angwarden But adingen, dort allerdings schon damals nicht gut angesehen. Das betri t als sogenannte einfache Konstruktion, d. h. mit fest instal- ebenso die sogenannten Schelmenlöcher, Auslassbohrun- lierten Springerleisten. Hueß baute u. a. für SS. Cosmae et gen, welche Kanzellendurchstecher kaschieren. Bei der pro- Damiani in Stade sogenannte doppelte Springladen, also fessionellen ösung des roblems, winddichte Schlei aden
3 Ebda., S. 343. 7 Es ist davon auszugehen, dass Hueß auch in der Stadtkirche zu 4 Sein heute wohl bekanntestes Kirchenlied ist „Werde munter, mein Celle doppelte Springladen gebaut hat. Der Vergleich des dort erhal- Gemüte“. tenen Orgelprospekts mit dem enigen in SS. Cosmae et Damiani zu 5 Das von Johann Mattheson überlieferte Geburts ahr von Jan Adam Stade legt das aufgrund vergleichbarer Proportionen nahe, obwohl es Reincken, 1623, ist unrichtig; Reincken wurde 1643 geboren. Vgl. sich in Stade um ein 12 auptwerk und ein ückpositi handelt. Ulf Grapenthin, Art. Johann Adam Reincken. In: MGG Bd. 13, Kassel rdl. itt. on Orgelbaumeister endrik Ahrend, eer oga. 2005, Sp. 1506 – 1534. 9 Im Orgelbau des 19. Jahrhunderts, z. B. bei Eberhard Friedrich Wal- 6 Der Verfasser hält sich an die originale Schreibweise des Namens cker, wird mit Springlade eine Konstruktion bezeichnet, die aus der Hueß. Beim e nach dem u handelt es sich nicht um einen Diphthong, Registerkanzellenlade mit Schwanzventilen hervorgegangen ist, die sondern um das westfälische bzw. niederrheinische Dehnungs-e, wie mechanische Kegellade. Sie ist also nicht mit der älteren Springlade in den Ortsnamen Coesfeld, Kevelaer, Soest oder Straelen. verwandt, die eine Tonkanzellenlade ist.
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AO_01_2019.indb 4 10.03.2019 14:21:22 anzufertigen, kamen Schnitgers exzellente Tischlereikennt- nisse zum Tragen. Die Einschnittart des Eichenholzes war zunächst der Schlüssel, um geeignetes Material zu erhalten, nämlich durch den Spiegelschnitt, der in Schnitgers Orgel- bau erträgen häufig auch als Wagenscho bezeichnet wird. Im Spiegelschnitt lassen sich aus einem Stamm Bohlen und Bretter mit weitgehend stehenden Jahresringen schneiden. Der Ausdruck Wagenschoß stammt aus dem Wagen- und Kutschenbau, bei dem für die Speichenräder derartig ein- geschnittenes Holz benötigt wird. Eichenholz muss vor der Verarbeitung aber auch gewässert werden, um das im Holz enthaltene Tannin auszuschwemmen und dadurch beim Kontakt mit Eisenteilen Korrosion zu verhüten. Weil Ham- burg ein Handelsplatz für Wagenschoß war, konnte Schnit- ger auf dieses Material direkt zugreifen. Die Eichenstämme wurden u. a. in Schlesien geschlagen und elbabwärts bis i ni g r Org n a s a rg annis nach amburg ge ö t. Au er dem aterial ist aber auch seit 1816 in Cappel, bekanntgeworden durch die Aufnah die exakte Bearbeitung der Hölzer mit den dafür benötigten men von Helmut Walcha. Werkzeugen entscheidend wichtig, denn alle Bestandteile Foto: Dale C. Carr einer Schlei ade müssen eben bzw. plan sein insbesondere kommt es auf exakt ausgehobelte Schleifen und Dämme an. Schnitger beherrschte diese Kunst vollkommen. gr a a ig Org is r i ri an Auf Bitten der Witwe seines ehrmeisters, Berend ari n in n s in n ir n rs rn n n Hueß, erledigte Arp Schnitger zu aller Zufriedenheit die s ns in r i r gig n is na a rg i noch ausstehenden Verbindlichkeiten, darunter die Orgeln i g n r nnig i n rgn g n in SS. Cosmae et Damiani sowie in St. Wilhadi in Stade. n Org in A g ns in n n a r si In diesem Rahmen führte er dessen Werkstatt eigenverant- s s n i g n n n n n n r i r wortlich weiter. Schon bald wurde man in Hamburg auf ihn hatte, verstärkte sich in ihm der Wunsch, den Hamburger aufmerksam. Schnitgers Orgel von 16 0 in der Hamburger is r r i rr i n r Org n in ari n Klosterkirche St. Johannis war eine exzellente Visitenkar- gewinnen. Die zu diesem Zweck eingeleiteten Verhandlun te. 10 Auch seine frühen selbständig ausgeführten Arbeiten gen führten bedauerlicherweise nicht zum Ziele. 13 1702 wie in Oeder uart, üdingworth etc. weisen ihn als schon wurde übeck an die amburger ikolaikirche berufen und überaus versierten Meister aus. Seine frühe Orgel in Bül- wirkte hier an Schnitgers größter Orgel bis zu seinem Tode kau and adeln erinnert in gewisser Weise an die Orgel 1 . icht nur sie fiel dem gro en Stadtbrand on 1 2 on armen Kröger in angwarden. n Stade schloss er zum Opfer, sondern auch die auf ieho zurückgehende reundschaft mit incent übeck 11, der seit 1674 an SS. Orgel in St. Petri und die Schnitger-Orgel in der Gertruden- Cosmae et Damiani wirkte. kapelle. Bis heute ist keine Abbildung der Schnitger-Orgel der Nikolaikirche bekannt. Zur Anlage des Werks hat sich 16 2 wurde Schnitger mit dem Bau einer viermanu- Julius Faulwasser 1926 geäußert. 14 Der Vergleich mit Faul- aligen Orgel für die Hamburger Hauptkirche St. Nikolai wassers Publikation über St. Jacobi 15 ergibt, dass Schnitger beauftragt, erwarb das Hamburger Bürgerrecht und ließ in St. Nikolai ein vergleichbares Baukonzept wie später in sich am Westufer der Elbe auf einem Bauernhof in Neu- St. Jacobi realisiert haben muss. Vor allem geht es um das enfelde (heute Stadtteil von Hamburg) nieder. 12 Gut fünf nicht sichtbare Oberwerk als hochgesetztes Hinterwerk in Jahre benötigten Schnitger und seine Gesellen für diese der Turmnische. Das wiederum entspricht dem Konzept der große Orgel. Zu den im Kontrakt festgelegten 62 Registern Orgelbauerfamilie Scherer. auf ier anualen und edal kamen im aufe der Bauzeit noch fünf weitere Register hinzu. Es war nicht nur Schnit- Schnitgers zweitgrößtes Instrument war die dreimanua- gers größte Orgel, sondern zugleich die seinerzeit größte lige Orgel in St. Johannis zu Magdeburg mit 62 Registern. Orgel der Welt. Natürlich sprach sich diese grandiose Orgel Nur diese Orgel und seine erste der Aa-Kerk in Gronin- in Windeseile weitläufig herum. Besonders interessiert an gen, 1694 – 97, waren die einzigen aus seiner Werkstatt, die ihr war Dietrich Buxtehude. Im Mai 1687 erwirkte der über die vollständige große Oktave mit allen zwölf Halb-
10 Die Orgel steht seit 1 16 in Cappel bei Bremerhaven. 13 Wilhelm Stahl, ran n r n i ri . In: Archiv f. 11 Ein für Kinder produziertes Video als Hinführung zur Orgel mit Musikwissenschaft , 1926, S. 44 f. Hier zitiert nach Gustav Fock, dem Titel Auf den Spuren on incent übeck spielt in SS. osmae Ar ni g r n s in . Kassel 1974, S. 49. et Damiani in Stade, im Internet unter https: www.youtube.com 14 Julius Faulwasser, i i ai ir in a rg. Hamburg watch?v e2-9UrIqkGg . 1926. 12 Vgl. Günter Seggermann, Denkmalorgeln zwischen Elbe und Weser. 15 Julius Faulwasser, i a i ir in a rg. Hamburg Kassel 19 6, S. 49 – 51. 1 94.
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AO_01_2019.indb 5 10.03.2019 14:21:22 tönen in sämtlichen Klaviaturen verfügten. Die Orgel in dene Art, so wie es ehedem die braven unter den Hambur St. Johannis zu Magdeburg diente später u. a. als Vorbild gischen Organisten in den Sonnabends Vespern gewohnt für die on eorg hristoph Sterzing gescha ene Orgel in gewesen waren, ausführete, folgendes Compliment: „Ich der Georgenkirche zu Eisenach. 16 Als es 16 9 zum Bau der dachte, diese Kunst wäre gestorben, ich sehe aber, daß sie Orgel in St. Jacobi durch Schnitger kam, legte Jan Adam in Ihnen noch lebet.“ Es war dieser Ausspruch von Rein eincken gegen den Bau eines rinzipal 2 sein eto ein. cken desto unerwarteter, weil er vor langen Jahren diesen Ein solches egister erschien eincken o ensichtlich als Choral selbst, auf die obengemeldete Weise gesetzet hatte: unerträgliche Konkurrenz und sollte deshalb seiner Orgel welches, und daß er sonst immer etwas neidisch gewesen, in St. Katharinen vorbehalten bleiben. Schnitger baute in unserm Bach nicht unbekannt war. Reinken nöthigte ihn St. Jacobi trotzdem ein rinzipal 2 , d. h. einen 2 ab hierauf zu sich, und erwies ihm viel Höflichkeit.“ 19 im Prospekt und für C, D und E (kurze Oktave) aus Wagen- schoß angefertigte gedeckte Innenpfeifen. 17 nerwartet kam es edoch anders. ängst war es in Hamburg wie auch anderswo Usus geworden, mter Arp Schnitger war nicht nur ein Orgelbauer auf der regelrecht zu verkaufen, und zu allem rgernis hatte der Höhe seiner Zeit, sondern ebenso ein weitblickender Kirchenvorstand an St. Jacobi, dem vorwiegend Handwer- eschäftsmann. n seinem eben als selbständiger eister ker und Gewerbetreibende angehörten, sich dieser Praxis hat er in den Jahren 1677 – 1719, unter Einbeziehung von angeschlossen. Die Organistenstelle an St. Jacobi musste Kleinorgeln für Privatleute, um die 170 Orgeln für ein sehr für 4.000 Mark gekauft werden. Bach hatte das Geld nicht. weit ausgedehntes Arbeitsgebiet gescha en. Dies war nur Deshalb machte Johann Joachim Heitmann, der Sohn eines möglich, indem er seine Meistergesellen als Subunterneh- Handwerksmeisters, das Rennen, da er so viel bezahlen mer fungieren ließ. Zwei kleinere Instrumente gingen nach konnte. Als sich Johann Telonius nach Heitmanns Tod Moskau, eins davon an den späteren Zaren Peter d. Gr., ein 1727 auf gleiche Weise einkaufen musste, widersprach weiteres nach England. Zwei kleine zweimanualige Orgeln Pastor Neumeister solchem Conclusum, daß es wider sein lieferte er nach Portugal, eine für die Kathedrale zu Faro. Gewißen wäre, daß Geld für den Dienst gegeben werden Die andere, ähnliche für issabon steht heute in der Kathe- s n r ang s in a r drale zu Mariana (Brasilien). Wie schon eingangs bemerkt wurde, muss Schnitger aufgrund seines schulischen Werde- Johann Mattheson schrieb ein Jahr später in seiner Zeit- gangs über eine außerordentliche Bildung verfügt haben, schrift „Musikalischer Patriot“: rinn r i n s dank derer er sogar lateinische Schriften lesen konnte. wird sichs noch wol eine gantze zahlreiche Gemeine erin In seiner Bibliothek befand sich der lateinische Trak- nern, daß vor einigen Jahren ein gewisser großer Virtuose, tat „Musurgia universalis“ von Athanasius Kircher, Rom r s i na r i ns in ans n i n an 1650. 1 Kircher äußert sich darin über die Musik seiner Zeit ra Thomaskirche in eipzig, 1 2 befördert worden, und behandelt umfänglich den Orgelbau. si in in r ni in n a Organis n anga a den meisten und schönsten Werken tapffer hören ließ und Im November 1720, also ein Jahr nach Schnitgers Tod, eines jeden Bewunderung, seiner Fertigkeit halber, an sich sollte die Organistenstelle an St. Jacobi neu besetzt wer- g s si a r g i n s an r n ig n den. Johann Sebastian Bach, aus Köthen kommend, bewarb Gesellen, eines wolhabenden Handwercks-Mannes Sohn an, sich darum. Die Aussicht auf Zusammenarbeit mit dem r ss r i a rn a s i ing rn ra ir n nn damaligen Hauptpastor und Dichter Erdmann Neumeister, und demselben fiel der Dienst zu, wie man leicht erachten von dem er bereits Kantatentexte vertont hatte, mag ihn ann nang s n si as r ann ar r rg r s gereizt haben, zumal seine Aufgaben als Kapellmeister am war eben um die Weih-Nacht-Zeit, und der beredte Haupt calvinistischen Hof in Köthen kein Orgelspiel im Gottes- r ig r [Erdmann Neumeister], welcher gar nicht mit in dienst umfassten. Er war schon in seiner üneburger eit n i nis n a [Handel bzw. Vererbung kirchli- mehrmals nach Hamburg gereist, um Reincken spielen zu cher mter] gewilligt hatte, legte das Evangelium von der hören. Nun machte er ihm in besonderer Weise seine Auf- Engel-Music bey der Geburt Christi auf das herrlichste aus, wartung, indem er sich vor ihm hören ließ. Während dieser wobey ihm denn natürlicher Weise der jüngste Vorfall wegen i ng r i a r [recte 1720] a r in is des abgewiesenen Künstlers, eine Gelegenheit an die Hand na a rg n i si as s r agis ra ga s in an n n n n n r rag ng n i n an rn rn n r a a r s n n fehr mit diesem merckwürdigen epiphonemate [Ausspruch] Catharinenkirchen Orgel, mit allgemeiner Verwunderung zu schließen: „Er glaube gantz gewiß, wenn auch einer von r a s n n ang r n r a Organis an i n i is n ng n i r g i s r ir ann A a in n […] r i i spielte, und wollte Organist zu St. J[acobi] werden, hätte s n rn rgn g n n a i a s n r i aber kein Geld, so mögte er nur wieder davon fliegen.“ 20 über den Choral: An Wasserflüssen Babylon, welchen unser Bach, auf Verlangen der Anwesenden, aus dem Stegreife, sehr weitläuftig, fast eine halbe Stunde lang, auf verschie 19 . h. E. Bach, J. r. Agricola, . h. izler und . enzk , r g a ann as ian a . eipzig 1 5 . n Bach Dokumente, Bd. 3, Nr. 666. 16 Frdl. Mitt. von Herrn Prof. Dr. Frank-Harald Gress, Dresden. 20 Beide Zitate nach Fock, wie Anm. 17, S. 60. Vgl. Heinz Wun- 17 Gustav Fock, Ar ni g r n s in . Kassel 1974, S. 57 f. derlich, as in Org r a ir a i a rg. 1 Ebda., S. 17. Hamburg 1977, S. 9 f.
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AO_01_2019.indb 6 10.03.2019 14:21:22 1721 trat Georg Philipp Telemann das Amt des Musikdi- Joh. r. Schwencke ist ein Briefwechsel mit ouis Spohr rektors in Hamburg an, das er bis zu seinem Tod 1767 beklei- erhalten. Von Bedeutung war Heinrich Christoph Ehren- dete. Telemann stand in Hamburg am Übergang vom Barock fried Schmahl (1 27 – 1 92), Organist an St. Jacobi. Ihm in die neue Epoche des Sturm und Drang sowie des emp- ist es zu verdanken, dass die große Schnitger-Orgel ohne findsamen Stils. u wenig beachtet wurde bisher Telemanns wesentliche Veränderungen bis in die Zeit des Ersten Welt- Freundschaft mit dem Schnitger-Schüler Johann Dietrich kriegs überdauern konnte. Busch in Itzehoe; für die Einweihung einiger Orgeln Buschs hat Telemann Kantaten komponiert. Die bedeutendste Orgel Ein spezielles Orgelkonzert gab „Abt“ Georg Joseph von Busch stand in der Dreieinigkeitskirche im Hamburger Vogler auf einer Reise nach Stockholm am Donnerstag, den Stadtteil St. Georg. Busch orientierte sich bei seinen Orgeln 4. Mai 17 6, um vier Uhr nachmittags in St. Katharinen. an Schnitgers Vorbild. In der Pro spektgestaltung kündigt sich Sein Programm ist überliefert. 24 bei seinen größeren Instrumenten das Rokoko an, ohne dass die Struktur des Hamburger Prospekts aufgegeben wird. Von i seiner Orgel im Stadtteil Ottensen ist der Prospekt verändert 1. Präludium mit vollem Werk. erhalten geblieben. Ein Vergleich dieses Prospekts mit seiner 2. Quintett von einer Flöte, einer Hoboe, zwei Waldhörnern frühen Orgel in Jade in der oldenburgischen Wesermarsch n ag ist wegen der hnlichkeit geradezu frappierend. 21 Auch von ra s s s s ni s a s s s seiner Orgel in Uetersen existieren noch der Prospekt sowie n n r etliche Register. 22 i Nach dem Tode Telemanns 1767 wurde sein Patensohn i i iana n ig Carl Philipp Emanuel Bach zum neuen Musikdirektor in 2. Scene, abwechselnd mit Recitativen, einer cantablen Hamburg berufen. C. Ph. E. Bach vertiefte die musikalische n r n in r i n ag n r i r n n Stilistik seines atenonkels in ichtung des empfindsamen is an Ari Stils. Kurz nach seinem Amtsantritt wurde ein repräsentati- 3. Eine Schilderung der Schäferwonne, unterbrochen von ver Orgelneubau in Hamburg fertiggestellt. Die Michaelis- einem Donnerwetter, das allmählich annähert, sich in kirche mit ihrer Schnitger-Orgel war 1750 durch Blitzschlag voller Stärke zeigt und wieder verschwindet; ihre naive vernichtet worden. Der Neubau in spätbarocker Gestaltung n a r ar r wurde am 17. Oktober 1762 mit Telemanns Oratorium a a ng s r ig n ns n s „Komm wieder, Herr, zu der Menge der Tausenden in Israel“, ann n r a n as ngs ri TWV 02:12, eingeweiht. Erst 1770 konnte die neue große a ra in i ng dreimanualige Orgel mit 64 Registern vollendet werden. i sa n rs a i r r n si a Dafür hatte man einen sächsischen Orgelbauer herangezogen, as r i s r rn n i rs g s r n r Johann Gottfried Hildebrandt, Sohn von Zacharias Hilde- i s n r a in n A gr n i r n brandt. Er brachte die Formensprache Gottfried Silbermanns Weinen und Zähneknirschen. mit. In dem großen Raum mit seinen weiten gewölbten Flä- d) Gott ruft die Seligen zur ewigen Glückseligkeit. chen nahm er das gro e des rinzipal 2 in die ittel- e) Ihr Wonnegefühl, das sich in Lobgesängen, vereint achse des Prospekts. Klanglich deuteten sich bereits die Vor- i n r n r boten der Romantik an, weil Hildebrandt die einzelnen Werke in g i n gan n rgang n dynamisch abstufte. Er übernahm auch das Prinzip Gottfried Silbermanns, die einzelnen Registerfamilien dynamisch zu An der Wende zum 19. Jahrhundert führten Johann di erenzieren ( rinzipale forte, Streicher mezzoforte, lö- Paul Geycke und sein Sohn Joachim Wilhelm die Orgelbau- ten: piano). 23 Das Empfindsame, aber auch der Sturm und tradition in Hamburg fort. Sie nahmen zahlreiche Erweite- Drang in ener Epoche kurz vor der Wiener Klassik spiegeln rungs- und Umbaumaßnahmen an bestehenden Orgeln vor. sich hier trotz aller Monumentalität wider. Als C. Ph. E. Bach Hervorzuheben sind der Einbau neuer Klaviaturen an der 17 starb, fand er in dieser Kirche seine letzte Ruhestätte. Schnitger-Orgel in St. Jacobi und der Neubau der Orgel in der Johanniskirche im Stadtteil Neuengamme, wobei Die Nachfolge von C. Ph. E. Bach als letztem staat- der alte, auf Gottfried Fritzsche zurückgehende Pfeifenbe- lich besoldeten Hamburger Musikdirektor trat sein Schüler stand übernommen wurde. 25 Johann Hinrich Wohlien, der Christian Friedrich Gottlieb Schwencke (1767 – 1 22) an. Schwiegersohn Johann Paul Geyckes, führte die Werkstatt Schwencke war ebenso wie sein Sohn Johann Friedrich Joachim Wilhelm Geyckes von Altona aus fort, das damals (1792 – 1 52) Organist an der Hauptkirche St. Nikolai. Von noch unter dänischer Herrschaft stand. 26
21 Alfred Führer Orgelbau, a r . Wilhelmshaven 1977. 24 Theodor Cortum, Die Orgelwerke der Evangelisch-lutherischen Günter Seggermann, Denkmalorgeln zwischen Weser und Ems. Kassel ir i a rgis n aa . Kassel 192 , S. 22. 19 0, S. 36. 25 Thomas ipski, i Org r ang is n annis ir in 22 Fock, wie Anm. 17, S. 17 – 1 0. a rg nga . In. Ars Organi, 4 , H. 3, 2000, S. 163 – 166. 23 Thomas ipski, Theatrum sacrum organorum. Das dynamische Dis 26 Fock, wie Anm. 2, S. 369. Hermann Fischer, a r n positionsprinzip um 1800 im Kontext der erweiterten Zweimanualig s r Org a is r. auffen . 1991, S. 2. ock, wie i . In: Organ, Journal für die Orgel, 2 11, S. 32. Anm. 17, S. 72.
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AO_01_2019.indb 7 10.03.2019 14:21:22 in Hamburg. Er vermittelte die Schnitger-Orgel aus der St.-Johannis-Klosterkirche nach Cappel bei Bremerhaven, die dann zehn Jahre später, 1 16, dort sein Sohn Johann Georg Wilhelmy aufstellte. 2
Eine große Zäsur in der Geschichte Hamburgs war der verheerende Stadtbrand, der vom 5. bis . Mai 1 42 das mittelalterliche amburg zerstörte. Dem euersturm fielen drei bedeutende Kirchen mit ihren Orgeln zum Opfer: St. Nikolai mit Schnitgers größter Orgel, St. Petri mit der auf ieho zurückgehenden Orgel und die ertrudenkapelle mit ihrer Schnitger-Orgel. Nach dem Stadtbrand konnte die Hamburger Bürgerschaft in relativ kurzer Zeit ein ganzes Stadtviertel, die Neustadt, aufbauen, und stellte sich dabei im Sinne moderner Stadtentwicklung den Anforderungen an eine Großstadt am Beginn der Industrialisierung. 29
In diesem Kontext spielte zunächst ein profaner Orgel- neubau eine wichtige Rolle. Auf dem Grundstück Neuer Wall 5 Ecke Bleichenbrücke war das erste ö entliche Konzerthaus Deutschlands errichtet worden, die Tonhalle. Für ihren großen Saal schuf der Orgelbauer Peter Tappe aus Verden A. 1 45 die erste fest installierte Orgel. Als die Tonhalle nach wenigen Jahren wegen der großen Nachfrage zu klein geworden war, fand man nach einer Interimslösung im Apollotheater schließlich im umgebauten und erweiter- ten Conventgarten an der Fuhlentwiete einen Ersatz. Dort setzte der Hamburger Orgelbauer Christian Heinrich Wolf- steller eine 1 Orgel auf das Orchesterpodium. 30 Über a rg nga annis Org r s n diese Orgel ist weiter nichts bekannt. Da über den Verbleib Joh. Paul Geycke, 1803. der Tappe-Orgel aus der Tonhalle ebenfalls nichts über- Foto: Orgelbau R. v. Beckerath liefert ist, scheint es denkbar zu sein, dass Wolfsteller die Tappe-Orgel umgebaut für den Conventgarten übernommen hätte. Der Conventgarten, an dem z. B. auch Gustav Mahler Hatten die Wallanlagen Hamburgs dem 30- ährigen gewirkt hat, war bis zu seiner Zerstörung 1943 das zweite Krieg noch standgehalten, boten sie Napoleon Bonaparte wichtige Konzerthaus in Hamburg. und seinen Truppen 1 06 keinen Widerstand mehr. Sie waren ohnehin zuvor schon teilweise geschleift worden. Im Rahmen des Wiederaufbaus nach dem großen Stadt- 1 11 wurde Hamburg Hauptstadt des Departments an der brand war für die beiden großen Hauptkirchen St. Nikolai Elbmündung im französischen Kaiserreich. Es war eine und St. etri Ersatz zu scha en. Die amburger Baudepu- schlimme Zeit für die Bevölkerung. Weniger begüterte tation engagierte eine ganze Reihe namhafter Architekten Stadtbewohner waren gezwungen, ins Umland abzuwan- und Ingenieure. 31 Für die neue Hauptkirche St. Petri zeich- dern. Auch dem Schriftsteller Matthias Claudius 27 erging es nete Alexis de Ch teauneuf als Architekt verantwortlich. so. Den Verbliebenen drohte Einquartierung französischer Schon 1 4 konnte hier eine neue Orgel des Hamburger Soldaten. Übrigens konnte infolge der französischen Beset- Orgelbauers Johann Gottlieb Wolfsteller (III 3 ) erklin- zung die katholische Messe in Hamburg erstmals wieder gen. 32 nach der Reformation gefeiert werden. Nach der Reforma- tion waren etliche Kirchen in Hamburg wie der alte, 1 06 abgebrochene Marien-Dom nicht mehr genutzt worden. Die St.-Johannis-Klosterkirche wurde während der Franzosen- zeit als ager und ferdestall umfunktioniert. nter solchen 2 Umständen hatten die Orgeln sehr zu leiden gehabt. Gustav Fock, wie Anm. 17, S. 115 f. 29 Hermann Hipp, Der Wiederaufbau nach dem großen Brand von . Hannover 19 5, S. 3 – 17. Evi Jung [-Köhler], i a a Georg Wilhelm Wilhelmy hatte sich u. a. bei Johann nung des Wiederaufbaus. S. 1 – 23, in: Charles Fuchs, a rg na Paul Geycke ausbilden lassen und schließlich als selb- r n ran n . Hamburg 1 46 47, Faksimile-Nach- ständiger Meister in Stade niedergelassen. Von dort aus druck, Hannover 19 5. betreute er zwischen 17 und 1 06 zahlreiche Orgeln 30 Thomas ipski n r saa rg n in a rg . In: Ars Organi, 65, 2017, H. 4, S. 217 f. Thomas i s i n r n a is r i ar ni . In: Organ, Journal für die Orgel 3 2005, S. 4 – 10, hier S. 5. 27 Der wohl bekannteste iedte t on atthias laudius ist Der 31 Hermann Hipp, Evi Jung[-Köhler], wie Anm. 29. Mond ist aufgegangen“. 32 Cortum, wie Anm. 24, S. 11.