Plenarprotokoll 19/173

Deutscher

Stenografischer Bericht

173. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Inhalt:

Würdigung von Dr. Hans-Jochen Vogel ...... 21619 A b) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD: Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgre- Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- miums gemäß § 10a Absatz 2 der Bun- neten Karsten Möring, , deshaushaltsordnung , , Hans- Drucksache 19/21835 ...... 21620 C Jürgen Thies, Bundesminister Dr. Gerd Müller, Dr. , Kees de c) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD: Vries, , Ingo Wahl von Mitgliedern des Gremiums Gädechens und Dr. ...... 21619 D gemäß § 3 des Bundesschuldenwesenge- setzes Wahl des Abgeordneten Matern von Drucksache 19/21836 ...... 21620 C Marschall als ordentliches Mitglied und der Abgeordneten Dr. als Wahlen ...... 21621 A stellvertretendes Mitglied des Verwaltungs- rats des Deutsch-Französischen Jugend- Ergebnisse ...... 21677 A, 21677 B werks ...... 21620 A

Wahl der Abgeordneten zum Tagesordnungspunkt 8: Mitglied des Aufsichtsrats der Agentur für Sprunginnovationen ...... 21620 A Bericht des Petitionsausschusses: Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag – Wahl der Abgeordneten Sandra Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Bubendorfer-Licht als Schriftführerin ...... 21620 A Deutschen Bundestages im Jahr 2019 Drucksache 19/21900 ...... 21621 A Änderungen der Tagesordnung ...... 21620 A (CDU/CSU) ...... 21621 B Absetzung des Tagesordnungspunktes 27 . . . . . 21620 A (SPD) ...... 21623 A Begrüßung des Direktors beim Deutschen (AfD) ...... 21624 A Bundestag, Herrn Staatssekretär Dr. Lorenz (CDU/CSU) ...... 21625 C Müller ...... 21620 B (FDP) ...... 21626 C (DIE LINKE) ...... 21627 D Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 21629 A Zusatzpunkt 5: (CDU/CSU) ...... 21630 A a) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD: Wahl von Mitgliedern des Sondergre- (SPD) ...... 21631 B miums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabili- (CDU/CSU) ...... 21632 A sierungsmechanismusgesetzes Drucksache 19/21837 ...... 21620 C (SPD) ...... 21633 B II Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. , Donnerstag, den 10. September 2020

Tagesordnungspunkt 20: Dr. (DIE LINKE) ...... 21663 C Antrag der Abgeordneten , Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ , Dr. , weiterer DIE GRÜNEN) ...... 21664 B Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Vor- (SPD) ...... 21664 D fahrt für die Marktwirtschaft – Einführung einer Beteiligungsbremse Drucksache 19/22107 ...... 21634 B Tagesordnungspunkt 11: Reinhard Houben (FDP) ...... 21634 B Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, , Bundesminister BMWi ...... 21635 D , , weiterer Abge- (AfD) ...... 21637 C ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zeit für mehr – Recht auf gute (SPD) ...... 21639 A Ganztagsbildung im Grundschulalter um- (DIE LINKE) ...... 21639 D setzen Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/ Drucksache 19/22117 ...... 21666 B DIE GRÜNEN) ...... 21640 D Margit Stumpp (BÜNDNIS 90/ Dr. (CDU/CSU) ...... 21642 A DIE GRÜNEN) ...... 21666 C Dr. (SPD) ...... 21643 A (Hamburg) (CDU/CSU) . . . 21667 C (DIE LINKE) ...... 21643 D (AfD) ...... 21668 D Dr. (CDU/CSU) ...... 21644 D (AfD) ...... 21669 C (fraktionslos) ...... 21645 C (SPD) ...... 21671 B (SPD) ...... 21646 B Matthias Seestern-Pauly (FDP) ...... 21672 D (CDU/CSU) ...... 21647 A Dr. Birke Bull-Bischoff (DIE LINKE) ...... 21673 C (CDU/CSU) ...... 21674 A (FDP) ...... 21675 A Tagesordnungspunkt 10: Marja-Liisa Völlers (SPD) ...... 21675 D Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Dr. Dietlind Tiemann (CDU/CSU) ...... 21677 C Verbesserung des Vollzugs im Arbeits- Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE) . . . . . 21678 C schutz (Arbeitsschutzkontrollgesetz) Drucksache 19/21978 ...... 21648 A Dr. (CDU/CSU) ...... 21679 C , Bundesminister BMAS ...... 21648 A Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) ...... 21649 C Tagesordnungspunkt 33: Hubertus Heil, Bundesminister BMAS ...... 21650 A a) Erste Beratung des von der Bundesregie- (AfD) ...... 21650 C rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Protokoll vom 10. Oktober Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . . 21651 C 2018 zur Änderung des Übereinkom- Carl-Julius Cronenberg (FDP) ...... 21652 D mens vom 28. Januar 1981 zum Schutz des Menschen bei der automatischen (DIE LINKE) ...... 21653 D Verarbeitung personenbezogener Daten Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ Drucksache 19/20920 ...... 21680 D DIE GRÜNEN) ...... 21654 C b) Erste Beratung des von der Bundesregie- (SPD) ...... 21655 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (AfD) ...... 21655 D zes zur Revision der Europäischen Sozialcharta vom 3. Mai 1996 (CDU/CSU) ...... 21657 A Drucksache 19/20976 ...... 21681 A (FDP) ...... 21657 D c) Erste Beratung des von der Bundesregie- (DIE LINKE) ...... 21658 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Verbesserung des Tierwohls in (DIE LINKE) ...... 21659 B Tierhaltungsanlagen (BÜNDNIS 90/ Drucksache 19/20977 ...... 21681 A DIE GRÜNEN) ...... 21659 D d) Erste Beratung des von der Bundesregie- -Emre (SPD) ...... 21660 C rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (CDU/CSU) ...... 21661 B zes zur Modernisierung des Versiche- rungsteuerrechts und zur Änderung (SPD) ...... 21662 B dienstrechtlicher Vorschriften (CDU/CSU) ...... 21663 A Drucksache 19/21089 ...... 21681 A Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 III e) Erste Beratung des von der Bundesregie- Entwurfs eines Gesetzes zur Übertra- rung eingebrachten Entwurfs eines Aus- gung der Zuständigkeit für Zwangs- führungsgesetzes zum Übereinkommen vollstreckungen in Forderungen und vom 9. September 1996 über die Samm- andere Vermögenswerte auf Gerichts- lung, Abgabe und Annahme von vollzieher Abfällen in der Rhein- und Binnen- Drucksache 19/22190 ...... 21682 A schifffahrt (Binnenschifffahrt-Abfall- p) Antrag der Abgeordneten , übereinkommen-Ausführungsgesetz – Matthias W. Birkwald, , BinSchAbfÜbkAG) weiterer Abgeordneter und der Fraktion Drucksache 19/21733 ...... 21681 B DIE LINKE: Für ein Ja zur Revidierten f) Erste Beratung des von der Bundesregie- Europäischen Sozialcharta rung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Drucksache 19/22123 ...... 21682 A Gesetzes zur Änderung des Direktzah- q) Antrag der Abgeordneten , lungen-Durchführungsgesetzes Heike Hänsel, Susanne Ferschl, weiterer Drucksache 19/21749 ...... 21681 B Abgeordneter und der Fraktion DIE LIN- g) Erste Beratung des von der Bundesregie- KE: Kollektivbeschwerden zur besseren rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Überwachung der Europäischen Sozial- zes zur Änderung des Grundgesetzes charta ermöglichen – Zusatzprotokoll (Artikel 104a und 143h) unterzeichnen und ratifizieren Drucksache 19/21752 ...... 21681 B Drucksache 19/22124 ...... 21682 A h) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- in Verbindung mit zes zur finanziellen Entlastung der Kommunen und der neuen Länder Drucksache 19/21753 ...... 21681 C Zusatzpunkt 6: i) Erste Beratung des von der Bundesregie- a) Erste Beratung des von den Abgeordneten rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Katrin Helling-Plahr, , zes zur Änderung des Energiewirt- , weiteren Abgeord- schaftsgesetzes zur marktgestützten neten und der Fraktion der FDP einge- Beschaffung von Systemdienstleistun- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur gen Änderung des Ehe- und Geburtsna- Drucksache 19/21979 ...... 21681 C mensrechts – Echte Doppelnamen für Ehepaare und Kinder j) Erste Beratung des von der Bundesregie- Drucksache 19/18314 ...... 21682 B rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Gesetzes zur b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Regelung von Ingenieur- und Architek- , Dr. André Hahn, Anke tenleistungen und anderer Gesetze Domscheit-Berg, weiteren Abgeordneten Drucksache 19/21982 ...... 21681 C und der Fraktion DIE LINKE einge- brachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur k) Erste Beratung des von der Bundesregie- Änderung des Gesetzes über die Bun- rung eingebrachten Entwurfs eines Dritten despolizei – Einführung einer Kenn- Gesetzes zur Änderung agrarmarkt- zeichnungspflicht rechtlicher Bestimmungen Drucksache 19/5178 ...... 21682 B Drucksache 19/21984 ...... 21681 D c) Erste Beratung des von den Abgeordneten l) Erste Beratung des von der Bundesregie- , , , rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- weiteren Abgeordneten und der Fraktion zes zur Digitalisierung von Verwaltungs- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- verfahren bei der Gewährung von brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Familienleistungen Änderung der Abgabenordnung und Drucksache 19/21987 ...... 21681 D des Einführungsgesetzes zur Abgaben- m) Antrag der Abgeordneten , ordnung – Einziehung von Taterträgen – , , wei- Drucksache 19/22113 ...... 21682 B terer Abgeordneter und der Fraktion der f) Antrag der Abgeordneten Frank Müller- AfD: Reform des Steuersystems – Rosentritt, Alexander Graf Lambsdorff, Abschaffung der Kaffeesteuer Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordne- Drucksache 19/22198 ...... 21681 D ter und der Fraktion der FDP: Menschen- n) Erste Beratung des von den Abgeordneten rechtsverstöße verurteilen – Demokrati- , , Roman sierung und Opposition in Kambodscha Johannes Reusch, weiteren Abgeordneten stärken und der Fraktion der AfD eingebrachten Drucksache 19/22169 ...... 21682 C IV Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 g) Antrag der Abgeordneten , c) Antrag der Abgeordneten Nicole Höchst, , Stephan Thomae, weite- , Johannes Huber, weiterer rer Abgeordneter und der Fraktion der Abgeordneter und der Fraktion der AfD: FDP: Au-pair-Programme stärken – Ultraschalluntersuchung zum Schutz Einreisen ermöglichen, Familien entlas- des ungeborenen Lebens einsetzen ten Drucksache 19/22199 ...... 21683 B Drucksache 19/22115 ...... 21682 C d) Antrag der Abgeordneten Nicole Höchst, h) Antrag der Abgeordneten , Martin Reichardt, Mariana Iris Harder- Alexander Graf Lambsdorff, Peter Heidt, Kühnel, weiterer Abgeordneter und der weiterer Abgeordneter und der Fraktion Fraktion der AfD: Einrichtung einer der FDP: Individuellen Sanktionsmecha- bundesweiten Koordinierungsstelle zur nismus einführen – Menschenrechtsver- Bekämpfung von Beschneidungen von letzer gezielt treffen und Straflosigkeit Frauen beenden Drucksache 19/22188 ...... 21683 C Drucksache 19/22112 ...... 21682 D e) Antrag der Abgeordneten Nicole Höchst, i) Antrag der Abgeordneten Britta Katharina , , weiterer Dassler, Stephan Thomae, Reginald Abgeordneter und der Fraktion der AfD: Hanke, weiterer Abgeordneter und der Beschneidung – Interkulturelle Dolmet- Fraktion der FDP: Erhalt des Landes- scher einsetzen stützpunktes Schwimmen in Erlangen – Drucksache 19/22191 ...... 21683 C Aufarbeitung des Entscheidungsprozes- ses und Herstellung von Transparenz für alle Betroffenen in Verbindung mit Drucksache 19/22116 ...... 21682 D j) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, , Dr. André Hahn, weiterer Tagesordnungspunkt 4: Abgeordneter und der Fraktion DIE LIN- Erste Beratung des von den Abgeordneten KE: Schutz- und Menschenrechte im , Jörg Cezanne, Klaus Ernst, europäischen Asylsystem in den Mittel- weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE punkt stellen LINKE eingebrachten Entwurfs eines Geset- Drucksache 19/22125 ...... 21682 D zes zur Änderung des Einführungsgesetzes k) Antrag der Abgeordneten Dr. Bernd zur Abgabenordnung Baumann, Dr. Gottfried Curio, Jochen Drucksache 19/22119 ...... 21683 C Haug, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD: Identität von Asylbe- werbern in Deutschland vollständig auf- in Verbindung mit klären Drucksache 19/22200 ...... 21683 A Tagesordnungspunkt 33: in Verbindung mit o) Antrag der Abgeordneten , Stephan Protschka, Franziska Gminder, Zusatzpunkt 22: weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD: Verbot weiterer Neuerrichtun- a) Antrag der Abgeordneten Dietmar gen von Windindustrieanlagen in deut- Friedhoff, , Markus schen Wäldern und Forsten Frohnmaier, weiterer Abgeordneter und Drucksache 19/22184 ...... 21683 D der Fraktion der AfD: Strategiewechsel in der Entwicklungszusammenarbeit – Deutsche Sprache und Bildung für in Verbindung mit Frieden und Wohlstand in Entwick- lungsländern Drucksache 19/22197 ...... 21683 A Zusatzpunkt 6: b) Antrag der Abgeordneten Dietmar d) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Friedhoff, Ulrich Oehme, Markus Dr. André Hahn, Gökay Akbulut, weiterer Frohnmaier, weiterer Abgeordneter und Abgeordneter und der Fraktion DIE der Fraktion der AfD: Strategiewechsel LINKE: Keine Kriegsopferleistungen in der Entwicklungszusammenarbeit – für ehemalige Waffen-SS-Freiwillige Förderung kultureller Identitäten zur Drucksache 19/14150 ...... 21684 A Stärkung des gesellschaftlichen Zusam- menhalts in Entwicklungsländern Drucksache 19/22196 ...... 21683 B in Verbindung mit Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 V

Zusatzpunkt 6: Zusatzpunkt 8: e) Antrag der Abgeordneten Dr. h. c. Thomas a) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD: Sattelberger, , , Wahl eines Mitglieds des Kuratoriums weiterer Abgeordneter und der Fraktion der „Stiftung Denkmal für die ermorde- der FDP: Innovation trotz Corona- ten Juden Europas“ Krise – Bescheinigungen für steuerliche Drucksache 19/21838 ...... 21685 B Forschungsförderung jetzt schnellst- b) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD: möglich erteilen Wahl von Mitgliedern des Kuratoriums Drucksache 19/20781 ...... 21684 B der „Bundesstiftung Magnus Hirsch- feld“ Drucksache 19/21839 ...... 21685 C c) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD: Tagesordnungspunkt 34: Wahl der Mitglieder des Kuratoriums b) Beschlussempfehlung und Bericht des der Stiftung „Deutsches Historisches Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen Museum“ und Jugend zu dem Antrag der Abgeordne- Drucksache 19/21840 ...... 21685 C ten Beate Walter-Rosenheimer, (Augsburg), Dr. , d) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD: weiterer Abgeordneter und der Fraktion Wahl der Mitglieder des Kuratoriums BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Grenzen- der Stiftung „Erinnerung, Verantwor- loser Zusammenhalt – Internationalen tung und Zukunft“ Jugendaustausch krisenfest aufstellen Drucksache 19/21841 ...... 21685 D Drucksachen 19/20164, 19/22250 ...... 21684 D e) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD: Wahl von Mitgliedern des Stiftungsrates c) Beratung der Beschlussempfehlung des der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Ver- Ausschusses für Recht und Verbraucher- söhnung“ gemäß § 19 Absatz 2 Satz 1 schutz zu den Streitverfahren vor dem Nummer 1 des Gesetzes zur Errichtung Bundesverfassungsgericht einer Stiftung „Deutsches Historisches 2 BvR 1651/15 und 2 BvR 2006/15 Museum“ Drucksache 19/22210 ...... 21684 D Drucksache 19/21842 ...... 21685 D in Verbindung mit

Zusatzpunkt 9: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio- Zusatzpunkt 7: nen der CDU/CSU und SPD: Keine Toleranz Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- für die Feinde der Demokratie: Extremis- schusses für Umwelt, Naturschutz und nukle- mus bekämpfen, Polizei und Justiz stärken are Sicherheit zu der Verordnung des Bundes- Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär BMI . . 21686 A ministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit: Verordnung über Dr. Gottfried Curio (AfD) ...... 21687 C Sicherheitsanforderungen und vorläufige , Bundesministerin Sicherheitsuntersuchungen für die Endla- BMJV ...... 21688 D gerung hochradioaktiver Abfälle Drucksachen 19/19291, 19/19655 Nr. 2.1, Linda Teuteberg (FDP) ...... 21690 B 19/22239 ...... 21685 A Sören Pellmann (DIE LINKE) ...... 21691 B Dr. (BÜNDNIS 90/ in Verbindung mit DIE GRÜNEN) ...... 21692 C (CDU/CSU) ...... 21693 D Beatrix von Storch (AfD) ...... 21694 D Tagesordnungspunkt 33: Uli Grötsch (SPD) ...... 21696 B r) Antrag der Abgeordneten Lisa Paus, Dr. , Anja Hajduk, wei- Dr. (CDU/CSU) ...... 21697 B terer Abgeordneter und der Fraktion Susann Rüthrich (SPD) ...... 21698 C BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Öffentli- ches Country-by-Country-Reporting (CDU/CSU) ...... 21699 C zur Abstimmung bringen – EU-Rats- (SPD) ...... 21701 A präsidentschaft als Chance nutzen Drucksache 19/22206 ...... 21685 B Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 21702 A VI Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Tagesordnungspunkt 12: (CDU/CSU) ...... 21719 A a) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Tagesordnungspunkt 14: Zweiten Gesetzes zur steuerlichen Ent- lastung von Familien sowie zur Anpas- a) Erste Beratung des von den Fraktionen der sung weiterer steuerlicher Regelungen CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- (Zweites Familienentlastungsgesetz – wurfs eines Gesetzes für ein Zukunfts- 2. FamEntlastG) programm Krankenhäuser (Kranken- Drucksache 19/21988 ...... 21702 D hauszukunftsgesetz – KHZG) Drucksache 19/22126 ...... 21720 A b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- b) Antrag der Abgeordneten Detlev zes zur Erhöhung der Behinderten- Spangenberg, Marc Bernhard, Stephan Pauschbeträge und zur Anpassung wei- Brandner, weiterer Abgeordneter und der terer steuerlicher Regelungen Fraktion der AfD: Krankenhäuser in Drucksache 19/21985 ...... 21703 A der Fläche erhalten – Wirtschaftliche Basis sichern, Bundesländer angemes- , Parl. Staatssekretärin BMF 21703 A sen beteiligen Franziska Gminder (AfD) ...... 21703 D Drucksache 19/22185 ...... 21720 A (CDU/CSU) ...... 21705 B (CDU/CSU) ...... 21720 B (FDP) ...... 21706 C Dr. (AfD) ...... 21721 A (DIE LINKE) ...... 21707 A Dr. (SPD) ...... 21721 C Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Dr. (FDP) ...... 21723 A (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 21707 D (DIE LINKE) ...... 21723 D Dr. (SPD) ...... 21708 C Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 21709 B DIE GRÜNEN) ...... 21724 C , Bundesminister BMG ...... 21725 B (CDU/CSU) ...... 21726 B Tagesordnungspunkt 13: a) Antrag der Abgeordneten , Dr. , Dr. Gottfried Curio, Tagesordnungspunkt 15: weiterer Abgeordneter und der Fraktion a) – Zweite und dritte Beratung des vom der AfD: Bundeseinheitlicher Aktions- Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines plan 2020 gegen linksextremistische … Gesetzes zur Änderung des Geset- Gewalt und Terror – Null Toleranz statt zes über die Entschädigung für Straf- Deeskalation verfolgungsmaßnahmen (StrEG) Drucksache 19/22189 ...... 21710 C Drucksachen 19/17035, 19/20659 ...... 21727 A b) Antrag der Abgeordneten Martin Hess, – Zweite und dritte Beratung des von den Dr. Bernd Baumann, Dr. Gottfried Curio, Abgeordneten Stephan Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Roman Johannes Reusch, Jens Maier, der AfD: Schnellstmögliche Beschaffung weiteren Abgeordneten und der Fraktion und Einführung von Distanz-Elektroim- der AfD eingebrachten Entwurfs eines pulsgeräten für die Bundespolizei Gesetzes zur Änderung des Gesetzes Drucksache 19/22203 ...... 21710 C über die Entschädigung für Strafver- Martin Hess (AfD) ...... 21710 C folgungsmaßnahmen – Gesetz zur Modernisierung des Entschädigungs- Christoph Bernstiel (CDU/CSU) ...... 21711 C rechts für zu Unrecht erlittene Haft Linda Teuteberg (FDP) ...... 21712 D Drucksachen 19/15785, 19/20659 ...... 21727 A Uli Grötsch (SPD) ...... 21713 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. André Hahn (DIE LINKE) ...... 21714 C Ausschusses für Recht und Verbraucher- schutz zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. (BÜNDNIS 90/ , Dr. André Hahn, DIE GRÜNEN) ...... 21715 C Gökay Akbulut, weiterer Abgeordneter Martin Hess (AfD) ...... 21716 C und der Fraktion DIE LINKE: Gerechte Haftentschädigung für alle Dr. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ Drucksachen 19/17108, 19/20659 Buch- DIE GRÜNEN) ...... 21717 A stabe d ...... 21727 B Michael Brand (Fulda) (CDU/CSU) ...... 21717 B (SPD) ...... 21718 B in Verbindung mit Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 VII

Zusatzpunkt 10: ordneten und der Fraktion der AfD einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Bekämpfung des Abmahnmissbrauchs schusses für Recht und Verbraucherschutz zu Drucksachen 19/13205, 19/22238 ...... 21741 A dem Antrag der Abgeordneten Dr. Jürgen Martens, Stephan Thomae, Grigorios c) Beschlussempfehlung und Bericht des Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Ausschusses für Recht und Verbraucher- Fraktion der FDP: Zu Unrecht Inhaftierte schutz angemessen entschädigen – zu dem Antrag der Abgeordneten Drucksachen 19/17744, 19/20659 Buchstabe c 21727 B Roman Müller-Böhm, Stephan Thomae, Grigorios Aggelidis, weiterer Abge- Dr. (SPD) ...... 21727 C ordneter und der Fraktion der FDP: Stephan Brandner (AfD) ...... 21728 A Maßnahmen für mehr Fairness bei Axel Müller (CDU/CSU) ...... 21729 A Abmahnungen Dr. Jürgen Martens (FDP) ...... 21730 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. , Tabea Rößner, Friedrich Straetmanns (DIE LINKE) ...... 21730 D Claudia Müller, weiterer Abgeordneter Canan Bayram (BÜNDNIS 90/ und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN) ...... 21731 B GRÜNEN: Abmahnungen – Trans- Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) ...... 21732 A parenz und Rechtssicherheit gegen Missbrauch (CDU/CSU) ...... 21732 C Drucksachen 19/13165, 19/6438, 19/22238 ...... 21741 B Tagesordnungspunkt 16: Dr. Johannes Fechner (SPD) ...... 21741 B (AfD) ...... 21742 B a) Antrag der Abgeordneten , Susanne Ferschl, , weite- (CDU/CSU) ...... 21742 D rer Abgeordneter und der Fraktion DIE Roman Müller-Böhm (FDP) ...... 21744 A LINKE: Gute Arbeit und soziale Sicher- heit für Gig-Worker bei der ortsgebun- (DIE LINKE) ...... 21744 C denen Plattformarbeit Dr. Manuela Rottmann (BÜNDNIS 90/ Drucksache 19/16886 ...... 21734 A DIE GRÜNEN) ...... 21745 B b) Antrag der Abgeordneten Jessica Tatti, (SPD) ...... 21746 A Susanne Ferschl, Doris Achelwilm, weite- Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 21746 C rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gute Arbeit und soziale Sicher- heit für Crowd-Worker bei der ortsun- Zusatzpunkt 11: gebundenen Plattformarbeit Drucksache 19/22122 ...... 21734 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Ernährung und Landwirtschaft Jessica Tatti (DIE LINKE) ...... 21734 B zu dem Antrag der Abgeordneten Stephan (CDU/CSU) ...... 21735 A Protschka, Berengar Elsner von Gronow, Peter Felser, weiterer Abgeordneter und der Frak- Uwe Witt (AfD) ...... 21736 B tion der AfD: Antrag auf abstrakte Normen- Dr. (SPD) ...... 21737 A kontrolle beim Bundesverfassungsgericht Matthias Nölke (FDP) ...... 21737 D gemäß Artikel 93 Absatz 1 Nummer 2 des Grundgesetzes wegen der Verordnung zur Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ Änderung der Düngeverordnung und ande- DIE GRÜNEN) ...... 21738 C rer Vorschriften (CDU/CSU) ...... 21739 A Drucksachen 19/19158, 19/20235 ...... 21748 B Bernd Rützel (SPD) ...... 21740 B in Verbindung mit

Tagesordnungspunkt 17: Zusatzpunkt 12: a) Zweite und dritte Beratung des von der Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs schusses für Ernährung und Landwirtschaft eines Gesetzes zur Stärkung des fairen zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gero Wettbewerbs Clemens Hocker, , , Drucksachen 19/12084, 19/22238 ...... 21740 D weiterer Abgeordneter und der Fraktion der b) Zweite und dritte Beratung des von den FDP: Praxisgerechte Düngeverordnung für Abgeordneten Stephan Brandner, Fabian echten Umweltschutz Jacobi, Dr. , weiteren Abge- Drucksachen 19/11109, 19/13642 ...... 21748 B VIII Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Johannes Röring (CDU/CSU) ...... 21748 C Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär BMI . . 21770 C Stephan Protschka (AfD) ...... 21749 B Dr. Bernd Baumann (AfD) ...... 21771 B Rainer Spiering (SPD) ...... 21750 C Helge Lindh (SPD) ...... 21772 B Carina Konrad (FDP) ...... 21751 D Manuel Höferlin (FDP) ...... 21773 C (DIE LINKE) ...... 21752 C (CDU/CSU) ...... 21774 A Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 21753 B Tagesordnungspunkt 22: (CDU/CSU) ...... 21754 A Erste Beratung des von den Fraktionen der Namentliche Abstimmung ...... 21755 B CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Ergebnis ...... 21762 C Änderung des Bundeswahlgesetzes Drucksache 19/20596 ...... 21774 D (CDU/CSU) ...... 21775 A Tagesordnungspunkt 19: (AfD) ...... 21775 D Erste Beratung des von der Bundesregierung Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD) ...... 21776 C eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur aktuellen Anpassung des Freizügigkeitsge- (FDP) ...... 21778 B setzes/EU und weiterer Vorschriften an das Friedrich Straetmanns (DIE LINKE) ...... 21779 B Unionsrecht Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ Drucksache 19/21750 ...... 21755 C DIE GRÜNEN) ...... 21780 A , Parl. Staatssekretär BMI . . . . . 21755 C (CDU/CSU) ...... 21780 D Dr. Christian Wirth (AfD) ...... 21756 C (SPD) ...... 21757 B Tagesordnungspunkt 23: Konstantin Kuhle (FDP) ...... 21758 A Erste Beratung des von den Fraktionen der Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 21758 D CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . 21759 B eines Gesetzes zur Änderung des COVID- 19-Insolvenzaussetzungsgesetzes (CDU/CSU) ...... 21760 A Drucksache 19/22178 ...... 21782 A Christian Lange, Parl. Staatssekretär BMJV . . 21782 A Zusatzpunkt 13: Fabian Jacobi (AfD) ...... 21782 D Antrag der Abgeordneten Dr. Andrew Dr. (CDU/CSU) ...... 21783 C Ullmann, Michael Theurer, , weite- Stephan Thomae (FDP) ...... 21784 D rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Praxistaugliche und intelligente COVID- Dr. Manuela Rottmann (BÜNDNIS 90/ 19-Teststrategie DIE GRÜNEN) ...... 21785 C Drucksache 19/22114 ...... 21760 D Dr. Andrew Ullmann (FDP) ...... 21761 A Nächste Sitzung ...... 21786 C (CDU/CSU) ...... 21761 D (AfD) ...... 21765 B Anlage 1 (SPD) ...... 21766 D Entschuldigte Abgeordnete ...... 21797 A Dr. (DIE LINKE) ...... 21768 B Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ Anlage 2 DIE GRÜNEN) ...... 21769 A Ergebnisse der Wahl von Mitgliedern des Son- Erich Irlstorfer (CDU/CSU) ...... 21769 D dergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabili- sierungsmechanismusgesetzes (Zusatzpunkt 5 a) ...... 21797 B Tagesordnungspunkt 21: Erste Beratung des von der Bundesregierung Anlage 3 eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Sicherheit im Pass-, Ausweis- Ergebnis der Wahl eines Mitglieds des Ver- und ausländerrechtlichen Dokumentenwe- trauensgremiums gemäß § 10a Absatz 2 der sen Bundeshaushaltsordnung Drucksache 19/21986 ...... 21770 B (Zusatzpunkt 5 b) ...... 21798 A Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 IX

Anlage 4 Dr. (SPD) ...... 21802 C Ergebnis der Wahl von Mitgliedern des Gre- miums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesen- gesetzes Anlage 8 (Zusatzpunkt 5 c) ...... 21798 A Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Andrew Ullmann, Michael Theurer, Renata Alt, weite- Anlage 5 rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Namensverzeichnis der Mitglieder des Deut- Praxistaugliche und intelligente COVID-19- schen Bundestages, die an den Wahlen zu Teststrategie den Zusatzpunkten 5 a bis c teilgenommen (Zusatzpunkt 13) ...... 21803 B haben ...... 21798 B Dr. Roy Kühne (CDU/CSU) ...... 21803 B

Anlage 6 Anlage 9 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten (CDU/CSU) zu der Zu Protokoll gegebene Reden zur ersten Bera- namentlichen Abstimmung über die Be- tung des von der Bundesregierung eingebrach- schlussempfehlung des Ausschusses für ten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Ernährung und Landwirtschaft zu dem Antrag Sicherheit im Pass-, Ausweis- und ausländer- der Abgeordneten Stephan Protschka, rechtlichen Dokumentenwesen Berengar Elsner von Gronow, Peter Felser, (Tagesordnungspunkt 21) ...... 21804 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Hans-Jürgen Irmer (CDU/CSU) ...... 21804 A AfD: Antrag auf abstrakte Normenkontrolle Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 21804 C beim Bundesverfassungsgericht gemäß Arti- kel 93 Absatz 1 Nummer 2 des Grundgesetzes Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . 21805 A wegen der Verordnung zur Änderung der Dün- geverordnung und anderer Vorschriften (Zusatzpunkt 11) ...... 21801 B Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur ersten Bera- Anlage 7 tung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Geset- Zu Protokoll gegebene Reden zur ersten Bera- zes zur Änderung des COVID-19-Insolven- tung des von der Bundesregierung eingebrach- zaussetzungsgesetzes ten Entwurfs eines Gesetzes zur aktuellen (Tagesordnungspunkt 23) ...... 21805 C Anpassung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften an das Unionsrecht Alexander Hoffmann (CDU/CSU) ...... 21805 C (Tagesordnungspunkt 19) ...... 21802 A Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) ...... 21806 A (CDU/CSU) ...... 21802 A Gökay Akbulut (DIE LINKE) ...... 21806 B

Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21619

(A) (C)

173. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Amnestie erwarten konnten. Nur in dieser Unbedingtheit Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte funktioniert unsere Rechtsordnung. Das wurde Hans- nehmen Sie Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Jochen Vogel nicht müde zu erklären. Im politischen Gegner sah er – auch als Kanzlerkandi- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir gedenken heute dat im Wahlkampf – nie einen Feind, sondern den Wett- des langjährigen Partei- und Fraktionsvorsitzenden der bewerber, den es in der sachlichen Auseinandersetzung, SPD, Hans-Jochen Vogel. Er ist im Juli im Alter von im Streit zu übertreffen galt. Er wollte überzeugen, nicht 94 Jahren verstorben. überrumpeln. Auch das wird bleiben: sein Pflichtbe- wusstsein gegenüber „dem Volk und der Partei“ – diese „Lebenssatt“, mit diesem biblischen Wort beschrieb er Reihenfolge hatte er selbst gewählt – und sein strenger sich in seinen letzten Jahren. Aber von der Politik gesät- moralischer Anspruch. Der war nicht für alle immer glei- (B) tigt war Hans-Jochen Vogel dagegen nie. Unser Land chermaßen angenehm – einige werden sich erinnern –, (D) verliert mit ihm einen leidenschaftlichen Parlamentarier aber er machte ihn zu einem echten Vorbild dafür, nicht und Demokraten, einen überzeugten Sozialdemokraten. zu sehr nur an sich selbst zu denken, erst recht als gewähl- Er war ein scharfsinniger, auch scharfzüngiger Jurist. ter Repräsentant. Als Angehöriger der Kriegsgeneration hat Hans-Jochen Vogel sein unbeirrbares Eintreten für die Demokratie, für Zuletzt sprach Hans-Jochen Vogel immer wieder den Rechtsstaat, für seine Partei ausdrücklich aus seinen öffentlich über Krankheit und das Lebensende, über die Diktatur- und Kriegserfahrungen hergeleitet – nicht Unverfügbarkeit von Leben und Tod. Getragen von sei- zuletzt hier vor dem Deutschen Bundestag, in seiner nem christlichen Glauben, warnte er in der ihm eigenen Gedenkrede zur Zerstörung der Weimarer Demokratie. Klarheit davor, die Sterbehilfe zu erlauben. Es ist eine Seine Botschaft damals, 2008, war unmissverständlich, Mahnung von hoher Aktualität. und sie klingt bis heute nach: „Wer wegsieht oder nur die Achseln zuckt, schwächt die Demokratie.“ Es brau- Hans-Jochen Vogel hat sich große Verdienste um unser che das Einvernehmen über eine Werteordnung, die in der Land erworben. Der Deutsche Bundestag wird ihm ein unantastbaren Würde des Menschen gründet. ehrendes Andenken bewahren. Unsere Gedanken sind bei seiner Familie. Unser Mitgefühl gilt seiner Frau Liselotte Der Respekt vor dem Leben und vor dem Anderen war Vogel und seinem Bruder Bernhard Vogel. tief eingeschrieben in seine Biografie. Wir verlieren mit Ich bitte Sie, sich zu Ehren des Verstorbenen zu erhe- Hans-Jochen Vogel einen weiteren herausragenden Ver- ben. treter der Generation, die unsere politische Ordnung auf- gebaut und gefestigt hat. Ihr moralisches Vermächtnis gilt (Die Anwesenden erheben sich) es in unserer Gesellschaft bewusst zu halten und weiter- zutragen, auch heute, gerade heute! – Ich danke Ihnen. (Die Anwesenden nehmen wieder Platz) Als Münchner Oberbürgermeister erlebte Hans-Jochen Vogel das Attentat auf die israelische Olympiamann- Vor Eintritt in die Tagesordnung gratuliere ich nach- schaft – die „dunkelste Stunde“ seines Lebens, wie er träglich dem Kollegen Karsten Möring zu seinem selbst gesagt hat. Staat und Politik dürfen nicht erpressbar 71. Geburtstag, den Kolleginnen und Kollegen Manfred sein. Dafür stand er auch als Bundesjustizminister: Grund, Bernhard Loos, Arnold Vaatz, Hans-Jürgen unbeugsam gegenüber Terroristen der RAF, die mordeten Thies, Bundesminister Gerd Müller, Dr. Dietlind und den Rechtsstaat bekämpften und die als Bürger von Tiemann und zu ihrem 65. Geburtstag diesem Rechtsstaat selbst Schutz, Gleichbehandlung und und den Kolleginnen und Kollegen Gabriele 21620 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) Katzmarek, Ingo Gädechens und Dr. Gottfried Curio Jetzt rufe ich die Zusatzpunkte 5 a bis 5 c auf: (C) zu ihrem 60. Geburtstag. Allen alle guten Wünsche im a) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD Namen des ganzen Hauses! Wahl von Mitgliedern des Sondergre- (Beifall) miums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisie- rungsmechanismusgesetzes Wir müssen jetzt einige Wahlen durchführen. In den Verwaltungsrat des Deutsch-Französischen Jugend- Drucksache 19/21837 werks sollen für die neue Amtsperiode, die am 1. Januar b) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD 2021 beginnt, auf Vorschlag der Fraktion der CDU/CSU der Kollege als ordentliches Mit- Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgre- glied und auf Vorschlag der SPD-Fraktion die Kollegin miums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundes- Dr. Daniela De Ridder als stellvertretendes Mitglied haushaltsordnung gewählt werden. Stimmen Sie dem zu? – Das ist offen- Drucksache 19/21835 sichtlich der Fall. Damit sind die Kollegen von Marschall und Dr. De Ridder zum ordentlichen bzw. zum stellver- c) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD tretenden Mitglied des Verwaltungsrats des Deutsch- Wahl von Mitgliedern des Gremiums Französischen Jugendwerks gewählt. gemäß § 3 des Bundesschuldenwesenge- Die Fraktion der CDU/CSU schlägt vor, die Kollegin setzes Ronja Kemmer als Nachfolgerin für den Kollegen Drucksache 19/21836 Dr. Stefan Kaufmann zum Mitglied des Aufsichtsrats der Agentur für Sprunginnovationen zu wählen. Sind Die Namen der Kandidatinnen und Kandidaten entneh- Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. men Sie bitte den Stimmkarten. Dann ist die Kollegin Ronja Kemmer zum Mitglied des Bei allen Wahlen sind die Stimmen der Mehrheit der Aufsichtsrats gewählt. Mitglieder des Bundestags, also mindestens 355 Jastim- men, erforderlich. Auf Vorschlag der Fraktion der FDP soll die Kollegin Sandra Bubendorfer-Licht als Nachfolgerin für die Die Wahlen erfolgen wieder in der Abgeordnetenlob- Kollegin zur Schriftführerin gewählt by. Um größere Ansammlungen von Personen vor den werden. Sind Sie auch damit einverstanden? – Das ist Wahlkabinen zu vermeiden und den notwendigen der Fall. Dann gratuliere ich der Kollegin Bubendorfer- Abstand voneinander wahren zu können, haben Sie (B) Licht zur Wahl zur Schriftführerin. nach Eröffnung der Wahlen vier Stunden Zeit, um ihre (D) Stimmen abzugeben. Vielleicht ist es am besten so, wenn Interfraktionell sind folgende Änderungen der Tages- in den ersten zwei Stunden möglichst nur Kolleginnen ordnung vereinbart worden: Der Tagesordnungspunkt 27 und Kollegen, deren Nachnamen mit den Buchstaben A soll abgesetzt werden. An dieser Stelle soll der Antrag bis K beginnen, zur Wahl gehen. Die anderen, deren „Konsequenzen aus dem Brand in Moria ziehen“ beraten Nachnamen mit den Buchstaben L bis Z beginnen, folgen werden. dann in den anderen zwei Stunden. In verbundener Beratung mit dem Tagesordnungs- Für die Wahlen benötigen Sie Ihren Wahlausweis in punkt 31 soll der Antrag „Verwaltung und Behörden zu der Farbe Grau aus Ihrem Stimmkartenfach. starken Dienstleistern machen: Strategie für den Einsatz künstlicher Intelligenz vorlegen“ aufgerufen werden. In der Abgeordnetenlobby erhalten Sie an den Aus- gabetischen nach Vorzeigen Ihres Wahlausweises drei In verbundener Beratung mit den Ohne-Debatte-Punk- Stimmkarten in den Farben Blau, Gelb und Rot. Da die ten sollen die Anträge der AfD-Fraktion auf den Druck- Wahl der Mitglieder des Sondergremiums geheim durch- sachen 19/22197, 19/22196, 19/22199, 19/22188 und zuführen ist, erhalten Sie zu der für diese Wahl vorge- 19/22191 aufgerufen werden. sehenen Stimmkarte in der Farbe Rot zusätzlich einen Wahlumschlag in der Farbe Rot, in den die ausgefüllte Der Tagesordnungspunkt 33 r soll in Verbindung mit Stimmkarte einzulegen ist. Tagesordnungspunkt 34 aufgerufen werden. Am Ausgabetisch erhalten Sie also drei Stimmkarten Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen und einen Wahlumschlag in einem Paket. In der Wahl- Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. kabine sind die drei Stimmkarten anzukreuzen. Es darf zu jeder Kandidatin bzw. zu jedem Kandidaten nur ein Bevor ich den ersten Tagesordnungspunkt aufrufe, Kreuz, entweder bei „ja“, „nein“ oder „enthalte mich“, begrüße ich unseren neuen Direktor beim Deutschen gemacht werden. Alles andere führt zur Ungültigkeit der Bundestag, Herrn Dr. Lorenz Müller, der zum ersten Stimme. Mal hinter mir Platz genommen hat. Die Stimmkarte für die geheime Wahl ist in der Wahl- (Beifall) kabine in den Wahlumschlag zu legen. Ich weise wieder darauf hin, dass das Fotografieren oder Filmen der aus- Lieber Herr Müller, ich wünsche Ihnen persönlich und gefüllten Stimmkarte bei der geheimen Wahl einen Ver- im Namen des ganzen Hauses gutes Geschick und viel stoß gegen das Wahlgeheimnis darstellt und die Ordnung Erfolg bei der Ausübung dieses wichtigen Amtes. und Würde des Hauses verletzt. Für den Fall, dass ich von Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21621

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) solchen Verstößen gegen das Wahlgeheimnis in dieser Lassen Sie mich kurz einige Fakten zum Jahresbe- (C) Sitzung oder später Kenntnis erlange, behalte ich mir richt 2019 nennen. Es freut mich sehr, dass wir wieder- schon jetzt vor, Ordnungsmaßnahmen zu ergreifen. holt einen Anstieg der Anzahl eingereichter Petitionen Nach Verlassen der Wahlkabine übergeben Sie bitte auf 13 529 Petitionen verzeichnen konnten. Die Anzahl der Schriftführerin oder dem Schriftführer an der Wahl- eingereichter Petitionen ist damit in den letzten fünf Jah- urne Ihren Wahlausweis. Die Abgabe des Wahlausweises ren um 20 Prozent angestiegen. Das unterstreicht das dient als Nachweis für die Beteiligung an den Wahlen. Interesse der Bevölkerung an Politik und den Willen der Kontrollieren Sie bitte, ob der Wahlausweis Ihren Namen Menschen beim Mitgestalten unseres Landes. trägt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- In die entsprechend gekennzeichneten Wahlurnen sind ordneten der SPD und der FDP) farblich getrennt die drei Wahlunterlagen, also der Wahl- Als starker Befürworter der Digitalisierung begrüße umschlag sowie die zwei Stimmkarten für die offenen ich es außerordentlich, dass die Zahl der digital einge- Wahlen, einzuwerfen. reichten Petitionen weiter steigt. Auf unserer Plattform Jetzt bitte ich die Schriftführerinnen und Schriftführer, haben sich im letzten Jahr über 850 000 Nutzerinnen die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Das ist der Fall. und Nutzer neu registriert; dies entspricht einer Steige- rung gegenüber dem Vorjahr von über 40 Prozent. Im Ich eröffne die Wahlen. Damit wir genau auf vier Stun- Berichtsjahr wurden 929 Petitionen auf unserer Internet- den kommen, erfolgt die Schließung der Wahlen um 1) plattform veröffentlicht; das sind mehr als doppelt so 13.11 Uhr. viele wie noch 2015. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Es beeindruckt mich sehr, dass so viele Nutzerinnen Beratung des Berichts des Petitionsausschusses und Nutzer auf diesem Forum die Petitionen, insbeson- Bitten und Beschwerden an den Deutschen dere die zur gesetzgeberischen Gestaltung, angeregt und Bundestag zumeist konstruktiv diskutieren. Mit großer Freude stel- len wir auch fest, dass im Vergleich zu den Einzelfallpe- Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des titionen die Anzahl der Petitionen mit klaren gesetzge- Deutschen Bundestages im Jahr 2019 berischen Ideen, die einen Input in unser Haus bringen, Drucksache 19/21900 deutlich angestiegen ist. Für die Aussprache wurde eine Dauer von 60 Minuten Wir dürfen aber nicht vergessen, dass neben diesen beschlossen. Petitionen zur Gesetzgebung auch zahlreiche Einzelfall- petitionen an uns herangetragen werden. Sie sind unser (B) Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem wichtiges Brot-und-Butter-Geschäft und haben im letzten (D) Vorsitzenden des Petitionsausschusses, dem Kollegen Jahr 55 Prozent aller Eingaben ausgemacht. Dabei ging es Marian Wendt. beispielsweise um Meinungsverschiedenheiten mit der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Bundesagentur für Arbeit bzw. den Jobcentern hinsicht- lich der Bearbeitungsdauer von Anträgen und der Höhe Marian Wendt (CDU/CSU): von Leistungen. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Die Zahl der Mitzeichnungen hat sich gegenüber dem Kollegen! Übernehmen Petitionen die Aufgabe des Parla- Vorjahr mehr als verdoppelt. Wir konnten mehr als ments? Diesen Eindruck könnte man schnell gewinnen, 1,8 Millionen Mitzeichnungen bei öffentlichen Petitionen wenn man sich das letzte Jahr, vor allem die letzten verzeichnen, darunter circa 1 Million elektronische Mit- Monate, einmal näher anschaut. Besonders prominente zeichnungen. Das zeigt, dass trotz aller Digitalisierung und medienwirksame Petitionen werden von der Öffent- knapp die Hälfte aller Mitzeichnungen noch in Form lichkeit außerhalb des Parlaments breit diskutiert. der klassischen Unterschriftenliste, per Fax oder auch Die Politisierung des Petitionswesens ist in den letzten per Brief, bei uns eingehen. Jahren stark angestiegen. Eingaben wie die zur Reduzie- Dieses Engagement der Bürgerinnen und Bürger führte rung des Mehrwertsteuersatzes auf Periodenprodukte dazu, dass 2019 17 Eingaben das Quorum von konnten viele Menschen mobilisieren. Noch bevor sich 50 000 Mitzeichnungen erreichten, das erforderlich ist, der Bundestag der Sache annahm, schien die Öffentlich- damit die Petition bei uns in öffentlicher Beratung behan- keit den Ausgang der Petition bereits festgestellt zu delt wird. Das sind fast dreimal so viele Petitionen wie im haben. Die Öffnung des Parlaments ist richtig und wich- Vorjahr. tig. Wir dürfen aber nicht zulassen, dass die repräsenta- tive Demokratie geschwächt wird. Bei den mitzeichnungsstärksten Petitionen im Jahr 2019 ging es um das Verbot des Versandhandels mit Ich bin stolz darauf, dass kein Bundestagsausschuss verschreibungspflichtigen Medikamenten – gut eine stärkere Bürgernähe und -beteiligung aufweist als 413 000 Menschen haben mitgezeichnet –, die angemes- der Petitionsausschuss. Wir geben, anders als die bekann- senen Übergangsregelungen für Psychologiestudierende ten Konzerne, die Garantie, dass jede Petition entgegen- und Psychotherapeutinnen und -therapeuten in Ausbil- genommen, sorgfältig geprüft und beschieden wird. Wir dung – hier gab es gut 84 000 Mitzeichnungen – und sind das Original! die Besteuerung von Periodenprodukten mit dem ermä- ßigten Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent; hier gab es gut 1) Ergebnisse auf den Seiten 21677 A, 21677 B 82 000 Mitzeichnungen. Zu all dem gab es eine breite 21622 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Marian Wendt (A) mediale Debatte, die lebhaft geführt wurde, und zwar (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Aber es (C) nicht nur auf der Homepage des Petitionsausschusses steht in der amerikanischen Verfassung!) des Deutschen Bundestages. Der Petitionsausschuss versteht sich als Anwalt der Von den 17 Petitionen, die das notwendige Quorum Bürgerinnen und Bürger. Wir bemühen uns mit großem von 50 000 Unterschriften erreicht haben, konnten wir Engagement darum, die bestmögliche Lösung für jede 14 Eingaben im Rahmen einer öffentlichen Sitzung Petentin und jeden Petenten zu finden. Dabei arbeiten behandeln. In diesen öffentlichen Sitzungen konnte der wir meist sehr konstruktiv zusammen, auch – und das Petent oder die Petentin sein oder ihr Anliegen persönlich ist die Besonderheit unseres Ausschusses – über die Frak- vor den Ausschussmitgliedern und den anwesenden tionsgrenzen hinweg. Wir sind uns alle einig, dass das Regierungsvertretern vortragen. Themen waren unter Petitionsrecht dem Bürger eine echte Chance für mehr anderem das Terminservice- und Versorgungsgesetz direkte Beteiligung bietet. oder das generelle Tempolimit auf Autobahnen. Ein Appell an die Bürgerinnen und Bürger sei mir an Mich persönlich freut es sehr, dass die bereits erwähnte dieser Stelle erlaubt: Bitte nutzen Sie die Chance! Nutzen Petition zur Besteuerung der Periodenprodukte mit dem Sie die Chance, eine Petition einzureichen! Es ist ganz ermäßigten Mehrwertsteuersatz schnell und erfolgreich einfach. Seien Sie gewiss, dass jede Petition von uns ernst im Sinne des Petenten und damit auch im Sinne der Bür- genommen und gewissenhaft bearbeitet wird. gerinnen und Bürger abgeschlossen werden konnte. Der Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Petitionsrecht ist Petitionsausschuss war der Treiber des politischen Pro- eine historische Leistung unserer Demokratie. Deshalb zesses und eröffnete so den Bürgerinnen und Bürgern das müssen wir uns umso mehr den Versuchen entgegenstel- Tor zum Deutschen Bundestag. Wir sind die Tür in unser len, das Petitionsrecht zu missbrauchen. Konzerne dürfen Haus hinein. ihre kommerziellen Interessen nicht unter dem Deckman- Um Veränderungen anzustoßen – das ist sehr wichtig –, tel des Gemeinwohls verkaufen. Nennen wir es doch ist nicht allein die Zahl der Unterschriften maßgebend. beim Namen: Betriebe und Unternehmen arbeiten in Eine Petition mit nur wenigen Mitzeichnungen führte unserer sozialen Markwirtschaft gewinnorientiert, was etwa dazu, dass die Sonderurlaubsregelungen bei Reha- richtig ist. Das ist auch gut so. Aber die Politik muss maßnahmen geändert wurden. den entsprechenden Interessenausgleich zwischen Gewinnorientierung und Gemeinwohl schaffen. Ich glau- Ein auch für mich persönlich sehr erfreuliches Ergeb- be, liebe Kolleginnen und Kollegen, das werden wir auch nis konnten wir in einem Fall der Familienzusammen- schaffen. führung erzielen. Der sich in Deutschland aufhaltende (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (B) minderjährige Petent bat um Visa für seine Geschwister, (D) um diesen die Einreise nach Deutschland zur Familien- SPD und der FDP) zusammenführung zu ermöglichen. Der Ausschuss kon- Das Petitionsrecht ist Instrument der Bürgerinnen und taktierte verschiedene Ministerien und konnte schließlich Bürger. Das Petitionsrecht gibt ihnen die Möglichkeit, eine Familienzusammenführung ermöglichen. direkt mit dem Deutschen Bundestag in Kontakt zu tre- Solche Berichterstattergespräche finden oft im Hinter- ten. Das Petitionsrecht beteiligt sie an der Weiterentwick- grund statt. Dabei werden Gespräche unter anderem mit lung unseres Landes. Es ist aus meiner Sicht eine echte den Ministerien geführt; in meinem Beispielfall fanden Chance für mehr Teilhabe und Partizipation. Gespräche mit dem Innenministerium statt. Mit Herrn Aber übernehmen Petitionen die Aufgabe des Parla- Staatssekretär Mayer haben wir schon sehr viele gemein- mentes? Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das Peti- same Berichterstattergespräche geführt. Wir arbeiten eng tionswesen zu stärken, heißt, unsere repräsentative zusammen. Für die gute Zusammenarbeit und die vielen Demokratie zu stärken. Deshalb ist eine Politisierung Problemlösungen möchte ich meinen Dank aussprechen. des Petitionsausschusses uns allen willkommen. Wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- müssen als Parlament lernen, konstruktiv mit den öffent- ordneten der SPD) lichen Debatten umzugehen, ohne uns vor ihnen hertrei- ben zu lassen. Das ist eine Chance auch für uns, aktiv in 20 solcher Berichterstattergespräche konnten im letz- den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern zu treten. ten Jahr geführt werden. Dabei konnten die persönlichen Anliegen der Bürgerinnen und Bürger behandelt und Der wichtigste Gedanke zum Schluss, meine Damen einer Lösung zugeführt werden. und Herren: Ein Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mit- arbeitern unseres Sekretariates, unseres Ausschussdiens- Natürlich können wir nicht alle Wünsche der Petentin- tes. nen und Petenten erfüllen. In diesen Fällen versucht der (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Ausschuss dadurch zu helfen, dass er den Bürgerinnen und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie und Bürgern die gesetzlichen Grundlagen und die staat- bei Abgeordneten der AfD und der LINKEN) lichen Entscheidungen erläutert und nachvollziehbar macht. So konnte der Ausschuss beispielsweise dem Knapp 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundes- Anliegen, das Streben nach Glück ins Grundgesetz auf- tagsverwaltung unterstützen die 28 Kollegen im Aus- zunehmen, nicht entsprechen. Wir antworteten dem schuss bei der Bewältigung der zuletzt 13 500 Petitionen Petenten, dass das persönliche Glücksempfinden über- im Jahr. Eine kleine Delegation hat heute hier Platz wiegend von privaten Umständen geprägt ist, auf die genommen, um diesen Ausschuss zu vertreten. Einen der Staat keinen oder nur bedingt Einfluss hat. ganz herzlichen Dank an diese Kolleginnen und Kolle- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21623

Marian Wendt (A) gen, an die Mitarbeiter des Ausschusses und alle Bürger- Thema ist zu groß oder zu klein, kein Anliegen zu laut (C) innen und Bürger, die sich aktiv für unser Gemeinwohl oder zu leise, keine Beschwerde zu kompliziert oder gar einsetzen. zu einfach. In diesem Sinne: Vielen Dank. Petitionen wirken. Ein gutes Beispiel dafür – übrigens keine öffentliche Petition, sondern ein Brief einer einzel- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie nen Person – ist eine Petition, die der Ausschuss einstim- bei Abgeordneten der AfD, der FDP, der LIN- mig zur Berücksichtigung an die Bundesregierung über- KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- wiesen hat. Mehrere Ministerien arbeiten daran, diese NEN) Gesetzeslücke zu schließen. Es geht um Fälle, in denen Menschen mit psychischen Behinderungen ins Kranken- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: haus gehen müssen. Diese Menschen müssen schon im Vielen Dank, Herr Kollege Wendt. – Nächster Redner Alltag stets von jemandem professionell begleitet wer- ist der Kollege Stefan Schwartze, SPD. den, von jemandem, dem sie vertrauen. Genau diese Begleitung brauchen sie auch ganz besonders dringend (Beifall bei der SPD) während der Zeit im Krankenhaus. Es geht hier nicht um die pflegerische Arbeit, sondern es geht darum, den Men- Stefan Schwartze (SPD): schen zu erklären, was mit ihnen geschieht, und ihnen in Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- der Situation zur Seite zu stehen. So etwas kann nur eine nen und Kollegen! Ich freue mich, so viele Staatssekre- Vertrauensperson leisten. Nach der geltenden Rechtslage täre hier begrüßen zu dürfen, mit denen wir eng zusam- gibt es hier noch eine gesetzliche Lücke; denn die Siche- menarbeiten. Die Minister freue ich mich in der nächsten rung der Begleitung ist nicht gewährleistet, da bislang die Anhörung wiederzusehen. Sie stehen uns und auch den Kosten dafür nicht übernommen werden. Der Ausschuss Petenten dann Rede und Antwort. wird ganz genau darauf achten, dass wir hier eine Lösung Meine Damen und Herren, als Allererstes möchte ich im Sinne der Betroffenen bekommen. den Mitarbeitern des Ausschussdienstes und in unseren (Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜND- Büros danken, die ganz viel Arbeit für die Anliegen der NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Menschen erledigen. Ohne sie könnten wir unsere Auf- ten der CDU/CSU) gaben nicht erfüllen. Danke schön! Wie wichtig das ist, durfte ich bei meinen Besuchen im (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Wohnheim Spatzenberg in Löhne in meinem Wahlkreis bei Abgeordneten der FDP) erfahren. Hier sind Menschen mit Autismus zu Hause. (B) Liebe Mitmenschen, egal ob jung, alt, männlich, Für sie ist ein Aufenthalt im Krankenhaus eine ganz (D) weiblich, deutsch oder mit einer anderen Staatsangehö- besondere Herausforderung. Sie brauchen dabei diese rigkeit, einfach alle: Schreibt Petitionen! Die Politik Vertrauensperson; nur so ist eine Behandlung überhaupt braucht die Themen, die Sie bewegen. In der letzten möglich. Zeit sind Petitionen beim Deutschen Bundestag in der Auch wenn der Ausschuss sehr solide arbeitet, braucht öffentlichen Wahrnehmung sichtbarer geworden. Das ist er unbedingt ein Update seiner Abläufe und der Technik. gut so. Ich will schneller werden, viele Verfahren dauern mir oft Gesprochen und berichtet wird aber vor allem über die zu lange. Ich will Petitionen transparenter bearbeiten. Bei öffentlichen Petitionen, die eine große Zahl an Mitzeich- jedem Onlineeinkauf kann man den Status der Bestellun- nungen erreicht haben. Ein weitverbreiteter Fehler gen nachverfolgen. Das muss doch auch bei einer Petition sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in möglich sein. der Berichterstattung ist, dass eine Petition als gescheitert (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei gilt, wenn sie keine 50 000 Unterstützerinnen und Unter- Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜND- stützer erreicht. Das ist falsch. NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Wir müssen verständlicher mit den Menschen kommu- CDU/CSU) nizieren. Ich will über meine Arbeit im Petitionsaus- Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages bear- schuss auch öfter öffentlich sprechen und für sie werben. beitet jede Petition; genau das ist unsere Stärke. Es sollte eine Debatte auch zur Hälfte eines Jahres erfol- gen, dann ohne Vorlage eines Berichts. So können wir für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den Ausschuss werben. der CDU/CSU und des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD) NEN]) Ich will, dass der Petitionsausschuss endlich eine App bekommt; ich glaube, das habe ich vor acht Jahren das Ich bin in der dritten Wahlperiode Mitglied dieses Aus- erste Mal gesagt. schusses. Ich habe im letzten Jahr 300 Petitionen bearbei- tet. Ich freue mich über jede weitere, die auf meinem Persönlich finde ich es sehr spannend, auch über das Tisch landet; denn ich brauche sie, um Fehler in der Amt einer Bürgerbeauftragten, eines Bürgerbeauftragten Gesetzgebung zu finden, um Veränderungen in unserem auf der Bundesebene zu diskutieren. Er oder sie könnte in Land aufgezeigt zu bekommen und darauf reagieren zu einem gestärkten Petitionswesen den Bürgeranliegen ein können. Jede Petition ist mir dabei gleich wichtig. Kein Gesicht geben: ein Anwalt für Bürgerinteressen, der in 21624 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Stefan Schwartze (A) Abstimmung mit einem starken Petitionsausschuss und (Timon Gremmels [SPD]: Stimmt doch gar (C) angebunden an ihn die Interessen der Bürger noch viel nicht!) besser vertreten könnte und unsere Wahrnehmung in der und wir verhinderten, dass der Begriff „Zensuraus- Öffentlichkeit deutlich stärken könnte. schuss“, Herr Gremmels, zutrifft. Heute kann ich sagen – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. so viel sei gestattet –, dass auch durch unser wiederholtes Einwirken deutlich mehr veröffentlicht wird als früher. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der AfD – Timon Gremmels [SPD]: CDU/CSU und der FDP) Das ist falsch!) Einer politischen Willkür allerdings, welche Bürgeran- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: liegen veröffentlicht werden, bleibt die Tür geöffnet. Jetzt hat das Wort der Kollege Johannes Huber, AfD. (Timon Gremmels [SPD]: Falsch!) (Beifall bei der AfD) Daher wollen wir weiterhin die Richtlinie für öffentliche Petitionen überarbeiten und verbindlich in der Geschäfts- Johannes Huber (AfD): ordnung des Bundestags verankern. Sie können ja Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Mitbürger! Arti- zustimmen. kel 17 des Grundgesetzes gibt jedermann das Recht, sich (Beifall bei der AfD) schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an den Deut- Liebe Mitbürger, im letzten Jahr ging der Preis für das schen Bundestag zu wenden. Seit die AfD im Jahr 2017 Ministerium mit dem größten Handlungsbedarf an das in den Deutschen Bundestag eingezogen ist, in dieses Innenministerium. In erster Linie richteten sich die Hohe Haus, hat sich der zuvor kontinuierliche Rückgang Zuschriften gegen den von der Bundesregierung vorge- an Petitionen umgekehrt. legten Entwurf zur Änderung des Waffengesetzes. Dank (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des über 50 000 Mitzeichnern gab es dazu im Januar 2020 BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) eine öffentliche Anhörung mit dem Petenten. Der Beitrag der AfD ist es unter anderem, die Demo- Trotz des Lockdowns in diesem Jahr wird es voraus- kratie ein großes Stück wiederbelebt und Menschen sichtlich 15 öffentliche Anhörungen 2020 geben: im zurück in den politischen Diskurs gebracht zu haben, Dezember dieses Jahres über die Einberufung einer die sich zuvor nicht mehr vertreten gefühlt hatten. Expertenkommission mit Befürwortern und Kritikern des bundesweiten Coronavirus-Lockdowns. Sie sehen (Beifall bei der AfD – Timon Gremmels [SPD]: (B) also: Während die Bundesregierung mit Christian Dros- (D) Sie haben den Ausschuss zum Teil miss- ten und Lothar Wieler nur zwei sogenannte Experten braucht!) gelten lässt, ist der Petitionsausschuss dank den Bürgern Das Petitionsportal ist dabei das mit Abstand erfolg- bereits einen Schritt weiter. reichste Internetangebot des Deutschen Bundestages. Im (Beifall bei der AfD) Vergleich zum Vorjahr haben sich 40 Prozent mehr Bürger auf der Plattform registriert, um sogar 45 Prozent Obwohl der Bundestagspräsident Dr. Schäuble erst mehr Mitzeichnungen an öffentlichen Petitionen vorzu- gestern bei der Übergabe des Petitionsberichtes wieder- nehmen. Leider ist dies aber aktuell neben nichtöffent- holte, dass er Volksabstimmungen auf Bundesebene lichen Petitionen und direkten Anfragen an die Abgeord- eigentlich gar nicht möchte, sehen das ungebrochen viele neten die einzige Möglichkeit für die Bürger, während Bürger anders und reichten Petitionen dafür ein. Obwohl einer Legislatur an der Bundespolitik direkt mitzuwirken. sogar der Koalitionsvertrag eine Expertenkommission Aus diesem Grund wollen wir die direkte Demokratie in dafür zum Ziel hat, haben es CDU, CSU und SPD bis unserem Land endlich weiter ausbauen. heute nicht einmal geschafft, die Kriterien zu benennen, nach denen die Sachverständigen eingeladen werden. Ich (Beifall bei der AfD) muss also sagen: Nach drei Jahren hat die Große Koali- Sehr herzlich begrüße auch ich die Mitarbeiter des tion hier absolut gar nichts geschafft, womöglich weil sie Ausschussdienstes. es gar nicht schaffen möchte. (Timon Gremmels [SPD]: Die werden von (Beifall bei der AfD) Ihnen öffentlich angegriffen!) Und wenn der Petitionsausschuss dann zusammen mit Zu jeder Petition, müssen Sie wissen, verfassen sie im dem gesamten Bundestag mehrheitlich beschließt, ein Schnitt drei Schreiben, und sie konnten etwa ein Drittel Anliegen von Bürgern in Erwägung zu ziehen, wie es aller Bürgeranliegen bereits im Vorfeld des parlamentari- im Berichtsjahr zur Kfz-Versicherung und zum Lärm- schen Prozesses durch unbürokratische Hilfe erledigen. schutz zweimal der Fall war, dann fühlt sich die Regie- Einen großen Dank an die fleißigen Mitarbeiter! rung nicht an die Mehrheitsbeschlüsse gebunden und lehnt diese Verbesserungsvorschläge der Bürger einfach (Beifall bei der AfD) ab. Was die Veröffentlichung von Petitionen angeht, ver- Das passt ins Bild; denn schon seit drei Jahren können melde ich ebenfalls einen Erfolg. Sie erinnern sich an den wir von der AfD beobachten, wie die Legislative, der UN-Migrationspakt, bei dem erst durch die Beharrlich- Bundestag, von der Bundesregierung nur zum Abnicken keit der AfD eine Petition veröffentlicht wurde von Gesetzen benutzt wird, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21625

Johannes Huber (A) (Timon Gremmels [SPD]: Quatsch!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (C) die nicht der verfassungsmäßige Gesetzgeber, sondern ordneten der SPD) die Bundesregierung eigentlich selbst geschrieben hat. (Beifall bei der AfD – Timon Gremmels [SPD]: Marc Biadacz (CDU/CSU): Das ist absurd! Bringen Sie mal Belege!) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bürgergespräche, Ideen, Sorgen und Bedenken Wir als AfD haben dagegen ein komplett anderes Demo- mitzunehmen, das ist die Aufgabe von Bundestagsabge- kratieverständnis: Der Bürger schlägt vor, der Bundestag ordneten und von allen anderen Abgeordneten in den beschließt, und die Regierung setzt um – so rum. Wich- Länder- und in den Kommunalparlamenten, also: Teil- tige Entscheidungen werden stattdessen oftmals bereits habe ermöglichen und die Menschen einbinden für die vorab im Hinterzimmer getroffen. Das wissen wir nicht Demokratie. erst seit dem Fall „Philipp Amthor“ oder den Lobbytätig- keiten einer im Fall Wirecard. Direkte Beteiligungsformate, ja, die haben wir in der Verfassung. Die Mütter und die Väter des Grundgesetzes Meine schriftliche Anfrage zu Nichtregierungsorgani- haben in Artikel 17 klar und deutlich das Petitionsrecht sationen wie dem in Berlin ansässigen und laut eigener hineingeschrieben. Und jeder kann mitmachen, jede Aussage von George Soros finanzierten European Coun- Frau, jeder Mann, egal welchen Alters, egal woher er cil on Foreign Relations ergab, kommt. Die Ideen, die Sorgen und die Bedenken, sie (Konstantin Kuhle [FDP]: Unglaublich! – landen hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf unseren Timon Gremmels [SPD]: Klären Sie erst mal Schreibtischen, Ihre Spendenaffären auf!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dass – Zitat – „Erkenntnisse aus diesen Kontakten in die der SPD) vorbereitende Diskussion zu politischen Entscheidungen und zum Regierungshandeln einfließen“. auf dem Schreibtisch bei mir im Paul-Löbe-Haus und bei euch, auch bei der SPD. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Küm- mern Sie sich mal um die Spenden von Frau (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Weidel und Herrn Meuthen! Da haben Sie der SPD) genug zu tun!) Und das ist richtig und gut so, liebe Kolleginnen und Mitglieder dieser Denkfabrik – es sind auch Sie dabei – Kollegen. sind neben Regierungsvertretern wie Staatssekretär Niels (B) Annen von der SPD etwa der mittlerweile kriegslüsterne Meine Damen und Herren, ich bin Digitalpolitiker und (D) Kandidat für den CDU-Parteivorsitz Norbert Röttgen und überzeugtes Mitglied des Petitionsausschusses. Durch die Führungskräfte der anderen angeblich demokratischen Digitalisierung kommt der Petitionsausschuss auch in die Parteien wie Franziska Brantner von den Grünen und Wohnzimmer der Bürgerinnen und Bürger. Der Petitions- Alexander Graf Lambsdorff von der FDP. ausschuss auf der Seite des Deutschen Bundestags ist eine Erfolgsgeschichte. Wir sind Benchmark. Wir haben (Beifall bei der AfD – Konstantin Kuhle über 3 Millionen registrierte Nutzer für den Petitionsaus- [FDP]: Guter Mann! – [DIE LIN- schuss. Das ist ein Erfolg. Wir sind Benchmark, und KE]: Aus der Schweiz werden Sie gesteuert! darüber, glaube ich, müssen wir uns auch freuen. Die fünfte Kolonne!) Diese offensichtlichen Verflechtungen, Herr Korte, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bestätigen die Vermutung vieler Bürger, dass sich die der FDP – Jan Korte [DIE LINKE]: Na ja! Die selbsternannten demokratischen Parteien, die „besseren einen sind Benchmark, die anderen sind etwas Demokraten“ in diesem Land, in Wahrheit am liebsten anderes!) am Parlament und damit an den Bürgern vorbei in den Lieber Herr Huber, das ist nicht Ihr Erfolg. Das ist Hinterzimmern absprechen. nicht der Erfolg der AfD. Es ist der Erfolg der Demokra- (Beifall bei der AfD) tie, es ist der Erfolg des Grundgesetzes, dass diese Zahlen steigen. Also so ein Kokolores! Ein bisschen Demut bit- Was wir aus diesem Grund brauchen, ist ein Lobbyre- te! Das ist nicht Ihr Erfolg! gister, das seinen Namen verdient, und einen solchen Antrag wird die AfD morgen in den Bundestag einbrin- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP gen. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jan (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Doch Korte [DIE LINKE]: Da hat er recht!) schon morgen!) Herr Huber, ich habe mir eigentlich vorgenommen, Die Fortsetzung folgt. über die AfD nichts zu sagen. (Beifall bei der AfD) ( [AfD]: Na, dann sag nichts!) Aber einen Punkt sage ich doch: Abnicken tut hier im Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Parlament niemand. Nächster Redner ist der Kollege Marc Biadacz, CDU/ CSU. (Lachen bei der AfD) 21626 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Marc Biadacz (A) Auch während der schweren Zeit der Pandemie waren Ich danke all denjenigen, die daran mitarbeiten: dem (C) wir alle hier. Wir haben gerungen, wir haben nachge- Ausschuss, der AG, den Kolleginnen und Kollegen im dacht, und wir haben Entscheidungen gemeinsam mit Ausschuss. Lassen Sie uns so weitermachen – für die der Regierung getroffen. Von „Abnicken“ bitte ich Sie Petitionen, für die Bürgerinnen und Bürger und für die Abstand zu nehmen. – Danke schön. Demokratie in diesem Land. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage als SES 90/DIE GRÜNEN) Digitalpolitiker auch ganz deutlich: Ja, wir müssen noch stärker in die sozialen Medien, auch der Petitionsaus- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: schuss. Lieber Kollege Schwartze von der SPD: Ja, wir brauchen auch eine App; da bin ich mit dabei. Lassen Sie Das Mikrofon wird für den Kollegen Manfred uns das angehen; das kriegen wir hin. Denn den digitalen Todtenhausen, FDP, vorbereitet. Stempel des Petitionsausschusses auf eine Petition, den (Beifall bei der FDP) gibt es nur hier bei uns im Deutschen Bundestag, und der wird hoffentlich in Zukunft dann auch auf der App drauf sein. Manfred Todtenhausen (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Und vor allen Dingen: Liebe Bürgerinnen und Bürger! Wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. haben gerade den Redebeitrag der AfD gehört. Seien Timon Gremmels [SPD]) Sie versichert: Ich habe da eine ganz andere Betrach- Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Petitionsaus- tungsweise. Ich finde dieses Medium viel zu wichtig, schuss wirkt. Und warum wirkt er? Ich erinnere mich um es für Polemik zu nutzen. an eine klasse Petition der Petentin Jule Schulte. Völlig (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie zu Recht hat sie ein Thema aufgeworfen, über das auch bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNIS- ich erst einmal nachdenken musste: Periodenprodukte, SES 90/DIE GRÜNEN) also Binden, Tampons und Menstruationstassen. Hierfür hat ein erhöhter Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent geg- Wir reden heute über ein wichtiges Bürgerrecht. Sie olten; das war eine Ungleichbehandlung. Wir im Deut- alle haben das Recht, sich mit Bitten und Beschwerden an dieses Parlament zu wenden. (B) schen Bundestag haben dann auf Initiative der Petentin, (D) auf Initiative des Petitionsausschusses zum 1. Januar (Tino Chrupalla [AfD]: Das konnten sie in der 2020 den niedrigeren Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent Volkskammer auch!) umgesetzt. Wir haben bei der Anhörung im Petitionsaus- schuss leidenschaftlich diskutiert. Wir haben die So steht es sogar im Grundgesetz. Das Petitionsrecht ist 82 000 Unterzeichner sehr ernst genommen, und die für alle Bürgerinnen und Bürger gedacht, die sich unge- Petentin hat präzise und mit Leidenschaft für ihr Anlie- recht behandelt fühlen oder Einfluss auf parlamentarische gen gekämpft. Nun ist diese Ungleichbehandlung aufge- Arbeit nehmen wollen. Aber selbst wenn Petitionen von hoben. Das ist ein Erfolg für den Petitionsausschuss, für Vereinen, von einer Landeskirche oder von einem Unter- die Bürgerinnen und Bürger und für die Petentin. nehmen kommen, kümmern wir uns darum. Das alles hat es in dieser Wahlperiode schon gegeben. Egal von wem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die Eingabe kommt, wir bearbeiten jede. Leider wird immer wieder der Eindruck erweckt – wir Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bausteine direkter haben Ähnliches gerade schon gehört –, dass man min- Demokratie und parlamentarischer Demokratie wider- destens 50 000 Unterschriften braucht, damit der Peti- sprechen sich nicht. Mit dem Petitionswesen haben wir tionsausschuss eine Petition annimmt oder wir tätig wer- hier eine klasse Verbindung. Den Erfolg von knapp den. Das ist falsch. Eine einzige Unterschrift genügt, Ihre 14 000 Petitionen im Jahr 2019 lassen wir uns von nie- Unterschrift genügt. Jede Petition bekommt die gleiche mandem nehmen; darauf sind wir alle hier in diesem Beachtung. Hohen Haus stolz. (Beifall des Abg. Dr. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. [FDP]) Manfred Todtenhausen [FDP]) Der Unterschied ist der: Wenn eine Petition mehr als 50 000 Unterschriften erhält, wird sie im Petitionsaus- Meine Damen und Herren, ich möchte all denjenigen, schuss öffentlich beraten. Wir laden dann die Petenten die noch keine Petition im Deutschen Bundestag einge- und Regierungsvertreter ein. Außerdem übertragen wir reicht haben, von denen noch keine Petition auf unseren die Anhörung im Parlamentsfernsehen, sodass sie jeder Schreibtischen im Paul-Löbe-Haus oder woanders einge- mitverfolgen oder später abrufen kann. troffen ist, sagen: Nehmen Sie dieses Recht wahr! Geben Sie uns im Petitionsausschuss noch mehr Arbeit! Ich An dieser Stelle auch mal ein großes Lob. Wir freuen freue mich auf diese Arbeit auch in Zukunft. Es macht uns ja immer, wenn Staatssekretäre oder Abteilungsleiter wirklich große Freude, auch wenn es viel Arbeit ist. als Regierungsvertreter zu uns kommen. Ich muss aber Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21627

Manfred Todtenhausen (A) einmal Jens Spahn loben; denn dieser Minister war Der Ausschuss ist sich nicht immer einig – das muss (C) bereits zweimal persönlich bei uns. Das hinterlässt natür- man auch mal klarstellen –, und auch nicht jeder Petent lich einen ganz anderen Eindruck. bekommt eine Lösung nach seinen Vorstellungen. Man kann dem Petenten dann aber sagen, er sollte nicht ent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- mutigt sein; denn wenn sich die Zusammensetzung der ordneten der SPD) Bundesregierung durch eine Wahl ändern sollte – wir Dies könnte Vorbild für andere Ministerinnen und Minis- haben ja bald eine –, hat er die Möglichkeit, die gleiche ter sein. Wir würden uns jedenfalls darüber freuen. Petition noch einmal einzureichen. Je nachdem, wie die Mehrheitsverhältnisse sind, kann sich dann auch das (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Völlig Ergebnis ändern. berechtigt, das Lob!) Viele Petenten ärgern sich darüber, dass sie lange Bei unseren öffentlichen Anhörungen zeigt sich: Der nichts vom Ausschuss hören, nachdem sie ihre Petition Petitionsausschuss drückt sich auch nicht vor schwieri- eingereicht haben; wir haben das schon gehört. Wir müs- gen Themen; wir haben einige gerade schon gehört. Zum sen schneller und besser werden. Wir brauchen ein Beispiel haben wir über den UN-Migrationspakt öffent- Onlineangebot, sodass der Petent jederzeit einsehen lich gesprochen, über die Forderung, den Holodomor in kann, wie der Sachstand seiner Petition ist; Kollege der Ukraine als Völkermord anzuerkennen, und auch Schwartze hat etwas Ähnliches gesagt. Ich glaube, wir darüber, ob man Taiwan als eigenständiges Land diplo- sind alle dieser Meinung. matisch anerkennen sollte. Eines muss man klar sagen: Der Petitionsausschuss trifft keine politische Entschei- Die allermeisten Petitionen beraten wir übrigens nicht dung – die Erwartung haben manche –; aber er weist öffentlich. Das wäre sonst zu viel. Wir haben es gehört: die Regierung auf Missstände hin. 13 000 Petitionen gab es im vergangenen Jahr. Es wäre gar nicht möglich, das alles öffentlich zu behandeln. Des- Letztes Jahr forderte eine junge Frau – wir haben das halb mein herzlicher Dank an alle, die hinter den Kulissen schon gehört –, den Mehrwertsteuersatz auf Tampons und daran gearbeitet haben. Das sind die Mitarbeiter und Binden zu senken. Wir haben das öffentlich beraten. Der Mitarbeiterinnen des Petitionsausschusses, der Fraktio- besondere Erfolg besteht nicht nur darin, dass es durch- nen und natürlich unsere Abgeordneten, die auch eine gesetzt wurde, sondern auch in der kurzen Zeit, die es hervorragende Arbeit leisten. gebraucht hat, bis dieses Gesetz in Kraft getreten ist, nämlich weniger als elf Monate. Für ein normales Ich komme zum Schluss. Ja, liebe Kollegen, ich möch- Gesetzgebungsverfahren ist das wirklich sehr schnell. te mich auch bei Ihnen bedanken, bei den Kollegen aus allen Fraktionen, für die kollegiale Zusammenarbeit, für (B) (D) In letzter Zeit erreichen uns aber auch zahlreiche Peti- das Streiten für den Petenten und für die Suche nach tionen, in denen Probleme beschrieben werden, die sich gemeinsamen Lösungen. So, wie wir das untereinander aus Coronamaßnahmen ergeben haben, zum Beispiel aus machen, gibt es das in keinem anderen Ausschuss. Wir der Reisebranche oder von Schaustellern. Ich finde, wir diskutieren sachorientiert. Es geht um den Petenten, um müssen uns Gedanken über ein Express-Petitionsverfah- die Sache. Wir wollen gemeinsam möglichst vielen Men- ren machen; denn das übliche Petitionsverfahren dauert schen helfen. Das soll so sein, und das muss auch so manchmal zu lange. Deshalb brauchen wir eine Überhol- bleiben. spur für zeitaktuelle Petitionen. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem Im Mai haben zum Beispiel Soloselbstständige, unter BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- anderem Unternehmensgründer und Künstler, eine Peti- ordneten der SPD) tion zum Thema Coronahilfen eingereicht. Sie fordern die Regierung auf, neben laufenden Betriebskosten auch Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: den Lebensunterhalt, Miete und Krankenversicherung als notwendige Ausgaben anzuerkennen. Eines ist sicher: Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Kassner, Die Den Soloselbstständigen muss jetzt geholfen werden, Linke. und nicht erst, wenn die Pandemie vorbei ist. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Kerstin Kassner (DIE LINKE): Eine Anhörung dazu ist leider erst im Dezember mög- Werter Herr Präsident! Einen wunderschönen guten lich – so sind die Regularien –, und das kann für viele Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürger- Betroffene schon zu spät sein. innen und Bürger! Auch ich möchte meinen Vortrag mit einem Dank beginnen. Zuerst der Dank an Sie, liebe Wir waren uns letztes Jahr im Petitionsausschuss einig, Bürgerinnen und Bürger, die Sie uns mit Ihren Petitionen dass sich der Bund an der Rettung der Schwimmbäder die Augen öffnen, die Sie uns sagen, wo die Säge klemmt, beteiligen sollte, damit weiterhin alle Kinder schwimmen wo Sie Probleme haben und worum wir uns kümmern lernen – so eine Petition der DLRG. Die Regierung sollte müssen. sich daran halten, damit wir in Zukunft weniger tödliche Badeunfälle haben. (Beifall bei der LINKEN) 21628 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Kerstin Kassner (A) Das machen Sie in einzigartiger Weise. Sie vertrauen uns Ein zweiter Punkt ist, dass wir uns eigentlich vorge- (C) mit Ihren Petitionen wirklich viel, auch Persönliches, an. nommen hatten, in dieser Legislaturperiode sehr viel Herzlichen Dank dafür! weiter zu kommen, nicht wahr, Herr Vorsitzender Wendt? Wir saßen mehrmals in Klausuren zusammen und haben (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan überlegt: Was können wir noch besser machen? – Ich Schwartze [SPD]) kann nur sagen: Wir haben sechs Vorschläge eingebracht, alle sind abgelehnt worden. Ein Vorschlag war: öffentli- Der zweite Dank gilt unserem Ausschusssekretariat. ches Tagen unseres Petitionsausschusses – das hätte uns Hier wird wirklich umfangreiche Arbeit geleistet, die gutgetan –, man nur würdigen kann, und das trotz nicht besetzter Stellen, was sehr schmerzlich ist für die Menschen, die (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- diese Arbeit miterfüllen müssen. Also: Herzlichen Dank! neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- natürlich unter Einhaltung des Datenschutzes, ohne Fra- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- ge. Der zweite Vorschlag war, das Quorum abzusenken. ten der SPD und der FDP) „25 000 Unterstützer für die Behandlung in der öffent- lichen Sitzung“ war dann der kleine Kompromiss. Abge- Ein weiterer Dank gebührt unseren Mitarbeiterinnen lehnt! Ein weiterer Vorschlag war, einen Hilfsfonds ein- und Mitarbeitern in den Fraktionen oder den Büros, die zurichten, der Menschen in besonderen Härtefällen wir selbst vertreten. Auch da sind unwahrscheinlich helfen und unterstützen sollte. Abgelehnt! Also, liebe engagierte Leute am Werk. Denen möchte ich heute Kolleginnen und Kollegen, hier ist noch sehr viel Ent- unbedingt auch mal danken. wicklung möglich. (Beifall bei der LINKEN, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Eine Stunde Debattenzeit im Plenum steht dem Peti- NEN]) tionsausschuss jedes Jahr zur Verfügung; das ist meines Erachtens zu wenig. Wir alle sind dafür verantwortlich, Der dritte Grund, den ich noch erwähnen möchte, ist wie gut unser Petitionsausschuss arbeitet, und ich könnte unser eigenes Selbstverständnis als Mitglieder dieses Par- mir durchaus vorstellen, dass es bei der Verbesserung lamentes. Und da kann ich es nicht verstehen, wenn sich unserer Arbeit noch Luft nach oben gibt. Wir haben uns die Kollegen der regierungstragenden Fraktionen sozu- entwickelt, ohne Frage; aber mir geht es einfach zu lang- sagen als Türsteher für die Regierung verstehen und ein- sam, zu schleppend. Ich nenne drei Argumente, die das fach nicht zulassen, dass bestimmte Dinge an die Regie- (B) erhärten sollen: rung herangetragen werden. (D) Das erste Argument. Wir haben gehört, die Zahl der ( [CDU/CSU]: Na ja!) Petitionen, die uns erreichen, erhöhe sich nur sehr mode- rat, also 13 500 im Jahre 2019. Aber dahinter verbirgt Schauen Sie doch einmal, wie man uns diese Zusammen- sich ja viel mehr. Wenn wir all die Massenpetitionen, arbeit dankt: Hier sitzt nicht ein einziger Minister, die Unterschriften bei öffentlichen Petitionen dazuzäh- (Christine Lambrecht, Bundesministerin: Hal- len, werden es viel, viel mehr. 3 Millionen Nutzer der lo?! Ministerin! – Ralph Brinkhaus [CDU/ Plattform „Petitionen des Bundestages“ – das sagt doch CSU]: Staatssekretär!) etwas. Das sind viele Menschen, die einfach Wege suchen, um mit ihrer Unzufriedenheit fertigzuwerden. – Oh, Entschuldigung! Danke, dass Sie da sind. Aber es sind viel zu wenige, da geben Sie mir recht. Das soll keine Schauen wir uns an, was sich hinter diesen Petitionen Nichtachtung der Arbeit unserer Staatssekretäre sein. verbirgt. Die Petition zum Gesetz über die bedarfsgerech- te Planung der Mitarbeiter in den Krankenhäusern hatte (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Da kommen beispielsweise fast 200 000 Unterstützer. Ist das nicht so Sie nicht mehr raus, aus der Nummer!) aktuell wie nur irgendetwas? Wir haben an vielen Stellen schon sehr gut zusammenge- (Beifall bei der LINKEN) arbeitet. Es tut mir leid; ich habe das aus der Perspektive Weitere Themen beschäftigten sich mit einem umfassen- einfach nicht gesehen. Ich entschuldige mich. Trotzdem: den, sektorenübergreifenden Gesetz für Nachhaltigkeit. Es könnten mehr sein. Das ist ein Vorschlag aus der Bevölkerung zum Klima- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- schutz; den müssen wir doch ernst nehmen. ten der AfD und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- GRÜNEN) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir haben also noch viel zu tun. Das möchte ich an Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir das, was die dieser Stelle sagen. Wenn wir uns nicht dazu durchringen Bürger uns hier auf den Tisch legen, noch viel ernster konnten, der Regierung einen Beschluss zur Berücksich- nehmen. Wir brauchen diese unmittelbare Beteiligung tigung auf den Tisch zu packen, und wir nur zwei Erwä- der Bürger, diesen Austausch mit den Bürgern. Nicht gungsbeschlüsse hatten, die dann auch noch von der zuletzt hat hier ja auch unser Bundestagspräsident Wege Regierung abgelehnt wurden, dann, so meine ich, ist da aufgezeigt. Ich erinnere nur an den Bürgerrat, wo diese wirklich noch Luft nach oben. Unser Petitionsausschuss direkte Einflussnahme auch gewünscht wird. ist nur so gut, wie wir – alle Mitglieder dieses Ausschus- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21629

Kerstin Kassner (A) ses und natürlich alle Mitglieder dieses Hohen Hauses – sie einfach umsetzen. Wir diskutieren seit Jahren darüber. (C) ihn machen. Lassen Sie uns dieses Problem weiter ange- Wir müssen endlich mit der Umsetzung beginnen. Diese hen! Legislaturperiode darf nicht verstreichen, ohne dass das Vielen Dank. Petitionswesen tatsächlich erheblich verbessert wird. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]) der FDP) Es muss durchlässiger und transparenter werden. Es muss Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: leichter zugänglich, barrierefrei sein für alle Menschen in Nächste Rednerin ist die Kollegin Corinna Rüffer, diesem Land. Wir müssen die Mitwirkung an unserem Bündnis 90/Die Grünen. demokratischen Gemeinwesen verbessern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung, die Kolleginnen und Kollegen sind ganz tolle Leute. Sie tun ganz viel dafür, dass im Einzelfall geholfen wird, und Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): im Einzelfall funktioniert das auch. Dafür gibt es ja schö- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und ne Beispiele, die im Jahresbericht dargelegt sind. Für ihre Kollegen! Es ist völlig richtig: Wir haben echt Besseres Arbeit will ich ihnen noch einmal danken. zu tun, als uns hier auf die Schulter zu klopfen, das Peti- tionswesen zu loben und immer zu wiederholen, dass es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Perle der Demokratie ist; da wird ja keiner wider- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten sprechen. Wir alle, die wir im Ausschuss arbeiten, wissen der FDP) doch, dass es echt noch ganz viel Luft nach oben gibt. Wir Vor allen Dingen bin ich aber von den Bürgerinnen und müssen die Arbeit des Petitionsausschusses viel besser Bürgern beeindruckt. Ich bin beeindruckt von dem Wil- machen. len, der Unverdrossenheit und dem großen Vertrauen der Das hat ganz viel damit zu tun, dass die Verantwor- Menschen in diesem Land, das sie uns, dem Petitionsaus- tung, die wir tragen, von Jahr zu Jahr wächst. Wir können schuss und dem gesamten Parlament, entgegenbringen. das im Moment an der Statistik ablesen. Herr Wendt und Das ist wirklich bemerkenswert. andere haben es gesagt, und es stimmt ja auch: Die Anzahl der Nutzerinnen und Nutzer wächst, sie ist um (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- 40 Prozent gestiegen. Die Anzahl der Mitzeichnungen SES 90/DIE GRÜNEN) (B) ist sogar um fast 50 Prozent gewachsen. Das zeigt, dass Ich bin auch berührt und bewegt davon, wie sehr sich (D) das Instrument bei den Bürgerinnen und Bürgern Menschen öffnen, uns mit ihren persönlichen Sorgen, ankommt. Das zeigt aber auch, dass wir eine Verantwor- Ängsten und auch ihren Hoffnungen begegnen und uns tung dafür tragen, mit diesem Instrument verantwor- um Unterstützung bitten. Über 50 Prozent aller Eingaben tungsbewusst und so gut wie möglich umzugehen. sind dieser Natur; sie sind höchstpersönlich. Dieses per- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sönliche Vertrauen ist wichtig; wir dürfen es nicht ver- spielen. Denn wir im Petitionsausschuss haben das Beste zu tun – ich meine das völlig ernst –, was Abgeordnete des Deut- Schauen wir noch einmal hin, um was es geht. Es geht schen Bundestags überhaupt tun können: Wir können, ganz häufig um Probleme mit Anträgen bei Jobcentern, müssen und vor allen Dingen dürfen uns für die Anliegen Krankenversicherungen, Versicherungen im Allgemei- der Bürgerinnen und Bürger direkt einsetzen, nicht ver- nen. Menschen haben es mit Sanktionsmaßnahmen zu mittelt über Ausschüsse; die Bürgerinnen und Bürger tun, sie sind in existenziellen Krisen, und sie wenden können sich direkt an uns wenden. Sie sehen uns als die sich an uns, das Parlament, weil sie Hilfe im Einzelfall Anwälte der Menschen, als ihr Sprachrohr, die Verteidi- brauchen. gerinnen und Verteidiger ihrer Interessen. Der Präsident hat gestern gesagt: Wir können als Parla- Ich stehe hier nicht zum ersten Mal. Vielmehr habe ich ment Gesetze so gut schreiben, wie wir wollen, in der seit einigen Jahren die Möglichkeit, die Bilanz des Peti- Exekutive, in der Anwendung, wird es immer Probleme tionsausschusses zu bewerten. Jedes Jahr stehe ich hier geben. – Deswegen brauchen die Bürgerinnen und und stelle, glaube ich, ganz explizit die Stärken dieses Bürger diesen Petitionsausschuss, um im Einzelfall wirk- Ausschusses in den Mittelpunkt, aber sage auf der ande- lich aus der Krise herauszukommen. Das ist unsere Auf- ren Seite auch: Es gibt erhebliche Schwächen, an denen gabe. wir arbeiten müssen. Wir haben Erfolge zu feiern, aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir vertun Woche für Woche Chancen. Das muss sich sowie bei Abgeordneten der LINKEN) ändern, meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf der anderen Seite gibt es ganz viele kreative Men- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schen mit hohem Potenzial in Deutschland, die sich an sowie bei Abgeordneten der LINKEN) den Petitionsausschuss wenden mit Vorschlägen, um Deswegen jammern wir nicht nur, sondern legen Vor- unser Gemeinwesen nach vorne zu treiben. 2019 – es schläge vor. Frau Kassner hat es gerade gesagt: Wir haben ist nicht weiter verwunderlich – stand natürlich das The- uns im Ausschuss in der Obleuterunde zusammengesetzt. ma Klimaschutz im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: Wir haben seitenweise Vorschläge vorliegen; wir müssen Tempolimit auf Autobahnen, Klimaschutzgesetz, Bie- 21630 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Corinna Rüffer (A) nenschutz, Klimanotstand – alles Petitionen mit über Lassen Sie mich dies anhand ausgewählter Beispiele (C) 50 000 Unterstützerinnen. Sie von der AfD – Sie können aus dem aktuellen Jahresbericht etwas näher erläutern. noch so dreckig lachen, ja – haben es mit allen Mitteln Die derzeit wohl bekannteste Petition ist die Petition versucht, aber Sie konnten diesen Ausschuss nicht „Rettet die Bäder!“ der DLRG. Hier war sich der Peti- kapern, es ist Ihnen nicht gelungen. tionsausschuss fraktionsübergreifend einig: Es muss etwas geschehen, wir müssen dafür sorgen, dass die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bäderschließungen gestoppt werden, damit vor allem bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie unseren Kindern das lebensnotwendige Schwimmen bei- bei Abgeordneten der LINKEN) gebracht werden kann. Daher bitten wir mit dem höchsten Menschen, die sich konstruktiv an diesem Land betei- Votum des Ausschusses, dass sich die Bundesregierung ligen wollen, haben diese Vorschläge eingereicht. Jetzt dieser Petition annimmt. müssen wir den Auftrag daraus ziehen, es umsetzen. Hel- An dieser Stelle möchte ich unseren Bundesinnenmi- fen wir mit dabei, diesen Ausschuss auf die Beine zu nister Horst Seehofer freundlich an den in Aussicht stellen! Schöpfen wir seine Rechte im Sinne der Bürger- gestellten Goldenen Plan erinnern, den er im vergange- innen und Bürger aus! Wecken wir den schlafenden Rie- nen Dezember auf der Mitgliederversammlung des Deut- sen! Das ist die Aufgabe und mein großer Wunsch an schen Olympischen Sportbundes erwähnt hat. diesem Morgen. (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Vielen Dank. Nicht nur die DLRG, sondern vor allen Dingen viele (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Breitensportler und Spitzenathleten freuen sich, wenn bei der SPD und der LINKEN) dieser Plan zur Anwendung kommen wird. Im Petitionsausschuss bekommen wir auch Petitionen Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: eingereicht, welche die Bundeswehr betreffen. Als Mit- Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Jens Lehmann, glied des Verteidigungs- und des Petitionsausschusses CDU/CSU. habe ich an dieser Stelle dankenswerterweise einen sehr guten Überblick über die Sachlage und kann diese aus (Beifall bei der CDU/CSU) einer weiteren Perspektive betrachten. So erreichten uns beispielsweise Petitionen, welche militärische Tiefflüge Jens Lehmann (CDU/CSU): oder das Betanken in der Luft stark einschränken wollten, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Die Tätig- weil die Beschränkung die Lebensqualität in den betrof- fenen Gebieten erhöhen würde. Demgegenüber stehen (B) keit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages (D) im Jahr 2019“, hinter dem doch recht unscheinbar wir- die militärischen Erfordernisse der Bundeswehr. Solche kenden Titel verbirgt sich mehr, als es zunächst erscheint, Petitionen zeigen uns also, wie schwierig es manchmal viel mehr. Zum einen ist die Anzahl der eingereichten ist, wenn unterschiedliche Interessen aufeinandertreffen. Petitionen – meine Kollegen erwähnten es bereits – aber- (Beifall bei der CDU/CSU) mals gestiegen, um 2,5 Prozent auf insgesamt 13 529 Peti- tionen, die zeigen, wie sehr die Bürger vom Instrument Die eingereichten Petitionen zeigen uns vor allem aber, der Petition Gebrauch machen, um auf Missstände hinzu- dass Schicksale hinter den Anliegen stecken. Die Einga- weisen oder auch Gesetzesänderungen anzuregen. Mein ben an den Bundestag können auch Bereiche direkt vor geschätzter Kollege Oster hat es letztes Jahr sehr treffend unserer eigenen Haustür berühren. Ich erlaube mir daher, formuliert – ich zitiere –: zwei Petitionen zu erwähnen, die aus meinem Wahlkreis – – kommen und die mich inhaltlich besonders Das Petitionsrecht ist … ein starker Baustein in berührt haben: Sachen direkter Demokratie. Die erste Petition richtet sich gegen eine Flugroute am Die Bürger bauen auf diesen Stein, Leipziger Flughafen; hier wollen Menschen aus meiner Nachbarschaft Änderungen an den Flugrouten erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU) Die zweite Petition befasst sich mit der Aufarbeitung sie nutzen dieses Element der direkten Demokratie, um von DDR-Unrecht, nämlich den sogenannten gestohle- sich an der Architektur des Staates zu beteiligen; das nen Kindern der DDR. Sie kennen es vermutlich noch belegen die Zahlen. aus der letzten Aussprache: Es geht um Kinder, die gegen den Willen ihrer Eltern zur Adoption freigegeben wur- Die gestiegene Zahl der eingereichten Petitionen, die den, wo teilweise sogar der Tod von Säuglingen durch die im Tätigkeitsbericht beschrieben sind, zeigt jedoch noch staatlichen Stellen der DDR vorgetäuscht wurde. Wenn etwas anderes, was sich hinter dem Titel verbirgt, näm- wir hier als Petitionsausschuss unseren Beitrag dazu leis- lich die Mehrarbeit für alle Beteiligten: die Mitarbeiter ten können, dass den Betroffenen geholfen wird, und eine des Ausschusses und der Fraktionen, die Mitarbeiter der Lösung zum Wohle der Betroffenen finden, dann erfüllt Abgeordnetenbüros und die Mitglieder des Ausschusses. mich die Arbeit im Petitionsausschuss mit großem Stolz. Mich freut dieses Mehr an Arbeit. Es gibt uns die Mög- lichkeit, dass wir uns – neben der Arbeit in den Wahl- Ich möchte aber auch vor allzu großen Erwartungen an kreisen – direkt mit den Anliegen der Bürger auseinan- den Petitionsausschuss warnen. Wir sind eben keine dersetzen und im Rahmen der Möglichkeiten des Gerichtsinstanz, die Entscheidungen in die eine oder Petitionsausschusses für Verbesserungen sorgen. andere Richtung fällt. Wir befassen uns mit Themen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21631

Jens Lehmann (A) und sprechen im höchsten Fall deutliche Empfehlungen Petitionswesen, das hier auch schon vielfach gelobt wor- (C) an die zuständigen Bundesministerien aus, wenn etwas den ist, noch bürgerfreundlicher und noch offener ausge- geändert werden kann und sich ein Ministerium mit stalten. einem Thema befassen soll. Wir empfehlen aber auch, Petitionen abzulehnen, weil wir dem Anliegen nicht ent- (Beifall bei der SPD) sprechen können. Zusammengefasst: Auch wenn unsere Die gesellschaftlichen Erwartungen an die Öffentlich- Voten nicht immer im Sinne des Petenten sind, sie sind keit parlamentarischer Abläufe haben sich nämlich ver- vor allem wohlüberlegt und gründlich durchdacht; denn ändert, sie sind ganz erheblich gewachsen. Wenn wir wir nehmen jede Petition sehr ernst und prüfen umfas- unser Ohr am Gleis der Zeit haben wollen, dann müssen send den Inhalt, um zu unserem Votum als Berichterstat- wir mit der Zeit gehen und diese Brücke neu bauen. Dazu ter zu kommen. gehört für mich ganz stark der Ausbau der Öffentlich- Daher möchte ich alle Bürger auffordern, von den keitsarbeit. Zum Beispiel braucht es im 21. Jahrhundert Möglichkeiten des Petitionswesens Gebrauch zu machen. endlich einen eigenen Auftritt in den sozialen Medien. Wenden Sie sich direkt an den Deutschen Bundestag, Denkbar wäre auch eine Zusammenarbeit mit der Bun- nutzen Sie das im Grundgesetz verankerte Recht, sich deszentrale für politische Bildung oder auch – wie mein mit Bitten oder Beschwerden an die Volksvertretung zu Kollege Schwartze schon vorgeschlagen hat – eine Halb- wenden! Wir werden uns um diese Bitten kümmern. jahresbilanz des Ausschusses über diesen Jahresbericht hinaus, weil auch das Aufmerksamkeit erzeugt. Abschließend möchte ich mich noch einmal bei allen Abgeordneten, den Mitarbeitern des Ausschusses und der Wichtig wäre es auch, das Quorum für öffentliche Fraktionen sowie den Mitarbeitern der Abgeordnetenbü- Beratung von Petitionen abzusenken. Ich denke hier ros für die akribische und umfassende Arbeit bedanken: zum Beispiel an eine Absenkung der Mitzeichnungen Sie sorgen dafür, dass jede Petition die ihr zustehende auf 30 000 und auch an eine Verlängerung der Mitzeich- Aufmerksamkeit bekommt. nungsfrist auf acht Wochen. Herzlichen Dank. Die aktuelle Kampagne, die unter dem Slogan „Hey Bundestag! Lass uns reden!“ läuft, hat in dieser Woche (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der über 57 000 Mitzeichnerinnen und Mitzeichner erreicht. FDP) Erforderlich gewesen wären 50 000. Hier geht es um die CO2-Kennzeichnung von Lebensmitteln. Den Petenten Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: war die öffentliche Beratung der Petition ein sehr wichti- Nächste Rednerin ist die Kollegin Bela Bach, SPD. ges Anliegen. Es ist zwar schön, dass so viele Bürger- (B) innen und Bürger die Petition mitgezeichnet haben, aber (D) (Beifall bei der SPD) es wäre erfreulich, wenn wir die Hürden hier weiter absenken würden und dafür sorgen könnten, dass wichti- ge gesellschaftliche Debatten nicht nur von Firmen ange- Bela Bach (SPD): stoßen werden, sondern vor allem auch von einzelnen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Bürgerinnen und Bürgern. Kollegen! Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher! Das Petitionsrecht ist ein Grundrecht, das seit 1849 in (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Corinna unterschiedlichen deutschen Verfassungen verankert ist. Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Seit 1849 haben sich aber ein paar Dinge verändert. Zum Beispiel gehen Petitionen nicht mehr nur per Brief und Liebe Kolleginnen und Kollegen, die öffentlichen Dis- per Fax bei uns ein, sondern 3,3 Millionen Menschen kussionen der vergangenen Wochen waren keine Stern- nutzen das Internetportal des Deutschen Bundestages, stunden des Parlamentarismus. Sie waren geprägt von das Petitionsportal. einem aufgeblähten Bundestag im Zuge der Wahlrechts- reform und von fahnenschwingenden Nazis auf den Stu- Das hat im Übrigen auch nichts mit der AfD zu tun. Ich fen des Reichstags. Ich möchte an dieser Stelle die Gele- finde es immer wieder beeindruckend, wie bei Ihnen genheit nutzen und ganz ausdrücklich dafür danken, dass Selbst- und Fremdwahrnehmung diametral auseinander- es dem Petitionsausschuss gemeinsam mit den Mitarbei- gehen. terinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes in die- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sem Jahr gelungen ist, so viele Petitionen zu bearbeiten. der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Das ist eine der wichtigsten Brücken zum Parlament. NEN) (Beifall bei der SPD) Die Zahlen für Eingaben waren auch schon einmal Begegnen wir deshalb dem wachsenden Bedürfnis der rückläufig. Woran liegt das? Liebe Kolleginnen und Kol- Bevölkerung nach Transparenz und nach Öffentlichkeit legen, ich behaupte, wir brauchen uns nichts vorzuma- im Parlament konstruktiv. Lassen Sie uns den Petitions- chen: In der Gunst um öffentliche Aufmerksamkeit haben ausschuss digitaler, moderner und damit nahbarer uns private Kampagnenplattformen zum Teil den Rang machen. abgelaufen, sie suggerieren Einflussnahme, aber laufen eigentlich ins Leere. Das wäre aber nicht nötig, wenn Vielen Dank. die Petitionen vielmehr an den Deutschen Bundestag gerichtet würden. Deswegen müssen wir unser sehr gutes (Beifall bei der SPD) 21632 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: ist das irgendwann nicht mehr leistbar. Deswegen haben (C) Nächster Redner ist der Kollege Gero Storjohann, wir 50 000 Unterzeichner gesagt. Frau Bach, es gibt ganz CDU/CSU. wenige Petitionen, die zwischen 20 000 und 50 000 lie- gen. Wenn wir einen freien Termin haben, wenn wir also (Beifall bei der CDU/CSU) keine 50 000er-Petition haben, dann sagen wir selbstver- ständlich in der Obleuterunde: Und was können wir jetzt Gero Storjohann (CDU/CSU): nehmen, um die Lücke zu füllen? – Dann nehmen wir Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und eine 15 000er oder 5 000er. Da sind wir uns auch immer Kollegen! Am Schluss der Debatte möchte ich auf einige ganz schnell einig. Dinge eingehen, die hier auch vorgeschlagen worden Das heißt, wir müssen arbeitsfähig bleiben im Rahmen sind. Aber eines möchte ich hier abweisen: Wir sind unserer beschränkten Möglichkeiten, die wir leider kein „schlafender Riese“, Frau Rüffer. haben. Dafür setzen wir uns ein. Was wir brauchen, ist (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- eine Umstellung von der Papierakte auf die digitale Akte. NEN]: Doch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Wir sind sehr aktiv im Rahmen unserer Möglichkeiten. bei Abgeordneten der FDP) Dass man sie verbessern kann, darin sind wir uns sicher- lich auch einig. Aber wir haben die Papierakte. Die Akten werden jahr- zehntelang aufbewahrt, weil es teilweise Petenten gibt, (Beifall bei der CDU/CSU – Kerstin Kassner die sehr lange mit uns in Kontakt sind. [DIE LINKE]: Genau!) (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich möchte darauf hinweisen, dass ich seit 2005 im Obleutegremium bin und die Entwicklung kenne. 2003 Glauben Sie mir, ich freue mich, wenn ich eine Akte sind wir nach Schottland gefahren, um uns Onlinepetitio- abarbeite. Das sind dann drei Aktenordner, die ich schon nen überhaupt anzusehen. Das war damals neu. Wir mal zur Seite packen kann; besser, als wenn ich diese haben das System gekauft, und wir haben es dann im kleinen dünnen immer nehme. Deswegen: Die Umstel- Laufe der Zeit auch anpassen können, verbessern können. lung ist das Problem. Wir müssen das parallel machen, Das machen wir nicht als Petitionsausschuss, das macht mit einem Mitarbeiterstarb, der nicht wächst. Ich bearbei- die Bundestagsverwaltung, in der wir nur ein kleines te den Bereich Verkehr. Seit über einem Jahr ist die Refe- Rädchen sind und andere das für uns entscheiden müssen. rentenstelle im Bereich Verkehr nicht besetzt – nicht weil Und dann stellen wir fest, dass die Kapazitäten nicht aus- wir das nicht wollen, sondern weil es Rechte der Mit- reichen für die neue Zeit, und es braucht auch seine Zeit, arbeiter gibt. Man kann gegen eine Personalbesetzung (B) bis etwas ausgeschrieben ist und angepasst wird. klagen, und das wird auch gemacht. Dann ist ein Jahr (D) im Bereich Verkehr Stillstand. Ich kann ja keinen aus Dann stellen wir fest, dass es nicht mehr reicht, eine dem Sozialausschuss da hinsetzen; denn was beim Ver- Stunde im Ausschuss zu diskutieren. Woran liegt das? kehr bearbeitet werden muss, ist speziell. Weil wir keinen eigenen Sitzungssaal haben. Wir müssen also vor den anderen diskutieren: von 8 bis 9 Uhr. Wir (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- können das auch von 7 bis 9 Uhr oder von 6 bis 9 Uhr NEN]: Das können wir auch!) machen; das sind noch unsere Alternativen. Insofern gibt es Dinge, die wir leider nicht verändern (Timon Gremmels [SPD]: Das sagen Sie mal können. Was wir können, ist: Wir können unsere Digita- Herrn Mattfeldt!) lität vorantreiben. Das wird auch keine Wunder bewir- ken. Wir sind sechs Fraktionen mit sechs Meinungen, – Ja, ist schon klar. – Aber das ist unser Problem. Wenn manchmal sieben. Das bedeutet – das erleben wir in wir intensiver einsteigen wollen, dann müssen wir einen jedem anderen Ausschuss auch –, dass es länger dauert, eigenen Sitzungssaal haben. Jeder kann sich vorstellen, zu einer Entscheidung zu kommen. Dann sind vier Frak- wann eine Umsetzung in der heutigen Situation der Fall tionen einer Meinung, dann kommt das Thema im Aus- wäre. schuss an und Manfred Todtenhausen sagt: Also, ich habe (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und mit meinen Leuten gesprochen, wir wollen noch einmal der FDP) eine Berichterstattung haben. – Dann läuft die Petition noch einmal drei Monate, bis wir sie wieder haben. Das Wir haben mehr Zuspruch. Wir haben auch mehr Pro- ist alles richtig, es dient der Sache, aber es verlängert den bleme, in die wir einsteigen wollen. Das heißt, wir Entscheidungsprozess. Ich würde mich freuen, wenn ich machen mehr Vor-Ort-Termine, wir führen mehr Berich- von meinem Finanzamt alle drei Wochen Bescheid terstattergespräche. Berichterstattergespräche bedeutet, bekomme: Dein Antrag auf Lohnsteuerausgleich oder dass die Fachleute aus den Ministerien, sei es aus Bonn die Einkommensteuererklärung hat jetzt diesen Bearbei- oder Berlin, kommen und dass wir als Fraktionen hinter- tungsstand. – Bekomme ich aber nicht. Wenn ich einen fragen. Ein bis zwei Stunden dauert jedes Berichterstat- Bauantrag stelle, bekomme ich das auch nicht. tergespräch. Sie nehmen zu. Wir haben die öffentlichen Beratungen. Wir haben 52 Wochen, und wir können nur Wir haben einige Petenten, die bei uns in den Büros den Montag nehmen, weil wir keinen Sitzungssaal fin- bekannt sind und auch die Mitarbeiter entsprechend kon- den, weil auch andere Ausschüsse Gesetzesberatungen taktieren. Das ist auch eine Sache. Deswegen versuchen machen. Wenn jetzt die Forderung kommt, dass wir wir, die Berichterstatter öffentlich nicht transparent zu noch mehr öffentliche Beratungen machen sollen, dann machen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21633

Gero Storjohann (A) (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die erste Stellungnahme des Bundesgesundheitsministe- (C) NEN]: Wir machen das! Wir haben gerne Kon- riums war noch ablehnend. Dann kam es zu einer öffent- takt!) lichen Petition, und zwar nicht über das Portal des Bun- destages, sondern das eines privaten Anbieters, nämlich – Ja, mag ja sein; Sie haben dann ja Glück. – Wir ver- www.change.org. Dort gab es sehr viel Unterstützung, suchen, das nicht transparent zu machen, sondern es geht auch eine mediale Aufmerksamkeit. Dann hat sich unser um die Sache. Es ist auch ein gewisser Schutz für unsere Koalitionspartner bewegt. Herr Spahn, vielen Dank! Wir Mitarbeiter, dass wir das nicht allzu transparent machen. haben jetzt Gott sei Dank das Verbot der Konversionsthe- Das alles gilt es abzuwägen. Hier sind wir gerne bereit, rapie. auch in Gespräche einzutreten. Das Petitionswesen in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deutschland ist erfolgreich. Es ist insgesamt auf der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Welt ein Erfolg. Wenn jetzt vorgeschlagen wird, wir soll- ten eventuell einen Ombudsmann auf Bundesebene Dieses Beispiel zeigt aber auch, dass ein Zusammen- implementieren, dann kann man das wollen. Das wird wirken zwischen privaten Plattformen und der Plattform aber die Arbeit des Petitionsausschusses grundsätzlich des Deutschen Bundestages sinnvoll sein kann und statt- verändern. Dann sind nach meiner Auffassung die Ein- finden kann. Diese sind sozusagen nicht immer Konkur- zelanliegen beim Ombudsmann angesiedelt, und die poli- renz, sie können sich manchmal auch gegenseitig berei- tischen Anliegen, die wir auch in den Ausschüssen disku- chern. Allerdings muss man den Bürgern sagen, dass eine tieren, würden dann im Petitionsausschuss zusätzlich Petition nach Artikel 17 des Grundgesetzes nur über das noch einmal einen besonderen Drive bekommen. Das Portal des Deutschen Bundestages geht, aber die privaten möchten wir als Union nicht. Deswegen diskutieren wir Plattformen können unterstützend sein. Das ist ein positi- hierüber auch mit dem Koalitionspartner, mit Stefan ves Beispiel. Schwartze, sehr intensiv. In dieser Periode wird das Ein zweites positives Beispiel, bei dem wir etwas jedenfalls nichts. Wir wollen andere Dinge vorantreiben. geschafft haben, betrifft ein ganz anderes Themenfeld. Auf Landesebene mag das richtig sein, wir können da Man merkt, wenn man eine solche Akte auf dem Tisch jedenfalls nicht mitmachen. hat, dass man sich damit zum ersten Mal beschäftigt. Also: Meinen herzlichen Dank an die Mitarbeiter, die Bisher gab es unterschiedliche Eichfristen für Kalt- und trotz vieler Kritik von uns, die immer unberechtigt ist, Warmwasserzähler, nämlich einmal fünf Jahre und ein- weitermachen. Ich danke meinem Fraktionsvorsitzenden, mal sechs Jahre. Die Kosten für den Zählertausch sind dass er uns entsprechend ausstattet und entsprechend umlagefähig. Wenn also alle fünf bzw. sechs Jahre der Aufmerksamkeit schenkt, auch heute. Einen Dank an Warm- bzw. der Kaltwasserzähler ausgetauscht wird, ent- (B) alle, die mit mir zusammenarbeiten müssen. Ich mache stehen zweimal Kosten, die auf die Mieterinnen und Mie- (D) das gerne weiter und freue mich auf die gemeinsame ter umgelegt werden können. Dazu gab es eine Petition. Arbeit. Wir haben eine Stellungnahme des Wirtschaftsministe- riums bekommen, ich als Berichterstatter habe darum (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie gebeten – das ist auch eine Frage des Verbraucherschut- bei Abgeordneten der SPD) zes –, dass wir noch eine Stellungnahme des Justizminis- teriums bekommen. Nach einem konstruktiven Berich- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: terstattergespräch sind wir zu dem Ergebnis gekommen, Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der dass wir beide Fristen einheitlich haben möchten. Aktuel- Kollege Timon Gremmels, SPD. le Meldung aus dem Bundeswirtschaftsministerium ist, dass die Verordnung geändert wird. Herr Altmaier, vielen (Beifall bei der SPD) Dank! Sie folgen dem Petitionsausschuss in diesem Falle, dass es künftig eine einheitliche Eichfrist von sechs Jah- Timon Gremmels (SPD): ren gibt. Das ist konkreter Verbraucherschutz. Das zeigt, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- dass man in diesem Petitionsausschuss auch etwas bewir- ren! Es gibt wenige Punkte auf der Tagesordnung, bei ken kann. Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen! denen man ein solches Themenspektrum diskutieren (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) kann wie beim Jahresbericht des Petitionsausschusses. Wo sonst können Sie die Themen „Verbot der Konver- Drittes Beispiel. Eine Petition, die mich gerade sehr sionstherapie“, also Homo-Heilung, „Vereinheitlichung intensiv beschäftigt, betrifft die Kurve . Das ist der Eichfrist von Warm- und Kaltwasserzählern“ und eine Bahntrasse, die in meinem Wahlkreis gebaut werden „Bau einer Güterbahnstrecke“ sinnvoll in eine Vierminu- soll. Dazu gibt es mittlerweile sechs Bürgerinitiativen, tenrede packen? Das geht nur beim Jahresbericht des vier davon haben die Möglichkeit der Abgabe einer Peti- Petitionsausschusses. tion genutzt. Sie haben ihre Petition zum Teil schon vor einem Jahr eingereicht. Die Menschen fragen mich (Beifall bei der SPD) immer, wie denn der Sachstand sei, sie hätten bisher nur Das zeigt doch die ganze Bandbreite, mit der wir uns eine Eingangsbestätigung bekommen. Ehrlich gesagt beschäftigen, das zeigt, wie unterschiedlich die Anliegen kann ich ihre Ungeduld nachvollziehen. Ich sage ihnen der Bürgerinnen und Bürger sind. Ich möchte ein Beispiel immer, ein Jahr ginge noch, es gibt Petitionen, die sehr nennen: Das ist die Konversionstherapie, Homo-Heilung. viel länger dauern. Aber für Transparenz und Offenheit Das Durchführen dieser Therapie war bisher möglich. Es wäre es in der Tat gut, eine Art Trackingverfahren einzu- gab eine Petition, die besagte, das solle verboten werden. führen, so wie wir das auch beim Paketdienst haben, um 21634 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Timon Gremmels (A) nachverfolgen zu können, welchen Sachstand das Anlie- so richtig vorankommen – ich sage nur: Postnovelle oder (C) gen hat. Das würde uns alle entlasten, würde mehr Trans- Weltraumgesetz –, haben Sie vielleicht auch ein bisschen parenz schaffen. Lassen Sie uns das gemeinsam angehen, Redebedarf. meine sehr verehrten Damen und Herren. Der aktuelle Beteiligungsbericht der Bundesregierung Das Beispiel der Kurve Kassel zeigt auch, dass man als listet 104 unmittelbare Unternehmensbeteiligungen auf, Berichterstatter sehr viele Möglichkeiten hat, wie zum außerdem nicht weniger als 433 mittelbare Beteiligun- Beispiel Ortstermine, Berichterstattergespräche. Damit gen. Dazu gehören zum Beispiel Post, Telekom und werden wir uns noch sehr häufig beschäftigen. Bahn, aber auch der 0,05-Prozentanteil des Bundes an der Wankendorfer Baugenossenschaft in Itzehoe. Insbe- Sie sehen also, dass der Petitionsausschuss wirkt, dass sondere seit dem Amtsantritt von Ludwig Erhards selbst- wir Bürgeranliegen ernst nehmen. Ich kann alle ernanntem Erben, hier auf der Regierungsbank, sind Zuschauerinnen und Zuschauer bitten, da ich der letzte staatliche Beteiligungen in Mode gekommen. Während Redner bin, nach der Beendigung dieser Debatte auszu- die Privatisierung zum Erliegen gekommen ist, schalten oder umzuschalten – ich weiß gar nicht, welche Debatte die nächste ist, aber egal – und einfach einmal auf (Jan Korte [DIE LINKE]: Das ist schon mal epetitionen.bundestag.de zu schauen. Überlegen Sie, gut!) welches Anliegen, welche Bitte oder welche Beschwerde beteiligen wir uns an 50Hertz, Lufthansa, CureVac. Eine Sie haben. Prüfen Sie bitte, ob das wirklich eine Beteiligung an TenneT dürfte nur noch eine Frage der Beschwerde ist. Reichen Sie Ihr Anliegen ein und Zeit sein. schauen Sie einmal, was mit Ihrer Petition passiert. Ich freue mich auf jeden Fall, weitere tolle Anregungen zu In keinem dieser Fälle wäre eine staatliche Beteiligung bekommen. zwingend gewesen. Im Falle von 50Hertz hätte sich zwei- fellos ein privater europäischer Investor gefunden. In diesem Sinne alles Gute und Glück auf! ( [Erfurt] [SPD]: Wir wollten (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) das aber!) Viele Staaten haben Fluglinien ohne staatliche Beteili- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: gungen gerettet. Das wäre auch für die Lufthansa eine Damit schließe ich die Aussprache. – Ich danke allen Option gewesen. Eine staatliche Beteiligung ist auch kei- Mitgliedern des Petitionsausschusses und allen Mitarbei- ne Grundvoraussetzung für den Erfolg bei der Suche nach tern für ihre Arbeit im Namen des ganzen Bundestages. einem Covid-19-lmpfstoff. (B) (Beifall) (Beifall bei der FDP – Jan Korte [DIE LINKE]: (D) Dann rufe ich Tagesordnungspunkt 20 auf: Dass es diese Reden noch gibt, nicht schlecht! Als ob nichts passiert wäre!) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhard Houben, Michael Theurer, Dr. Marcel Bei Peter Altmaier und der Bundesregierung sitzt das Klinge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Geld jedoch sehr locker. Es ist auch nicht das eigene. der FDP Die Zinsen sind im Moment zum Glück sehr niedrig. Vielleicht befassen wir uns demnächst auch noch mit Vorfahrt für die Marktwirtschaft – Einfüh- dem Einstieg bei TUI oder thyssenkrupp. rung einer Beteiligungsbremse Aber diese Investitionen sind langfristig nicht sinnvoll. Drucksache 19/22107 Sie binden Kapital, das besser an anderer Stelle eingesetzt würde. Wer Deutschlands künftige Innovations- und Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Wohlstandsmotoren fördern will, beteiligt sich nicht an Finanzausschuss Telekom, Post und Commerzbank, sondern schafft bes- Haushaltsausschuss sere Rahmenbedingungen für die private Wirtschaft. Für die Aussprache wurde eine Dauer von 60 Minuten beschlossen. Bitte nehmen Sie unter Wahrung des (Beifall bei der FDP) Abstandsgebotes – am besten tragen Sie auch eine Mas- Auf den Zukunftsfonds, meine Damen und Herren, war- ke – den notwendigen Platzwechsel vor. ten wir hingegen bis heute, obwohl viele deutsche Unter- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem nehmen und Start-ups händeringend Wagniskapitalgeber Kollegen Reinhard Houben, FDP. in Deutschland suchen. Wann folgt Ihre Initiative? (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Staatsbeteiligungen verzerren den Wettbewerb. Der Einstieg des Bundes bei CureVac beispielsweise wirkte Reinhard Houben (FDP): wie eine offizielle Kaufempfehlung zugunsten eines ein- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- zelnen Unternehmens. Eine bessere Werbung im Vorfeld ren! Zunächst möchte ich Peter Altmaier danken, dass er des Börsenganges hätte man sich in Tübingen kaum vor- an dieser Debatte teilnimmt. Es ist durchaus ungewöhn- stellen können. lich, dass ein Bundesminister sich zu einem Antrag der Opposition im Plenum äußert. Da aber so viele Gesetz- (Jan Korte [DIE LINKE]: Das läuft richtig gut, gebungsvorhaben aus dem Wirtschaftsministerium nicht bei Krankenhäusern und so!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21635

Reinhard Houben (A) Selbstverständlich wünsche ich CureVac viel Erfolg bei Daher schlagen wir vor, dass der Bundestag in außer- (C) der Suche nach einem Covid-19-lmpfstoff und darüber ordentlichen Lagen diese Beteiligungsbremse auch tem- hinaus. porär aussetzen kann. Uns geht es nicht um eine Voll- bremsung, sondern um eine kontrollierte Rückkehr auf (Beifall bei der FDP) den Pfad der sozialen Marktwirtschaft. Das bedeutet, Aber es ist nicht die Aufgabe des Staates, sich derart vor dass wir insbesondere die Leichtfertigkeit eindämmen den Karren einzelner Unternehmen spannen zu lassen, müssen, mit der staatliche Beteiligungen eingegangen erst recht nicht, wenn es in Deutschland und Europa zahl- und gehalten werden. reiche andere Unternehmen gibt, die Ähnliches leisten wie CureVac. (Jan Korte [DIE LINKE]: Mann! Mann! Mann! – Gegenruf der Abg. Bettina Stark- (Beifall bei der FDP – Bettina Stark-Watzinger Watzinger [FDP]]: Frau! Frau! Frau!) [FDP]: Warum steigt der Staat da nicht ein!) Wir wollen, dass in Zukunft besser investiert wird, Die Beteiligung an der Lufthansa war wettbewerbspo- nämlich dort, wo es tatsächlich notwendig und zielfüh- litisch sogar so problematisch, dass die Rettung der Air- rend ist. line beinahe gescheitert wäre; denn die Wirkung der Beteiligung auf andere Investoren ist doch klar: Erstens. (Beifall bei der FDP) Das Unternehmen hat privilegierten Zugang zu Entschei- Die von uns vorgeschlagene Beteiligungsbremse sieht dungsträgern der Bundesregierung. Das belegt beispiels- daher insbesondere Folgendes vor: Für jede neue Staats- weise der Umgang der Bundesregierung mit der Deut- beteiligung muss innerhalb eines Jahres eine bestehende schen Post. Beteiligung beendet werden. Zweitens. Das Unternehmen steht unter deutlich weni- (Lachen des Abg. Jan Korte [DIE LINKE]) ger Wettbewerbsdruck. Die Erfahrung lehrt, dass Staaten bei eigenen Beteiligungen meist bereit sind, gutes Geld Der Wert der veräußerten Beteiligung muss mindestens schlechtem hinterherzuwerfen. dem der neuen Beteiligung entsprechen. (Beifall bei der FDP) (Jan Korte [DIE LINKE]: Um Gottes willen!) Und, meine Damen und Herren, man sollte sich nicht der So schaffen wir einen Anreiz, bestehende Beteiligungen Illusion hingeben, dass man dem Unternehmen selbst immer wieder auf ihren Sinn zu überprüfen. Das braucht einen Gefallen tut. Staatsunternehmen und solche mit eine soziale Marktwirtschaft als permanenten Prozess. Beteiligung sind selten wirkliche Innovationstreiber, Ich bitte daher um Ihre Unterstützung für unseren Antrag. eben weil sie sich auf dem Privileg der Beteiligung, (B) Vielen Dank. (D) dem Schutz der Regierung, ausruhen können. Und wer den Wettbewerb schwächt, meine Damen und Herren, (Beifall bei der FDP – Michael Grosse-Brömer schwächt auch Innovation. [CDU/CSU]: Oh Mann! Oh Mann! – Jan Korte (Beifall bei der FDP) [DIE LINKE]: Es läuft wirklich nicht gut bei der FDP! Es läuft nicht!) Gerade das aber kann sich Deutschland nicht erlauben, wenn wir aus der Krise schnell herauskommen und inter- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: nationalen Konkurrenten Paroli bieten wollen. Jetzt erteile ich das Wort dem Bundeswirtschaftsminis- (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ich glaube, ter Peter Altmaier. der Staat ist nicht das Problem!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Wir Freie Demokraten sind daher der Überzeugung, ordneten der SPD) dass wir umsichtiger mit Beteiligungen umgehen müs- sen. Es geht nicht darum, alle staatlichen Beteiligungen pauschal zu verdammen. Peter Altmaier, Bundesminister für Wirtschaft und Energie: (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Ganz genau! – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das Damen und Herren! Es war für mich selbstverständlich, klang aber so die ganze Zeit!) an dieser Debatte teilzunehmen, weil es um ein wichtiges Wir stellen den Sinn von Beteiligungen nicht generell Thema geht und weil es mir die Gelegenheit gibt, auch infrage. Insbesondere brauchen wir auch ausreichend noch einmal zu sagen, dass die soziale Marktwirtschaft Spielraum für Krisenlagen. vielleicht die beste wirtschaftspolitische Erfindung ist, die wir jemals gemacht haben. Sie ist von Ludwig Erhard (Zuruf des Abg. Alexander Ulrich [DIE LIN- gemacht worden. Wir haben sie verteidigt gegen alle KE]) Anfeindungen, und es gibt kein besseres Instrument, um Sowohl im Falle Lufthansa als auch bei CureVac war die festzustellen, was erfolgreich und was weniger erfolg- Staatsbeteiligung nicht alternativlos, aber wir schließen reich ist, als das Spiel der Kräfte, und deshalb liegt mir nicht aus, dass Beteiligungen in Extremsituationen not- sehr daran, dass dies auch in Zukunft so bleibt. Der Staat wendig sein könnten. ist nicht der bessere Unternehmer, (Dr. Matthias Heider [CDU/CSU]: Das ist das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Problem!) ordneten der FDP) 21636 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Bundesminister Peter Altmaier (A) er wird es auch nicht werden, und er muss es auch nicht hat uns die Deutsche Bahn gehört, so wie heute auch. Ich (C) werden. Staatsbeteiligungen nur als Ultima Ratio im kann mich nicht erinnern, dass irgendeiner von Ihren begründeten Ausnahmefall: Ja. FDP-Wirtschaftsministern einen ernsthaften und nach- Und dann bin ich auch gerne gekommen, sehr geehrter, drücklichen Versuch gemacht hat, das in seiner Amtszeit lieber Herr Houben, weil ich mich bei Ihnen persönlich zu ändern. bedanken wollte. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aber ordneten der SPD) nicht für diesen Antrag!) Und deshalb finde ich: Man muss auch glaubwürdig blei- Ihr Antrag kam mir nämlich bekannt vor. Ich habe ihn ben und muss sich dann auch mal fragen, welche Fehler gelesen und gedacht: „Mensch, das hast du schon mal und Versäumnisse man selbst begangen hat. gehört, und dann habe ich ein Dokument aus dem Ein letzter Punkt, der mir ganz wichtig ist: Ich habe Schrank genommen, nämlich die Nationale Industriestra- mich in diesen Tagen so vieler Kritik stellen müssen. Es tegie des Bundeswirtschaftsministers Peter Altmaier vom wurde gesagt, der Staat greife dauernd in die Marktwirt- 5. Februar 2019. Dort steht drin: schaft ein, der Staat unterstütze angeblich Zombie-Unter- Bei Übernahmeversuchen, bei denen nicht in erster nehmen. Wissen Sie, der Eingriff in die Marktwirtschaft Linie das staatliche Sicherheitsinteresse, sondern ist nicht erfolgt durch das, was wir in Zusammenarbeit vielmehr Technologie- und Innovationsführerschaft mit der Wirtschaft und ihren Akteuren, den Verbänden, betroffen sind, ist es vorrangig Sache der privaten den Unternehmen, gemeinsam innerhalb von wenigen deutschen Wirtschaft und ihrer Akteure, derartige Tagen und Wochen auf den Weg gebracht haben. Der Übernahmen durch eigene Angebote zu verhin- Eingriff in die Marktwirtschaft ist erfolgt durch das Coro- dern. ... navirus, das dazu geführt hat, dass die Marktgesetze für Nur in sehr wichtigen Fällen soll der Staat für einen viele tüchtige Unternehmen ausgesetzt worden sind. befristeten Zeitraum selbst als Erwerber von Unter- (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Das ist ja was nehmensanteilen auftreten können. anderes, als wenn wir über Beteiligungen spre- (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Befristet!) chen!) Insgesamt darf sich der Anteil staatlicher Beteili- Deshalb haben wir geholfen: weil wir wollen, dass die gungen langfristig aber nicht erhöhen. Deshalb Akteure der Marktwirtschaft diese Pandemie unbeschä- kommt die Schaffung einer nationalen Beteiligungs- digt und unbeschadet überstehen. fazilität in Betracht, über deren Umfang regelmäßig (B) dem Parlament zu berichten ist. Der Übernahme (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (D) neuer Beteiligungen muss grundsätzlich die Privati- Wenn ein Unternehmen, das vor der Krise über gute sierung anderer Beteiligungen gegenüberstehen. Auftragsbestände verfügt hat, das nach der Krise wieder Wenn ich Ihren Antrag richtig lese, haben Sie alles sehr über gute Auftragsbestände verfügen wird, in der Zwi- genau übernommen, was ich damals in der von Ihnen in schenzeit so gut wie null Umsätze hat, wie Schausteller, höchstem Maße kritisierten Industriestrategie vorge- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Messe- schlagen hatte. Herzlichen Dank für diese großartige bauer!) Leistung! weil Kirmesveranstaltungen nicht stattfinden oder weil (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Weihnachtsmärkte vielleicht nicht stattfinden werden, Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Leider ist die oder weil große Messeveranstaltungen nicht stattfinden Realität eine andere, sodass wir Sie erinnern oder weil große Caterings nicht stattfinden oder weil es müssen!) keine großen Veranstaltungen mit mehreren Tausend Es ist nämlich so, dass in der Endfassung vom November Teilnehmern in der bisherigen Form gibt, lieber Herr 2019 genau dieser Teil gestrichen ist, und zwar auf Houben, dann ist das eben nicht ein Versagen von einzel- Wunsch von vielen Politikern auch aus Ihrer Fraktion nen Unternehmen, die nicht wettbewerbsfähig sind. Dann und weiteren Fraktionen. ist das die Folge einer Pandemie, wie sie dieses Land in Ich meine, das Thema ist zu ernst, als dass wir es ein- den letzten 60 Jahren noch nie hat bewältigen müssen. fach nur in der polemischen politischen Debatte nutzen Und dann ist es unsere Verantwortung, den Unternehmen, sollten. die sich in der Marktwirtschaft bewährt haben, zu helfen. Und genau deshalb haben wir gehandelt. (Beifall des Abg. [CDU/CSU]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass der Staat ordneten der SPD) über 100 Beteiligungen hat. Natürlich muss man darüber diskutieren, welche berechtigt und welche unberechtigt Ich möchte noch auf einen Punkt hinweisen, der mir in sind. Aber, sehr geehrter Herr Houben, ich habe in einer der ganzen Debatte wichtig ist. Wir haben in dieser Zeit gemeinsamen Regierung mit Herrn Brüderle und mit mehrere Hundert Milliarden Euro mobilisiert: an Kredi- Herrn Rösler – zwei sehr geschätzte Kollegen, beide Vor- ten der KfW, an Mitteln aus dem WSF, an Soforthilfen für gänger von mir als Wirtschaftsminister – gearbeitet. Wis- kleine und mittelständische Unternehmen mit bis zu zehn sen Sie, damals waren wir schon an der Telekom beteiligt, Beschäftigten, an Sofortkrediten in Höhe von bis zu damals waren wir an der Deutschen Post beteiligt, damals 800 000 Euro für größere mittelständische Unternehmen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21637

Bundesminister Peter Altmaier (A) (Reinhard Houben [FDP]: Das waren doch in der öffentlichen Verantwortung verbleiben sollen, weil (C) alles keine Beteiligungen, Herr Minister! – wir das unseren Bürgerinnen und Bürgern schuldig sind. Bettina Stark-Watzinger [FDP]:Ja! Worüber Und dafür gibt es nach meiner festen Wahrnehmung auch reden wir gerade?) einen breiten Konsens in diesem Land. Wir haben diese Mittel mobilisiert, um zu helfen. Ganz herzlichen Dank. (Reinhard Houben [FDP]: Das sind doch alles (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der keine Beteiligungen!) LINKEN – Jan Korte [DIE LINKE]: Absolut richtig! – Bettina Stark-Watzinger [FDP]: In keinem Fall – außer in den beiden von Ihnen genann- Wenn Die Linke zustimmt, ist doch alles richtig ten – haben wir dafür eine staatliche Beteiligung einge- gemacht! – Weitere Zurufe) fordert oder gemacht.

Wir haben es in der Koalition gemeinsam in zwei Fäl- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: len getan. Zum einen war es die Deutsche Lufthansa, die Nächster Redner ist der Kollege Enrico Komning, wir gerettet haben, weil wir wussten, dass die Lufthansa AfD. zum Tafelsilber der Bundesrepublik Deutschland gehört und es nicht an den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern (Beifall bei der AfD) lag, dass die Flugzeuge am Boden bleiben müssen. Wenn Sie 9 Milliarden Euro zur Verfügung stellen, Enrico Komning (AfD): dann ist es, glaube ich, kein Sündenfall wider die Markt- Sehr geehrter Herr Präsident! Lieber Minister wirtschaft, wenn Sie für einige Hundert Millionen Euro Altmaier! Meine Damen und Herren Kollegen! Auch auch eine Aktienbeteiligung vorsehen. Das dient der ich, Herr Altmaier, freue mich, dass Sie bei dieser Debat- Akzeptanz in der gesellschaftlichen Debatte. te heute dabei sind und dass Sie auch Ihr Papier zur Was CureVac angeht, so war das auch eine gemein- Nationalen Industriestrategie mitgebracht haben. Und es same Entscheidung der Bundesregierung. Das war keine hat sich ja gerade so angehört, als ob Sie den FDP-Antrag Entscheidung eines einzelnen Ministers. Ich habe sie vor- hier sozusagen als überflüssig entlarven wollten. Auch bereitet, ja, gewissenhaft, mit einer Due-Diligence-Prü- wenn es nicht oft vorkommt: Ich will heute mal der fung, und wir haben das getan, weil wir fest davon über- FDP-Fraktion beispringen; zeugt sind, dass es im strategischen Interesse dieses (Reinhard Houben [FDP]: Oje! – Pascal Meiser Landes ist, dass solche Unternehmen eine dauerhafte [DIE LINKE]: Welche Überraschung!) Chance haben, in Deutschland zu bleiben, und nicht aus denn das, was in Ihrem Papier steht, das steht da gut. (B) Mangel an Kapital und Unterstützung am Ende ins Aus- Allerdings handeln Sie genau andersherum, und das wer- (D) land abwandern und viele sich fragen, warum wir es nicht de ich Ihnen kurz darlegen. geschafft haben, diese Unternehmen in Deutschland zu halten. Die AfD-Fraktion unterstützt den Antrag der Kollegen der FDP zur Einführung einer Beteiligungsbremse für Sie haben zum Schluss das Stromnetz erwähnt. Lieber den Bund. Er enthält nämlich tatsächlich sinnvolle Forde- Herr Houben, 50 Hertz hätte ich, als es um die Anteile rungen, insbesondere die nach grundsätzlich nur stillen von zweimal 20 Prozent ging, liebend gern bei einem Beteiligungen oder nach Rückführung staatlicher Betei- privaten Investor gesehen, der sich dafür interessiert. Es ligung auf das Vor-Corona-Niveau. Erweiterte Berichts- hat sich nur bei mir keiner gemeldet. Ich habe auch einige pflichten dienen der Transparenz und beugen dem Miss- gefragt; die hatten kein Interesse. Wenn Sie irgendwelche brauch vor. Interessenten wissen, lassen Sie es mich wissen, sagen Sie mir das. Es interessiert mich. So weit, so gut, Herr Houben. Wovon dieser Antrag allerdings ausgeht, ist, dass die massive Ausweitung Aber es ging um die Frage, ob wir wollen, dass zentrale staatlicher Beteiligung eine Sondersituation sei und man Bestandteile der öffentlichen Infrastruktur, in dem Fall einfach zur Normalität, nämlich zur sozialen Marktwirt- das modernste Elektrizitätsnetz, was es auf der ganzen schaft, zurückkehren müsse. Diese Normalität gab es Welt gibt, mit dem höchsten Anteil von Erneuerbaren, aber schon vor Corona nicht mehr. in europäischem oder in deutschem Mehrheitsbesitz sind, oder ob wir sagen: Das interessiert uns nicht. Wer (Beifall bei der AfD) das kauft und wer es übernimmt, das ist uns egal. Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen Und da gibt es vielleicht einen Punkt, wo wir uns unter- zusammen mit den beiden Linksaußenfraktionen der scheiden: Ich habe gelernt, nachdem ich anfänglich auch Grünen und der Dunkelroten wollen nämlich gar keine gezögert habe, dass wir vieles privatisieren können und soziale Marktwirtschaft. müssen, dass aber die zentralen Leistungen der Daseins- (Dr. Joe Weingarten [SPD]: Was für ein vorsorge – Wasserversorgung, die Versorgung mit Elekt- Unsinn! – Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/ rizitätsinfrastruktur, DIE GRÜNEN]: Er hat es gar nicht verstan- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Gesundheit!) den!) Die Coronakrise bestätigt und bekräftigt einen Trend, mit Gesundheitsinfrastruktur und vielem anderen mehr – der sich durch die Amtszeit von Frau Merkel zieht, einen (Beifall der Abg. Jutta Krellmann [DIE LIN- Trend, der sich von der sozialen Marktwirtschaft entfernt KE]) und in eine gelenkte Staatswirtschaft mündet. Was mit 21638 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Enrico Komning (A) der Teilverstaatlichung der Commerzbank infolge der in deutschen Innenstädten zu verstaatlichen, mit großem (C) Finanzmarktkrise begann, findet nun bei Lufthansa, bei Enthusiasmus aufgegriffen würde. Und so ist es auch TUI, bei der Deutschen Bahn und vielen anderen seine nicht verwunderlich, dass Sie die einstmalige Vorzeige- Fortsetzung. Herr Houben hat vorhin viele Unternehmen industrie Deutschlands, die deutsche Automobilindustrie, benannt; ich will die alle nicht noch mal wiederholen. ehedem der Wachstumsmotor Deutschlands, zum Sub- Die Bundesregierung springt in Wahrheit nicht in der ventionsfall herabregiert haben. Die jetzige Situation Krise ein, um die Unternehmen zu retten, sondern nutzt der Automobilindustrie, Herr Altmaier, hat nichts mit Krisen, um ihr neues, offensichtlich vom vermeintlichen Corona zu tun, Erfolgsmodell China inspiriertes staatskapitalistisches (Zuruf von der AfD: Richtig!) Modell zu installieren. Mit der aktuellen Coronakrise haben wir jetzt eine neue Qualität erreicht. Sie, Herr sondern allein mit Ihnen und leider eben auch mit willfäh- Altmaier, nutzen nicht nur die Krise, sondern Sie erschu- rigen Vorstandsvorsitzenden. fen die Krise durch den Lockdown erst selber. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD – Dr. Joe Weingarten [SPD]: Was für ein Unsinn! – Falko Mohrs Ihr Weg hin zum Staatskapitalismus ist der falsche [SPD]: Sie haben Ihren Aluhut vergessen!) Weg. Er verletzt fundamentale Freiheitsrechte der Men- Schon nach der damaligen Datenlage war der Lockdown schen und gefährdet unsere Demokratie. Der Staat, Herr unnötig, in jedem Fall unverhältnismäßig, und Herr Altmaier, darf gar kein Unternehmer sein. Er ist bekannt- Spahn hat dies ja unlängst selbst zugegeben. Ihr fortwäh- lich nicht besonders gut darin, wie 40 Jahre DDR nach- rendes Drohen mit einem zweiten Lockdown lässt auch haltig bewiesen haben. kaum einen anderen Rückschluss zu. (Zuruf von der LINKEN: Ach Gott!) Beteiligungen des Staates, meine Damen und Herren, folgen keinen wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Ihr Der Staat darf in der Wirtschaft nicht Partei ergreifen; Interesse, das Interesse der Bundesregierung, ist es, suk- denn die Unterstützung eines Unternehmens bedeutet zessiv-schleichend, sozusagen von hinten durch die Brust gleichzeitig eben auch die Benachteiligung eines konkur- ins Auge, die staatliche Kontrolle über alle Bereiche von rierenden, häufig sogar kleineren – weil nicht systemre- Wirtschaft und Gesellschaft auszudehnen. Und das, glau- levanten – Marktbegleiters. be ich, ist auch kein Hirngespinst, Und ich darf – Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis – (Dr. Joe Weingarten [SPD]: Doch, das ist es! – Ludwig Erhard zitieren: (B) Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Doch! (D) Eindeutig wahr!) Ebenso wie beim Fußballspiel der Schiedsrichter nicht mitspielen darf, hat auch der Staat nicht mitzu- sondern schon lange im politischen Fokus. spielen. Die Grundlage aller Marktwirtschaft bleibt (Zuruf von der AfD: So ist es!) die Freiheit des Wettbewerbs. Ich darf Sie, Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis aus einer (Beifall bei der AfD) Podiumsdiskussion aus Ihrer Zeit als Finanzminister im Jahre 2011 zitieren, als Sie gesagt haben: Der Staat darf den Wettbewerb nicht beeinflussen. Er muss die Voraussetzungen für Wettbewerb gewährleis- … wenn die Krise größer wird, werden die Fähig- ten. Wir brauchen, Herr Houben, im Grunde keine Rück- keiten, Veränderungen durchzusetzen, größer. kehr zur sozialen Marktwirtschaft. Wir müssen sie wie- Das ist richtig; prophetische Worte, wie auch immer sie derfinden, mit einem starken Staat, der, Herr Altmaier, gemeint waren. Und ja, meine Damen und Herren, in der ausschließlich seiner Pflicht zur Daseinsvorsorge nach- Krise werden sich die Menschen beugen. Und die Regie- kommt. „Vorfahrt für die Marktwirtschaft“ heißt eben vor rung ist ja eben auch schon fleißig dabei. allem, den Marktplatz neu zu pflastern. Ein staufreies Der Energiebranche nehmen Sie ein Kraftwerk nach Straßennetz, ein deutlich verzweigteres Schienennetz dem anderen weg und zwingen sie zum Ausbau einer und ein lückenloses digitales Breitbandnetz, ein im neuen Strominfrastruktur, die zwar dem Klima nichts wahrsten Sinne des Wortes flächendeckendes Mobilfun- bringt, aber die Steuerzahler und Konsumenten Billionen knetz, das sind staatliche Aufgaben. Euro Subventionen kostet. Wir teilen zwar nicht alle Vorschläge der FDP-Frak- (Beifall bei der AfD) tion. Jedoch kommt es derzeit vor allem darauf an, die Regierung davon abzuhalten, Krisen selber herbeizufüh- Mit der Deutschen Bank gibt es eigentlich nur noch ren, um hinterher als strahlender Retter aufzutreten. Der eine echte deutsche Privatbank, und auch der gehen Sie vorliegende FDP-Antrag würde dazu beitragen, der mit Ihrer Euro-Politik ans Leder. Regierung diesen Weg zu erschweren, und deshalb wer- (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Die sind den wir diesen Antrag unterstützen. selber schuld! So ein Quatsch! Die haben die besten Banker in London eingestellt, klar!) Vielen Dank. Überraschend wäre es daher nicht, wenn von Ihren (Beifall bei der AfD – Jan Korte [DIE LINKE]: Kollegen in Ländern und Gemeinden der jüngste Vor- Da weiß man Bescheid! Neoliberale Einheits- schlag des Deutschen Städtetages, die Gewerbeflächen front! – Weitere Zurufe) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21639

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Der Antrag der FDP geht in die falsche Richtung. Wir (C) Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Bernd wollen keine Beteiligungsbremse. Wieso auch? Wir Westphal, SPD. haben doch gerade gemerkt, dass wir in der aktuellen Krise ein aktives staatliches Handeln brauchen, um vor (Beifall bei der SPD) allen Dingen den Unternehmen, die ins Straucheln gera- ten, dementsprechend zu Hilfe zu kommen. Deshalb – der Bernd Westphal (SPD): Wirtschaftsminister hat einige Beispiele genannt – kann Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten man doch nicht einfach zugucken, wie unser Flaggschiff Damen und Herren! Ich finde es auch sehr angenehm, in der Luftfahrt durch die Krise in eine Situation kommt, dass wir über den Antrag der FDP hier die Möglichkeit wo es im Grunde in Existenznot gerät. Wir müssen hier haben, über grundsätzliche wirtschaftspolitische Themen vielmehr mit staatlichen Mitteln die Eigenkapitalseite zu debattieren. Wenn man sich das in Deutschland stärken und dann natürlich dementsprechend Mandate anguckt: Wir gehören zu den Ländern, die eine sehr trans- im Aufsichtsrat wahrnehmen, und zwar nicht, um da parente, sehr offene, sehr einladende Marktwirtschaft irgendwie im kleinen Detail Einfluss zu nehmen, sondern haben, eine soziale Marktwirtschaft, die gerade interna- um die großen strategischen Linien aufrechtzuerhalten tional für Investoren sehr attraktiv ist. Deshalb passt das und zu beeinflussen. Deshalb ist es völlig richtig, was Bild, das die FDP – und die AfD sowieso – hier gezeich- hier vorgetragen wurde. net hat, nicht zu dem Zustand, den wir haben, sondern es ist eine Marktwirtschaft, die innovativ ist, die soziale Ich bin froh, dass wir mit Peter Altmaier als Wirt- Balance hat und vor allen Dingen den Menschen in den schaftsminister und mit seiner Industriestrategie uns Mittelpunkt stellt. Das ist auch das Ziel der SPD in einer genau auf diese Themen fokussieren: Wo sind Zukunfts- sozialen Marktwirtschaft. technologien? Wo kann der Staat sich dementsprechend beteiligen? (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Was wir dafür brauchen, ist natürlich eine solidarische, CDU/CSU) humane und demokratische Arbeitswelt ohne Angst und ohne Unsicherheit für die Beschäftigten, mit fairen Löh- Die FDP muss sich natürlich mal entscheiden. Die ehe- nen und gleichberechtigter Mitbestimmung. Natürlich maligen Wirtschaftsminister Niedersachsens Rösler und sind das Rahmenbedingungen, die der Staat setzen Bode saßen sogar im Aufsichtsrat von VW, also in einem muss. Arbeit muss stark, auch interessant sein und zufrie- unter staatlicher Beteiligung geführten Unternehmen. Ich den machen und nicht krank. Deshalb ist es wichtig, dass glaube nicht, dass das schädlich ist. der Staat die Rahmenbedingungen dementsprechend (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Na ja! Wenn (B) gestaltet. man bedenkt, was bei VW alles so läuft!) (D) Was die Umweltbelange angeht: Eine klimaneutrale Es ist widersprüchlich, dass man im Antrag auf der einen Wirtschaft aufzubauen, ist eine Aufgabe, in die sich der Seite eine Zurückhaltung des Staates fordert und auf der Staat natürlich mit Rahmensetzungen einbringt. Wir anderen Seite aber selbst diese Unternehmen stärkt und brauchen auch das innovative und stabile Umfeld für auch begleitet in den entsprechenden Gremien. innovative Entwicklungen. Wir müssen strategische Investitionen in eine sozialökologische Marktwirtschaft (Beifall des Abg. Falko Mohrs [SPD]) einbinden. Auch das sind Zielsetzungen, die natürlich Marktwirtschaft ist gut. Damit sie sozial, erfolgreich, von staatlicher Seite organisiert werden müssen. innovativ und nachhaltig bleibt, ist staatliche Rahmen- Wir brauchen für das staatliche Handeln natürlich auch setzung und ab und zu auch Beteiligung sicherlich hilf- eine Leitplanke für unsere industrielle Basis. Wir haben reich und notwendig. mit Chemie, mit Maschinenbau, mit der Stahlindustrie Vielen Dank. und auch mit der Automobilindustrie wirklich eine starke Struktur, die natürlich auch der Motor ist für viele innova- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tive Dinge, die aus dem Zulieferbereich und aus dem der CDU/CSU) innovativen Mittelstand kommen. Man kann an vielen Beispielen zeigen, wie durch staatliches Handeln ein Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Konzern wie – ich nenne ein Beispiel aus der Luft- und Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Pascal Meiser, Raumfahrtindustrie – Airbus mit weltweit erfolgreichen Die Linke. Produkten entstanden ist. Deshalb ist das nicht völlig aus- (Beifall bei der LINKEN) zuschließen, sondern gehört zu einer intelligenten Wirt- schaftspolitik dazu. Pascal Meiser (DIE LINKE): (Beifall bei der SPD) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mir scheint Wenn man sich einmal die kommunale Ebene, also die wirklich: FDP und ja offenkundig auch AfD leben in Regionen, in denen die Menschen leben, anschaut, einer Art Parallelgesellschaft. In der Coronapandemie erkennt man: Gerade dort sind in kommunaler Hand zeigt sich doch gerade weltweit, dass der Markt eben Unternehmen, die sehr erfolgreich die öffentliche nicht alle Probleme lösen kann. Vielerorts sehen wir, Daseinsvorsorge organisieren und auch mit den ent- welche fatalen Folgen es hat, wenn man beispielsweise sprechenden Rahmenbedingungen dafür sorgen, dass das Gesundheitssystem radikal privatisiert. Mehr noch: die Versorgung der Menschen vor Ort sichergestellt ist. Wir erleben die schwerste Wirtschaftskrise seit den 21640 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Pascal Meiser (A) 1920er-Jahren, und nur durch staatliche Eingriffe konnte Ich meine, die Probleme mit zwielichtigen Subunterneh- (C) unsere Wirtschaft bisher vor dem totalen Kollaps bewahrt merketten, sinkende Löhne, mehr Ärger für die Kunden werden. sind doch die Folgen von 25 Jahren Post-Privatisierung. Und Sie wollen mehr davon? Das ist absurd, meine (Jan Korte [DIE LINKE]: Richtig!) Damen und Herren. Doch was machen FDP und ja auch AfD? Sie haben (Beifall bei der LINKEN) nichts Besseres zu tun, als genau diese staatlichen Ein- griffe zu geißeln. Denn was Sie hier unter dem Deck- Ich sage Ihnen: Wir brauchen keine Beteiligungsbremse, mantel einer Beteiligungsbremse vorschlagen, ist doch wir brauchen eine Privatisierungsbremse in diesem Land. nichts anderes als die Forderung nach einem Privatisie- (Beifall bei der LINKEN) rungsbeschleunigungsgesetz. Aber ja: Wir müssen darüber reden, wo zu welchem (Beifall bei der LINKEN) Zweck der Staat tatsächlich als Eigentümer agiert. Das Beispiel Lufthansa ist kein gutes Beispiel dafür. Das ist verantwortungslos und der Lage im Land absolut nicht angemessen. (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Ach!) Haben Sie von der FDP eigentlich mal ernsthaft durch- Das Motto der Bundesregierung lautet ja hier: Der gelesen, was Sie da fordern? Steuerzahler soll blechen, der Staat soll retten, die öffent- liche Hand aber nichts zu sagen haben. – Kein privater (Reinhard Houben [FDP]: Ja!) Geldgeber – auch Sie, Herr Houben, nicht – wäre so dämlich und würde so etwas mitmachen. – Das macht es noch schlimmer. – Sie fordern, dass für jede neue staatliche Beteiligung eine bestehende Beteili- (Beifall bei der LINKEN) gung aufgegeben wird. Deshalb muss auch bei staatlichen Beteiligungen gelten: (Reinhard Houben [FDP]: Genau!) Wer bezahlt, bestimmt, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN – Bettina Stark- Ja was heißt das denn konkret? Watzinger [FDP]: Sie haben aber nicht die (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Commerz- Mehrheit an der Lufthansa! Da können Sie bank!) nicht bestimmen!) Dass, wer in der jetzigen Krise ein Unternehmen durch Auf all diese Fragen bietet der Antrag der FDP keine staatliche Beteiligung retten will, ein anderes Unterneh- Antworten. Sie unterstützen ja de facto auch Herrn Altmaier in seinen zentralen Ansätzen, wie er das Beteili- (B) men über die Wupper gehen lassen soll? (D) gungsmanagement organisiert. Ich finde das nicht verant- (Jan Korte [DIE LINKE]: Richtig! Tolle Idee! – wortungsvoll. Reinhard Houben [FDP]: Sind alle unsere Ich komme zum Schluss. Für uns als Linke bleibt es Beteiligungen in wirtschaftlicher Not? Ich dabei: keine staatlichen Rettungsprogramme, keine höre nichts!) Beteiligungen ohne Beschäftigungsgarantien. Wir brau- – Hören Sie doch mal zu! – Was ist Ihr Vorschlag? Sollte chen eine verbindliche Verpflichtung, Tarifverträge und also im Gegenzug für die Rettung der Lufthansa jetzt zum Mitbestimmung zu respektieren, und natürlich müssen Beispiel die Deutsche Bahn verkauft werden? Wie stellen auch staatliche Beteiligungen genutzt werden, um sie Sie sich das denn vor? Das ist doch absurd. auf das Ziel des Klimaschutzes auszurichten. Das ist ver- antwortungsvolle Politik, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN – Reinhard Houben [FDP]: Zum Beispiel die Post und die Tele- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. kom! Denen geht es doch gut!) (Beifall bei der LINKEN) Mehr noch – ich habe mir Ihren Antrag genau ange- schaut; es war nicht sonderlich erfreulich, aber trotz- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: dem –: Sie wollen allen Ernstes, dass staatliches Eigen- Katharina Dröge, Bündnis 90/Die Grünen, hat als tum künftig im Zweifel auch dann verkauft werden kann, nächste Rednerin das Wort. wenn die öffentliche Hand dabei Verluste macht. Das ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) doch nichts anderes als eine Aufforderung zur Veruntreu- ung öffentlichen Vermögens, meine Damen und Herren. Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Altmaier! Ich hätte ten der SPD) nie gedacht, dass ich diese Rede im Deutschen Bundestag Ganz nebenbei wollen Sie unter anderem die Deutsche einmal halten würde. Ich hätte nie gedacht, dass es einmal Post komplett privatisieren. Glauben Sie ernsthaft, dass notwendig sein würde, einem Wirtschaftsminister, der die Probleme, die wir im Post- und Paketmarkt haben, der Union angehört, zu erklären, warum es keine gute aufhören, wenn der Staat seinen Restanteil an der Deut- Idee ist, die deutsche Wirtschaft zu verstaatlichen. Und schen Post verkauft? damit meine ich explizit nicht den Wirtschaftsstabilisie- rungsfonds. Ich meine explizit nicht, anders als es von der (Jan Korte [DIE LINKE]: Genau!) FDP hier vielleicht vorgebracht wurde, dass es eine Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21641

Katharina Dröge (A) schlechte Idee ist, Unternehmen in der Krise zu retten. ten, Hunderte Millionen an Steuergeld investieren. Das (C) Selbstverständlich ist es unser Job, Unternehmen, die vor ist Buddypolitik, und das lassen wir Ihnen nicht durch- Corona gut dastanden, jetzt durch die Krise zu bringen, gehen. sodass sie nach dieser Krise weiterhin existieren können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Alles andere zu behaupten, wäre wirtschaftspolitischer Unfug. Ich versuche noch mal, Ihnen unser Unbehagen mit dieser Art von Politik zu erklären: Wirtschaft kann nur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) funktionieren, wenn Unternehmen darauf vertrauen kön- Doch das, Herr Altmaier, was Sie machen, hat eigent- nen, dass der Staat sie alle fair und gleich behandelt. lich schon vor zwei Jahren begonnen. Sie versuchen jetzt, Unser Job als Politik ist es, Regeln zu setzen: Regeln, so ein bisschen im Geleitzug der Coronakrise, Ihre Träu- die die Marktmacht begrenzen, Regeln für den Schutz me zu verwirklichen. Sie haben uns vor einem Jahr eine von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und Regeln Industriestrategie vorgelegt und darin vorgeschlagen, für den Umweltschutz. Da könnten Sie mal handeln; da eine Beteiligungsfazilität zu schaffen, in der der Staat ist bei Ihnen eine echte Leerstelle vorhanden. Aber die hier und da mal Unternehmen aufkaufen kann. Unternehmen werden sich auf diese Regeln nur verlassen können, wenn sie das Gefühl haben, dass die Regeln für Auch wir Grünen sind nicht grundsätzlich dagegen, alle gelten. Und wenn ein Staat ein Unternehmen besitzt, dass der Staat ein Akteur in der Wirtschaft ist. Infrastruk- dann hat er natürlich ein Interesse daran, dass dieses tur wie Bahnschienen, Stromnetze oder auch Aufgaben Unternehmen besonders gut dasteht und dass gute Divi- der Daseinsvorsorge wie die Wasserversorgung gehören denden in den Staatshaushalt fließen. in öffentliche Hand, Herr Altmaier. Ich finde es schade, dass Sie in dieser Debatte jetzt noch mal gesagt haben, Wir haben schon jetzt eine zu große Nähe der Wirt- dass Sie es besser gefunden hätten, wenn es für TenneT schaft zur Politik. Schon jetzt haben wir ein Problem mit oder 50Hertz private Investoren gegeben hätte. Das Lobbyismus. Noch stärkere Verknüpfungen der Wirt- Gegenteil ist richtig. Wir Grünen haben einen entsprech- schaft mit der Politik verschärfen dieses Problem aus enden Antrag in den Bundestag eingebracht: Stromnetze meiner Sicht, Herr Altmaier. gehören in die öffentliche Hand, und deswegen soll die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) öffentliche Hand das von diesen Betreibern zurückkau- Beim Wirtschaftsstabilisierungsfonds dagegen machen fen. Sie es andersrum. Auch das verstehe ich nicht. Wir Grü- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nen haben gesagt: „Es ist richtig, Unternehmen in der Krise zu retten“; aber man rettet ein Unternehmen nicht Doch genau diese Dinge, Herr Altmaier, meinten Sie mit (B) nur, damit am Ende die Anteilseigner ihre Anteile gesi- (D) Ihrer Industriestrategie nicht. Daseinsvorsorge oder In- chert haben. Der Staat hat mehr Aufgaben, wenn er frastruktur kommen da gar nicht vor. Stattdessen erwäh- Unternehmen rettet. Er ist verantwortlich für die Beschäf- nen Sie in Ihrer Industriestrategie Unternehmen wie Sie- tigung, er ist auch für andere gesellschaftliche Aufgaben mens, thyssenkrupp oder die Deutsche Bank. verantwortlich. Man kann jetzt am Fall CureVac sehen, dass Sie das, Deswegen haben wir es nicht verstanden, dass Sie, als was Sie damals aufgeschrieben haben, auch meinen. Sie Sie die Lufthansa gerettet haben, nicht gleichzeitig gesagt kaufen einen Pharmakonzern in der Krise. Wir haben Sie haben: Ich mache klare Vorgaben für die Beschäftigungs- in einer Kleinen Anfrage gefragt: Aus welchem Grund sicherung, und ich mache auch klare Vorgaben zum The- eigentlich? ma Klimaschutz; ich nutze diese Krise als Chance, um die Lufthansa im Klimabereich zum Vorreiter zu machen: (Zuruf von der LINKEN: Soll das der Trump gerechtere Klimapolitik und CO -neutraleres Fliegen. – kaufen?) 2 Das wäre jetzt Ihr Job gewesen; Sie haben mehrere Jobs, Geht es darum, dass CureVac einen Impfstoff hat, der wenn Sie als Staat einsteigen. Das haben Sie nicht besonders aussichtsreich ist? Warum ist er aussichtsrei- gemacht, und das ist Ihr Fehler, Herr Altmaier. cher als beispielsweise der Impfstoff, den das Mainzer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Unternehmen BioNTech entwickelt, das in der Impfstoff- entwicklung sogar schon etwas weiter ist? Ganz zum Schluss zum Antrag der FDP. Auch wenn ich Ihr grundsätzliches Unbehagen hinsichtlich der Poli- (Beifall bei der FDP) tik von Herrn Altmaier teile, ist Ihr Antrag nicht sinnvoll. Gab es dazu Analysen in der Bundesregierung? Gab es Sie schlagen darin eine „One-in, one-out“-Regel“ vor. keine andere Möglichkeit, zum Beispiel Abnahmeverträ- Die schlagen Sie ja überall vor; das scheint Ihr Allheil- ge mit CureVac zu schließen, wenn man sagt, dass dieser mittel in allen wirtschaftspolitischen Fragen zu sein. Impfstoff besonders vielversprechend ist? (Reinhard Houben [FDP]: Da ist ja auch was Auf all das hatten Sie keine Antwort. Stattdessen dran!) haben Sie auf unsere Kleine Anfrage geantwortet: Weil Ich frage Sie: Was meinen Sie denn damit? Heißt das, CureVac gefragt hat. – Das, Herr Altmaier, ist kein ver- dass wir, wenn wir, wie wir Grünen es vorschlagen, die antwortungsvoller Umgang mit Steuermitteln. Sie kön- Stromnetze jetzt wieder in öffentliche Hand überführen, nen nicht, nur weil Sie es schick finden, einen Impfstoff- dann gleichzeitig die Schienennetze der Deutschen Bahn hersteller zu besitzen, oder weil Ihr Kumpel Dietmar privatisieren müssen? Das ist doch absoluter Unfug, Herr Hopp angefragt hat und Sie ihm einen Gefallen tun woll- Houben. Das können Sie nicht ernsthaft meinen. 21642 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Katharina Dröge (A) Was wir brauchen, sind klare Kriterien, wann die Gleichwohl bin ich mir dabei natürlich im klaren, (C) Staatsbeteiligung sinnvoll ist, klare Kriterien, die mit daß das Denkmodell eines reinen Wettbewerbs an anderen gesellschaftlichen Kriterien verbunden sind. Es dieser oder jener Stelle keine volle Gültigkeit braucht einen klaren ordnungspolitischen Kompass. Und besitzt. dafür muss man nicht die Haushaltsordnung des Deut- Etwas weiter heißt es: schen Bundestages ändern, dafür muss man schlichtweg eine andere Politik machen. Was wir brauchen, sind keine Ich bin nicht weltfremd genug, um nicht um mich anderen Regeln, sondern einfach einen anderen Wirt- herum tausend Beispiele zu sehen, aus denen sich schaftsminister. ergibt, wie sehr das theoretische Schema des völlig freien Wettbewerbs mit anderen Elementen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gemischt und dadurch verwässert ist. Ende Zitat Erhard. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Katharina Dröge. – Schönen guten Mor- (Beifall bei der CDU/CSU) gen, liebe Kolleginnen und Kollegen! – Der nächste Red- Meine Damen und Herren, es ist doch klar, dass diese ner kann sich langsam auf den Weg machen. Nächster Krise durch ein Virus ausgelöst wurde und wir uns um Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Matthias Heider. Gefahrenabwehr bemühen müssen. Das ist eines von den „tausend Beispielen“, die dem damaligen Wirtschaftsmi- (Beifall bei der CDU/CSU) nister vor Augen standen, und er konnte sicherlich auch auf Erfahrungen aus der Kriegszeit zurückgreifen, als später besondere Situationen in der Wirtschaft besondere Dr. Matthias Heider (CDU/CSU): Maßnahmen erforderten. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- legen! Wir sind noch mitten in der Krise – das Feuer ist Lassen Sie mich noch ein paar Worte sagen, damit kein noch nicht gelöscht, der Rauch hat sich noch nicht ver- Missverständnis aufkommt. Wir als Unionsfraktion wen- zogen –, da holt die FDP das Thema Bundesbeteiligung den uns ausdrücklich gegen überflüssige staatliche Ein- heraus und schlägt vor, dass der Bund sich von möglichst griffe, ja. Das gilt zu Normalzeiten. Wir sind aber nicht in allen Unternehmensbeteiligungen trennt. Normalzeiten, wir sind in einer Krisenzeit. Deshalb müs- sen wir über diese Maßnahmen nachdenken, damit unsere Philipp Rösler, einer der Vorgänger unseres heutigen Wirtschaft am Ende dieser Krise wettbewerbsfähig ist. Wirtschaftsministers Peter Altmaier, brachte wenigstens so viel Geduld auf, bis zum Ende der unmittelbaren Euro- Meine Damen und Herren, ich nenne noch mal das (B) Krise 2012 zu warten, ehe er versuchte, eine Experten- Beispiel Lufthansa: Sie ist die einzige große Airline, die (D) kommission einzuberufen, die sich mit der Veräußerung wir hier in Deutschland haben. Ginge dieses Unterneh- von Bundesbeteiligungen befassen sollte. Ich bin schon men pleite, verlören nicht nur mehrere Zehntausend Men- ein bisschen länger dabei; deshalb erinnere ich mich schen ihren Job – unmittelbar bei der Lufthansa oder daran. Von „Tafelsilber“ ist damals die Rede gewesen. mittelbar –, sondern es würde uns auch ein weltweites Sie wollen das jetzt schon machen oder es mit diesem Aushängeschild fehlen. Antrag wenigstens schon organisieren. Dabei wissen (Beifall bei der CDU/CSU) Sie doch, was Tafelsilber in einer Krise wert ist: Sie erzielen nicht die Unternehmenswerte, die Sie in guten Die Herren Wambach und Haucap von der Monopolkom- Zeiten für ein Unternehmen oder eine Unternehmensbe- mission haben zu diesem Thema Folgendes gesagt – ich teiligung bekommen. zitiere –: Der „Einstieg kann zur Rettung eines prinzipiell profitablen Unternehmens sinnvoll sein. Wichtig sind Krise ist übrigens nicht gleich Krise, aber sicher ist wettbewerbsfördernde flankierende Maßnahmen und doch: Um die Abwehr von Gesundheitsgefahren, denen eine Strategie für den Wiederausstieg des Staates.“ unsere Bevölkerung ausgesetzt ist, müssen wir uns küm- Ende Zitat Monopolkommission. mern. Wir müssen auch eine Gefahrenabwehr für unsere Wirtschaft haben. Es braucht Überbrückungszuschüsse, Meine Damen und Herren, genau so hat der Minister Liquiditätshilfen, Kurzarbeit und, ja, eben auch vorüber- die Beteiligung an diesem Unternehmen angelegt. Am gehende Beteiligungen an Unternehmen, die für uns eine Beispiel CureVac kann man gut sehen, dass das, was für strategische Bedeutung haben. Am Ende der Krise ein großes Verkehrsunternehmen gilt, auch für die Vor- gewinnt nicht, wer Beteiligungen verkauft, sondern wer sorge, für den Schutz der Bevölkerung durch einen Impf- wettbewerbsfähig ist: Wir wollen doch alle, dass zum stoff gilt, den wir noch herstellen müssen. Beispiel Lufthansa da wieder hinkommt und dass das Es geht weiterhin um Gefahrenabwehr. Wir sind Unternehmen für Deutschland eine strategische Bedeu- immer noch mitten in der Krise, und wir müssen alles tung hat. dafür tun, dass wir da herauskommen. Die FDP hat auch das Etikett „Marktwirtschaft“ auf Vielen Dank. den Antrag geschrieben. Ob es ratsam ist, sich in einer (Beifall bei der CDU/CSU) Krisensituation auf die reine Lehre von Ludwig Erhard zu berufen, das will ich den Meister gleich mal selber beant- worten lassen. Erhard hat in seinem Buch „Wohlstand für Vizepräsidentin Claudia Roth: Alle“ zur Einsicht gemahnt. Ich zitiere: Vielen Dank, Dr. Matthias Heider. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21643

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, möchte ich zu Die Vorschläge der FDP zu dem Thema sind das (C) den Wahlen zurückkommen. Liebe Kolleginnen und Kol- Gegenteil: Sie sind ideologisch geprägt, umständlich legen, zwei Stunden sind rum; das heißt, es wäre gut, und nützen am Ende niemandem. Es befremdet mich wenn die Kolleginnen und Kollegen mit einem Nachna- auch, wie wenig der Antrag der FDP auf die Interessen men mit den Anfangsbuchstaben L bis Z jetzt zur Wahl von mittelständischen Unternehmen eingeht. Das war gehen würden. Diejenigen, die noch nicht abgestimmt mal eine von Ihnen heftig umworbene Klientel; heute haben, können das natürlich jederzeit auch noch tun, ist sie Ihnen nicht mal mehr eine Erwähnung wert. und bitte denken Sie an die Masken. Erstaunlich ist auch die Geringschätzung der öffentlichen Infrastruktur. Ausgerechnet jetzt die staatlichen Beteili- Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dr. Joe gungen an Stromnetzen, an der Deutschen Bahn, an Post Weingarten. und Telekom infrage zu stellen, ist sachlich nicht (Beifall bei der SPD) begründbar. Im Gegenteil: Wenn nicht unter tatkräftiger Beteiligung der FDP der privatwirtschaftliche Ausbau der digitalen Netze forciert worden wäre, sondern wir Dr. Joe Weingarten (SPD): beim Mobilfunk- und Glasfaserausbau mehr auf einen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und staatlich gelenkten Infrastrukturausbau gesetzt hätten, Kollegen! Meine Damen und Herren! Die soziale Markt- stünden wir heute besser da. wirtschaft lebt von Wettbewerb und staatlicher Rahmen- setzung, verbunden mit entschlossenem Eingreifen, wenn (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten diese Rahmensetzungen bedroht werden. Dazu gehört der LINKEN) auch die staatliche Bereitschaft, Unternehmen zu gründ- Bei mehr Staat und weniger gewinnorientiertem Rosinen- en, zu übernehmen oder sich daran zu beteiligen, wenn picken wären insbesondere die ländlichen Regionen in die Situation das erforderlich macht. Das gilt insbeson- unserem Land bei der Digitalversorgung in einer besseren dere in Krisensituationen oder bei strategischen Zielen, Lage. sehr prominent etwa bei der staatlichen Beteiligung am Volkswagen-Konzern unter dem hier schon mehrfach ( [SPD]: Sehr richtig!) zitierten Wirtschaftsminister Ludwig Erhard – offenkun- Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, staatliche dig auch damals sehr gut vereinbar mit der sozialen Beteiligungen an Unternehmen und Privatisierungen dür- Marktwirtschaft. Daran hat sich nichts geändert. fen nie Selbstzweck sein. Deswegen sind die Forderun- gen der FDP, schon jetzt feste Vorgaben für Privatisie- Es gibt keine signifikante Änderung in den Zielen der rungen bis Ende 2022 zu machen und ohne Erkenntnis Beteiligungspolitik der Bundesregierung. Die vom FDP- der Entwicklung der Märkte Anteile von Post, Telekom (B) Antrag postulierte „Rückkehr zur Normalität“ greift ins (D) und Commerzbank zu verkaufen, wirtschaftspolitisch Leere. Was es aber gibt, sind neue Herausforderungen unausgegoren. durch die Coronapandemie und ihre weltweiten Verwer- fungen durch den drastischen Rückgang internationaler Nein, der Weg muss ein anderer sein. Es braucht ers- Handelsströme. Darauf hat die Bundesregierung in der tens behutsame, an den Erfordernissen der Branche und Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Industriepolitik ent- den Unternehmen ausgerichtete Beteiligungen, zweitens schlossen reagiert. Beteiligungen zur Abwehr von die Entsendung qualifizierter Vertreterinnen und Vertre- Schaden für unsere Volkswirtschaft und einzelne Unter- ter in die Aufsichts- und Lenkungsgremien und drittens nehmen gehören dazu. Die Coronafolgen und der rapide keine unmittelbare Einwirkung auf detaillierte betriebs- Strukturwandel haben beispielsweise viele Unternehmen wirtschaftliche Entscheidungen der Unternehmen. Das in der Automobilzulieferindustrie unter Druck gesetzt. stärkt unsere Marktwirtschaft; denn wir brauchen gerade Nicht nur in der Nahe-Region, aus der ich komme, ist jetzt ruhiges und pragmatisches Handeln und keine fal- das eine strategisch wichtige Industriesparte. In Bad schen Grundsatzdebatten. Deswegen lehnen wir den Kreuznach, Bad Sobernheim oder Idar-Oberstein sorgt Antrag der FDP inhaltlich ab. sie für eine gute Beschäftigung in hochqualifizierten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Berufen, für viele Folgeaufträge in Handwerk und der CDU/CSU) Dienstleistungen und dient als Träger für die Innovatio- nen in die ganze Wirtschaft. Vizepräsidentin Claudia Roth: Diese vorwiegend mittelständisch strukturierte Bran- Vielen Dank, Dr. Joe Weingarten. – Nächster Redner: che müssen wir schützen und erhalten. Deswegen ist für die Fraktion Die Linke Alexander Ulrich. der Vorschlag des SPD-Vorsitzenden Norbert Walter- Borjans und der IG Metall, solchen Unternehmen einen (Beifall bei der LINKEN) Beteiligungsfonds an die Seite zu stellen, um eine feind- liche Übernahme aus einer Kapital- und Liquiditäts- Alexander Ulrich (DIE LINKE): schwäche heraus zu verhindern, völlig richtig. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es (Beifall bei der SPD – Bettina Stark-Watzinger liegt wirklich mal wieder ein abenteuerlicher Antrag der [FDP]: Warum aktivieren wir nicht privates FDP vor. Man kann mittlerweile erkennen, warum euer Kapital?) Parteivorsitzender und Fraktionsvorsitzender dringend nach etwas Wirtschaftskompetenz sucht, die Generalsek- Dieser Vorschlag passt in unsere Zeit, weil er pragmatisch retärin gemeuchelt hat und jetzt auf die Wunderwaffe und effizient ist und den Unternehmen hilft. setzt; denn was heute hier und auch im 21644 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Alexander Ulrich (A) Wirtschaftsausschuss von Ihnen gesagt worden ist, zeigt, Zum Thema Lufthansa sage ich Ihnen, Herr Altmaier: (C) dass Sie wirtschaftspolitisch in dieser Krise ein Totalaus- Da haben Sie vieles falsch gemacht. Wenn Sie 9 Milliar- fall sind. den Euro in die Hand nehmen – also viel mehr, als dieses Unternehmen an der Börse wert ist –, aber komplett (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- darauf verzichten, ein Mitspracherecht auszuüben, dann ten der SPD und des Abg. Sven-Christian tun Sie das Gegenteil von dem, was wir als Linke fordern: Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wenn sich der Staat beteiligt, muss das mit Beschäfti- Ginge es nach der FDP, hätten wir heute schon Hun- gungssicherung einhergehen und bei der Lufthansa auch derttausende Arbeitslose mehr. Sie kritisieren ganz offen mit klimagerechtem Arbeiten. Aber darauf verzichten und überall die Verlängerung der Bezugsdauer des Kurz- Sie. arbeitergeldes. Wenn wir das nicht machen würden, wür- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- de das im Ergebnis dazu führen, dass wir amerikanische NIS 90/DIE GRÜNEN) Verhältnisse hätten. Wir hätten heute wahrscheinlich 1 Es hätte sich jetzt die Chance geboten, statt dass die Luft- bis 2 Millionen Arbeitslose mehr, wenn direkt entlassen hansa 20 000 Arbeitsplätze abbauen will, darüber zu worden wäre. Sie sind auch gegen staatliche Beteiligun- debattieren, mit staatlicher Unterstützung zum Beispiel gen, durch die ja hoffentlich auch Jobs gerettet werden. zu einer Arbeitszeitverkürzung à la IG Metall – Viertage- Die FDP ist mal wieder für die Aktionäre und für die woche für gewisse Branchen – zu kommen. Das wäre Wohlhabenden, aber nicht für die Beschäftigung und für nicht nur bei der Lufthansa ein geeignetes Instrument, die Daseinsvorsorge des Staates. um Beschäftigung zu sichern. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sven- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Falko Mohrs Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- [SPD]: Traurig, aber wahr!) NEN]) Deshalb kann man nur sagen: Ihr Antrag sollte möglichst Nur: Wenn der Staat sich da rauszieht, dann hat man diese schnell dahin, wo er hingehört, nämlich in den Müllei- Einflussmöglichkeiten natürlich nicht. mer. Wir sollten uns im Wirtschaftsausschuss gar nicht Herr Altmaier, wir unterstützen Sie dann, wenn Sie mehr damit beschäftigen. Ihren Worten glaubhaft folgen wollen, dass wir in vielen Bereichen eine Rekommunalisierung brauchen. Dafür (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) muss der Bund die Kommunen finanziell durch einen Herr Altmaier, es ist schön, dass Sie heute hier sind. Altschuldenfonds entlasten, damit die Kommunen aktiv (B) Ich fange mal ein bisschen positiv an. Sie haben mich bleiben können. Dann hätten Sie auch uns auf Ihrer Seite. (D) diese Woche schon zweimal überrascht. Am Montag Aber ich glaube, das, was Sie heute gesagt haben, haben haben Sie bei „Hart aber fair“ erklärt, dass Sie gegen Sie nicht ernst gemeint. Sanktionen sind – wenn es um Nord Stream 2 geht, geben Vielen Dank. wir Ihnen sogar recht; aber dann frage ich mich, warum Sie in der Vergangenheit bei gewissen Staaten immer für (Beifall bei der LINKEN) Sanktionen waren –, und heute stellen Sie sich hierhin und sagen, Sie wären schon dafür, dass der Staat in der Vizepräsidentin Claudia Roth: öffentlichen Daseinsvorsorge seine Rolle hat. Sie haben Vielen Dank, Alexander Ulrich. – Nächster Redner: für die FDP kritisiert, dass sie in ihrem Antrag von Ihnen die CDU/CSU-Fraktion Dr. Andreas Lenz. abgeschrieben habe. Wenn Sie sich jetzt für die öffent- liche Daseinsvorsorge in staatlicher Hand aussprechen, (Beifall bei der CDU/CSU) dann würde ich Ihnen nach der Debatte einen Auszug aus unserem Parteiprogramm geben; denn da machen Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): wir gute Vorschläge, was alles in staatlicher Hand sein Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen sollte. und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man liest ja Anträge für gewöhnlich immer, auch wenn sie von der (Beifall bei der LINKEN – Reinhard Houben Opposition kommen. Es ist schon so, dass man einen [FDP]: Besser nicht!) FDP-Antrag vielleicht sogar etwas offener liest. Aber Da geht es – das kann ich dem Vorredner sagen – um um ehrlich zu sein: Überzeugt haben Sie von der FDP Internetverbindungen, um Energieversorgung, es geht mich leider in keiner Weise. Ich glaube, dem Antrag um Wasser, es geht aber auch um das Gesundheitswesen. mangelt es vor allem an Differenziertheit, die wir gerade Stellen Sie sich doch mal hierhin und sagen: Jedes Kran- jetzt aber brauchen. kenhaus, das privatisiert worden ist, sollte wieder rück- Sie werfen beispielsweise die Beteiligung an der Com- verlagert werden. Wir brauchen eine Rekommunalisie- merzbank mit der Beteiligung an 50Hertz in einen Topf, rung der Krankenhäuser. und das ist grundfalsch. Sie differenzieren eben nicht, dass es sich bei 50Hertz um kritische Infrastruktur han- (Beifall bei der LINKEN) delt. Hier liegt es im nationalen Interesse, dass ebendieser Wir wollen kein Geschäft mit kranken Menschen, son- Bereich nicht in das außereuropäische Ausland geht. Dafür haben wir Sorge getragen. dern wir wollen, dass der Mensch im Mittelpunkt steht. – Das wäre mal eine lohnenswerte Debatte. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21645

Dr. Andreas Lenz (A) Deutschland kommt nach wie vor besser durch die men. Als Beispiel sei die Wasserstoffstrategie genannt. (C) Krise als andere Länder. Beispielsweise beträgt der Rück- Wir investieren aber auch in künstliche Intelligenz, in gang der Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal im Ver- Quantentechnologie und in 5G-Netze. Der 10-Milliar- einigten Königreich 20 Prozent, in Deutschland lediglich den-Euro-Zukunftsfonds ist auch auf die Schiene minus 10 Prozent. Das ist immer noch viel. Die Zahl der gebracht. Menschen in Kurzarbeit geht zurück, und die Exporte steigen wieder kräftig. Jetzt will ich die Probleme in Wir handeln also pragmatisch und nicht dogmatisch, keiner Weise verhehlen – dem Minister wird häufig ein auf Basis der sozialen Marktwirtschaft, und das ist genau gewisser Überoptimismus vorgeworfen –, aber im Zwei- richtig und zukunftsorientiert. fel bin ich auch hier bei Ludwig Erhard; mit dem halten Herzlichen Dank. Sie von der FDP es ja auch. Er meinte einmal wörtlich – ich zitiere –: „Ich glaube, es ist immer noch besser, die (Beifall bei der CDU/CSU) Wirtschaft gesundzubeten, als sie totzureden.“ Dass nicht alles gut ist, wissen wir. Wir befinden uns, Vizepräsidentin Claudia Roth: wirtschaftlich gesehen, in der schwierigsten Situation der Vielen Dank, Dr. Andreas Lenz. – Nächster Redner: Nachkriegsgeschichte. Aber gerade in so einer Situation Uwe Kamann. müssen wir pragmatisch sein; wir dürfen nicht dogma- tisch sein. Wir stehen fest auf den ordoliberalen Grund- Uwe Kamann (fraktionslos): sätzen der sozialen Marktwirtschaft. Das sind unsere Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Leitplanken mehr denn je. Wer, wenn nicht die Union, Bundestagsabgeordnete! Verehrte Kollegen von der sollte denn die soziale Marktwirtschaft in der heutigen FDP, grundsätzlich haben Sie mit Ihrem Antrag recht. Zeit verteidigen? Wir brauchen keinen zu starken Protektionismus und Wir müssen aber auch berücksichtigen, dass sich die schon gar keine Staatswirtschaft in Deutschland. Ich Welt verändert hat. Bei der Plattformökonomie beispiels- wende mich entschieden gegen alle Bestrebungen, die weise schafft der Markt selbst quasi globale Monopole. Coronapandemie zu missbrauchen, um einen noch größ- Die Welt dreht sich eben weiter, und man könnte fast eren staatlichen Einfluss auf Wirtschaft und unternehmer- meinen: Die FDP bleibt dabei leider stehen. ische Entscheidungen voranzutreiben. Wir erleben schon länger und besonders aktuell eine einseitige Bevorzugung Durch die Krise drohen deutsche Unternehmen zu politisch gut vernetzter, global agierender Konzerne mit Übernahmekandidaten zum Schnäppchenpreis zu wer- enormen Stützungsbeträgen. Einzelselbstständige, kleine den. Dagegen gehen wir mit dem WSF vor. Bei dieser und mittlere Unternehmen bleiben dagegen häufig auf (B) Gelegenheit will ich auch betonen, dass das Instrument der Strecke. (D) der Beteiligungen im Einklang mit dem EU-Wettbe- werbsrecht steht. Die Kommission hat das Instrument Für diese gefährliche Entwicklung steht maßgeblich genehmigt. Aber ganz klar, für uns gilt in Abwandlung neben der SPD ausgerechnet das CDU-geführte Wirt- eines Satzes von Herbert Wehner: Wer einsteigt, muss schaftsministerium. Die Politik, die im CDU-Wirt- natürlich auch wieder aussteigen. Wir glauben nicht, schaftsministerium gemacht wird, befördert die wachs- dass der Staat der bessere Unternehmer ist. Das unter- ende Abkehr von marktwirtschaftlichen Prinzipien hin scheidet uns von der linken Seite des Parlaments. Ebenso zu mehr staatlich gelenkter Industriepolitik. Wer die Fol- ist es völlig fehl am Platze, jetzt der Staatswirtschaft das gen dieses Irrwegs sehen will, muss nur zu unserem Wort zu reden. Sie wollen Staatswirtschaft oder Planwirt- Nachbarn Frankreich blicken. Die Konzerne nehmen schaft. Wir wollen weiterhin unsere Marktwirtschaft. die staatliche Unterstützung natürlich gerne an, inklusive der Wettbewerbsvorteile gegenüber ihrer Konkurrenz. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gleichzeitig ist es weltfremd, anzunehmen, dass staat- Pascal Meiser [DIE LINKE]: Wer will denn liche Beteiligung keine Auswirkungen hätte und nicht hier Staatswirtschaft? – Matthias W. Birkwald zumindest versucht würde, politischen Einfluss zu neh- [DIE LINKE]: Reden von übervorgestern, die men, wie uns bei der Lufthansa die Grünen und die Lin- Sie hier führen!) ken eindrucksvoll unter Beweis gestellt haben. Wir werden auch nicht jeden und alles retten können. Der Irrglaube, dass staatliche Reglementierungen und Das ist Teil der Wahrheit, die wir auch offen aussprechen politische Einflussnahme effizienter seien und die müssen. Wir brauchen deshalb eine Kaskade des Rettens: Bedürfnisse unserer Bürger besser befriedigen könnten Was retten wir, was retten wir nicht? Hierbei müssen wir als Wettbewerb und unternehmerisches Risiko, ist durch ordnungspolitische Überlegungen genauso wie Gerech- die Geschichte eindrucksvoll widerlegt. Marktwirtschaft, tigkeits- und Souveränitätsfragen in der Debatte berück- besonders soziale Marktwirtschaft, erzeugt Wohlstand; sichtigen. Staatswirtschaft erzeugt Elend und Armut. Der Ökonom Joseph Schumpeter spricht von der (Pascal Meiser [DIE LINKE]: Das haben die „schöpferischen Zerstörung“. Wir müssen aber aufpas- Banken in der Bankenkrise ja super gezeigt!) sen, dass es nicht nur Zerstörung gibt und die kreative Schöpfung woanders stattfindet. Darum haben wir im Ich bin vor Kurzem auch deshalb der Partei Liberal- Konjunkturpaket ein Zukunftspaket mit verankert. Wir Konservative Reformer beigetreten, um wieder mehr von investieren gerade jetzt nachhaltig in Zukunftstechnolo- dem Geist Ludwig Erhards in unsere politische Arbeit gien. Wir bringen dabei Ökologie und Ökonomie zusam- einzubringen, um unseren Mittelstand zu fördern und 21646 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Uwe Kamann (A) unsere Wirtschaft damit zu stärken. All das, was Sie könnten Ihre Rede hier im Deutschen Bundestag gar nicht (C) schon lange nicht mehr ernsthaft vertreten, liebe Kolle- halten, wenn es nicht Menschen aus der Veranstaltungs- ginnen und Kollegen von der FDP! branche gäbe, die für Sie oder für mich das Mikrofon Mir geht es auch darum, den liberalkonservativen einschalten oder sich um das Licht kümmern. Herr Motor für die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Houben, wie können Sie diesen Menschen ins Gesicht Deutschland neu zu starten. Die Union hat diesen Motor schauen? Diesen Menschen rinnt die zum Teil jahrzehnte- durch immer mehr Regulierungen und durch immer mehr lange Arbeit durch die Finger, und das nur, weil ein Virus, Eingreifen des Staates erheblich zum Stottern gebracht. Corona, auf ihr gesundes Unternehmen getroffen ist. Das dürfen wir nicht weiter zulassen. Wir können Ihren Ich finde es richtig und wichtig, dass die Bundesregie- Antrag, liebe FDP, nicht unterstützen, weil die darin auf- rung und wir hier im Bundestag in großer Einheit Verant- geführten Maßnahmen wenig durchdacht und realitäts- wortung übernehmen für die Menschen, die mit ihren fern in der Umsetzung sind. Unternehmen in Schwierigkeiten geraten sind, und für (Stephan Brandner [AfD]: Wer ist denn „wir“? die vielen Hunderttausend Menschen, denen ohne die Sie sind doch ganz alleine!) staatlichen Hilfen die Arbeitslosigkeit drohen würde. Zusätzlich erlauben Sie mir, darauf hinzuweisen, dass (Beifall bei der SPD) auch Sie planwirtschaftliche Instrumente wie zum Bei- Wenn Sie hier kritisieren, dass wir auch die Lufthansa spiel das EEG mitgeschaffen haben. Auch bei Ihren stützen, dann frage ich mich wirklich, wie Sie den Kolle- Regierungsbeteiligungen in Bund und Ländern sind Sie ginnen und Kollegen bei der Lufthansa ins Gesicht kaum durch großen Widerspruchsgeist aufgefallen. Da schauen können, die bei Ihrem nächsten Flug für Ihre hilft es wenig, nur auf der Oppositionsbank ein zu starkes Sicherheit und für Ihren Service in den Maschinen unter- Eingreifen des Staates zu beklagen. Am Ende sind Sie wegs sind. doch dabei. (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Lesen Sie (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sie gehören doch mal den Antrag!) doch zur AfD!) Wenn Sie mal wieder zum Besten geben, dass Sie bei Aber mit einem haben Sie uneingeschränkt recht: Wir der Deutschen Post und bei der Telekom alle staatlichen brauchen mehr Vorfahrt für die soziale Marktwirtschaft Anteile verkaufen oder auch Teile der Bahn privatisieren und keine Vorfahrt für Konzerne mit Staatsbeteiligung. wollen: Wie wollen Sie das den Kolleginnen und Kol- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. legen eigentlich erklären? Beim nächsten Tagesord- nungspunkt sprechen wir über die Missstände in der (B) Fleischindustrie und über die Notwendigkeit, dort aktiv (D) Vizepräsidentin Claudia Roth: zu werden. Das, was wir dort unternehmen, haben Sie vor Vielen Dank, Uwe Kamann. Kurzem übrigens noch als Symbolpolitik bezeichnet. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Eine zu Herr Houben, wie können Sie diesen Menschen noch 100 Prozent ideologische Rede und sonst ins Gesicht schauen und sagen, es handele sich um Sym- nichts!) bolpolitik, wenn wir deren dramatische Situation verän- Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Falko Mohrs. dern und verbessern? Herr Houben, was Sie in diesem Antrag schreiben und was Sie in Ihrer Rede gesagt haben, (Beifall bei der SPD) das schockiert mich in der Tat. (Beifall bei der SPD) Falko Mohrs (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- Sprechen wir noch über die Sache mit der staatlichen ren! Herr Houben, wir sind ja in den letzten Jahren Stütze. Das ist ja kein Selbstzweck! Sie tun in Ihrem antragsmäßig und redemäßig auch von der FDP schon Antrag so, als sei das alles ein Selbstzweck, was wir einiges gewohnt. Ich muss aber sagen: Das, womit Sie hier machen. Wenn mit den staatlichen Stützen, auch Ihren Antrag hier eingeleitet haben, war schon ziemlich mit den staatlichen Beteiligungen, eine Brücke gebaut unterste Schublade. Da schreiben Sie, dass wir Corona als wird für die Unternehmen, wenn mit der Verlängerung Türöffner für Protektionismus und staatswirtschaftliche des Kurzarbeitergeldes eine stabile Brücke – die stabilste, Politik nutzen würden. die wir derzeit überhaupt haben – errichtet wird, um Beschäftigung zu sichern, dann, Herr Houben, ist das (Reinhard Houben [FDP]: Das stimmt!) genau das, was der Staat in einer Krise tun muss. Sie unterstellen uns also tatsächlich, dass wir Corona aus- Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wir brauchen keine Betei- nutzen für das, was wir wirtschaftlich und sozial tun und ligungsbremse, so wie Ihnen das hier vorschwebt, son- tun müssen. Das, Herr Houben, finde ich in Anbetracht dern wir brauchen eine Antragsbremse für die FDP, Herr dessen, was viele Menschen in diesem Land in den letz- Houben. Das würde uns am meisten helfen. ten Monaten erleben, und der Krise, durch die viele Unternehmen in den letzten Monaten gehen müssen, (Beifall bei der SPD) wirklich verachtenswert. Es tut mir leid. Zu guter Letzt möchte ich noch die Chance nutzen, Herr Houben, Sie standen ja gestern auf der Bühne vor einen Dank auszusprechen. In den letzten Monaten haben vielen Tausend Menschen der Veranstaltungsbranche. sehr viele Menschen aus dem Rettungswesen Verantwor- Vielleicht sollten wir Sie noch mal daran erinnern: Sie tung übernommen, und sie beteiligen sich auch an dem Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21647

Falko Mohrs (A) heutigen Warntag in Deutschland. Ich möchte ihnen allen Aufgabe, die strategische Infrastruktur in diesem Land zu (C) noch einmal Danke sagen für das, was sie in den letzten schützen, und zwar vor ausländischen Investoren, Stich- Monaten für uns geleistet haben und auch weiterhin für wort: 50Hertz und China. uns leisten. Wir sagen aber auch: Der Staat hat eine bestimmte Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Aufgabe, wenn es darum geht, als größte Exportnation (Beifall bei der SPD) in Europa und eine der größten Exportnationen in der Welt dafür zu sorgen, dass man eine große deutsche Air- line erhält. Dabei geht es nicht nur um Hunderttausende Vizepräsidentin Claudia Roth: Arbeitsplätze, sondern auch darum, ein gesundes Vielen Dank, Falko Mohrs. – Letzter Redner in dieser Geschäftsmodell durch die Krise zu führen, um danach Debatte ist Mark Hauptmann für die CDU/CSU-Fraktion. als Exportnation mit einer großen deutschen Airline wie (Beifall bei der CDU/CSU) der Lufthansa erfolgreich zu sein. Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe, Mark Hauptmann (CDU/CSU): geschätzte Kollegen der FDP, schauen Sie sich doch bitte Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen die Realität auf dem Airline-Markt an, bevor Sie von und Kollegen! Politik muss sich erklären, ganz besonders Wettbewerbsverzerrung seitens des Staates sprechen. in Krisenzeiten. Peter Altmaier macht das wie kein ande- Bei einem Großteil der Airlines weltweit handelt es sich rer Wirtschaftsminister in einer schwierigen, wahrschein- um Staatsairlines. Das heißt, hier tritt nicht eine private lich in der schwierigsten Situation, in der sich Deutsch- Airline in Konkurrenz mit anderen privaten Airlines; land wirtschaftspolitisch in der Nachkriegsgeschichte vielmehr ist wegen der starken Subventionierung der Air- jemals befunden hat. lines in anderen Staaten dieses Wettbewerbsmodell schon längst verzerrt; dies war auch schon vor Corona so. Er erklärt und – ganz wichtig; das ist die zweite Auf- gabe von Politik – er zeigt auch die Alternativen auf: Was (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Das ist in sind die Alternativen, vor denen wir stehen? – Wir tragen vielen Branchen so, nicht nur dort!) natürlich Ludwig Erhard als den geistigen Vater der so- Die Alternative, die Sie von der FDP und von der AfD zialen Marktwirtschaft in unseren Herzen, und wir aufzeigen, lautet: Liebe Lufthanseaten, liebe Mitarbeiter, schauen zugleich: Können wir diesem Anspruch, dass mit uns verlieren Sie Ihren Job, weil wir nicht daran der Staat nicht der bessere Unternehmer ist, auch in der glauben, dass man dieses Unternehmen durch eine Krise Praxis gerecht werden, wenn es darum geht, Deutschland in die Zukunft führen möchte; außerdem wollen wir in durch eine Krise zu führen? Oder braucht es eine Anpas- Zukunft keine globale deutsche Airline mehr haben. (B) sung zwischen Theorie und Praxis und ein ganz konkretes (D) Handeln unter Zeitdruck, um dieses Land vor tiefgreif- Als weiterer Fall wurde noch CureVac angesprochen. enden Verwerfungen, vor Massenarbeitslosigkeit und vor Anfang dieses Jahres gab es Interessenbekundungen sei- einer fehlenden strategischen Ausrichtung in der Zeit tens der USA, hier einzugreifen. Die Antwort, die Sie von nach der Krise zu schützen? der FDP und von der AfD gegeben hätten, wäre gewesen: (Beifall bei der CDU/CSU) Liebe Mitarbeiter von CureVac, Sie können weiter am Impfstoff forschen. Aber Ihren Familienangehörigen in Dieser Verantwortung wird das Bundeswirtschaftsminis- Deutschland kommt er nicht zugute; denn der wird exklu- terium mit Peter Altmaier an der Spitze sehr gut gerecht. siv für die USA produziert. Die Pandemie, wie wir sie derzeit erleben, zwingt uns (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Nein, nein, zum Umdenken. Sie offenbart uns die Schwierigkeiten, nein!) vor denen wir stehen; denn wir wollen natürlich nicht alles verstaatlichen. Dann wären wir bei der Linkspartei. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die Lin- Herr Kollege. ke! Die Linkspartei gibt es seit 13 Jahren nicht mehr!) Mark Hauptmann (CDU/CSU): Sie glauben wahrscheinlich, der Staat ist der bessere Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Da sagen Unternehmer in diesem Land. Die große Mehrheit dieses wir Nein. Hier hat der Staat die Verantwortung, uns ganz Hauses glaubt das jedoch nicht. besonders in der Krise an der Seite der deutschen Wirt- Bei jeder einzelnen Entscheidung muss man sich schaft wettbewerbsfähig durch die Krise zu führen. Das immer darüber klar werden: Was sind die Alternativen? macht deutlich, warum wir in der Regierung verantwor- Gibt es eine Exit-Strategie? Ist dieses Geschäftsmodell tungsvoll für dieses Land handeln, Sie von der Opposi- zukunftsfähig? Kommt es zu großen Wettbewerbsverzer- tion hingegen nicht. rungen? Wie sieht eigentlich ein Szenario ohne eine staat- Herzlichen Dank. liche Beteiligung aus? (Beifall bei der CDU/CSU) Ich möchte in dieser Debatte abschließend noch mal die wesentlichen kritischen Fragen differenziert darstel- len und herausarbeiten, wo die Unterschiede in diesem Vizepräsidentin Claudia Roth: Hause liegen. Als Partei mit Regierungsverantwortung Vielen Dank, Mark Hauptmann. – Damit schließe ich für dieses Land sagen wir: Der Staat hat die elementare die Aussprache. 21648 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Intrafraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) Drucksache 19/22107 an die in der Tagesordnung aufge- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu gibt es keine CDU/CSU) weiteren Vorschläge. Dann verfahren wir genau so. Ich sage aber auch: Wann, wenn nicht jetzt, ist es Zeit, die Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Verhältnisse grundlegend zu ändern? Erste Beratung des von der Bundesregierung Mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz, das wir heute in eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur erster Lesung im Deutschen Bundestag beraten, machen Verbesserung des Vollzugs im Arbeitsschutz wir genau das. (Arbeitsschutzkontrollgesetz) Es geht erstens darum, im Kerngeschäft der Fleisch- Drucksache 19/21978 industrie Werkverträge und Leiharbeit zu verbieten. Wir Überweisungsvorschlag: wollen dafür sorgen, dass die Arbeiter in dieser Industrie Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz direkt beim Unternehmen angestellt sind. Das gilt übri- Ausschuss für Wirtschaft und Energie gens – bei allen Gerüchten – nicht für den Dorfmetzger, Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Haushaltsausschuss der seine eigene Schlachtung betreibt, sondern das gilt für die Fleischfabriken; denn da ist das Problem. Und nein, Für die Aussprache wurde eine Dauer von 60 Minuten ich habe dem Grunde nach nichts gegen den Einsatz von beschlossen. Werkverträgen in unserer Wirtschaftsordnung. Wenn ein Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort an Bun- großes Unternehmen einen Handwerker beauftragt, eine desminister Hubertus Heil für die Bundesregierung. Sicherheitsanlage einzubauen, ist das ein ganz normaler Werkvertrag. Aber wir haben in dieser Situation erlebt, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass Werkverträge und Fremdarbeit mit Ausbeutung ver- der CDU/CSU) wechselt wurden. Wenn 80, 90 Prozent der Beschäftigten nicht mehr angestellt sind, dann geht es um organisierte Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Sozia- Verantwortungslosigkeit von Unternehmen, dann geht es les: um Lohndrückerei, dann geht es um mangelnden Arbeits- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schutz, und das müssen wir beenden. Stellen Sie sich vor: blutige Schweinekadaver im Akkord zerlegen, Schulter an Schulter mit Kollegen, ohne Schutz (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem vor Corona, 12 Stunden am Stück malochen, manchmal BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- aber auch 16, an sechs oder sieben Tagen in der Woche, ordneten der CDU/CSU) (B) am Abend eingepfercht in einen kleinen Bus ohne (D) Schutz, dann Kasernierung in einer kleinen Bruchbude – Zweitens. Auf den Schlachthöfen gilt künftig eine und das Einzige, das du hast, ist eine schimmelige Mat- elektronische Arbeitszeiterfassung, damit die Unterneh- ratze, die dich mehrere Hundert Euro im Monat kostet, men bei der Arbeitszeit nicht länger tricksen und jede und vielleicht noch ein Foto von deiner Familie, die geleistete Stunde auch anständig bezahlt wird. tausend Kilometer entfernt lebt. Das klingt wie eine finstere Beschreibung des Man- Vizepräsidentin Claudia Roth: chester-Kapitalismus im 19. Jahrhundert. Es ist aber, mei- Herr Minister, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ne Damen und Herren, Realität im 21. Jahrhundert, leider -bemerkung vom Kollegen Dr. Dehm? auch mitten in Deutschland. Deshalb sage ich: Diese Ausbeutung ist eine Schande für unser Land. Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Sozia- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE les: GRÜNEN]: Das wissen wir aber schon lange!) Nein, das können wir später miteinander klären. Ich Wir werden damit aufräumen. würde gern im Zusammenhang vortragen. Aber wenn Sie eine Kurzintervention haben, bin ich gern bereit, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ darauf zu antworten, Herr Dehm. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Meine Damen und Herren, natürlich rede ich von Das genehmigen aber nicht Sie, sondern ich. Zuständen, die teilweise, aber in erheblichem Umfang in der deutschen Fleischindustrie herrschen. Das ist jetzt nicht ausgedacht. Das besagen Kontrollen der Arbeits- Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Sozia- schutzbehörden des Landes Nordrhein-Westfalen; das les: besagen Kontrollen des Zolls, des Bundes. Hier arbeiten Das stimmt, die Präsidentin genehmigt. Ich wollte nur Menschen, überwiegend aus Mittel- und Osteuropa, meine Bereitschaft signalisieren, Frau Präsidentin. deren Rechte und Würde mit Füßen getreten werden. Die Coronakrise hat diese Missstände schonungslos Vizepräsidentin Claudia Roth: offengelegt. Ich muss einmal persönlich sagen: Es ist Dann schauen wir mal. schlimm, dass es einer Pandemie bedurfte, damit das ins öffentliche Bewusstsein gelangt. Das war vorher (Heiterkeit – Matthias W. Birkwald [DIE schon nicht in Ordnung. LINKE]: Dann bitte Kurzintervention!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21649

(A) Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Sozia- an dieser Stelle geht es um die Würde von Menschen und (C) les: nicht die Interessen einiger Konzerne. Lassen Sie sich Wer gegen Arbeitszeitregeln verstößt – das gehört zur von diesem Lobbyismus im Verfahren nicht beeindru- Arbeitszeiterfassung dazu –, der wird auch deutlich stär- cken. ker zur Kasse gebeten. Drittens. Es wird in allen Branchen mehr Arbeits- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem schutzkontrollen geben, aber vor allen Dingen dort, wo BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- Gefährdungspotenziale besonders hoch sind, wie bei- ordneten der CDU/CSU) spielsweise in der Fleischindustrie. Noch mal: Die Kon- Lassen Sie uns geschlossen für Gerechtigkeit und trollquoten gelten für alle Unternehmen in Deutschland. Menschenwürde eintreten. Ich bitte Sie um Zustimmung Das ist auch notwendig, nachdem in den Bundesländern zum Arbeitsschutzkontrollgesetz und freue mich auf die leider oft die Arbeitsschutzbehörden in den letzten Jahr- weiteren Beratungen. Wir müssen dafür sorgen, dass die- zehnten kaputtgespart wurden. Wir brauchen das Perso- se Krise nicht missbraucht wird nach dem Motto „War ja nal. Denn unsere Erfahrung in dieser Branche ist: Wenn nicht so schlimm; wir machen wieder Freiwilligkeit“. nicht hingesehen und kontrolliert wird, dann wird miss- Dieses Katz-und-Maus-Spiel hat dieser Deutsche Bun- braucht. destag zu oft mit dieser Branche erlebt. Deshalb ist meine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bitte, dass wir tatsächlich zur Verabschiedung dieses der LINKEN) Gesetzes kommen. Wir müssen dafür sorgen, dass wir die Verhältnisse in diesem Bereich neu ordnen. Viertens. Wir machen Schluss mit Gammelunterkünf- ten. Künftig gelten Mindeststandards für die Unterbrin- Herzlichen Dank. gung der Beschäftigten. Das gilt übrigens auch nicht nur für die Fleischbranche, sondern auch für andere Bereiche. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Denn egal ob die Sammelunterkünfte in der Fleischbran- der CDU/CSU) che oder in der Landwirtschaft sind, sie müssen men- schenwürdig sein. Vizepräsidentin Claudia Roth: Fünftens. Die Arbeitgeber müssen künftig genau doku- Vielen Dank, Hubertus Heil. – Jetzt hat Dr. Dehm die mentieren, wo ihre ausländischen Arbeitnehmerinnen Möglichkeit zu einer Kurzintervention. Herr Minister, und Arbeitnehmer eingesetzt und untergebracht werden, wenn Sie wollen, können Sie von der Regierungsbank damit die Behörden das eben auch kontrollieren können. aus antworten. (B) Meine Damen und Herren, jeder Mensch, der in (D) Deutschland arbeitet, egal wo er geboren ist und welche Sprache er spricht, jeder, der zum Erfolg dieses Landes Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): beiträgt, jeder, der fleißig ist, hat ein Anrecht darauf, Herr Minister, wenn Sie die Frage zugelassen hätten, vernünftig und anständig behandelt zu werden. Egal ob dann hätte ich Sie gefragt – aber Sie haben ja jetzt die er oder sie die deutsche Sprache spricht oder nicht: Jeder Gelegenheit, darauf anders zu antworten –, ob Sie die Mensch hat das gleiche Recht auf Würde. Es darf keine Schärfe Ihres Gesetzes nicht in einigen Punkten über- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zweiter Klasse schätzen. Ich glaube allerdings, dass auch schon weniger geben. scharf formulierte Gesetze die Lobbyistentätigkeit so auslösen würden, wie Sie es beschrieben haben; deswe- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LIN- gen haben auch einige von uns bei Ihrer Rede an einigen KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Stellen geklatscht, was völlig zutreffend war. Deshalb haben wir das Entsendegesetz geändert. Des- Aber können Sie mir mal erklären, warum die Fristen halb haben wir auf europäischer Ebene im Rahmen der für das Verbot von Werkverträgen zum 1. Januar 2021 deutschen EU-Ratspräsidentschaft eine Initiative zum und für Leiharbeit zum 1. April 2021 so unterschiedlich Schutz von Saisonarbeitskräften gestartet. Deshalb haben gesetzt sind? Sie werden möglicherweise Anpassungs- wir als Koalition mit dem Projekt „Faire Mobilität“ dafür probleme ins Feld führen; aber der Großteil der Beschäf- gesorgt, dass die Menschen in ihrer Muttersprache auch tigten ist doch bisher im Rahmen von Werkverträgen über ihre Rechte als Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- angestellt. Vom Bauerngut Bückeburg in Niedersachen, mer Bescheid wissen. Nun kommt das Arbeitsschutzkon- unserem gemeinsamen Land, weiß ich zum Beispiel, dass trollgesetz, ein weiterer wichtiger Baustein auf diesem man alle Werkverträgler schon in Leiharbeiter umgewan- Weg. delt hat, also weiter nicht fair bezahlt – aufgrund der Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich will das unterschiedlichen Fristsetzung. Ich halte auch 30 000 zum Schluss nicht verschweigen: Sie werden jetzt alle bis 50 000 Euro Strafe nicht für etwas, was Tönnies son- nach der ersten Lesung erleben – es hat ja schon ange- derlich in die Knie zwingt, sondern für etwas, was ihm fangen –, dass eine Riesenmasse von Lobbyisten hier in eher ein mildes Lächeln abringt. Tönnies gründet kleine Berlin versuchen wird, dieses scharfe Gesetz aufzuwei- Firmen mit bis zu 49 Beschäftigten aus, um unter der chen. Wir werden erleben, dass Vertreter organisierter Kontrolle wegzutauchen. Wissen Sie also, welche Konzerninteressen mit sehr, sehr viel Geld in einer mil- Schlupflöcher für Kapitalwillkür bei diesem scharfen Ge- liardenschweren Branche Rechtsgutachten bestellen und setz weiterhin bestehen? Sie in Ihren Wahlkreisen aufsuchen werden. Meine Bitte ist: So wichtig wirtschaftlicher Erfolg in diesem Land ist, (Beifall bei der LINKEN) 21650 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: Arbeitnehmerüberlassungen sucht. Deshalb ist damit (C) Vielen Dank, Diether Dehm. – Hubertus Heil. nach dem Gesetzentwurf der Koalition ab 1. April 2021 auch Schluss. Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Sozia- les: Vizepräsidentin Claudia Roth: Sehr geehrter Herr Kollege Dehm, ich bin Ihnen sehr Vielen Dank, Herr Minister. dankbar für diese Intervention, weil wir vor allen Dingen beim letzten Punkt, den Sie genannt haben, etwas klar- Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Sozia- stellen müssen. Tatsächlich haben wir erlebt, dass früher les: Gesetze durch neue Konstruktionen ausgehebelt wurden, Einen letzten Satz, Herr Dehm: beispielsweise als 2017 ein Gesetz durch- gebracht hat, das die Nachunternehmerhaftung für Vizepräsidentin Claudia Roth: Sozialversicherungsbeiträge geregelt hat; der Kollege Weiß erinnert sich. Ich will an dieser Stelle auch mal Herr Minister. dem früheren Kollegen Schiewerling danken, der sich da sehr engagiert hat. Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Sozia- les: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Danke, dass Sie zur Sache gefragt haben und kein der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Coronalied gesungen haben. Das wollte ich Ihnen auch GRÜNEN) mal sagen. Da haben wir tatsächlich erlebt, dass man sich mit großer (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Beifall Energie auf eine neue Rechtslage mit neuen Konstruktio- bei der SPD sowie des Abg. Thomas Heilmann nen von Sub-Sub-Subunternehmern eingestellt hat, um [CDU/CSU]) bestehende Gesetze auszuhebeln. Das ist mir sehr bewusst. Vizepräsidentin Claudia Roth: Deshalb haben wir bei diesem Gesetz darauf geachtet, Danke schön, Hubertus Heil. – Nächster Redner in der dass wir das Menschen- und rechtlich Mögliche tun, um Debatte: Uwe Witt für die AfD-Fraktion. einen solchen Missbrauch auszuschließen. Ich will das auch zu der Meldung von einem Unternehmen sagen, (Beifall bei der AfD) das jetzt Tochterfirmen gründet: Das wird denen an dieser (B) Stelle nichts nutzen, weil bei der Schwelle von Uwe Witt (AfD): (D) 50 Beschäftigten, die Sie angesprochen haben, zwei Prä- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und missen bestehen: Es müssen wirtschaftlich selbstständige Kollegen! Werte Zuschauer an den TV-Geräten! Über Einheiten sein, und es müssen Handwerksunternehmen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und des sein. Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer in der Fleischin- dustrie haben wir bereits vor der Sommerpause diskutiert, Das Gesetz muss nicht in Bereichen greifen, wo wir und bereits da waren sich alle Fraktionen im Deutschen kein Problem haben – das ist bei Dorfschlachtereien nicht Bundestag einig, dass Missstände beseitigt werden müs- der Fall –, sondern es geht um große Fabriken. Deshalb sen. kann ich Sie an dieser Stelle nach allem, was wir wissen, Herr Dehm, beruhigen. Wir halten nach allem, was wir Der hier vorliegende Gesetzentwurf aus dem Hause wissen, dieses Gesetz rechtlich für wasserdicht, wenn Hubertus Heil soll nun die Lösung für die Beseitigung nicht in diesem parlamentarischen Verfahren Schlupflö- eines Beschäftigungskonstrukts bringen, das die Regie- cher reingeraten. Das war meine Botschaft, die ich vorhin rungsparteien mit ihrer Beteiligung an den Länderregie- gesetzt habe. rungen mitzuverantworten und jahrelang bewusst igno- riert haben. Erst die Coronafälle, unter anderem bei Zu dem anderen kann ich Ihnen eins sagen: Ab 1. Janu- Tönnies im Landkreis Gütersloh, haben das Arbeitsmi- ar 2021 ist Schluss mit Werkverträgen. Das hat auch nisterium aus seinem Dornröschenschlaf gerissen. damit zu tun, dass dieses Gesetz jetzt in einem parlamen- tarischen Prozess ordentlich beraten und verabschiedet Ob das Gesetz zur Verbesserung des Vollzugs im werden muss. Deshalb ist das Inkrafttreten dieser Regel Arbeitsschutz die gewünschte Steigerung der Effizienz zum 1. Januar 2021, glaube ich, parlamentarisch auch der Kontrollbehörden auf Landes- sowie Bundesebene unstrittig. herbeiführt, darf bezweifelt werden. Personalaufstockun- gen bei den örtlichen Gesundheitsämtern, bei den Gewer- Im Rahmen der Ressortabstimmung haben wir uns beaufsichtsämtern sowie bei der Bundesbehörde Zoll für darauf verständigt, dass Arbeitnehmerüberlassung ab die Finanzkontrolle Schwarzarbeit wurden doch erst not- 1. April 2021 nicht mehr möglich ist. Ich halte das nicht wendig, weil seit Jahrzehnten gerade in diesen speziellen für einen Missbrauchszeitraum. Aber darüber kann man Abteilungen massiver Stellenabbau durch Bund und diskutieren. Kommunen erfolgt ist. Wichtig ist doch eins, Herr Dehm: dass wir, wenn wir Die Folgen der Einsparungen sehen wir heute: Kon- eine Lücke schließen – nämlich dadurch, dass wir bei trollzyklen, bei denen man schon nicht mehr von „Zyk- Werkverträgen Schluss machen –, nicht zulassen, dass lus“, also regelmäßiger Wiederkehr, sondern von sich der Missbrauch wie Wasser einen neuen Weg über „Zufall“ sprechen muss. Ihr Versäumnis, keine regelmä- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21651

Uwe Witt (A) ßigen Kontrollen, wie gesetzlich vorgeschrieben, durch- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): (C) zuführen, hat langfristig zu Tricksereien, Missbrauch und Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! den Zuständen geführt, die Sie jetzt auf einmal beheben Erlauben Sie mir, dass ich einfach mal mit einem Zitat wollen. anfange: (Beifall bei der AfD) Die sich der Selbstverpflichtung anschließenden Die speziell für die Fleischindustrie kreierten Passagen Unternehmen verpflichten sich, im Rahmen der des Arbeitsschutzgesetzes kommen einer Entmündigung rechtlichen Vorgaben, bis Juli 2016 der unternehmerischen Freiheit gleich. – das ist schon ein bisschen her – (Lachen bei Abgeordneten der SPD und der ihre Strukturen und Organisationen derart umzustel- LINKEN) len, dass sich sämtliche in ihren Betrieben einge- Ein völliges Verbot von Werkverträgen und Leiharbeitern setzte Beschäftigte in einem in Deutschland gemel- im sogenannten Kerngeschäft der Fleischindustrie ist deten, sozialversicherungspflichtigen eine kurzsichtige und überzogene Reaktion auf die Coro- Beschäftigungsverhältnis befinden … nafälle in der Branche. Statt bei der Schlachtung, der Und dann geht es weiter: Zerlegung und der Fleischverarbeitung ausschließlich Mit der Umstellung … ist beabsichtigt, die gesell- auf Festangestellte zu setzen, wäre es angemessener schaftliche Integration der Arbeitnehmerinnen und gewesen, eine Obergrenze für Leiharbeit und Werkver- Arbeitnehmer und die vollständige und dauerhafte träge von 15 Prozent einzuführen, Integration … in den deutschen Arbeitsmarkt mit (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE allen zugehörigen Rechten zu fördern und zu unter- GRÜNEN]: Warum? Was gibt es für einen stützen. Grund dafür? Können Sie das mal begründen?) Die Steigerung der nach deutschem (Sozialversiche- wie es die AfD und die Alternative Vereinigung der rungs-)Recht beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seit Jahren fordern. Arbeitnehmer soll einen Beitrag zu mehr Transpa- (Beifall bei der AfD) renz bzgl. der Beschäftigtensituation und deren Kontrolle in der Deutschen Fleischwirtschaft leis- Dieses hätte den Unternehmen einen Mindestspiel- ten. raum für flexible Personalplanung garantiert und hätte ein Maximum an Arbeitsschutz und Arbeitnehmerrech- So der Text der Selbstverpflichtungserklärung der großen ten gewährleistet. Unternehmen der deutschen Fleischwirtschaft im Jahr 2015. (B) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (D) GRÜNEN]: Da sieht man, auf welcher Seite (Michael Gerdes [SPD]: Und wo stehen wir Sie stehen!) jetzt?) Aber Sie sind ja zu Verbotsparteien geworden, nicht weil Meine sehr geehrten Damen und Herren, toll, wenn es sinnvoll ist, sondern weil es Ihnen Spaß macht, freie diese Selbstverpflichtung von allen Unternehmen umge- Bürger und Unternehmer zu gängeln. setzt worden wäre; dann bräuchten wir heute kein Gesetz machen. (Beifall bei der AfD – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Herr Arbeitsminister, wieder einmal haben Sie eine bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE gute Idee und eine hehre Absicht, die im Interesse aller GRÜNEN) Fraktionen des Deutschen Bundestages lag, durch unpro- Es ist vielleicht der Kern der sozialen Marktwirtschaft. fessionellen und dilettantischen Aktionismus, gepaart mit In der Tat, „soziale Marktwirtschaft“ heißt für uns: Frei- handwerklichem Unvermögen, zum Schaden sowohl der heit bei der Gestaltung der Arbeitswirklichkeit durch die Arbeitgeber wie der Arbeitnehmer abgewickelt. Sozialpartner, Arbeitgeber und Gewerkschaften. Es wäre (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE schön, wenn wir zum Beispiel in der Fleischwirtschaft GRÜNEN]: Weil Sie auch so viele Anträge in das hätten, was die Verbände der Fleischwirtschaft jetzt diesem Bereich vorgelegt haben!) kürzlich angeboten haben, nämlich einen Tarifvertrag abzuschließen, in dem nicht nur die Frage des Lohns, Vielleicht hätten Sie sich Insiderinformationen von Ihrem sondern auch die Frage der Arbeitsbedingungen, auch Parteifreund geben lassen sollen, der ja die Frage der Unterbringungen geregelt würde. Es wäre für 10 000 Euro pro Monat noch in diesem Jahr beim schön, wenn wir einen solchen Tarifvertrag schon längst Fleischriesen Tönnies beschäftigt war. hätten und er vielleicht auch für allgemeinverbindlich Vielen Dank. erklärt worden wäre. Das ist soziale Marktwirtschaft. (Beifall bei der AfD) Aber wenn weder eine Selbstverpflichtung, die man eingegangen ist, eingelöst wird noch es bis zur Stunde einen solchen Tarifvertrag gibt, geschweige denn, dass Vizepräsidentin Claudia Roth: Tarifvertragsverhandlungen erst mal begonnen hätten, Vielen Dank, Uwe Witt. – Nächster Redner: für die dann heißt „soziale Marktwirtschaft“ auch, dass der Staat CDU/CSU-Fraktion Peter Weiß. notfalls durch gesetzliche Regelungen reagieren muss, (Beifall bei der CDU/CSU) und genau das machen wir. Es ist ein marktwirtschaftli- 21652 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Peter Weiß (Emmendingen) (A) cher Weg, den wir gehen. Es wäre schöner, Selbstver- Meine sehr geehrten Damen und Herren, Arbeitsschutz (C) pflichtungen und Tarifverträge würden das regeln, was halten wir für eine Selbstverständlichkeit. Wir wissen wir jetzt durch ein Gesetz regeln müssen. aber, dass Arbeitsschutz auch kontrolliert werden muss. Deswegen hat uns ja schon die Konferenz der Arbeits- (Beifall bei der CDU/CSU) und Sozialminister aller 16 Bundesländer einstimmig empfohlen, dass wir die Kontrolldichte in diesem Bereich Meine sehr geehrten Damen und Herren, es geht verstärken. Ich glaube, Arbeitsschutz ist gut, aber Kon- darum, faire Arbeitsbedingungen zu schaffen und vor trolle muss eben auch sein. Auch das wollen wir mit allen Dingen die Verantwortung zu klären. Gerade in diesem Gesetz gewährleisten. Wir haben eine wunder- einer Krise wie der Coronakrise kommt es dazu an, bare Bundesbehörde, die Bundesanstalt für Arbeitsschutz dass diejenigen, die handeln können, zu ihrer Verantwor- und Arbeitsmedizin, genannt BAuA. Ich glaube, es ist tung stehen und diese nicht an Sub-Sub-Subunternehmen richtig, dass wir bei diesen Fachleuten, auf die wir uns delegieren. Freiheit in der sozialen Marktwirtschaft ist auch in anderen Fragen stets verlassen können, eine eige- unbedingt verbunden mit dem Wahrnehmen von Verant- ne Fachstelle „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“ wortung. Freiheit und Verantwortung gehören zusam- einrichten. Auch das ist Bestandteil dieses Gesetzentwur- men. Mit diesem Gesetz erinnern wir daran und ver- fes. pflichten uns dazu, dass Freiheit und Verantwortung wirklich auch zusammen angesehen werden und nicht Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie gesagt: Mir wäre auseinanderfallen. lieber, wir müssten heute kein Gesetz beraten, sondern Selbstverpflichtung und Tarifverträge wären realitätsge- (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- nau und präzise umgesetzt worden. Wir machen dieses NIS 90/DIE GRÜNEN) Gesetz, weil das nicht der Fall ist. Es ist ein Gesetz, das den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft entspricht. Es geht um faire Bezahlung. Es geht um faire Arbeits- Ich bin überzeugt, dass die deutsche Fleischwirtschaft, bedingungen. Es geht um anständige Unterbringung, die vor allen Dingen unsere Metzger- und Fleischerbetriebe auch möglich sein muss. Deshalb machen wir dieses Ge- auf Grundlage dieses Gesetzes weiterhin erfolgreich setz, um in diesem Bereich im Grunde genommen das zu arbeiten können und insbesondere eines machen, was tun, was sich 2015 die großen Unternehmen der Fleisch- die Bürgerinnen und Bürger interessiert, nämlich qualita- wirtschaft mit ihrer Selbstverpflichtung schon selber auf- tiv gutes Fleisch und gute Wurstwaren zu produzieren bei geschrieben haben. Es ist nicht etwas Neues, was wir zugleich anständigen Arbeitsbedingungen. Dann isst man erfinden, sondern im Grunde genommen das, was die die Sachen auch mit gutem Gewissen. Fleischwirtschaft im Jahr 2015 schon mal selber für (B) sich erkannt hat; das möchte ich gerne festhalten. Vielen Dank. (D) Uns als Union ist wichtig, dass wir aber auch klare (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Abgrenzungen vornehmen. Wichtig ist vor allem: Wir ordneten der SPD) wollen, dass der normale Metzger-, Fleischer- oder Hand- werksbetrieb von diesen Regelungen nicht betroffen ist. Vizepräsidentin Claudia Roth: Denn wir sind froh, dass wir Gott sei Dank in den meisten Vielen Dank, Peter Weiß. – Nächster Redner: für die Städten und Gemeinden unseres Landes noch Metzger- FDP-Fraktion Carl-Julius Cronenberg. und Fleischerbetriebe haben mit ihren Verkaufsfilialen, die dafür sorgen, dass wir, die Bürgerinnen und Bürger (Beifall bei der FDP) in unserem Land, mit hervorragender Qualität, was Fleisch und Wurst anbelangt, versorgt werden. Wir wol- len diesen Handwerksbereich nicht schwächen, sondern Carl-Julius Cronenberg (FDP): wir wollen ihn gerne weiter stärken. Wir freuen uns über Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die Metzger und Fleischer in unserem Land. Wir reden heute über die Arbeitsbedingungen in der Fleischwirtschaft, weil wir im großen Konsens der Auf- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fassung sind, dass die Missstände bei Arbeitsschutz, neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Unterbringung und Entlohnung endgültig beendet wer- den müssen. Tausende Beschäftigte erleben tagtäglich Zweites Thema wird sein – wir werden uns noch mal unhaltbare Zustände – Hubertus Heil hat es beschrieben –; darüber unterhalten müssen –, dass wir vor allen Dingen Hunderte anständige Betriebe leiden unverschuldet unter den Betrieben der Fleischveredelung – also denen, die Imageverlust. dann die schönen Grillwürste und das Grillfleisch produ- zieren, das wir im Sommer reichlich konsumiert haben, (Beifall bei der FDP) weil ja dank Corona viele daheim waren und im Garten Liebe Kolleginnen und Kollegen, Arbeitsschutz gehört bei dem schönen Wetter der Grill erst recht angeschmis- zur DNA der sozialen Marktwirtschaft. Davon profitieren sen worden ist – natürlich auch die Flexibilität, die sie wir alle: Beschäftigte, Unternehmen und Verbraucher. brauchen, erhalten, um auf die unterschiedlichen Nach- Schauen wir uns die Missstände und Kernelemente des fragebedürfnisse unserer Bevölkerung reagieren zu kön- Gesetzentwurfs näher an. nen. Auch darüber werden wir uns noch mal gut unter- halten und dazu Ideen entwickeln müssen. Die umfangreichen Kontrollen in NRW haben gezeigt: Die meisten Verstöße liegen gegen das Arbeitszeitgesetz (Beifall bei der CDU/CSU) vor. Hier greifen Sie den Vorschlag des FDP-Sozialminis- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21653

Carl-Julius Cronenberg (A) ters Heiner Garg aus Schleswig-Holstein auf und ver- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (C) pflichten Betriebe zur elektronischen Zeiterfassung; das GRÜNEN]: Beschäftigte können auch befristet ist richtig und gut so. eingestellt werden! Wo ist das Problem?) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Uwe So stärken Sie die Marktmacht der Fleischkonzerne. Das Schummer [CDU/CSU] – Beate Müller- können Sie nicht ernsthaft wollen. Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der FDP) Das macht die FDP gut!) Und kommen Sie nicht mit dem Argument: Der Dorf- Das nächste große Problem ist die Unterbringung metzger sei raus; das Gesetz gelte erst ab 50 Mitarbei- meist ausländischer Beschäftigter in Sammelunterkünf- tern. – Hunderte erfolgreiche und anständige Handwerks- ten. Insbesondere im Umfeld der sehr großen Fabriken betriebe und Fleischverarbeiter von Schleswig-Holstein ist geradezu ein Missbrauchssumpf entstanden. Die bis ins Allgäu liegen über dem Schwellenwert. Denen Wohnverhältnisse sind jenseits aller Standards – der müssen Sie dann erklären, warum Sie mit den Big Five Minister hat es geschildert –, und dazu kommt Mietwu- der Fleischindustrie in einen Topf geworfen werden. Die cher. Aber hier liefert mir der Gesetzentwurf zu wenig. Abgrenzung allein anhand der Mitarbeiterzahl trifft die Niemand zieht nur deshalb um, weil er nicht mehr beim Falschen. Hier werden Sie nachbessern müssen. Werkvertragsunternehmer beschäftigt ist. Hier erwarten die Freien Demokraten mehr als eine Klarstellung. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der FDP) Unverständlich bleibt, dass Sie nicht den Tarifpartnern die Chance geben, einen Flächentarif mit anschließender Praktisch alle Missstände in der Branche resultieren Allgemeinverbindlichkeit zu vereinbaren. allerdings schon heute aus Verstößen gegen Recht und Gesetz. Die unhaltbaren Zustände sind Folge aus einem (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Mix von Weggucken und ebenso zahnlosen wie unzu- GRÜNEN]: Den Anlauf dazu gibt es doch reichenden Kontrollen, und das schon seit Jahren, nicht schon! Da ist man sich nicht näher gekom- erst seit Corona; das wurde erwähnt. men! – Zuruf von der SPD: Die wollen gar nicht!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Die Sozialpartner können verlorenes Vertrauen wieder- herstellen und vor allem Rechtssicherheit schaffen. Nie Wir haben keinen Mangel an Regulierung, sondern einen war die Gelegenheit dazu günstiger als jetzt. Mangel an Rechtsdurchsetzung. Mit Verlaub: Auch bei ein paar mehr Kontrollen, wie sie heute laufen, werden (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (B) die schwarzen Schafe in der Branche Ihnen immer einen Es geht um vollen Arbeitsschutz für alle Beschäftigten (D) Schritt vorausbleiben. Da reichen Ausschüsse und Bun- und fairen Wettbewerb für anständige Unternehmen. desfachstellen in Berlin nicht aus. Bringen Sie Ordnung Vielen Dank. in den Zuständigkeitswirrwarr der Behörden, und vernet- zen Sie effektiv die Kontrollbehörden in einer Taskforce (Beifall bei der FDP) Fleisch. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Claudia Roth: der LINKEN) Vielen Dank, Carl-Julius Cronenberg. – Um was geht es? Nächster Punkt: Verbot von Zeitarbeit. Sie wissen doch genau, dass Zeitarbeiter voll im betrieblichen Arbeits- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Der Kol- schutz integriert sind und auch nach Tariflohn bezahlt lege Ernst wollte eine Zwischenfrage stellen!) werden. Es geht offensichtlich nicht mehr nur um – Aber wer zu spät kommt, den bestraft die Präsidentin. Arbeitsschutz, sondern auch um das Verbot eines bewähr- Tut mir leid, er ist fertig. Vielleicht gibt es ja eine andere ten, aber bei Ihnen politisch ungeliebten arbeitspoliti- Möglichkeit. schen Instruments. Damit treffen Sie empfindlich Hand- werk und Mittelstand. Nächste Rednerin: Amira Mohamed Ali für die Frak- tion Die Linke. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, wie Amira Mohamed Ali (DIE LINKE): wollen Sie den Herstellern von Nürnberger Rostbrat- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- würstchen – das wurde gerade schon erwähnt – erklären, legen! Ich finde es ausdrücklich gut, dass sich des dass sie zur nächsten Grillsaison ihre Produktion nicht Themas nun endlich angenommen wird. Herr Minister, mehr hochfahren können? Sie haben die Missstände in Ihrem Beitrag ja auch sehr (Zurufe von der SPD und der LINKEN) eindringlich beschrieben, besonders in den Groß- Wie können Sie von der CDU zulassen, dass der Wurst- schlachtereien. Aber dass jetzt durch Ihren Gesetzent- hersteller aus dem Sauerland für die nächste Salamison- wurf mit diesen Missständen aufgeräumt wird, kann deraktion bei einer Lebensmittelkette kein Angebot mehr ich, offen gesagt, nicht erkennen, weil er an entscheid- abgeben kann, weil er die Belegschaft nicht mehr vorü- enden Stellen nach wie vor viel zu lasch ist. bergehend aufstocken darf? (Beifall bei der LINKEN) 21654 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Amira Mohamed Ali (A) Damit komme ich auf die Kontrollintervalle zu spre- (Beifall bei der LINKEN) (C) chen. Es ist ja gut, dass das Thema, Kontrollintervalle festzulegen, überhaupt mal aufgegriffen wird. Aber die Vizepräsidentin Claudia Roth: verbindlichen Kontrollintervalle für die Landesbehörden Vielen Dank, Amira Mohamed Ali. – Nächste Redne- sehen vor, dass sie pro Jahr 5 Prozent der Betriebe ver- rin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Beate pflichtend kontrollieren müssen. Ja, es gibt die Möglich- Müller-Gemmeke. keit, dass freiwillig mehr kontrolliert wird. Aber die Ver- pflichtung lautet: 5 Prozent der Betriebe. – Und das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bedeutet, wenn man es mal ausrechnet, dass es im schlimmsten Fall 20 Jahre dauern kann, bis alle Betriebe einmal kontrolliert wurden. Und das reicht nicht, Herr Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Minister! NEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- (Beifall bei der LINKEN) legen! Die katastrophalen Arbeitsbedingungen in der Denn wir wissen ja, dass in den Großschlachtereien Fleischindustrie sind schon lange bekannt. Die Bundes- Rechtsverstöße gegen das Arbeitsschutzgesetz an der regierung hat das aber jahrelang ignoriert. Das Gesetz Tagesordnung sind. Allein bei den Schwerpunktprüfun- wird erst jetzt, aufgrund der Coronapandemie, auf den gen in Nordrhein-Westfalen zuletzt verstießen 87 Prozent Weg gebracht. Das ist peinlich und ein Armutszeugnis. der Großschlachtereien gegen das Arbeitsschutzgesetz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Das geht nicht; das wird einfach so nicht reichen. Aber natürlich unterstützen wir Grünen den Gesetzent- wurf. Wir begrüßen ganz ausdrücklich das Verbot von (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Werkverträgen; das fordern wir auch in einem eigenen Was auch absolut nicht reichen wird, sind die laschen Antrag. Denn bei diesen Werkverträgen geht es eben Bußgelder. Ja, Sie haben sie erhöht; aber es ist immer nicht um Belastungsspitzen, es geht auch nicht um Vor- noch viel zu wenig. Maximal 30 000 Euro sind zu produkte oder spezialisierte Tätigkeiten. Dafür sind befürchten, wenn dann, alle 20 Jahre mal, ein Verstoß Werkverträge ja eigentlich gedacht. In der Fleischindust- festgestellt wird. Ich kann förmlich sehen, wie der zwei- rie werden Werkverträge stattdessen im Kernbereich ein- fache Milliardär Clemens Tönnies vor Angst schlottert gesetzt, also beim Schlachten, beim Zerlegen und in der im Angesicht dieser Regelung. Fleischverarbeitung. Das ist Missbrauch von Werkverträ- gen. Damit stehlen sich die großen Schlachthöfe aus der (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Verantwortung – beim Arbeitsschutz und auch beim (B) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Lohn. Und das darf es nicht mehr geben! (D) Sie erwarten doch nicht ernsthaft von Leuten wie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Clemens Tönnies freiwillige Rechtstreue. Hier braucht sowie bei Abgeordneten der LINKEN) es dringend gute Gesetze, deren Einhaltung effektiv kon- trolliert und auch durchgesetzt wird. Beides ist in Ihrem Und es ist auch richtig, dass es Leiharbeit im Kernbe- Gesetzentwurf leider nicht der Fall, Herr Minister. reich nicht mehr geben soll. Der Grund ist ganz einfach: Ich frage mich immer: Warum sind Sie eigentlich so Wenn Werkverträge verboten sind und Leiharbeit weiter- nachgiebig mit diesen Leuten? Warum ist das eigentlich hin erlaubt ist, dann werden die Werkvertragsfirmen ruck, so? Könnte es vielleicht daran liegen, dass die Union in zuck, ganz schnell, zu Verleihfirmen. Aber genau das den letzten Jahren 158 000 Euro Spenden von Herrn Tön- kann ja nicht unser Ziel sein. Die Arbeitsbedingungen nies bekommen hat? in der Fleischindustrie sollen deutlich besser werden. Die Beschäftigten sollen direkt angestellt werden – als (Zuruf von der LINKEN: Gute Frage! – Zuruf Voraussetzung für mehr Lohn, für Mitbestimmung und des Abg. Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/ vor allem auch für guten Arbeits- und Gesundheitsschutz. CSU]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Könnte es vielleicht daran liegen? Und könnte vielleicht sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des auch ein Zusammenhang damit bestehen, dass ein ehe- Abg. Michael Gerdes [SPD]) maliger Wirtschaftsminister und Vizekanzler der SPD in diesem Jahr mindestens 30 000 Euro für Beratertätigkei- Wir begrüßen auch die Pflicht zur elektronischen Arbeits- ten von Tönnies bekommen hat? zeiterfassung. Wer Mindestlöhne umgehen will, der manipuliert in der Regel die Arbeitszeit; das ist bekannt. Ich muss sagen: Das geht so einfach nicht weiter! Es Und das geht dann eben nicht mehr so einfach. muss wirklich Schluss sein mit den skrupellosen Machenschaften in der Fleischindustrie, und der Kritik aber haben auch wir – wie Die Linke – bei den Kuschelkurs mit diesen Verbrechern muss endlich been- Regelungen zum Arbeitsschutz. Geplant ist eine Min- det werden. destbesichtigungsquote von jährlich 5 Prozent, aber erst im Jahr 2026, also in rund sechs Jahren. Das ist definitiv (Beifall bei der LINKEN) zu spät und für so eine schwierige Branche vor allem Hier werden wir als Linke weiter Druck machen; darauf auch zu wenig. können Sie sich verlassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vielen Dank. und bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21655

Beate Müller-Gemmeke (A) Sehr geehrte Regierungsfraktionen, insbesondere sehr Uns geht es übrigens nicht um die Handwerkerinnen (C) geehrte Kolleginnen und Kollegen der Union, bisher sind und Handwerker in der Branche, sondern uns geht es um gesetzliche Maßnahmen für die Fleischindustrie immer die Industrie, um die Fabriken. Ich selbst habe auch gar am Einfluss der Fleischlobby gescheitert. – Das sind die nichts gegen das Produkt Fleisch. All das ist hier kein Worte von NRW-Arbeitsminister Laumann, einem CDU- politischer Feldzug gegen die Wurst, sondern die Ant- Mann. Es muss jetzt endlich Schluss sein mit dem wort darauf, dass Menschen und Tiere ausgebeutet wer- undurchsichtigen Geflecht von Werkverträgen und mit den. Ich freue mich jetzt schon auf die Initiative der der systematischen Ausbeutung, insbesondere von Bundesregierung zum Thema Tierwohl, die ich mit Span- Migrantinnen und Migranten aus Osteuropa. nung erwarte. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Beim Arbeitsschutz werden wir massiv – auch ich SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) persönlich – von der Bevölkerung unterstützt, gerade auch in meinem Wahlkreis in Pforzheim und im Enzkreis. Deshalb appelliere ich heute an Sie: Bleiben Sie stand- Denn in meinem Wahlkreis trat um Ostern der erste Pan- haft, weichen Sie das Gesetz nicht auf! Schaffen Sie demiefall bei Müller Fleisch mit insgesamt 400 Infizierten keine Grauzonen und keine Schlupflöcher! Beschließen auf. Sie das Gesetz, und zwar schnell und vor allem auch konsequent! Lassen Sie einfach mal die Fleischlobby Und ja, wir stehen nicht erst seit heute auf dem Platz, ins Leere laufen! sondern sind schon lange an dem Thema dran. Zuletzt haben wir 2017 gemeinsam weitere Verschärfungen für Vielen Dank. die Fleischindustrie vorgenommen. Das war damals ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemeinsames Verdienst von meinem CDU-Kollegen Karl sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Schiewerling und mir. Aber wir sehen jedes Mal, dass in der Fleischindustrie Vizepräsidentin Claudia Roth: alle möglichen Tricks angewendet werden. Deshalb hat Vielen Dank, Beate Müller-Gemmeke. – Nächste Red- es bisher nicht gereicht, und wir müssen weiter dranblei- nerin: für die SPD-Fraktion Katja Mast. ben. Das Geschäftsmodell funktioniert nur deshalb, weil man Menschen, meistens aus Osteuropa, anwirbt, sie in (Beifall bei der SPD) Sammelunterkünften unterbringt, wo niemand von uns leben möchte, und sie eben nur befristet hier sind. Katja Mast (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Vizepräsidentin Claudia Roth: (B) Herren! Wer der Bundesregierung mangelnden Kontroll- Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende. (D) willen um die Ohren wirft, muss schon auch in Baden- Württemberg selbst liefern, liebe Beate Müller- Katja Mast (SPD): Gemmeke, Ich komme zum Ende. – Um es ganz klar zu sagen: Es (Beifall bei der SPD sowie des Abg. sind zu viele Konzerne in der Fleischindustrie, die Kasse Dr. [CDU/CSU] – durch Ausbeutung machen. Das müssen wir beenden. Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Die Fleischindustrie versucht massiv, auf uns Einfluss GRÜNEN]: Bei was denn?) zu nehmen. Jetzt geht es darum, Kurs zu halten. Die SPD in Thüringen übrigens auch. ist dabei am Start. (Beifall bei der SPD) In der Fleischwirtschaft gibt und gab es in zu vielen Fabriken Coronainfizierte. Dort herrschen schlimme Arbeitsbedingungen. Ein schäbiges Geschäftsmodell. Vizepräsidentin Claudia Roth: Und mit dem Gesetzentwurf gehen wir extrem weit. Vielen Dank, Katja Mast. – Nächster Redner: für die Kein einziges Unternehmen der Fleischindustrie kann AfD-Fraktion Stephan Protschka. zur Tagesordnung zurückkehren. Wir ändern die Arbeits- (Beifall bei der AfD) bedingungen in der Fleischindustrie fundamental wie in keiner anderen Branche in der Bundesrepublik Deutsch- land. Stephan Protschka (AfD): Frau Präsidentin, habe die Ehre! Liebe Kolleginnen (Beifall bei der SPD) und Kollegen! Grüß Gott, liebe Gäste hier im Hohen Ich finde es gut, dass unser Bundesarbeitsminister Haus und zu Hause vor den Fernsehern! Frau Ministerin Hubertus Heil das Gesetz nun vorgelegt hat, im Übrigen Klöckner, Herr Minister Genosse Heil, wir debattieren ja in einem politischen Tempo, das seinesgleichen sucht. Es heute über ein hausgemachtes Problem. Sie, sehr geehrte geht darum: Erstens. Künftig sollen in der Fleischindust- Damen und Herren von den Altparteien, waren es ja, die rie Festangestellte arbeiten – keine Werkverträge, keine in der Vergangenheit mit einer Flut von bürokratischen Leiharbeit. Zweitens. Die Gemeinschaftsunterkünfte Auflagen die Existenz der kleinen Metzgereien und werden definiert und besser unter die Lupe genommen. Schlachtbetriebe zerstört haben. Drittens. Die Arbeitszeiten werden elektronisch erfasst. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Und viertens. Die unternehmerische Verantwortung wird GRÜNEN]: Ist Tönnies klein, oder was? Von gestärkt. was redet er eigentlich?) 21656 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Stephan Protschka (A) Sie sind für den Kostendruck und damit für die Konzen- Aluhut! – Zuruf des Abg. (C) tration in der Fleischbranche verantwortlich. Und Sie [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) waren es auch, die mithilfe der EU-Arbeitnehmerfreizü- Am Wochenende des Vorfalls bei der Pressekonferenz gigkeit Deutschland zu einem Billiglohnland gemacht mit unserem Ministerpräsidenten und Möchtegernkanz- haben, unter Kanzler Schröder und Landwirtschaftsmi- lerkandidaten Söder, Gesundheitsministerin Huml und nisterin Künast, meine Damen und Herren. unserem Landrat hieß es dann, das Hygienekonzept, wel- (Beifall bei der AfD) ches übrigens vom Gesundheitsamt abgenommen wurde, Deshalb ist es pure Heuchelei, wenn Sie heute mit dem hätte versagt. Finger auf die Schlachtbetriebe zeigen. Die Schlachthöfe (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE haben sich ja nur an die von Ihnen vorgegebenen Spiel- GRÜNEN]: Mal zum Thema! – Matthias W. regeln gehalten. Birkwald [DIE LINKE]: Es geht gerade um (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE das Arbeitsschutzkontrollgesetz! Nur einmal GRÜNEN]: Was ist das denn?) zur Erinnerung!) Man gewinnt den Eindruck, dass Sie mit dem Gesetz jetzt Auf meine schriftliche Anfrage im Landratsamt konnte noch die verbleibenden Schlachtbetriebe beseitigen wol- mir dann aber nicht beantwortet werden, was versagt hat. len, Herr Minister Heil. Gut, von der SPD kann man ja Man wollte ja anderen Landwirten helfen, aber dafür hat mittlerweile nichts anderes mehr erwarten; aber dass aus- es da dann keine Lösungen gegeben. Man wollte also gerechnet die CDU/CSU den mittelstandsfeindlichen wieder nur Angst in der Bevölkerung verbreiten. Weg mitträgt, ist für mich unverständlich und unerträg- Doch kommen wir noch einmal kurz zu Ihrem Arbeits- lich. Das ist ein Skandal! schutzgesetz. (Beifall bei der AfD – Matthias W. Birkwald (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE [DIE LINKE]: Was ist denn an Tönnies Mittel- GRÜNEN]: Ah, Thema! Sehr gut! – Matthias stand? Machen Sie mal Ihre Hausaufgaben! W. Birkwald [DIE LINKE]: Sehr gut!) Gucken Sie sich einmal die Definition von KMU an!) Sie wollen doch hauptsächlich den Einsatz von Werkver- trags- und Leiharbeitern verbieten. Die Fleischwirtschaft Und dann muss man sich mal die Begründung des wird aber auch in Zukunft Leiharbeiter brauchen; sie Arbeitsschutzkontrollgesetzes – bleibt angewiesen darauf, um Spitzen abzudecken und (Zurufe von der SPD und der LINKEN) Nachfrageschwankungen abzudämpfen. (B) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (D) Vizepräsidentin Claudia Roth: GRÜNEN]: Welche Spitzen denn?) Jetzt ist der Herr Protschka dran. Der Kollege hat es gesagt: 15 Prozent ist eine sehr gute (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ist nicht Lösung dafür; damit kann man Spitzen abdecken und auszuhalten im Moment!) sonst etwas anregen. Es wird wahrscheinlich passieren, dass die Fleisch- Stephan Protschka (AfD): wirtschaft dann komplett ins Ausland absiedelt. Was – danke schön, Frau Präsidentin – auf der Zunge zer- haben wir dann noch? Dann haben wir keine demokrati- gehen lassen: Corona. Corona ist mittlerweile an allem schen Mitbestimmungsrechte mehr bei Arbeitsschutz, schuld. Aber seien Sie mal ganz ehrlich: Das Einzige, was Hygiene, Lohngerechtigkeit, Tierschutz usw. usf., nein, Sie damit wollen, ist, Panik unter der Bevölkerung zu wir haben dann wieder Lebendtiertransporte. Wollen Sie verbreiten. das wirklich? Ich und die AfD wollen es nicht. (Beifall bei der AfD – Zuruf des Abg. (Zurufe von der CDU/CSU und dem BÜND- Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]) NIS 90/DIE GRÜNEN) Und ein jeder weiß, dass ein Arbeitsvertrag null Aus- Nur mit der AfD sind Landwirtschaft, Umweltschutz und wirkungen auf die Infektionsgefahr hat. Tierschutz möglich. Sie haben gesagt, Herr Minister, den Menschen, den Danke schön, meine Damen und Herren. Saisonarbeitern würde es so schlecht gehen. Ich komme (Beifall bei der AfD – Dr. Matthias Zimmer aus Mamming. Dort haben wir vor Kurzem miterleben [CDU/CSU]: Zum Glück ist es egal, was Sie dürfen, wie der Staat mit den Menschen umgeht. Die machen! Lachnummer! – Matthias W. Menschen wurden eingesperrt, die Menschen wurden Birkwald [DIE LINKE]: Wirf Hirn vom Him- eingepfercht, ja richtig ihrer Freiheit beraubt, egal ob mel!) positiv oder negativ getestet, alle wurden eingezäunt, öffentlich, sodass die Presse noch fotografieren konnte. Coronatests wurden zum Teil ohne Übersetzer, ohne Vizepräsidentin Claudia Roth: Zustimmung der Betroffenen durchgeführt. Das ist Kör- Vielen Dank. – Nächster Redner: für die CDU/CSU- perverletzung, meine Damen und Herren, nichts anderes. Fraktion Uwe Schummer. (Beifall bei der AfD – Dr. Matthias Zimmer (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Matthias [CDU/CSU]: Schenkt dem Mann mal einen Zimmer [CDU/CSU]: Uwe, gib alles!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21657

(A) Uwe Schummer (CDU/CSU): Mobilität. Das sind unwürdige Verhältnisse, mit denen (C) Nach den Aussagen des Redners von der AfD wird nicht weiter gearbeitet werden darf. Damit werden wir eines nicht mit der AfD möglich sein: der Schutz vor Schluss machen. dem Virus. Wir bekämpfen den Virus mit unseren (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Schutzgesetzen, und Sie bekämpfen die Schutzgesetze. SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ Deshalb ist es gut, dass wir uns durchsetzen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- In der Pandemie potenziert sich diese gefahrengeneigte neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Tätigkeit. So konnten wir aufgrund aktueller Studien fest- GRÜNEN) stellen, dass an einem Arbeitsplatz mit klimatisierten Ver- Wir machen heute den dritten Anlauf, um die prekäre hältnissen, wo runtergekühlt wird, die Infektion durch Situation der Beschäftigten in der industriellen Schlacht- Aerosole über mehr als 8 Meter weitergegeben werden erei zu beenden. 2015 die Selbstverpflichtung der großen kann, begünstigt durch das, was in der Schlachtung Unternehmen, aus der Peter Weiß eben zitiert hat, aber geschieht: Akkord, schwere Schutzanzüge, permanente auch die Generalunternehmerhaftung, die wir 2017 hier Überstunden. Das verschärft in der Pandemie die gefah- gemeinsam eingeführt haben. Wir sehen aber, dass mit rengeneigte Situation; deshalb muss hier auch eine Werkverträgen und Subunternehmen weiterhin faire besondere Regelung gelten. Arbeit und fairer Wettbewerb in der Großschlachterei Aufgrund der Werkverträge konnten von Tönnies nicht unterlaufen werden. alle Adressen der dort beschäftigten Arbeitnehmer an den Landkreis weitergeleitet werden. Das hatte die sehr kon- Werkverträge sind ein Instrument, das über 100 Jahre krete Konsequenz, dass in der Zwischenzeit mehr als alt ist, ein Instrument für Spezialaufgaben, die nicht zum 40 Beschäftigte in ihre Herkunftsländer zurückgewandert Kernbereich eines Unternehmens gehören, ein Instru- sind, ohne dass wir wissen, ob sie infiziert waren oder ment für Flexibilität innerhalb der Belegschaften. Aber nicht. Es darf nicht passieren, dass eine solche Infektion diese Werkverträge werden eben nicht hierfür eingesetzt, durch Wanderarbeit in die Herkunftsländer der Arbeiter sondern als Hebel, um Direktbeschäftigte zu ersetzen. So getragen wird, in marode Gesundheitssysteme. Denn im erodiert das klassische Arbeitsverhältnis, das Verhältnis Sinne eines gemeinsamen Europas haben wir auch eine zwischen Arbeitgeber und direktbeschäftigtem Arbeit- Verantwortung für die dort lebenden Menschen. nehmer. Das wollen wir nicht. (Beifall der Abg. Peter Weiß [Emmendingen] (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) [CDU/CSU], Dr. Franziska Brantner [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN] und Markus Kurth (B) Einige der Subunternehmen verfügen über ein Dutzend (D) weiterer GmbHs, in denen Beschäftigte hin und her [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) geschoben werden, um Verantwortung zu verschleiern. Die Union steht zur unternehmerischen Freiheit. Das Das Arbeitsschutzkontrollgesetz will eine höhere Kon- darf ich auch im Namen meines geschätzten Kollegen trolldichte, höhere Strafzahlungen, digitale Zeiterfas- sagen. Wir von der Union stehen zur unter- sung, aber auch Kontrolle und Zusammenfassung der nehmerischen Freiheit. Wir stehen aber auch zur unter- Daten, die notwendig sind, am Arbeitsplatz und in der nehmerischen Verantwortung. Wenn aber Freiheit und Unterkunft. So wird es sich auf die Beschäftigungsver- Verantwortung auseinanderfallen, wenn Menschen und hältnisse auswirken. Aber auch das Verbot von Werkver- Wettbewerb gefährdet sind, dann ist der Gesetzgeber trägen im Kernbereich der Produktion von Groß- gefordert. Das ist soziale Marktwirtschaft, und danach schlachtereien ist ein angemessenes Instrument, weil handeln wir. Werkverträge systematisch missbraucht worden und teil- (Beifall bei der CDU/CSU) weise auch mit mafiösen Strukturen in den Herkunfts- ländern der angeworbenen Menschen verbunden sind. Vizepräsidentin Claudia Roth: Die Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gastge- Vielen Dank, Uwe Schummer. – Nächster Redner: für werbe zeigt, dass Schlachten eine gefahrengeneigte die FDP-Fraktion Jens Beeck. Tätigkeit ist. So liegt die Zahl der Arbeitsunfälle nach deren Angaben in der industriellen Schlachtung um (Beifall bei der FDP) 65 Prozent höher als in allen anderen Branchen. Bei den Werkverträgen steigt dieser erhöhte Durchschnittswert Jens Beeck (FDP): von schweren Arbeitsunfällen auf über 100 Prozent. Hochverehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Wir wissen, dass die in Rumänien und Bulgarien ange- Minister Hubertus Heil! Verehrte Kolleginnen und Kol- worbenen Arbeitnehmer auf deutsche Verhältnisse – so- legen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Lassen Sie ziale Marktwirtschaft und deutsches Recht – gesetzt mich gleich am Anfang noch einmal ganz deutlich sagen: haben. Oftmals werden sie jedoch in einem geschlosse- Wir Freien Demokraten sind froh, jede Initiative zu unter- nen System von Arbeit und Freizeit kontrolliert, mit fin- stützen, die Arbeits- und Sozialstandards in Deutschland gierten Vorauszahlungen, mit Strafzahlungen, wenn sie sichert. Deswegen haben wir uns, Herr Minister Heil, krank werden, beispielsweise auch mit einem Matratzen- auch sehr über Ihre Initiative gefreut – und sind entspre- geld. Matratzengeld bedeutet: eine Wohnung, 6 Matratzen chend enttäuscht und jetzt auch besorgt über das, was Sie für 12 Personen, die darauf übernachten, und von jedem heute vorlegen. der 12 Personen 300 Euro Miete, so Berater der Fairen (Pascal Kober [FDP]: Hört! Hört!) 21658 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Jens Beeck (A) Denn schlechte, teilweise illegale Beschäftigung, wie Sie Jens Beeck (FDP): (C) es in Ihrer eigenen Gesetzesbegründung selbst ausführen, Sehr geehrter Herr Kollege Ernst, ich dachte immer, ist eben schon heute illegal, und sie hängt nicht am Werk- Sie wären im Wirtschaftsausschuss. Dann wüssten Sie vertrag als Vertragsform. Der geht aufs Römische Recht doch, dass Arbeitsteiligkeit schon seit vielen Jahrzehnten zurück, ist seit dem 1. Januar 1900 bei uns im BGB ent- nahezu zwingende Voraussetzung für Wettbewerbsfähig- halten und funktioniert an ganz vielen Stellen gut. Das keit ist. Ich wehre mich auch dagegen, dass Sie immer so heißt, das Verbot arbeitsteiliger Prozesse und das Verbot tun arbeitsrechtlicher Organisationsformen für sich bringt (Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LIN- überhaupt keinen Gewinn für tatsächlich bessere Arbeit, KE]) tatsächlich bessere Sozialstandards. Im Gegenteil, die schwammigen Formulierungen in Ihrem Gesetz – ich – Herr Dehm, stellen Sie doch die nächste Zwischenfra- bin seit vielen Jahren Jurist, habe jedoch nicht alles ver- ge, dann können wir das nacheinander abarbeiten –, als standen, was Sie damit meinen, viele andere auch nicht – ob alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in Leihar- führen zu weiterer Rechtsunsicherheit. beitsverhältnissen tätig sind, das nur tun, weil böse Arbeitgeber ihnen einen Doppelverdienst abringen wol- len. Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Kollege, erlauben Sie jetzt eine Zwischenfrage (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nicht oder -bemerkung des Kollegen Klaus Ernst? Doppelverdienst, Doppelprofit! Das ist ein Unterschied!) Jens Beeck (FDP): Es gibt ganz viele Menschen in diesem Land, die frei- Das dauert dann länger als meine Redezeit. Aber willig in Zeitarbeit tätig sind und die dort übrigens in aller immer gern. Regel gut verdienen. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Kenne ich Vizepräsidentin Claudia Roth: nicht! Ich kenne niemanden!) Nee, da schaue ich schon drauf, keine Sorge! – Herr Und es gibt eine Vielzahl von Unternehmen, nicht nur in Ernst. der Industrie, sondern beispielsweise auch in der Pflege und an anderen Stellen, die nahezu darauf angewiesen Klaus Ernst (DIE LINKE): sind, Spitzen in der Arbeit, die durch Krankheit oder Herr Beeck, danke, dass Sie die Frage zulassen. Ich andere Dinge entstehen, dadurch abzudecken. möchte Ihnen jetzt eine Frage stellen, weil Sie – aber Sie können jedes Instrument, jedes Arbeitsverhältnis (B) auch die FDP insgesamt – sich so engagiert für Arbeits- nutzen, um Standards zu unterlaufen; da bin ich bei (D) verhältnisse einsetzen, die auf Leiharbeit oder Werkver- Ihnen. Aber es liegt nicht an der Form. Wir alle streiten trägen gründen. Ich habe ja Verständnis dafür, dass die gemeinschaftlich dafür – die Linken genauso wie die FDP – Herr Cronenberg ist ja selber Unternehmer, wenn Freien Demokraten und alle anderen Fraktionen im ich es richtig lese – sich einsetzt dafür, dass Unternehmer Haus –, in diesem Land einen vernünftigen Konsens zwi- Menschen beschäftigen können. Das machen sie in der schen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und gesamtgesell- Regel dann, wenn der Mensch mehr bringt, als er kostet. schaftlichen Interessen zu schaffen; und das hängt nicht Da haben Sie vollkommen recht; das ist unbestritten. an diesen Vertragsformulierungen. Wir haben ein Aber warum setzen Sie sich für ein System ein, bei gemeinsames Ziel. Daran lassen Sie uns gemeinsam dem zwei Unternehmen an einem Menschen verdienen arbeiten. können? Das System heißt: Leiharbeit und Werkverträge. Kommen wir wieder zurück zum Gesetzentwurf. Das bedeutet, dass der einzelne Mensch zwei Arbeitgeber (Beifall bei der FDP – Zaklin Nastic [DIE LIN- hat. Jeder will an ihm verdienen. Er ist deshalb aber nicht KE]: Antworten Sie noch auf die Frage? – schneller und ist deshalb nicht aktiver, sondern er muss Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Eine große genauso arbeiten, als würde er für ein Unternehmen Antwort auf eine große Frage!) arbeiten. Ich verstehe das System nicht. – Ja, das ist so. Das können wir gerne heute Abend weiter Wo ist Ihr Motiv, dass Sie sich insbesondere dafür ein- besprechen. setzen, dass an einem Menschen jeweils zwei Unterneh- men – bei Sub-Sub-Subunternehmen vielleicht sogar drei Die schwammigen Formulierungen im Gesetzentwurf oder vier – verdienen können? Können Sie sich vorstel- führen aber genau dazu, Herr Minister Heil, dass Sie len, dass die Menschen das vielleicht gar nicht so gut wieder nicht Rechtssicherheit schaffen, dass Sie nicht finden? Können Sie sich deshalb auch vorstellen, dass ganz klarmachen, was Sie eigentlich genau meinen, was wir als Linke zusammen mit den Gewerkschaften sagen: noch erlaubt ist und was nicht. Noch schlimmer ist: In „Es reicht, wenn ein Unternehmen an einem Menschen Ihrem Gesetzentwurf legen Sie Hand an positive gesell- verdient. Es müssen nicht gleich zwei oder drei sein“? schaftliche Entwicklungen, die wir alle wollen. Regiona- le hochwertige Produkte entstehen oft in kleineren, oft (Beifall bei der LINKEN) genossenschaftlichen Strukturen, die tatsächlich hohe Eigenverantwortung aller Beteiligten vom Landwirt bis Vizepräsidentin Claudia Roth: zur Ladentheke verlangen. Diese Strukturen wollen Ver- Vielen Dank. – Jetzt haben Sie die Möglichkeit, zu braucher auch und nehmen sie auch an. Genau diese antworten, Herr Beeck. positive Entwicklung erschwert Ihr Gesetzentwurf durch Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21659

Jens Beeck (A) seine Formulierung oder macht sie sogar unmöglich. schuss angekündigt – ich zitiere –: In den weiteren parla- (C) Kleine regionale Schlachthöfe vor Ort, deren Arbeitsbe- mentarischen Beratungen soll geprüft werden, ob dingungen nicht das Problem sind, zusätzliche Regelungen nötig sind, um Produktionsspit- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE zen in den Unternehmen flexibel abbilden zu können. – GRÜNEN]: Die sind nicht betroffen von dem Zitatende. Hallo? Das ist die Hintertür für die Leiharbeit, Gesetz!) um sie wieder einführen zu können. Die Linke sagt dazu ganz klar Nein. nicht die sind, die heute Grundlage unserer Diskussion sind, machen Sie möglicherweise kaputt. Jedenfalls (Beifall bei der LINKEN) erschweren Sie die derzeit bestehenden Modelle massiv. Schon heute gibt es genügend andere Möglichkeiten, Im Ergebnis laufen Sie mit Ihrem heute vorgelegten Ge- um Produktionsspitzen abzufedern. Sie als Unternehmer setzentwurf doch Gefahr, lange Transportwege zu großen müssten doch eigentlich genau wissen, wie das geht: Schlachtfabriken mit großer Marktmacht gegenüber den Arbeitszeitkonten, Befristungen, unterschiedliche Vertei- eigenverantwortlich wirtschaftenden Landwirten, gegen- lung und Lage der Arbeitszeit. Genau das sind die Lösun- über dem kleinen und mittelständischen Handel noch zu gen, die auch hier greifen müssen. Aber es gibt leider befördern, statt sie zu verhindern. Das ist schwierig und nicht nur wenige schwarze Schafe, die an der Stelle Miss- kontraproduktiv, Herr Minister. brauch betreiben. Es ist die ganze Branche, die das sys- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tematisch betreibt. Subunternehmen scherten sich schon der CDU/CSU) in der Vergangenheit einen Dreck um die Belange ihrer Deswegen lassen Sie mich zum Ende kommen. Wir Beschäftigten. Warum soll sich das mit Leiharbeit teilen die hier gemeinschaftlich adressierten Ziele. Damit ändern? Die Branche hat seit 20 Jahren gezeigt, dass sie wir das am Ende gemeinschaftlich tun können, müssen jede Möglichkeit nutzt, um durch Ausbeutung der Sie noch Arbeit leisten, Herr Minister. Der jetzige Ge- Beschäftigten die eigenen Gewinne zu vergrößern. Damit setzentwurf schafft das nicht. Wir erwarten eine klare muss Schluss sein. gesetzliche Regelung, die gezielt die Arbeits- und Sozial- (Beifall bei der LINKEN) standards in unserem Land verteidigt, aber ohne gleich die eigenverantwortlichen Landwirte, Metzger, Einzel- Das Verbot von Werkverträgen im Kernbereich und das händler und die regionalen Strukturen mit abzuschießen. Verbot von Leiharbeit ist ein wichtiger erster Schritt in Wenn Sie das schaffen, Herr Minister, haben Sie uns an die richtige Richtung. Deshalb werden wir dem Gesetz- Ihrer Seite. Sie müssen dafür aber noch gute Arbeit nach- entwurf zustimmen. legen. (B) Jetzt heißt es, die nächsten Schritte auf den Weg zu (D) Frau Präsidentin, herzlichen Dank. bringen: einen Mietendeckel für die Unterkünfte der (Beifall bei der FDP) Beschäftigten, die Kopplung von Miet- und Arbeitsver- hältnissen muss ausgeschlossen werden, um Abhängig- Vizepräsidentin Claudia Roth: keiten zu verhindern, und stärkere betriebliche Mitbe- Vielen Dank, Jens Beeck. – Nächste Rednerin: für die stimmung und gewerkschaftliche Organisation mit Fraktion Die Linke Jutta Krellmann. Tarifverträgen. Dann bekommen wir es auch hin, von (Beifall bei der LINKEN) guter Arbeit in der Fleischindustrie zu reden. Vielen Dank. Jutta Krellmann (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der LINKEN) Kollegen! Lieber Hubertus Heil! Seit 35 Jahren bin ich Gewerkschaftssekretärin in Niedersachsen und bekomme Vizepräsidentin Claudia Roth: mit, was in der Fleischindustrie so abgeht. Alle wissen Vielen Dank, Jutta Krellmann. – Nächster Redner: für Bescheid, und trotzdem konnten die Fleischkonzerne Bündnis 90/Die Grünen Friedrich Ostendorff. jeden Skandal aussitzen. „Wildwestzustände in Deutsch- land“ – das haben 2005 dänische Gewerkschaftskollegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) über die Situation in der Fleischindustrie gesagt. Durch skandalöse Niedriglöhne haben Fleischbarone deren Fleischindustrie gefährdet, nicht umgekehrt. Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- es!) legen! Werkarbeiterinnen und Werkarbeiter in den Und ein weiterer Skandal: Die Lobbyisten der Fleisch- Schlachthöfen direkt zu beschäftigen und elektronische industrie konnten bisher noch jeden Gesetzentwurf ver- Arbeitszeiterfassung sind sehr große, lange überfällige wässern. Die geniale Idee 2015 war: Selbstverpflichtung. Schritte. Das Arbeitsschutzkontrollgesetz ist ein weiterer Und jeder weiß: Das war, ist und bleibt eine Nullnummer. wichtiger, wesentlicher Schritt. Die menschenunwürdi- gen Arbeitsbedingungen – täglich wiederkehrend bis (Beifall bei der LINKEN) zum Umfallen und keine Arbeitsspitzen – sind nur ein Auch dieses Mal versuchen die Fleischkonzerne, die Übel, aber ein wichtiges im System Billigfleisch, neben Kurve in ihrem Interesse zu kriegen. So hat Bundeswirt- den miserablen Unterkünften, in denen viele der Beschäf- schaftsminister Altmaier gestern im Wirtschaftsaus- tigten hausen müssen. 21660 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Friedrich Ostendorff (A) Verantwortliche für Arbeitsschutz zu etablieren, ist ein (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Bayeri- (C) sehr guter Vorschlag. Wie soll er aber konkret aussehen? sche Solidarität!) Hier muss das Gesetz noch klarere Mindeststandards, aber auch die Verantwortlichkeiten der Kontrollbehörden und der Bundesfachstelle unmissverständlich definieren. Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Es muss noch konkreter werden, wer wann wen wie oft NEN): mit welcher Strafbewehrung kontrolliert. Wie stellen Sie „Vorsicht!“ werde ich von der Präsidentin gemahnt. sicher, dass in Zukunft nicht wieder alle Kontrollmecha- Ich akzeptiere das, Frau Präsidentin. Ich gehe in Sack nismen auf kommunaler Ebene, auf Landesebene hoff- und Asche an diesem Punkt. nungslos versagen und unterlaufen werden? Wir Grünen reichen den Bäuerinnen und Bauern, den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Metzgerinnen und Metzgern, der Gesellschaft die Hand, diesen Weg in die Zukunft gemeinsam zu gehen. Der Schlachtbetrieb, meine Damen und Herren, darf aber auch nicht mehr zusätzlichen Profit aus überteuerten Danke schön. Unterkünften ziehen. Die hemmungslose Ausbeutung von Menschen und Tieren in den Schlachthöfen muss (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) endlich beendet werden. Wir brauchen einen radikalen Kurswechsel zu menschenwürdiger, fairer Arbeit. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vielen Dank, Friedrich Ostendorff. – Der Kollege Max sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Straubinger muss noch ein bisschen warten. Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Elvan Korkmaz-Emre. Wir brauchen eine Qualitätsoffensive, die zu vielfältigen, in einem fairen Wettbewerb stehenden Schlacht- (Beifall bei der SPD) hofstrukturen führt und bäuerlichen Betrieben den Rücken stärkt. Selbst die Bundeskanzlerin sprach sich in der Regierungsbefragung für die Dezentralisierung Elvan Korkmaz-Emre (SPD): von Großschlachthöfen aus. Doch ein klarer Fahrplan Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kom- von Ministerin Klöckner – Fehlanzeige! Wir brauchen me aus dem Kreis Gütersloh. Bisher hat man meine Hei- mehr handwerkliche mittlere Schlachthöfe, jeder Kreis mat in Verbindung gebracht mit Global Playern wie Mie- mindestens einen. le, Storck, Claas. Heute leider sind die Toptreffer: Corona-Hotspot, Lockdown, Fleischindustrie. Ich muss (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sagen: Die politisch Verantwortlichen vor Ort haben das (B) Regionale Wertschöpfung muss gestärkt werden, Ihre dazu beigetragen. Laschet, Laumann, Adenauer: zu (D) damit in Zukunft nicht nur einer profitiert, sondern viele spät eingegriffen, schlechtes Krisenmanagement, hü und profitieren. Wir müssen dem Fachkräftemangel in dieser hott. Aber am Wochenende sind ja Kommunalwahlen in Branche entschlossen entgegenwirken, dabei Einwande- NRW, und da lässt sich das eine oder andere verändern. rung als große Chance begreifen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Aber nun zum Thema Fleisch. Die Missstände in der Fleischindustrie sind nichts Neues. Ich kämpfe seit vielen Wir müssen Tierhaltung an die Flächen binden und Tier- Jahren an der Seite von Kommunalpolitikern, Gewerk- transporte so kurz wie möglich halten. schaftern der NGG, des DGB-Projekts „Faire Mobilität“, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von Sozialverbänden wie der Caritas, aber auch Bürger- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- vereinigungen wie der „IG Werkverträge Fleisch“ dafür, KEN) etwas zu verändern. Es ist traurig genug, dass es einer Pandemie bedurfte, die die Situation so sehr verschärft Frau Ministerin, nicht nur schöne Worte, sondern För- hat, dass man jetzt nicht mehr weggucken kann, dass man derung und Taten sind hier gefordert. Hier ist Ihr Enga- erst dadurch sieht, dass man jetzt handeln muss, und dass gement gefragt, hier müssen Sie Zeichen geben. Die es erst dadurch politische Mehrheiten dafür gibt. Wir Schlachtbranche braucht engagierte, kreative Köpfe, die müssen jetzt die Chance beim Schopfe packen und etwas kluge Alternativen finden und mutig neue Wege einschla- verändern. Wir haben lange genug auf Selbstverpflich- gen, statt wie Ewiggestrige in den Antworten, wie sie so tungen gesetzt. Die sind kläglich gescheitert. oft von Teilen der CDU/CSU kommen, zu verharren. Das werden wir gleich vom Kollegen Max Straubinger wieder (Beifall bei der SPD) ausgeführt bekommen. Wenn jetzt auf Tarifverträge verwiesen wird, dann (Heiterkeit – Zuruf des Abg. Max Straubinger können wir nur darüber lachen. Mit uns wird es das nicht [CDU/CSU]) geben. Die Bürgerinnen und Bürger gucken ganz genau – Bayern ist weit weg. Da dauert es immer etwas länger, hin und erwarten von uns, dass wir durchgreifen, erwar- bis die Botschaften ankommen. ten von uns, dass wir Verantwortung übernehmen. Genau das macht Hubertus Heil mit seinem Arbeitsschutzkon- trollgesetz. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vorsicht! (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21661

Elvan Korkmaz-Emre (A) Kein Zögern, kein Zaudern, keine politischen Floskeln arbeitsmarktpolitischen Sprecher unserer Fraktion, Karl (C) von „Eindämmen“ oder „Nachjustieren“, sondern die Schiewerling, in Gang gebracht wurde, schon gesetzge- ganz klare Aussage: Zum 1. Januar 2021 ist Schluss mit berisch tätig geworden sind. Darin ist bereits geregelt, den Werkverträgen. dass Arbeitsmaterialien und Mietkosten eben nicht auf (Beifall bei der SPD) den Arbeitslohn angerechnet werden dürfen, zudem Arbeitszeitaufzeichnungen zwingend erfolgen müssen. Jetzt, meine Damen und Herren, liegt es an uns Parla- Auch ist die Generalunternehmerhaftung für die Sozial- mentariern, ein Gesetz zu verabschieden, das tatsächlich versicherungsbeiträge eingeführt worden. Die Umset- durchgreift, das Werkverträge verbietet und den Unter- zung der Arbeitnehmerentsenderichtlinie ist ein weiterer nehmen keine Schlupflöcher für Tricksereien lässt. Las- Baustein, mit dem die Rechte der Arbeitnehmer aus dem sen Sie uns da endlich zupacken und etwas verändern für EU-Ausland klar geregelt werden, bis hin zum Arbeits- die vielen Tausend Beschäftigten in der Fleischindustrie, schutz und zu den Unterkünften. für die Familien und die Kinder, die daran hängen! Durch die Kontrollen in jüngster Vergangenheit sind Vielen Dank. jedoch die genannten Missstände wiederholt festgestellt (Beifall bei der SPD) worden. Insbesondere NRW-Arbeitsminister Laumann bin ich sehr dankbar dafür, dass er in NRW die Kontrollen intensiviert hat und damit die Gesetzesverstöße festge- Vizepräsidentin Claudia Roth: stellt werden konnten. Um das einmal klarzustellen, Vielen Dank, Elvan Korkmaz-Emre. Danke auch für Frau Korkmaz-Emre: Das hat sein Vorgänger, der SPD- die Punktlandung bei Ihrer Redezeit. Das war auf die Arbeitsminister, nicht getan. Sekunde. (Beifall bei der CDU/CSU) (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Spitze in jeder Hinsicht!) Daher ist es richtig, dass das Arbeitsschutzkontrollge- setz Regelungen zu den Unterkünften ausländischer – Das muss man auch einmal sagen. Es gibt sehr selektive Arbeitnehmer vorsieht, damit den Arbeitgebern ihre Für- Interpretationen von Redezeiten. sorgepflicht und Verantwortung für diese Arbeitskräfte (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE klar vor Augen geführt werden. Es ist ebenso richtig, GRÜNEN]: Ich war auch pünktlich!) dass die Kontrolldichte durch die Behörden intensiviert wird. Dazu brauchen die Behörden auch die entsprech- Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Wilfried enden kontrollierbaren Rahmenbedingungen, wie zum Oellers. Beispiel die nun einzuführende digitale Arbeitszeitauf- (B) (Beifall bei der CDU/CSU) zeichnung in allen Branchen, und natürlich auch ausrei- (D) chend Personal. Dass Bußgeldrahmen erhöht werden Wilfried Oellers (CDU/CSU): müssen, ist ebenso richtig. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegin- (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Das zahlen die nen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her- doch aus der Portokasse!) ren! Wir beraten heute in erster Lesung den Entwurf des Arbeitsschutzkontrollgesetzes. Mit diesem Gesetz soll Zudem müssen die Vertragsverhältnisse der Arbeitneh- der Vollzug des Arbeitsschutzes in Deutschland verbes- mer auch eindeutig nachvollziehbar sein und die Verant- sert werden. wortlichkeiten ebenso klar geregelt sein. Auch wenn ich kein Freund von generellen Verboten bin, so scheint der- Dieser Gesetzentwurf ist die Reaktion des Gesetzge- zeit ein Verbot von Werkverträgen unausweichlich, bers auf die jüngsten Feststellungen in der Fleischindust- zumal die Branche sich diesbezüglich auch selber erklärt rie. Ausländische Arbeitskräfte, die über die unterschied- hat. lichsten rechtlichen Konstellationen ihre Arbeit verrichten, erfahren nicht das ihnen zustehende Recht. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Die Beispiele wurden von Herrn Minister Heil bereits SES 90/DIE GRÜNEN) genannt. All dies sind Feststellungen, die mit unserem Allerdings gibt es auch Fragen, die im Rahmen des Verständnis von sozialer Marktwirtschaft, die mit Verant- parlamentarischen Verfahrens noch erörtert werden müs- wortung und Fürsorge des Arbeitgebers gegenüber seinen sen: Arbeitskräften nichts zu tun haben. Deshalb bewerten wir Warum soll ein Unternehmen künftig nur von einem dies als Missbrauch, und der ist nicht zu tolerieren. Geschäftsführer geleitet werden können? (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Warum wird der Anwendungsbereich des Gesetzes so René Röspel [SPD]) weit gezogen, dass Teile der Branche umfasst werden, die Dies gilt umso mehr, wenn Arbeitskräfte aus dem Aus- mit den Missständen nichts zu tun haben? Bei den Metz- land nach Deutschland kommen, die der Sprache in der gereien mit ihren Verkaufsstellen, in der Fleischverarbei- Regel nicht mächtig sind und vor allem nicht das deut- tung, im Handwerk und im Mittelstand gibt es keine Fest- sche Recht und die geltenden Regeln kennen. stellungen. Lediglich die großen Schlachtbetriebe sind Umso erschütternder sind die gemachten Feststellun- aufgefallen. gen vor dem Hintergrund, dass wir in der letzten Legisla- Warum sollen keine Spezialisierung und keine Koope- turperiode mit dem Gesetz zur Sicherung von Arbeitneh- ration von Firmen mehr möglich sein, die spezielle merrechten in der Fleischwirtschaft, das vom damaligen Arbeitsschritte vornehmen? Schon Grundsätze der 21662 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Wilfried Oellers (A) Hygiene und deren Vorgaben im Rahmen der Fleischver- die Ausbeutung von Mensch und Tier generiert wird, mit (C) arbeitung verlangen dies bei bestimmten Tätigkeiten. teilweise mafiösen Strukturen. Das kann und darf so nicht Arbeitsteilungen sind hier durchaus sinnvoll. weitergehen. Warum geht das Gesetz nicht auf die Meldepflicht aus- (Beifall bei der SPD) ländischer Arbeitnehmer ein und verlangt, dass eine Mel- dung, wie in Deutschland üblich, nach spätestens zwei Meine Damen und Herren, im Übrigen sehen das die Wochen erfolgen muss und nicht erst nach drei Monaten? meisten Menschen draußen ebenso. Das würde den Behörden schneller Erkenntnisse über Die Inhalte des Entwurfs zum Arbeitsschutzkontroll- Wohnsituationen geben. gesetz wurden von meinen Kolleginnen und Kollegen (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE hier bereits zitiert. Insofern gehe ich nicht mehr auf jede GRÜNEN]: Können wir machen!) Einzelheit ein. Betonen möchte ich aber, dass wir mit dem Verbot von Leiharbeit und von Werkverträgen im Warum soll die Arbeitnehmerüberlassung verboten Kerngeschäft der Schlachtbetriebe ein scharfes Schwert werden, wenn sie in der Fleischbranche einen geringen ziehen. Diese deutliche Sprache tut not, und Taten wer- Anteil hat und in Deutschland ausgiebig geregelt ist? den folgen, werden folgen müssen. (Zuruf der Abg. Beate Müller-Gemmeke Man kann festhalten, dass die Fleischindustrie aktuell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ihre schwerste Krise erlebt. Ja, die Coronapandemie hat Ein Flexibilisierungsinstrument für Auftragsspitzen soll- das Fass zum Überlaufen gebracht. Das politische und te weiterhin bestehen bleiben, weil diese nun einmal exis- öffentliche Vertrauen ist endgültig verspielt, zumal die tieren. Neun Kommentatoren zum Arbeitnehmerüberlas- Probleme und Verfehlungen einzelner Betriebe nicht län- sungsgesetz – Wissenschaftler, Richter, Rechtsanwälte, ger im Verborgenen bleiben. Wir mussten Teile der parteiübergreifend übrigens – sprechen sich in einem Bei- Bevölkerung, genauer gesagt: die Menschen in den Krei- trag in der „NZA“ gegen dieses Verbot aus. sen Gütersloh und Warendorf, zur Sicherheit in den Lock- down schicken. Die Nachbarn der Fleischindustrie befan- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) den sich quasi in Geiselhaft. All dies sind Fragen, die wir im parlamentarischen Wir sehen, dass die Selbstverpflichtungen und die frei- Verfahren erörtern und beantworten müssen. willigen Schutzmaßnahmen in weiten Teilen der Ziel des Gesetzes muss es sein, dass wir den Miss- Schlachthöfe nicht helfen. Vertrauen ist grundsätzlich brauch und die unhaltbaren Zustände unterbinden, dass gut; ohne bessere und häufigere staatliche Kontrollen wir stärker sanktionieren und intensiver kontrollieren. scheint es aber nicht zu gehen, sonst hätte es so ein perfi- (B) Das gebieten nicht nur die Grundsätze der sozialen des System nicht geben können; es hätte nicht so gedei- (D) Marktwirtschaft, sondern auch die der Wettbewerbs- hen können. Die Einführung einer Mindestbesichtigungs- gleichheit und Wettbewerbsgerechtigkeit. quote, also die Möglichkeit, Betriebe mit hohem Letzter Satz, Frau Präsidentin: Diese Regelungen müs- Gefährdungspotenzial schwerpunktmäßig zu kontrollie- sen allerdings jetzt auch so gefasst sein, dass wir die ren, halte ich für richtig. schwarzen Schafe erwischen und nicht die Redlichen Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir rühmen uns in treffen. Deutschland gerne hoher Standards, wenn es um den (Beifall bei der CDU/CSU) technischen Arbeitsschutz geht, und verzeichnen immer weniger Arbeitsunfälle. Wir müssen ergründen, warum es Ich wünsche uns zielführende Beratungen, freue mich ausgerechnet in den Schlachthöfen so viele Coronainfi- heute Mittag auf die nächste Wurst und bedanke mich für zierte gibt – übrigens nicht nur in Deutschland, sondern Ihre Aufmerksamkeit. überall in Europa und auch in den USA. (Beifall bei der CDU/CSU) Sind es die unzureichenden Sammelunterkünfte? Ist es die hohe körperliche Anstrengung? Sind es die Verstöße Vizepräsidentin Claudia Roth: gegen Mindestabstände oder die fehlende Schutzklei- Vielen Dank, Wilfried Oellers. – Nächster Redner: für dung? Oder brauchen wir gar neue Standards, etwa bei die SPD-Fraktion Michael Gerdes. den Belüftungs- und Klimaanlagen? Enge, Kälte, Feuch- tigkeit sind eine scheinbar explosive Mischung. Wir (Beifall bei der SPD) brauchen hier mehr Erkenntnisse, um technische Lösun- gen zu finden. Die ersten Infizierten bei den Fleischpro- Michael Gerdes (SPD): duzenten gab es bereits Anfang April. Hat die Branche Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ihre Hygienekonzepte seitdem angepasst und für mehr haben hier im Plenum bereits im Mai und Anfang Juni Sicherheit gesorgt? über die Fleischindustrie diskutiert – und das nicht nur So oder so: Arbeitgeber haben den Arbeits- und Ge- vor dem Hintergrund der Coronaausbrüche in Schlacht- sundheitsschutz ihrer Mitarbeiter sicherzustellen; aus höfen. Corona hat die ganze Situation noch mal ins Licht dieser Pflicht entlassen wir die Unternehmer nicht. Ich gesetzt. bin froh, dass wir nun mit Hochdruck gesetzlich gegen Ich als Gewerkschafter, aber auch als Verbraucher blei- die unhaltbaren Arbeitsbedingungen in der Fleischbran- be bei der Erkenntnis: Es hat sich ein krankmachendes, che ankämpfen. Die Zeit ist reif. Minister Hubertus Heil unwürdiges System entwickelt, bei dem der Profit über hat einen sehr guten Gesetzentwurf vorgelegt. Stimmen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21663

Michael Gerdes (A) Sie zu – zum Wohl der Beschäftigten in der Fleischin- lagen eines Arbeitsplatzes in keinster Weise mit Corona (C) dustrie! Ich freue mich auf die weiteren konstruktiven in Verbindung zu bringen sind. Vielmehr müssten meines Beratungen. Das Gesetz braucht eine große Basis. Erachtens das Arbeitsumfeld und die technischen Lösun- Herzlichen Dank. Glück auf! gen verbessert werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Straubinger, erlauben Sie eine Zwischenfrage Vielen Dank, Michael Gerdes. – Jetzt kommt ein Teil oder -bemerkung von Diether Dehm? Bayerns – ein Teil! Max Straubinger (CDU/CSU): Letzter Redner in der Debatte: Max Straubinger für die Ja, gerne. CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Kollege Straubinger, ich weiß natürlich, dass man nie Max Straubinger (CDU/CSU): alle kleinen Unternehmer, mittelständischen Unterneh- Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! mer und Konzerne über einen Kamm scheren darf. Bei Wir sind jetzt am Ende der Debatte zur ersten Lesung aller Wertschätzung, glauben Sie, dass die Mitgliedschaft des Arbeitsschutzkontrollgesetzes. Es ist natürlich schon in der CSU vor Sklavenarbeit schützt? Ich meine, der wichtig, dass wir auf die verschiedensten Bereiche ein- Volksmund kennt ja nicht umsonst das Wort „schwarze gehen. Ich glaube, es ist wichtig, mit heißem Herzen an Schafe“ und nicht „rote Schafe“. eine Sache heranzugehen, dann aber doch mit großer Sachlichkeit die notwendigen Schlüsse aus Entwicklun- (Heiterkeit) gen zu ziehen. Dass diese in einzelnen Bereichen mit großen Problemen verbunden und kritikwürdig sind, Vizepräsidentin Claudia Roth: steht außer Frage. Aber genauso wichtig ist, dass wir Danke für diese Frage. – Herr Dr. Straubinger. dann auch die richtigen und die sachlich gebotenen Schlüsse daraus ziehen. Max Straubinger (CDU/CSU): Bundesminister Hubertus Heil hat ja heute großartig Lieber Herr Kollege, die CSU steht für die soziale dargestellt, welche Exzesse und dergleichen mehr es in Marktwirtschaft und in besonderer Weise auch für das (B) der Fleischwirtschaft gibt. Ich bin der Meinung, dass das „S“ im Parteinamen, nämlich die soziale Ausgestaltung (D) schon etwas übertrieben war, weil das nicht für die der Lebensverhältnisse für die Menschen in unserem gesamte Fleischwirtschaft gilt, lieber Herr Bundesminis- Land. Das hat der hohe soziale Standard in Bayern, den ter. Sie in Niedersachsen nicht so erleben können, auf alle Fälle immer wieder bewiesen, lieber Herr Kollege Dehm. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Beate Müller-Gemmeke (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat er nicht Also unter dem Gesichtspunkt sind wir führend. Das gesagt!) können Sie, wenn Sie nach Bayern ziehen, durchaus mit- In einzelnen Betrieben gab es Vorfälle, die hier zu verur- erleben. teilen sind, nicht aber in allen 1 300 Betrieben, die in der Fleischwirtschaft tätig sind und die mit großem Einsatz Vizepräsidentin Claudia Roth: und großer Vehemenz für die Rechte der Arbeitnehmerin- So, jetzt passt’s schon. Danke schön. nen und Arbeitnehmer eintreten und für gute und verläss- liche Arbeitsplätze sorgen. Das sollte hier in einer sol- chen Debatte auch dargestellt werden. Max Straubinger (CDU/CSU): Wir sind da integrativ. Von daher gibt es da keine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Probleme in Bayern. Corona kann es in jedem Betrieb geben. Das kann es in Verehrte Damen und Herren, es ist aber mitentschei- der Fleischwirtschaft geben. Wir mussten es in meinem dend, dass wir auch weiterhin Flexibilität haben. Wenn Heimatlandkreis in einem Saisonbetrieb der Landwirt- die Fleischwirtschaft die Werkverträge in der Schlacht- schaft miterleben – leider. Aber ich muss auch feststellen: ung und Zerlegung selbst aufgibt, ist das in Ordnung. 25 andere Betriebe hatten keinen Coronafall. Also, es ist Wenn wir sie verbieten, ist das möglicherweise auch in unter Umständen auch unter hygienischen Gesichtspunk- Ordnung. Grundsätzlich bin ich eigentlich gegen Verbote. ten zu betrachten. Diese Verbotskultur, die dieses Gesetz letztendlich nie- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE derlegt, sehe ich kritisch. Dasselbe gilt insofern, als wir GRÜNEN]: Es geht doch gar nicht um Corona! dann, wenn dies geschieht, die Verarbeitung nicht mit Es geht um menschenwürdige Arbeit!) hineinnehmen; denn in der Verarbeitung brauchen wir Ich bin dem Kollegen Gerdes sehr dankbar, dass er hier mehr Flexibilität. sehr sachlich dargestellt hat, dass es dafür technische (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Lösungen geben muss und dass die vertraglichen Grund- GRÜNEN]: Warum?) 21664 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Max Straubinger (A) Nicht nur die Grillsaison, sondern auch Weihnachten, men sind, und dann ist überhaupt nichts gewonnen. Und (C) Ostern und die Werbekampagnen des Lebensmittelein- Sie wissen auch, dass das im Endeffekt die Lohnunter- zelhandels erfordern Flexibilität in den wurstherstellen- grenze ist. den Betrieben. Das muss auch weiterhin möglich sein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Vizepräsidentin Claudia Roth: Carl-Julius Cronenberg [FDP] – Beate Frau Kollegin, ich glaube, die Fragen sind deutlich. Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist kein Argument!) Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kollege Oellers hat ja dargelegt: Die Zeitarbeit ist der NEN): am stärksten regulierte Arbeitsmarkt, den es gibt. Die Lohnuntergrenze ist nur einen Tick oberhalb vom (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was ist gesetzlichen Lohn. Also, so gut sind die Arbeitsbedin- eigentlich der Unterschied zur Leiharbeit?) gungen in der Leiharbeit nicht. Hier gibt es Tarifverträge. Zeitarbeiter sind in die Arbeits- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) verhältnisse des Betriebes integriert. Sie sind in den Betriebsrat einer Firma integriert. Das zeigt doch sehr deutlich, dass Grundlage für den Einsatz von Zeitarbei- Vizepräsidentin Claudia Roth: tern nicht Lohndumping ist, sondern dass dies für mehr Danke schön. – Herr Straubinger, bevor Sie diese Fra- Flexibilität bei Auftragsspitzen sorgt. Ich habe mehrere ge beantworten, nehme ich noch gleich eine Frage des Firmen besucht, zum Beispiel in Nürnberg. Dort arbeiten Kollegen Spiering von der SPD mit dazu. in der Grillsaison viele Menschen in der Fleischwirt- schaft. Wenn die Grillsaison vorbei ist, arbeiten dieselben Max Straubinger (CDU/CSU): Menschen in der Lebkuchenproduktion. Das ist arbeits- Ach so? – Dann muss ich mir das notieren. teilige Wirtschaft, die wichtig ist für unser Land, die unser Land groß gemacht hat und für viele Arbeitsplätze gesorgt hat. Vizepräsidentin Claudia Roth: Wollen Sie einen Stift? Frau Präsidentin, die Kollegin Müller-Gemmeke möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. Max Straubinger (CDU/CSU): Vizepräsidentin Claudia Roth: Nein, habe ich selbst, Frau Präsidentin. Aber danke für das Angebot. (B) Der Herr Straubinger möchte gerne, dass es eine Zwi- (D) schenfrage gibt. Rainer Spiering (SPD): Max Straubinger (CDU/CSU): Verehrter Kollege Straubinger, da Sie sich in der Ich kann der Kollegin doch keinen Wunsch abschla- Fleischverarbeitung sehr gut auskennen, werden Sie ja gen. auch wissen, dass der größte Fleischverarbeiter in Deutschland die Firma Tönnies ist. Dann werden Sie auch wissen, dass die größten Mitverarbeiter die Firmen Vizepräsidentin Claudia Roth: Westfleisch und Danish Crown sind. Ich würde von Ihnen Ja, das weiß ich doch. – Frau Kollegin, bitte. gerne erklärt haben, wie Sie diese Differenzierung vor- nehmen wollen, wenn die größten Fleischverarbeiter Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht Familienbetriebe, sondern Konzerne wie Tönnies NEN): sind. Erstens. Noch mal zu dieser Aussage, dass es Auftrags- spitzen gibt, die über die Leiharbeit abgedeckt werden Ich verwahre mich grundsätzlich gegen die Aussage, müssen. Wie ich informiert bin, ist es in Rheda-Wieden- dass Sie als Bayer meinen, Sie seien sozialer als wir brück bei Tönnies so, dass da täglich 25 000 Schweine Niedersachsen. Das ist nun wirklich ein absolutes geschlachtet werden. Täglich, also nicht im Sommer Unding, mehr und im Winter weniger, sondern täglich. Die Pro- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der dukte der Fleischbranche gehen ja auch in den Export. CDU/CSU) Von daher ist es mit diesen Auftragsspitzen nicht mehr so kritisch. Was sagen Sie dazu? und ich würde Sie bitten, das einmal geradezurücken. Zweitens. Wenn es tatsächlich Spitzen gibt, dann sind (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die auch anders zu regeln. Dafür haben wir klassisch zum der LINKEN) Beispiel die Möglichkeit, Beschäftigung befristet zu machen, also Befristung mit sachlichem Grund. Das ist genau das, wenn es um Auftragsspitzen geht. Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke schön. Drittens. Ich gehe davon aus, dass viele der Werkver- tragsunternehmen schon heute eine Erlaubnis für Arbeit- nehmerüberlassung haben. Natürlich wird es so sein, dass Rainer Spiering (SPD): ruck, zuck alle Werkvertragsunternehmen Leiharbeitsfir- Moment. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21665

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: Die festgestellten Verstöße sind mit dem jetzigen Geset- (C) Nein, wir haben schon so viele Fragen, und Herr zesinstrumentarium bereits zu ahnden. Daher bräuchten Straubinger muss in zwei Minuten antworten. – Bleiben wir in dem Sinne gar keine anderen Gesetze. Sie bitte stehen? Auch wenn Sie aus Niedersachsen sind. (Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/ (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der DIE GRÜNEN] nimmt wieder Platz) CDU/CSU) – Nein, Frau Müller-Gemmeke, ich bin noch bei der Ant- Herr Straubinger, bitte. wort. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Max Straubinger (CDU/CSU): GRÜNEN]: Wann kommt denn die Antwort?) Lieber Kollege Spiering und liebe Kollegin Beate Müller-Gemmeke, offensichtlich haben Sie – möglicher- Die Umwandlung von Werkverträgen dann in Zeitar- weise noch mehr Kollegen als Sie beide – irgendwie beitsverträge mag es vielleicht geben, aber es ist dann einen Tönnies-Komplex. möglicherweise für einzelne Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sogar eine Verbesserung, weil es bei den (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Zeitarbeitsunternehmen einen festen Tarifvertrag gibt. Es Wir machen aber ein Gesetz für 1 300 Betriebe, gibt den Lohnanspruch, es gibt die Integration in die Betriebe. – Ja, natürlich. Sie schütteln den Kopf. Das (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE haben wir alles beschlossen. GRÜNEN]: Ja!) Und es gibt eine Begrenztheit des Einsatzes, längstens und die gehören nicht alle Tönnies. 18 Monate im gleichen Betrieb – das muss man sehen –, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- und nach dem neunten Monat gilt Equal Pay. Dann muss ordneten der FDP) der Lohn bezahlt werden, der dort in dem Betrieb üblich ist. Alles nur auf der Plattform Tönnies abzuspielen, das ist meines Erachtens falsch. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Also, das ist eine Verbesserung. GRÜNEN]: Aber das ist das beste Beispiel!) Es ist ja so: Sie können die Großen jetzt bestrafen und Das wird den Betrieben in Bayern, die ich besucht habe – sagen, wir verbieten alles. Wer aber auf der Strecke sei es VION, sei es Wolf Fleisch oder auch Wiesenhof –, bleibt, ist der Mittelstand. Der Tönnies, den Sie als (B) nicht gerecht. Also, nehmen Sie die Schranke einmal Schranke vor Augen haben, und Westfleisch schaffen (D) weg, die Sie vor Ihren Augen haben. Wir machen ein es, ihre Arbeitnehmer aus Rumänien, aus Bulgarien und Gesetz für alle Betriebe. sonstigen Ländern zu rekrutieren, weil sie so groß sind. Und dann gibt es sehr viele Betriebe, vor allen Dingen Aber der Mittelstand in der Fleischverarbeitung mit 200 aus der Zeitarbeitsbranche, die höchste Auszeichnungen oder 300 Mitarbeitern kann es sich nicht leisten, ein Büro der zuständigen Berufsgenossenschaften bekommen in Rumänien, in Bukarest oder in sonstigen Städten auf- haben, zum Beispiel die Firma Stiefvater in Nürnberg, zumachen, um Menschen als Arbeitskräfte zu rekrutie- die ich besucht habe und die ebendiese Menschen in der ren. Auch das ist richtig: Leider Gottes stehen unsere Zeitarbeit einsetzt, einmal in der Fleischindustrie und Leute in Deutschland nicht unbedingt vor den Fleischbe- dann in der Lebkuchenproduktion. trieben Schlange, um dort eine Arbeit aufzunehmen. Also, wir sollten davon abkommen, dass alle Unter- (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE nehmer übel sind; denn diese sozial verantwortlichen GRÜNEN]: Kein Wunder bei den Konditio- Unternehmer sorgen letztendlich für gute Arbeitsplätze nen!) in unserem Land. Das ist letztendlich ja mit das Ergebnis. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der FDP) Vizepräsident : An denen sollten wir unser Gesetz ausrichten und nicht Lieber Max Straubinger, die Fragen sind ausführlich nur an den Übeltätern. Die Übeltäter müssen natürlich beantwortet. Jetzt läuft wieder die Uhr. bestraft werden. Das Übel muss abgeschafft werden. Aber ich muss feststellen, dass in der Vergangenheit die Max Straubinger (CDU/CSU): ehemalige rot-grüne Landesregierung in NRW überhaupt Werte Kolleginnen und Kollegen, lasst uns streiten und nicht kontrolliert hat. lasst uns ein vernünftiges Gesetz machen. Dabei geht es (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE auch darum: Was ist ein Handwerksbetrieb? Ein Hand- GRÜNEN]: Können Sie mal meine Fragen werksbetrieb definiert sich, lieber Herr Minister, nicht beantworten?) über 49 Personen, die dort beschäftigt sind. Ein Hand- werksbetrieb definiert sich darüber, dass der Inhaber Erst Karl-Josef Laumann hat kontrolliert, wobei ich aber das Metzgerhandwerk gelernt hat, und das hat nichts feststellen muss: mit der Anzahl der beschäftigten Personen zu tun. Und (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE deshalb muss das Handwerk hier auch herausgenommen GRÜNEN]: Fragen beantworten!) werden. 21666 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Max Straubinger (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Margit Stumpp (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) ordneten der FDP) Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Zu den Verträgen muss ich auch sagen: Warum ist es Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf. – möglich, in der Milchindustrie die Erzeugung der Ver- Dieses Sprichwort beschreibt ganz richtig, dass Kinder packung sozusagen auszulagern, und zukünftig wäre es am besten in einem gesunden sozialen Gefüge mit unter- bei den Fleischbetrieben nicht mehr möglich? Das kann schiedlichen Ansprechpersonen aufwachsen. Wie sehr es mir doch keiner erklären. Das gilt genauso für die Kutte- Eltern überfordern kann, wenn die Erziehung ihrer Kin- lei, die letztendlich einen Sonderbetrieb darstellt, in dem der ausschließlich auf ihren Schultern ruht, haben viele die Därme verarbeitet werden. Ich war in einer Schlächt- Familien in den letzten Monaten schmerzhaft erfahren, erei bei VION. Die haben mir gesagt, sie werden das verschärft noch dadurch, dass auch die meiste Bildungs- selbst nicht tun. Dann werden aus den Gedärmen keine arbeit in die Familien verlagert werden musste. Das Produkte hergestellt, sondern sie werden dann zu Tier- Ergebnis ist – so zeigen es Studien –: erhebliche Lern- mehl gemacht, und hinterher werden die Überreste ver- defizite quer durch alle Familien. brannt. Besonders groß ist die Not in Familien, die ohnehin in Es ist auch ethisch geboten, jedes Tier, das geschlach- schwierigen Umständen leben. Aber auch in normalen tet wird, für den Verzehrkreislauf der Menschen zu ver- Zeiten gilt: Nirgendwo hängt der Bildungserfolg so stark werten oder es dementsprechend für andere Nebenpro- vom Elternhaus ab wie bei uns. Diese Erkenntnis ist alt, dukte herzunehmen. Das ist auch ein ethisches Gebot. nur ändert sich nichts. Die Bildungsforschung belegt, dass eine gute qualitativ hochwertige Ganztagsschule (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- einen signifikanten Beitrag zur Chancengerechtigkeit ordneten der FDP) leisten kann. Das zeigen im Übrigen auch die Länder, die bei Vergleichsstudien regelmäßig an der Spitze lie- Da brauchen wir auch die Vielfaltsmöglichkeit in den gen: Finnland, Schweden, Estland. Betrieben, und ich bitte darum, dass diese auch erhalten bleibt. Der Ganztag ermöglicht individuelle Förderung und verzahnt hervorragend formale und non-formale Bildung. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Ein rhythmisierter Ganztag schafft Zeit für Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte, Bindungen zu stärken und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- zu kooperieren. Voraussetzung dafür ist, dass Lehrkräfte ordneten der FDP) von Aufgaben entlastet werden, die mit guter Bildungs- und Erziehungsarbeit nichts zu tun haben: Verwaltung, (B) Vizepräsident Thomas Oppermann: Organisation – zum Beispiel die Zusammenarbeit mit (D) Nach dieser ausgiebigen Debatte gibt es keine weiteren Vereinen – oder gar die Installation und Wartung von Wortmeldungen. – Ich schließe die Aussprache. IT. Das sind Tätigkeiten, für die Schulen nichtpädagogi- sches Fachpersonal brauchen. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- fes auf Drucksache 19/21978 an die in der Tagesordnung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Weitere Über- Beratung und Betreuung können von Sozialpädagogin- weisungsvorschläge sehe ich nicht. Dann verfahren wir nen und Sozialpädagogen geleistet werden. Erzieherin- genau so. nen und Erzieher ergänzen dieses Angebot. Kurz: Eine gute Schule und damit auch ein gutes Ganztagsangebot Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: bildet mit einem multiprofessionellen Personal das Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja erwähnte Dorf, das den Kindern neben den Eltern das Dörner, Margit Stumpp, Kai Gehring, weiterer Rüstzeug für das Leben mitgibt. Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ (Norbert Kleinwächter [AfD]: Und Ihre Ideen DIE GRÜNEN von Pädagogik!) Zeit für mehr – Recht auf gute Ganztagsbil- Die Betonung liegt auf guter Ganztag. Die Koalition dung im Grundschulalter umsetzen hat ja den Rechtsanspruch verabredet. Leider ist dort von Qualität nicht die Rede. Welche Folge das haben kann, Drucksache 19/22117 sehen wir beim sogenannten Gute-KiTa-Gesetz. Gut Überweisungsvorschlag: gemeint ist eben nicht gut gemacht. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Norbert Müller [Potsdam] Erste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- [DIE LINKE]) nen ist die Kollegin Margit Stumpp. Das Geld des Bundes sei eben nicht an Qualitätskriterien Nach dieser Rede schließe ich den Wahlgang für diver- gebunden, heißt es. Ergebnis: Die Qualität in den Kinder- se Wahlen. Stellen Sie sich bitte darauf ein. Wer jetzt tagesstätten hat sich – zumindest durch das Programm – noch wählen muss, sollte es sofort tun. – Frau Kollegin, kaum verbessert, wie es die Bertelsmann-Studie von vor Sie haben das Wort. 14 Tagen zeigt. Dieser Fehler darf sich beim längst über- fälligen Ganztagsausbau nicht wiederholen. Deswegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) beschreiben wir in unserem Antrag, wie ein gutes schul- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21667

Margit Stumpp (A) isches Ganztagsangebot aussehen muss. Neben pädago- Herzlichen Dank. (C) gischen Rahmenbedingungen gehören dazu auch die ent- sprechenden Räumlichkeiten: multifunktionale Räume, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die unterschiedlichen Lernanforderungen genügen, funk- tionierende sanitäre Anlagen, Raum für Bewegung und Vizepräsident Thomas Oppermann: Erholung. Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CDU/CSU ist der Kollege Marcus Weinberg. sowie der Abg. Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE Bevor Sie anfangen, Herr Weinberg, muss ich noch LINKE]) mal fragen: Ist jemand im Haus, der an der Wahl noch Die notwendigen Investitionen in Raum und Personal nicht teilgenommen hat? – Das ist nicht der Fall. Dann fordern sowohl Länder als auch Kommunen. Das Deut- schließe ich hiermit den Wahlgang. sche Jugendinstitut rechnet mit bis zu 7,5 Milliarden Euro Wir fahren fort mit der Debatte. – Herr Weinberg. an Investitionskosten und jährlich bis zu 4,5 Milliarden Euro für den Betrieb. Dazu kommt der aktuelle Investi- (Beifall bei der CDU/CSU) tionsrückstand an Schulen von jetzt schon 44 Milliarden Euro. Die Tatsache, dass infolge der Pandemie gerade auch die kommunalen Finanzen gewaltig unter Druck Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und geraten sind, auch ohne die Daueraufgabe Digitalisierung Kollegen! Vielen Dank auch den Grünen für diesen der Schulen, macht offensichtlich, dass die Finanzierung Antrag, ist es doch immer eine schöne Gelegenheit, der Bildung in der aktuellen Form nicht mehr tragfähig beim Thema Ganztagsbetreuung konkret darauf zu ist. Dies bestätigte jüngst auch das Bundesverfassungs- schauen: Was wünschen Sie sich bei der Ganztagsbetreu- gericht, wonach der Bund verpflichtet ist, die von ihm an ung? Wie sind unsere Positionen? Es ist auch immer eine Länder und Gemeinden delegierten Aufgaben auch aus- gute Gelegenheit, die Familien- und Bildungspolitik in kömmlich zu finanzieren. Eigentlich logisch, weil fair. der ganzen Breite aufzuzeigen. Denn dies ist ein Element Die Erfahrungen aus dem Rechtsanspruch auf einen der Familien- und Bildungspolitik; es gibt viele weitere. Kitaplatz waren aber völlig andere. Als Kommunalpoliti- Und wenn Sie ehrlich sind: Eigentlich sind Sie doch ganz kerin habe ich die ständig steigenden Beträge in unserem zufrieden mit unseren Geschichten Gemeinde- und Kreishaushalt ohne entsprechenden Aus- gleich mit Sorge verfolgt. Seit der Einführung des (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN und Rechtsanspruchs hat sich entgegen den Stimmen der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE (B) Skeptiker der Bedarf auch im Bereich U3 und auch auf (D) dem Land weit über die Prognosen hinaus erhöht, und die GRÜNEN]: Nie!) Eltern – auch bei mir im ländlich geprägten Raum – fra- und suchen ein wenig das Haar in der Suppe. Aber man gen zu Recht: Warum kann mein Kind den ganzen Tag in sieht am Antragstext, dass Ihnen das nur sehr mühsam die Kita, aber nur den halben Tag in die Schule gehen? gelingt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In dem Kontext ein Punkt zu Ihrem IZBB, also dem Warum muss ich den Familienalltag mit dem Schulkind damaligen ersten Impuls. Das sollen Sie auch für sich komplett neu organisieren? Wie steht es um die Verein- beanspruchen, und dazu sage ich: Herzlichen Glück- barkeit von Familie und Beruf mit Schulkindern? Wo wunsch. – Aber es gibt schon einen Unterschied, wie bleibt die Unterstützung für Alleinerziehende? Es wird man das Thema angeht. Was wir in der Großen Koalition Zeit, dass wir diesen Widerspruch auflösen und im Rah- jetzt gemacht haben, ist etwas völlig anderes. men eines modernen Bildungsföderalismus über alle föderalen Ebenen hinweg für gute Bildung und Chancen- (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE gerechtigkeit an einem Strang ziehen. GRÜNEN]: Sie haben doch gar nichts gemacht!) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, das rot-grüne Ganztagsschulprogramm zu Beginn des Jahrtausends hat Wir haben einen Rechtsanspruch definiert auf einen Platz damals wichtige Impulse gesetzt. Seitdem hat sich der in der Ganztagsbetreuung. Bedarf an Ganztagsplätzen in den Schulen aus den unter- (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE schiedlichsten Gründen deutlich erhöht. Aber nicht ein- GRÜNEN]: Aber genau der ist doch nicht da!) mal die Hälfte der Kinder hat einen Platz. Und bis heute bleibt uns die Koalition die versprochene Initiative dazu Wir setzen also nicht nur punktuelle Impulse, sondern wir schuldig. Wenn wir Teilhabe, Chancengerechtigkeit, Ver- haben mutig – sehr mutig – für das Jahr 2025 diesen einbarkeit von Familie und Beruf, aber auch die soziale Rechtsanspruch formuliert. Funktion der Schule ernst nehmen, brauchen wir viel mehr Ganztagsschulen, die den Ansprüchen an Schule (Matthias Seestern-Pauly [FDP]: Angekün- mit Qualität gerecht werden. digt! – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ja, alles nur angekündigt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE Das entsprang durchaus der Erkenntnis, wie wichtig eine LINKE]) gute Ganztagsbetreuung ist. Unser Antrag formuliert die dafür notwendigen Schritte. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 21668 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Marcus Weinberg (Hamburg) (A) Wenn ich bei den Grundsätzen bin, dann sage ich Deswegen sind wir und auch ich ganz persönlich Anhän- (C) immer sehr gerne: Das eine ist das Thema Infrastruktur – ger einer guten Ganztagsbetreuung als Angebot an die darüber reden wir jetzt –, das andere ist das Thema Familien, ich betone: als Angebot an die Familien. „finanzielle Sicherheit von Familien“. Denn Familien (Beifall bei der CDU/CSU) sind frei und sollen sich frei entscheiden, auch in der Frage der Betreuung, welche guten Angebote sie anneh- Jetzt kommt der entscheidende Punkt. Wir sollten nicht men, aber auch, ob sie diese möglicherweise nicht anneh- sagen: „Wir haben ein föderales System, und eigentlich men. sind die Länder zuständig, die aber nicht können, und die Kommunen sind sowieso am Ende der Fahnenstange“, Es gibt natürlich auch das Thema Zeitmanagement. sondern der Appell von diesem Hause aus muss sein: Deswegen haben wir viele Maßnahmen in der Großen Wir wollen das Thema angehen, wir wollen einen Rechts- Koalition beschlossen, die die Familien in ihrer Entschei- anspruch umsetzen. dungsfreiheit stärken. Ich will jetzt nicht noch einmal das Thema der finanziellen Sicherheit aufmachen; das haben Für mich gibt es drei wichtige Dinge: wir bei anderen Debatten getan. Ich will nur sagen: Erstens. Es muss eine Vergleichbarkeit geben. Nun ist Dahinter steht eine Grundkonzeption von Familie. Wir Thüringen anders als Hamburg, anders als Rostock und sagen: Wir geben den Familien die Freiheit, zu entschei- möglicherweise auch anders als der Taunus. Aber es muss den, wie sie die Betreuung organisieren. eine Vergleichbarkeit für die Familien geben. Das heißt Nun gibt es extreme Positionen. Die einen sagen: So nicht, dass überall alles gleich ist. Die regionalen Beson- viel Staat wie möglich. – Die anderen sagen: Das ist alles derheiten können sich in der Frage der Ganztagsangebote nur Teufelszeug; das wollen wir gar nicht; wir wollen es widerspiegeln, weil die Situation in Hamburg, an der wie 1955 haben. – Die Familien finden sich hier in der Elbe gelegen, anders ist als in München, nahe den Alpen. Mitte wieder. Denn sie sagen: Wir wollen die Angebote Aber das Angebot muss vergleichbar sein. wahrnehmen. Über 70 Prozent sagen: Wir als Familie Zweitens: Qualität. Wir haben darüber im Zusammen- wollen Ganztagsangebote wahrnehmen. Davon sagen hang mit dem Kitabereich lange diskutiert. Nur eine übrigens die meisten: Bis 14.30 Uhr. – Das heißt, wir hochwertige Ganztagsbetreuung schafft Vertrauen bei müssen darauf reagieren, und wir haben als Bund etwas den Eltern. „Satt und sauber“ und nur Betreuen reicht getan, was auch ein Paradigmenwechsel ist, nämlich das nicht. Sie haben Anspruch auf eine gute Bildung. Sie als nationale Aufgabe anzusehen. Es ist also die Aufgabe haben Anspruch auf professionelle Betreuung durch des Bundes, der Länder und der Kommunen, in der jewei- gute Fachkräfte. Das heißt, der Qualitätsaspekt muss ligen Verantwortung einen Teil dazu beizutragen. auch in den Verhandlungen zwischen Bund und Ländern (B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und eine Hauptrolle spielen. (D) der SPD) Auch ich bin Anhänger der Ganztagsbetreuung, weil es Vizepräsident Thomas Oppermann: bildungspolitische und kultur- und integrationspolitische Herr Weinberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Gründe gibt, weil wir in einer Wissensgesellschaft, in Frau von Storch? einer Bildungsgesellschaft zusehen müssen, dass wir die Ressourcen stärken. Wir haben veränderte Milieus. Wir Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): haben gerade in Städten, im urbanen Milieu einen hohen Ja, auch wenn ich sie nicht sehe. – Jetzt sehe ich sie. Anteil an Menschen mit einem anderen kulturellen Hin- tergrund. Diese integrationspolitische Herausforderung (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Bei kann über eine gute Ganztagsbetreuung gemeistert wer- der gestatten Sie die Zwischenfrage! Bei mir den. Es hat auch sozialpolitische Gründe. Wenn wir eine nie! – Heiterkeit bei der SPD, der LINKEN zusammenwachsende Gesellschaft sind, die der Radika- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – lisierung entgegensteht, dann brauchen wir auch eine Gegenruf des Abg. Kai Gehring [BÜND- Gemeinschaft. Insofern kann eine gute Ganztagsbetreu- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Versuch es doch ung auch eine sozialpolitische Funktion übernehmen. noch mal!) Zu guter Letzt gibt es auch arbeitsmarktpolitische – Herr Müller, da würde ich mir an Ihrer Stelle jetzt aber Gründe – ich nenne das nur deshalb als letzten Punkt, mal Gedanken machen. weil wir Familien nicht als Ressourcen für den Arbeits- (Pascal Meiser [DIE LINKE]: Vor Frau von markt betrachten sollten –, die man sehr leicht nachlesen Storch muss man auch keine Angst haben! kann. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat Das ist der Unterschied!) es ausgerechnet: Wenn die Quote der Ganztagsbetreuung steigt, dann steigt die Quote der Erwerbstätigkeit um 2 bis 6 Prozent oder um 2,6 Wochenstunden. Das heißt, dass in Beatrix von Storch (AfD): der Folge die Rentenansprüche insbesondere der Frauen Ich bedanke mich sehr herzlich für die Erlaubnis, eine steigen, was auch nicht unwichtig ist. Außerdem steigen Zwischenfrage zu stellen. die Steuereinnahmen, und die Transferleistungen gehen Sie haben gerade von dem Rechtsanspruch auf einen zurück. Das heißt – auch das ist eine Erkenntnis –, dass Kitaplatz bzw. auf Ganztagsbetreuung gesprochen. Wenn eine gute Ganztagsbetreuung eine bessere Vereinbarkeit der Staat diesen Rechtsanspruch nicht erfüllen kann, hat von Familie und Beruf ermöglicht und damit dafür sorgt, dann derjenige, der den Anspruch geltend gemacht hat, dass die Leistung des Staates in Teilen refinanziert wird. einen Schadensersatzanspruch? Was für einen Anspruch Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21669

Beatrix von Storch (A) hat er? Entsteht ein Schaden, wenn ich mein Kind zu Eine Bemerkung noch zu den Kommunen. Es kann (C) Hause betreuen muss, weil der Staat den Anspruch nicht nicht sein, dass am Ende die Kommunen alleingelassen erfüllen kann? werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Erstens. Wir haben eine politische Botschaft, indem Ich kenne, auch aus vielen Gesprächen mit Kolleginnen wir sagen: Wir haben einen Rechtsanspruch, und der und Kollegen, die Situation in den Kommunen. Daher muss umgesetzt werden, und daran haben sich alle zu formuliere ich meine Forderung an die Länder deutlich: beteiligen. Bitte ernsthaft jetzt die Kommunen entlasten! Die Kom- munen haben vieles zu bewältigen gehabt. Sie werden die Zweitens. Wir haben es bei den Rechtsansprüchen auf Bildungsaufgabe auch in Zukunft in allen Bereichen einen Kitabetreuungsplatz erlebt, dass es Klagen gab. bewältigen müssen. Das heißt: Geben wir ihnen die Mög- Dann muss im Einzelfall entschieden werden, ob es mög- lichkeit dazu, entlasten wir sie, wo wir können. Lassen licherweise einen Anspruch auf Entschädigung gibt und Sie uns bei den Themen Bildung und Ganztagsbetreuung wie das zu regeln ist. Da gab es mehrere Verhandlungen gemeinsam vorgehen; die Ganztagsbetreuung soll ein und mehrere – ich sage das in Anführungszeichen – Vor- Angebot für die Familien sein. Das wäre ein schönes gaben von Gerichten, die den Einzelfall zu prüfen haben. Ergebnis. Gehen wir das in den nächsten Tagen und Aber wir befinden uns in einer politischen Debatte, Wochen an. Ich glaube, das ist wichtig für unser Land Frau Kollegin, wenn ich das sagen darf. Und Sie müssen und wichtig für die Familien und Kinder. mal sagen, ob Sie einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbe- Vielen Dank. treuung mittragen können. (Beatrix von Storch [AfD]: Auf gar keinen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Fall!) ordneten der SPD) – „Auf gar keinen Fall!“ Sehen Sie, da liegen wir poli- tisch auseinander. Dann können wir aufgrund Ihrer Zwi- Vizepräsident Thomas Oppermann: schenfrage das Ergebnis feststellen, dass zwischen Ihnen Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der und uns große Unterschiede zu erkennen sind. AfD der Kollege Martin Reichardt. Ich komme zurück zum Thema Verantwortungsberei- (Beifall bei der AfD) che. Qualitativ hochwertige Ganztagsbetreuung, das ist es, was Eltern wollen. Sie prüfen genau, was die Schulen (B) anbieten. Martin Reichardt (AfD): (D) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Ich möchte noch einmal appellieren – das ist der dritte Herren! Wir reden ja heute über den Antrag der Grünen, Punkt, den ich ansprechen möchte –: Das ist eine gemein- „Zeit für mehr – Recht auf gute Ganztagsbildung im same Aufgabe. Es ist jetzt nicht die Zeit für Spiele, für ein Grundschulalter umsetzen“. In einer Zeit, in der das Kin- Tauziehen, wer ein bisschen mehr und wer ein bisschen deswohl, die Rechte von Eltern und Kindern aufgrund der weniger geben muss. Ich glaube, da sind wir einer Mei- Panikrhetorik der Regierung mit Füßen getreten werden, nung, gleich ob Grün, Schwarz, Gelb oder Rot. Alle fällt es mir schwer, über einen Antrag zu sprechen, in dem haben sich gegenseitig tief in die Augen zu schauen und „Recht“ und „Kinder“ in einem Atemzug genannt wer- zu sagen: Wir können das bis 2025 hinbekommen. den. Wir erleben in dieser Coronakrise, wie wichtig es ist, (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: dass wir die Digitalisierung voranbringen. Es geht aber Einfach lassen und wieder hinsetzen!) nicht nur darum. Wir müssen auch die sozialpädagogi- sche Betreuung voranbringen und beim Sprachförderbe- In Deutschland müssen Kinder stundenlang mit Maske darf vorankommen. Das alles kann im Rahmen einer im Unterricht sitzen, auf dem Schulweg und auf dem guten Ganztagsbetreuung gemeistert werden. Kinder, Pausenhof eine Maske tragen. die einen sozial- oder sonderpädagogischen Bedarf haben, brauchen die Ganztagsbetreuung. Auch Kinder (Sönke Rix [SPD]: Wo müssen die denn im mit einem Sprachförderbedarf brauchen die Ganztagsbe- Unterricht mit Maske sitzen? – Dr. Franziska treuung. Es gibt also eine Reihe von Gründen, hier voran- Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: An zukommen. welchen Schulen?) Ich habe eine herzliche Bitte – heute, am 10. Septem- Kinder werden in Schulen und Kindergärten mit Kanin- ber, finden Gespräche zwischen dem Bund und den Län- chenzäunen und teilweise Absperrband daran gehindert, dern statt –, damit komme ich zum Schluss, Herr Präsi- mit Freunden zu toben. Das sind alles reale Bilder. Poli- dent: Lassen Sie uns dieses Thema jetzt ernsthaft tiker, Medien und Lehrer schüren hierbei leider oft die angehen. Wir können gemeinsam die Agenda setzen. Urangst um das eigene Leben und um das Leben von Wir haben als Bund gesagt, auch wenn das nicht in unsere Angehörigen. Kompetenz fällt – das ist das alte Spiel –: Uns ist das (Sönke Rix [SPD]: Sie verbreiten Unwahrhei- wichtig; das ist eine nationale Aufgabe. – Denken wir ten!) jetzt bitte ernsthaft darüber nach, wie wir das hinbekom- men. – Nein, die verbreite ich nicht. 21670 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Martin Reichardt (A) Damit Eltern, Lehrer und alle Menschen in Deutsch- Die AfD steht daher dem Ausbau der Ganztagsbetreuung (C) land wissen, wie diese Regierung mit unseren Kindern in Grundschulen offen gegenüber. Wir lehnen aber eine umgeht, zitiere ich mit Erlaubnis des Präsidenten aus Überhöhung zum bildungspolitischen Allheilmittel ent- dem Strategiepapier des Innenministeriums, wie wir mit schieden ab. Covid-19 umgehen und es unter Kontrolle bekommen. (Beifall bei der AfD) Zitat: Die Bundesregierung strebt einen Rechtsanspruch auf Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, Ganztagsbetreuung in Grundschulen ab 2025 an; wir müssen die konkreten Auswirkungen einer Durch- haben es gerade gehört. Die Grünen fordern in ihrem seuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeut- Antrag gar das Recht auf eine gute Ganztagsbildung. licht werden: ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- … NEN]: Was denn sonst?) Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Aus- Beide Vorhaben sind letzten Endes Augenwischerei und gangsbeschränkungen, z. B. bei den Nachbarskin- unseriös; denn sie werden schon vor dem Hintergrund des dern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer heute bereits bekannten Personalmangels scheitern müs- davon qualvoll zu Hause stirbt sen. Das weiß bereits heute jeder. – haben sie das Gefühl –, Die Grünen behaupten außerdem in ihrem Antrag – und das wurde hier auch in der Rede ausgeführt –, dass Schuld daran zu sein, weil sie z. B. vergessen haben, Ganztagsangebote grundsätzlich einen positiven Einfluss sich nach dem Spielen die Hände zu waschen … auf die psychosoziale Entwicklung von Kindern haben und die Bildungsgerechtigkeit erhöhen. Das ist ein Mär- (Abg. Margit Stumpp [BÜNDNIS 90/DIE chen. GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfra- ge) (Beifall bei der AfD) Die Wahrheit belegt die bundesweite StEG, die Studie zur Kinder leben täglich mit solcher Rhetorik. Sie leben in Entwicklung von Ganztagsschulen: Für Jugendliche aus Angst, ihr Leben ist davon geprägt, dass sie als Kinder problematischen sozialen Verhältnissen oder mit Migra- eine Gefahr für sich und andere sind. Was das mit Kin- tionshintergrund lässt sich über vier Jahre hinweg kein dern macht, kann sich jeder vorstellen. Effekt der reinen Ganztagsschulteilnahme auf ihre (Beifall bei der AfD) Schulleistungen nachweisen. Auch haben die Forscher festgestellt, dass sich trotz zusätzlicher Leseangebote an (B) Ganztagsschulen die Lesekompetenz von Grundschülern (D) Vizepräsident Thomas Oppermann: nicht verbessert; so viel zur Bildungsgerechtigkeit, meine Herr Reichardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage von- Damen und Herren. seiten der Grünen? (Beifall bei der AfD) Sie fordern weiterhin Milliarden für die Fremdbetreu- Martin Reichardt (AfD): ung von Kindern, weil Sie das Original, nämlich die Nein. – Dabei kommt mir ein alter Liedtext in den traditionelle Familie, unterminieren und ablehnen. Als Sinn: Begründung dient dann immer diese Floskel von der Ver- Sind so kleine Seelen, offen und ganz frei einbarkeit von Familie und Beruf. Außerhalb des poli- Darf man niemals quälen, gehʼn kaputt dabei tisch korrekten Sprachgebrauchs ist das eigentlich nichts anders als die permanente Forderung, dass junge Eltern (Zurufe von der SPD) möglichst schnell wieder dem Arbeitsmarkt zur Verfü- gung stehen sollen. Die weitreichenden Folgen der Coronamaßnahmen für Kinder sind schon heute offensichtlich und werden als ( [SPD]: Wollen!) Kollateralschaden hingenommen. Es wird Zeit, dass die- All diese Projekte werden am Personalmangel ses Hohe Haus aufsteht, aufsteht für unsere Kinder; denn scheitern. Kindergärten und Ganztagsschulen werden es kann nicht sein, dass die am wenigsten gefährdete aufgrund dieses Mangels dann zu Parkplätzen für Kinder, Gruppe das höchste Sonderopfer in dieser Gesellschaft und das wird dann hier als gute Bildung verkauft. Das ist zu tragen hat. einfach nicht richtig. (Beifall bei der AfD – Sönke Rix [SPD]: Sie (Beifall bei der AfD – Gabriele Katzmarek verbreiten Unwahrheiten!) [SPD]: Unglaublich!) Ich komme jetzt zum Antrag. Ich selbst bin Vater von In diesem Hause wird viel über Kinderrechte und Kin- drei Kindern. Mein kleiner Sohn geht in eine Grund- deswohl gesprochen. Schauen wir uns aber an, was sich schule mit Nachmittagsbetreuung. Meine Frau und ich Kinder wünschen: Ihr größter Wunsch ist mehr Zeit mit sind tatsächlich auch froh – gelegentlich –, dass unser Freunden und Familie. Die Hälfte der Kinder empfindet Sohn dort mit Freunden nachmittags spielen kann. laut einer Umfrage des LBS-Kinderbarometers die Zeit in der Schule als zu lang. Kinder in Ganztagsschulen leben (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: einen Erwachsenenrhythmus mit Schichten von 8 bis Aber nur „gelegentlich“!) 16 Uhr. Kindsein bedeutet aber, Freizeit zu haben Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21671

Martin Reichardt (A) gemeinsam mit Freunden, die man sich selber aussucht, dem Weg dahin muss allen klar sein: Das ist eine (C) und das nicht unter der von Ihnen gewünschten sozial- Gemeinschaftsaufgabe, bei der Bund, Länder und Kom- pädagogischen Daueranleitung. Die haben Sie nicht munen zusammenarbeiten müssen. Es geht nur miteinan- gebraucht, die habe ich nicht gebraucht, die brauchen der. Kinder generell nicht. Ein großer Teil des Geldes für die Investitionskosten (Beifall bei der AfD) ist schon bereitgestellt. 750 Millionen Euro aus dem Kon- Der Wunsch der Kinder deckt sich übrigens mit den junkturprogramm sollen fließen, sobald sich Bund und Wünschen von Eltern. Umfragen zeigen, dass sich drei Länder entsprechend verständigt haben. Das ist doch Viertel aller Eltern folgendes Modell wünschen: Ein ein gewaltiger Anreiz, sich jetzt zügig auf Rahmenbedin- Elternteil arbeitet in Vollzeit, eines in Teilzeit. Die gungen zu verständigen; denn wir können uns hier viele Shell-Jugendstudie zeigt darüber hinaus, dass sich junge schöne Anträge ausdenken – auch ich habe viele gute Menschen mehrheitlich wünschen, dass in den ersten Ideen –, aber das bringt alles nichts, solange es keine Lebensjahren des Kindes ein Alleinverdienermodell vor- verbindliche Einigung darüber gibt, wie es in Länderver- herrscht; wobei – da müssen Sie von links jetzt ganz stark antwortung umgesetzt werden soll. Auch die Länder mit sein – der Mann hauptsächlich berufstätig und die Frau grüner Regierungsbeteiligung sind hier sehr wohl überwiegend zu Hause sein soll. gefragt. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten GRÜNEN]: Welche Studien zitieren Sie denn?) der CDU/CSU) – Das sind die Aussagen der Shell-Studie. Die AfD ist Neben Investitionskosten in Höhe von insgesamt 3,5 Mil- insofern die einzige Partei, die sich für eine echte Wahl- liarden Euro in den Haushaltsjahren 2020 und 2021 hat freiheit in der Kinderbetreuung einsetzt. Das ist Fakt. unser SPD-Bundesfinanzminister ja auch bereits signalisiert, dass der Bund sich dauerhaft an den (Beifall bei der AfD) Betriebskosten beteiligen wird. Anstatt immer mehr in Fremdbetreuung zu investieren, „Gemeinsam“ kann aber nicht heißen, dass die Länder muss eine Grundlage dafür geschaffen werden, dass ganz aus der Pflicht entlassen werden. Das wäre sehr besonders junge Eltern nicht mehr zur Arbeit und damit ungerecht gegenüber denen, die bereits viel getan haben. zur Fremdbetreuung aus wirtschaftlichen Gründen In Hamburg, aber auch in Thüringen, Sachsen oder in gezwungen sind, sondern frei wählen können. Der lock- Berlin ist der Bedarf an Ganztagsplätzen in Grundschulen downbedingte Ausfall der staatlichen Betreuung hat übri- weitgehend gedeckt. Hier geht es eher darum, das Ange- gens gezeigt, wie schnell das seit Jahrzehnten geförderte bot noch einmal zeitlich und qualitativ zu verbessern. (B) Fremdbetreuungsmodell zu einer Falle für Familien wer- Dagegen hinken besonders die südlichen Bundesländer (D) den kann. leider sehr hinterher. Das grün regierte Baden-Württem- Der Lockdown hat übrigens auch gezeigt, wie schnell berg findet sich bei der Ausstattung mit Ganztagsschulen diese Regierung und dieser Staat die Familien im Stich auf dem letzten Platz, auf dem Platz 16. lässt. Nur die AfD setzt sich dafür ein, dass sich Familien (Gabriele Katzmarek [SPD]: Genau!) aus der linksideologischen Bevormundung durch den Staat befreien können. Dafür stehen wir. Die Ganztagsbetreuung und -bildung für Grundschüler und Grundschülerinnen ist wichtig für die Eltern, für die (Beifall bei der AfD) Vereinbarkeit von Beruf und Familie und damit auch für Zum Abschluss: Wir stehen für die Rechte von Eltern die Wirtschaft, die dringend Fachkräfte braucht. Sie ist und Kindern, und – um noch einmal auf den Eingangsteil aber vor allem auch eine Chance für Kinder, wenn sie meiner Rede einzugehen – wir stehen für eine Kindheit sich dem Dreiklang von Bildung, Erziehung und Betreu- ohne Maske und Abstand. ung stellt und den Kindern partnerschaftlich begegnet. Vielen Dank. Ich wünsche mir Formate, die jedem Kind individuel- len Raum für seine Entwicklung bieten, die neben der (Beifall bei der AfD) schulischen auch die sportliche und musische Bildung berücksichtigen und daneben Freiräume und Anregungen Vizepräsident Thomas Oppermann: für die Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion der gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit bieten, wie es unser SPD die Kollegin Ulrike Bahr. Kinder- und Jugendhilferecht als Leitbild vorgibt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU) Dazu brauchen wir zunächst einmal die Menschen, die Ulrike Bahr (SPD): das vor Ort umsetzen, also Fachkräfte: Lehrer und Leh- Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kollegen und rerinnen, Erzieher und Erzieherinnen, Sozialpädagogen Kolleginnen! Es ist, denke ich, nicht mehr strittig, dass und Sozialpädagoginnen, gut ausgebildet und fair wir ausreichende Angebote für gute Ganztagsbildung in bezahlt. Daran hängt alles, und vielfach ist das auch die ganz Deutschland brauchen. Darum haben wir uns im größte Schwierigkeit für die Kommunen. Allerdings lässt Koalitionsvertrag darauf verständigt, einen Rechtsan- sich auch hier die Zuständigkeit für die Aus- und Weiter- spruch ab 2025 im SGB VIII zu verankern. Aber auf bildung nahezu ausschließlich bei den Ländern verorten. 21672 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Ulrike Bahr (A) Bildungs- und Betreuungskonzepte im Ganztag dürfen In den beiden letzten Jahren habe ich Bürgermeister (C) den Kindern nicht einfach übergestülpt werden. Gerade und Bürgermeisterinnen in Bayerisch-Schwaben besucht. wenn sie den größeren Teil des Tages in Institutionen Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung macht ihnen zubringen, müssen Kinder beteiligt werden. Viele Schü- Sorgen. Sie sehen aber auch die berechtigten Forderun- lerinnen und Schüler wissen auch mit sechs oder sieben gen der Eltern, die Bedarfe der Kinder und die Wünsche Jahren schon erstaunlich gut, was sie wollen, was sie der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Sie brauchen des- brauchen und was ihnen guttut. Zentral ist auch, dass halb schnell Rechtssicherheit und Mittel für die anstehen- die Zeit nach der Ganztagsschule dann wirklich Fami- den Investitionen. Ermutigend ist dabei: Wir haben fast lienzeit sein kann und nicht darüber hinaus mit vielen überall gute Strukturen der Kinder- und Jugendarbeit, der Terminen und Pflichten belastet wird. Neben Angeboten Schulsozialarbeit, der kulturellen Kinder- und Jugendbil- an sportlicher und musischer Bildung ist es darum auch dung. Dieses große Kapital der selbstorganisierten und wünschenswert, dass zusätzliche Förderangebote in den ehrenamtlichen Arbeit darf nicht verloren gehen zuguns- Ablauf integriert werden. Schon lange klagen Eltern ten einer 08/15-Betreuung ohne Fantasie und Mitsprache. darüber, dass Kinder mit Teilleistungsstörungen von der Schule unzureichend gefördert werden und zusätzliche (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Angebote meist mühsam und teuer privat organisiert wer- der CDU/CSU) den müssen. Im Bereich Ganztag gibt es nun endlich genug Zeit, auf Kinder mit Lernschwierigkeiten indivi- Es wird eine große kommunale Herausforderung, hier mit duell einzugehen und auch Angebote in Kooperation Vernetzung und verlässlicher Finanzierung eine bunte mehrerer Schulen zu gestalten. Bei uns in Bayern hat Landschaft zu erhalten und auszubauen. zum Beispiel der Landkreis Eichstätt ein Programm in Schließlich: Den Anspruch von Kindern auf gutes Auf- Zusammenarbeit von Schul- und Jugendamt aufgelegt, wachsen, Bildung, Förderung und Beteiligung können das erfolgreich Entlastung für die betroffenen Familien wir auch stärker machen, wenn wir ihn endlich in das schafft. Solche Ansprüche lassen sich nur mit einem ent- Grundgesetz schreiben. Liebe Kolleginnen und Kollegen sprechenden Raumangebot bedienen. Viele Kommunen von der Union, auch damit können Sie unserem gemein- müssen deshalb bauen und in kindgerechte Räume und samen Anliegen der guten Ganztagsbildung noch mehr Außenanlagen investieren, die einerseits das Lernen för- Schwung geben. dern, andererseits aber auch zu Kreativität, Spiel und Ent- spannung einladen. Es eilt darum mit der Einigung zwi- Vielen Dank. schen Bund und Ländern; denn erst dann kann das Geld fließen, und jedes Bauvorhaben braucht Zeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) Die Länder haben bislang unterschiedliche Wege ein- (D) geschlagen, wenn es um die Organisation von Ganztags- konzepten geht: Offene und gebundene Ganztagsschulen Vizepräsident Thomas Oppermann: stehen je nach Bundesland einer zum Teil sehr guten Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion Hortinfrastruktur gegenüber. der FDP der Kollege Matthias Seestern-Pauly.

Viele Wege führen zum Ziel. Bedingung ist für mich (Beifall bei der FDP) lediglich, dass Schule und Jugendhilfe sich auf Augen- höhe begegnen und verbindliche Kooperationen verein- baren. Dafür müssen sich auch die Schulen öffnen und als Matthias Seestern-Pauly (FDP): Teil von Netzwerken begreifen, die gute Ideen und Enga- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten gement für Kinder zusammenbringen. Hier gibt es schon Damen und Herren! Wir Freien Demokraten wollen einen viele gute Beispiele. Ich halte es nämlich für sehr wichtig, Rechtsanspruch auf qualitativ hochwertige Ganztagsbe- dass Grundschulkinder nicht nur im schulischen Raum treuung im Grundschulbereich. Ein solches Angebot ist bleiben, sondern auch ihre Umwelt erkunden und erobern für viele eine Chance auf Förderung, auf Vereinbarkeit können. Ein Ganztagsangebot muss auch dafür Zeit und von Familie und Beruf, auf Bildungs- und Lebenschan- Gelegenheit bieten. cen. Jedoch geht es seit Monaten bei diesem Thema kei- Angesichts der vielfältigen Aufgaben und Ansprüche nen Schritt voran. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass sind mir zwei Dinge besonders wichtig: bei Ihnen, Frau Ministerin, Werbung in eigener Sache vor der realistischen Umsetzung steht. Sie versprechen, was Erstens. Wir brauchen klare Qualitätskriterien, wo es Sie nicht halten können. Sie werden Enttäuschung her- hingehen soll. Darum hoffe ich auf baldige Ergebnisse vorrufen, weil Sie ein Ziel vorgeben, ohne einen Fahrplan der Bund-Länder-Arbeitsgruppe und nachfolgend auf zu haben. Sie haben im letzten Oktober einen Gesetzent- den Gesetzentwurf aus dem BMFSFJ. wurf zum Rechtsanspruch für das erste Quartal 2020 ver- Zweitens dürfen wir aber auch nicht Opfer der eigenen sprochen. Das Problem ist: Er liegt bis heute nicht vor. Perfektionsansprüche werden. 2025 ist nicht mehr weit Mehr als Ankündigung sehe ich bisher nicht. Deshalb weg. Eine große Menge Geld ist bereits im Haushalt ein- frage ich ganz konkret: Wie ist denn der aktuelle Stand gestellt. Darum heißt es jetzt auch: Loslegen und dabei zum Gesetzentwurf? Wie sollen denn die konkreten Stan- flexibel bleiben! dards eigentlich aussehen, und mit welchem Personal wollen Sie einen Rechtsanspruch auf qualitativ hochwer- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tige Ganztagsbildung im Grundschulbereich eigentlich der CDU/CSU) umsetzen? Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21673

Matthias Seestern-Pauly (A) Wir alle wissen doch, dass diese Ankündigungen nur Dr. Birke Bull-Bischoff (DIE LINKE): (C) Makulatur sind; denn die Fachkräfte fehlen. Warum das Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und so ist, haben Sie selbst mehrfach gesagt: schlechte Kollegen! Ganztagsbildung ist – genau wie im Antrag Arbeitsbedingungen, schlechte Bezahlung, kaum Auf- von Bündnis 90/Die Grünen beschrieben – moderne, stiegsperspektiven. Trotzdem haben Sie es konsequent ganzheitliche Bildung für alle Schülerinnen und Schüler. versäumt, zu handeln. Sie haben einmalig – einmalig! – Es ist erst in zweiter Hinsicht auch eine gute Sache für 5 000 Ausbildungsplätze gefördert und es „Fachkräfteof- Frauen und Männer, die Eltern sind – keine Frage – und fensive“ genannt. Dabei fehlen uns bereits heute Hun- die Beruf, Familie und Ehrenamt vereinbaren möchten. derttausende Fachkräfte. Das ist Realitätsverweigerung. Es geht darum, Bildung in ganz unterschiedlichen Set- tings möglich zu machen: in Arbeitsgemeinschaften, in (Beifall bei der FDP) der Gruppe, als Projekt. Es geht darum, den Interessen Schauen wir zum Beispiel nach Niedersachsen. Dort von Schülerinnen und Schülern zu folgen, anstatt nach hat ihr SPD-Parteigenosse, Kultusminister Tonne, die einem engen Plan zu arbeiten. Es geht darum, fächerüber- Einführung einer dritten Fachkraft in der Kinderbetreu- greifend zu arbeiten und eben nicht im 45-Minuten- ung um fünf Jahre verschoben. Er nennt auch den Grund. Abstand die Fächer zu wechseln. Es geht um demokrati- Ich zitiere aus einer Unterrichtung der Landesregierung sche Mitbestimmung, gemeinsam über Themen zu ent- vom 5. Juni 2020 – Zitat –: scheiden. Es geht um die Perspektive von Kindern und Jugendlichen; da schwächelt Ihr Antrag ein wenig. Es Aufgrund des bestehenden Fachkräftebedarfs wird geht darum, Praxis zu erkunden: Wie macht das ein es für die Träger der Kindertageseinrichtungen Handwerker? Wie funktioniert Wissenschaft? Wie immer schwieriger, hierfür geeignete Fachkräfte machen das Journalistinnen und Journalisten? Es geht auf dem Arbeitsmarkt zu finden. darum, auf Bildung im Gleichschritt zu verzichten, Fle- Die benötigten Fachkräfte gibt es schlicht und einfach xibilität zu ermöglichen, Praxis in Schule stattfinden zu nicht, Frau Ministerin. Ich frage mich, wie Sie unter die- lassen. sen Umständen den Rechtsanspruch auf hochwertige Ich will ganz klar sagen: Ganztagsbildung ist keine Ganztagsbetreuung erfüllen wollen. Dabei sind motivier- Benachteiligtenförderung in Brennpunktschulen, sondern te und gut ausgebildete Fachkräfte das Fundament für es ist gute Bildung für alle. weltbeste Bildung. Wir Freien Demokraten wollen dieses Fundament legen und nicht wie Sie den vierten vor dem (Beifall bei der LINKEN) ersten Schritt gehen. Ja, sie kann Schülerinnen und Schülern in schwierigen Wir wollen eine echte Fachkräfteoffensive, um das Lebensumständen helfen, zu kompensieren, keine Frage. (B) Ziel zu erreichen: für mehr Qualität in den Kitas, mehr Meine Damen und Herren, lange hat es gedauert – ich (D) Chancen und einen Rechtsanspruch auf hochwertige muss noch einmal ein wenig sticheln –, bis diese Form Ganztagsbildung in der Grundschule. Genau deshalb for- der modernen Bildung auch in der Vorstellungskraft der dern wir eine vergütete Ausbildung mit Inhalten des Konservativen vorkam, bis es eben kein Teufelszeug 21. Jahrhunderts. Genau deshalb wollen wir durch Fort- mehr war. Rechtsaußen ist da eher unerheblich für die und Weiterbildung Karriereperspektiven aufzeigen. übergroße Mehrheit in unserem Land. Aber der Fort- Genau deshalb wollen wir Fachkräfte von fachfremden schritt in dieser Frage ist hierzulande eine Schnecke. Aufgaben entlasten, damit sie endlich wieder pädago- Meine Damen und Herren, woran liegt es? Ich habe vor- gisch arbeiten können. gestern eine erfolgreiche Schulleiterin einer Ganztags- (Beifall bei der FDP) schule gefragt, welche Steine sie auf dem Weg vorfindet. Meine Damen und Herren, es sind die üblichen Verdäch- Von Ihnen höre ich hierzu nichts. tigen: zu wenige Lehrkräfte für Ganztagsbildung. Gerade Was mir bleibt, ist das Gefühl, dass sich die Geschichte in Sachsen-Anhalt steuern wir zielgenau auf eine Kata- des gescheiterten Kitagesetzes wiederholt. Ich fürchte, strophe zu. Es fehlen Schulsozialarbeiterinnen und dass sich Ihre Politik mal wieder in Ankündigungen Schulsozialarbeiter, es fehlen Psychologen, es fehlen und Versprechungen erschöpft. Frau Ministerin, wer ein Expertinnen und Experten aus anderen Bereichen. Es Ziel vorgibt, muss auch realistisch sagen, wie dieses Ziel geht ja nicht um ein Dorf voller Lehrerinnen und Lehrer, erreicht werden kann. Wenn Sie das nicht können, dann sondern um multiprofessionelle Teams. Es fehlt Geld bei nehmen Sie zumindest unsere konstruktiven Vorschläge Schulträgern, für Honorare, für Material, für Ausrüstung, auf. Kommen Sie endlich weg von Ihren leeren Verspre- und es fehlt auch an guten Schulgebäuden. Wir haben zu chungen. Machen Sie Politik für Eltern, für die Fach- viele Schulgebäude, die nicht wirklich Lust machen, dort kräfte und für unsere Kinder. den ganzen Tag zu verbringen. Herzlichen Dank. Sie haben in den letzten Monaten so viel Geld ausge- geben für alles Mögliche, für viel Nützliches, aber auch (Beifall bei der FDP) für absurde Sachen, so zum Beispiel 10 Milliarden Euro – das sind 10 000 Millionen Euro – für ein Konjunktur- Vizepräsident Thomas Oppermann: paket für die Rüstungsindustrie, meine Damen und Her- Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin ren. Bildung ist dagegen nach wie vor auf Sparflamme Dr. Birke Bull-Bischoff für die Fraktion Die Linke. unterwegs. Das Bildungsministerium muss man perma- nent zum Jagen tragen. Geld fließt nicht ab. Jetzt ist etwas (Beifall bei der LINKEN) Geld da. Es fehlt Qualität, es fehlt Personal. Meine 21674 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Dr. Birke Bull-Bischoff (A) Damen und Herren, so wird das nichts mit der Bildungs- Als Regierungskoalition halten wir den Schritt, den wir (C) republik Deutschland. Der Antrag der Grünen trifft jetzt gehen wollen, für notwendig und für folgerichtig. durchaus viele, wenn auch nicht alle Nägel auf den Nach dem Ausbau der U-3-Kindertagesbetreuung in Kopf und geht in die richtige Richtung. Wir sind freudig den letzten Jahren kommt nun auch der Ausbau der Ganz- gestimmt. tagsbetreuung an den Grundschulen. Es passt einfach nicht mehr in unsere Zeit, dass die Kinder bis zum Nach- (Beifall bei der LINKEN) mittag im Kindergarten bleiben können, in der Grund- schule jedoch im schlechtesten Fall schon am Mittag Vizepräsident Thomas Oppermann: nach Hause geschickt werden. Das dient nicht der Ver- Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der einbarkeit von Beruf und Familie. Diesen Herausforde- CDU/CSU der Kollege Maik Beermann. rungen müssen wir gerecht werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich sage aber auch ganz deutlich: Wir dürfen nicht immer nur die Eltern in den Vordergrund stellen, sondern Maik Beermann (CDU/CSU): wir müssen diese Fragestellung auch mal aus Sicht der Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kinder denken. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man denkt oftmals darüber nach, ob man auf die Ausführun- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der gen der AfD eingehen sollte. LINKEN) (Zuruf von der LINKEN: Nein!) Um Familie und Beruf besser zu vereinbaren, möchten wir denen, die sich für ein Ganztagsangebot im Grund- Aber es bringt auch nichts, wenn hier einfach Unwahr- schulalter entschieden haben, die Möglichkeit einräu- heiten verbreitet werden. Darauf muss man an der einen men, dies auch zu nutzen. Auch wenn dies die originäre oder anderen Stelle hinweisen. Aufgabe der Kommunen und der Länder ist, greift ihnen Ich persönlich kenne nicht eine einzige Grundschule der Bund auch hier wieder mit einer Milliardenhilfe unter hier bei uns im Land, in der eine Maskenpflicht herrscht. die Arme. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Wir haben bereits Hilfen in Höhe von 2 Milliarden GRÜNEN]: So ist es!) Euro beschlossen, und jetzt kommen nochmals 1,5 Mil- Herr Reichardt behauptet aber genau das. Er spricht im liarden Euro aus dem Konjunkturpaket dazu. Insgesamt gleichen Zusammenhang davon, dass die Kinder einer reden wir schon über 3,5 Milliarden Euro. Ich kann nur besonderen Angst und Gefahr ausgesetzt seien. Auch hoffen, dass die Länder diese Mittel zum Ausbau der (B) (D) das ist meiner Meinung nach Quatsch. Ganztagsbetreuungsstrukturen wirklich an die Kommu- nen weiterleiten und keine klebrigen Finger bekommen. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Franziska Das wäre nicht Sinn der Sache. Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dan- ke für die Richtigstellung!) (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Reichardt, ich sage Ihnen: Kinder, die sexuellem Ich will aber nicht verhehlen, dass diese Herausforde- Missbrauch ausgesetzt sind, die misshandelt und geschla- rung selbstverständlich eine gewaltige ist; auch einige gen werden, Kinder, die in den Schulen oder in den so- meiner Vorredner sind schon darauf eingegangen. Dabei zialen Netzwerken gemobbt werden, Kinder, die nicht so denke ich an die großen finanziellen Hürden. Es wird friedlich leben können wie die Kinder hier bei uns in nicht nur um bauliche Investitionen gehen, sondern Deutschland, leben in Angst und Gefahr, aber nicht die auch um laufende Kosten, um Personal- und Betriebs- Kinder, die bei uns auf dem Weg zur Schule im Schulbus kosten. Das alles kostet je nach Szenario zur Ausgestal- vielleicht eine Maske tragen müssen. Das sollte hier mal tung des Ganztagsangebots zwischen 5 Milliarden Euro erwähnt werden. und 7,5 Milliarden Euro pro Jahr. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Auch die Fachkräftegewinnung und die Qualifizierung Auf Seite 11 unseres Koalitionsvertrags steht ein für werden nur mit einem enormen Kraftakt gelingen; das die Familien in unserem Land zentrales Vorhaben, und müssen wir uns im Vorfeld klarmachen. Wir müssen wie meine Vorredner aus der Koalition bereits gesagt uns zudem klarmachen, dass wir beim Ausbau ein ganz haben, wollen wir dieses Vorhaben auch angehen. Wir unterschiedliches Niveau haben und dass die Bundeslän- richten einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung der sehr unterschiedliche Ansätze vertreten. Der Bedarf für Grundschulkinder ab dem Jahre 2025 ein, mit allen ist zudem regional unterschiedlich. Herausforderungen, die damit verbunden sind. Dieser Herausforderungen sind wir uns bewusst. Entscheidend ist für uns als Unionsfraktion die Quali- tät der Betreuung. Ganztagsschulen sollen keine Verwah- Wir wollen und wir werden diesen Betreuungsbruch, ranstalten werden, deshalb gilt: Qualität vor Tempo. So der beim Übergang von der Kitazeit auf die Grund- vielfältig und unterschiedlich unsere Kinder sind, so viel- schulzeit in vielen Bundesländern besteht, beenden. Der fältig und unterschiedlich müssen auch die Nachmittags- Antrag der Grünen – das darf ich so sagen, Frau Kollegin angebote in den Grundschulen sein. Stumpp – enthält viele gute Punkte. Diese haben wir im Blick, und wir werden sicherlich einiges davon im Ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und setzentwurf wiederfinden. des Abg. Sönke Rix [SPD]) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21675

Maik Beermann (A) Ich möchte zum Abschluss noch einmal die wichtigs- für alle will, braucht ein Kooperationsgebot, damit Bund (C) ten Punkte zusammenfassen: Qualität vor Quantität, und Länder in zentralen Fragen zusammenarbeiten kön- größtmögliche Vielfalt, größtmögliche Vereinbarkeit nen. und größtmögliche Verlässlichkeit. Das ist unser (Beifall bei der FDP) Anspruch, das ist unser Grundsatz. Dem werden wir uns als Unionsfraktion treu bleiben. Ich besuche derzeit sehr viele Schulen, und was ich Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. dort sehe, ist mitunter wirklich schrecklich: Gerade im Schulbereich gibt es einen massiven Investitionsstau, (Beifall bei der CDU/CSU) und auch die Digitalisierung der Schulen geschieht viel zu langsam. Der Digitalpakt muss jetzt radikal entbüro- Vizepräsident Thomas Oppermann: kratisiert werden, damit das zur Verfügung gestellte Geld Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der endlich fließen kann. FDP der Kollege Peter Heidt. Als Bad Nauheimer Stadtverordneter weiß ich sehr (Beifall bei der FDP) genau, wie teuer gute Betreuung ist. Die Kommunen können diese Aufgabe nicht alleine stemmen. Dafür fehlt ihnen einfach das Geld; das muss man zur Kenntnis neh- Peter Heidt (FDP): men. Um den Bedarf zu decken, müssen nach einer Stu- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die der Bertelsmann-Stiftung mindestens 1,1 Millionen Mein Kollege Matthias Seestern-Pauly hat bereits auf Ganztagsplätze zusätzlich geschaffen werden, was jähr- einige Probleme hingewiesen, die dieses zentrale Vorha- lich 4,5 Milliarden Euro Personalkosten verursacht. ben mit sich bringt. Für viele berufstätige Eltern in Deutschland bricht das oft sehr mühsam austarierte Sys- Die Freien Demokraten teilen insoweit die Bedenken tem von Kinderbetreuung und Beruf zusammen, sobald bezüglich der tatsächlichen Umsetzung des Vorhabens. das Kind in die Grundschule kommt. Aber, liebe Grünen, in Ihrem Antrag erweitern Sie die Pläne der Regierung noch. Ihr Antrag mutet an wie ein Der Unterricht endet meistens bereits mittags, und so Wunschkonzert. Da ist bereits im Vorwort die Rede von werden die Eltern vor das Problem gestellt, wer dann die modernen Toiletten, Betreuung des Kindes übernimmt. Insbesondere Allein- erziehende stellt diese Situation vor eine echte Heraus- (Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE LINKE]: Toi- forderung. Für die Kinder bedeutet dieses Problem mög- letten sind doch wohl Basis!) licherweise einen Bruch in der frühkindlichen Bildung. vielfältigen Freizeitangeboten, gutem Essen, mindestens Vorwiegend alleinerziehende Mütter müssen von einer neun Stunden Betreuung usw. (B) Vollzeitstelle in Teilzeit wechseln und geraten damit in (D) ein Armutsrisiko. Das sind alles schöne Forderungen – keine Frage-, aber die eigentliche Stoßrichtung, nämlich der dringend erfor- Zur Verbesserung des Übergangs von frühkindlicher derliche bedarfsgerechte Ausbau von Ganztagsschulen, Bildung zur Grundschule müssen bedarfsgerecht qualita- geht dabei völlig verloren. Die Antwort auf die Frage, tiv hochwertige Ganztagsangebote für Kinder im Grund- woher Sie die Erzieherinnen und Erzieher sowie das schulalter entstehen. Geld nehmen wollen, geben Sie nicht. (Beifall bei der FDP) Die Freien Demokraten sind für ein realistisches Kon- Durch Ganztagsangebote wird die Vereinbarkeit von zept, damit im Jahr 2025 der Rechtsanspruch auf Ganz- Familie und Beruf endlich auch nach der Einschulung tagsbildung auch tatsächlich verwirklicht werden kann. des Kindes umgesetzt. Hier gibt es keine Pflicht, sondern Allein darauf sollten wir uns konzentrieren. das ist ein Angebot, liebe AfD. Das müsst ihr endlich mal (Beifall bei der FDP) verstehen!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vizepräsident Thomas Oppermann: der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion SES 90/DIE GRÜNEN) der SPD die Kollegin Marja-Liisa Völlers. Darüber hinaus sollte nach Ansicht der FDP der reine (Beifall bei der SPD) Betreuungsauftrag durch einen Bildungsauftrag ersetzt werden, sodass Kinder auch nach dem regulären Unter- richt gefördert werden. Marja-Liisa Völlers (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Sympathien, liebe Grüne, hegen wir als FDP natürlich ren! Im März dieses Jahres haben wir hier im Plenum das für die Forderung nach einer Aufhebung des Koopera- letzte Mal über Ganztagsbetreuung im Grundschulalter tionsverbotes. Dies fordern wir schon lange. gesprochen. Seitdem ist bekanntlich viel passiert. Corona (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: hat unser aller Leben verändert. Dann machen wir das jetzt gemeinsam!) Unser Vorhaben, allen Grundschulkindern eine gute So vernünftig es ist, dass Bund und Länder im Bereich Ganztagsbetreuung zu ermöglichen, ist dringlicher denn der Hochschulen zusammenarbeiten, so absurd ist es, je. Deshalb begrüße ich es, dass die Kolleginnen und dass diese Zusammenarbeit im Schulbereich weiter ver- Kollegen der Grünenfraktion heute dieses Thema mit boten bleiben soll. Wer wie die FDP weltbeste Bildung ihrem Antrag auf die Tagesordnung gesetzt haben. 21676 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Marja-Liisa Völlers (A) Für viele ist der Lernort Schule gerade zu Beginn der Deshalb haben wir vom Bund mit dem Konjunkturpaket (C) Pandemie fast ersatzlos weggebrochen. Nicht alle hatten dafür gesorgt, dass zusätzlich 500 Millionen Euro in die das Glück, zu Hause Vokabeln abgefragt zu werden und Hand genommen werden. Bund und Länder beraten gera- Antworten zu den Physikaufgaben zu bekommen. Nicht de noch die Details. Für uns als SPD steht fest: Es darf alle hatten das Glück, dass überhaupt jemand zu Hause nicht nur um administrative Fragen gehen. Wir wollen an war. Hier sind Lernrückstände entstanden, die schon jeder Schule Bildungstechnologen haben, die sowohl bei unter normalen schulischen Bedingungen schwer aufzu- technischen als auch bei medienpädagogischen Fragen holen sind. Das ist vor allem für Kinder und Jugendliche helfen können. mit besonderem Förderbedarf ein riesiges Problem. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Birke Der Bedarf an einer guten ganztägigen Lernumwelt ist Bull-Bischoff [DIE LINKE]) wahnsinnig groß. Ich bekomme ganz oft Zuschriften von Eltern aus meinem Wahlkreis dazu. Faire Chancen auf Sehr geehrte Damen und Herren, eine gute Ganztags- gute Bildung dürfen aber nichts mit Glück zu tun haben. betreuung schafft nicht nur gerechtere Chancen für alle Nicht der Geldbeutel der Eltern, die Herkunft oder der Kinder. Mit ihr schaffen wir auch ein Angebot für eine Wohnort dürfen ausschlaggebend dafür sein, welches bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Nicht alle Kind später einen guten Ausbildungsplatz bekommt und wollen Teilzeit arbeiten, um halbtags ihr Kind zu studiert und welches eben prekär beschäftigt ist. Es ist betreuen. Nicht alle können Teilzeit arbeiten und am unser aller Aufgabe, Strukturen zu schaffen, die allen Ende des Monats noch die Rechnungen bezahlen. Kindern von Beginn an die gleichen Chancen eröffnen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Insbesondere Alleinerziehende – das ist mir persönlich Der Rechtsanspruch auf eine gute Ganztagsbetreuung für ganz, ganz wichtig – sind auf eine gute Betreuungssitua- jedes Kind im Grundschulalter muss kommen. Da sind tion angewiesen. wir uns hoffentlich alle, bis auf die eine Fraktion, sehr (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der einig. CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Die Zahlen sprechen für sich: Über 70 Prozent der Für mich als Bildungspolitikerin und ausgebildete Eltern wünschen sich ein ganztägiges Betreuungsangebot Lehrerin ist natürlich klar: Es geht nicht darum, Kinder für ihre Kinder; aber nur etwa die Hälfte, etwa 50 Prozent, acht Stunden lang Unterrichtsstoff pauken zu lassen. Es finden einen Platz. Diese Lücke müssen wir schließen. Der Arbeitsmarkt benötigt die Fachkräfte; gleichzeitig (B) geht darum, Kindern Raum zur individuellen Entwick- (D) lung zu geben. Neben der schulischen Bildung muss es machen wir einen großen Schritt hin zu mehr Gleichstel- auch Möglichkeiten geben, ein Musikinstrument auszu- lung. probieren oder eine neue Sportart auszuüben. Dafür müs- (Beifall der Abg. Gabriele Katzmarek [SPD]) sen Schulen, Horte, Kinder- und Jugendhilfe, Sport- und Musikvereine auf Augenhöhe und gut miteinander arbei- Denn Corona hat ja leider eine Sache deutlich gezeigt: Es ten können. sind am Ende wieder die Frauen, die beruflich zurück- stecken und die Betreuung übernehmen. Die Lohn- und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Rentenlücke gibt es dann perspektivisch gleich mit auf der CDU/CSU) den Weg. Natürlich müssen unsere Ganztagsschulen auch gut (Beifall bei der SPD) digital aufgestellt sein. Gerade bei den Grundschulen sehen wir hier noch großen Nachholbedarf. Wir haben Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein guter Ganztag hier in den letzten Monaten einige Maßnahmen gemein- hat so viel Potenzial: gerechtere Bildungschancen, eine sam auf den Weg gebracht, um unsere Schulen besser und bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, mehr Fach- vor allem schneller digital auszustatten. Als Lehrerin, die kräfte auf dem Arbeitsmarkt und eben mehr Gleichstel- jahrelang an einer integrierten Gesamtschule unterrichtet lung. Er ist zu Recht ein Kernanliegen unserer Großen hat, liegt mir dabei eine Maßnahme besonders am Her- Koalition und zu Recht ein Herzensthema der SPD. 2 Mil- zen: die Unterstützung der Lehrkräfte bei Wartung und liarden Euro hatten wir dafür im Koalitionsvertrag ver- Einsatz der IT. Aus meiner persönlichen Erfahrung einbart. Anderthalb Milliarden Euro packen wir jetzt im heraus weiß ich, wie sehr sich Lehrkräfte hierbei Unter- Rahmen des Konjunkturpakets noch obendrauf. stützung wünschen. Nicht dass sie selber nicht in der Wir wissen, dass die Zeit drängt. Deshalb sollen Lage wären, das zu tun. Aber in der Praxis fehlt schlicht 750 Millionen Euro der zusätzlichen Mittel noch in die- die Zeit dafür. sem Jahr an die Länder gehen. Auch die Länder werden Technische Ausstattung, Datenschutz, Entwicklung ihren Beitrag leisten müssen. Da blicke ich vor allem in digitaler Unterrichtsmaterialien und deren pädagogisch die Reihen der Kolleginnen und Kollegen vom Bünd- wertvoller Einsatz – all das lässt sich nicht einfach so nis 90/Die Grünen; denn es sind vor allem Ihre Bundes- aus dem Ärmel schütteln, gerade nicht an unseren Grund- länder, in denen Sie die Regierung anführen oder daran schulen. beteiligt sind, die sich beim Rechtsanspruch eher ein bisschen querstellen und insbesondere beim Ganztags- (Beifall der Abg. Gabriele Katzmarek [SPD]) ausbau hinterherhinken. Ulrike Bahr hat es eben schon Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21677

Marja-Liisa Völlers (A) ausgeführt. Bitte bringen Sie Ihre Minister, insbesondere Damit haben beide die erforderliche Mehrheit von (C) Ministerpräsident Kretschmann, endlich auf die richtige 355 Stimmen nicht erreicht, und beide sind nicht gewählt Spur! worden.5) (Beifall bei der SPD) Wir fahren fort in der Debatte. Nächste Rednerin ist Dr. Dietlind Tiemann für die Fraktion der CDU/CSU. Damit die Umsetzung des Rechtsanspruchs gelingt, brauchen wir alle: Bund, Länder, Kommunen und natür- (Beifall bei der CDU/CSU) lich auch Schulleitungen und Lehrkräfte. Wenn diese Strukturen erst einmal geschaffen sind, dann können Dr. Dietlind Tiemann (CDU/CSU): wir als SPD es uns perspektivisch auch gut vorstellen, Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und dieses Angebot auf die fünften und sechsten Klassen zu Kollegen! Lassen Sie mich ganz kurz zurückschauen: erweitern. Der Ausbau der Kinderbetreuung ist seit fast 25 Jahren Herzlichen Dank. ein Kernanliegen der Union. 1996 führte die Union den Rechtsanspruch auf Kitabetreuung ab vier Jahren ein, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 2013 folgte der Rechtsanspruch auf Betreuung für unter der CDU/CSU) Dreijährige. Da ist es folgerichtig, dass sich Union und SPD auf das Anschlussstück sozusagen, die Ganztagsbe- Vizepräsident Thomas Oppermann: treuung im Grundschulalter, geeinigt haben. Das sind erst Vielen Dank. – Bevor wir in der Debatte fortfahren, mal die Realitäten. möchte ich gern die von den Schriftführerinnen und Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünenfraktion, Schriftführern ermittelten Ergebnisse der Wahlen in Ihrem Antrag sieht man vieles, was aus meiner Sicht 1) bekannt geben: schon auf den Weg gebracht wurde. Insofern ist es ja auch Wahl eines ordentlichen Mitgliedes des Sondergre- schön, zu erleben, dass die Opposition sich viel nicht nur miums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanis- mit Themen, sondern wirklich auch mit Inhalten nicht nur musgesetzes: Mitgliederzahl 709, abgegebene Stimmen befasst, sondern auch noch etwas niedergeschrieben hat, 662, ungültige Stimmzettel 3. Mit Ja haben gestimmt was schon mit dem übereinstimmt, was wir, denke ich, 144, mit Nein haben gestimmt 485, 30 Enthaltungen. gut auf den Weg gebracht haben. Trotzdem gibt es natür- Damit hat der Abgeordnete die erfor- lich für den Ausbau der Ganztagsbetreuung noch sub- derliche Mehrheit von mindestens 355 Stimmen nicht stanziell vieles, was zu tun ist. Da brauchen wir uns gar erreicht und ist nicht gewählt geworden.2) nichts vorzumachen; meine Vorredner haben dazu bereits (B) gesprochen. Deshalb sind wir wieder in der Situation, (D) (Beatrix von Storch [AfD]: Lächerlich!) dass sich der Bund entschieden hat, einzugreifen, auch wenn das nicht die Aufgabe des Bundes ist. Wahl eines stellvertretenden Mitglieds des Sondergre- miums gemäß § 3 Absatz 3 Stabilisierungsmechanismus- Sie kennen den Stand: Das Ganztagsfinanzierungsge- gesetz: Mitgliederzahl 709, abgegebene Stimmen 662, setz befindet sich bereits im parlamentarischen Prozess. ungültige Stimmzettel 4. Mit Ja haben gestimmt 133, Die zuständigen Ministerien, Bildung und Familie, gehen mit Nein haben gestimmt 495, Enthaltungen 30. Die hier finanziell schon über den Koalitionsvertrag hinaus. Abgeordnete Dr. Birgit Malsack-Winkemann hat damit Sie sind nämlich bereit – das ist vielfach betont worden –, die erforderliche Mehrheit von mindestens 355 Stimmen für die Jahre 2020 und 2021 3,5 Milliarden Euro zu ebenfalls nicht erreicht und ist nicht als stellvertretendes tragen. Würden wir in die Zukunft schauen, in die nächste Mitglied dieses Gremiums gewählt geworden.3) Legislatur, und könnten wir heute vielleicht alle mal einen Wunsch äußern, dann obliegt es uns auch ein Stück Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremiums gemäß weit, zu sagen: Wir schreiben das fort. Denn wir wissen: § 10a Absatz 2 der Bundeshaushaltsordnung: abgegebene Die Investitionskosten sind um ein Vielfaches höher. Die Stimmzettel 663, keine ungültigen. Mit Ja haben Situation der Kommunen und zum Teil auch der Länder gestimmt 132, mit Nein haben gestimmt 500, Enthaltun- ist schon schwierig; sie bedürfen sicherlich der Unter- gen 31. Der Abgeordnete Marcus Bühl hat die erforder- stützung. liche Mehrheit von mindestens 355 Stimmen nicht erreicht und ist damit nicht in das Vertrauensgremium Wir meinen es wirklich ernst mit der Umsetzung des gewählt.4) Rechtsanspruches. Das Ganztagsförderungsgesetz ist in der Ressortabstimmung genauso wie die Verwaltungsver- Wahl von zwei Mitgliedern des Gremiums gemäß § 3 einbarung zwischen Bund und Ländern. Das, was wir zu des Bundesschuldenwesengesetzes: abgegebene Stim- tun haben, haben wir auf den Weg gebracht. Wenn ich men 664; für den Kollegen Albrecht Glaser 112 Ja-, jetzt mal zum Bildungsministerium schaue und zu den 515 Neinstimmen, 37 Enthaltungen, keine ungültigen; Kollegen aus der SPD, die wir für die Themen Bericht- für den Kollegen Volker Münz 139 Jastimmen, 490 Nein- erstatter sind, kann ich im Hinblick auf die Zusammen- stimmen, 34 Enthaltungen und 1 ungültige Stimme. arbeit auf dem Gebiet nur sagen: Wir kommen gut voran und sind uns da auch relativ einig. 1) Namensverzeichnis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Wahlen siehe Anlage 5 (Beifall der Abg. Marja-Liisa Völlers [SPD]) 2) Ergebnis Anlage 2 3) Ergebnis Anlage 2 4) Ergebnis Anlage 3 5) Ergebnis Anlage 4 21678 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Dr. Dietlind Tiemann (A) Die Vorschläge in dem Antrag der Grünen sind schon Vizepräsident Thomas Oppermann: (C) sehr interessant. Ich denke, es sollte selbstverständlich Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Ziel sein – das haben wir alle hier schon gehört –, dass Norbert Müller für die Fraktion Die Linke. es um einen qualitativen Ausbau geht und nicht einfach nur um eine Aufbewahrung, darum, Zeiten zur Verfügung (Beifall bei der LINKEN) zu stellen, in denen die Kinder nicht nach Hause gehen müssen. Ich halte es für richtig, dass es die Wahl gibt, Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE): dass Eltern mit den Kindern entscheiden können: Wollen Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- wir die Ganztagsbetreuung, oder wollen wir ein Stück- ren! Den Grünen gebührt der Dank, heute diesen Antrag chen mehr Familienleben haben? Auch das ist an der hier vorgelegt zu haben; da will ich mich von meiner Stelle noch mal wichtig hervorzuheben. Vorrednerin klar abgrenzen. Ich finde vieles in dem (Beifall bei der CDU/CSU) Antrag der Grünen zum Rechtsanspruch auf Ganztag im Grundschulalter gut und richtig. Aber – aber! – was wir in Das Deutsche Jugendinstitut hat sehr deutlich dieser Debatte eigentlich gar nicht mehr gebrauchen kön- gemacht, wie hoch die Investitionskosten sind, aber nen und was ich echt auch nur noch schwer aushalte, sind auch, was als Nächstes folgt, die Betriebskosten. Wenn Sonntagsreden der Redner der Koalition darüber, wie wir über qualitativen Ausbau sprechen: Das Deutsche man den Ganztag jetzt mal machen müsste. Jugendinstitut hat bereits über die Öffnung von fünf Tagen die Woche und acht Stunden pro Tag in den (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Schulferien gesprochen. Auch das ist also finanziell NIS 90/DIE GRÜNEN) schon eingepreist. Werte Bundesregierung, liebe Koalitionsfraktionen, es ist Wenn wir Qualität wollen, dann muss klar sein, dass euer Job, hier einen Rechtsanspruch zu schaffen. Wir wir auf Augenhöhe arbeiten, im Zusammenwirken mit warten seit drei Jahren, dass das endlich ins Verfahren Eltern, Schule, Kinder- und Jugendhilfe, aber auch – kommt, nachdem im Koalitionsvertrag Anfang 2018 das ist aus meiner Sicht ganz wichtig hervorzuheben – geregelt wurde – ich lese Ihnen das gerne noch mal vor –: im Zusammenwirken mit Vereinen und Verbänden, die diese Ganztagsbetreuung gut unterstützen können; denn Wir werden einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbe- das darf nicht zulasten der Arbeit in den Vereinen gehen. treuung im Grundschulalter schaffen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass das der Koa- Grigorios Aggelidis [FDP]) litionsvertrag für die 19. und nicht für eine x-beliebige spätere Wahlperiode ist. (B) Deshalb bin ich froh, dass wir diese Anliegen zu einem (D) großen Teil in dem Antrag wiederfinden. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Auch ganz wichtig und schon vielfach angesprochen neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ist die Qualifizierungsoffensive für pädagogisches Fach- Nun hat die Bundesregierung vor fast einem Jahr das personal. Wir alle wissen: Ohne gut qualifiziertes Perso- Sondervermögen für den Ganztagsausbau aufs Gleis nal kann das Ganze nicht umgesetzt werden. Themen wie gehoben und inzwischen sogar noch mal Geld nachge- Schulgeld und Fragen der Finanzierung der Ausbildungs- schoben. Aber woran hängt es denn nun, dass der Rechts- berufe sind nun mal Aufgabe der Bundesländer. Es ist anspruch heute hier nicht vorliegt? Der Kollege Matthias wichtig, dass das angepackt wird; sonst können wir die Seestern-Pauly von der FDP hat gesagt: Man muss auf- Vervielfachung der Zahl derer, die in diesen Aufgaben passen, dass man aus den Fehlern lernt, die beim Kita- tätig sein sollen, wahrscheinlich gar nicht umsetzen. ausbau gemacht worden sind. – Ich würde das umdrehen, Praxisintegrierte Ausbildung ist eine gute Vorausset- lieber Matthias. Ich würde sagen: Die Bundesregierung zung, um Jugendliche zu gewinnen. Da haben wir ja hat aus dem gelernt, was beim Kitaausbau passiert ist. Die das große Glück, ein schönes Beispiel aus Baden-Würt- haben das nur nicht als Fehler verstanden. Sie haben den temberg zu haben. Der Pakt für gute Bildung und Betreu- Rechtsanspruch beschlossen, sich dafür kräftig auf die ung hat Schwung in genau dieses Anliegen gebracht. Die Schultern klopfen lassen, schöne Sonntagsreden gehal- Ministerin heißt Susanne Eisenmann, wie uns aus der ten, aber die Kohle im Wesentlichen nicht mitgegeben, Union bekannt ist. mit der Konsequenz, dass den Kitaausbau bezahlen durf- ten: Länder, Kommunen, Eltern – über zum Teil völlig Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich denke, es überteuerte Elternbeiträge – und die Erzieherinnen und ist wichtig, dass wir uns einig sind, Ganztagsbetreuung Erzieher in den Einrichtungen mit schlechten Arbeitsbe- qualitativ umzusetzen, mit den entsprechenden Erforder- dingungen und viel zu geringen Gehältern. Die haben den nissen. Aber es ist natürlich auch wichtig, dass wir das Kitaausbau bezahlt. Wenn der Plan ist, dass das beim nicht immer nur wiederholen, sondern auch endlich in die Ganztagsausbau, beim Rechtsanspruch auf Ganztag im Umsetzung gehen; das betrachte ich so. Insofern ist der Grundschulbereich, genauso laufen wird, Frau Ministe- Antrag nicht unbedingt erforderlich, um uns zu sagen, wo rin, dann werden die Länder das nicht mitmachen. Ich wir hinwollen. verstehe an der Stelle, ehrlich gesagt, auch, dass sie nicht Herzlichen Dank. bereit sind, dieselbe Nummer noch mal mitzumachen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ulli (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Nissen [SPD]) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21679

Norbert Müller (Potsdam) (A) Wenn der Rechtsanspruch auf Ganztag nun kommt und Dr. Silke Launert (CDU/CSU): (C) Sie sich verständigen können, dann eben nur, wenn die Launert! Wenn man es sich nicht merken kann: Wie die Bundesregierung tiefer in die Tasche greift. Das wird aus gute Laune, sage ich immer. Dann merkt man es sich den genannten Gründen anders gar nicht gehen. Abge- leichter. Ich sage das nur, weil Sie das jetzt schon zwei- sehen davon wissen wir, wie die Pandemie insbesondere mal, glaube ich, falsch gesagt haben. in die kommunalen Haushalte reinhaut. Das heißt, der Bund kann sich eben nicht damit begnügen, weniger als (Heiterkeit) 50 Prozent der Investitionskosten für die baulichen Maß- nahmen, für die Umsetzung des Ganztages zur Verfügung Vizepräsident Thomas Oppermann: zu stellen; da wird deutlich mehr fließen müssen. Und ja, Also: „gute Laune“. wir müssen auch über Betriebskosten und Personal reden, aber nicht nur darüber reden. Am Ende werden Sie das Geld dafür mitliefern müssen, damit das Ganze kommt. Dr. Silke Launert (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der LINKEN) Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Woran den- ken Sie, wenn Sie sich an Ihre Schulzeit zurückerinnern? Was brauchen wir? Erstens. Wir brauchen – das habe ich jetzt ausführlich beschrieben – endlich Ihren Vor- (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE schlag für die Umsetzung des Rechtsanspruches, damit GRÜNEN]: Gute Laune!) wir von den Sonntagsreden wegkommen. Zweitens. Wir Möglicherweise an Ihre Mitschüler, geschlossene brauchen verbindliche Qualitätsstandards, damit nicht das Gleiche passiert wie beim Kitaausbau, das heißt Freundschaften, Lehrer, die eine oder andere vielleicht eine Verbindlichkeit bei der Fachlichkeit, das heißt nicht optimale Klassenarbeit. Ja, Schule war und ist nicht nur ein Ort, an dem Bildung vermittelt wird. Schule war gesetzliche Regelungen, wie viele Fachkräfte pro Kind oder wie viele Kinder pro Fachkräfte. Das heißt, wir und ist auch ein Ort der persönlichen Weiterentwicklung, müssen die Beitragsfreiheit von vornherein mitdiskutie- ein Ort der Gemeinschaft, ein Ort der einen vielleicht das ganze Leben prägt. Und das gilt erst recht in der heutigen ren. Und das heißt: Wir brauchen ausreichend Fachkräfte. Zeit – da ist Ihr Antrag natürlich völlig berechtigt –, wenn Selbst die Koalition hat im Koalitionsvertrag ja schon festgeschrieben, dass die Herausforderungen beim Ganz- die Kinder einen großen Teil des Tages in Schule oder Hort verbringen. Die Eltern müssen ein gutes Gefühl tag nur umsetzbar sein werden, wenn ausreichend Fach- haben, ihre Kinder dort hinzugeben. Nur dann können kräfte zur Verfügung stehen; das steht wenige Absätze davor. Ich hoffe, das ist nicht die Hintertür, um am sie guten Gewissens Arbeit, Familie und Kinder verein- (B) Ende zu sagen: Der Rechtsanspruch kommt nicht. baren. (D) Sie von den Grünen wissen, dass uns das Thema Ganz- Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Was in der tagsbetreuung zu Recht beschäftigt. Ich sage jetzt nicht, Debatte fehlt, ist die Perspektive der offenen Kinder- und dass es seit Jahrzehnten die erste Forderung der CSU war; Jugendarbeit – das hat hier noch niemand gesagt – das war es nicht. Wir von der Frauenunion haben vor einigen Jahrzehnten massiv dafür gekämpft. Aber in (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE den letzten Jahren ist ein Durchbruch erfolgt. Warum? GRÜNEN]: Doch! Das haben alle Fraktionen Eine Volkspartei will die Menschen vertreten. Die Ein- erwähnt! Es haben alle darüber gesprochen!) stellung von Müttern, von Frauen, von Familien zur Ver- der Jugendverbände, der Sportverbände. Wir müssen auf- einbarkeit von Familie und Beruf hat sich in allen passen, dass die am Ende beim Ganztag nicht hinten Schichten verändert. Das ist natürlich etwas, was uns runterfallen. Deswegen sage ich: Guter Ganztag heißt umtreibt. Ich möchte, dass alle Frauen die Chance haben, auch, dass offene Kinder- und Jugendarbeit in den Kom- Kinder zu bekommen und trotzdem einen Beruf zu haben. munen am Ende nicht hinten runterfallen darf. Die Arbeit So wie das Elterngeld geholfen hat, dass mehr und mehr der Jugendverbände, der Sportvereine usw. usf. muss Frauen nach der Ausbildung den Mut hatten, Kinder zu weiter ermöglicht werden. Aber als Allererstes brauchen bekommen, so hilft eine gute Ganztagsbetreuung natür- wir Ihren konkreten Vorschlag, wie das Ganze gehen soll, lich, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Deshalb damit wir konkreter weiterdiskutieren können. ist diese Ganztagsbetreuung unverzichtbar. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Es ist schon angesprochen worden: Es ist nicht erklär- Charlotte Schneidewind-Hartnagel [BÜND- bar, dass für ein Kind im Kindergarten die Möglichkeit NIS 90/DIE GRÜNEN]) besteht, ganztags betreut zu werden, und kaum sind die Kinder in der Grundschule, muss die Mutter die Arbeits- Vizepräsident Thomas Oppermann: zeit reduzieren oder der Vater; aber zugegeben: Meistens Vielen Dank. – Letzte Rednerin in der Debatte für die sind es die Frauen. Sie verzichten nicht nur auf Einkom- Fraktion der CDU/CSU ist die Kollegin Dr. Silke Leu- men, sie verzichten auf Rentenanspruch, sie verzichten nert. oft auf berufliche Weiterentwicklung. Das können wir den Frauen nicht antun. Das kann sich aber auch unsere (Beifall bei der CDU/CSU) Wirtschaft, unsere Gesellschaft insgesamt nicht leisten. 21680 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Dr. Silke Launert (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und genug. Aber ich bin mir ganz sicher, dass der Rechtsan- (C) der SPD) spruch kommen wird. Seit Jahren laufen die Vorgesprä- che. Wenn es so einfach wäre, dann wäre es, glauben Sie Der Rechtsanspruch ist erst recht wichtig für Allein- mir, sicher schon geschafft und wir hätten mit Sicherheit erziehende; auch das ist mehrfach angesprochen worden. eine schöne Pressekonferenz gehabt. Unmöglich! Wie sollen sie das sonst machen? Sie können nicht nur halbtags arbeiten; davon werden sie in der Regel Ich will zu dem Angriff der FDP sagen: Ja, die Minis- nicht leben können. Wir können diesen Frauen, deren terin kann Marketing gut. Ich beneide sie immer, weil sie Anteil immer größer wird, nicht sagen: Lebt von das so gut kann. Aber sie arbeitet auch, sie macht auch Hartz IV! Der Staat finanziert euch. – Damit würden etwas. wir ihnen ein Modell vorgeben, das wir ihnen nicht geben wollen. Ich möchte nicht, dass Frauen in Armut fallen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nur weil wir sagen: Nein, wir sind nicht bereit, ein gutes der SPD) Nachmittagsangebot anzubieten. Auch bei dem Thema Ganztagsbetreuung geht sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und voran. Wir werden es sehen: Der Anspruch kommt. Ich der SPD) freue mich drauf. Es wird allerhöchste Zeit. Es ist toll, dass wir alle inzwischen fast dieselbe Meinung haben. Deshalb ist jetzt die Frage: Wie machen wir es? – Ich Ich hoffe, dass er dann auch durch den Bundesrat, die glaube, wenn selbst die AfD plötzlich sagt, sie habe Länderebene, geht. Wir müssen es endlich machen für nichts gegen Ganztagsbetreuung, dann lautet die Frage: all unsere Frauen. Wie schaffen wir das? Ich möchte noch ganz kurz etwas zur AfD sagen. Es ist Vielen Dank. kein Märchen mit der Vereinbarkeit von Familie und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Beruf. Es beschäftigt ganz viele Frauen, bestimmt auch einige Männer. Ich weiß, dass sich ganz viele Frauen schon relativ früh, schon zu Abiturzeiten, schon im Stu- Vizepräsident Thomas Oppermann: dium Gedanken machen: Wie kriege ich das alles auf die Vielen Dank, Frau Launert. Ich habe Ihren Namen Reihe? – Spätestens wenn sie Kinder haben, beschäftigen nicht richtig ausgesprochen; aber dafür durften Sie jetzt sie sich damit. Der Angriff auf die Vereinbarkeit von eine Minute länger reden. Wir sind also quitt. Familie und Beruf ist für jede Frau, die das jeden Tag irgendwie stemmen muss, zutiefst beleidigend. Das ist (Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: keine Floskel, das ist keine Phrase. Das ist für ganz viele Vielleicht kann man meinen Namen auch (B) Frauen in diesem Land elementar. falsch aussprechen!) (D) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- die Aussprache. ordneten der FDP) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Wir haben den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung Drucksache 19/22117 an die in der Tagesordnung aufge- im Koalitionsvertrag stehen. Ich weiß, Herr Müller, Sie führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Weitere Überwei- sind sehr ungeduldig. Herr Müller? – Er hört gar nicht zu. sungsvorschläge sehe ich nicht. Dann ist das so beschlos- Macht nichts; deshalb hat er vorhin auch nicht mitbekom- sen. men, dass die Arbeit der Sportvereine schon von anderen Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 q und 4 Kollegen angesprochen wurde. sowie die Zusatzpunkte 6 a bis 6 k und 22 a bis 22 e auf. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Verfahren ohne Debatte. NEN) Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überwei- Mein Sohn nutzt dieses Angebot der Sportvereine. sungen. Das sind die Tagesordnungspunkte 33 a bis Lassen Sie mich trotzdem eine Sache ergänzen. Ganz 33 n, 33 p, 33 q und 4 sowie Zusatzpunkte 6 a bis 6 c so einfach ist das nämlich nicht. Warum? Weil gerade die und 6 f bis 6 k sowie 22 a bis 22 e: ehrenamtlichen Sportvereine auf ehrenamtliche Helfer 33 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung angewiesen sind, die in der Regel nachmittags keine Frei- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu zeit haben. Das ist in der Theorie immer ein bisschen dem Protokoll vom 10. Oktober 2018 zur einfacher als in der Praxis. Deshalb finde ich den einen Änderung des Übereinkommens vom oder anderen Angriff auf die Ministerin unfair. Sie plant 28. Januar 1981 zum Schutz des Menschen das in Abstimmung mit allen Beteiligten, mit den Kom- bei der automatischen Verarbeitung per- munen, mit den Ländern. Es ist nicht allein Finanzie- sonenbezogener Daten rungssache des Bundes; mitnichten. Wir machen Druck mit diesem Rechtsanspruch. Ich weiß nicht, was man Drucksache 19/20920 daran kritisieren kann. Ohne Druck – sagen Sie doch Überweisungsvorschlag: selbst immer – funktioniert es nicht. Jetzt wird Druck Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz gemacht. Die Ministerin plant das Schritt für Schritt. Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Natürlich geht es dem einen oder anderen nicht schnell Ausschuss Digitale Agenda Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21681

Vizepräsident Thomas Oppermann (A) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung h) Erste Beratung des von der Bundesregierung (C) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Revision der Europäischen Sozialcharta finanziellen Entlastung der Kommunen vom 3. Mai 1996 und der neuen Länder Drucksache 19/20976 Drucksache 19/21753

Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Haushaltsausschuss (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Finanzausschuss Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen c) Erste Beratung des von der Bundesregierung i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Tierwohls in Tierhal- Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes tungsanlagen zur marktgestützten Beschaffung von Sys- temdienstleistungen Drucksache 19/20977 Drucksache 19/21979 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommu- Überweisungsvorschlag: nen (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft j) Erste Beratung des von der Bundesregierung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Regelung von d) Erste Beratung des von der Bundesregierung Ingenieur- und Architektenleistungen und eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur anderer Gesetze Modernisierung des Versicherungsteuer- Drucksache 19/21982 rechts und zur Änderung dienstrechtli- cher Vorschriften Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Drucksache 19/21089 Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen k) Erste Beratung des von der Bundesregierung Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) eingebrachten Entwurfs eines Dritten Geset- Ausschuss für Inneres und Heimat zes zur Änderung agrarmarktrechtlicher Bestimmungen (B) e) Erste Beratung des von der Bundesregierung (D) eingebrachten Entwurfs eines Ausführungs- Drucksache 19/21984 gesetzes zum Übereinkommen vom 9. Sep- Überweisungsvorschlag: tember 1996 über die Sammlung, Abgabe Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft und Annahme von Abfällen in der Rhein- l) Erste Beratung des von der Bundesregierung und Binnenschifffahrt (Binnenschifffahrt- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abfallübereinkommen-Ausführungsge- Digitalisierung von Verwaltungsverfahren setz – BinSchAbfÜbkAG) bei der Gewährung von Familienleistun- Drucksache 19/21733 gen

Überweisungsvorschlag: Drucksache 19/21987 Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend f) Erste Beratung des von der Bundesregierung Ausschuss Digitale Agenda eingebrachten Entwurfs eines Dritten Geset- m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kay zes zur Änderung des Direktzahlungen- Gottschalk, Albrecht Glaser, Franziska Durchführungsgesetzes Gminder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Drucksache 19/21749 Reform des Steuersystems – Abschaffung Überweisungsvorschlag: der Kaffeesteuer Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Drucksache 19/22198

g) Erste Beratung des von der Bundesregierung Überweisungsvorschlag: eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Finanzausschuss (f) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- Änderung des Grundgesetzes (Arti- lung kel 104a und 143h) Haushaltsausschuss n) Erste Beratung des von den Abgeordneten Drucksache 19/21752 Jens Maier, Stephan Brandner, Roman Überweisungsvorschlag: Johannes Reusch, weiteren Abgeordneten Haushaltsausschuss (f) Finanzausschuss und der Fraktion der AfD eingebrachten Ent- Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen wurfs eines Gesetzes zur Übertragung der 21682 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Vizepräsident Thomas Oppermann (A) Zuständigkeit für Zwangsvollstreckungen Überweisungsvorschlag: (C) in Forderungen und andere Vermögens- Finanzausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz werte auf Gerichtsvollzieher Drucksache 19/22190 f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Müller-Rosentritt, Alexander Graf Überweisungsvorschlag: Lambsdorff, Grigorios Aggelidis, weiterer Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Abgeordneter und der Fraktion der FDP p) Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanne Ferschl, Matthias W. Birkwald, Menschenrechtsverstöße verurteilen – Sylvia Gabelmann, weiterer Abgeordneter Demokratisierung und Opposition in und der Fraktion DIE LINKE Kambodscha stärken Für ein Ja zur Revidierten Europäischen Drucksache 19/22169 Sozialcharta Überweisungsvorschlag: Drucksache 19/22123 Auswärtiger Ausschuss

Überweisungsvorschlag: g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Pascal Kober, Linda Teuteberg, Stephan Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Thomae, weiterer Abgeordneter und der q) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fraktion der FDP Andrej Hunko, Heike Hänsel, Susanne Au-pair-Programme stärken – Einreisen Ferschl, weiterer Abgeordneter und der Frak- ermöglichen, Familien entlasten tion DIE LINKE Kollektivbeschwerden zur besseren Über- Drucksache 19/22115 wachung der Europäischen Sozialcharta Überweisungsvorschlag: ermöglichen – Zusatzprotokoll unter- Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zeichnen und ratifizieren h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Drucksache 19/22124 Gyde Jensen, Alexander Graf Lambsdorff, Überweisungsvorschlag: Peter Heidt, weiterer Abgeordneter und der Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Fraktion der FDP ZP 6 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Individuellen Sanktionsmechanismus ein- führen – Menschenrechtsverletzer gezielt (B) Katrin Helling-Plahr, Stephan Thomae, (D) Grigorios Aggelidis, weiteren Abgeordneten treffen und Straflosigkeit beenden und der Fraktion der FDP eingebrachten Ent- Drucksache 19/22112 wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ehe- und Geburtsnamensrechts – Echte Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (f) Doppelnamen für Ehepaare und Kinder Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Inneres und Heimat Drucksache 19/18314 Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Überweisungsvorschlag: i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Inneres und Heimat Britta Katharina Dassler, Stephan Thomae, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend , weiterer Abgeordneter und b) Erste Beratung des von den Abgeordneten der Fraktion der FDP Ulla Jelpke, Dr. André Hahn, Anke Erhalt des Landesstützpunktes Schwim- Domscheit-Berg, weiteren Abgeordneten men in Erlangen – Aufarbeitung des Ent- und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten scheidungsprozesses und Herstellung von Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung Transparenz für alle Betroffenen des Gesetzes über die Bundespolizei – Ein- führung einer Kennzeichnungspflicht Drucksache 19/22116 Überweisungsvorschlag: Drucksache 19/5178 Sportausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Inneres und Heimat (f) j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Jelpke, Michel Brandt, Dr. André Hahn, wei- c) Erste Beratung des von den Abgeordneten terer Abgeordneter und der Fraktion DIE Lisa Paus, Anja Hajduk, Canan Bayram, wei- LINKE teren Abgeordneten und der Fraktion Schutz- und Menschenrechte im europä- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten ischen Asylsystem in den Mittelpunkt stel- Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der len Abgabenordnung und des Einführungsge- setzes zur Abgabenordnung – Einziehung Drucksache 19/22125 von Taterträgen – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Drucksache 19/22113 Auswärtiger Ausschuss Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21683

Vizepräsident Thomas Oppermann (A) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Einrichtung einer bundesweiten Koordi- (C) Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union nierungsstelle zur Bekämpfung von Be- schneidungen von Frauen k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Bernd Baumann, Dr. Gottfried Curio, Drucksache 19/22188

Jochen Haug, weiterer Abgeordneter und Überweisungsvorschlag: der Fraktion der AfD Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Gesundheit Identität von Asylbewerbern in Deutsch- land vollständig aufklären e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Höchst, Marc Bernhard, Joana Cotar, Drucksache 19/22200 weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Überweisungsvorschlag: AfD Ausschuss für Inneres und Heimat Beschneidung – Interkulturelle Dolmet- ZP 22 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten scher einsetzen , Ulrich Oehme, , weiterer Abgeordneter und der Drucksache 19/22191 Fraktion der AfD Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Strategiewechsel in der Entwicklungszu- Ausschuss für Gesundheit sammenarbeit – Deutsche Sprache und Bildung für Frieden und Wohlstand in 4 Erste Beratung des von den Abgeordneten Fabio Entwicklungsländern De Masi, Jörg Cezanne, Klaus Ernst, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE ein- Drucksache 19/22197 gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Überweisungsvorschlag: rung des Einführungsgesetzes zur Abgaben- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- ordnung lung (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- Drucksache 19/22119 zung Ausschuss für Kultur und Medien Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar Friedhoff, Ulrich Oehme, Markus Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu (B) Frohnmaier, weiterer Abgeordneter und der (D) Fraktion der AfD überweisen. – Weitere Überweisungsvorschläge gibt es nicht. Deshalb wird so verfahren, wie vorgeschlagen. Strategiewechsel in der Entwicklungszu- sammenarbeit – Förderung kultureller Wir kommen nun zu drei Überweisungen, bei denen Identitäten zur Stärkung des gesellschaft- die Federführung strittig ist. Tagesordnungspunkt 33 o: lichen Zusammenhalts in Entwicklungs- Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter ländern Felser, Stephan Protschka, Franziska Gminder, Drucksache 19/22196 weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Überweisungsvorschlag: Verbot weiterer Neuerrichtungen von Wind- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung (f) industrieanlagen in deutschen Wäldern und Auswärtiger Ausschuss Forsten Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung Drucksache 19/22184 Ausschuss für Kultur und Medien Überweisungsvorschlag: c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Nicole Höchst, Frank Pasemann, Johannes Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Huber, weiterer Abgeordneter und der Frak- Federführung strittig tion der AfD Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/22184 an die in Ultraschalluntersuchung zum Schutz des der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- ungeborenen Lebens einsetzen gen. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Drucksache 19/22199 Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Ener- gie. Die Fraktion der AfD wünscht Federführung beim Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft. Ausschuss für Inneres und Heimat Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Ausschuss für Gesundheit Fraktion der AfD abstimmen. Wer stimmt für diesen d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Überweisungsvorschlag? – Das ist nur die Fraktion der Nicole Höchst, Martin Reichardt, Mariana AfD. Wer stimmt dagegen? – Das ist die übrige Mehrheit Iris Harder-Kühnel, weiterer Abgeordneter des Hauses. Damit ist der Überweisungsvorschlag abge- und der Fraktion der AfD lehnt. 21684 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Vizepräsident Thomas Oppermann (A) Ich lasse nun über den ursprünglichen Überweisungs- gen. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen (C) vorschlag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD, Federführung beim Finanzausschuss. Die Fraktion der Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Ener- FDP wünscht Federführung beim Ausschuss für Bildung, gie, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungs- Forschung und Technikfolgenabschätzung. vorschlag? – Das sind alle Fraktionen des Hauses mit Ausnahme der AfD. Wer stimmt dagegen? – Das ist die Wir stimmen zuerst über den Überweisungsvorschlag AfD selbst. Damit ist der Überweisungsvorschlag mit der der Fraktion der FDP ab. Wer stimmt für diesen Vor- Mehrheit des Hauses angenommen. schlag? – Die FDP, die AfD, die Grünen und Die Linke, also alle Oppositionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Zusatzpunkt 6 d: Das sind die Fraktionen der SPD und CDU/CSU. Damit Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla ist der Überweisungsvorschlag mit der Mehrheit des Jelpke, Dr. André Hahn, Gökay Akbulut, weiterer Hauses abgelehnt. Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Keine Kriegsopferleistungen für ehemalige Fraktionen der CDU/CSU und SPD, also Federführung Waffen-SS-Freiwillige beim Finanzausschuss, abstimmen. Wer stimmt für die- sen Überweisungsvorschlag? – Das sind die Koalitions- Drucksache 19/14150 fraktionen. Wer stimmt dagegen? – Das sind wiederum Überweisungsvorschlag: alle Oppositionsfraktionen. Damit ist der Überweisungs- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) vorschlag mit der Mehrheit des Hauses angenommen. Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 b und 34 c, Federführung strittig Zusatzpunkt 7 sowie Tagesordnungspunkt 33 r auf. Es Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/14150 an die in denen keine Aussprache vorgesehen ist. der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- Tagesordnungspunkt 34 b: gen. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Beratung der Beschlussempfehlung und des Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Aus- Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, schuss für Inneres und Heimat. Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvor- Antrag der Abgeordneten Beate Walter- schlag der Fraktion Die Linke. Wer stimmt für diesen Rosenheimer, Claudia Roth (Augsburg), Dr. Anna (B) Überweisungsvorschlag? – Das ist die Fraktion Die Lin- Christmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- (D) ke. Wer stimmt dagegen? – Das sind SPD, Grüne, CDU/ tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CSU und FDP. Wer enthält sich? – Bei Enthaltung der Grenzenloser Zusammenhalt – Internationa- AfD ist dieser Überweisungsvorschlag mit den Stimmen len Jugendaustausch krisenfest aufstellen der Mehrheit des Hauses gegen die Stimmen der Linken abgelehnt. Drucksachen 19/20164, 19/22250 Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Federführung lung auf Drucksache 19/22250, den Antrag der Fraktion beim Ausschuss für Arbeit und Soziales, abstimmen. Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/20164 abzu- Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Das lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – sind die Koalitionsfraktionen, die FDP und die Grünen. Das sind die Fraktionen SPD, CDU/CSU und AfD. Wer stimmt dagegen? – Die Linke. Enthaltung? – AfD. Gegenprobe! – Das sind die Grünen und Die Linke. Ent- Damit ist der Überweisungsvorschlag angenommen. haltung? – Die FDP. Damit ist die Beschlussempfehlung mit der Mehrheit des Hauses angenommen. Zusatzpunkt 6 e: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. h. c. Tagesordnungspunkt 34 c: , Katja Hessel, Katja Suding, Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP schusses für Recht und Verbraucherschutz Innovation trotz Corona-Krise – Bescheini- (6. Ausschuss) gungen für steuerliche Forschungsförderung zu den Streitverfahren vor dem Bundes- jetzt schnellstmöglich erteilen verfassungsgericht 2 BvR 1651/15 und 2 BvR Drucksache 19/20781 2006/15 Überweisungsvorschlag: Drucksache 19/22210 Finanzausschuss (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Der Ausschuss empfiehlt, in den Streitverfahren eine Haushaltsausschuss Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, Federführung strittig eine Prozessbevollmächtigte oder einen Prozessbevoll- Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der mächtigten zu bestellen. Wer stimmt für diese Beschluss- Fraktion der FDP auf Drucksache 19/20781 an die in empfehlung? – Das gesamte Haus. Damit ist die Be- der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- schlussempfehlung einstimmig angenommen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21685

Vizepräsident Thomas Oppermann (A) Zusatzpunkt 7: Zusatzpunkt 8 b: (C) Beratung der Beschlussempfehlung und des Wahlvorschlag der Fraktion der AfD Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur- schutz und nukleare Sicherheit (16. Ausschuss) Wahl von Mitgliedern des Kuratoriums der zu der Verordnung des Bundesministeriums für „Bundesstiftung Magnus Hirschfeld“ Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Drucksache 19/21839 Verordnung über Sicherheitsanforderungen Der Wahlvorschlag der Fraktion der AfD liegt auf und vorläufige Sicherheitsuntersuchungen Drucksache 19/21839 vor. Wer stimmt für diesen Vor- für die Endlagerung hochradioaktiver Abfälle schlag? – Das ist die Fraktion der AfD. Wer stimmt dage- Drucksachen 19/19291, 19/19655 Nr. 2.1, gen? – Die übrigen Fraktionen des Hauses. Enthaltun- 19/22239 gen? – Zwei Enthaltungen in der CDU/CSU. Damit ist der Wahlvorschlag bei zwei Enthaltungen abgelehnt. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 19/22239, der Ver- Zusatzpunkt 8 c: ordnung der Bundesregierung auf Drucksache 19/19291 Wahlvorschlag der Fraktion der AfD zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? – Das sind die Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der Grünen, CDU/CSU und FDP. Wer stimmt dagegen? – Stiftung „Deutsches Historisches Museum“ Die AfD. Wer enthält sich? – Die Fraktion Die Linke. Drucksache 19/21840 Bei Enthaltung der Linken und gegen die Stimmen der AfD ist die Beschlussempfehlung mit der Mehrheit des Wir kommen zu dem Wahlvorschlag der Fraktion der Hauses angenommen. AfD auf Drucksache 19/21840. Wer stimmt für diesen Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Wahlvorschlag? – Das sind die Abgeordneten der AfD. Drucksache 19/22239 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent- Wer stimmt dagegen? – Das sind alle anderen Fraktionen. schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss- Enthaltungen? – Keine. Damit ist der Wahlvorschlag empfehlung? – Die Linke, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, abgelehnt. CDU/CSU und FDP. Wer stimmt dagegen? – Die AfD. Zusatzpunkt 8 d: Die Beschlussempfehlung ist damit mit der Mehrheit des Hauses angenommen. Wahlvorschlag der Fraktion der AfD Tagesordnungspunkt 33 r: Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der (B) Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und (D) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lisa Zukunft“ Paus, Dr. Franziska Brantner, Anja Hajduk, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Drucksache 19/21841 NIS 90/DIE GRÜNEN Wir kommen zu dem Wahlvorschlag der Fraktion der Öffentliches Country-by-Country-Reporting AfD auf Drucksache 19/21841. Wer stimmt für diesen zur Abstimmung bringen – EU-Ratspräsi- Wahlvorschlag? – Das sind wiederum die Abgeordneten dentschaft als Chance nutzen der AfD. Wer stimmt dagegen? – Die übrigen Fraktionen Drucksache 19/22206 des Hauses. Enthaltungen? – Damit ist dieser Wahlvor- schlag mehrheitlich abgelehnt. Wer stimmt für diesen Antrag? – Bündnis 90/Die Grü- nen und Die Linke. Wer stimmt dagegen? – SPD, CDU/ Zusatzpunkt 8 e: CSU, FDP und AfD. Damit ist der Antrag mit großer Wahlvorschlag der Fraktion der AfD Mehrheit des Hauses abgelehnt. Wahl von Mitgliedern des Stiftungsrates der Ich rufe die Zusatzpunkte 8 a bis 8 e auf: Weitere „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ Wahlen zu Gremien. Diese Wahlen werden wir mittels gemäß § 19 Absatz 2 Satz 1 Nummer 1 des Handzeichen durchführen. Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Deut- Zusatzpunkt 8 a: sches Historisches Museum“ Wahlvorschlag der Fraktion der AfD Drucksache 19/21842 Wahl eines Mitglieds des Kuratoriums der Wir kommen zu dem Wahlvorschlag der Fraktion der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden AfD auf Drucksache 19/21842. Wer stimmt für diesen Europas“ Wahlvorschlag? – Die Abgeordneten der AfD. Wer Drucksache 19/21838 stimmt dagegen? – Die übrigen Fraktionen des Hauses. Enthaltungen? – Damit ist der Wahlvorschlag mehrheit- Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktion der AfD lich abgelehnt. auf Drucksache 19/21838 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Das ist die Fraktion der AfD. Wer Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf: stimmt dagegen? – Das sind FDP, CDU/CSU, Bünd- Aktuelle Stunde nis 90/Die Grünen, SPD und Linke. Wer enthält sich? – Damit ist der Wahlvorschlag mit der Mehrheit des Hauses auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und abgelehnt. SPD 21686 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Vizepräsident Thomas Oppermann (A) Keine Toleranz für die Feinde der Demokra- Unsere Strafverfolgungsbehörden verfolgen die Straf- (C) tie: Extremismus bekämpfen, Polizei und Jus- taten objektiv und neutral, und unsere Sicherheitsbehör- tiz stärken den lassen sich nicht ideologisch instrumentalisieren. Deswegen möchte ich an dieser Stelle für die gesamte Ich rufe den ersten Redner auf. Das ist der Parlamen- Bundesregierung noch einmal betonen: Wir sind auf kei- tarische Staatssekretär Dr. Günter Krings für die Bundes- nem Auge blind, wir verfolgen Rechtsextremismus, Anti- regierung. semitismus, Linksextremismus und Islamismus gleicher- (Beifall bei der CDU/CSU) maßen und schon seit Langem mit der gebotenen Härte und Konsequenz. Wir vernachlässigen keinen Bereich, auch wenn aufgrund eines Vorfalls dann gerade ein ande- Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär beim Bundes- rer Bereich im Mittelpunkt der politischen Debatte steht. minister des Innern, für Bau und Heimat: Wir nehmen die Feinde der Demokratie mit einem 360- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- Grad-Blick ins Visier. nen und Kollegen! Wir haben in den letzten Jahren schmerzhaft feststellen müssen: Demokratie und Freiheit (Beifall bei der CDU/CSU) sind keine Selbstverständlichkeiten. Wir müssen uns viel- Die jüngsten Beispiele liefern die erschreckenden Vor- mehr täglich für sie einsetzen. Dies geschieht in diesem fälle in Leipzig am vergangenen Wochenende und die Hohen Haus; denn offener Meinungsstreit und das Ausschreitungen bei den Coronademonstrationen in Ber- Ringen um Meinung und Mehrheit sind für unseren lin am vorvergangenen Wochenende. Auf beide möchte freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat existenzielle ich kurz eingehen. Voraussetzungen. Aber so notwendig und richtig der lei- denschaftliche politische Streit auch ist: Im Kampf gegen In Leipzig gab es mehrtägige Straßenschlachten von Extremisten sollten sich alle Demokraten stets einig sein. Linksextremisten: dreizehn Polizeibeamte wurden ver- letzt, sieben Einsatzfahrzeuge beschädigt, die Piloten (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie eines Polizeihubschraubers wurden mit einem Laser des Abg. Konstantin Kuhle [FDP]) geblendet, und wir wissen, wie gefährlich so etwas sein Deshalb ist es eine demokratische Minderleistung, kann. Bei den Krawallen in Leipzig handelt es sich nicht wenn Gewalttaten und extremistische Vorfälle dann etwa um ein Einzelphänomen. Im Bereich der „politisch jeweils nur von denjenigen instrumentalisiert oder ange- motivierten Kriminalität – links“ mussten wir zuletzt prangert werden, in deren politische Agenda das gerade auch eine deutliche Steigerung feststellen, von knapp hineinpasst. Haben wir es mit einem rechtsextremisti- 8 000 Straftaten 2018 auf knapp 10 000 im Jahre 2019. schen Vorfall zu tun: dröhnendes Schweigen von rechts, Wir beobachten eine lebensbedrohende Gewaltbe- (B) Beschwichtigungen und Relativierungen von rechts, ver- reitschaft, die Bestandteil politischer Agitation ist. Die (D) einzelt gar Rechtfertigung der Taten, hingegen Reaktio- Straftaten der autonomen Szene sind geprägt durch gut nen von Unterstellungen bis hin zu Untergangsszenarien vorbereitete, konspirativ durchgeführte Überraschungs- von links. Haben wir es mit einem linksextremistischen angriffe. Mit steigender Gewaltbereitschaft werden Men- Vorfall zu tun, erleben wir das oft spiegelbildlich: die schen, die nicht dem eigenen Weltbild entsprechen, gera- gleichen Beschwichtigungen von links und wilde dezu gejagt und angegriffen. Betroffen sind der politische Beschimpfungen von rechts. Gegner, Polizeibeamte, staatliche Einrichtungen, in- zwischen auch Privatpersonen und Mitarbeiter von Meine Damen und Herren, ich finde, das ist dann auch Unternehmen. Zudem werden immer häufiger Sachbe- keine gute Idee, wenn diejenigen, die zumindest partiell schädigungen in Millionenhöhe verursacht. Die Bundes- Verständnis für extremistische Taten und extremistische regierung verurteilt dies aufs Schärfste; bei Gewalt gibt Ränder haben, Verantwortung für die Sicherheit unseres es keine Toleranz. Landes tragen würden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- SPD und der FDP) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ein sicherlich anders gelagertes Bedrohungsszenario Doch Demokratie muss nicht nur in diesem Hohen haben wir am vorvergangenen Wochenende in Berlin Haus verteidigt und gelebt werden, vielmehr müssen erlebt: Eine unheilvolle Mischung von Demonstranten wir sie im ganzen Land gegen Extremisten verteidigen. überwand die Absperrgitter zu diesem Hohen Haus, um Die Gesetze, die wir uns geben, müssen eingehalten, zumindest das Portal des Reichstagsgebäudes einzuneh- Rechte anderer geschützt werden. Den Respekt vor Recht men. Das äußere Erscheinungsbild dieses Aufmarsches und Gesetz, ja, den fordern wir natürlich von jedermann war unter anderem von schwarz-weiß-roten Reichsflag- ein in diesem Land, aber ihre Durchsetzung im Konflikt- gen und Reichskriegsflaggen gekennzeichnet. Reichsbür- fall ist letzten Endes Aufgabe der Polizei und Sicherheits- ger und Rechtsextremisten waren in Berlin prominent behörden sowie der Justiz in Ländern und Bund. Und vertreten. ihnen, den Mitarbeitern dort, gilt mein besonderer Dank dafür, dass sie jeden Tag ihren Kopf zum Schutz unserer Meine Damen und Herren, dieses Haus ist Zentrum der demokratischen Grundordnung hinhalten. Demokratie, es repräsentiert das ganze Volk. Es steht keiner noch so lautstarken Minderheit – ich betone: kei- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP ner noch so lautstarken Minderheit – zu, dieses Gebäude und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie symbolisch für sich zu vereinnahmen oder als Werbeflä- bei Abgeordneten der LINKEN) che zu missbrauchen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21687

Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings (A) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (Zuruf: Wann denn?) (C) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wer demokratiefeindliche Bestrebungen beklagt, muss Eine Demokratie muss auch ihre Symbole verteidigen. den Sicherheitsbehörden die erforderlichen Kompeten- Bilder, die die Würde dieses Hauses verletzen, schaden zen geben, um sie eben auch zu bekämpfen. Genauso dem Ansehen unseres Landes insgesamt. Das ist nicht nötig ist übrigens eine enge Kooperation zwischen hinnehmbar. Wir wollen und werden das zukünftig ver- Sicherheitsbehörden und den zivilgesellschaftlichen Ini- hindern. Ich halte daher die begonnene Überprüfung des tiativen für Prävention. räumlichen Schutzes des Deutschen Bundestages für Meine Damen und Herren, mein Appell richtet sich richtig und für geboten. daher an alle Demokraten: Seien wir konsequent im Für die Bewertung der Demonstrationen gegen die Kampf gegen gewalttätige und extremistische Bestrebun- Coronamaßnahmen insgesamt gilt: Sowohl Verharmlo- gen gegen unseren Rechtsstaat! Das heißt: Keine Tole- sung als auch Dramatisierung verbieten sich natürlich. ranz für die Feinde der Demokratie – egal aus welcher Es ist selbstverständlich legal, auch legitim, gegen staat- Ecke sie kommen! liche Maßnahmen zu protestieren – selbst wenn das auf (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der der Basis von Verschwörungsmythen oder sonstigem FDP) Unsinn geschieht, meine Damen und Herren.

Aber Verfassungsschutz und Polizei beobachten sehr Vizepräsident Thomas Oppermann: genau, dass Rechtsextremisten und Reichsbürger bei die- Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der sem Thema ihre Chance sehen, für ihre üblen Ideologien AfD ist der Kollege Dr. Gottfried Curio. zu werben. Und auch diejenigen, die selbst nicht extre- mistisch sind, haben ganz offenkundig ein echtes Demo- (Beifall bei der AfD) kratieproblem, wenn sie nichts dabei finden, Seite an Seite mit erkennbaren Demokratiefeinden aufzutreten. Dr. Gottfried Curio (AfD): (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNIS- ren! Was sind Fake News? Zum Beispiel, einen Fototer- SES 90/DIE GRÜNEN) min auf der Reichstagstreppe samt Schwenken interna- tionaler Fahnen zum Sturm auf den Reichstag Denn der Rechtsextremismus als Gesamtphänomen wird aufzublasen. Was war es wirklich? O-Ton: Wir gehen zu einer immer ernsteren Gefahr. Die Zahl der „politisch da hoch und setzen uns friedlich auf die Treppe und motivierten Straftaten – rechts“ stieg von 20 431 im Jahr zeigen Präsident Trump, dass wir den Weltfrieden wol- (B) 2018 auf 22 342 im Jahr 2019. Und die Taten, die Blut- len. (D) taten von Kassel, Hanau und Halle, stehen für die zuneh- mende Brutalität und Menschenverachtung dieser Form (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU, der des Extremismus. SPD und der LINKEN) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein- Absperrungen zu durchbrechen, ist natürlich inakzep- mal auf das Thema Corona zurückkommen. Unabhängig tabel, aber nicht minder, das zum Putsch von Extremisten von jeglichem Demonstrationsgeschehen ist für mich klar hochzustilisieren, nur um nicht genehme Protestler per und wichtig, dass wir sowohl der kleinen Minderheit von Kontaktschuld einzuschüchtern. Bei „Black Lives Mat- Maßnahmengegnern als auch der großen Mehrheit der ter“ hörte man nichts von Infektionen. Solch zweierlei Befürworter der ergriffenen Schutzvorkehrungen jeden Maß macht Sie unglaubwürdig. Hunderttausende Mitbür- Tag unsere Maßnahmen erklären und begründen müssen. ger sind besorgt um den Bestand der Grundrechte unter Viele andere Staaten mögen erheblich tiefere Eingriffe in dieser Regierung. Diese Menschen, die Sie als rechts- die Freiheitssphäre ihrer Bürger ergreifen, als wir das tun. extrem diffamieren, die wollen nur ihr Leben zurück. Aber auch die deutsche Politik zur Pandemiebekämpfung (Beifall bei der AfD) müssen wir immer wieder aufs Neue auf ihre Verhältnis- mäßigkeit prüfen und nötigenfalls dann auch im Einzel- Diese Fahne gibt nämlich nichts her, Schwarz-Weiß- nen anpassen. Rot ist nicht einmal eine Ordnungswidrigkeit. Bei der Treppe, die dann bleibt, da ist die künstliche Erregung Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere Ant- eine ganz neuentdeckte Empfindlichkeit. 2010 stürmen wort auf alle extremistischen Bedrohungen muss lauten: Hunderte Atomkraftgegner die Reichstagstreppe – die Stärken wir unsere Demokratie, und stärken wir unsere Polizei lässt sie gewähren. Sicherheitsbehörden, versetzen wir sie in die Lage, den Gefahren wirksam zu begegnen! Ganz konkret heißt das (Widerspruch bei Abgeordneten des BÜND- auch – denn die Wahrheit ist immer konkret –: Statten wir NISSES 90/DIE GRÜNEN) etwa den Verfassungsschutz so aus, dass er auch in der Diesen Juni stürmt „Extinction Rebellion“ in den Reichs- digitalen Welt seine Aufgabe als Frühwarnsystem unserer tag, wirft Flugblätter – keine Reaktion. Demokratie effektiv ausüben kann. (Gabriele Katzmarek [SPD]: Stimmt doch gar (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nicht! So ein Blödsinn!) ordneten der SPD) Tags darauf klettert Greenpeace auf den Reichstag, lässt Die Anpassung des Verfassungsschutzgesetzes etwa sich abseilen, um ein Banner zu enthüllen – alles eitel muss deshalb nun zügig erfolgen. Wohlgefallen. Aber diese Treppenselfietruppe als Quasi- 21688 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Dr. Gottfried Curio (A) putschisten hinzustellen, das ist doch Heuchelei vom Überlegenheitsfantasien des koranischen Scharia-Islam! (C) Feinsten. Keiner versuchte, gewaltsam in das Gebäude Salafisten und Muslimbruderschaft unterwandern einzudringen, nicht eine Scheibe ging zu Bruch. Dieses Moscheen und Vereine, und obwohl der Verfassungs- Belügen der Bevölkerung muss ein Ende haben! Der schutz den größten Teilverband des Zentralrats der Mus- „Sturm auf den Reichstag“ war nur ein Sturm im Wasser- lime den rechtsextremistischen Grauen Wölfen zurech- glas. net, will der Innenminister weiter mit denen kuscheln – (Beifall bei der AfD – Gabriele Katzmarek Verharmlosen ist wichtiger. [SPD]: Übelst! Übelst! Übelst!) (Beifall bei der AfD) Aber es gibt eine sichere Methode, den Rechtsstaat zu Dabei hatte im letzten Jahr der Generalbundesanwalt zerstören: die alltägliche Straßengewalt gegen Recht und 60 Prozent der Verfahren im islamistischen Bereich, Hun- Ordnung zu bagatellisieren. Da wird die Ordnungsmacht derte Gefährder werden einfach nicht abgeschoben, müs- des Staates bekämpft: in Stuttgart, Frankfurt, Leipzig. sen millionenteuer überwacht werden. Ein einzelner Jeder Flaschen- und Steinwurf geschieht mit bedingtem Syrer kostet jetzt schon 5 Millionen Euro. Sein Haftbe- Tötungsvorsatz. Da wird der Staat in seiner Polizei diffa- fehl wird nicht ausgeführt. Er läuft draußen herum. miert – mit einer unangemessenen, herbeigezerrten Poli- Noch einmal: Gefährder sind die Personen, denen zeiproblem-Debatte. Das eine, die angebliche Bedrohung jederzeit eine schwere Gewalttat bis hin zum Terroran- des Reichstags, ein totaler Fake, schlag zugetraut wird. Abschiebehaft? Pustekuchen. (Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LIN- Ausweisung? In Berlin doch nicht. Das sind Hunderte. KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Diese Regierung gefährdet fahrlässig das Leben unserer NEN) Bürger, meine Damen und Herren. das andere, das ist die tatsächliche Verachtung des (Beifall bei der AfD – Gabriele Katzmarek Rechtsstaats, mit angeheizt von Politik und Medien. [SPD]: Pfui!) (Beifall bei der AfD) Was für eine Heuchelei: Tagelanger Straßenkrieg in Leipzig – seit Jahren geduldet ( [SPD]: Das stimmt!) von der CDU. Die SPD-Vorsitzende Esken sieht sich an Ein paar Leute auf den Reichstagstreppen sind eine der Seite dieser antidemokratischen Faschisten, kurz Staatskrise, aber drei Tage Bürgerkrieg gegen die Polizei Antifa. sind diesen Regierenden kein Wort wert, und Hunderte ( [SPD]: So ein Unfug! – Gegenruf Zeitbomben auf den Straßen lässt man einfach herum- von der AfD: Hat sie doch gesagt!) laufen. (B) (D) Vom Bundespräsidenten keine Einladung der Polizisten, (Gabriele Katzmarek [SPD]: Oder im Parla- die da für den Staat ihre Knochen hinhalten – das ist ja ment!) auch der Bundespräsident, der eine gewaltverherrlichen- Aber Menschen, die statt überzogener Maulkorbedikte de Punkband empfiehlt, mit O-Ton: „Die Bullenhelme, faktenbasierte Maßnahmen mit Augenmaß wollen, sollen die sollen fliegen. Eure Knüppel kriegt ihr in die Fresse kriminalisiert werden. rein!“ Nein, meine Damen und Herren, eine Regierung, die Nicht der Reichstag braucht einen Graben, ihre Kritiker zu Staatsfeinden erklärt, die ist selbst eine (Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Widerwärtig!) Gefahr für die Demokratie. sondern unsere Polizei braucht Schutz – gegen Straßen- (Beifall bei der AfD) terror und Medienhetze. (Thomas Hitschler [SPD]: Wir haben ja gese- Vizepräsident Thomas Oppermann: hen, wie Sie zur Polizei stehen!) Nächste Rednerin ist für die Bundesregierung die Bun- desministerin der Justiz. Bei der „taz“-Äußerung – Polizisten auf den Abfall, unter ihresgleichen – stand die Kanzlerin aufseiten der Anti- (Beifall bei der SPD) polizeihetzler. Straftaten anzeigen kostet nämlich linke Stimmen, also lieber Hände weg. Das war Rückende- Christine Lambrecht, Bundesministerin der Justiz ckung für die linken Schläger von Stuttgart und Frank- und für Verbraucherschutz: furt. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- (Beifall bei der AfD) ren! Helmut Schmidt hat einmal gesagt: „Charakter zeigt sich in der Krise.“ Unsere Demokratie hat sich in der Und das ist nur der linke Terror. In Berlin gab es gerade Coronakrise sehr charakterfest gezeigt. wieder einen islamistischen Anschlag. Wieder ein abge- lehnter Asylbewerber. Rückführung ins Erstzutrittsland (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Finnland? Fehlanzeige! In den Irak? Auch nicht. Obwohl DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der der „Islamische Staat“ dort besiegt ist. Der will mit einem CDU/CSU) Wagen auf der Autobahn Leute totfahren, alles mit „Alla- Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik muss- hu akbar“ und Gebetsteppich. Ohne seriöse Prüfung wird ten wir die Freiheit von so vielen Menschen so schmerz- er schnell in Richtung Klapse entsorgt – nur nicht aus- lich einschränken. Doch unsere Demokratie hat diese einandersetzen mit dem Hintergrund, den gewalttätigen gewaltige Herausforderung gemeistert: ruhig, besonnen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21689

Bundesministerin Christine Lambrecht (A) und mit Augenmaß, allein zum Schutz von Leben und konzentrieren, die mit anderen gemeinsam die Dinge (C) Gesundheit. Unser demokratisches Gemeinwesen war zum Besseren verändern wollen. Das ist diese solidari- lernfähig. Gab es neue wissenschaftliche Erkenntnisse, sche Mehrheit. Es sind die Eltern, die ihre Kinder zu haben wir die Maßnahmen angepasst. Die gerichtliche Toleranz, Mitmenschlichkeit und Respekt erziehen, und Kontrolle hat durchgehend funktioniert. Die Maßnahmen alle, die sich tagein, tagaus bemühen, einen konstruktiven wurden überwiegend von den Gerichten bestätigt. Wenn Beitrag – einen konstruktiven Beitrag! - ausnahmsweise einmal nicht, dann wurden sie korrigiert. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Und die demokratische Debatte? Sie war so lebhaft wie selten. Wann können wir die Maßnahmen endlich zu leisten. Ich kann all diejenigen nicht hier aufzählen. lockern? Brauchen wir eine Maskenpflicht? Wenn ja, Diese solidarische Mehrheit ist keineswegs homogen, wo? Was bedeutet die Kontaktbeschränkung für die meine Damen und Herren. Sie ist bunt, und sie ist viel- Familien? All das und vieles mehr wurde ausgiebig und fältig, nicht nur in ihren politischen, in ihren gesellschaft- energisch diskutiert: in Zeitungen, in Kneipen, im Inter- lichen und religiösen Überzeugungen. Sie ringt um den net und auf Demos, zustimmend und kritisch. Wir können richtigen Weg, und sie streitet, und zwar lebhaft. Aber in mit Fug und Recht stolz sein auf diese Demokratie, meine einem ist sich diese solidarische Mehrheit einig: Es gibt Damen und Herren. keine Toleranz für Hass, Hetze und Menschenfeindlich- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ keit. Es gibt null Toleranz gegenüber Extremisten. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie CDU/CSU) des Abg. Sören Pellmann [DIE LINKE]) Eines kann ich Ihnen versichern: Wir sind stärker als Daher steht diese solidarische Mehrheit auch geschlos- der Hass und die Hetze von irgendwelchen Extremisten; sen hinter den Menschen, die im wahrsten Sinne des (Beifall bei der SPD) Wortes ihren Kopf hinhalten, um unsere Freiheit, unsere Sicherheit, unsere Demokratie gegen Extremisten zu ver- denn auch unsere Gesellschaft hat sich in dieser Krise teidigen, nämlich hinter den Polizistinnen und Polizisten, sehr charakterfest gezeigt. Wir erleben eine beeindru- die sich einer aufgestachelten Meute mutig und ent- ckende gesellschaftliche Solidarität. Die Menschen schlossen entgegenstellen, vor dem Reichstag und auch haben ihre Gewohnheiten aus Einsicht geändert. Sie auf den Straßen von Connewitz oder sonst wo, meine haben sich aus Überzeugung eingeschränkt, und zwar, Damen und Herren. um sich gegenseitig vor dem gefährlichen Virus zu schüt- zen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Und deswegen, verehrte Polizistinnen und Polizisten, (B) auch dafür ein herzliches Dankeschön. (D) Neun von zehn Menschen stehen hinter den Maßnahmen zum Schutz vor Corona. Eine Studie der Bertelsmann- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, Stiftung zeigt: Unser gesellschaftlicher Zusammenhalt der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE ist in dieser Krise sogar noch gewachsen. – Die Men- GRÜNEN) schen müssen wegen der Pandemie große Opfer bringen. Meine Damen und Herren, unsere Demokratie und Umso beeindruckender finde ich diese Solidarität, diesen unsere Gesellschaft sind stark und charakterfest. Aber Zusammenhalt in diesen schwierigen Zeiten. wenn Rechtsextremisten vor dem Reichstag den Auf- (Beifall bei der SPD) stand proben, (Zurufe von der AfD: Oh!) Deswegen, verehrte Bürgerinnen und Bürger, aus tiefstem Herzen: Danke für diese Solidarität. wenn krude Verschwörungstheorien zu Corona Hand in Hand gehen mit antisemitischer und rassistischer Hetze, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dann müssen wir alarmiert sein. Denn zu oft mussten wir der CDU/CSU) erleben, wie dieser Hass zum Nährboden für schreckliche Meine Damen und Herren, diese solidarische Mehrheit Gewalttaten wurde: der Terror des NSU, der Mord an ist nicht laut und aggressiv, sie ist rücksichtsvoll und Walter Lübcke, die Anschläge von Halle und Hanau. friedliebend. Diese solidarische Mehrheit schafft es daher Seit der Wiedervereinigung haben Rechtsextremisten nur selten auf die Titelseiten. Von ihr gehen auch keine mehr als 200 Menschen getötet. Das ist unerträglich, aufwühlenden Bilder um die Welt. Heute möchte ich meine Damen und Herren. diese solidarische Mehrheit würdigen; denn ich bin es (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie leid, ich bin es wirklich leid, dass eine extremistische bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und Minderheit so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Im Juni haben wir hier im Bundestag das Gesetzes- Wer ist denn diese solidarische Mehrheit? Es sind die paket gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität neun von zehn Menschen in Deutschland, die sich zu beschlossen. Damit können Polizei und Justiz konsequent unserem Grundgesetz bekennen: zu Menschenwürde, gegen Gewalthetze vorgehen. Das Bundeskriminalamt Demokratie und Rechtsstaat. Es sind die Menschen, die, rüsten wir personell in diesem Kampf auf, und zwar deut- wie es der Bundespräsident auf den Punkt gebracht hat, lich. Mit dem Pakt für den Rechtsstaat werden in dieser die Probleme nicht nur benennen und mit dem Finger auf Legislaturperiode 2 000 Stellen für Richterinnen und andere zeigen, sondern die sich auf die Problemlösung Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte geschaf- 21690 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Bundesministerin Christine Lambrecht (A) fen. So stärken wir Polizei und Justiz. Und so stärken wir werden in diesen Tagen: Es gibt keine ethische Überle- (C) die Menschen, die tagein tagaus ihren Kopf hinhalten, um genheit irgendeiner Variante des gewaltbereiten Extre- unsere Freiheit, unsere Sicherheit, unsere Demokratie zu mismus. verteidigen, meine Damen und Herren. Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) beinhaltet und gewährleistet gleichzeitig, dass jeder und jede seine bzw. ihre politischen Ziele allein mit rechtmä- Mein Kollege Krings hat eben aufgefordert, konkret zu ßigen und friedlichen Mitteln verfolgen kann und zu ver- werden, und gefragt, was wir denn tun können. Dabei ist folgen hat. Daran ist man gebunden, aber es stellt vor ihm der Verfassungsschutz eingefallen. Ich glaube, wir allem eine Möglichkeit dar. Das unterscheidet uns von müssen auch noch einen anderen Blick auf die Dinge Diktaturen oder autoritären Systemen. haben. Wir müssen nämlich dafür sorgen, dass die Men- schen in diesem Land gar nicht erst in die Fänge von (Christian Dürr [FDP]: So ist es!) Extremisten, Rassisten und Antisemiten geraten. Wir können in diesen Tagen einige Beispiele dafür sehen. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung, sie (Uli Grötsch [SPD]: Sehr richtig!) braucht es eben nicht, dass politische Gegner im Sinne Das geht nur mit zivilgesellschaftlichem Engagement, normaler Opposition kriminalisiert werden, im Gegen- mit Aufklärungs-, Bildungs- und Erziehungsarbeit. teil. Aber das bedeutet natürlich auch die Verpflichtung Daher brauchen wir – da werde ich jetzt sehr konkret – aus unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung jetzt das Demokratiefördergesetz, meine Damen und Her- für jeden und jede, diese friedlichen Mittel, die zur Ver- ren. fügung stehen, zu nutzen, um das politische Anliegen deutlich zu machen, sehr geehrte Damen und Herren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP) Ich bin überzeugt: Eine stetige, verlässliche Demokra- Deshalb ist es so wichtig, immer wieder zu fragen: tieförderung ist auf lange Sicht die stärkste Waffe im Gibt es ein taktisches oder ein ganz grundsätzliches Ver- Kampf gegen Hass, Hetze und extremistische Gewalt; hältnis zum Thema Gewaltfreiheit? Das ist eine sehr für eine solidarische Gesellschaft und für eine charakter- grundsätzliche Frage. Die Gewaltfreiheit, sie steht in feste Demokratie, auch in Zukunft. der Demokratie über all unseren Meinungsverschieden- heiten. Vielen Dank. Deshalb gibt es auch kein Anliegen, das es rechtfer- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tigen würde, das Gewaltmonopol des Staates und die (B) der CDU/CSU) Durchsetzung des Rechts infrage zu stellen. Dass allein (D) der Staat zwingen darf – das ist unser rechtsstaatliches Gewaltmonopol –, das wird leider immer wieder infrage Vizepräsident Thomas Oppermann: gestellt. Ich habe an dieser Stelle vor den Ereignissen von Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Stuttgart schon einmal gesagt, dass immer wieder betont der FDP die Kollegin Linda Teuteberg. werden muss, welcher Fortschritt es ist, dass bei uns nur (Beifall bei der FDP) der Rechtsstaat Menschen gegen ihren Willen zwingen kann und Recht und Gesetz durchsetzen darf. Der Fort- schritt in unserem Rechtsstaat ist gerade, dass jede Bür- Linda Teuteberg (FDP): gerin, jeder Bürger die Möglichkeit hat, polizeiliches Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kurt Handeln vor unabhängigen Verwaltungsgerichten auch Tucholsky wird der Satz zugeschrieben: „Toleranz ist der überprüfen lassen zu können. Verdacht, der andere könnte recht haben.“ Ich finde, im Umgang miteinander, im ganz normalen zwischen- (Christian Dürr [FDP]: Richtig!) menschlichen Umgang und auch im täglichen Meinungs- Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Justiz streit in der Politik, ist es eine gute Devise, davon auszu- und unserer Sicherheitsbehörden, die dürfen wir weiter- gehen, auch der andere könnte recht haben. Aber wenn hin nicht unter Generalverdacht stellen, sondern wir soll- wir heute eine Aktuelle Stunde haben zum Thema „Null ten denen, die für unseren Rechtsstaat die Knochen hin- Toleranz gegenüber den Feinden der Demokratie“, dann halten, die einen schwierigen Dienst versehen, den ist auch klar: Dieser Verdacht, der andere könnte recht Rücken stärken, Wertschätzung entgegenbringen und haben, gilt natürlich nicht gegenüber Extremisten, nicht mit unserem Verhalten, unseren Stellungnahmen die gegenüber denen, die die Grundlagen unserer Demokra- Arbeit nicht noch schwerer machen. Sie sichern in unser tie infrage stellen. aller Namen die Aufrechterhaltung von Recht und Ord- nung, ohne die eine freiheitliche Gesellschaft gar nicht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) existieren kann. Sie verdienen keine Vorurteile, keine Unser demokratischer Rechtsstaat, der darf auf keinem Pauschalurteile und keine Schlaumeiereien aus der Ferne; Auge blind sein. Er muss diesen 360-Grad-Blick haben: denn sie müssen oft unter schwierigen Situationen vorab nach rechts, nach links, auch zum religiös motivierten entscheiden, was später leicht zu beurteilen ist, ob es Extremismus. Jede Form des Extremismus ist ein Pro- rechtmäßig war oder nicht. Das wurde auf den Treppen blem und ist – das bedarf leider keiner Aufbauschung – dieses Hauses an dem Samstag mit den drei Polizisten eine ernste Gefährdung für unsere freiheitlich-demokra- ganz besonders sichtbar, aber es findet jeden Tag statt, tische Grundordnung. Es kann nicht oft genug gesagt dass Polizistinnen und Polizisten in schwierigen Situatio- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21691

Linda Teuteberg (A) nen besonnen agieren müssen, ohne vorher immer wissen Rassismus und Antisemitismus schon im Aufkommen zu (C) zu können, ob sich das im Nachhinein als rechtmäßig verhindern. Gewiss, Geschichte wiederholt sich nicht herausstellt. eins zu eins, doch fest steht: Über das Anfangsstadium sind Neonazismus und Rechtsradikalismus in unserem (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Lande weit hinaus. der CDU/CSU und der SPD) Frech und anmaßend schickten sich unter den Fahnen Deshalb braucht es für die Verteidigung unserer frei- des Kaiserreichs, die ja traditionell in der rechten Szene heitlich-demokratischen Grundordnung Menschen, die nur die Ersatzsymbole verbotener nazistischer Symbole ebenso besonnen wie entschlossen sind. Es sind zwei sind, Rechtsradikale an, gar die Stufen des Bundestages Tugenden, die ich beim Berliner Innensenator im Vorfeld und mithin der parlamentarischen Demokratie der Bun- dieses Versammlungsgeschehens vermisst habe, nämlich desrepublik zu stürmen. Damit haben sie nicht nur sym- einerseits besonnen zu sein und ganz genau aufzupassen, bolisch eine neue Stufe der Herausforderung der Ord- Versammlungsverbote in unserem freiheitlichen Rechts- nung der Bundesrepublik erreicht. Sie nutzten in staat nur mit nachvollziehbaren Gefahreneinschätzungen gefährlicher Weise die Demonstrationen gegen die Pan- zu begründen und nicht mit Inhalten von Meinungsäuße- demiemaßnahmen, um darin ihren Ungeist zu verbreiten, rungen und mit politischen Anliegen von Versammlun- und viele – viele – sahen weg oder machten sich gar mit gen. ihnen gemein. Das ist die neue Qualität dieser Bedro- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten hung. der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Damit schützt man das Vertrauen, dass es in unserem Das Gebäude, in dem wir uns hier befinden, war ein Rechtsstaat bei Versammlungsverboten nicht nach der Symbol für die Demokratie Weimars, aber auch für deren Meinung geht, sondern nach wirklichen objektiven Zerstörung. Die Bilder des 29. August 2020 müssen ein Gefahreneinschätzungen. Und andererseits entschlossen Weckruf für alle Demokratinnen und Demokraten in genug zu sein, die nötigen Vorkehrungen zu treffen, wenn unserem Land sein. absehbar ist, dass es zu schwierigen Situationen kommt, dass also genügend Beamtinnen und Beamte vor Ort sind (Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD]) und die Vorkehrungen und die Ausrüstung da sind, um Ja, wir haben auch weitere Probleme politisch moti- angemessen agieren zu können. Denn nur wenn wir die- vierter Gewalt in unserem Land. Diese müssen wir – da ses Vertrauen stärken – und das ist übrigens auch im werden wir uns nicht scheuen – ausgiebig thematisieren. Systemwettbewerb mit autoritären Systemen in unserer Nie jedoch werden wir deshalb die größte Bedrohung des Nachbarschaft ein wichtiges Thema –, dass bei uns zum (B) Friedens in unserem Lande relativieren lassen: Was zum (D) Beispiel das Versammlungsrecht eine Ordnung im Sinne NSU-Terror, zu den Verbrechen von Hanau, Halle und der Freiheit, ja im Dienste der Freiheit und nicht gegen München führte und, nicht zu vergessen, schon lange die Freiheit ist, nur dann beweisen wir die Glaubwürdig- zuvor zu den Taten von Mölln und Solingen, zu über keit unserer freiheitlichen Demokratie. 200 Todesopfern seit 1990, das sind Rechtsradikalismus Erneut zeigt sich: Gegen andere Antidemokraten zu und Neonazismus. sein, macht einen selbst noch nicht zum Demokraten. Jetzt könnten wir das Problem weiter erörtern, aber der Dazu gehört mehr. Nämlich entschieden für das einzu- Titel dieser Aktuellen Stunde ist anders gewählt – und das treten, was unsere freiheitlich-demokratische Grund- ganz bewusst, und das empfinde ich als Problem. Bereits ordnung positiv ausmacht. Gewaltfrei seine eigene Mei- wenige Tage nach dem Bewusstwerden der rechten nung zu vertreten und übrigens kriminelles Handeln nicht Bedrohung auf den Stufen des Bundestages, dieses als Aktivismus zu verharmlosen. Hohen Hauses, lag der bundesweite mediale Fokus auf Vielen Dank. den sogenannten Krawallnächten in meiner Heimatstadt und meinem Wahlkreis Leipzig. Dort wurde im Leipziger (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Osten in der Ludwigstraße 71 – sie befindet sich übrigens der CDU/CSU) nicht in Connewitz – ein Haus besetzt, welches trotz drückender Wohnungsknappheit und Mangel an bezahl- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: barem Wohnraum über 20 Jahre leer stand. Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege (Thorsten Frei [CDU/CSU]: Und dann ist es in Sören Pellmann. Ordnung, so was?) (Beifall bei der LINKEN) Die Folgen sind Ihnen bekannt: Räumung, drei Tage Pro- teste, beginnend im Leipziger Osten, hin nach Conne- Sören Pellmann (DIE LINKE): witz, inklusive gewalttägiger Auseinandersetzungen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gegenüber der Polizei und Sachbeschädigungen. Die Es ist geschehen, und folglich kann es wieder Ereignisse in diesen Tagen habe ich persönlich erlebt. geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu (Thorsten Frei [CDU/CSU]: Mitgemacht? – sagen haben. Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD]) Das sagte der Autor und Holocaustüberlebende Primo Ich möchte an dieser Stelle den Einsatzkräften vor Ort – Levi in seinen warnenden Worten, als er mahnte, eine hören Sie gut zu! – für ihr Handeln ausdrücklich meinen schleichende Wiederkehr von Nazismus, Nationalismus, Dank aussprechen. 21692 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Sören Pellmann (A) Auch an dieser Stelle wiederhole ich klar – und da gibt Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (C) es keine zwei Meinungen –: Die Linke ringt um gesell- Der Kollege Dr. Konstantin von Notz hat das Wort für schaftliche Mehrheiten für eine soziale, eine friedliche Bündnis 90/Die Grünen. und eine demokratische Politik. Diese Gewaltexzesse behindern, dass wir unsere Ziele erreichen. Sie haben in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einem demokratischen Staat nichts verloren! (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wer sich hierzu hinreißen lässt, kann nicht an unserer NEN): Seite für diese Ziele streiten. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vorfälle und Bilder, die uns jüngst aus Berlin und Leip- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) zig, aber davor auch aus anderen Städten erreichten, sind Bei der Einschätzung der Ursachen für die Gewalt in verstörend und zeugen davon, wie sehr sich unsere Leipzig und die notwendigen Schlussfolgerungen gehen Demokratie und unser Rechtsstaat in diesen Tagen die Meinungen allerdings auseinander. Konservative for- bewähren müssen. dern nach jeglichen Krawallen sehr schnell reflexhaft Lassen Sie mich das unmissverständlich klarstellen: Es mehr Polizei und Justiz und sparen bei der Brandmarkung geht nicht um unsinnige Gleichsetzung von Dingen, die insbesondere des Stadtteils Connewitz nicht mit bürger- nicht gleichzusetzen sind, schon gar nicht sicherheitspoli- kriegsähnlichen Berichten. Betrachten wir die konkrete tisch. Es geht hier ganz bestimmt nicht um die abwegige Politik der CDU in Sachsen, dann sehen wir: In den und längst wissenschaftlich widerlegte Hufeisentheorie, letzten Jahren wurde die Spar-Axt insbesondere bei Poli- sondern in diesen bewegten Tagen einer Pandemie und zei und Justiz angesetzt. Die Forderungen der Aktuellen massiver Anfeindungen, Verhetzungen und Verächtlich- Stunde heute können wir insbesondere für Sachsen teilen machungen von Personen und Symbolen unserer freiheit- und erwarten insbesondere Handeln der Regierung in lich-demokratischen Grundordnung geht es um die Dresden. grundsätzliche Haltung und ein glasklares Bekenntnis Bleiben wir beim Abgleich von medialem Postulat und zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und eben Gewaltfrei- den Meinungen einzelner Vertreterinnen hier im Haus mit heit. Das muss jede Demokratin und jeder Demokrat spä- der Realität. Ich halte die direkte und indirekte Gleich- testens jetzt verstanden haben, meine Damen und Herren. macherei von Autonomen und der übergroßen Mehrheit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von politisch links gesinnten Menschen innerhalb und sowie bei Abgeordneten der SPD und des außerhalb auch meiner Partei, die grundlegend friedlich Abg. Sören Pellmann [DIE LINKE]) (B) sind und auch friedlich agieren, für einen schweren Feh- (D) ler. Das Gewaltmonopol in unserem Land liegt beim Staat. (Beifall bei der LINKEN) Punkt! Wer das relativiert und damit versucht, seine Gewalt zu legitimieren, ob nun mit vermeintlich hehren Verallgemeinerungen, Pauschalisierungen, Auslassungen und edlen politischen Motiven oder mit den abwegigsten sowie Kriminalisierung ganzer Stadteile helfen uns nicht Verschwörungsideologien oder durch Herbeischwadro- weiter. Vielmehr müssen Gewalt, Aggression und Stein- nieren eines irgendwie gearteten Notstandes, der unter- würfe gegen Polizeibeamte eher als Symptom denn als gräbt vorsätzlich unsere Verfassung, unsere Freiheit und Ursache verstanden werden. unsere Demokratie, meine Damen und Herren. Ich will an dieser Stelle insbesondere auf das Thema (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wohnen – es gibt hier einen Zusammenhang – eingehen; sowie bei Abgeordneten der SPD und des es zumindest benennen. Der Bestand der Sozialwohnun- Abg. Sören Pellmann [DIE LINKE]) gen befindet sich auf einem historischen Tiefstand – das war ein Mitauslöser für diese Situation –, obwohl Sozial- Wer Polizeibeamte verletzt, Fahrzeuge demoliert oder wohnungen gerade angesichts der Mietenexplosion drin- anzündet, Landfriedensbruch begeht und gewalttätig in gend gebraucht werden. Hier haben wir ein Problem in Parlamente einzudringen versucht, der handelt nicht den Großstädten, und auch hier stiehlt sich der Bund revolutionär und schon gar nicht patriotisch, sondern immer mehr aus der Verantwortung. schlicht kriminell. Abschließend noch ein kleiner persönlicher Einblick. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Leipzig ist eine stolze Bürgerstadt. Das Gewandhaus, die sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Leipziger Messe sind weltbekannt. Unsere Sportvereine, SPD und der FDP und des Abg. Sören aber auch der Stadtteil Connewitz gehören zu Leipzig wie Pellmann [DIE LINKE]) Johann Sebastian Bach. Gern lade ich Sie alle nach Leip- zig und nach Connewitz ein, um es gemeinsam anzuse- In Deutschland, meine Damen und Herren, gilt die hen und sich eine persönliche Meinung zu bilden. Sie Versammlungsfreiheit. Unabhängige Gerichte prüfen werden sehen und erleben, dass die hier geführten Debat- und korrigieren behördliche Entscheidungen. Das gilt ten nicht selten an der Realität vorbeigehen. sogar für Versammlungen von Menschen, die behaupten, in einer Diktatur zu leben, oder die sich völlig offen eine Vielen Dank. solche herbeiwünschen; auch für die gilt das. Diese Ver- (Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der sammlungsfreiheit in unserem Land entbindet aber nie- LINKEN: Bravo!) manden – niemanden! – von der demokratischen Pflicht, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21693

Dr. Konstantin von Notz (A) sich von den Antisemiten, Neonazis und Reichsbürgern, fentlich auch – hier im Hohen Haus selbst, gerne auf der (C) die zu Tausenden hier in Berlin vor Ort waren, deutlich zu Straße des 17. Juni, in den Medien, den öffentlich-recht- distanzieren, und zwar sprachlich wie räumlich. lichen und den privaten, zu Hause bei uns allen, am (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Arbeitsplatz: Das ganze Land diskutiert über Pro und bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Kontra dieser Coronamaßnahmen – jeden Tag, den Gott Abgeordneten der SPD und der LINKEN) gibt, und das ist gut so. Herr Curio, nichts von Ihnen dazu. Nichts! Im Gegen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN teil: Verletzte Polizisten hier in Berlin, Landfriedens- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der bruch, der dokumentierte Versuch mehrerer Hundert SPD, der FDP und der LINKEN) Menschen, mit Gewalt in dieses Gebäude vorzudringen Wir sind ein freies Land. Es ist ein Popanz, wenn behaup- (Franziska Gminder [AfD]: Das ist überhaupt tet wird, dass solche Diskussion nicht stattfinden könnten nicht wahr!) und nicht stattfinden würden, meine Damen und Herren. aus einer Demo heraus, zu der Sie ganz massiv mobili- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN siert haben, wo Ihre Leute aus Ihrer Fraktion vor Ort sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der waren, und Sie distanzieren sich nicht. SPD, der FDP und der LINKEN) (Thomas Hitschler [SPD]: Sie waren dabei! – Schließen möchte ich mit den gestrigen Worten unse- Dr. [AfD]: Natürlich haben wir res Präsidenten Wolfgang Schäuble – ich zitiere –: uns distanziert! Das ist doch gelogen, und das wissen Sie auch!) ... jeder politischen Seite muss klar sein: Die Gewaltfreiheit Sie haben sich gestern als einzige Fraktion hier im Saal nicht für die drei Polizeibeamten erhoben, die mit ihrer – die Gewaltfreiheit! - Gesundheit und ihrem Rückgrat an einem Wochenende steht in der Demokratie über allen Meinungsver- für dieses Haus gestritten haben. Sie diskreditieren sich schiedenheiten. auch noch parlamentarisch in jeder Art und Weise, meine Damen und Herren. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN) SPD, der FDP und der LINKEN) (B) Es ist wichtig, ernst zu nehmen, was die Vertreter der (D) Sicherheitsbehörden, Herr Curio, Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Dr. Gottfried Curio [AfD]: Sie verbreiten Fake Ich erteile das Wort dem Kollegen Thorsten Frei, News!) CDU/CSU-Fraktion. mit zunehmender Dramatik jeden Tag sagen: Die größte (Beifall bei der CDU/CSU) extremistische Gefahr in der Bundesrepublik geht derzeit eindeutig von rechts aus. Thorsten Frei (CDU/CSU): (Lachen bei Abgeordneten der AfD – Thomas Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Seitz [AfD]: Fake News!) Kollegen! Die besondere Herausforderung, mit der unser – Das sagen die Sicherheitsbehörden. Das sagen die Poli- Land gegenwärtig konfrontiert ist, ist, dass wir es mit zeien, zu deren Anwalt Sie sich gerne machen würden. einer Gleichzeitigkeit extremistischer Bedrohungen zu Und da lachen Sie. Ja, so abstrus ist es. Da lachen Sie. tun haben, (Dr. Alice Weidel [AfD]: Sie motivieren uns ja ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: auch!) Nein! Immer noch nicht!) Wem das nicht über die Lippen geht, was die Polizei- wie wir es in der Vergangenheit in diesem Maße nicht beamtinnen und Polizeibeamten und deren Präsidenten hatten: tödlicher Rechtsextremismus, tödlicher islamisti- sowie die Nachrichtendienste in aller Klarheit sagen, scher Extremismus, aber eben auch militanter Linksext- und wer das mit „Hufeisen made in Connewitz“ zu kon- remismus, wie wir es in der vergangenen Woche erleben terkarieren versucht, der macht sich schlicht unglaubwür- mussten. All das gleichzeitig bedroht unsere demokrati- dig, und der dokumentiert, dass er selbst Teil des Prob- sche und freiheitliche Ordnung in Deutschland. Und des- lems ist, meine Damen und Herren. wegen brauchen wir darauf eine klare und entschiedene (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Antwort. bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie Es ist unbestritten und es fällt überhaupt nicht schwer, bei Abgeordneten der LINKEN) klar zu sagen, dass derzeit die größte Gefahr für unseren Niemand versucht – die Ministerin hat es eben gesagt –, Staat vom Rechtsextremismus ausgeht. Ich will das nur über diese Argumentation irgendwelche Diskurse platt- an zwei Punkten festmachen. Wir haben verschiedene zumachen oder Meinungen zu unterdrücken, auch keine Dinge erlebt. Im vergangenen Jahr wurde ein Repräsen- kritische Auseinandersetzung mit Coronamaßnahmen; tant dieses Staates von Rechtsextremisten hingerichtet. im Gegenteil. Ob in unseren Fraktionen – in Ihrer hof- Und wir haben die besondere, auch einmalige Situation, 21694 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Thorsten Frei (A) dass mit der AfD eine Partei, die hier im Bundestag sitzt Das passiert beispielsweise, wenn man nicht nur unsäg- (C) und die in allen Länderparlamenten vertreten ist, vom liche Artikel in der „taz“ darüber schreibt, dass Polizisten Verfassungsschutz als Verdachtsfall eingeschätzt wird. auf den Sondermüll gehören, sondern ich finde es, ehrlich gesagt, fast noch schlimmer, wenn der Presserat sagt, wie (Zuruf von der AfD: Dürfen sie nicht mehr vorgestern geschehen, Polizisten als Müll zu bezeichnen, sagen!) sei eine Geschmacksfrage. Das ist das, womit wir konfrontiert sind und was deutlich (Christoph Bernstiel [CDU/CSU]: Unglaub- macht, dass rechtsextremistisches Denken auf dem Vor- lich!) marsch ist und wir darauf natürlich eine klare und ent- schiedene Antwort brauchen. Wer so etwas sagt, meine sehr verehrten Damen und Herren, der disqualifiziert sich im demokratischen Dis- Und die haben wir gegeben mit der Verabschiedung kurs. des Gesetzes zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität vor wenigen Wochen hier in (Beifall bei der CDU/CSU) diesem Hause, aber auch indem wir im vergangenen Herbst 600 zusätzliche Stellen bei Verfassungsschutz Und da muss man auch sagen: Das ist ebenfalls eine Form und Polizeibehörden ausschließlich zur Bekämpfung von Menschenfeindlichkeit. des Rechtsextremismus bereitgestellt haben. Wir stehen hinter unserer Polizei, nicht nur, wenn sie Aber richtig ist eben auch, dass man nicht nur auf dem hier draußen auf der Treppe den Bundestag schützt. Wir rechten Auge nicht blind sein darf, sondern man sollte stehen zu unserer Polizei – jederzeit. Und deshalb, glaube auch mit dem linken Auge scharf sehen können. Und ich, muss man das auch an verschiedenen Punkten deut- ich fand es schon bemerkenswert, was Staatssekretär lich machen. Krings in seiner Eingangsrede hier quasi vorausgesagt Für uns ist zum Beispiel entscheidend, dass tätliche hat, dass nämlich Rechte rechtsextremistische Gewalt Angriffe auf Polizisten mit einer Mindeststrafe von sechs relativieren und Linke linksextremistische Gewalt relati- Monaten, also einer verdoppelten Mindeststrafe, belegt vieren. Genau das haben wir in dieser Debatte erlebt – werden. Wir müssen uns den Tatbestand des Landfrie- hier und dort. densbruchs noch einmal anschauen. Und ich glaube, es Lieber Herr Pellmann, Rechtsstaat bedeutet, dass nicht ist ganz entscheidend, dass wir auch bei Ausstattung und nur die Gesetze gelten, die einem passen. Das ist der rechtlichen Möglichkeiten von Polizei und Sicherheitsbe- entscheidende Unterschied. Das, was Sie gemacht haben, hörden deutlich machen, dass wir ihnen die Instrumente war im Grunde genommen das Gleiche wie das, was die geben wollen, die sie brauchen, und dafür brauchen wir (B) AfD gemacht hat, nämlich Gewalt zu legitimieren. auch ein effektives Verfassungsschutzgesetz. Wer das (D) verweigert, der ist selber Teil eines Sicherheitsrisikos (Sören Pellmann [DIE LINKE]: Sie haben bei uns im Land. nicht zugehört!) Herzlichen Dank. Das haben Sie in Ihrer Rede gemacht, und das ist nicht akzeptabel. (Beifall bei der CDU/CSU)

(Beifall bei der CDU/CSU – Sören Pellmann Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: [DIE LINKE]: Hören Sie einfach zu und ver- Für die Fraktion der AfD hat das Wort die Kollegin drehen die Tatsachen nicht!) Beatrix von Storch. Womit wir natürlich schon konfrontiert sind, ist, dass wir ganz offensichtlich weniger über das Thema Links- (Beifall bei der AfD) extremismus sprechen. Ich möchte nur eines zu den Fak- ten sagen: Wer beispielsweise die Berichte des Bundes- Beatrix von Storch (AfD): amtes für Verfassungsschutz liest, der sieht, dass das Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Linksext- linksextremistische Personenpotenzial genauso groß ist remisten zünden bengalische Feuer an, werfen Brandsät- wie das rechtsextremistische. ze, die Polizei muss mit Hubschraubern und Hundert- schaften eingreifen. Das waren Bilder wie aus einem (Thomas Hitschler [SPD]: Aber nicht die Bürgerkrieg mitten im Herzen Deutschlands. Gewaltbereitschaft, Herr Kollege!) – Ja, 33 400 Personen. Und deshalb ist es entscheidend, (Sören Pellmann [DIE LINKE]: Ach, Sie waren gar nicht vor Ort?) sich das genau anzugucken. Auch die Militanz ist enorm. Die CDU hat jetzt die Aktuelle Stunde mit beantragt. (Gökay Akbulut [DIE LINKE]: Zählen Sie den Da wollen Sie wohl über Ihr eigenes Versagen diskutie- Verfassungsschutz mit?) ren. Denn: Wer regiert denn in Sachsen seit 1990 ohne Und vor diesem Hintergrund ist es ganz entscheidend, Unterbrechung und jetzt auch zusammen mit Grünen und auch die Probleme klar zu benennen und sie auch im SPD, weil Sie mit der AfD nicht wollen? – Genau, die öffentlichen Diskurs nicht zu relativieren. Das passiert CDU. nämlich, wenn man beispielsweise der Polizei latenten Rassismus unterstellt. (Lachen bei der LINKEN – Sören Pellmann [DIE LINKE]: Das einzig Gute an dieser (Zurufe von der LINKEN) Regierung!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21695

Beatrix von Storch (A) Sie sind doch auf dem linken Auge genauso blind wie „lebenskulturelle Angst“ vor dem Zuzug von – ich darf (C) die anderen und verweigern sich der Realität. Das haben wieder zitieren – „andersdenkenden Menschen“ in ihrem Sie gestern im Innenausschuss eindrucksvoll unter Stadtteil Connewitz haben. Dieselben Menschen, die Beweis gestellt. Um den angeblichen Sturm auf den sonst immer „No border, no nation“ und „Kein Mensch Reichstag zu stoppen, ist illegal“ brüllen, (Christoph Bernstiel [CDU/CSU]: Sie haben es (Zuruf der Abg. Dr. [DIE LINKE]) doch selber so genannt! Die Demonstranten schmeißen jetzt Gehwegplatten auf Menschen aus Düs- haben es doch selber so genannt!) seldorf, weil sie die in ihren Kiezen nicht haben wollen, reichten drei Polizisten. Das und nur das haben Sie neben weil die anders sind und anders denken. dem ganz kurz angesprochenen Punkt Corona gestern als einziges Thema stundenlang debattiert. In Leipzig reich- Diese linksextreme Gewalt unterscheidet sich in rein ten 1 300 Beamte nicht, 20 wurden verletzt. Das war gar nichts von rechtsextremer Gewalt. Linke sind Heuch- Ihnen gestern im Ausschuss keine Silbe wert, nicht eine. ler, und Sie alle hier gehören dazu. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD – Zuruf: Selber! – Sören Pellmann [DIE LINKE]: Oh, oh, oh!) Was Sie gestern im Ausschuss abgezogen haben, das war eine Sabotage unserer parlamentarischen Demokratie. Der Andersdenkende ist für die Linken ein Feind, der mit allen Mitteln bekämpft werden muss, und Andersden- ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kender ist jeder, der gegen Enteignung, gegen Massen- NEN]: Quatsch!) einwanderung, gegen die Auflösung des Nationalstaates Linke Gewaltexzesse in Sachsen sind nicht erst seit ist. dem Wochenende ein Problem, sondern seit Jahren. Die Polizeiwache in Leipzig-Plagwitz, die Staatsanwalt- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: schaft, die Ausländerbehörde, das Bundesverwaltungsge- Also, liebe Frau von Storch, das geht nicht, dass Sie richt, die Südvorstadt, mal 2 und mal 50 Polizeifahrzeu- hier die Kollegen so generell als Heuchler bezeichnen. ge, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bei Abgeordneten der LINKEN) NEN]: Keine Ahnung von Leipzig und von Connewitz!) Bitte entschuldigen Sie sich dafür. Nehmen Sie das bitte zurück! 5 Bundeswehr-Lkw, 8 Behördenfahrzeuge, 3 Baukräne: (B) alles abgefackelt oder beschädigt, mit Steinen, Böllern, (D) brennenden Barrikaden, mal 200 000 Euro Schaden, mal Beatrix von Storch (AfD): Millionen, mal „nur“ ein Dutzend verletzte Polizisten, Was soll ich zurücknehmen? mal knapp 70 und im Januar 2020 dann versuchter Mord. Ich könnte mit dem gesamten Rest meiner Rede- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: zeit diese Liste nicht abschließen: Sie ist zu lang! Hier die Kollegen als Heuchler zu bezeichnen. (Ulli Nissen [SPD]: Schließen Sie lieber Ihre (Sören Pellmann [DIE LINKE]: Am besten die Rede ab!) ganze Rede!) Und die umbenannte SED steht heute als Die Linke bei alldem natürlich freudig Pate. Ja, Herr Pellmann, es war Beatrix von Storch (AfD): Ihre Linksjugend, die am Rande der Gewaltexzesse Auf- Nein, das nehme ich nicht zurück. kleber mit dem Aufdruck „Advent, Advent, ein Bulle brennt“ verteilt hat. Das wiederum ist der Slogan der Punkband „Harlekins“. Zu dieser Band gehörte Katja Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Meier von den Grünen, die nun Justizministerin in Sach- Dann erteile ich Ihnen einen Ordnungsruf. sen ist und dort mit der CDU regiert. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei Abgeordneten der AfD) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wen könnten diese linksextremen Gewaltexzesse eigent- lich noch wundern, wenn die Ministerin, die Linksextre- Beatrix von Storch (AfD): mismus von Amts wegen bekämpfen soll, linksextrem Das können Sie gerne tun. – Andersdenkender ist jeder, ist? der gegen Enteignung, gegen Masseneinwanderung und gegen die Auflösung des Nationalstaates ist (Lachen des Abg. Sören Pellmann [DIE LIN- KE]) (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Rede ist echt in die Hose gegangen!) Und die Linkenabgeordnete Juliane Nagel, Herr Pellmann, findet die Gewalt natürlich auch schwer in und für den Rechtsstaat, für Familie, für Marktwirtschaft Ordnung, weil die Linken eben – ich darf zitieren – und vor allem für Meinungsfreiheit eintritt, also jeder (Sören Pellmann [DIE LINKE]: Das müssen Mensch, der dem globalen Kommunismus im Weg steht. Sie jetzt schon mal belegen! Sie hat sich sehr Kurt Schumacher – vor Esken und Borjans hatte die klar dazu geäußert, Frau von Storch!) SPD wirklich große Vorsitzende – sagte: 21696 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Beatrix von Storch (A) (Thomas Hitschler [SPD]: Wagen Sie sich Impfgegner, Stuttgart-21-Gegner oder wer auch immer, (C) nicht, über Schumacher zu sprechen!) die da mitmarschieren, Seite an Seite mit der AfD, mit Kommunisten sind rotlackierte Faschisten. – Ja, diese Reichsbürgern, Rechtsextremisten und Verschwörungs- Autonomen sind Faschisten. Die linken Parteien sind theoretikern, sage ich: Wer sich nicht eindeutig abgrenzt, ihr politischer Arm und die Journalisten, die das als „Mie- ist Teil der braunen Soße. tenproteste“ beschönigen, ihr publizistischer Arm. Die (Beifall bei der SPD und der LINKEN) „taz“ bezeichnete bekanntlich die Polizisten als Abfall, ARD und ZDF als Mörder; der „Tagesspiegel“ titelt: Diese Demos sind ein gefundenes Fressen für Rechts- „Danke, liebe Antifa!“ Das ist kein Journalismus; das extremisten. Wir wissen, dass seit Ende April bundesweit ist linksextreme Hetze. mehr als 90 Kundgebungen gegen Coronamaßnahmen stattgefunden haben, bei denen Rechtsextremisten den (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Ton angaben. Anticoronademos sind von Rechtsextre- Deutschland und Sachsen brauchen einen Politikwech- misten unterwandert, und so war das nach allem, was sel und scheitern nicht an uns. Wenn die AfD in Sachsen wir wissen und bisher gesehen haben, eben auch am an die Regierung kommt, 28. August 2020 vor dem Reichstag. (Sören Pellmann [DIE LINKE]: Gott bewahre Aber ich möchte nicht nur über Feinde der Demokratie uns davor!) draußen reden, sondern auch hier im Bundestag und in werden wir den linksextremen Sumpf trockenlegen. Das Länderparlamenten. machen wir in den ersten 100 Tagen. Aber solange die (Jürgen Braun [AfD]: Genau! Über Herrn CDU lieber mit linksextremen Polizeihassern regiert, die Geisel! SED-Geisel!) Polizisten am liebsten brennen sehen wollen, wie Katja Meier von den Grünen, statt mit Polizeioberkommissaren Die AfD duldet Rechtsextreme und Faschisten in ihren wie Sebastian Wippel von der AfD, so lange ist die CDU Reihen. Einige werden vom Verfassungsschutz beobach- nicht Teil der Lösung, so lange ist die CDU Teil des tet. Ihren rechtsextremen Flügel mussten Sie wenigstens Problems. formal auflösen. Ihre Jugendorganisation wird vom Ver- fassungsschutz beobachtet. Die AfD selber ist als Partei Vielen Dank. ein Prüffall. (Beifall bei der AfD – Gökay Akbulut [DIE LINKE]: Setzen, sechs, Thema verfehlt!) (Beifall bei der SPD) Sie gehören nicht in dieses Hohe Haus. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (B) (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das bestimmen (D) Der nächste Redner ist für die Fraktion der SPD der Sie doch nicht! Wir sind die größte Opposi- Kollege Uli Grötsch. tionspartei!) (Beifall bei der SPD) Sie gehören in kein Parlament auf dieser Welt. Uli Grötsch (SPD): (Beifall bei der SPD) Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Aber wir bekämpfen Extremismus nicht nur vor dem Kollegen! Das ist nicht die Debatte, in der man abwägen Hohen Haus und in diesem Hohen Haus. Wir wollen die oder darüber diskutieren muss, was jetzt hier schlimmer schwarzen Schafe auch aus den Sicherheitsbehörden ver- ist, Linksextremismus oder Rechtsextremismus. Aber treiben. Für die Bekämpfung rechtsextremistischer einen Satz erlauben Sie mir, Frau von Storch: Der größte Umtriebe im öffentlichen Dienst hat das Bundesamt für Unterschied zwischen der Gewalt von links und der Verfassungsschutz eine eigene Abteilung, und ich danke Gewalt von rechts ist der, dass die Gewalt von rechts von dieser Stelle aus für diesen richtigen und auch wich- seit der Wiedervereinigung in Deutschland knapp tigen Schwerpunkt. 200 Menschenleben gefordert hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Auch in der digitalen Welt und in den sozialen Netz- LINKEN – Zuruf von der AfD: Oh Gott! – werken wird die Luft eng für Extremisten und Hetzer. Gegenruf von der LINKEN: So ist es!) Unserer Bundesjustizministerin haben wir es zu verdan- ken, dass Facebook und Co strafbare Inhalte nicht nur Aber darum soll es mir jetzt nicht gehen, sondern um löschen müssen, sondern dass sie von unseren Strafver- Folgendes: Das vorletzte Wochenende hier draußen vor folgungsbehörden auch konsequent geahndet werden. dem Reichstag gab einen Einblick in die Traumwelt von Dafür haben wir 300 Stellen allein im Bundeskriminal- Demokratiefeinden. Sie ergötzen sich an den Bildern, amt geschaffen. aber ich muss Sie enttäuschen: Zu keinem Zeitpunkt bestand letztendlich die Gefahr, dass irgendjemand den (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jürgen Reichstag stürmen könnte, und garantiert – dieser Über- Braun [AfD]: China ist begeistert!) zeugung bin ich – passieren diese Szenen so auch nie Wir haben ein großes Netz an Präventionsprogrammen wieder. in Deutschland aufgespannt, wo Bundesprogramme wie 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger halten so wie „Demokratie leben!“ und die jeweiligen Länderprogram- ich und viele andere hier die Coronamaßnahmen für not- me ineinandergreifen. Das werden wir weiter ausbauen; wendig. Allen anderen Menschen, seien es Hippies, denn die Nachfrage ist hoch, die Notwendigkeit sogar Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21697

Uli Grötsch (A) noch höher, auch – die Bundesjustizministerin hat das Ich will an einen Punkt, der mir besonders wichtig ist, (C) eben deutlich gemacht – die Notwendigkeit für ein erinnern. Zu den Vorgängen in Berlin hat sich gestern Demokratiefördergesetz in Zeiten wie diesen. ausdrücklich auch der Bundestagspräsident geäußert und einen zentralen Punkt angesprochen: die Frage des (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Reichstages als Symbol unserer freiheitlichen Demokra- Die Bundesfamilienministerin fordert richtigerweise tie und dass dieser sakrosankt sein muss. Wir dürfen des- einen auf Dauer angelegten Sachverständigenrat, der halb nicht zulassen, hat Wolfgang Schäuble gestern sich dem Schutz der freiheitlichen demokratischen gesagt, dass er als bloße Kulisse missbraucht wird, und Grundordnung widmen und Strategien im Umgang mit das gilt ausnahmslos für alle Versuche, das Haus plakativ extremistischen Tendenzen und den Feinden der Demo- zu instrumentalisieren. Ob mit Fahnen, Flugschriften kratie entwickeln soll. Wir bekämpfen Extremismus auf oder Transparenten: Wer hier nach Inhalten – das ist der allen Ebenen. Verfassungsfeinde und rechte Netzwerke entscheidende Punkt – unterscheiden will, macht sich genießen gerade bei uns, bei der SPD, höchste Priorität, unglaubwürdig und schadet uns allen. schon immer und gewissermaßen aus unserer DNA (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. heraus, aber heute eben ganz besonders. Linda Teuteberg [FDP]) Ich betone das, weil gestern vor 20 Jahren Enver Sim- Es kommt überhaupt nicht darauf an, ob man persön- sek vom NSU-Terrortrio mit fünf Schüssen in den Kopf lich, ob der eine oder andere von uns diese Inhalte als hingerichtet wurde. Seitdem haben wir fast 100 weitere positiv oder negativ oder gut oder schlecht oder wie auch Opfer rechten Terrors zu beklagen. Wir werden die Opfer immer bewertet. Dieses Haus darf nicht, schon gar nicht niemals vergessen. Ich hätte Enver Simseks Angehörigen für extremistische, aber auch nicht für parteipolitische hier gerne gesagt, dass heute alles besser ist und dass wir oder sonstige irgendwie positionierte Zwecke, miss- den Rechtsextremismus unter Kontrolle haben. Leider braucht werden. Es ist das Symbol der Demokratie, unse- kann ich das nicht. Einige sitzen heute sogar in Parlamen- rer Republik, unseres ganzen Volkes. Das muss es sein, ten. Wir zählen über 32 000 Rechte, so viele wie noch nie. und insofern ist es sakrosankt. Sie begehen immer mehr Straftaten, und sie sind immer gewalttätiger und brutaler. Aber ich glaube, wir alle kön- (Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD]) nen den Angehörigen von Enver Simsek und allen Opfern – Davon haben Sie sich eben nicht klar distanziert, Frau rechtsextremistischer Gewalt versprechen, dass wir von Storch. wachsam sind und dass wir unser Bestes geben, um die- ses Kapitel zu überwinden. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das will sie ja auch gar nicht!) (B) Vielen Dank. (D) Deswegen habe ich den Punkt hier extra noch mal ange- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sprochen. der CDU/CSU und der LINKEN und der Abg. Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir haben vor einigen Jahren auch andere Inanspruch- nahmen dieses Hauses von anderer politischer Seite gehabt. Ich möchte daran erinnern, dass es auch solche Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: politischen Inanspruchnahmen nicht geben darf. Wir hat- Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Mathias ten Antiatomkraftdemos und andere. Da sind die Leute Middelberg, CDU/CSU-Fraktion. auch durch die Absperrungen gelaufen, haben sich auch auf die Treppe gesetzt, haben gelbe Antiatomkraftdemof- (Beifall bei der CDU/CSU) ahnen geschwenkt und anderes. Auch das hat da nichts verloren. Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): (Jürgen Braun [AfD]: Extinction Rebellion Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist jetzt kam mitten in der Abstimmung!) schon viel Richtiges gesagt worden in dieser Debatte; dafür möchte ich mich auch mal bedanken. Es haben – Das ist ja alles erwähnt worden, und deswegen war es sich einige kluge Redner geäußert. mir wichtig, das deutlich zu machen. Sie haben, glaube ich, immer noch nicht begriffen, dass der Inhalt ja eben (Beatrix von Storch [AfD]: Vielen Dank!) gerade keine Rolle spielt, sondern wir uns in jedem Fall – Sie waren ausdrücklich nicht gemeint, Frau von Storch. von diesen Vorgängen distanzieren. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich habe aber von unserer Bundesjustizministerin, von Das muss der Konsens in diesem Haus sein. unserem Staatssekretär Dr. Krings und auch gerade von Frau Teuteberg viel Kluges und Treffendes, finde ich, zur Es ist auch das Richtige gesagt worden zu den Vor- Analyse der Sachverhalte gehört, auch von meinem Kol- gängen in Leipzig. Ich hätte mir, Herr Pellmann, von legen Thorsten Frei, dem ich mich ausdrücklich anschlie- Ihnen noch etwas klarere Worte gewünscht; das muss ße. Dazu, was die Bewertung und Analyse der Ereignisse ich ehrlicherweise zugeben. Aber immerhin: Es gibt rund um die Demonstrationen, die Anticoronademos, hier auch Vorgänge, wo die Linksjugend Sticker verteilt hat in Berlin angeht, ist viel Zutreffendes gesagt worden, mit dem Satz: „Advent, Advent, ein Bulle brennt“. Ich ebenso dazu, was die Vorgänge in Leipzig angeht. sage ganz ehrlich: Ich kenne die Hintergründe dieses 21698 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Dr. Mathias Middelberg (A) Liedes und was da im Einzelnen dahintersteckt, gar nicht. Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): (C) Ich finde nur: Dieser Satz an sich beinhaltet schon etwas Ich komme sofort zum Schluss, Herr Präsident. – Der Menschenverachtendes. Gedanke, den ich dabei habe, ist folgender: Unsere frei- heitlichen Rechte – Demokratie, Rechtsstaat, Freiheit- (Beifall des Abg. [CDU/ lichkeit – werden geschützt von unseren Polizeibeamten, CSU]) von unseren Kräften in der Justiz, aber auch von vielen Ein Bulle soll da brennen. Die Polizeibeamten werden anderen, die da im staatlichen Dienst tätig sind. Deren entmenschlicht. Dienst sollten wir wirklich hochachten, und wir sollten uns davor hüten, diese Gruppen, auch gerade die Polizei, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- in irgendeiner Weise kollektiv zu verunglimpfen. Das ist ordneten der SPD und der FDP) in meinen Augen ein wichtiges Anliegen. Das ist schon der Beginn einer jeden Radikalisierung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Ich kann nur sagen: Ich wünsche mir in Zukunft – ich ordneten der FDP) sage das ganz freundlich –, dass Sie sich von solchen Vorgängen sofort und ganz entschieden distanzieren. Das würde ich mir wirklich wünschen. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Für die Fraktion der SPD hat das Wort die Kollegin (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Susann Rüthrich. bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der SPD) Da ist jede Grenze überschritten. Stellen Sie sich mal vor, da würde irgendeine andere Jugend Sticker verteilen mit der Aufschrift: „Advent, Advent, ein Flüchtling brennt“. Susann Rüthrich (SPD): Dann wären wir, glaube ich, alle hier im Haus einer Mei- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und nung: Kollegen! Schwarz, Weiß und Rot – im Märchen „Schneewittchen“ stehen diese drei Farben für die Schön- Das ist widerlich. Das ist ekelhaft. Das darf es auf keinen heit des Kindes. Auf Fahnen stehen sie dagegen für ein Fall in diesem Lande geben. längst überwundenes, ein hässliches Deutschland. Ich (Beatrix von Storch [AfD]: Vollkommen rich- habe diese Farben oft gesehen: seit Jahrzehnten bei der tig! – Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Genau! – NPD, seit Jahren montags in Dresden, vor zwei Jahren in Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Chemnitz, seit Wochen sonntags an der B 96 in der Lau- Aber Sie wissen schon, dass es so was gibt in sitz und zuletzt auf den Stufen des Reichstagsgebäudes. abgewandelter Form?) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Farben der beiden (B) Flaggen hinter mir stehen für freiheitliche Demokratie. (D) Mein letzter Punkt ist ein ganz allgemeiner Gedanke, Wer Deutschland dagegen in Schwarz-Weiß-Rot malt, den ich aussprechen möchte, und zwar geht es mir um zeigt damit: Er oder sie lehnt unsere Demokratie ab. folgenden Punkt: Wir erleben die Radikalisierung von Diese aktiv überwinden zu wollen, das nennen wir für links und von rechts. Ich glaube, wir erleben auch einen gewöhnlich „extremistisch“. Verlust – das vermute ich jedenfalls dahinter – der Wert- schätzung gegenüber unserem Land, gegenüber den Wer- Deswegen, sehr geehrte Demonstrierende: Wir hören ten dieses Landes, gegenüber unserer Demokratie, dem von Ihnen oft, Sie wollen „das System“ überwinden, stür- Rechtsstaat und der Freiheit. Vielleicht haben hier einige zen. Zusammen mit Rechtextremen? Im Ernst? Bitte, nach über 70 Jahren in Freiheit, Demokratie und Rechts- dann seien Sie doch jetzt mal so ehrlich und sagen mir: staatlichkeit es nicht mehr so ganz im Film, dass diese Was kommt denn dann? Welches System halten Sie denn Dinge wirklich was wert sind. für erstrebenswert, wenn es unseres nicht ist? Fragen wir vielleicht mal die Menschen in Minsk, die (Zuruf: Kaiserreich!) da jetzt auf den Straßen unterwegs sind und für ihre Wünschen Sie sich die Welt vom schönen Schnee- Rechte kämpfen. Die kämpfen nämlich dafür, dass sie wittchen, wo es noch Kaiser und Könige gab, oder doch überhaupt frei ihre Meinung sagen dürfen. Die kämpfen das Deutschland, das sich für tausendjährig hielt und dafür, dass sie demnächst frei wählen dürfen. Die kämp- einen Führer hatte? Wenn Sie das jetzt empört von sich fen für die Werte und die Rechte, die diesen Staat aus- weisen, liebe Demonstrierende, dann hören Sie auf, den machen. Das gilt genauso für die jungen Menschen, die in Umsturz herbeibrüllen zu wollen. Denn wenn Sie ganz Hongkong auf der Straße sind, jetzt von Polizisten ver- ehrlich sind, dann geben Sie zu, dass Sie in Wahrheit haftet werden, Angst haben und sich fragen müssen: Tausende Einzelne sind, die sich nie auf ein anderes, Kann ich überhaupt auf die Straße gehen, oder werde wie auch immer geartetes staatliches System einigen ich demnächst für viele Jahre eingebuchtet? könnten. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Oder in Sie stehen da also neben den Reichsfahnen. Müssen Chile!) wir jetzt ernsthaft darüber reden, dass diese Fahne für alles andere als die Demokratie steht? „Ist doch nicht Wir können noch andere Standorte nennen, aber darauf verboten“, sagen Sie. Anstand und demokratisches Mit- kommt es gar nicht an. einander machen sich aber nicht allein am Strafgesetz- buch fest. Es ist ein großer zivilisatorischer Fortschritt, Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: dass wir verantwortlich mit der eigenen Geschichte Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende. umgehen, dass wir mit Respekt miteinander umgehen, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21699

Susann Rüthrich (A) egal welcher Gruppe das Gegenüber angehört, ob Mehr- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) heit oder Minderheit, dass wir uns zu einer Wahl stellen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dürfen, ohne danach das Land verlassen zu müssen, dass wir unsere Meinung offen sagen dürfen, auch hart die Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Regierung kritisieren, ohne dafür vergiftet, erschossen, Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege eingesperrt zu werden. Christoph Bernstiel. Meinungsfreiheit missverstehen aber viele von Ihnen, liebe Demonstrierende, als das Recht, ihre Meinung (Beifall bei der CDU/CSU) unwidersprochen sagen zu dürfen. Nee, nee, Sie können schon alles sagen – fast alles –, aber ich eben auch. Sie Christoph Bernstiel (CDU/CSU): können gerne weiter starke Thesen äußern; Sie haben Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und dann aber auch meinen Widerspruch auszuhalten. Erst Kollegen! Wer unsere Polizei angreift, der greift uns alle dann ist es Meinungsfreiheit. an. Es sind die Polizei und die Sicherheitsbehörden, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung jeden des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Tag aufs Neue verteidigen. Ihnen gebührt unser Dank. Es ist Ihnen auch unbenommen, gegen alles und jeden (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- auf die Straße zu gehen. Geehrte Demonstrierende, ich ordneten der SPD) bitte Sie aber, sich ein paar Fragen zu stellen: Wird auf So weit sind sich in diesem Haus fast alle einig, doch Ihrer Demo jemand anderes zum Sündenbock gemacht, nicht alle; dies hat die AfD-Fraktion gestern eindrucks- während Sie eigentlich nur Kritik an bestimmten Ent- voll bewiesen. Nach der Ansprache von Wolfgang scheidungen hatten? Werden Beschimpfungen und Belei- Schäuble gab es hier Standing Ovations im ganzen Saal. digungen geäußert, obwohl Sie eigentlich wissen, dass sich das nicht gehört? Werden Flaggen geschwenkt von (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Aber nicht für Ländern, die ihre Kritiker umbringen, während Sie doch Geisel! Das war das Problem! Das wissen Sie für Meinungsfreiheit sind? Ist da eine Gegendemonstra- doch!) tion von Menschen überwiegend im Alter Ihrer Kinder, Nur eine Fraktion blieb sitzen: die selbsternannten Ver- obwohl Sie doch angeblich für die Zukunft unserer Kin- teidiger des Rechtsstaats und die Rückenstärker der Poli- der auf die Straße gehen? zei, die AfD-Fraktion. Deutlicher geht es ja wohl nicht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- (B) Oder noch eindeutiger: Tragen da Menschen neben Ihnen NIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der AfD: (D) einen Judenstern am Mantel, während Sie ja wissen, dass Billiges Politmanöver!) keine Menschen mehr fabrikmäßig ermordet werden? Und werden auf Ihrer Demo Menschen, die nicht so Aber was heißt „Polizei und Justiz stärken, Extremis- sind wie Sie, Journalistinnen und Journalisten oder Politi- mus konsequent bekämpfen“ eigentlich? Für uns gehören kerinnen und Politiker, als „Maden“ bezeichnet wie letzte dazu mehrere Dinge: zum einen natürlich eine moderne Woche in Dresden, obwohl Ihnen doch angeblich die Ausstattung mit Einsatzmitteln, ausreichend Personal, Menschenwürde so wichtig ist? Sind schwarz-weiß-rote ausreichend Befugnisse, aber auch politische Unterstüt- Fahnen zu sehen und wird dazu „Deutschland“ gesagt, zung – und an der mangelt es manchmal bei verschiede- obwohl Sie doch die Demokratie eigentlich ganz in Ord- nen Parteien. nung finden? – Dann, sehr geehrte Demonstrierende, nut- (Jan Ralf Nolte [AfD]: Politische Unterstüt- zen Sie Ihr Demonstrationsrecht – aber anderswo! Denn zung für Linksextreme! – Weiterer Zuruf von mit Nazis demonstriert man nicht; man wählt sie übrigens der AfD) auch nicht. Liebe AfD, eigentlich entlarven Sie sich ja immer wie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der selbst mit Ihren Kommentaren, aber jetzt muss man der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE doch vielleicht mal zwei Dinge aufrollen. Herr Curio, Sie GRÜNEN) haben von einem Fototermin hier vor dem Reichstag Wenn Sie dableiben, dann liegt es mehr an Ihnen als an gesprochen und gesagt, das wäre ja nicht schlimm. Wis- der Gesellschaft, wenn Sie in der rechten Ecke stehen. Sie sen Sie, nach offiziellen Angaben hatten wir am Wochen- haben sich da hingestellt. Dann wundern Sie sich bitte ende 38 000 Demonstrierende hier in Berlin. Davon war auch nicht so empört darüber. der überwiegende Teil friedlich, wenn auch mit eigen- artigen Ansichten, die ich bei Weitem nicht teile. Sie Wir schenken Ihnen jetzt viel Aufmerksamkeit, aber solidarisieren sich aber ausgerechnet mit den paar Hun- eigentlich gehört die Aufmerksamkeit denen, die nicht dert, die gewalttätig geworden sind, die Absperrungen in das rechte Weltbild passen. Daher möchte ich nur durchdrungen haben. noch eines sagen, geehrte Demonstrierende: Dass jede und jeder wählen und gewählt werden kann, das zeichnet (Dr. Gottfried Curio [AfD]: Fake News!) unser System aus. Dafür haben wir lange gekämpft; das – Jetzt hören Sie mal zu; jetzt rede ich. – Einer davon war sage ich Ihnen gerade als Sozialdemokratin. Dieses Haus einer Ihrer Parteikollegen. Der stand vor den Fernseh- hier, das stürmt man nicht, in das wird man gewählt! kameras und schrie – ich zitiere –: „Heute wird Geschich- Danke. te geschrieben, korrupte Verbrecher müssen festgenom- 21700 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Christoph Bernstiel (A) men werden!“ Also, wenn das „Verabreden zum Foto- (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) termin“ heißt, dann müssen Sie wirklich mal erklären, NEN]: Ja, wer denn nicht?) in welcher Reihe Sie sich dahinstellen. Und auch bei der lieben FDP: Wenn es zum Schwur (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie kommt, haben wir das Problem, nämlich wenn es um bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNIS- Einsatzmittel und um unsere Verfassungsschutznovelle SES 90/DIE GRÜNEN) geht. Es geht ja noch weiter. Frau von Storch, ich kann ja (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: durchaus verstehen, dass Sie frustriert sind, dass die Ich verstehe die Botschaft Ihrer Rede nicht!) CDU/CSU mit der AfD keine Koalition eingehen will; wir sind ein attraktiver Koalitionspartner. Der Kollege Strasser bezeichnete kürzlich das Verfas- sungsschutzgesetz der Großen Koalition als „absoluten (Lachen bei Abgeordneten der FDP und des Fehlgriff“. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Eine Zusammenarbeit wird Ihnen aber auch noch lange (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: verwehrt bleiben – wenn es nach mir geht, für immer. Jetzt haben Sie ja gegen alle ausgeteilt!) Aber wenn Sie dann das ganze Parlament hier als Wenn es um so dringend notwendige Befugnisse geht „Heuchler“ bezeichnen, dann geht das ein Stück zu wie die Quellen-TKÜ, die Onlinedurchsuchung und die weit, und es wird auch der Definition nicht gerecht. Ich Telekommunikationsüberwachung, dann sperren sich sage Ihnen, was heuchlerisch ist: Heuchlerisch ist, wenn doch fast alle Parteien in diesem Haus, mit wenigen Aus- Sie sich hierhinstellen und den Linksextremismus kriti- nahmen. Das ist etwas, was ich nicht nachvollziehen sieren – zu Recht –, aber kein Wort über den Rechts- kann. Wenn man sich hierhinstellt und davon spricht, extremismus verlieren und sich gleichzeitig noch mit Polizei und Justiz zu stärken, dann muss man das auch Rechtsextremisten gemein machen. Das ist heuchlerisch, mit konkreten Taten unterlegen und darf nicht immer nur das passt nicht ins Bild. Darüber sollten Sie sich mal schöne Sonntagsreden halten, meine Damen und Herren. Gedanken machen. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP FDP: Das muss man auch verfassungsfest und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) machen und nicht irgendwie! – Zurufe der Aber ich habe ja von der politischen Unterstützung Abg. Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gesprochen. Die beginnt auch mit der Sprache. Unsere NEN] und Dr. Konstantin von Notz [BÜND- Polizei ist kein Spielball. Sie ist auch kein Prellbock für NIS 90/DIE GRÜNEN]) (B) politische Auseinandersetzungen. Umso trauriger ist, was (D) wir – wenig überraschend – nach den schrecklichen Wenn wir von „Stärken der Polizei“ sprechen, dann Ereignissen in der Silvesternacht in Leipzig von der meinen wir das konkret, auch zusammen mit unserem Linkspartei hören. Da gibt es eine Abgeordnete – ich Koalitionspartner, indem wir 2 000 Richter und Staats- will ihren Namen nicht nennen –, die von „ekelhafter anwälte neu einstellen, 15 000 neue Polizisten für Bund Polizeigewalt“ und „kalkulierter Provokation“ spricht. und Länder, 64 Millionen Euro für geschützte Fahrzeuge bereitstellen, 650 neue Stellen beim Zoll, 3 900 Stellen Wir haben leider auch die SPD-Parteichefin, die sich im Zuständigkeitsbereich des BMI und der nachgeordne- nicht immer eindeutig äußert und davon spricht, dass die ten Behörden. Einsatztaktik der Polizei zu hinterfragen ist und dass es einen latenten Rechtsextremismus innerhalb der Polizei Aber wir wollen noch mehr – lieber Herr Präsident, gibt. bitte geben Sie mir noch die 30 Sekunden –: Wir wollen das Gesetz weiter verschärfen, vor allen Dingen mit (Jürgen Braun [AfD]: Mit solchen Leuten Fokus auf den Linksextremismus. Dort gibt es nämlich koalieren Sie!) auch Feindeslisten. Die wollen wir in Zukunft unter Oder nehmen wir die Miri-Gesetze, liebe Frau Justiz- Gefängnisstrafe stellen, wir wollen, dass Blockaden mit ministerin. Das sind dringend notwendige Gesetze, die bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden kön- unsere Polizeibehörden gefordert haben. Wir bzw. das nen, und wir wollen, dass Widerstand und Angriffe gegen BMI haben einen Riesenkatalog vorgelegt; davon ist die Polizei mit drei bzw. sechs Monaten Freiheitsstrafe fast nichts übrig geblieben. Auch das ist mangelnde geahndet werden können. Das sind wir unseren Polizis- Unterstützung unserer Polizei. tinnen und Polizisten schuldig. Wir werden uns dafür einsetzen. Ich hoffe, dass wir uns dabei auf die breite Dann zu Frau Mihalic; sie ist heute nicht da. Ich schät- Mehrheit des ganzen Hauses stützen können. ze sie sehr, (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. GRÜNEN]: Sie ist im Untersuchungsausschuss (Beifall bei der CDU/CSU) und streitet für unsere Demokratie!) doch kürzlich äußerte sie sich in einem Interview in der Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: „FAZ“ und sagte: „Wir Grüne mussten erst lernen, dass Für die Fraktion der SPD hat das Wort der Kollege die Polizei ein positiver Faktor ist.“ Manchmal fragt man Helge Lindh. sich: Haben es denn schon alle Grünen verstanden, oder dauert es noch ein bisschen? (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21701

(A) Helge Lindh (SPD): ckung, obwohl sie genug Grund hätte, sich über dieses (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Land aufzuregen. – Ich glaube, diese Perspektiven sind Dr. Curio war so frei, uns – wenn ich mich recht erinnere – wichtig, um den Gesamtzusammenhang zu begreifen. die Kosten syrischer Gefährder und anderes aufzurech- nen. Ich bin so frei, an dieser Stelle eine Rechnung in Ich bin auch der Meinung, dass wir sehr wohl die Auftrag zu geben, aus der hervorgeht, was Gefährderin- Pflicht haben, jede einzelne Maßnahme zur Einschrän- nen und Gefährder der AfD in sämtlichen Parlamenten kung von Freiheits- und Bürgerrechten gut zu begründen, und Stadträten dieses Landes an Kosten verursachen. dass wir Fehler einsehen müssen, dass wir mehr als bisher klarstellen müssen, warum welche Entscheidungen (Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE]) gefällt werden, warum wir vielleicht auch Fehler gemacht haben und manchmal auch unsicher sind bei gesundheits- Ich bin gespannt auf das Gesamtergebnis. politischen und sonstigen Maßnahmen. Aus der Perspek- Lassen Sie uns also über Freiheit und von Freiheit tive einer selbstbewussten Demokratie bedeutet das aber reden. Es gibt nicht nur die Freiheit von Unterdrückung auch, dass es eben nicht nur Bürgerrechte gibt, sondern und Gewalt, sondern es gibt eben auch die Freiheit zu auch Bürgerpflichten. etwas, zum Beispiel die Freiheit, zu demonstrieren. Ich glaube, nicht wenige, die hier, aber auch anderswo, auch Ich finde es doch sehr erstaunlich, wie viele, die sich in Leipzig, gewalttätig demonstriert haben, haben die sonst aufregen, dass man mit Kriminellen so viel Mitge- damit einhergehende Verantwortung der Freiheit zu etwas fühl hat, jetzt Tausende von Argumenten finden, warum nicht wirklich begriffen. Deshalb halte ich es für sinnvoll, die Personen, die hier in Berlin demonstriert haben, das mit den Begrifflichkeiten vorsichtig umzugehen, und rate Recht hätten, sich entsprechend zu äußern. Ich sage aber der AfD und vielen anderen, die sich so mitfühlend über deutlich: Wer neben Leuten mit Reichsflaggen, neben die Demonstranten hier in Berlin äußern, einen gewissen Identitären, neben Völkischen, neben Hildmann und Co Perspektivenblick zu entwickeln. demonstriert, der betreibt Integrationspolitik für Nazis, und der macht Nazis in diesem Land hoffähig. Jüngst sprach ich mit Holger Fach – ihn kennen sicher einige –, dem ehemaligen Fußballnationalspieler. Er (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schilderte mir die Situation seiner Mutter. Sie ist hoch- der CDU/CSU, der LINKEN und der FDP) betagt, hat den Zweiten Weltkrieg erlebt und lebt jetzt Es gibt dafür keinerlei Rechtfertigung und auch keinerlei isoliert in einer Alteneinrichtung. Sie hätte allen Grund, Entschuldigung. Es bringt überhaupt nichts, mimosenhaft über ihre Freiheitsrechte zu sprechen; denn sie ist eine Mitgefühl mit diesen Personen zu haben. Wer da läuft, besonders Leidtragende der Maßnahmen aufgrund von weiß, was er tut und muss sich dafür verantworten. (B) Corona. Aber sie ist in voller Demut und hochdankbar (D) dafür, in diesem Land leben zu können; denn sie weiß, Unser Maßstab kann nicht sein, zu sagen: Das ist nicht was eine echte Diktatur gewesen ist und was Freiheit strafbar. Wenn wir uns immer nur an der Linie der Nichts- bedeutet. Sie findet es zutiefst zynisch, angesichts des trafbarkeit bewegen würden, könnten wir diese Demo- derzeitigen Zustands die Frechheit zu besitzen, in diesem kratie zumachen. Nein, jeder Einzelne hat eine Verant- Land von einer „Coronadiktatur“ zu sprechen. wortung, und die Debatte darüber vermisse ich. Der Skandal ist doch nicht allein, dass Hunderte oder Tausen- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der de Nazis demonstriert haben. Der Skandal ist, dass da CDU/CSU) Zehntausende mitdemonstriert haben, egal welcher welt- – Ja, da kann man ruhig klatschen. anschaulicher Orientierung, und kein Problem damit hat- ten, das neben Reichsflaggen, Reichskriegsflaggen und Ich erinnere an Syrer und Syrerinnen, mit denen ich Nazis zu tun. Das ist das Problem. Dafür brauchen wir vor ein paar Tagen gesprochen habe, die hier Unter- einen Aufschrei. schlupf gefunden haben und immer wieder dafür danken, dass sie hier in Freiheit leben können; denn sie haben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vorher in einem Staat gelebt – dessen Führung unter der CDU/CSU) Herrn Assad die AfD ja durchaus sehr schätzt –, in dem es so etwas wie Demonstrationsfreiheit, Freiheit der Mei- Denn es bedeutet, dass sich eine krude Mischung – ich nungsäußerung oder Pressefreiheit nicht gab. Sie sind nenne es: ein toxisches Gebräu – inmitten unserer Gesell- dankbar und stolz darauf, hier leben zu können. Sie hätten schaft entwickelt. Grund, zu demonstrieren gegen das, was in ihrem Land Die heutige Aktuelle Stunde mit dem Titel „Keine und ihren Angehörigen passiert. Toleranz für die Feinde der Demokratie“ müsste eigent- Ich erinnere in diesem Moment an jemand Drittes, der lich „Keine Toleranz für die Mitläufer der Feinde der eigentlich jeden Tag Grund hätte, zu demonstrieren. Es Demokratie“ heißen; denn sie sind das eigentliche Pro- handelt sich um eine 16-jährige Frau, die ich gestern blem. Wir müssen uns viel mehr als bisher diesen zuwen- interviewen durfte und die aufgrund dessen, dass sie den und deutlich machen, dass sie verantwortungslos mit Kopftuch trägt, schlimmste Diskriminierung bei der ihrer Freiheit umgehen. Praktikumssuche und vielem anderen erfährt und deren Vielen Dank. Leben überschattet ist von den Ereignissen des NSU und von Hanau. Sie ist stolz auf dieses Land und stolz auf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten diese Demokratie, und sie läuft nicht auf die Straße und der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- behauptet, dieses Parlament sei Ausdruck von Unterdrü- NISSES 90/DIE GRÜNEN) 21702 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

(A) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Sören Pellmann [DIE LINKE]: Kommen Sie (C) Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/ einfach mal zu uns!) CSU-Fraktion. Wichtig ist ebenso – das sage ich den Kollegen der (Beifall bei der CDU/CSU) AfD –, dass das, was Sie hier vorgebracht haben, erschre- ckend und entlarvend zugleich war. Sie haben versucht, die Vorkommnisse auf der Treppe des Reichstagsgebäu- Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): des – der Kollege Curio hat von „Fake News“ gespro- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- chen – zu einem Fototermin umzustilisieren. Frau Kolle- ren! Am Ende der Aktuellen Stunde sind zwei Einsichten gin von Storch hat die Presse und die Kollegen hier im entscheidend: zum einen, dass in unserem Staat das Deutschen Bundestag beschimpft. Dieser ganze Zusam- Gewaltmonopol beim Staat liegt und dass Gewaltfreiheit menhang macht klar und deutlich, wo Sie stehen. die Grundlage jedes politischen Diskurses ist. Wer (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Gewaltfreiheit leugnet und wer versucht, mit Gewalt sei- der SPD) ne Meinung durchzusetzen, der stellt sich außerhalb der möglichen Diskursformen in unserer Demokratie, und Sie verteidigen Demonstranten mit einer Reichsflagge. das muss klar so benannt werden. Die Reichsflagge war schon in der Weimarer Zeit das Signal der antidemokratischen Rechten. Das Deutsche (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Reich, das Dritte Reich, der Beginn der Nazidiktatur, ordneten der SPD) hat von 1933 bis 1945 die Reichsflagge zur National- Und zum Zweiten: Wir müssen jeden Extremismus flagge gemacht. bekämpfen, gleich welcher Art und gleich welcher Her- (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das Reich hat kunft. Extremismus gibt es in unterschiedlicher Form – dieses Haus gebaut!) Rechtsextremismus, Linksextremismus, Antisemitismus Wenn Sie die Menschen verteidigen, die eine Reichsflag- und Islamismus –, aber alle eint, dass sie Pluralismus ge vor dem Bundestag wehen lassen, wenn Sie die Presse verleugnen, die Freiheit negieren, die Demokratie beschimpfen und wenn Sie sich antiparlamentarisch ver- abschaffen wollen und die Würde des Einzelnen angehen. halten, dann stellen Sie sich in die Tradition der Men- Auch wenn im Augenblick der Rechtsextremismus die schen, die bereits 1932 und 1933 die Demokratie stärkste Bedrohung darstellt, so darf ein wehrhafter bekämpft haben. Rechtsstaat auch alle anderen Formen des Extremismus nicht vergessen, sondern er muss jede Form des Extre- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem mismus adressieren und bekämpfen, nachdrücklich und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Götz (B) mit Energie. Frömming [AfD]: Wir haben die Demonstra- (D) tionsfreiheit verteidigt! Das wissen Sie ganz (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. genau! Heuchelei!) Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Wir brauchen Wachsamkeit gegen Extremismus jegli- GRÜNEN]) cher Art. Das beginnt bei jedem Einzelnen. Das beginnt Ich will davor warnen, dass man sich im Diskurs immer mit Respekt vor unserer Polizei. Das beginnt mit Respekt nur auf eine Art von Extremismus konzentriert. Wenn wir im demokratischen Diskurs. Das beginnt mit Prävention über Linksextremismus sprechen, müssen wir über und Aufklärung in der Schule und letztlich mit der Linksextremismus sprechen und dürfen nicht mit dem gemeinsamen Haltung, dass unsere freiheitlich-demokra- Rechtsextremismus ablenken, und auch nicht umgekehrt. tische Grundordnung, die Würde des Einzelnen, der Plu- Wir dürfen auf keinem Auge blind sein für die Feinde ralismus, die Freiheit des anderen, unsere Demokratie ein unseres Landes. hohes Gut sind, das wir verteidigen müssen gegen jede Form von Extremismus. Diese Geisteshaltung müssen Deswegen noch ein Satz zu Leipzig. Was in Leipzig wir jeden Tag erneut verteidigen. passiert ist, war keine Form der akzeptablen Auseinan- Herzlichen Dank. dersetzung in unserem Staat. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. ordneten der SPD) Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Wer aus einer Menge heraus mit Steinen auf Polizisten Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aktuelle Stunde wirft, ist kein Aktivist und kein Demonstrant, sondern ein ist beendet. Gewalttäter, der vor Gericht gestellt werden muss. Keine Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 12 a und andere Deutung ist möglich. 12 b: (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung NIS 90/DIE GRÜNEN) eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Deswegen ist es gerade auch die Pflicht der Linken, sich Gesetzes zur steuerlichen Entlastung von eindeutig von diesen Gewaltexzessen zu distanzieren und Familien sowie zur Anpassung weiterer dafür zu sorgen, dass im vorpolitischen Raum in Leipzig steuerlicher Regelungen (Zweites Fami- keine Melange entsteht, in der diese Art von Gewalt lienentlastungsgesetz – 2. FamEntlastG) gedeihen kann. Drucksache 19/21988 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21703

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Überweisungsvorschlag: Dieser Vorschlag umfasst nicht nur die Verdoppelung (C) Finanzausschuss (f) der Behinderten-Pauschbeträge und die Verbesserung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO beim Pflege-Pauschbetrag, sondern auch ein Maßnahme- bündel, um Bürgerinnen und Bürger mit Behinderung zu b) Erste Beratung des von der Bundesregierung entlasten, die Verfahrensabläufe zu vereinfachen – „Ent- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur bürokratisierung“ ist ein Stichwort, das mir dazu ein- Erhöhung der Behinderten-Pauschbeträ- fällt –, damit die steuerliche Anerkennung insgesamt bes- ge und zur Anpassung weiterer steuerli- ser wird. Für mich und die Bundesregierung sind das cher Regelungen allesamt Maßnahmen, die ein Signal des Respekts setzen. Drucksache 19/21985 (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Die vorliegenden Gesetzesvorhaben enthalten über das Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hinaus, was ich schon erwähnt habe, folgende Maßnah- Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO men: Der Einkommensteuertarif wird für 2021 und 2022 Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten überarbeitet, um die steuerliche Freistellung des Exis- beschlossen. tenzminimums der steuerpflichtigen Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen und darüber hinaus die Auswir- Wir warten noch einen kleinen Moment. – Liebe kungen der sogenannten kalten Progression auszuglei- Kolleginnen und Kollegen, Zwiegespräche bitte draußen chen. Diese Maßnahmen berücksichtigen gleichzeitig führen, damit wir weitermachen können. die voraussichtlichen Ergebnisse des 13. Existenzmini- Ich eröffne die Aussprache, und die erste Rednerin ist mumberichts und des Vierten Steuerprogressionsberich- für die Bundesregierung die Parlamentarische Staatssek- tes, die noch rechtzeitig vor Ende der parlamentarischen retärin Bettina Hagedorn. Beratungen und Gesetzgebungsverfahren vorliegen wer- den. (Beifall bei der SPD) Die aus der Umsetzung der Berichtsvorgaben resultier- enden Steuersenkungen werden damit im nächsten Jahr Bettina Hagedorn, Parl. Staatssekretärin beim Bun- fällig und können damit sofort greifen. Der Gesetzent- desminister der Finanzen: wurf wurde ausnahmsweise als besonders eilbedürftig Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! im Sinne des Artikels 76 Absatz 2 Satz 4 des Grund- Ihnen liegt der Entwurf eines Zweiten Familienentlas- gesetzes erklärt, um im Hinblick auf die erforderlichen tungsgesetzes zur ersten Lesung vor, um – wie in unserem (B) IT-technischen Anpassungen – das Problem kennen wir (D) Koalitionsvertrag vereinbart – Familien weiter zu stär- ja bei unseren Gesetzesvorhaben – einen rechtzeitigen ken, aber auch um Bürgerinnen und Bürger mit mittleren Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens noch in diesem und unteren Einkommen finanziell besserzustellen. Die- Jahr gewährleisten zu können. ser Gesetzentwurf enthält ein ganzes Bündel an Maßnah- men, die allesamt wichtige Impulse für das kommende Meine Redezeit für die Regierung geht zu Ende. Ich Jahr setzen werden und zur Entlastung von rund 11,8 Mil- bin sicher, dass in der nun folgenden Debatte der ersten liarden Euro jährlich führen werden. Dazu gehört eine Lesung alle Kollegen noch die Chance nutzen werden, erneute Erhöhung des Kindergeldes. Wir haben es zum um die Details auszuführen und um vor allen Dingen in Sommer letzten Jahres bereits um 10 Euro pro Kind einer guten konstruktiven Beratung ein, wie wir als erhöht, und setzen das jetzt fort mit einer Erhöhung – Regierung finden, gutes Gesetz möglicherweise noch wie versprochen – um 15 Euro pro Kind und Monat ab etwas besser zu machen. 1. Januar 2021. Ich danke Ihnen allen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dazu gehört natürlich auch, dass der steuerliche Kinder- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: freibetrag um 576 Euro je Kind erhöht wird und dass der Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Die nächste Red- Einkommensteuertarif aktualisiert wird. nerin ist für die Fraktion der AfD die Kollegin Franziska Eine weitere Aufgabe aus unserer Legislaturperiode, Gminder. der wir uns gemeinsam verpflichtet fühlen, ist es aber (Beifall bei der AfD) auch, die Anpassung der pauschalen Steuerfreibeträge für Menschen mit Behinderung zu prüfen. Das Ergebnis legen wir Ihnen jetzt mit diesem Gesetzentwurf vor. Die Franziska Gminder (AfD): Bundesregierung schlägt eine Erhöhung des Behinder- Sehr geehrter Herr Präsident! Die Frau Ministerin ist ten-Pauschbetrages vor, genau genommen eine Verdop- leider nicht mehr präsent. Meine Damen und Herren! pelung des Behinderten-Pauschbetrags, und das – man Heute beraten wir das sogenannte Zweite Familienentlas- mag es sich kaum vorstellen – das erste Mal seit 45 Jah- tungsgesetz. Es geht um die Anhebung des Kindergeldes ren. und der Kinderfreibeträge zum 1. Januar 2021. Zur Erin- nerung: Artikel 6 unseres Grundgesetzes besagt: „Ehe (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Sören und Familien stehen unter dem besonderen Schutze der Pellmann [DIE LINKE]: Längst überfällig!) staatlichen Ordnung.“ Die Familie, bestehend aus Vater, – Stimmt. Mutter und Kindern, ist die Keimzelle unseres Staates. 21704 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Franziska Gminder (A) ( [SPD]: Das ist wahrscheinlich (Zurufe von der LINKEN) (C) Ihre Interpretation! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das steht da aber nicht!) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Leider vollziehen sich in Deutschland bereits seit Jahren Liebe Kollegen, lassen Sie bitte Frau Gminder ausspre- eine Aufweichung dieses Artikels und ein Wandel des chen. Familienbegriffes. ( [SPD]: Reden Sie zum Ge- Franziska Gminder (AfD): setz! – Weitere Zurufe von der SPD, der LIN- Leider wächst die Zahl der Kinderlosen besonders KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) unter Akademikerinnen, und dies schwächt die Zukunfts- – Damals gab es gar keinen anderen Familienbegriff. aussichten. Die Beitragsbemessung für Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung sollte zu einer direkten Der geplanten Anhebung des monatlichen Kindergel- Entlastung bei Familien mit Kindern führen; denn diese des um 15 Euro stimmen wir zu, halten dies aber für ein tragen überproportional zur Versicherung von Kinderlo- Nasenwasser angesichts der Probleme, mit denen eine sen bei. Seit zehn Jahren liegen Elternklagen zu diesem Familie mit Kindern heute konfrontiert ist. Im Gesetzes- Thema beim Bundessozialgericht in Kassel. Ich erinnere text erkenne ich nicht wirklich einen Abbau der kalten in diesem Zusammenhang an Aussagen von Professor Progression. Von einer möglichen Anhebung der Exis- Jürgen Borchert, Sozialrichter aus Darmstadt; ich hoffe, tenzminima für steuerpflichtige Personen und ihre Kinder er ist Ihnen bekannt. wird zwar gesprochen, jedoch schlägt bei einem Jahres- einkommen ab circa 56 000 Euro der Spitzensteuersatz (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- mit 42 Prozent immer noch zu. Warum wird dieser Betrag NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber der würde sich nicht angehoben? Seit Jahren unverändert – ein Skandal! schwer darüber ärgern, dass Sie ihn zitieren!) (Beifall bei der AfD) Die häusliche, durch die Familie getragene Fürsorge Welche Maßnahmen können familienfördernd wirken? verdient als Familienarbeit sowohl für Kinder als auch Zur Bekämpfung der demografischen Katastrophe muss für die Pflege der eigenen alten Eltern gesellschaftliche die Familie ihre wirtschaftliche Einheit zurückgewinnen. und sozialpolitische Anerkennung und Absicherung. Auch ein Alleinverdiener sollte eine Mehrkindfamilie mit Eine Anrechnungsfreistellung bei der Grundsicherung seinem Einkommen versorgen können. Damit entfiele in oder Wohneigentum tragen besonders zur Alterssicher- vielen Fällen der Zwang, schon Kleinstkinder in Krippen heit bei. Die östlichen und baltischen Länder liegen hier quasi gleich nach der Geburt abzugeben. Die überwie- mit einer Quote von 78 bis 96 Prozent an der Spitze. (B) gende Mehrheit der Mütter möchte ihre Kinder bis zum Deutschland mit circa 51,5 Prozent ist Vorletzter vor (D) Alter von drei Jahren zu Hause selbst betreuen. dem Schlusslicht, der Schweiz, wo es mit 42 Prozent noch schlechter um die Sache bestellt ist. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch!) (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aber mit dem Gesetz ändern Sie das nicht!) Bedauerlicherweise wird dies sehr oft aus finanziellen Gründen verhindert. Berechnungen haben ergeben, dass Ein Mittel zur Förderung von Wohneigentum war die die Kosten eines Krippen- bzw. Kindergartenplatzes für Eigenheimzulage, die im Jahr 2006 leider abgeschafft die Allgemeinheit bei circa 1 100 Euro pro Monat liegen. wurde. Auch § 27b UStG – der Abschreibungsparagraf – fällt unter Tempi passati. Das Baukindergeld, beantragbar (Dagmar Ziegler [SPD]: Das ist gut investiertes bei der KfW, das 2018 eingeführt wurde, war eine Ent- Geld!) scheidung in die richtige Richtung. Das wäre gut investiertes Geld bei einer Mutter, die ihr Kind zu Hause selbst betreut. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall bei der AfD – Steffi Lemke [BÜND- Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie schon mal was von Männern gehört, die Kinder (Michael Schrodi [SPD]: Kommen Sie zum betreuen?) Thema!) Die AfD setzt sich seit ihrem Bestehen für die Ein- führung eines Familiensplittings statt eines Ehegatten- Franziska Gminder (AfD): splittings ein. Die Eltern von heute sorgen gemäß Genera- Es kann aber auch keine Wunder bewirken. tionenvertrag für die Beitragszahler von morgen. Leider Wir fordern die lineare Absenkung der Grund- wächst die Zahl der Kinderlosen. erwerbsteuer für Familien mit Kindern beim Immobilien- (Zuruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE kauf zur Selbstnutzung. Ab drei Kindern sollte sie ganz LINKE]) entfallen. Auch zinsbegünstigte Kredite zu diesem Zweck wären erwägenswert. – Könnten Sie mich ausreden lassen? Das wäre sehr nett.

(Katrin Werner [DIE LINKE]: Nein, bei so Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: einem Blödsinn geht das irgendwann nicht!) Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Ende – letzter Sonst fragen Sie doch, ob Sie eine – – Satz! Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21705

(A) Franziska Gminder (AfD): Anspruch darauf haben. Das ist eine gute Entlastung für (C) Die Unterbrechung wurde nicht gezählt, oder? Familien. Damit aber nicht genug: Wir haben auch das Bildungs- und Teilhabepaket angepasst. Wir haben die Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Pauschale für den Schulbedarf noch einmal erhöht. Zu Die Zeit ist abgelaufen. Beginn des Schuljahres konnten Eltern nunmehr auf 150 Euro für zusätzlichen Schulbedarf zurückgreifen. Wir haben es Kindern ermöglicht, für 15 Euro pro Monat Franziska Gminder (AfD): zusätzlich Sport- und Kultureinrichtungen zu besuchen. Bitte? Wir haben den Eigenanteil bei der Mittagsverpflegung und bei der Beförderung von Schul- und Kindergarten- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: kindern wegfallen lassen. Zudem haben wir den Die Zeit ist jetzt abgelaufen. Sie hatten vier Minuten. Anspruch auf Lernförderung – das war zugegebenerma- ßen schon längst fällig – schon da angesetzt, wo Kinder Schwierigkeiten haben und nicht erst bei Versetzungsge- Franziska Gminder (AfD): fährdung. Aber wenn ich doch immer unterbrochen werde. – Also, ich möchte einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz Homeschooling hat dazu geführt, dass wir festgestellt auf Produkte und Dienstleistungen des Kinderbedarfs haben, dass es Nachholbedarfe bei Kindern gibt, in deren und eine Absenkung des Steueranteils bei den Stromkos- Elternhäusern nicht ohne Weiteres ein Laptop aufgestellt ten für alle Beteiligten. wird. Wir geben 500 Millionen Euro aus, um auch diesen (Lachen bei der CDU/CSU) Kindern das Homeschooling zu ermöglichen. Aktuell wird der Kinderbonus ausgezahlt: zunächst 200 Euro und dann im Oktober noch mal 100 Euro. Das sind ins- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: gesamt 300 Euro pro Kind, die wir mit dem Investitions- So, Frau Kollegin, jetzt reicht’s! paket des Corona-Steuerhilfegesetzes auf den Weg gebracht haben. Franziska Gminder (AfD): (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Es gibt noch viel zu tun, um unseren Familien zu mehr Rechten zu verhelfen. Heute machen wir weiter mit dem Zweiten Familien- entlastungsgesetz. Ich gebe zu: Die Namen der Gesetze Vielen Dank. werden weniger kreativ. Nach dem Starke-Familien-Ge- (Beifall bei der AfD – Dr. Petra Sitte [DIE setz und dem Gute-Kita-Gesetz sind wir jetzt bei dem (B) LINKE]: Die Redezeit haben Sie nur gekriegt, bürokratisch klingenden Zweiten Familienentlastungsge- (D) weil der Präsident gegenüber älteren Menschen setz. Inhaltlich kann es sich jedoch sehen lassen: Wir höflich ist! – Gegenruf von der AfD: Im Ge- geben 12 Milliarden Euro an die Familien zurück. Dabei gensatz zu Ihnen!) hat das Kindergeld mit einer Erhöhung um 15 Euro pro Monat zum 1. Januar 2021 den größten Anteil. Das sind Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: weitere 15 Euro, nachdem wir zum 1. Juli 2019 das Kin- Die nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion die dergeld schon mal um 10 Euro pro Monat erhöht hatten. Kollegin Antje Tillmann. Es steigt also für das erste Kind auf 219 Euro und ab dem vierten Kind sogar auf 250 Euro. Der Kinderfreibetrag wird entsprechend angepasst. Antje Tillmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie- Ich weiß, dass die Opposition zum Kinderbonus gesagt be Zuschauer! Liebe Zuhörer! Diese Legislaturperiode hat, er habe nur Auswirkungen für Familien mit geringem steht unter dem großen Themenschwerpunkt „Familien- Einkommen. Beim Kinderfreibetrag wird der andere Teil entlastung". Neben Investitionen in die Infrastruktur wie der Opposition gleich sagen, dieser begünstige die reiche- Kindergärten und Schulen haben wir uns vorgenommen, ren Familien. Daran können Sie erkennen, dass das Familien auch finanziell deutlich zu entlasten. Einen Gesamtkonzept gerecht ist. Wir versuchen, alle Familien wesentlichen Teil davon haben wir auch schon geschafft. entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zu unterstützen. Mit dem Starke-Familien-Gesetz haben wir 1 Milliarde Ich habe sehr viel Verständnis für eine Debatte über Euro in den Kinderzuschlag gesteckt. Wir haben ihn auf einen Kindergrundbetrag. Das halte ich für eine charman- 185 Euro pro Kind erhöht, und ab 2021 wird er jährlich te Diskussion. Ich beschäftige mich seit Jahren damit, angepasst. Deutlich mehr Alleinerziehende als früher weil ich es sehr gerne sähe, dass wir alle familienpoliti- erhalten nun den Kinderzuschlag, und das, obwohl die schen Leistungen, die wir den Familien gegenüber erbrin- AfD Alleinerziehende nicht für Familien hält. Frau gen, in einer Summe ausweisen und so den Familien Gminder, seien Sie gewiss: Meine Tochter und ich sind sagen können, in welcher Größenordnung sie die Unter- eine glückliche Familie, und wir sind zufrieden mit unse- stützung der Gesellschaft erhalten. rer Situation. Aber: Der Satz „Jedes Kind muss dem Staat gleich viel (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) wert sein“ ist beim Kindergrundbetrag nicht zutreffend; In der Coronakrise haben wir den Kinderzuschlag noch das ist auch nicht gewollt. Denn natürlich soll es einen mal verbessert und die Zugangsvoraussetzungen noch einheitlichen Kindergrundbetrag geben; aber dieser soll mal erleichtert, sodass mittlerweile 2 Millionen Kinder bei Familien mit höherem Einkommen abgeschmolzen 21706 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Antje Tillmann (A) werden. Das würde aber zu einem erheblichen bürokrati- Markus Herbrand (FDP): (C) schen Aufwand führen und ebenso dazu, dass es bei Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und getrenntlebenden Eltern neben möglichen Erziehungs- Kollegen! Alle zwei Jahre erfreut sich die Koalition an problemen zu weiteren Streitigkeiten kommen kann. einem Familienentlastungsgesetz, und alle zwei Jahre sieht die FDP das kritisch. Wir können uns da nicht so Deshalb werden wir zunächst mit der Situation leben müssen, dass das Kindergeld und der Kinderfreibetrag als mitfreuen. Warum? Es handelt sich im Kern um minimal- invasive Eingriffe in unser Steuerrecht, die mit geringsten Entlastung für Kinder ganz wesentlich sind. Ich kann Entlastungen versehen sind und verfassungsmäßig im Ihnen versichern: Diese beiden miteinander zu verglei- chen und zu dem Ergebnis zu kommen, dass bei gutver- Grunde genommen schon geboten sind. dienenden Eltern die Kinder mehr gefördert werden, ist Wirtschafts- und finanzpolitisch wäre was ganz ande- einfach unredlich; denn Kinder mit gering verdienenden res geboten. Wir brauchen spürbare Entlastungen für Eltern bekommen neben Regelsatz und Wohngeld das kleine und mittlere Einkommen und eine Entrümpelung Kindergeld, den Kinderzuschlag, den Kinderbonus, den dieses überbürokratisierten Steuersystems. kostenlosen Kindergartenplatz und das Bildungs- und (Beifall bei der FDP) Teilhabepaket. Sie werden also durch die Gesellschaft deutlich stärker unterstützt als Kinder von Eltern, die Ihnen fehlen einfach der Mut und auch der Wille zu sich durch eigenes Einkommen finanzieren können. Des- diesen Entlastungen. Ich glaube, auch da weiß ich, halb, glaube ich, können im Gesamtkonzept alle Seiten warum: Sie benötigen einfach das Geld für immer weitere mit diesem Gesetz leben. neue Ausgaben. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) Gleichzeitig werden wir den Behinderten-Pauschbe- Die SPD spricht sogar von Steuererhöhungen; die Kolle- trag erhöhen. Erwerbstätige Behinderte haben schon gin sprach es an. lange darauf gewartet. Wir sind froh über jeden Men- Zu den beiden Gesetzen: schen mit Beeinträchtigung, der einen Arbeitsplatz fin- det, und wir unterstützen das sehr. Aber natürlich kom- Das Familienentlastungsgesetz beinhaltet die obligato- men zusätzliche Kosten auf diese Menschen zu. Deshalb rische Kindergelderhöhung, mit einer progressiven Ent- ist es gut, dass wir die Behinderten-Pauschbeträge auf lastungswirkung versehen. Die Details dazu sind erläutert 7 400 Euro verdoppeln, die Fahrkosten-Pauschbeträge worden. Wir haben im Prinzip schon vor einem Jahr einen einführen und die Situation im Falle der häuslichen Pfle- eigenen Antrag zur Entlastung von Familien im Steuer- ge verbessern werden. Auch das ist guter Teil dieses recht hier eingereicht. Den werden wir an dieses Gesetz koppeln. Er ist etwas weiter gehend. Sie können sich ihn (B) Gesetzes. Ich bin froh, dass es uns endlich gelungen ist, (D) diese Entlastung herbeizuführen. noch zu eigen machen. Zur Erhöhung der Pauschbeträge für Behinderte. Da Abschließend möchte ich noch sagen: Das Existenz- nehmen Sie eine alte Forderung der FDP mit auf; wir minimum und der Grundfreibetrag werden erneut erhöht. sind dabei. Die Verdopplung reicht natürlich im Kern 2,4 Milliarden Euro geben wir den Menschen zurück. Das gar nicht aus. Seit 1974 sind diese Pauschbeträge nicht tun wir nun seit 2014 alle zwei Jahre, und wir werden es mehr angepasst worden. Bei dem, was die Inflation sozu- wieder tun. Die kalte Progression, also die schleichende sagen aufgefressen hat, reicht selbst die Verdopplung Inflation beim Lohn, gibt es nicht mehr. Wir neutralisie- noch nicht aus. Aber es ist natürlich besser als nichts. ren sie. Auch das wird mit diesem Gesetz gemacht. Positiv bewerte ich auch, dass der Versuch unternommen (Beifall bei der CDU/CSU) wird, hier tatsächlich auch mal Bürokratie abzubauen. Alles in allem geben wir trotz der Coronasituation Mein Fazit ist: Im Prinzip ist es Flickschusterei. Ihnen erhebliche Beträge aus Steuereinnahmen an die Bürger- fehlt da ein Gesamtkonzept, was sowohl Entlastung als innen und Bürger weiter; denn wir sind der Meinung, auch die Entbürokratisierung angeht. Diese Mutlosigkeit dass es sinnvoll ist, das Geld bei den Menschen zu belas- im Steuerrecht zieht sich wie ein roter Faden durch die sen. Sie wissen am besten, was sie damit machen, wie sie Politik dieser Legislaturperiode. Investitionen anregen oder wie sie ihre Kinder unterstüt- (Dr. Wiebke Esdar [SPD]: Wenn die FDP von zen. Mutlosigkeit spricht!) Es ist gut, dass wir das tun. Steuererhöhungsdebatten, – Die FDP macht immer Alternativvorschläge zur Steuer- die sich der eine oder andere im Moment ausdenkt, sind politik. Ich kann Ihnen dazu einige Beispiele nennen. Das nicht unser Programm; das ist mit uns nicht zu machen. prominenteste betrifft sicherlich den Solidaritätszu- Wir bleiben weiter auf dem Weg der Entlastung der Bür- schlag. Sie wollen davon gar nichts hören. Sie würden gerinnen und Bürger und fangen heute mit den Familien es ja gerne machen, und wir schlagen es permanent vor. an. ( [CDU/CSU]: Wir hätten es Danke. ja gemeinsam gemacht! Sie haben es nicht mit- (Beifall bei der CDU/CSU) gemacht!) Das Zweite ist die dringend notwendige Unterneh- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: mensteuerreform. Sie wollen davon gar nichts hören. Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Markus Sie würden sie gerne machen. Wir haben sie schon längst Herbrand. vorgeschlagen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21707

Markus Herbrand (A) Das Dritte. Sie haben sich entschieden, zur Bekämp- erziehenden das eben nicht ankommt. Sie und ich sind in (C) fung der Pandemie eine temporäre Umsatzsteuerreduzie- der super Lage, hier im Bundestag zu sein: Ja, wir profi- rung einzuführen. Wir haben als Alternative eine dauer- tieren auch von vielen Sachen. Aber für die Mehrheit der hafte strukturelle Entlastung durch die Abschaffung des Alleinerziehenden da draußen sind 300 Euro oder zwei- Mittelstandsbauchs vorgeschlagen. Das ist wesentlich mal 150 Euro Kinderbonus noch nicht mal ein Ausgleich unbürokratischer. Man kann uns also nicht vorwerfen, für das, was in den letzten Monaten auf sie zukam. dass wir nicht auch eigene Vorschläge einbringen. Das Wir haben hier darüber gesprochen: Die Menschen machen wir immer. haben Angst um ihre Jobs. Die Menschen können viele Wir werden die Beratungen zu diesem Gesetz selbst- Dinge nicht bezahlen. Es gibt Tafeln, die nicht mehr verständlich positiv begleiten. Wir freuen uns auf die geöffnet haben. Da reichen keine 300 Euro oder zweimal Debatten im Ausschuss. 150 Euro Kinderbonus und 15 Euro Kindergelderhöhung. Herzlichen Dank. Erhöhen Sie das Kindergeld endlich sofort auf 328 Euro. Dann tun Sie was für Kinder, dann tun Sie auch was für (Beifall bei der FDP) Familien, und so können Sie auch der Kinderarmut ent- gegenwirken. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall bei der LINKEN) Die Kollegin Katrin Werner hat das Wort für die Frak- tion Die Linke. Um das auch noch zu erwähnen: Bei Hartz IV gibt es ja immer eine Anrechnung. Die kleine, minimale Erhöhung (Beifall bei der LINKEN) der Hartz-IV-Sätze hilft da auch nicht. Also, wenn Sie wirklich für Familien und gegen Armut etwas tun wollen, Katrin Werner (DIE LINKE): dann machen Sie den großen Wurf, und gehen Sie nicht Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und so kleine Schritte. Es wurde irgendwann mal gesagt: Herren! Mit dem vorliegenden Gesetz soll das Kinder- „Wumms.“ geld ab 2021 um 15 Euro, also auf 219 Euro, erhöht werden. Sicherlich, das ist ein Schritt in die richtige Rich- Vielleicht ganz kurz noch ein paar Worte zum zweiten tung. Aber wissen Sie, dieser Schritt ist wieder viel zu hier vorliegenden Gesetzentwurf. klein, und leider geht er an den Kindern und Familien vorbei, die es am dringendsten benötigen. 2,8 Millionen Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Kinder in Deutschland wachsen in Armut auf, also jedes Frau Kollegin, sehr kurz. fünfte Kind. Kinderarmut ist in Deutschland ein Riesen- (B) problem. Die derzeitige Krise wird diese Armut auch (D) verschärfen. Katrin Werner (DIE LINKE): Die Erhöhung der Pauschbeträge für Menschen mit Die Kindergelderhöhung ist daher wieder nur ein Trop- Behinderung haben nicht nur einige Fraktionen hier fen auf den heißen Stein. Wenn man auf die letzten 18 Jah- gefordert. Das haben Verbände, Organisationen jahrelang re guckt: Da gab es eine Erhöhung um 50 Euro. Jahrelang gefordert. Auch das ist wieder nur ein kleiner Schritt. verpennt die Politik, Familien und Kinder zu stärken. Machen Sie die Tage einfach den nächsten Schritt, und Jetzt feiert sie sich hier ganz groß. Da hilft es auch nichts, schlagen Sie eine einkommens- und vermögensunabhän- Frau Tillmann, wenn der Gesetzesname nicht mehr so gige persönliche Assistenz vor! Denn das wäre für viele ausschweifend ist, sondern jetzt vielleicht ein bisschen Menschen mit Behinderung ein guter Anfang. langweiliger wirkt. Auf den Inhalt kommt es an. Ganz ehrlich gesagt: Da muss eben weitaus mehr passieren (Beifall bei der LINKEN) als so eine kleine Erhöhung. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Sie sprachen die kalte Progression an. Ja, die Kinder- Der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn hat das freibeträge sollen angehoben werden, und die kalte Pro- Wort für Bündnis 90/Die Grünen. gression soll durch eine Rechtsverschiebung des Einkom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mensteuertarifs ausgeglichen werden. Das Ergebnis? Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdiener mit oder ohne Kinder werden durch das Gesetz am meisten ent- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ lastet. Mit der Entlastung der Familien, die es am meisten DIE GRÜNEN): benötigen, und dem Kampf gegen Kinderarmut hat das Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ent- aber, sorry, nichts zu tun. lastung von Familien ist sehr richtig; aber man muss das sozial gerecht und richtig machen. Es ist in der Tat in Die Tage war es wieder ein ganz großes Thema, und diesem Gesetz wieder so wie üblich bei der Großen Koa- wir haben ja gerade auch über den Kinderbonus gespro- lition: Wir als Bundestagsabgeordnete werden stärker chen. Für ärmere Familien ist er eben auch nur ein Trost- entlastet als Normalverdiener; Leute, die noch mehr ver- pflaster. Bei Alleinerziehenden, die Unterhalt beziehen, dienen, werden noch stärker entlastet; und wer am meis- kommt nur die Hälfte des Bonus an. Ich bitte Sie, das ten verdient, wird am meisten entlastet. immer mit zu erwähnen. Man kann sich gerne feiern für Erfolge. Aber erwähnen Sie eben auch, was nicht pas- (Antje Tillmann [CDU/CSU]: Das ist einfach siert, und erwähnen Sie bitte auch, dass bei vielen Allein- nicht wahr!) 21708 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (A) Das ist sozial ungerecht, und das könnte man besser implementieren oder – das wäre noch besser – endlich (C) machen. ein Teilhabegeld einzuführen, wie wir Grünen das schon seit Langem fordern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir haben dazu schon lange einen Vorschlag gemacht: die Kindergrundsicherung. Das funktioniert so, dass wir Also: Es gibt bessere Alternativen zu den Gesetzent- sagen: Der Kinderfreibetrag soll in einen Auszahlbetrag würfen, die vorliegen, und diese besseren Alternativen umgewandelt werden. Dieser Auszahlbetrag soll an die sind grün. Kinder ausgezahlt werden, nicht mehr an die Eltern. Das Vielen Dank. wäre sozial gerecht und würde dazu führen, dass Men- schen mit mittlerem Einkommen endlich so viel kriegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wie die Reichsten. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, um die Gerechtigkeitslücke an der Stelle endlich zu verklei- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: nern. Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Wiebke Esdar. Zu der Kindergrundsicherung gehört dann auch, dass (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje im unteren Bereich ein GarantiePlus-Betrag, wie wir ihn Tillmann [CDU/CSU]) genannt haben, dazugehört, der einkommensabhängig ist, der aber automatisch ausgezahlt wird und nicht wie der Dr. Wiebke Esdar (SPD): jetzige Kinderzuschlag mit einem riesigen bürokrati- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir brin- schen Brimborium an den meisten, die einen Anspruch gen heute zwei Gesetze ein, mit denen wir alle Menschen, darauf haben, vorbeigeht. Deswegen: automatische Aus- die Einkommensteuer zahlen, entlasten. Wir wollen uns zahlung für die Menschen mit geringem Einkommen. aber darüber hinaus auf drei besondere Zielgruppen Das würde nachhaltig auch Kinderarmut stärker verrin- fokussieren: gern. So würde man Kinder und Familien am besten ent- Erstens wird das Zweite Familienentlastungsgesetz lasten: mit einer Kindergrundsicherung, mit einem rund 12 Milliarden Euro Entlastung für Familien bringen. Garantiebetrag, mit dem wir sagen: „Jedes Kind ist uns gleich viel wert“, und mit einer stärkeren Unterstützung Zweitens wollen wir mit dem Behinderten-Pauschbet- für untere Einkommen. ragsgesetz die rund 10 Millionen Menschen in Deutsch- land mit Behinderungen entlasten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) Drittens werden wir auch ihre Angehörigen, die pfle- (D) Dass es geht, haben Sie bei dem Kinderbonus ja genden Angehörigen, mit dem Behinderten-Pauschbet- gezeigt; da erfolgt eine Verrechnung mit dem Kinderfrei- ragsgesetz entlasten. betrag. Bei Hartz-IV-Beziehern wird der Kinderbonus nicht angerechnet. Da haben Sie was Richtiges gemacht. (Beifall bei der SPD) Aber – Frau Tillmann hat es ja eben schon gesagt – das Konkrete Beispiele aus dem Gesetz: Wir werden durch war anscheinend ein Ausrutscher; die Anhebung des steuerlichen Grundfreibetrages alle (Antje Tillmann [CDU/CSU]: Das habe ich so Menschen, die Einkommensteuer zahlen, in zwei Stufen nicht gesagt!) bis 2022 entlasten, und wir werden mit der Eckwertever- schiebung die kalte Progression wieder vollkommen aus- jetzt wird es wieder ausgeglichen. Die Reichen kriegen gleichen, sodass die Lohnsteigerungen, die es gibt, auch jetzt wieder mehr, und die Armen kriegen nichts. Liebe wirklich im Portemonnaie der Menschen ankommen. SPD, sozialer Ausgleich geht anders als so, wie Sie das jetzt hier machen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Für Familien werden wir jetzt in einem zweiten Schritt das Kindergeld um weitere 15 Euro erhöhen – das sind Zum Schluss noch zwei Sätze zu dem zweiten Gesetz- dann insgesamt die 25 Euro, die wir im Koalitionsvertrag entwurf, der hier vorliegt: Verdopplung des Behinderten- versprochen haben –, und wir werden auch den Kinder- Pauschbetrags – das klingt gut, ist auch erst mal gut. freibetrag entsprechend anpassen. Aber – es ist schon gesagt worden – das erste Mal ange- passt seit 1974, das ist definitiv zu wenig. Also, wenn die Für Menschen mit Behinderungen werden wir – das FDP schon sagt: „Das ist zu wenig“, dann ist das wohl muss man eingestehen –, nachdem sie lange, vielleicht sehr, sehr überzeugend. zu lange darauf gewartet haben – das können wir selbst- kritisch sagen –, den Behinderten-Pauschbetrag verdop- (Beifall der Abg. Corinna Rüffer [BÜND- peln. Wir werden zudem einen neuen behinderungsbe- NIS 90/DIE GRÜNEN] – Zuruf von der FDP: dingten Fahrtkostenpauschbetrag einführen, der das Was soll denn das heißen?) komplizierte Belegesammeln beendet. Es ist trotzdem richtig, ihn zu verdoppeln; das werden wir Als Drittes werden wir die pflegenden Angehörigen in auch unterstützen. Aber auch hier gibt es natürlich die den Blick nehmen, und wir werden den Pflege-Pauschbe- gleiche Schieflage: Wer mehr verdient, hat mehr von trag für diejenigen, die Personen des Grades 4 und 5 diesem Pauschbetrag. Deswegen wäre es mindestens pflegen, nahezu verdoppeln. Wir führen neu ein, dass es sinnvoll, das als Abzugsbetrag von der Steuerlast zu einen Pauschbetrag für Pflegende bei den Graden 2 und 3 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21709

Dr. Wiebke Esdar (A) gibt. Das ist ein Punkt, der mir besonders wichtig ist, weil Familie, und das ist das Thema Entlastung. Wir haben (C) wir diese Menschen, die Enormes leisten, wirklich in den im Koalitionsvertrag versprochen, dass wir das Kinder- Blick nehmen müssen. geld um 25 Euro pro Monat erhöhen. Wir erfüllen das Wir feiern in dieser Woche in Bielefeld zum fünften Versprechen mit diesem Gesetz. Wir haben im Koali- Mal die „Woche der pflegenden Angehörigen“. Da geht tionsvertrag versprochen, dass wir die kalte Progression es darum, für das Thema „häusliche Pflege“ zu ausgleichen. Das machen wir mit diesem Gesetz. Wir sensibilisieren. Da geht es darum, dass wir dort Wert- haben im Koalitionsvertrag noch etwas passiv gesagt: schätzung ausdrücken. Sie bekommen in dieser Woche – Den Behinderten-Pauschbetrag wollen wir anpassen. coronabedingt etwas anders – ein Galadinner; es gibt Jetzt – ich finde das gut – machen wir das in einer enor- Überraschungspakete, auch Wellnessangebote. men Art und Weise. Aber Politik muss Wertschätzung auch finanziell Ich möchte schon mal sagen: Bei einem Entlastungs- abbilden, wir müssen Wertschätzung auch finanziell aus- volumen von mehr als 12 Milliarden Euro von „minimal- drücken. Das tut dieses Gesetz, und darum ist es enorm invasiv“ zu sprechen, lieber Kollege Herbrand, das trifft wichtig für die Menschen. Wir haben mit dem Gesetz die Sache natürlich nicht. Das ist ja mehr als das, was Sie auch im Blick, dass diese Menschen zeitlich stark belastet von uns an Entlastung im Bereich des Solidaritätszu- sind, und darum werden wir sie bei der Bürokratie auch schlags fordern. weiter entlasten. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – (Beifall bei der SPD) Sebastian Brehm [CDU/CSU]: Hört! Hört! – So haben wir heute in erster Lesung zwei Gesetze vor- Markus Herbrand [FDP]: Das ist verfassungs- liegen, die wir jetzt zügig beraten werden. Darum freue mäßig geboten!) ich mich auf den Austausch in den Anhörungen und im Unsere Sprecherin Antje Tillmann hat vorhin gesagt: Ausschuss. Der Name des Gesetzes wäre nicht so schön, wie das Herzlichen Dank. vielleicht sonst an anderer Stelle ist. – Finde ich eigent- lich gar nicht. Ich finde, der Name „Familienentlastungs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gesetz“ zeigt genau die Prioritäten, die wir als CDU/ der CDU/CSU) CSU-Fraktion, aber auch innerhalb der Großen Koalition haben. Denn wir wollen Familien in den Fokus stellen, Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Priorität für Familien und Priorität für Entlastung. Das Wort hat der Kollege Johannes Steiniger, CDU/ Im Nachhinein muss man schon sagen: In den Mona- CSU-Fraktion. (B) ten, in denen wir große Einschränkungen hatten – Kitas (D) (Beifall bei der CDU/CSU) zu, Schulen zu –, da waren Familien die Leidtragenden. Ich lese Ihnen mal eine WhatsApp-Nachricht vor, die Johannes Steiniger (CDU/CSU): mich Mitte April nachts um 1.20 Uhr erreicht hat, wo Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In mir eine verzweifelte Mutter schreibt: Lieber Johannes, den letzten Wochen und Monaten haben die Menschen es ist 1.20 Uhr nachts. Ich habe hier bis eben gearbeitet, in Deutschland gesehen, auf wen sie sich, wenn es drauf morgen ab 7 Uhr bis 14 Uhr betreue ich dann die Kinder, ankommt, verlassen können, wer, wenn es drauf und dann arbeite ich weiter bis 20.00 Uhr. ankommt, in der Krise seriöse Politik macht: Das ist diese Wir müssen schon, wenn wir dann in ein paar Monaten Große Koalition. Die Menschen merken, dass wir bisher auf die Krise zurückschauen, evaluieren: „Was war gut, gut durch diese Krise, in der wir ja immer noch drin sind, was war schlecht?“, und werden dann feststellen: Die gekommen sind – einerseits im gesundheitlichen Bereich, Kitas und die Schulen in Deutschland waren zu lange aber auch im wirtschaftlichen Bereich. zu. Und egal was in den nächsten Monaten auch in Rich- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tung Winter passiert: Wir wollen die Schulen und die Kitas in Deutschland nicht mehr flächendeckend zuma- Aber das ist nicht nur in der Krise so, sondern die chen. Menschen in Deutschland können sich auch im politi- schen Tagesgeschäft auf uns verlassen. Auch da ist Ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lässlichkeit ein Kennzeichen unserer Koalition. Man neten der FDP und der Abg. Dr. Wiebke Esdar muss die Große Koalition nicht lieben – auch ich tue [SPD]) das nicht. Aber wenn man sich mal anschaut, was wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben und was Beim Jonglieren zwischen Homeoffice auf der einen wir jetzt sehr seriös hier im Deutschen Bundestag mit- Seite, Betreuung auf der anderen Seite, verbunden mit einander verabreden und abarbeiten, dann kann man dem Thema „finanzielle Sorgen“, Stichwort „Kurzarbei- sagen: Die Menschen in Deutschland können sich auf tergeld“, da haben Familien in Deutschland Übermen- uns verlassen. schliches geleistet. (Beifall des Abg. Sepp Müller [CDU/CSU]) (Katrin Werner [DIE LINKE]: Na ja!) Versprechen einzuhalten, das ist relativ einfach jenseits Deswegen setzen wir hier eine Priorität, indem wir sagen: schwieriger Zeiten. Aber wenn es in die Krise geht, dann Die erste Stufe der Entlastung war der Kinderbonus in zeigt sich der Charakter von Politik. Wir sagen ganz klar: Höhe von 300 Euro, die ab jetzt ausgezahlt werden; rich- Unsere Prioritäten bleiben gleich. Das ist das Thema tig gut, 4,3 Milliarden Euro Entlastung. Und wir zünden 21710 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Johannes Steiniger (A) jetzt die zweite Entlastungsstufe, indem wir sagen: Das Bundeseinheitlicher Aktionsplan 2020 (C) Kindergeld wird noch einmal um 15 Euro erhöht, der gegen linksextremistische Gewalt und Ter- Kinderfreibetrag entsprechend auch. ror – Null Toleranz statt Deeskalation Jetzt hätte ich gerne der Frau Gminder erklärt, was die Drucksache 19/22189

kalte Progression ist, Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Inneres und Heimat (f) (Katrin Werner [DIE LINKE]: Nee, lassen Sie Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz mal!) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend weil sie ja gesagt hat, sie kann das in diesem Gesetz nicht b) Beratung des Antrags der Abgeordneten sehen. Jetzt ist die Frau Gminder gar nicht mehr da, und Martin Hess, Dr. Bernd Baumann, zwar schon seit 25 Minuten nicht. Ich muss ich Ihnen Dr. Gottfried Curio, weiterer Abgeordneter sagen, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen: und der Fraktion der AfD Hierherzukommen, seine Rede abzulesen, dann abzu- Schnellstmögliche Beschaffung und Ein- hauen, hat mit Bürgerlichkeit an keinster Stelle etwas führung von Distanz-Elektroimpulsgerä- zu tun. ten für die Bundespolizei (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, Drucksache 19/22203 der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Überweisungsvorschlag: GRÜNEN – Dr. Götz Frömming [AfD]: Sie Ausschuss für Inneres und Heimat wissen doch gar nicht, warum sie weg ist!) Es ist beschlossen, darüber 30 Minuten zu sprechen. – Zum zweiten Punkt: Entlastung. Es fragen uns ja viele Nehmen Sie jetzt bitte zügig Ihre Plätze ein. Menschen: Wie kommen wir jetzt aus der Krise? Aus Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erstes für meiner Sicht nicht dadurch, dass wir sagen: „Höhere die AfD-Fraktion der Kollege Martin Hess. Steuern, mehr Schulden, mehr Vorschriften“, (Beifall bei der AfD) (Sebastian Brehm [CDU/CSU]: So ist es!) sondern indem wir sagen: Entlastung für die Bürgerinnen Martin Hess (AfD): und Bürger. Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Drei (Sepp Müller [CDU/CSU]: Genau richtig!) Tage lang konnten Linksextremisten in Leipzig-Conne- witz ihre Gewaltexzesse zelebrieren. Drei Tage lang Wir haben hier als Unionsfraktion einige Vorschläge beschädigten sie Gebäude mit Steinen und Brandsätzen, (B) unterbreitet – das Thema Unternehmensteuerreform ist lockten Polizeibeamte in Hinterhalte und bewarfen sie (D) beispielsweise eines –, mit Flaschen und Steinen. 20 Beamte wurden dabei ver- (Beifall des Abg. Sepp Müller [CDU/CSU]) letzt. Für dieses Wochenende erwarten die Behörden wei- tere Ausschreitungen. Die Verantwortlichen sind nicht in weil wir sagen müssen: Wir wollen die Wachstumskräfte der Lage, diesen mehrtägigen linken Gewaltexzessen in Deutschland entfesseln. Einhalt zu gebieten. Das ist eines Rechtsstaates unwür- Vielleicht ein Hinweis an die Kolleginnen und Kolle- dig. gen aus dem Finanzausschuss: Wir sollten diese Seriosi- (Beifall bei der AfD) tät, mit der wir arbeiten, auch in die nächsten zwölf Monate mit reinbringen, keinen Wahlkampf machen, Dabei ist schon lange bekannt, dass Leipzig ein enor- sondern für die Menschen in Deutschland und für Ent- mes Linksextremismusproblem hat. In Connewitz greifen lastung in Deutschland arbeiten. Linksextremisten regelmäßig Polizisten an und verwüs- ten den Polizeiposten. (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Schrodi [SPD]: Oh! – Katrin Werner [DIE LINKE]: Sie (Zuruf der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/ machen keinen Wahlkampf, oh!) DIE GRÜNEN]) Sie verüben Brandanschläge und sind sogar in die Privat- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: wohnung einer Immobilienmanagerin eingedrungen, um die Frau anzugreifen. Seit 2014 Woche für Woche links- Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungs- extremistische Gewalttaten und keine wirksame Gegen- punkt. reaktion des Staates! Das ist staatliches Totalversagen, Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe und die AfD ist nicht bereit, das weiter hinzunehmen. auf den Drucksachen 19/21988 und 19/21985 an die in (Beifall bei der AfD) der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – Das ist Die Eskalationen finden ja nicht nur in Sachsen statt. In nicht der Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. Stuttgart haben Linksextremisten einen Mordanschlag auf einen Coronademonstranten verübt. Erst nach Mona- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf: ten ist der Mann mit bleibenden Schäden aus dem Koma a) Beratung des Antrags der Abgeordneten erwacht. Der Verfassungsschutz Baden-Württemberg Martin Hess, Dr. Bernd Baumann, sieht in solchen gezielten Attacken eine neue Qualität Dr. Gottfried Curio, weiterer Abgeordneter linker Gewalt. Laut Bundesamt für Verfassungsschutz und der Fraktion der AfD sind ähnliche „Radikalisierungstendenzen“ in der linken Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21711

Martin Hess (A) Szene „bundesweit erkennbar“. In Leipzig besteht durch- Gewaltexzesse wie in Leipzig sind mit robustem (C) aus – ich zitiere hier das BfV – „die Gefahr der Heraus- Zwangsmitteleinsatz schnell und konsequent zu beenden. bildung terroristischer Strukturen“. Schluss mit dem Kuschelkurs gegenüber Linksextremis- Diese Entwicklung ist verheerend für unsere Demokra- ten. Wir müssen linke No-go-Areas auflösen. Alle besetz- tie, für unsere Polizisten, die das Hauptziel linksextremis- ten Häuser sind unverzüglich zu räumen und Ausweich- tischer Attacken darstellen, aber auch für jeden Bürger in bewegungen zu unterbinden. Wir dürfen nicht länger unserem Land. Deshalb müssen wir jetzt endlich ent- zulassen, dass Linksextremisten mit staatlichen Geldern schlossen handeln und den Linksextremismus in unserem finanziert werden, sondern müssen diesen Sumpf tro- Lande stoppen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Links- ckenlegen. Es muss endlich Schluss sein mit der Schief- extremismus im ganzen Land zu Linksterrorismus wird. lage bei der Extremismusbekämpfung. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Aber die Fraktionen in diesem Hause tun genau das Dieser Staat, verehrte Kollegen, steht am Scheideweg: Gegenteil. Wird er weiter zulassen, dass sich Linksextremisten SPD-Chefin Esken macht sich auf Twitter offen mit nahezu ungehindert ausbreiten und unsere Demokratie der gewalttätigen Antifa gemein. Renate Künast von zerstören, oder schafft er es, diese Staatsfeinde endlich den Grünen fordert im Bundestag für diese Gewalttäter ein für alle Mal in ihre Schranken zu weisen? Wählen Sie sogar „eine verlässliche Finanzierung“. den zweiten, wählen Sie den demokratischen Weg! Stim- men Sie unserem Antrag zu. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schwachsinn!) (Beifall bei der AfD – Dagmar Ziegler [SPD]: Würden Sie auch gegen Rechtsextremisten sol- Die Linkspartei unterstützt linksextreme Strukturen in che Reden halten?) Leipzig. Ihre parteinahe Stiftung fördert einen Jugend- kongress der Antifa, und ihre Parteijugend verteilt zu den Ausschreitungen in Leipzig Flyer, auf denen steht: Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: „Advent, Advent … ein Bulle brennt!“. Diese menschen- Das Wort hat der Kollege Christoph Bernstiel für die verachtende Hetze ist eine Schande. Sie sind Feinde CDU/CSU-Fraktion. unserer Polizei. Sie sind Feinde unserer Demokratie, und Sie gehören nicht in dieses Parlament. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der AfD – Sören Pellmann [DIE LINKE]: Das sagt der Demokratiefeind!) Christoph Bernstiel (CDU/CSU): (B) Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und (D) Sehr geehrte Damen und Herren von der Union, Sie Kollegen! Ja, auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn. haben in Mecklenburg-Vorpommern eine Linksextremis- Insofern wundert es mich nicht, dass es auch der AfD mal tin zur Verfassungsrichterin gemacht, und in Thüringen gelungen ist, tatsächlich ein paar Dinge anzusprechen, haben Sie der Rechtsnachfolgerin der Mauermörderpartei die in unserem Land verkehrt laufen. sogar mit demokratisch fragwürdigen Mitteln an die Regierung verholfen. (Dr. Götz Frömming [AfD]: Hätten Sie ja (Dr. Götz Frömming [AfD]: Unglaublich!) klatschen können!) Das zeigt jedem Bürger ganz klar: Selbst die Union unter- Das Thema Linksextremismus beschäftigt uns nicht stützt Linksextremisten, wenn es ihr opportun erscheint erst, seitdem es die AfD hier im Deutschen Bundestag und ihrem eigenen Vorteil dient. Konrad Adenauer dreht gibt. Nein, wir beschäftigen uns schon sehr lange damit. sich im Grabe um! (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Davon merkt man (Beifall bei der AfD – Zurufe von der SPD) aber nichts!) Die Polizisten, die tagtäglich Ihr Politikversagen aus- Es ist natürlich ein Problem, wenn wir in Leipzig maro- baden müssen, sind gezwungen, sich aus diesem Hohen dierende Banden haben, autonome Linksextremisten, Haus ständig völlig halt- und substanzlose Rassismusvor- wenn die Polizei angegriffen wird. Da gibt es nichts würfe anzuhören. Glauben Sie mir: Das wird kein Polizist schönzureden, und wir gehen auch dagegen vor. vergessen. Allerdings kommt man nicht umhin, zu sagen, lieber (Zuruf der Abg. Ulli Nissen [SPD]) Herr Hess: Aktuell ist es in unserem Land nun mal der Schenken Sie sich Ihre heuchlerische Symbolpolitik wie Rechtsextremismus, der die größte Gefahr für unsere am gestrigen Tage. Schöne Worte haben die Kollegen Demokratie ist. Es ist richtig, nicht das eine mit dem genug gehört. Was die Kollegen brauchen, ist ein klares anderen zu vergleichen. Bekenntnis zu klaren Taten, die auch Wirkung zeigen, Taten, die Linksextremismus endlich wirksam bekämp- (Zuruf des Abg. Dr. Götz Frömming [AfD]) fen. Genau dazu dient unser Antrag. Aber es ist auch falsch, wenn man immer nur auf den (Beifall bei der AfD) Linksextremismus schaut und nie die gleiche Initiative ergreift hinsichtlich des Rechtsextremismus Ihrer Partei. Deeskalation ist bei gewalttätigen Extremisten völlig fehl am Platz. Wir brauchen endlich bundesweit eine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- klare Null-Toleranz-Vorgabe an alle Sicherheitskräfte. ordneten der SPD) 21712 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Christoph Bernstiel (A) Für uns als CDU beziehungsweise als Union – ich Sie sagt selbst, dass sie in diesen strittigen und zum Teil (C) begrüße meine CSU-Kollegen – ist es natürlich wichtig, linksextremen Plattformen nicht länger mitarbeiten kann, alle Phänomenbereiche im Blick zu haben. Das wurde wenn sie sich für ein höheres Amt bewirbt und mit die- heute in den Debatten schon deutlich. Das bedeutet: sem Amt auch rechnet. Nur weil wir noch keine linksextreme Bewegung haben, (Sören Pellmann [DIE LINKE]: Jetzt haben Sie die mordend durch die Lande zieht, heißt das noch lange die beiden Damen verwechselt! Das war die nicht, dass diese Gefahr nicht existiert; denn der aktuelle andere!) Verfassungsschutzbericht zeichnet ein ganz klares Bild. Es ist doch kein klares Zeichen, wenn selbst Ihre desig- (Dr. Götz Frömming [AfD]: RAF!) nierte Parteivorsitzende den Plattformen, die Sie noch mit Schauen wir uns die Zahl der Gewalttaten an: Die unterstützen, die demokratische Legitimation abspricht. Gewalttaten der Linksextremisten und der Rechtsextre- (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Schlechter misten sind leider fast auf gleicher Höhe. Wir haben auch Redenschreiber! – Weitere Zurufe von der eine zunehmende Tendenz bei den Tötungsversuchen in LINKEN) den letzten vier Jahren: 33 im Bereich des Rechtsextre- Also bitte, denken Sie doch mal darüber nach, und helfen mismus, 11 im Bereich des Linksextremismus. Das ist Sie mit, den Linksextremismus endlich genauso zu ver- etwas, was wir nicht ignorieren können. urteilen wie jede Form von menschenverachtender Ideo- Meine Damen und Herren, wir können auch nicht war- logie bzw. einer Ideologie, die Gewaltbereitschaft gegen- ten, bis sich eine zweite RAF gebildet hat, über unserem Staat rechtfertigt. (Dr. Götz Frömming [AfD]: Richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zum Abschluss noch ein kurzer Satz. Herr Hess, Ihr und wir können auch nicht warten, bis sich das, was auf Antrag beschäftigt sich ja auch mit den sogenannten Dis- dem Breitscheidplatz passiert ist, wiederholt. Als verant- tanz-Elektroimpulsgeräten, besser bekannt als Taser. Ich wortliche Demokraten und als Mittler der Sicherheitsbe- komme nicht umhin, ich muss das einfach mal vorlesen. hörden muss es unser Interesse sein, alle Extremismus- Sie haben ja zwei Anträge gestellt. Der erste Antrag formen gleichermaßen zu bekämpfen, und dazu gehört heißt: „Null Toleranz statt Deeskalation“, darin sprechen der schon häufig genannte 360-Grad-Blick. Da brauchen sie von – ich zitiere – „Entschlossenheit zu einer konse- wir von Ihnen tatsächlich keine Belehrungsversuche. quenten und robusten Durchsetzung von Recht und Ord- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Götz nung“, unter anderem durch Anpassung des Zwangsmit- Frömming [AfD]: Scheinbar doch!) tels. So. Und gleichzeitig fordern Sie Taser. Machen Sie (B) es das nächste Mal doch ein bisschen einfacher und trans- (D) Einen Punkt möchte ich noch ansprechen. Wenn es um parenter, schreiben Sie doch einfach, dass Sie Linksext- das Phänomen des Linksextremismus geht, dann müssen remisten tasern wollen und dass das Ihr Verständnis von wir auch über das gesellschaftliche Klima reden, in dem rechtsstaatlichem Schutz unserer Demokratie ist. er blüht. Denn leider ist auch eine Wahrheit: Wenn es rechtsextremistische Ausfälle gibt, dann gibt es ein brei- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: tes Spektrum in der Bevölkerung, auch in den Medien, Will der Rechtsextremisten auch tasern?) das ganz klar, deutlich und teilweise auch vorschnell ver- Dann haben wir es hier ein bisschen einfacher und sparen urteilt und sich mit neuen Forderungen überbietet. Gibt es uns auch kostbare Debattenzeit. linksextreme Gewalt, vermisse ich die eindeutige Verur- Vielen herzlichen Dank. teilung dieser Gewalt, dieser Angriffe auf Polizisten, auch auf Gegenstände, auf einzelne Personen. Ich ver- (Beifall bei der CDU/CSU) misse auch ein gesellschaftliches Klima, das ganz klar diesen Linksextremismus ächtet und auch mal Ross und Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Reiter benennt. Da gibt es tatsächlich noch eine Baustel- Die nächste Rednerin ist für die Fraktion der FDP die le. Kollegin Linda Teuteberg. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Sie (Beifall bei der FDP) wissen, wenn es um Linksextremismus geht, dann müs- sen Sie natürlich auch erwähnt werden. Linda Teuteberg (FDP): (Kerstin Kassner [DIE LINKE]: Warum? – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Warum? – Wei- nen und Kollegen! Wir haben es vorhin in der Aktuellen tere Zurufe von der LINKEN) Stunde schon ausführlicher besprochen: Unser freiheitli- cher Rechtsstaat darf auf keinem Auge blind sein; er muss Insofern finde ich es ein wenig schwierig, dass Ihre neue mit jedem Auge scharf sehen, den 360-Grad-Blick auf Bewerberin um den Parteivorsitz, die Frau Hennig-Well- jede Form des Extremismus haben, und so natürlich sow, erst kürzlich ausgetreten ist aus den vom Verfas- auch auf den Linksextremismus. sungsschutz beobachteten Plattformen marx21 und „Sozialistische Linke“. Nun ist allerdings der Titel dieses Antrages schon ver- störend: „Null Toleranz statt Deeskalation“. Deeskalation (Widerspruch bei der LINKEN – Lachen der ist natürlich immer insofern richtig, als es gilt, Verletzte Abg. Doris Achelwilm [DIE LINKE]) zu vermeiden, möglichst wenig Schaden zu haben. Aber Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21713

Linda Teuteberg (A) klar ist auch: Das Recht darf dem Unrecht nicht weichen. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C) Und wenn es verhältnismäßig ist, dann muss und darf die Heute sogar zweimal!) Polizei auch Gewalt einsetzen, um Recht durchzusetzen. das habe ich mir gedacht, als ich Ihren Antrag diese Also, das ist ein falscher Gegensatz, den Sie hier in Ihrem Woche dann noch bekommen habe. Wir wissen ja, dass Antrag aufmachen. Die Polizei muss sich an Recht und Sie sich gerne einen bürgerlichen Anstrich geben, und so Gesetz halten, aber zu deren Durchsetzung darf sie eben eben auch in diesem vorliegenden Antrag. Aber Ihre Fas- auch das staatliche Gewaltmonopol ausüben. Darum geht sade bröckelt, und ich erkläre Ihnen gerne, wie ich zu es in dieser Debatte. dieser Annahme komme. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Erstens. Sie geben vor, auf der Seite der Polizei zu der CDU/CSU) stehen, aber Ihr Respekt für unsere Polizei geht offenbar Gleichzeitig ist es allerdings noch einmal wichtig, zu nicht so weit, dass Sie während der gestrigen Ehrung der betonen, dass es eben keine ethische Überlegenheit drei Polizeibeamten wie alle anderen Abgeordneten von irgendeiner Variante des gewaltbereiten Extremismus Ihren Plätzen aufstehen. gibt, auch nicht des Extremismus von links. Niemand in (Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- unserem Land darf sich Gewalt bedienen, um seine politi- NEN]: Hört! Hört!) schen Ziele durchzusetzen. Das gilt es, immer wieder zu verteidigen bzw. zu betonen. Deshalb ist es natürlich not- Ich sage Ihnen: Das ist einfach nur schäbig und unver- wendig, dass wir dafür sorgen, dass niemand, der zum schämt. Beispiel öffentlich gefördert den einen Extremismus (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LIN- bekämpft, zugleich den anderen fördert. Wir müssen KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) genau in Augenschein nehmen und prüfen, wofür öffent- liche Gelder eingesetzt werden. Sie wollen für Recht und Ordnung eintreten, aber bei Ihnen gibt es überdurchschnittlich viele strafrechtliche Und wir brauchen vor allem eine gute Ausstattung und dienstrechtliche Ermittlungen. unserer Polizistinnen und Polizisten, die unsere freiheit- lich-demokratische Grundordnung verteidigen, und müs- (Beatrix von Storch [AfD]: Überdurchschnitt- sen ihnen den Rücken stärken. lich viele Polizisten!) (Beifall bei der FDP) Fast jeder zehnte AfD-Abgeordnete – merken Sie sich diese Zahl: fast jeder zehnte AfD-Abgeordnete! – ist Ich bin mir sicher, dass sie dabei keine Unterstützung von selbst polizeibekannt. Die Bandbreite reicht von Betrug, falscher Seite wollen, sondern einfach wollen, dass wir Untreue, Meineid, Steuerhinterziehung, sexueller Nöti- (B) als Politik ihnen in entscheidenden Situationen nicht von gung – ich brauche noch eine Hand, zum Weiterzählen –, (D) außen Ratschläge erteilen, sondern das Vertrauen in sie Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung, Volksverhet- stärken, dass sie nach Recht und Gesetz handeln. zung, Beleidigung. „Wer im Glashaus sitzt …“, sage ich Wir brauchen allerdings auch eine Debatte darüber, Ihnen nur. dass unsere Verfassung als Ganzes gilt. In der Debatte (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, um Extremismus oder um falsche Toleranz für manche der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE kriminellen Handlungen wird gerne mal so getan, als sei GRÜNEN – Beatrix von Storch [AfD]: So ein zum Beispiel die Eigentumsgarantie unseres Grund- Stuss!) gesetzes nicht auch Teil der Grundrechte unseres Grund- gesetzes. Insofern möchte ich sagen: Wer sich als Ver- Zweitens. Sie sagen, Sie wollen, dass Linksextremis- fassungspatriot sieht, muss auch alle Grundrechte mus, Rechtsextremismus und Islamismus von unseren unseres Grundgesetzes verteidigen; dazu gehören zum Sicherheitsbehörden gleich behandelt werden. Dennoch Beispiel auch Eigentums- und Berufsfreiheit. arbeiten Sie sich fast ausschließlich in Ihren Anträgen am Linksextremismus und Islamismus ab. Unser größtes (Beifall bei der FDP) Programm zur Extremismusbekämpfung „Demokratie Da darf es insofern keine Rosinenpickerei geben. Viel- leben!“ wollen Sie sogar abschaffen. Dabei schreiben mehr muss die freiheitlich-demokratische Grundordnung Sie selbst: Gewalt bleibt Gewalt, egal aus welcher Rich- als Ganzes verteidigt werden. Das gilt nach allen Seiten. tung. – Wenn Sie das so meinen, wo ist denn Ihr Antrag Dafür werden wir weiter streiten. zur Bekämpfung des Rechtsextremismus? Die Wahrheit Vielen Dank. ist nämlich: Nach dem Terroranschlag von Hanau wollte der AfD-Vizepräsident im Brandenburger Parlament (Beifall bei der FDP) sogar eine Aktuelle Stunde zu diesem Terroranschlag ver- hindern. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ulli Der nächste Redner ist für die Fraktion der SPD der Nissen [SPD]: Hört! Hört!) Kollege Uli Grötsch. Wir haben laut Verfassungsschutzbericht 2019 so viele (Beifall bei der SPD) bekannte Rechtsextremisten in Deutschland wie noch nie. Und alle hier im Haus sind sich doch einig, dass Uli Grötsch (SPD): vom Rechtsextremismus die größte Gefahr ausgeht – Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und nur die AfD nicht! Sie ist offenbar auf dem rechten Kollegen! „Und täglich grüßt das Murmeltier“, Auge total blind. 21714 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Uli Grötsch (A) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Debatte (C) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- scheint nach hinten loszugehen für die AfD! – ordneten der CDU/CSU) Gegenruf von der AfD: Im Gegenteil!) Drittens. Sie sagen, Sie wollen, dass sich jeder in die- sem Land an Recht und Ordnung hält – das wollen wir Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: doch alle –, aber selber beschäftigen Sie eine ganze Reihe Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege verurteilter Straftäter vom Geld der Steuerzahlerinnen Dr. André Hahn. und Steuerzahler in Ihren Reihen, in Ihrer Fraktion, in (Beifall bei der LINKEN) Ihren Büros. Und apropos Geld der Steuerzahler: Sie haben mehrfach illegale Wahlkampfspenden aus dem Ausland angenommen, aus dunklen Kanälen, woher Dr. André Hahn (DIE LINKE): auch immer und weigern sich, Ihre Spender zu nennen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gewalt darf in unserem Land kein Mittel der politischen Aus- (Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einandersetzung sein, und dabei spielt es überhaupt keine NEN]: Hört! Hört!) Rolle, von welchem politischen Spektrum sie ausgeht. Ich nenne das Doppelmoral. Von wegen Recht und Ord- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) nung! Und wenn nun allerdings die AfD das Thema Links- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem extremismus auf die Tagesordnung setzt, dann versucht BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sie vor allem, die Gefahr von rechts zu relativieren. Viertens und letztens, Herr Präsident. Sie richten den (Dr. Götz Frömming [AfD]: Unsinn!) Scheinwerfer gerade auf Migranten und Flüchtlinge. Weder der Antisemitismus noch Messerattacken sind Rechtsextreme bedrohen engagierte Bürgerinnen und importierte Probleme. Fast alle antisemitischen Straftaten Bürger sowie Politikerinnen und Politiker, nicht zuletzt wurden von Rechtsextremisten begangen, und die Mes- aus den Reihen meiner Partei. Rechtsextremisten rütteln serstecher, von denen Sie gerne berichten, haben deut- an den Grundfesten unserer Gesellschaft sowie unseres sche Vornamen. Wollen Sie raten? Michael ist der häu- demokratischen Miteinanders, und zwar in einem Maße figste. Das haben Sie im selber nachgefragt, wie wahrscheinlich noch nie in der Geschichte der Bun- weil Sie sich eine andere Antwort erhofft haben. desrepublik. Der ehemalige Bundesinnenminister Gerhard Baum hat leider recht, wenn er im „Tagesspie- (Heiterkeit bei der SPD) gel“ schreibt, dass ein Hauch von Weimar über dem Land liegt. (B) Ihr Freitaler AfD-Stadtrat wurde vor einigen Wochen (D) verurteilt; er war natürlich schon dutzendfach vorbestraft, (Martin Reichardt [AfD]: Ein Hauch von unter anderem wegen Zuhälterei. Diesmal wurde er ver- Volkskammer!) urteilt, weil er behauptet hatte, mehrfach von Ausländern Und deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass überfallen worden zu sein. Das stimmte natürlich gar jetzt alle Demokratinnen und Demokraten dies erkennen nicht. Das wird Sie nicht überraschen. und klare Kante gegen Rassismus und Rechtsextremis- mus zeigen. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte. NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- (Dr. Götz Frömming [AfD]: Ja, bitte!) ten der SPD – Zurufe von der AfD) Von daher habe ich überhaupt kein Verständnis dafür, Uli Grötsch (SPD): wenn der Ostbeauftragte der Bundesregierung, der Und ich komme zum Ende und sage: Alles frei erfun- CDU-Abgeordnete , gegenüber dem den. In Brandenburg bekam die AfD sogar Schützenhilfe RedaktionsNetzwerk Deutschland Links- und Rechtsext- von einem rechten Verein, der im Wahlkampf Überfälle remismus ebenso gleichsetzt wie meine Partei, Die Lin- durch Migranten erfand, was dann im Nachhinein korri- ke, mit der AfD. giert werden musste. Sie lügen, dass sich die Balken (Beifall des Abg. [AfD] – Martin biegen, – Reichardt [AfD]: Ich möchte nicht gleichge- setzt werden! Würde mich schämen!) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Dies ist nach den rassistischen Morden in Hanau, nach So, jetzt ist’s gut. dem Anschlag von Halle, nach dem Mord an Walter Lübcke, nach der Mordserie des NSU, nach über Uli Grötsch (SPD): 200 Todesopfern rechtsextremer Gewalt seit 1990 eine – auch in Ihrem Antrag. unglaubliche Entgleisung, die sich Herr Wanderwitz Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. dort geleistet hat. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Beifall bei der LINKEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- Wer so argumentiert, handelt verantwortungslos, ver- ordneten der CDU/CSU und der Abg. Sandra kennt die realen Gefahren der Gegenwart und spielt letzt- Bubendorfer-Licht [FDP] – Steffi Lemke lich nur den Rechten in die Hände. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21715

Dr. André Hahn (A) (Dr. Götz Frömming [AfD]: Jetzt sagen Sie Dr. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) doch einmal etwas zum Linksextremismus!) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie- be Kollegen! Die linksextremen Ausschreitungen von Die AfD will mit ihrem Antrag zugleich von der eige- Leipzig sind schockierend und selbstverständlich ohne nen Verstrickung mit dem organisierten Rechtsextremis- Wenn und Aber scharf zu verurteilen. mus, von den vielfältigen inhaltlichen und personellen Überschneidungen ablenken. Kollege Grötsch hat darauf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hingewiesen: Allein hier im Bundestag beschäftigen sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und AfD-Abgeordnete, wie „Zeit Online“ recherchiert hat, der FDP – Karsten Hilse [AfD]: Jetzt habt ihr ein paar Wähler verloren!) (Martin Reichardt [AfD]: Das sagt jemand aus einer Fraktion, die Terroristen beschäftigt hat! Solche Gewaltexzesse widersprechen den Grundsätzen Das ist doch unglaublich!) unseres demokratischen Rechtsstaats. Hinzu kommt, dass diese Gewalttäter nicht nur die Polizei und andere Dutzende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit rechts- Bürgerinnen und Bürger massiv gefährden, sie schaden extremem Hintergrund, auch all denjenigen, die sich in der Sache und mit demo- kratischen Mitteln jeden Tag für bezahlbaren Wohnraum (Dr. Götz Frömming [AfD]: Stellen Sie sich einsetzen, und auch der überwiegenden Mehrheit der Ihren Problemen: Linksextremismus!) Menschen, die in Connewitz leben und Gewalt strikt angefangen von Anhängern der NPD, der Neonazi-Orga- ablehnen. nisation „Heimattreue Deutsche Jugend“ bis hin zur Akti- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) visten der Identitären Bewegung. Von dieser braunen Truppe braucht unser Parlament keinerlei Belehrungen. Gewalt als politische Methode ist letztlich auch immer ein Ausdruck eines autoritären, illiberalen und undemo- (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie kratischen Politikverständnisses. Apropos autoritär, illi- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE beral und undemokratisch: Das bringt mich ohne GRÜNEN – Dr. Götz Frömming [AfD]: Stellen Umschweife zu dem Antrag der AfD. Es lässt tief bli- Sie sich in Ihrer eigenen Partei der Vergangen- cken, wenn Sie mit Ihrem Antrag schon in der Überschrift heit!) sagen, dass Sie Deeskalation ablehnen. Das muss man Die AfD fordert in ihrem zweiten Antrag ohne jede sich einmal auf der Zunge zergehen lassen! Rechtsgrundlage die Zulassung von Elektroschockern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei Polizeieinsätzen. Eine Studie aus Finnland zeigt, sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD]) (B) dass dies eben nicht zum Rückgang von Schusswaffen- Aber es stimmt ja: Sie sind klar gegen Deeskalation und (D) gebrauch geführt hat, für Krawall, für Hetze und für Aufwiegelung, Sie wollen (Christoph Bernstiel [CDU/CSU]: Kommt auf das Chaos, aber eben von rechts. die konkrete Situation an!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- sondern wie das Pfefferspray eher zu einem alltäglichen SES 90/DIE GRÜNEN – Lachen des Abg. Einsatzmittel der Polizei wird. Die AfD hat offenbar den Karsten Hilse [AfD] – Steffi Lemke [BÜND- Wunsch nach Zuständen wie aktuell in den USA, mit NIS 90/DIE GRÜNEN], an den Abg. Karsten brennenden Städten und einer eskalierenden Gewalt. Hilse [AfD] gewandt: Was zu beweisen war, Herr Hilse, genau! – Dr. Götz Frömming (Karsten Hilse [AfD]: Die brennenden Städte, [AfD]: Recht und Ordnung!) wo kommen die denn her? Das sind Ihre Freun- In Ihrem Antrag schreiben Sie mit Blick auf die de, die die Städte in Schutt und Asche legen! Gewalt: Also wirklich!) Echte Demokraten schweigen dazu nicht und prakti- Wir als Linke wollen das nicht! zieren auch keine selektive Solidarität. (Beifall bei der LINKEN) Tja, eigentlich haben Sie damit sogar ungewollt recht: Echte Demokraten schweigen nicht selektiv zu Gewalt Deshalb – letzter Satz – werden wir uns der AfD überall und Eskalation, Sie aber schon. entgegenstellen: hier, auf den Straßen, friedlich, aber mit aller Entschiedenheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- LINKEN – Karsten Hilse [AfD]: Machen wir ten der SPD – Zuruf des Abg. Karsten Hilse auch nicht!) [AfD]) Das sieht man zum Beispiel an Ihrer Haltung zu den Coronademos, an denen Sie ja auch selbst mit vielen Vizepräsident : Abgeordneten teilgenommen haben. Das Ergebnis waren Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist die Chaos, Gewalt und Angriffe auf Polizisten und das Parla- Kollegin Dr. Irene Mihalic, Bündnis 90/Die Grünen. ment, die AfD Arm in Arm mit Reichsbürgern, gewalt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – bereiten Nazis und Rechtsextremen. Dr. Götz Frömming [AfD]: Jetzt kommt die (Karsten Hilse [AfD]: Und mit Regenbogen- nächste linke Partei!) fahnen, Hunderten Regenbogenfahnen! Ihre 21716 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Dr. Irene Mihalic (A) Anhänger eigentlich, die aber auch Freiheit (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE (C) wollen!) GRÜNEN]: Der lässt keine Gelegenheit für Propaganda aus!) All das ist schlimm genug. Aber hinzu kommt, dass die von Ihnen unterstützten Aktionen die Sicherheitskräfte vor massive Herausforderungen stellen. Einerseits lassen Martin Hess (AfD): Sie keine Gelegenheit aus, sich bei der Polizei so richtig Herr Präsident, vielen Dank. – Kollegin Mihalic, ich einzuschleimen, finde es bemerkenswert, dass Sie hier diese Tausende, Zehntausende von Demonstranten in Mithaftung nehmen (Karsten Hilse [AfD]: „Einzuschleimen“?) für ein paar Menschen, für Leute, die sich inakzeptabel andererseits verlieren Sie keinen einzigen Ton zu 54 ver- verhalten haben, letzten Einsatzkräften – Entschuldigung, ich glaube, es (Beifall bei Abgeordneten der AfD) waren sogar 59 Einsatzkräfte –, die bei diesen Ausschrei- tungen verletzt wurden, und fordern sogar Eskalation die, zugegeben, zum Betreten der Treppe nicht berechtigt statt Deeskalation. waren. Aber das, was Sie hier verlangen, nämlich die entsprechende Distanzierung von Zehntausenden, weil (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ein paar Hundert sich falsch verhalten haben, das ist SES 90/DIE GRÜNEN – Ulli Nissen [SPD]: wirklich ein Demokratieverständnis, das in keinster Pfui!) Weise nachvollziehbar ist. (Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: NEN]: Erzählen Sie mal lieber, warum Sie sit- Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage – – zen geblieben sind!) Ich will eine Frage an Sie stellen: Wo ist denn diese Dr. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gleiche Distanzierung, wenn die Antifa Seit’ an Seit’ Würde man Ihre Forderungen umsetzen, dann würde (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dies Leib und Leben der Einsatzkräfte massiv gefährden, Sie wollen nicht zuhören! Sie lügen hier ein- meine Damen und Herren. fach rum! Sie hat es doch zum Anfang erklärt! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie hat es erklärt! Lesen Sie es im Protokoll sowie bei Abgeordneten der SPD) nach!) bei Demonstrationen Ihrer Partei, der Partei der SPD, der (B) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Partei der Linken vorne mit marschiert? (D) Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kollegen Hess? Sie sollen es im Protokoll nachlesen, wenn Sie schon nicht zuhören!) Dr. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wo ist denn Ihre Distanzierung von diesen gewaltbereiten Nein, ich erlaube die Zwischenfrage nicht. – Was ich Antifatruppen, die dann Polizeibeamte angreifen und noch sagen will: Diese Haltung, diese doppelzüngige schwer verletzen? Da höre ich solche Distanzierungen Haltung gegenüber der Polizei und gegenüber verletzten nie, da marschieren Sie gerne mit. Das ist doch genau Einsatzkräften offenbart Ihre ganze Scheinheiligkeit, mit das Problem. der Sie hier unterwegs sind. Wir finden, dass die Polizei insgesamt einen hervorragenden Job macht. Den Einsatz- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sie kräften, die das Parlament so tapfer vor den Angriffen sind das Problem!) verteidigt haben, kann man gar nicht genug danken. Wenn Sie von anderen Distanzierung verlangen, sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN selbst aber so verhalten, dann zeigen Sie selbst, wes Geis- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der tes Kind Sie sind. LINKEN) (Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Aber Sie bleiben ja lieber sitzen, während sich alle NEN]: Erklären Sie einmal, warum Sie nicht Demokraten hier im Haus zur Anerkennung erhoben aufgestanden sind!) haben – das spricht Bände. In Wahrheit bedarf es einer Distanzierung von der Antifa, von dieser Gewaltgruppe, die Polizisten massiv angreift (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und verletzt; das ist der springende Punkt. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Karsten Hilse (Beifall bei der AfD – Steffi Lemke [BÜND- [AfD]) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Protokoll lesen bil- det!) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vielen Dank, Frau Kollegin Mihalic. – Der Kollege Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Hess bzw. die AfD-Fraktion hat mich um eine Kurzinter- Frau Kollegin Mihalic, Sie haben die Chance, zu ant- vention gebeten, die ich zulasse. Herr Kollege Hess, Sie worten oder auch ein Statement abzugeben. – Bitte, Sie haben das Wort. haben das Wort. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21717

(A) Dr. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): deutlich verbessert, und sie verbessert sich weiter dank (C) Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und erheblicher Investitionen und auch massivem Personal- Herren! Also, Herr Hess, ich kann Ihnen nur empfehlen, aufwuchs. dass Sie vielleicht noch mal im Protokoll nachlesen – (Dr. Götz Frömming [AfD]: Kann der Vor- wirklich mal genau darauf achten –, was ich eben in schlag ja so falsch nicht sein!) meiner Rede zum Thema Linksextremismus und zum Thema Gewalt gegen Polizeibeamte ausgeführt habe. Die Polizei kann sich auf den Bundestag, die Bundesre- Aber vielleicht lesen Sie sich in allererster Linie den gierung und auch auf die CDU/CSU-Fraktion verlassen. Antrag, den Sie hier gestellt haben, noch einmal genau Wir alle stehen zu unserer Polizei, zu ihrem Einsatz für durch. Mit dem, was Sie da fordern, gefährden Sie das Recht und Ordnung und gegen Extremismus und Gewalt Leben von Einsatzkräften massiv. Ja, Sie fordern Eskala- von links und rechts. Ein herzliches Dankeschön an unse- tion, re Sicherheitsbehörden! (Zurufe von der AfD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE Sie fordern im Kern Krawall, Sie fordern die Aufwiege- GRÜNEN) lung, Sie fordern den Gewaltexzess auf der Straße – aber eben von rechts. Sie wollen das Chaos. Und was für ein Die Herausforderungen an die innere Sicherheit sind in Chaos Sie wollen und mit wem Sie da Seite an Seite den letzten Jahren weiter gestiegen. Wir alle haben die marschieren, das konnten wir hier alle beobachten. Gewaltexzesse rund um den G-20-Gipfel in Hamburg noch im Kopf, gewaltsame Ausschreitungen aktuell in (Dr. Götz Frömming [AfD]: Selbst die Kreuz- Leipzig vor Augen. Vorkommnisse im Dannenröder Forst berger Bürgermeisterin ruft nach der Polizei, in Hessen zeigen, dass Extremisten, die zuvor im Hamba- ruft um Hilfe! Fragen Sie sie mal!) cher Forst in Nordrhein-Westfalen waren, nun dort Posi- Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, tion beziehen, um friedliche Proteste in gewaltsame erheben Sie sich noch nicht einmal zum Dank für die Exzesse zu verwandeln. Einsatzkräfte, die unser Parlament vor den massiven Ja, es ist ein Alarmsignal im aktuellen Verfassungs- Angriffen verteidigt haben. schutzbericht: Von über 33 000 Personen im linksextre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, mistischen Bereich ist jeder Vierte gewaltbereit. Das sind bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei über 9 000 Gewaltbereite. Die Hemmschwelle sinkt, Abgeordneten der FDP und der LINKEN) selbst Gewalt gegen Personen, vor allem gegen die Poli- zei, steigt massiv. Der Staat, liebe Kolleginnen und Kol- Das ist schändlich und offenbart das gespaltene Verhält- legen, darf das nicht akzeptieren. (B) nis, das Sie selber zum demokratischen Rechtsstaat und (D) auch zu unseren Sicherheitsbehörden haben. Sie feiern Es gibt allerdings ebenso steigende Gewaltbereitschaft sich immer selber und sagen: Ja, die Polizei, das ist von Rechtsextremisten, Reichsbürgern, Exzesse am Ran- immer alles ganz toll. – Aber wenn hier bei so einem de von Demonstrationen. Hinzu kommen steigende Einsatz 59 Polizisten und Polizistinnen verletzt werden, Gewaltbereitschaft und Waffenfunde, sogar Tötungsde- weil sie von Ihresgleichen attackiert werden, likte. Der Rechtsextremismus stand jüngst auf den Stufen des Reichstages, und er sitzt – hoffentlich nicht mehr (Christian Dürr [FDP]: Richtig!) lange – auch hier im Deutschen Bundestag. Herr Hess, dann schweigen Sie, dann verlieren Sie dazu (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der keinen Ton. FDP) (Ulli Nissen [SPD]: Pfui!) Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Herr Haldenwang, hat völlig zu Recht Rechtsextremis- Das ist einfach nur schändlich. Vielleicht denken Sie mus und Rechtsterrorismus als die „größte Bedrohung darüber einmal nach! für die Sicherheit und Demokratie in Deutschland“ Ganz herzlichen Dank. bezeichnet. Bezüglich Neuer Rechte, Junger Alternative (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, und Flügel der AfD spricht er von „Superspreader von bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Hass, Radikalisierung und Gewalt“. Abgeordneten der FDP und der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, umso mehr werden wir Extremismus von rechts und links, der unsere Freiheit Vizepräsident Wolfgang Kubicki: und unsere Polizei gefährdet, energisch bekämpfen. Wir stehen als Deutscher Bundestag gemeinsam mit der über- Nächster Redner ist der Kollege Michael Brand, CDU/ wältigenden Mehrheit der Menschen unseres Landes CSU-Fraktion. gegen jeden Extremismus. Und deshalb werden wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schon gar nicht zulassen, dass die AfD hier den Bieder- mann gibt, obwohl jeder weiß, dass sie Brandstifter ist. Michael Brand (Fulda) (CDU/CSU): Der AfD-Antrag zeigt, wie Radikale sich bürgerlich Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tarnen. Im Antrag fordern Sie einen „Aktionsplan“ gegen Gleich vorweg: Taser sind bei der Bundespolizei bereits linksextremistische Gewalt und Terror. Nur: Das alles in der Erprobung. Der AfD-Antrag ist reine Show. Die läuft schon, aus gutem Grund. Wenn die AfD den bekann- Wahrheit ist: Die Ausstattung der Bundespolizei hat sich ten Satz „Die wehrhafte Demokratie darf keine Toleranz 21718 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Michael Brand (Fulda) (A) gegenüber der Intoleranz zeigen“ zitiert, dann bedeutet einer schnellstmöglichen Beschaffung von Distanz- (C) das für uns Demokraten auch: keine Toleranz gegenüber Elektroimpulsgeräten, umgangssprachlich auch Taser Extremisten von der AfD. genannt. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Wie hält man einen Menschen auf, der für sich selbst und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf oder für andere eine Gefahr darstellt? Das ist eine Frage, des Abg. Dr. Götz Frömming [AfD]) vor der Polizeibeamte immer wieder stehen und die sie Die Alternativen für Deutschland sind ganz klar: Rechts- oft in Sekunden entscheiden müssen. Man muss einen staat oder Extremisten. So einfach ist es hier, so eindeutig Menschen in einer absoluten Ausnahmesituation aufhal- und so klar. ten und will so wenig Zwang anwenden wie möglich, aber so viel wie nötig. Momentan stehen Polizeibeamten Die AfD schreibt an anderer Stelle: „Echte Demokra- dazu unter anderem folgende Mittel – es ist keine ten schweigen dazu nicht und praktizieren auch keine abschließende Aufzählung – zur Verfügung: Das erste selektive Solidarität.“ Mittel ist Runterreden – das Wort ist sehr hilfreich –, (Dr. Götz Frömming [AfD]: Echte Demokraten dann kommen körperlicher Zwang – geht auch –, Ein- akzeptieren demokratische Wahlen!) satzstab, Pfefferspray, Diensthunde oder als letztes und zum Glück sehr selten angewandtes Mittel die Schuss- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die AfD will das „Bild waffe. stellen“, dass nur die „echte Demokraten“ wären, die Solidarität mit der AfD üben. In Ihrem Antrag fordern Sie nun, der Bundespolizei als (Karsten Hilse [AfD]: So ein Quatsch!) eine weitere Waffe den Taser schnellstmöglich zur Ver- fügung zu stellen, sozusagen als Brücke zwischen Pfef- Was für ein mieser und durchsichtiger Trick. Natürlich ferspray und Schusswaffe – auch eine interessante For- kann es keine Solidarität mit Extremisten geben; das wäre mulierung. Doch bei jeder weiteren Waffe, die wir ja noch schöner. Polizisten an ihren bereits sehr üppig bestückten Gürtel (Dr. Götz Frömming [AfD]: Das verlangt doch hängen, müssen wir uns fragen: Ist das denn wirklich ein keiner!) probates Mittel? Hilft sie den Polizistinnen und Polizisten im Einsatz? Geht sie möglichst schonend mit den Betrof- Echte Demokraten kämpfen gegen Feinde der Demokra- fenen um? Geht ihr Einsatz nicht auf Kosten anderer tie, so sieht die Alternative aus: gegen Linksextremismus, deeskalierender Maßnahmen? Erst wenn wir feststellen – gegen Islamismus und gegen Rechtsextremismus. und das nicht durch eine Werbebehauptung einer lob- Natürlich gilt: Jede Straftat muss verfolgt werden, egal byierenden Firma –, (B) gegen wen sie sich richtet. Das heißt aber nicht, Extremis- (D) ten nicht mehr „Extremisten“ zu nennen, nur weil sie (Zuruf des Abg. Stephan Brandner [AfD]) Opfer anderer Extremisten sind. dass Polizisten damit geschützt werden und dass der oder (Christian Dürr [FDP]: Ganz genau!) die Getroffene keine langfristigen gesundheitlichen Schäden davonträgt, erst dann könnte der Taser als Teil Nicht nur ich werde nicht vergessen, dass die Hetze der der Polizeiausrüstung eingeführt werden. AfD zu politischen Morden beigetragen hat: von Walter Lübcke bis zu den neun Opfern von Hanau, von Halle und Um genau das sicherzustellen, haben Länderpolizeien – anderen Anschlägen. konkret hier in Berlin, aber auch in Hessen und Rhein- land-Pfalz – den Taser als Einsatzmittel getestet bzw. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der testen ihn immer noch. Auch die Bundespolizei hat gera- FDP – Dr. Robby Schlund [AfD]: Unver- de ein einjähriges Pilotprojekt gestartet, bei dem 30 Elekt- schämtheit!) roschockwaffen probeweise zum Einsatz kommen wer- Deshalb ist es wichtig, dass wir in diesem Parlament den. Wir sind also längst dabei, den Taser zu prüfen. In immer wieder über Extremismus debattieren, entschlos- Hessen sind zwei Menschen nach dem Einsatz von sen handeln und keinen Spalt lassen für die Feinde unse- Tasern verstorben. Und es ist auch noch nicht hinlänglich rer Demokratie. geklärt, ob der Elektroschock unter Umständen die Ursa- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP che dafür war. Der Hinweis im Antrag, dass Tasern in den und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) USA gang und gäbe ist, ist eher erschreckend. Die nutzen sogar Kriegswaffen. Und deren polizeiliche Ausbildung und Ausrüstung ist nicht ansatzweise vergleichbar mit der Vizepräsident Wolfgang Kubicki: der deutschen Polizei. Das wollen wir nicht. Wir sind da Vielen Dank, Herr Kollege Brand. – Nächste Rednerin viel, viel besser. ist die Kollegin Susanne Mittag, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Also erproben wir gerade den Einsatz von Tasern, und wir entscheiden, wenn wir Ergebnisse haben. Auch bei Susanne Mittag (SPD): Fachleuten gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Ein solcher Antrag ersetzt keine gründliche Prüfung, er Herren! Liebe Kollegen! Meine Kollege Uli Grötsch hat beschleunigt nicht, er unterstützt das Thema nicht, er zum Aktionsplan schon sehr fundiert argumentiert und wird abgelehnt. einige andere Kollegen auch. Dafür bin ich sehr dankbar. Deswegen ist mein Thema der Antrag zur Förderung Herzlichen Dank. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21719

Susanne Mittag (A) (Beifall bei der SPD) (Stephan Brandner [AfD]: Ja! – Beatrix von (C) Storch [AfD]: Okay! Gut! – Abg. Stephan Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Brandner [AfD] erhebt sich) Vielen Dank, Frau Kollegin Mittag. – Letzter Redner allerdings nicht für Sie. Das entscheidet der Präsident zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Michael bislang immer noch selbst. Der Begriff „Heuchelei“ in Kuffer, CDU/CSU-Fraktion. einer Debatte – Sie können sich wieder hinsetzen – ist aus meiner Sicht heraus nicht ordnungsrufwürdig. (Beifall bei der CDU/CSU) (Stephan Brandner [AfD]: Sie wollten doch Michael Kuffer (CDU/CSU): tauschen! Das war ein Angebot von Ihnen!) Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Debat- – Auf Ihre Provokationen gehe ich nicht mehr ein. Ich te hat ja schon zutage gefördert, dass der Antrag der AfD habe Ihnen das schon einmal gesagt. Provokation ist Ihr in weiten Teilen überflüssig ist, beispielsweise weil die Geschäftsmodell, darauf gehe ich nicht ein. – Herr Kolle- Taser bei der Bundespolizei schon in der Erprobung sind. ge, Sie haben das Wort. Vieles, was gefordert wird, ist schlicht kontraproduktiv. Die wenigen Dinge, die brauchbar sind, die haben Sie (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der abgeschrieben, und zwar aus einem Beschlusspapier der FDP) CSU-Landesgruppe vom letzten Donnerstag, (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Hört! Michael Kuffer (CDU/CSU): Hört! – Stephan Brandner [AfD]: Dann könnt Als der Bundestagpräsident gestern den auf der Tribü- ihr zustimmen!) ne anwesenden Polizisten gedankt hat, die am vorletzten Wochenende den Reichstag und damit das Symbol unse- in dem wir dafür eintreten, dass Angriffe gegen Polizisten rer Demokratie geschützt haben, und als sich danach alle härter bestraft werden, dass die Mindeststrafen bei einem Kolleginnen und Kollegen des Hauses als Zeichen des tätlichen Angriff angehoben werden, dass Fälle einbezo- Respekts vor diesen Beamtinnen und Beamten erhoben gen werden, in denen Polizisten nicht nur bei einer haben, sind die Flegel von der AfD als Einzige sitzen Diensthandlung, sondern wegen einer Diensthandlung geblieben. angegriffen werden, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD]) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – dass wir das Errichten von Barrikaden und Blockaden als Zurufe von der AfD) (B) (D) gefährliche Form des Widerstands gegen Vollstreckungs- Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Mich überrascht das beamte qualifizieren. Wir wollen den Anwendungsbe- nicht; denn es ist hinlänglich bekannt, dass Extremisten reich des Landfriedensbruchs ausweiten und § 305a mit den Sicherheitsbehörden fremdeln. StGB dahin gehend ausweiten, dass die Einsatzmittel von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst noch besser (Dr. Götz Frömming [AfD]: Völliger Unsinn! geschützt werden. Wir schützen damit unsere Städte, die Wir stehen als Einzige voll zur Polizei!) Bürger und deren Hab und Gut, und wir senden damit ein – Das mögen Sie so sehen. Vielleicht sind Sie auch des- klares Zeichen an die Polizei, indem wir denjenigen den halb nicht aufgestanden, weil der eine oder andere von Rücken stärken, die für uns den Kopf hinhalten. Ihnen, der am vorletzten Wochenende dabei gewesen ist, (Beifall bei der CDU/CSU) erkannt worden wäre. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, in die- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP sem Zusammenhang wäre es wirklich besser, wenn Sie und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – mit dieser unerträglichen Heuchelei aufhören würden. Dr. Götz Frömming [AfD]: Bei einer so billi- Sie unternehmen auch noch den Versuch, die Leute da gen Veranstaltung muss man sitzen bleiben! draußen und die Polizei für dumm zu verkaufen. Eine billige Veranstaltung war das!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich sage Ihnen noch mal: Hören Sie einfach mit dieser neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Heuchelei auf! Wenn Sie sich von der Polizei abgrenzen GRÜNEN – Stephan Brandner [AfD]: Gibt wollen, dann tun Sie das – das spielt keine Rolle –, aber „Heuchelei“ keinen Ordnungsruf? Vorhin gab hören Sie auf, die Polizisten und die Leute da draußen zu es bei „Heuchelei“ einen Ordnungsruf, oder veräppeln. nicht? – Gegenruf der Abg. Steffi Lemke Vielen Dank. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben wieder nicht zugehört, Herr Brandner, wie (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der meistens! – Zuruf von der SPD: Einfach igno- FDP – Dr. Götz Frömming [AfD]: Sie klat- rieren!) schen für die Linken!)

Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Herr Kollege Brandner, wenn Sie gerne die Sitzungs- Vielen Dank, Herr Kollege. – Damit schließe ich die leitung übernehmen wollen, dann räume ich den Stuhl, Aussprache. 21720 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Das mag den Buchstaben des Krankenhausfinanzierungs- (C) den Drucksachen 19/22189 und 19/22203 an die in der gesetzes widersprechen, aber ich bin sicher: Das ist im Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sinne der Krankenhäuser, und das ist insbesondere im Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – Das erkenne Sinne der Patientinnen und Patienten. ich nicht. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. Worum geht es? Es geht zum Beispiel um die digitale Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b: Verzahnung des stationären Bereichs mit dem ambulan- a) Erste Beratung des von den Fraktionen der ten Bereich. Gerade diese Verzahnung war in der Pande- CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs miezeit wichtig. Wir wissen, dass für sechs von sieben eines Gesetzes für ein Zukunftsprogramm Patienten im Wesentlichen im ambulanten Bereich die Krankenhäuser (Krankenhauszukunfts- Diagnostik vorgenommen wurde und dass die Patienten gesetz – KHZG) mit schweren und schwersten Verläufen hervorragend in Drucksache 19/22126 den Krankenhäusern versorgt wurden. Dies können wir noch besser machen, indem die Verbindung durch die Überweisungsvorschlag: Digitalisierung noch weiter optimiert wird. Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Es geht daneben auch um ein digitales Entlassmanage- Ausschuss Digitale Agenda ment – auch dies ist eine, ich möchte schon fast sagen, Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO alte Baustelle –, also die Versorgung im Anschluss an den b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krankenhausaufenthalt durch niedergelassene Ärzte, Detlev Spangenberg, Marc Bernhard, Physiotherapie, Apotheken, Pflegeheime – was auch Stephan Brandner, weiterer Abgeordneter immer. Auch die elektronische Patientenakte spielt hier und der Fraktion der AfD natürlich eine Rolle. An dieser Stelle jetzt deutlich wei- Krankenhäuser in der Fläche erhalten – terzukommen, ist elementar. Wirtschaftliche Basis sichern, Bundeslän- der angemessen beteiligen (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Sabine Dittmar [SPD]) Drucksache 19/22185

Überweisungsvorschlag: Ein wichtiger Punkt ist auch die Datensicherheit. Ausschuss für Gesundheit 15 Prozent aller Ausgaben, die aus diesem Programm Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten heraus getätigt werden, müssen in die Datensicherheit beschlossen. fließen. (B) (D) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Vor wenigen Wochen habe ich an einer virtuellen ner dem Kollegen Lothar Riebsamen, CDU/CSU-Frak- Podiumsdiskussion teilgenommen. Es waren Wissen- tion, das Wort. schaftler, Krankenhauspraktiker, IT-Leute und die Politik (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) vertreten. Da wurde gesagt: Wir brauchen 3 Milliarden Euro, um da voranzukommen. – Und siehe da – ich weiß nicht, ob das Zufall ist oder nicht –: 3 Milliarden Euro Lothar Riebsamen (CDU/CSU): stehen in diesem Zukunftsprogramm. Ich freue mich, Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen Herr Minister. Zu diesen 3 Milliarden Euro kommen und Kollegen! Ich glaube, diese Pandemiesituation im 1,3 Milliarden Euro – das sind 30 Prozent der Gesamt- letzten halben Jahr hat zwei Dinge aufgezeigt: Zum einen summe –, die die Länder obendrauf legen müssen, ohne hat diese Situation aufgezeigt, dass wir leistungsfähige dass sie das an anderer Stelle bei den Krankenhausinves- Krankenhäuser in Deutschland haben, auf die wir uns titionen einsparen dürfen. Das macht insgesamt 4,3 Mil- verlassen konnten und können – insbesondere im Ver- liarden Euro. Ich glaube, das kann man jetzt wirklich als gleich mit anderen Nationen. Zum anderen hat sie aber großen Wurf und als wirkliches Zukunftsprogramm für auch gezeigt, dass es notwendig ist, Aufgaben, die schon die Krankenhäuser bezeichnen. vor dieser Pandemie anstanden – Herausforderungen im Bereich der Digitalisierung –, nun noch konsequenter als Auch im laufenden Betrieb wird in Bezug auf die Aus- bisher anzugehen. fälle bei den Krankenhäusern noch mal nachgebessert. Wir wissen, dass für die Investitionen im Kranken- All die Krankenhäuser, die davon ausgehen müssen, hausbereich – das gilt selbstverständlich auch für die dass sie über die Pauschalen zu wenig bekommen haben, Digitalisierung – eigentlich nicht der Bund zuständig können vor Ort noch einmal verhandeln. Ich glaube, mehr ist, sondern zu 100 Prozent die Bundesländer. Ich denke kann man an dieser Stelle nicht tun. Das ist notwendig, aber, dass die Krankenhäuser nun schon zu lange auf wenn wir eine gute Krankenhausversorgung in Deutsch- diese Investitionsmittel für die Digitalisierung warten land auch in Zukunft haben wollen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Deswegen bitte ich Sie im weiteren Verfahren herzlich des Abg. René Röspel [SPD]) um Ihre Unterstützung für diesen Gesetzentwurf. und dass es richtig ist, dass wir mit diesem Zukunfts- Herzlichen Dank. programm, das jetzt auf dem Tisch liegt, das Heft selber in die Hand nehmen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21721

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Die Anzahl der in den Krankenhäusern zur Verfügung (C) Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der stehenden IT-Mitarbeiter ist begrenzt, sodass bei der Kollege Dr. Robby Schlund, AfD-Fraktion. geplanten Erhöhung des Digitalisierungsgrades der ent- sprechende Personalbedarf in ausreichendem Maße (Beifall bei der AfD – Ulli Nissen [SPD]: Oje!) berücksichtigt werden muss. Andernfalls würde es zu Querfinanzierungen innerhalb des Krankenhauses zulas- ten der Patientenversorgung kommen. Dr. Robby Schlund (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Liebe Letztendlich geht es aber um die Zukunftsfähigkeit Fernsehzuschauer! Die Fraktion der AfD unterstützt die unserer Krankenhäuser. Sie muss geprägt sein von einer Bemühungen, die Krankenhäuser in Deutschland zu stär- umfassenden Reform der Finanzierung der stationären ken, aber wir haben mit unserem beigestellten Antrag Versorgung in Verbindung mit der Abschaffung des zwei wesentliche Verbesserungsvorschläge gemacht und DRG-Systems. bitten um Unterstützung zum Wohle der Patienten. Dabei geht es einerseits um die Erhaltung von Krankenhäusern Wir stimmen dem Überweisungsvorschlag zu. in der Fläche und andererseits um eine angemessene Vielen Dank. Beteiligung der Länder. (Beifall bei der AfD) Mit 3 Milliarden Euro aus Bundesmitteln – das sind ungefähr 70 Prozent – plus der Finanzierungsbeteiligung der Länder in Höhe von 30 Prozent belaufen sich die Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Gesamtkosten aller Länder auf 1,3 Milliarden Euro. Für Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der die durch Corona ohnehin schon belasteten Länder stellt Kollege Dr. Edgar Franke, SPD-Fraktion. sich dies als ein massives Problem dar. Das generelle Problem der mangelnden Investitionsförderung durch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Bundesländer bleibt darüber hinaus ungelöst. Inso- der CDU/CSU) fern ist für uns eine höhere Gewichtung der Bundesmittel unerlässlich. Dr. Edgar Franke (SPD): Der zweite wesentliche Verbesserungsvorschlag zielt Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- darauf ab, den strukturschwachen Gebieten in Deutsch- ren! Milliarden für moderne Kliniken – so oder ähnlich land eine vernünftige, flächendeckende Versorgung zu waren Presseberichte zum Krankenhauszukunftsgesetz garantieren. Wir brauchen hier Solidarität mit den überall überschrieben. In der Tat – wir haben es eben (B) schwächeren Krankenhäusern. gehört –: 4,3 Milliarden Euro sollen in die Kliniken, in (D) Digitalisierung, IT-Infrastruktur und auch in die Moder- (Beifall bei Abgeordneten der AfD) nisierung der Notfallversorgung, investiert werden. Die Verlautbarungen des Bundesgesundheitsministers Wir wissen aber alle – Lothar Riebsamen hat es eben klingen viel zu rund, als ob jetzt alles geregelt wäre. Wir gesagt –: Eigentlich sind die Länder zuständig. Sie haben wollen die Krankenhauslandschaft aber nachhaltig ver- viele Krankenhausstandorte, aber sie sind nicht immer in bessern, modernisieren und für die Zukunft der Men- der Lage – und ich will es mal so sagen: sie wollen auch schen besser aufstellen. Deutschlands Krankenhäuser manchmal nicht –, ihrer Investitionspflicht nachzukom- sollen die besten der Welt sein! men. Deshalb ist es ausdrücklich zu begrüßen, Herr Minister, dass diese Koalition sich der Sache angenom- (Beifall bei der AfD) men hat und dass wir 70 Prozent der 4,3 Milliarden Euro Dafür reichen weder 4 Milliarden Euro noch einschlä- bereitstellen. 3 Milliarden Euro vom Bund sollen in die fernde Allgemeinsätze. Detailarbeit und konsequente Modernisierung unserer Kliniken fließen. Das ist ein Unterstützung der Krankenhäuser sind gefragt. Ich ver- großer politischer Erfolg; das kann man wirklich einmal misse hier das entsprechende Engagement in Ihrem sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Gesetzentwurf. In diesem scheint es auch zu einer Über- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der schneidung mit dem bereits bestehenden Krankenhausst- CDU/CSU) rukturfonds zu kommen, was die Gefahr einer Mehrfach- förderung in sich birgt. Unsere medizinische Versorgung ist weitaus besser, als immer gesagt wird. Das haben wir, glaube ich, auch in der Was unsere Fraktion auch mit Sorge erfüllt, ist nicht Coronapandemie gelernt. Wir sind gut gerüstet. Durch der Versuch der Stärkung der Digitalisierung im Regie- die große Anzahl von Betten, insbesondere auch durch rungsentwurf, sondern die nicht ausreichende qualitative die Ausweitung der Anzahl der Intensivbetten sind wir Verbesserung und Umsetzung. Nicht alleine die Moder- sehr gut durch die Pandemie gekommen. Die Kranken- nität zählt, sondern vor allem der Nutzen für die Patien- häuser und deren Mitarbeiter, die Ärztinnen und Ärzte ten, und die Ärzte müssen von täglichen Bürokratie- und die Pfleger, haben vorbildlich mitgeholfen, dass wir Papierbergen und endlosem Kodieren entlastet werden. die schrecklichen Bilder, die wir in Frankreich und in (Beifall bei der AfD) Italien gesehen haben, nicht auch in Deutschland sehen mussten, was auch deshalb möglich war, weil wir gehan- Wir brauchen hier einen deutlich höheren Bürokratieab- delt haben, indem wir frühzeitig versucht haben, mit einer bau und mehr Patienteneffizienz. Zahlung von 560 Euro pro Tag Betten freizuhalten. 21722 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Dr. Edgar Franke (A) Es ist allerdings so – das muss man auch kritisch kenhaus zu weit wäre. Wir brauchen diese Krankenhäu- (C) sagen –: Die kleinen Häuser haben von dieser Pauschale ser, obwohl sie wenige Operationen durchführen, obwohl profitiert, die großen eher ein Minusgeschäft gemacht. sie weniger Diagnosen stellen und damit weniger Ein- Den pauschalen Rettungsschirm wird es sicherlich künf- nahmen haben, weil gerade viele ambulant tätige Ärzte tig nicht mehr in dem Maße geben, aber die Kliniken aus der Fläche verschwinden und wir Gesundheitsversor- können sich pandemiebedingte Mehrausgaben und Erlös- gung immer sektorenübergreifend ansehen. rückgänge ausgleichen lassen. Nun ist es aber so: Mich als Berichterstatter haben Darüber hinaus stellt sich beim Krankenhauszukunfts- viele Abgeordnete angesprochen, dass in ihrem Bereich gesetz auch die Frage: Wohin geht es mit unserer Kran- ländliche Krankenhäuser einzelne Sicherstellungskrite- kenhausversorgung? Wie geht es mit unserer Versorgung rien, die der Maßstab für die Bundesförderung waren, weiter? Aktuell wird gerade angesichts der Coronapan- nicht erfüllen, aber trotzdem eine große Bedeutung für demie immer diskutiert, inwieweit wir ökonomische die Region haben. Mich haben in begründeten Einzelfäl- Anreize im Krankenhaus abschaffen sollten. Es wird dis- len viele Leute angesprochen. Ich glaube, wir sollten kutiert, inwieweit ökonomische Prinzipien und auch darüber nachdenken, Herr Minister, ob wir in Ausnahme- Renditeerwartungen von privaten Krankenhausbetrei- fällen Öffnungsklauseln schaffen, ähnlich wie bei der bern im Vordergrund stehen und nicht das Wohl der Notfallversorgung und in Abstimmung mit den Ländern, Patienten. Doch wenn es keine ökonomischen Anreize um dort, wo es versorgungspolitisch wirklich notwendig gibt, werden diese durch andere Maßstäbe ersetzt; das ist, einzelnen Krankenhäusern mit Bundesmitteln finan- wissen wir natürlich. Schon bei den tagesbezogenen Pfle- ziell zu helfen. Denn abstrakte Kriterien entsprechen oft- gesätzen gab es immer den Anreiz, eine medizinisch nicht mals nicht der Lebenswirklichkeit vor Ort. Das ist auch notwendige und damit unwirtschaftliche Ausdehnung der aus meiner Sicht ein wichtiger Punkt. Verweildauer zu erzielen. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Kirsten Dagegen bewirkt ein Wettbewerb um Qualität, dass Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Menschen die bestmögliche Versorgung bekommen. NEN]) Aus meiner Sicht ist es sogar eine ethische und morali- sche Verpflichtung, die verfügbaren Mittel gerade wirt- Es ist auch ein Wert an sich, dass wir Häuser im schaftlich zu verwenden mit dem Ziel, dass eben alle die Bedarfsfall als Anlaufstelle zur Verfügung haben. Das bestmögliche Versorgung erhalten. Allerdings – das sage ist Daseinsvorsorge im besten Sinne des Wortes. Deswe- ich auch –: Das Streben nach Rendite hat sich bei ver- gen brauchen wir unabhängig von der Vergütung einzel- schiedenen DRGs in der Vergangenheit auch negativ auf ner Pfeiler in Zukunft auch eine gewisse Basisfinanzie- (B) die Versorgung ausgewirkt. Hier gibt es viele Praktiker- rung der Krankenhäuser. Das heißt, in Zukunft sollten wir (D) innen und Praktiker, die das bestätigen können. auch notwendige Vorhaltekosten unabhängig von der tat- sächlichen Auslastung finanzieren, wenn es sachlich Deshalb müssen wir das Fallpauschalensystem grund- geboten ist. Ich glaube, das ist eine Diskussion, die wir sätzlich weiterentwickeln. Wir haben bereits den Bereich als Sozialdemokraten führen wollen und auch führen der Pflege aus den Fallpauschalen herausgenommen. müssen. Nun lohnt es sich nicht mehr, auf Kosten der Pflege zu sparen. Das war, meine sehr verehrten Damen und Her- (Beifall bei der SPD) ren, ein großer Fortschritt, den wir als Sozialdemokraten durchgesetzt haben. So könnten wir zum Beispiel auch die Finanzierung der Versorgung von Kindern und Jugendlichen durch (Beifall bei der SPD) eine bessere Basisfinanzierung der Fachabteilungen stär- Aber damit haben wir das grundlegende Problem der ken. Das ist auch unsere politische Aufgabe für die Finanzierung von Krankenhäusern nicht gelöst. Im Zukunft; denn Gesundheitsversorgung für alle bedeutet: Gegenteil: Krankenhäuser sind weiterhin gezwungen, unabhängig vom Wohnort, unabhängig vom Alter, unab- Investitionen aus den Betriebserlösen zu finanzieren. hängig vom Geldbeutel der Versicherten die bestmögli- Gerade diese Investitionen müssen endlich auskömmlich che Versorgung. sein. Deswegen kann man hier vom Bundestag nur an die Dazu gehört immer auch die gute Pflege. Wir haben Länder appellieren, dass sie ihre Hausaufgaben gerade uns immer dafür eingesetzt, dass gerade die pflegenden bei der Neu- und Umstrukturierung der Krankenhausver- Angehörigen, die in der Coronakrise besonders hart sorgung machen und endlich mehr investieren. Auch in getroffen sind, nicht vergessen werden. diesem Jahr werden rund 3 Milliarden Euro fehlen.

Der Bund hat aber nicht nur hier im Krankenhauszu- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: kunftsgesetz, sondern auch in anderen Bereichen Schritte Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. unternommen, zum Beispiel um bedarfsnotwendige Kliniken in strukturschwachen Regionen finanziell bes- ser auszustatten. Es gibt einen Bundeszuschuss von Dr. Edgar Franke (SPD): 400 000 Euro. Davon profitieren allein 100 Krankenhäu- 70 Prozent der Menschen werden zu Hause gepflegt. ser. Diese Krankenhäuser bekommen das Geld, weil sie Deswegen erweitern wir mit diesem Gesetz das Pflege- bedarfsnotwendig für die Versorgung sind. „Bedarfsnot- unterstützungsgeld. Das war uns besonders wichtig. Mei- wendig“ sind sie, weil sie erstens in dünn besiedelten ne Kollegin hat sich sehr dafür einge- Regionen liegen und zweitens der Weg ins nächste Kran- setzt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21723

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Wir als Freie Demokraten wollen eine hochwertige (C) Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Schluss. und flächendeckende stationäre Versorgung. Dafür brau- chen wir einen Mix aus maximal versorgenden und spe- zialisierten Krankenhäusern: nicht zum Wohle der Kran- Dr. Edgar Franke (SPD): kenhäuser, sondern zum Wohle der Patientinnen und Damit stärken wir die pflegenden Angehörigen. Damit Patienten und all derer, die in diesen Krankenhäusern stärken wir die Pflegebedürftigen. Denn gesundheitliche auch arbeiten. Krankenhäuser, meine Damen und Herren, Versorgung muss immer aus Patientensicht gedacht wer- müssen modern, menschlich und leistungsfähig sein. den. Das war und ist der rote Faden sozialdemokratischer Digitalisierung dient dabei als sinnvolles Werkzeug und Gesundheitspolitik. war längst überfällig. Danke schön. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD) So geht Krankenhaus. Lieber Herr Minister Spahn, körperlich sind Sie ja Vizepräsident Wolfgang Kubicki: groß, der Titel des Gesetzentwurfs ist sogar noch größer, Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte doch darum, aber der Inhalt ist leider sehr, sehr klein. Weil es inhaltlich auf die Redezeiten zu achten – auch Sie, Herr Kollege so wenig ist, können wir in großen Teilen sogar zustim- Dr. Franke –, weil wir jetzt schon zeitlich bei einem men. Aber bitte machen Sie weiter so! Trauen Sie sich! Sitzungsende gegen Mitternacht sind. Wenn das so wei- Gehen Sie an die Arbeit! Machen Sie unsere Kranken- tergeht, werden wir bis 1 Uhr hier sitzen, etwas, was wir häuser wirklich fit für die Zukunft! Wir helfen Ihnen vermeiden wollten. Also: Ich werde mit wachsender Zeit- gerne dabei. Die Stärkung der digitalen Struktur in den dauer der Sitzung auch etwas weniger geduldig. Krankenhäusern kann nur ein erster Schritt sein. Herzlichen Dank. Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Andrew Ullmann, FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP)

(Beifall bei der FDP) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullmann. – Nächster Dr. Andrew Ullmann (FDP): Redner ist der Kollege Harald Weinberg, Fraktion Die Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Linke. ren! Als ich vor drei Jahren in den Bundestag gewählt (Beifall bei der LINKEN) (B) wurde und mich von meiner Station in der Uniklinik in (D) Würzburg verabschiedet habe, kam die Stationsschwester zu mir und sagte: Wenn du nach Berlin gehst, vergiss uns Harald Weinberg (DIE LINKE): Vielen herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kol- bitte nicht! Vergiss diese Hamsterräder nicht! Vergiss leginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die nicht die tägliche Frustration, die wir im Krankenhaus Konstruktion des Krankenhauszukunftsfonds sehen wir haben! Vergiss nicht, wie wenig Zeit wir haben, um unse- ja durchaus positiv. Es ist gut, dass sich der Bund am re Patienten zu versorgen! – Eigentlich ist es beschä- Abbau des Investitionsstaus in den Krankenhäusern mend, auch für mich, dass wir Patienten im Krankenhaus beteiligt und dabei auch für die Länder Anreize schafft, abarbeiten, statt sie adäquat mit Medizin und Mensch- ihre Investitionen zu erhöhen. Diese Forderungen brin- lichkeit zu versorgen. Vielleicht kennen Sie diese Reali- gen wir selber seit über zehn Jahren in die Haushaltsbe- tät: als Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter oder als Ange- ratungen ein; bisher haben wir dafür leider keine Mehr- hörige. Da stellt sich hoffentlich uns allen die gleiche heiten bekommen. Frage: Was läuft schief? Was können wir eigentlich dage- gen tun? Es ist nicht die Schuld der Ärzte oder des Pflege- Ein gravierender Mangel dieses Zukunftsfonds ist personals oder die der Physiotherapeuten oder gar der allerdings seine Einmaligkeit. Damit wird er den Proble- Verwaltung. Nein, meine Damen und Herren, die Proble- men in den Krankenhäusern nicht gerecht. Im März me sind durch eine fehlgeleitete Politik verursacht. haben die Deutsche Krankenhausgesellschaft und der Spitzenverband der Krankenversicherungen darauf hin- (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Franziska gewiesen, dass in den Krankenhäusern in diesem Jahr Gminder [AfD]) mindestens 3 Milliarden Euro für bestandserhaltende Die drei Zentralpunkte sind: erstens das Versagen der Investitionen fehlen, also nicht für etwas Neues, sondern Länder in der dualen Finanzierung der Krankenhäuser, für bestandserhaltende Investitionen. Das Problem des zweitens die überbordende, nicht moderne und uneinheit- Investitionsstaus von inzwischen über 50 Milliarden liche Bürokratie und drittens das Aufrechterhalten einer Euro wird mit der einmaligen Beteiligung des Bundes seit Jahrzehnten überholten Krankenhauslandschaft. nicht behoben. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der FDP) Es ist wohlfeil, an dieser Stelle die alleinige Verant- Herr Spahn, keines dieser Probleme gehen Sie mit diesem wortung für die Investitionsmisere den Ländern zuzu- Gesetz an. Ich frage mich, wo das Gesetz jetzt hingeht: schieben. Unsere Forderung als Linke ist eine dauerhafte zurück in die Vergangenheit oder voran in die Zukunft; jährliche Beteiligung des Bundes an den Investitionskos- ich weiß es nicht genau. ten der Krankenhäuser. Trotzdem sehen wir den Kran- 21724 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Harald Weinberg (A) kenhauszukunftsfonds als richtigen Schritt in diese Rich- Da ist in den letzten Jahren viel an Bewegung und (C) tung und stellen fest – wenn auch manchmal mit großem Druck entstanden. Der Druck wird weiter wachsen. Das Zeitverzug und mit großen Umwegen –: Links wirkt! bisherige System der Krankenhausfinanzierung wird kei- nen Bestand haben. Die Linke wird diesen Druck weiter (Beifall bei der LINKEN) ins Parlament tragen. Gleichzeitig fragen wir uns, warum eine solche Finan- Vielen Dank. zierung auf Krankenhäuser beschränkt ist und warum im (Beifall bei der LINKEN) gesamten Konjunkturprogramm kein Cent für die statio- näre Pflege vorgesehen ist. In den Pflegeeinrichtungen werden die Investitionskosten zum größten Teil den Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Bewohnerinnen und Bewohnern aufgebürdet. Eine him- Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist die melschreiende Ungerechtigkeit! Wir fordern, dass der Kollegin Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die Grü- Bund sich auch an den Investitionskosten der Pflegeein- nen. richtungen beteiligt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und damit nicht nur die Länder und die Träger, sondern NEN): ganz unmittelbar auch die Pflegebedürftigen unterstützt, Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- deren Eigenanteile ansonsten durch die Decke gehen. nen und Kollegen! In unserer Debatte geht es um das Krankenhauszukunftsgesetz – großer Titel, großer In diesem Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen, Anspruch. Wir müssen leider sagen – der Verlauf der steckt auch eine Regelung für die coronabedingten Ein- Debatte hat das sehr, sehr deutlich gezeigt –: Diesem nahmeausfälle der Krankenhäuser. Auf Grundlage der Anspruch wird dieses Gesetz nicht gerecht. Erlöse des Vorjahres können Krankenhäuser mit den Kas- sen vor Ort über weitere Ausgleichszahlungen verhan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN deln. Es ist aus unserer Sicht falsch, die Erlöse zur Grund- sowie bei Abgeordneten der FDP) lage dieser Verhandlungen zu machen. Sie stärken damit Zentral müssen doch die Fragen sein: Wie gehen wir in die Krankenhäuser, die im letzten Jahr Gewinne mit Ver- Zukunft stationäre Versorgung und insgesamt die sichertengeldern gemacht haben. Das ist ein Zukunftsver- Gesundheitsversorgung an? Wie stellen wir sie in Zeiten sprechen für wirtschaftlich starke Kliniken, die in der des demografischen Wandels auf? Wie kriegen wir den Regel von privaten, auf Profit orientierten Krankenhaus- (B) Spagat zwischen einer guten, verlässlichen Versorgung – (D) konzernen betrieben werden. Kliniken, die im letzten überall, ganz unabhängig vom Wohnort – und dem Fach- Jahr Verluste gemacht haben, werden weiter geschwächt, kräftemangel und den auch endlichen Ressourcen hin? unabhängig davon, wie wichtig sie für die stationäre Ver- Das ist doch die große Aufgabe, die zu stemmen ist. sorgung in der Region sind. Diese Regelung muss korri- Unbestritten hat darin die Digitalisierung ihren Platz. giert werden. Aber es ist verkehrt, genau die wichtigen Strukturproble- me nicht anzugehen und weiter zu vertagen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der richtige Weg aus unserer Sicht wäre es, die tat- Genau das passiert. Angesprochen wurde schon der sächlichen Kosten des Jahres zur Grundlage zu machen. Mangel an Investitionen und die mangelhafte Finanzie- Dafür allerdings müssten die Fallpauschalen für die Zeit rung der Krankenhäuser durch die Länder – 3 Milliarden der Pandemie ausgesetzt werden. Andernfalls wird es Euro nur bei der normalen Regelausstattung, ganz unab- unter den Krankenhäusern Krisengewinner und Krisen- hängig von der Digitalisierung –, weiterhin eine völlig verlierer geben. Dafür tragen Sie mit der falschen Fixie- inadäquate Krankenhausplanung, die auch gesetzlich rung auf Erlöse und Fallpauschalen die Verantwortung. nicht den Rahmen und die Kompetenz hat, sektorüber- Es ist aber ohnehin an der Zeit für einen Systemwech- greifend zu handeln, also ambulant und stationär zusam- sel in der Krankenhausfinanzierung, men. Dann haben wir ein Entgeltsystem, das sozusagen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Menge und Fälle bestellt, statt danach zu gucken: Wie der sich am Gemeinwohl orientiert und den ökonomi- bekomme ich eine Sicherstellung der Vorhaltekosten schen Druck von den Krankenhäusern nimmt. Dafür hin? Das ist gerade wichtig für die Primärversorgung, streiten wir Linke zusammen mit den Beschäftigten in gerade wichtig für die pädiatrischen Abteilungen, gerade den Krankenhäusern und ihrer Gewerkschaft Verdi, die wichtig für die Geburtshilfe. für die Entlastung, eine bessere Versorgung, eine andere (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Finanzierung und ebenfalls für die Abschaffung der Fall- pauschalen kämpfen – Das ist auch insgesamt wichtig für das Empfinden der Menschen, ganz egal, wo sie leben, damit sie wissen: Ja, (Beifall bei der LINKEN) für meine Versorgung ist gesorgt. – Das, meine Damen und Herren, kann nicht nur am Wettbewerb festgemacht zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern, die vor Ort werden, kann nicht nur an betriebswirtschaftlicher Kran- für den Erhalt der Krankenhäuser eintreten. kenhausfinanzierung hängen, sondern wir brauchen einen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21725

Maria Klein-Schmeink (A) ganz klaren Plan: Wie kriegen wir die Aufgabe der Ja, es ist nicht alles perfekt. Es hat an vielen Stellen (C) Daseinsvorsorge hin? Wie kriegen wir sie auch in geruckelt, auch im Alltag. Wir haben in unsicherer Lage Zukunft sichergestellt? Was müssen wir tun, und welche jeden Tag dazugelernt und auch immer wieder Dinge Stellschrauben müssen wir drehen, damit wir tatsächlich anpassen müssen. Aber gerade mit Blick auf unser zu einer Reform kommen? Gesundheitswesen und gerade auch mit Blick darauf, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) was das Gesundheitswesen jeden Tag leistet, auch in den Krankenhäusern, frage ich mich angesichts von Da reicht es nicht, an kleinen Schräubchen zu drehen; Äußerungen mancher Kritiker, in welchem Land sie in das tun wir seit zehn Jahren. Wir müssen weiter feststel- dieser Pandemie eigentlich lieber wären als in Deutsch- len, dass die Defizite ja nicht behoben werden und dass land. Auch das, finde ich, gehört zu dieser Debatte dazu. auch die Menschen nicht das Gefühl haben, dass die Ja, es ist nicht alles perfekt. Aber alles in allem kann man Defizite behoben werden, weder die Patientinnen und schon auch ein Stück stolz und dankbar dafür sein – Patienten noch die Beschäftigten im Krankenhaus. Genau demütig, aber dankbar –, in dieser Zeit in Deutschland das muss sich ändern, und dafür brauchen wir eine Auf- zu sein. stellung. Ich muss leider sagen: Die Chance, diese Aufstellung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie hinzukriegen, ist vertan worden. Wir geben viel Geld bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE aus – in den Schwerpunkten auch durchaus richtig –, GRÜNEN) aber nicht eingebettet in eine tatsächliche Reform der Krankenhausversorgung. Das hätten wir eigentlich in die- So gut alles funktioniert, so geht es aber auch noch ser Wahlperiode dringend hinkriegen müssen. besser. Herr Ullmann, Frau Klein-Schmeink und viele andere haben ja einige Themen angesprochen. Ja, es Ich hoffe sehr, dass wir nicht nur über dieses Zukunfts- geht nicht nur um Digitalisierung in der Krankenhaus- gesetz reden, sondern dass noch in dieser Wahlperiode struktur und im Gesundheitswesen. Aber das ist ein wich- ein Zukunftsgesetz Nummer zwei folgt, in dem wir genau tiger Baustein, und um den geht es zumindest in diesem diese wichtigen Fragen gemeinsam mit den Ländern und Gesetzentwurf. auch als Kraftanstrengung mit den Ländern angehen. Danke schön. Wir haben es doch schmerzhaft erlebt: Es sind immer noch Faxe, die in dieser Pandemie von den Laboren an (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Gesundheitsämter gehen, um die Meldungen zu machen. In diesem Bereich holen wir übrigens gerade Vizepräsident Wolfgang Kubicki: im Schnellprogramm an Digitalisierung das nach, was (B) Vielen Dank. – Als nächstem Redner erteile ich das in 20 Jahren wegen Blockaden aller Art nicht gelungen (D) Wort Herrn Bundesminister Jens Spahn. ist. Wir haben gesehen und gespürt, wie gut es wäre, jetzt schon eine elektronische Patientenakte zu haben. Das (Beifall bei der CDU/CSU) hätte auch manches im Informationsfluss beschleunigt. Sie wird am 1. Januar 2021 kommen. Jens Spahn, Bundesminister für Gesundheit: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass Ja, wir haben auch erlebt, dass es eine bessere digitale Deutschland bis hierhin so gut durch diese Pandemie, Ausstattung in den Krankenhäusern geben muss. Es darf durch diese schwierige Situation gekommen ist, hat vor vor allem nicht nur eine Insellösung sein und nur ein allem auch mit einem leistungsfähigen, einem robusten Haus umfassen. Es braucht Schnittstellen und Möglich- Gesundheitswesen zu tun. „Gesundheitswesen“ klingt keiten, um mit anderen Krankenhäusern, mit anderen immer so neutral. Das sind am Ende die vielen Hundert- Teilen des Gesundheitssystems eng zu kommunizieren ausenden Beschäftigten, die Ärztinnen und Ärzte, die und Daten auszutauschen. Wir haben gesehen, dass das Pflegekräfte, die vielen weiteren Beschäftigten auch in in einer Pandemie und natürlich auch im normalen den Krankenhäusern – nicht nur, aber auch –, die täglich Betrieb einen wichtigen Unterschied macht und machen und nächtlich ihre Arbeit tun, die nicht Homeoffice kann. machen konnten in den letzten Monaten, die in dieser schwierigen Lage immer vor Ort präsent waren. Ich fin- Herr Kollege Weinberg, dass der Bund in der Krise de, zu einer solchen Debatte in der Pandemie gehört es zum ersten Mal seit Jahrzehnten – das muss man sagen – auch, ihnen allen Danke zu sagen für das, was sie dort aus Bundeshaushaltsmitteln die Mittel der Länder um leisten. 3 Milliarden Euro erhöht und so die Mittel für die Kran- kenhäuser auf über 4 Milliarden Euro steigen, ist ein (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, deutliches Zeichen. Dass die Koalition sich dazu ent- der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE schieden hat, zum ersten Mal gerade mit dem Schwer- GRÜNEN) punkt Digitalisierung wieder in Krankenhäuser zu inves- Ja, wir sind gut durchgekommen, auch dank der guten tieren, ist eben ein klares Bekenntnis dazu, dass Strukturen und Ausstattung in den Krankenhäusern. Wir Digitalisierung in der Gesundheit für die Patientinnen haben Stand heute mehr freie Intensivbetten, als Frank- und Patienten, gerade in den Krankenhäusern, einen reich und Italien zusammen überhaupt haben. Das ist ein Unterschied machen kann. Das drücken wir damit aus, Beispiel dafür, wie stark und leistungsfähig – übrigens und deswegen ist es ein Zukunftsgesetz für die 20er-Jahre auch in der Fläche, nicht nur in den großen Städten – und legt die Basis für die 20er-Jahre in den Krankenhäu- unser Gesundheitswesen ist. sern. 21726 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Bundesminister Jens Spahn (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Es ist uns vollkommen klar, dass die Umsetzung der (C) ordneten der SPD) Digitalisierung natürlich auch vorsichtig angegangen werden muss und wir mit den Daten ordentlich umgehen Dazu gehören auch Investitionen in die IT-Sicherheit, müssen. Aber erlauben Sie mir schon auch den Hinweis, in Patientenportale, in die elektronische Dokumentation dass keiner der betroffenen Patienten mich in den letzten von Pflegebehandlungsleistungen, in Medikationsma- Monaten gefragt hat: Was ist denn mit der Datensicher- nagement und in viele, viele andere Bereiche. Das gilt heit? Es kamen eher Fragen wie: Könnt ihr mir helfen? auch für telemedizinische sektorübergreifende Projekte, Das ist doch der entscheidende Punkt, der uns hier in die gefördert werden können. Das ist übrigens auch ein unserer Arbeit treibt, meine sehr geehrten Damen und Schnellprogramm. Wir wollen kein Konjunkturpro- Herren. gramm wie manches andere, das erst in drei oder fünf Jahren wirkt. Wir haben ja manchmal schon erlebt, dass (Beifall bei der CDU/CSU) die Ausgaben erst richtig getätigt werden, wenn die Kon- junkturlage schon wieder eine andere ist. Ich möchte natürlich nicht verschweigen, dass uns vollkommen klar ist, dass das nur der Anfang sein Es geht also darum, schnell, schon im nächsten Jahr, zu kann. Wir müssen uns verändern und die Krankenhaus- Investitionen zu kommen; so sind auch die Fristen. Es landschaft im Gesamten sehen. Die Zahlen sprechen doch geht hier nicht darum, langwierige Bauanträge zu stellen, dafür: 2018 hatten wir in Deutschland 1 925 Kliniken mit sondern darum, schnell Investitionen in Geräte, in Aus- rund 498 000 Betten, 1991 waren es noch 2 400 Kliniken. stattung, in leichte bauliche Veränderungen tätigen zu Das ist eine Veränderung, die uns vor neue Aufgaben können. Wir sind sehr zuversichtlich, dass diese 3 Milliar- stellt. All dies und auch das Thema „Blutige Entlassun- den Euro tatsächlich auch schnell abfließen und einen gen und Rehafähigkeit“ müssen wir besprechen. Viel- Unterschied machen. leicht gibt es auch ganz neue Themen, die wir aufgreifen Ich sage noch einmal: Es ist natürlich nicht ein müssen. Das ist ein langer Prozess, den man angehen abschließender und ein allumfassender Baustein, eine muss, und wir gehen mit diesem Krankenhauszukunfts- allumfassende Lösung für die Strukturfrage der deut- gesetz jetzt in die richtige Richtung. schen Krankenhauslandschaft. Aber gerade mit Blick darauf, dass wir aus dieser Pandemie in die 20er-Jahre Wir sind uns einig, dass es hier einen großen Hand- gehen, wo das Digitale in allen anderen Lebensbereichen lungsbedarf gibt. Aber ich glaube, wir sind uns auch darin wie selbstverständlich dazugehört, ist es wichtig, dass wir einig: Die Pandemie hat uns gezeigt, dass die Menschen endlich auch in den Krankenhäusern einen Unterschied in Deutschland gut und ordentlich versorgt werden. Wir machen, und das wollen wir mit diesem Gesetz tun. stehen im Vergleich mit den anderen europäischen Län- (B) dern an der Spitze. Wir sind leistungsfähig. Menschen in (D) (Beifall bei der CDU/CSU) den Krankenhäusern, ob sie als Ärzte, Pfleger oder in der Verwaltung arbeiten, sind in der Aus- und Weiterbildung. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Wir müssen erkennen, dass dieses System nicht krank, Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Kollege Irlstorfer, sondern gesund ist, dass wir uns natürlich aber auch wei- ich möchte es Ihnen jetzt nicht zumuten, Ihre Rede inner- terentwickeln müssen. Deshalb, Herr Minister, danke für halb von zwei Minuten zu halten. Insofern müssen Sie diesen Mut. das fraktionsintern klären. Ich bin heute großzügig. Als letzter Redner hat der Kollege Erich Irlstorfer, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: CDU/CSU-Fraktion, das Wort. Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte. (Beifall bei der CDU/CSU) Erich Irlstorfer (CDU/CSU): Danke aber auch, dass Sie explizit erwähnt haben, dass Erich Irlstorfer (CDU/CSU): unsere Krankenhauslandschaft nur dann so gut sein kann, Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- wenn die Menschen, die dort arbeiten, uns unterstützen ren! Liebe Kollegen! Dieses Krankhauszukunftsgesetz ist und wir das gemeinsam angehen. Von daher: ein herz- der Anfang, liches Dankeschön, auch für die Zeit, Herr Präsident. (Stephan Brandner [AfD]: Vom Ende!) Danke. um die Krankenhauslandschaft in Deutschland zu verän- dern. Der Bereich Digitalisierung hat bei uns, glaube ich, (Beifall bei der CDU/CSU) jetzt schon den notwendigen Stellenwert eingenommen. Das zeigt, dass er enorm wichtig und auch ausschlagge- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: bend dafür ist, die Menschen besser versorgen zu können. Vielen Dank, Herr Kollege Irlstorfer. Ich hatte Ihnen Deshalb investieren wir. Deshalb führen wir auch nicht eine Minute Redezeit nicht abgezogen, ich hatte Ihnen lange Debatten, in denen wir uns fragen, wer denn eigent- keine Minute dazugegeben. lich zuständig ist, sondern wir handeln. Wir sind hand- lungsfähig und in der Lage, in einer solchen Pandemie (Heiterkeit) Entscheidungen zu treffen, die einen großen Vorteil für die Menschen in unserem Land bedeuten. Ich bitte, das beim nächsten Mal zu beachten. (Beifall bei der CDU/CSU) Damit ist die Aussprache beendet. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21727

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Dr. Johannes Fechner (SPD): (C) den Drucksachen 19/22126 und 19/22185 an die in der Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. be Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Die Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – Ich sehe, Freiheitsentziehung ist sicherlich der heftigste und inten- das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir, wie vorgeschla- sivste Eingriff, den der Staat gegenüber einem Bürger gen. vornehmen kann. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass, wenn Staatsorgane Fehler machen, insbesondere Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b unsere Gerichte, und Bürgerinnen und Bürger zu Unrecht sowie den Zusatzpunkt 10 auf: inhaftiert werden, eine staatliche Entschädigung gezahlt 15 a) – Zweite und dritte Beratung des vom Bun- wird. Und das darf kein Almosen sein. Deshalb ist es gut, desrat eingebrachten Entwurfs eines … dass wir heute die Haftentschädigung pro Tag verdrei- Gesetzes zur Änderung des Gesetzes fachen, von 25 auf 75 Euro. über die Entschädigung für Strafverfol- gungsmaßnahmen (StrEG) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Abg. [CDU/CSU]) Drucksache 19/17035 – Zweite und dritte Beratung des von den Es zeichnet einen starken Rechtsstaat aus, dass Justiz- Abgeordneten Stephan Brandner, Roman fehler, die zum Glück nur sehr selten vorkommen, nicht Johannes Reusch, Jens Maier, weiteren nur korrigiert werden, sondern Bürger, die zu Unrecht Abgeordneten und der Fraktion der AfD inhaftiert wurden, auch eine ordentliche Entschädigung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes bekommen. Hält man sich vor Augen, was Haft für einen zur Änderung des Gesetzes über die Bürger bedeutet, dann ist klar, dass wir hier tätig werden Entschädigung für Strafverfolgungs- müssen: Ein Bürger, der inhaftiert wird, verliert mögli- maßnahmen – Gesetz zur Modernisie- cherweise seinen Arbeitsplatz, möglicherweise seine rung des Entschädigungsrechts für zu Wohnung, vor allem aber wird er aus seinem Umfeld Unrecht erlittene Haft herausgerissen und ist stigmatisiert durch die gerichtliche Entscheidung, die eine Straftat oder zumindest den Ver- Drucksache 19/15785 dacht einer solchen bestätigt. Hält man sich diese Beschlussempfehlung und Bericht des schwerwiegenden Folgen einer Inhaftierung vor Augen, Ausschusses für Recht und Verbraucher- dann ist klar, dass die Entschädigung einen wirklichen schutz (6. Ausschuss) Wert haben muss, wenn dieses erlittene Unrecht ange- messen ausgeglichen werden soll. Auch deswegen müs- Drucksache 19/20659 (B) sen wir diesen Gesetzentwurf heute beschließen, liebe (D) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Kolleginnen und Kollegen. Berichts des Ausschusses für Recht und Ver- braucherschutz (6. Ausschuss) zu dem (Beifall bei der SPD) Antrag der Abgeordneten Friedrich Justizfehler, also Inhaftierungen, die zu Unrecht erfol- Straetmanns, Dr. André Hahn, Gökay gen, passieren zum Glück nicht allzu oft. Dennoch müs- Akbulut, weiterer Abgeordneter und der sen wir davon ausgehen, dass etwa 400 Bürger in Fraktion DIE LINKE Deutschland pro Jahr zu Unrecht inhaftiert werden. Heute Gerechte Haftentschädigung für alle bekommen sie – um mal die konkreten Zahlen zu nen- Drucksachen 19/17108, 19/20659 Buch- nen – für einen Monat 775 Euro. Auf Basis des Gesetz- stabe d entwurfs des Bundesrates werden es 2 325 Euro sein. Das ist eine deutliche Steigerung, die wir heute auf jeden Fall ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des hier so beschließen sollten. Berichts des Ausschusses für Recht und Verbrau- cherschutz (6. Ausschuss) zu dem Antrag der Auf der Tagesordnung bleibt – das ist nicht Teil dieses Abgeordneten Dr. Jürgen Martens, Stephan Gesetzentwurfs –, dass wir uns unbedingt darum küm- Thomae, Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeord- mern müssen, dass diese Entschädigung tatsächlich bei neter und der Fraktion der FDP den zu Unrecht Inhaftierten ankommt. Kollege Müller hat hierzu gute Vorschläge im Rechtsausschuss vorgetragen, Zu Unrecht Inhaftierte angemessen entschä- etwa die Beiordnung eines Rechtsanwalts. Das bleibt digen weiter auf der Tagesordnung, auch wenn wir das mit Drucksachen 19/17744, 19/20659 Buchstabe c diesem Gesetzentwurf heute noch nicht regeln. Zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates liegt ein Ände- Ja, natürlich hätte man sich eine höhere Entschädigung rungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. als 75 Euro vorstellen können. Auch darüber haben wir Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten natürlich beraten. Von den Oppositionsfraktionen wird ja beschlossen. eine Versechsfachung auf 150 Euro pro Tag vorgeschla- gen. Dagegen spricht, dass das mit den Ländern nicht Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- abgesprochen ist. Wenn wir heute hier etwas beschließen ner dem Kollegen Dr. Johannes Fechner, SPD-Fraktion, würden, was nicht mit den Ländern abgesprochen ist, das Wort. dann liefen wir Gefahr, dass diese Regelung überhaupt (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nicht kommt. Also gehen wir doch diesen ordentlichen 21728 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Dr. Johannes Fechner (A) Schritt in die richtige Richtung. Eine Verdreifachung (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wer im (C) kann sich wirklich sehen lassen, liebe Kolleginnen und Glashaus sitzt, sollte nicht mit Atombomben Kollegen. werfen!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es hat mich sehr gewundert, Herr Fechner, dass Sie hier diesen Redereigen eröffnet haben; denn interessanterwei- Wenn der Staat einen Fehler macht, dann sollte dieser se haben SPD und CDU/CSU bisher gar nichts vorgelegt. Fehler nicht nur korrigiert, sondern auch entschädigt wer- Ihnen scheint es offenbar scheißegal zu sein, wie es den den; dafür sollten wir sorgen. Stimmen wir also diesem Justizopfern in Deutschland geht. guten Gesetzentwurf zu. ( [SPD]: Was sind das für Vielen Dank. Begriffe hier?) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herr Fechner, ich wundere mich sehr, warum Sie sich der CDU/CSU) dann hier vorn hinstellen und eine Bundesratsinitiative vertreten; das ist schon sehr interessant. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Da können Sie Vielen Dank, Herr Kollege Fechner. – Nächster Redner mal sehen!) ist der Kollege Stephan Brandner, AfD-Fraktion. Meine Damen und Herren, genau so funktioniert AfD- (Beifall bei der AfD) Politik in den Ländern und im Bund: Wir analysieren eine Situation, wir machen gute Vorschläge, wir legen Gesetz- Stephan Brandner (AfD): entwürfe und Anträge vor und bringen Sie von den Alt- Hochverehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- parteien richtig auf Trab. ren! Wir reden heute über nichts weniger als den Wert der (Beifall bei der AfD – Zuruf des Abg. Christian Freiheit. Das ist brandaktuell; denn wir leben in einer Dürr [FDP]) Zeit, die geprägt ist von Grundrechtseingriffen, Freiheits- Das ist politisches Jagen im besten Sinne. Deshalb wird beschränkungen und Einschränkungen der freien Gesell- es auch keinen überraschen, dass unser Gesetzentwurf schaft an nahezu allen Ecken und Enden. Wir leben in das Problem am besten und umfassend löst. einer Zeit, in der die Erosion des Rechtsstaats eine völlig neue Qualität erreicht hat und der Krampf gegen rechts (Ulli Nissen [SPD]: So ein Unfug! – Christian und die Coronahysterie bei Ihnen von den Altparteien Dürr [FDP]: Wer zeichnet denn da mit? Der sämtliche Hemmungen haben fallen lassen, was Grund- Kreml? Ja, wer ist das denn bei Ihnen eigent- (B) rechtsverstöße und Rechtsbrüche angeht. lich alles? Das würde ich gern mal wissen!) (D) Daher müssen wir uns in sämtlichen Bereichen die Wie gesagt: Gesetzentwürfe von Linken, FDP und Frage stellen: Was ist die Freiheit des Menschen wert? Grünen gibt es ja überhaupt nicht, das sind irgendwelche Diese Frage haben wir uns als AfD gestellt, und zwar heruntergerotzten Anträge. Von uns gibt es einen Gesetz- auch mit Blick auf Menschen, die unschuldig in Haft entwurf, der nicht nur das Problem der Tagesentschädi- sitzen; um diese geht es ja bei diesem Tagesordnungs- gung löst – wir sagen: 100 Euro pro Tag für das erste zu punkt. Unrecht erlittene Haftjahr, 200 Euro pro Tag ab dem ersten Tag im zweiten Haftjahr. Und was ganz entschei- Bisher erhalten solche Justizopfer pro Tag zum Aus- dend für uns ist: keine Abzüge mehr für Kost im Knast. gleich des immateriellen Schadens eine Pauschale von Das ist eine erbärmliche, pingelige, kleinkarierte Art und lächerlichen 25 Euro, von der auch noch ein Ausgleich Weise, die Justizopfer noch einmal nachträglich zu für „Vorteile“, die man dadurch hatte, in Haft zu sitzen – drangsalieren. Wir sagen vor allem: Nachversicherung also Knast und Kost –, abgezogen wird. Meine Damen in der Rentenversicherung. – Das sind ganz klare Dinge, und Herren, es ist kaum zu glauben: Die Altparteien die geregelt werden müssen, haben das jahrzehntelang so akzeptiert. Die Freiheit des Menschen war ihnen 750 Euro im Monat abzüglich Kost ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: im Knast wert. Niemanden aus den Altparteien hat diese Da wären wir nie draufgekommen!) extreme Schräglage gestört, bis die AfD das Problem an die weder Sie mit Ihren komischen Anträgen gedacht aufgegriffen hat. haben noch der Bundesrat, und, wie gesagt, CDU/CSU (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und SPD haben sich darum bisher noch gar nicht geküm- DIE GRÜNEN) mert. Gucken Sie auf unseren Gesetzentwurf, datiert auf (Beifall bei der AfD – Zuruf der Abg. Dezember 2019. Und siehe da: Bundesrat und Altparteien Mechthild Rawert [SPD]) wurden tätig, der Bundesrat mit Gesetzentwurf vom Meine Damen und Herren, dass Sie von den Altpar- 5. Februar 2020, Linke und FDP mit Anträgen vom teien für die Bedeutung der Freiheit in diesem Land nicht 11. Februar und 10. März 2020 – Anträge, wohlgemerkt; nur kein Händchen mehr haben, sondern wahrscheinlich für Gesetzentwürfe hat es da offenbar nicht gereicht –, sogar schon beide Hände verloren haben, überrascht von und die Grünen haben das Ganze fast bis zum Ende ver- den Zuschauern draußen wahrscheinlich keinen. Uns von schlafen. Die kamen dann vorgestern mit einem halbseiti- der AfD ist natürlich klar, dass jede Entschädigung, egal gen Antrag und haben lapidar irgendwelche Zahlen in welcher Höhe, nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. genannt. Aber wir packen das System an der Wurzel: Wir wollen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21729

Stephan Brandner (A) ordentliche Entschädigungshöhen, wir wollen keine Seit 2009 – das ist sicherlich ein Missstand – wurden (C) Abzüge mehr, und wir wollen eine Nachversicherung in im StrEG die darin festgelegten Sätze zur Entschädigung der Rentenversicherung. für zu Unrecht erlittene Haft nicht mehr angehoben. Die Landesjustizminister haben sich daher auf ihrer Justiz- Ich denke, wenn Sie mal in sich gehen, werden auch ministerkonferenz im November 2017 – Herr Brandner, Sie erkennen, dass das mit Abstand der beste Gesetzent- hören Sie bitte zu –, also lange bevor Sie auf dieses wurf ist, der vorliegt, sodass einer Zustimmung Ihrerseits Thema gestoßen sind, nichts mehr im Wege stehen dürfte. (Stephan Brandner [AfD]: Schauen Sie auf die Vielen Dank – auch Ihnen, Herr Präsident. Daten der Entwürfe!) (Beifall bei der AfD – Canan Bayram [BÜND- darauf verständigt, die Entschädigung von 25 Euro auf NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt können Sie ein- 75 Euro für jeden zu Unrecht erlittenen Hafttag zu erhö- packen!) hen. Allerdings liegt die Gesetzgebungskompetenz beim Bund. Daher haben sie den Bund aufgefordert, dass er die Sätze bitte entsprechend anpassen möge. Genau das Vizepräsident Wolfgang Kubicki: machen wir heute auf der Grundlage des vorgelegten Vielen Dank, Herr Brandner. – Nächster Redner ist der Gesetzentwurfs, indem wir den Betrag von 25 Euro auf Kollege Axel Müller, CDU/CSU-Fraktion. 75 Euro anheben und damit auf einen Schlag verdrei- fachen. Bedenkt man – zugegebenermaßen erst auf (Beifall bei der CDU/CSU) Antrag –, dass dann auch noch die Rentenversi- cherungsbeiträge nachentrichtet werden, stellt man fest, Axel Müller (CDU/CSU): dass dies insgesamt angemessen und ausreichend ist. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kurz noch zum Überbietungswettbewerb bei den Kollegen! Zurück zum eigentlichen Kernthema. Bevor Anträgen der Oppositionsfraktionen. Die Grünen und ich Mitglied des Bundestages geworden bin, war ich die FDP fordern in ihren Anträgen jeweils 150 Euro Ent- fast zwei Jahrzehnte als Strafrichter in unterschiedlichen schädigung pro Tag, die Linken und die AfD wollen in Verwendungen tätig. Ich habe selbst viele Hundert Urtei- einem gestaffelten Verfahren mit bis zu 200 Euro pro Tag le gefällt oder war an ihrem Zustandekommen maßgeb- entschädigen. lich beteiligt. Ich gebe zu: Die allermeisten sind mir nicht mehr im Gedächtnis. Die weitergehenden Forderungen von FDP und Linke im StrEG, eine sozialarbeiterisch betreute Wiedereinglie- Im Gedächtnis verhaftet geblieben ist mir jedoch, dass derungshilfe zu institutionalisieren, sind meines Erach- (B) ich in einem Fall dafür verantwortlich war, dass ein tens mit Blick auf die wenigen Fälle nicht praxisgerecht. (D) Mensch über mehrere Wochen, bis zu seinem Prozess- Das kann man in den bestehenden sozialstaatlichen beginn, zu Unrecht in Untersuchungshaft gesessen hat. Strukturen lösen. Erst im Laufe der Hauptverhandlung, in der ihm der Vor- Man muss die Bearbeitung auch nicht, wie es die Lin- wurf des sexuellen Missbrauchs zum Nachteil seiner bei- ken fordern, aus den Strafverfolgungsbehörden ausla- den Kinder gemacht wurde, stellte sich heraus, dass er das gern, die dafür zuständig sind, insbesondere die Staats- Opfer eines Aussagekomplotts gewesen war, dem auch anwaltschaften; denn sie haben darauf reagiert und ich aufgesessen bin – im Grunde unverzeihlich. Spezialzuständigkeiten der einzelnen Entschädigungsde- Um diese Fälle von Justizunrecht geht es im Gesetz zernate begründet. Der vormals mit dem Fall befasste über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen, Staatsanwalt bleibt daher im Verfahren. kurz StrEG. Dieses Gesetz wollen wir heute ändern. Das Über ihre Ansprüche und Möglichkeiten – das gebe ich StrEG bildet die Grundlage für die Entschädigung von zu zu – müssen betroffene Personen jedoch besser und Unrecht erfahrenen Urteilsfolgen, also zum Beispiel, umfassender belehrt werden. Für die notwendige Trans- wenn jemand zu Unrecht im Gefängnis gesessen hat parenz zu sorgen, ist allerdings Ländersache. Das kann und dadurch einen immateriellen Schaden erfahren hat, beispielsweise in den entsprechenden Beratungsvor- wie es im Gesetz steht. Erfasst werden aber auch mater- schriften auf Länderebene geregelt werden. Verbesserun- ielle Schäden aus Ermittlungsverfahren, die beispielswei- gen bei der Rechtsberatung – Kollege Fechner hat es se aufgrund einer geschäftsschädigenden, zu Unrecht gesagt – sind meines Erachtens wünschenswert. Hier erfolgten Durchsuchung oder einer zu Unrecht erhobenen lässt man die Betroffenen in der Praxis in der Regel etwas Anklage entstanden sind. im Regen stehen. Es folgt eine kurze rechtliche Beratung und die Aushändigung eines Formulars und oftmals die In der Praxis spielt das StrEG zahlenmäßig Gott sei Hoffnung, der Verteidiger möge es schon richten. Dank keine große Rolle, da Staatsanwaltschaften und Gerichte sehr sorgfältig arbeiten. Es spielt auch deshalb Die Vorschläge der Opposition berücksichtigen alle- keine große Rolle, weil unser Rechtsstaat so gut funk- samt nicht, dass die Justiz in der Hand der Länder liegt. tioniert, dass er fehlerhafte Entscheidungen aus sich Diese zahlen am Ende die Zeche hierfür. Sie haben uns selbst heraus in den dafür vorgesehen rechtsstaatlichen die Prokura für eine Erhöhung der Entschädigung auf Verfahren und Institutionen zu korrigieren in der Lage 75 Euro erteilt, und wir können nicht einfach nachträglich ist, bevor ein zu entschädigendes Unrecht geschieht. die Preisschilder austauschen und die Leistungen erwei- Wenn aber ein Entschädigungsfall eintritt, so muss die tern und die damit verbundene Belastung den Ländern Entschädigung angemessen sein. aufbürden. Die Grünen regieren in zehn Bundesländern 21730 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Axel Müller (A) mit. Umso verwunderlicher ist es, dass Sie sich hier wie- kutiert. Die Länder haben in einem Gesetzentwurf gefor- (C) der einmal janusköpfig zeigen und die Interessen der dert, die Entschädigungssumme auf 75 Euro pro Tag Länder einfach ausblenden. Dies widerspricht einer guten festzusetzen. Das erscheint uns allerdings zu gering; Partnerschaft von Bund und Ländern und trägt nicht gera- denn es gibt viele Aufwendungen und Kosten, die auf de zur Vertrauensbildung auf der Bund-Länder-Ebene den zu Unrecht Inhaftierten zukommen, die mit dem nor- bei. malen Schadensersatz erst gar nicht erfasst werden. Im Wir sollten auch nicht dem Irrglauben unterliegen, dass Regelfall gehen bei einer Inhaftierung Arbeitsplatz und mit Geld oder neuen Institutionen den Justizopfern aus- Wohnung verloren, und zwar nach relativ kurzer Zeit. reichend Gerechtigkeit widerfahren kann. In meinem ein- Eine neue Wohnung wird sich im Regelfall nicht mehr gangs geschilderten Fall habe ich den Angeklagten in zum alten Mietsatz besorgen lassen. Einen Ausgleich öffentlicher Hauptverhandlung um Entschuldigung gebe- hierfür kann der Betroffene auf normalem Wege nicht ten, und er hat sie mir gewährt. Das war uns beiden sehr erlangen. Das Finden eines neuen Arbeitsplatzes mit glei- wichtig. Auf eine Entschädigung hat er nachträglich chen Bedingungen ist schwierig und gelingt nur in weni- sogar verzichtet, ein Verzicht, den die Linken eigentlich gen Fällen. Die Aufwendungen der Angehörigen für abschaffen wollen. Besuche oder auch für andere Arbeiten werden im nor- malen Entschädigungsrecht ebenfalls nicht berücksich- Ich schließe mit den Worten unseres Parlamentspräsi- tigt. Deswegen glauben wir, dass ein Satz von 150 Euro denten Dr. Wolfgang Schäuble von gestern: „Auf einen je Tag erlittener Freiheitsentziehung angemessen ist, und starken Rechtsstaat kommt es an“. Und ich füge hinzu: zwar über die gesamte Dauer der Freiheitsentziehung. Ein starker Rechtsstaat zeichnet sich auch dadurch aus, Wir unterscheiden bei der Höhe des Betrages nicht nach dass er und seine Repräsentanten die Fähigkeit besitzen, der Dauer der Freiheitsentziehung. Fehler zuzugeben und dafür zu sorgen, dass Justizopfer die erforderliche Wiedergutmachung erfahren. Das tun Noch etwas ist uns wichtig und deswegen in unserem wir mit der heutigen Novellierung des StrEG, weshalb Antrag aufgeführt: Die Betroffenen brauchen Unterstüt- ich für eine breite Zustimmung werbe. zung bei der Wiedereingliederung in ihr Leben, das vom Staat erheblich gestört und bisweilen in seinen Grund- Vielen Dank. festen erschüttert, ja sogar zerstört worden ist. Deswegen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ist es nur gerecht, wenn im Gesetz vorgesehen wird, dass ordneten der SPD) die Unterstützung von einem Sozialdienst oder von einer sozialdienstähnlichen Begleitung geleistet wird. Anders als der Kollege Müller bin ich nicht der Auffassung, dass Vizepräsident Wolfgang Kubicki: das im Rahmen der bestehenden Strukturen möglich ist. (B) Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Sie werden dort ganz schnell erleben, dass jeder, den Sie (D) Kollege Dr. Jürgen Martens, FDP-Fraktion. fragen, sich für unzuständig erklärt. Auch das sollte geän- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Thorsten dert werden. Frei [CDU/CSU]) (Beifall bei der FDP und der LINKEN)

Dr. Jürgen Martens (FDP): Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- ren! Der heute vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Martens. – Nächster Änderung des Entschädigungsgesetzes bei strafrechtli- Redner ist der Kollege Friedrich Straetmanns, Fraktion chen Maßnahmen – das möchte ich klarstellen – befasst Die Linke. sich nicht mit dem Ausgleich eingetretener materieller (Beifall bei der LINKEN) Schäden – sie werden gesondert erfasst; um das auch für die Zuhörer klarzustellen –, sondern hier geht es um Friedrich Straetmanns (DIE LINKE): den Ausgleich immaterieller Schäden, sprich – es ist Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und schon gesagt worden –: um den Wert der Freiheit. Herren und Kollegen! Wir beraten heute über mehrere (Stephan Brandner [AfD]: Das war ich!) Vorlagen zum Thema „Entschädigung für zu Unrecht – Ja, eine Frage kann man stellen, aber sie wird nicht erlittene Strafverfolgungsmaßnahmen“ oder einfacher immer zutreffend beantwortet. Für die Freiheit in diesem gesprochen: zur Haftentschädigung. Wir begrüßen, dass Land sind doch eher die Liberalen zuständig. Bei ihnen der Bundesrat die Entschädigungsleistungen erhöhen möchte. Dies geht uns jedoch nicht weit genug, weswe- ist sie besser aufgehoben als bei denjenigen, die hier behaupten, die Freiheit zu schützen, sie aber in Wirklich- gen wir Linken einen eigenen Antrag vorlegen. keit bei jeder Gelegenheit nur verächtlich machen. Wir beantragen, die Situation von Menschen zu ver- (Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜND- bessern, die zu Unrecht in Haft saßen. Wir fordern eine NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- gestaffelte Entschädigung, die bei 150 Euro pro Tag ten der CDU/CSU) beginnt und auf bis zu 250 Euro pro Tag steigt. Meine Damen und Herren, wir waren und sind uns (Beifall bei der LINKEN) sicherlich einig, dass der bisherige Betrag von 25 Euro Diese Staffelung ist uns wichtig, weil die psychischen je Tag erlittener Freiheitsentziehung unangemessen und physischen Schäden bei längerer Haft meist deutlich gering ist; er ist schäbig gering. Deswegen wird seit Län- höher sind. Eine Inhaftierung hat einen schwerwiegenden gerem über eine Erhöhung der Entschädigungssätze dis- Einfluss auf das Leben eines Menschen, egal ob sie recht- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21731

Friedrich Straetmanns (A) mäßig oder rechtswidrig ist. Auch wer zu Unrecht in Haft und menschenrechtlicher Super-GAU. Der durch den (C) saß, ist oft sein Leben lang Vorurteilen ausgesetzt, verliert Freiheitsentzug erlittene Rechtsverlust ist nicht mehr zu Arbeit und soziale Kontakte. ersetzen. Er bleibt absolut. Man kann die Justizopfer nur Das Problem zeigt sich besonders drastisch an dem entschädigen. Teil dieser Entschädigung ist die seit 2009 folgenden Fall: Monika de Montgazon wurde 2005 unveränderte Pauschale für den Ersatz immateriellen wegen Mordes an ihrem Vater vom Landgericht Berlin Schadens bei unrechtmäßiger Freiheitsentziehung. Dank mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld ver- der Initiative der Bundesländer Hamburg und Thüringen urteilt. Das Gericht ging davon aus, dass sie ihren Vater soll diese Pauschale nun von 25 auf 75 Euro pro Tag durch Brandstiftung umgebracht hatte. Hierbei stützte es unrechtmäßiger Haft erhöht werden. Das ist unangemes- sich auf ein Gutachten des Landeskriminalamts. Der sen wenig, meine Damen und Herren, und wird dem Bundesgerichtshof hob das Urteil – einstimmig und Anspruch, den ein humaner Rechtsstaat an sich selbst ohne Verhandlung – auf. Aufhebungsgrund war die unzu- stellen muss, nicht gerecht. reichende tatrichterliche Würdigung von widersprüchli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) chen Gutachten; denn das LKA-Gutachten erwies sich als Man denke nur an den zivilrechtlichen Entschädigungs- fehlerhaft. Das muss man sich mal vor Augen führen: von anspruch bei einem vertanen Urlaubstag. Wie unverhält- der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld zur nismäßig ist das denn, bitte schön? Aufhebung ohne Verhandlung. So einfach geht das manchmal. Insgesamt saß Frau de Montgazon durch die- Die Bundesregierung und die Koalition haben trotz der ses Fehlurteil fast 900 Tage in Haft. Nach dem Urteil Verhandlungsmacht des Bundes gegenüber den Ländern konnte sie nicht mehr als Arzthelferin weiterarbeiten. seit mehr als einem Jahrzehnt nichts für eine angemesse- Sie versuchte, eine Diskothek zu betreiben, und scheiter- ne Erhöhung der Entschädigungsansprüche getan. Zu te. Ich zitiere aus der Wochenzeitung „Die Zeit“: Unrecht inhaftierte Menschen haben wohl keine Lobby und finden erst recht keine Unterstützung bei der Bun- Kurz nach Silvester 2016 wurde die 61-Jährige tot in desregierung oder dieser Koalition. Dabei brauchte es ihrer völlig verwahrlosten Wohnung gefunden. Es weitere Verbesserungen, meine Damen und Herren. war kein gewaltsamer Tod. Niemand hatte sie erschlagen, erwürgt oder vergiftet. Sie war nur – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) aufgrund systematischer Schlamperei und Arro- Dazu gehört die Rentenversicherungsnachversicherung ganz – aus ihrem sozialen Gefüge katapultiert wor- von Amts wegen für infolge der Haft nicht geleistete Bei- den. träge mit Beitragshöhe entsprechend fiktivem Arbeitsent- Ein drastisches Beispiel, aber solche Fälle gibt es tatsäch- gelt in Freiheit. (B) lich, und das ist eines sozialen Rechtsstaats nicht würdig. (Stephan Brandner [AfD]: Unser Vorschlag! (D) (Beifall bei der LINKEN) Das kam nicht von Ihnen! – Gegenruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So Daher – so finden meine Fraktion und ich – müssen etwas haben wir schon vorgeschlagen, da gab solche Fehlentscheidungen auch Konsequenzen nach es Sie noch gar nicht!) sich ziehen, die für Justiz und Verwaltung spürbar sind und dadurch zu einer sorgfältigeren Entscheidungsfin- Dazu gehören Beweiserleichterungen bei der Geltendma- dung zwingen. chung von Vermögensschäden. Dazu gehört, dass endlich der skandalös-zynische sogenannte Vorteilsausgleich für Darüber hinaus schlagen wir die Einrichtung von Kost und Logis Anlaufstellen vor, vergleichbar mit Bewährungshelferin- nen und Bewährungshelfern. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aber nicht für das Essen!) Neben der materiellen Entschädigung fordern wir eine Pflicht zur offiziellen staatlichen Entschuldigung, die auf für die unrechtmäßige Haftzeit abgeschafft wird. Wunsch zu veröffentlichen ist. Das ist angesichts des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Stigmas einer zu Unrecht verbüßten Freiheitsstrafe das Stephan Brandner [AfD]: Meine Rede!) Mindeste, was wir als Staat tun sollten. Schließlich braucht es Hilfe bei der Reintegration zu Vielen Dank. Unrecht inhaftierter Menschen. Die Ankündigung aus der Koalition bei der Beratung dieses Gesetzentwurfs, (Beifall bei der LINKEN) zukünftig endlich tätig zu werden, darf nicht unverbind- liche Ankündigung bleiben. Da nehme ich Sie beim Wort, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: liebe Kolleginnen und Kollegen. Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Kollegin Canan Bayram, Bündnis 90/Die Grünen. Stephan Brandner [AfD]: Einfach unserem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Antrag zustimmen!) Zwei Dinge aber können wir sofort beschließen: ers- Canan Bayram (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tens die Pauschale von 75 Euro auf 150 Euro pro Hafttag Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und zu erhöhen und zweitens das Gesetz rückwirkend zum Kollegen! „Die Freiheit der Person ist unverletzlich“, 1. Januar 2020 in Kraft zu setzen. Beratungsverzögerun- sagt unser Grundgesetz. Wenn Menschen zu Unrecht gen aufgrund von Inaktivität der Koalition und wegen der die Freiheit entzogen wird, ist das ein rechtsstaatlicher Covid-19-Pandemie verschobener öffentlicher Anhörun- 21732 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Canan Bayram (A) gen dürfen nicht zulasten der Betroffenen gehen, meine den Menschen nicht nur Hoffnung zu geben, sondern (C) Damen und Herren. Deshalb bitten wir Sie um Zustim- als Staat auch die entsprechende Größe zu zeigen, zu mung zu unserem Antrag. entschädigen und Regelungen dafür zu schaffen. (Stephan Brandner [AfD]: In unserer Vorlage Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. steht ja alles drin!) (Beifall bei der SPD) Danke schön. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Brunner. – Letzter Red- ner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Paul Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion. Vielen Dank, Frau Kollegin Bayram. – Nächster Red- (Beifall bei der CDU/CSU) ner ist der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Frak- tion. Paul Lehrieder (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie- be Kollegen! Ich möchte anfangen mit einem Zitat von Konrad Adenauer: „Die persönliche Freiheit ist und Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): bleibt das höchste Gut des Menschen.“ Für die Mehrheit Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und von uns ist es geradezu unvorstellbar, dass ihre persön- Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! liche Freiheit – womöglich zu Unrecht – eingeschränkt Haft – ob Untersuchungshaft oder Strafhaft –, die zu sein könnte. Doch kein System ist unfehlbar, weswegen Unrecht erlitten wurde, ist das Schlimmste, was einem wir uns heute mit dem vorliegenden Entwurf eines Geset- Menschen in einem Staat geschehen kann. Ein schlimme- zes zur Änderung des Gesetzes über die Entschädigung res Vergehen an Menschen durch einen Staat kann ich mir für Strafverfolgungsmaßnahmen auseinandersetzen. Ich nicht vorstellen: Stigmatisierung nicht nur dadurch, in möchte hier betonen, um Missverständnisse aufseiten Haft zu sein, den Arbeitsplatz zu verlieren, das Stigma der AfD vorzubeugen: Lieber Herr Brandner, es handelt der Bevölkerung und der Nachbarschaft zu haben und sich nicht um die selbst gewählte Freiheitsaufgabe in gleichzeitig soziale Kontakte zu verlieren und zu wissen, einer ICE-Toilette. Das wurde schon früher nicht bezahlt dass man eigentlich allein ist. Deshalb bin ich dankbar und wird auch in Zukunft nicht bezahlt werden. dafür, dass der Bundesrat die Kraft gefunden hat, die kleine Zahl zwei durch die Zahl sieben zu ersetzen; (Beifall bei der CDU/CSU) (B) denn mehr steht in dem Gesetz auch nicht. Die Entschädi- Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu Unrecht inhaftier- (D) gung pro Tag soll von 25 Euro auf 75 Euro für zu Unrecht te Menschen haben keine allzu starke Lobby, die sich für erlittene Haft erhöht werden. Das ist richtig so. Das ist gut ihre Interessen einsetzt. Daher begrüße ich den vorliegen- so. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit, und das ist nur den Gesetzentwurf des Bundesrates ausdrücklich. Die- ein Teil dessen, was die Menschen erlitten haben. sem liegt ein einstimmiger Beschluss der Justizminister- Ich glaube, mit dieser Erhöhung gehen wir nur einen konferenz zugrunde, dass die bisherige Höhe der ersten Schritt. Wenn man den Mond besteigen würde wie Entschädigung von 25 Euro pro Hafttag zu gering sei Neil Armstrong, würde man sagen: Ein kleiner Schritt für und dringend erhöht werden müsse. Die Entschädigung den Menschen, ein großer Schritt für die Menschheit, erfasst – hierauf hat der Kollege Martens von der FDP wenn die Entschädigung von 25 auf 75 Euro angehoben bereits hingewiesen – darüber hinaus auch den Ersatz des wird. Aber wir sollten in den nächsten Wochen und Vermögensschadens; auch das gehört zur Information. Monaten darüber diskutieren – ich glaube, das ist den Wir reden hier und jetzt über einen Betrag zur Anerken- Schweiß der Edlen wert –, wo wir nachbessern können. nung eines zusätzlichen immateriellen Schadens. Der Der Kollege Müller hat zu Recht angesprochen, dass die Anerkennungsbetrag für den immateriellen Schaden, die rechtsbeistandliche Vertretung eine notwendige Maßnah- bereits genannten 25 Euro pro Tag, soll nun im Zuge me ist, für die wir uns alle einsetzen sollten. Wir sollten dieses Gesetzes auf 75 Euro angehoben und damit ver- aber auch darüber nachdenken, ob die derzeitigen Regel- dreifacht werden. ungen in §§ 4 und 5 des StrEG wirklich der Realität ent- Ich möchte kurz auf die Historie zurückkommen: In sprechen. Dort heißt es – ich verkürze das –, dass der den Jahren 1988 bis 2009 lag dieser Betrag zunächst bei Strafgefangene, der im Ermittlungsverfahren lügt, damit 20 D-Mark, dann bei umgerechnet 11 Euro. Ab 2009 lag rechnen muss, eingesperrt zu werden. Meine sehr verehr- er bei 25 Euro, und jetzt, 2020, wird er auf 75 Euro ten Damen und Herren, wer Angst davor hat, zu Unrecht erhöht. Das heißt, dass dieser Betrag, wenn man die Jahre verurteilt zu werden, wird auf Teufel komm raus lügen von 2009 bis heute betrachtet, innerhalb von elf Jahren und alles machen, um der Haft zu entgehen. Das ist von 11 Euro auf 75 Euro gestiegen ist. Das sind immerhin menschlich, das ist normal, und ein sozialer Rechtsstaat knapp 700 Prozent. Wir haben hier also eine Inflations- muss die Größe haben, damit umzugehen, dass seine Bür- rate von 60 Prozent pro Jahr. Das ist nicht schäbig. Für gerinnen und Bürger in der Stunde der bittersten Not vor viele ist es möglicherweise nicht ausreichend – wir wer- Behörden lügen. Verabschieden wir uns von dem obrig- den immer wieder darüber nachdenken müssen –; aber es keitsstaatlichen Denken, dass jeder Bürger im Ermitt- ist zumindest eine bessere, eine angemessene Entschädi- lungsverfahren aktiv mitarbeiten muss. Nicht jeder ist gung und durchaus nicht kleinzureden, wie es einige Red- Jurist und weiß, was auf ihn zukommt. Versuchen wir, ner der Opposition vorhin leider wieder getan haben. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21733

Paul Lehrieder (A) (Beifall des Abg. Michael Frieser [CDU/CSU]) Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd- (C) nis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/22205 vor, über – Ja, bitte, Herr Frieser. Ich warte so lange, bis Sie den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Ände- geklatscht haben. rungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen? – Wer stimmt (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der dagegen? – Dann ist dieser Änderungsantrag gegen die CDU/CSU) Stimmen der Fraktionen der FDP, der Linken und vom Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der Fraktionen Selbstverständlich gibt es unterschiedliche Auffassun- von CDU/CSU und SPD sowie AfD abgelehnt. gen darüber, ob die jetzt vorgenommene Erhöhung ange- messen ist, Herr Straetmanns; das haben auch die durch- Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf des geführten Anhörungen mehr als deutlich gemacht. Aber Bundesrates auf Drucksache 19/17035 zustimmen wol- lässt sich der Wert der Freiheit überhaupt durch Geld- len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer leistungen abbilden? Geht es hier nicht vielmehr um sym- enthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf des Bundes- bolische Wiedergutmachung, um Genugtuung für das rates auf Drucksache 19/17035 mit den Stimmen von Opfer des unrechtmäßigen Freiheitsentzugs? Ich halte CDU/CSU, SPD und den Grünen bei Enthaltung der die Verdreifachung des Betrags für ein recht deutliches FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Linke Zeichen der Wiedergutmachung – auf die Beträge habe und AfD angenommen. ich schon hingewiesen – und für im Moment angemes- sen. Sie ist auch nicht in Stein gemeißelt. Verhältnismä- Dritte Beratung ßig finde ich darüber hinaus auch, dass wir den Vorschlag der Bundesländer zur Anpassung der Zahlungen ernst und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem nehmen; denn schließlich haben diese die Entschädi- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – gungszahlungen am Ende zu leisten. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf in der dritten Lesung mit den Stimmen Lieber Herr Straetmanns, lieber Kollege Birkwald, von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei jetzt muss ich noch einmal auf die Linken zurückkom- Enthaltung der Freien Demokraten gegen die Stimmen men. Im Bundesrat sagt Ihr Ministerpräsident – der ein- der AfD und der Fraktion Die Linke angenommen. zige Ministerpräsident der Linken – Ramelow, 50 Euro würden ausreichen. Hier im Bundestag fordern Sie aber Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der 150 Euro, das heißt dreimal so viel, wie es Ihr eigener AfD zur Änderung des Gesetzes über die Entschädigung Ministerpräsident für angemessen und richtig hält. Das für Strafverfolgungsmaßnahmen – Gesetz zur Moderni- lässt sich leicht tun, wenn im Rahmen des Förderalismus sierung des Entschädigungsrechts für zu Unrecht erlittene (B) der Bundestag bestimmt, was die Länder zahlen müssen. Haft. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (D) Ich stelle wieder einmal fest, dass der Spruch gilt: Das empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein. auf Drucksache 19/20659, den Gesetzentwurf der Frak- tion der AfD auf Drucksache 19/15785 abzulehnen. Ich (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie zitie- bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- ren den Marx wenigstens korrekt! Das schaffen len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Ent- die wenigsten! Sehr gut, Kollege Lehrieder!) haltungen? – Keine. Dann ist dieser Gesetzentwurf gegen die Stimmen der AfD-Fraktion mit den Stimmen der Hier im Bundestag 150 Euro fordern, aber Ihr eigener übrigen Fraktionen des Hauses abgelehnt. Damit entfällt Ministerpräsident sagt, 50 Euro würden ausreichen! Viel- nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. leicht stimmen Sie das mal unter sich in der Partei ab, und dann schauen wir, wie es in Zukunft weitergeht. Tagesordnungspunkt 15 b. Wir setzen die Abstimmun- Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. gen über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz auf Drucksache 19/20659 Herzlichen Dank. fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der (Beifall bei der CDU/CSU) Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/17108 mit dem Titel „Gerechte Haftentschädigung für alle“. Wer stimmt Vizepräsident Wolfgang Kubicki: für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage- Vielen Dank, Herr Kollege Lehrieder. Ich war vorhin gen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist diese Beschluss- gnädig bei Ihren Kollegen; die Zeit haben Sie jetzt wieder empfehlung gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke aufgeholt. – Ich schließe die Aussprache. und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stim- men der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen. Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst zu Tagesordnungspunkt 15 a. Ich lasse abstimmen über den Zusatzpunkt 10. Schließlich empfiehlt der Ausschuss vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die rung des Gesetzes über die Entschädigung für Strafver- Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Druck- folgungsmaßnahmen. Der Ausschuss für Recht und Ver- sache 19/17744 mit dem Titel „Zu Unrecht Inhaftierte braucherschutz empfiehlt unter Buchstabe a seiner angemessen entschädigen“. Wer stimmt für diese Be- Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/20659, den Ge- schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- setzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 19/17035 hält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung bei Ent- anzunehmen. haltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die 21734 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Stimmen der Fraktionen von FDP und Linke mit den Fahrerinnen und Fahrer wie Arbeitnehmer behandeln (C) Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses angenom- müssen; denn dann würde sich ihr Geschäftsmodell nicht men. mehr lohnen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf: Die Linke sagt klipp und klar: Ausbeutung darf kein Geschäftsmodell sein. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jessica Tatti, Susanne Ferschl, Doris (Beifall bei der LINKEN) Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Die Politik muss diese negativen Auswüchse der Platt- Fraktion DIE LINKE formökonomie abstellen, damit die positiven Seiten wie Gute Arbeit und soziale Sicherheit für Flexibilität, Selbstbestimmung und leichter Einstieg in Gig-Worker bei der ortsgebundenen Platt- den Arbeitsmarkt sich überhaupt entfalten können. Des- formarbeit halb müssen die Gesetze endlich so modernisiert werden, dass auch Plattformarbeit gute Arbeit sein kann. Drucksache 19/16886 (Beifall bei der LINKEN) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Bei der ortsgebundenen Plattformarbeit, der Gigwork, Ausschuss Digitale Agenda handelt es sich um Dienstleistungen, die lokal erbracht werden, zum Beispiel um Fahr- und Lieferdienste wie b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lieferando oder Reinigungsdienste wie Helpling. Nach Jessica Tatti, Susanne Ferschl, Doris vielen Gesprächen mit Beschäftigten, mit Wissenschaft- Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der lern und Vertretern von Gewerkschaften sind wir der Auf- Fraktion DIE LINKE fassung, dass Gigworker grundsätzlich als Arbeitnehmer Gute Arbeit und soziale Sicherheit für einzustufen sind. Crowd-Worker bei der ortsungebundenen Plattformarbeit (Beifall bei der LINKEN) Sie müssen deshalb auch Anspruch auf eine vom Arbeit- Drucksache 19/22122 geber mitfinanzierte Sozialversicherung, auf Lohnfort- Überweisungsvorschlag: zahlung im Krankheitsfall und auf Urlaub haben. Es Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie kann doch nicht angehen, dass man hier auch noch die Tür für Lohndumping und für soziale Entsicherung auf- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten hält. (B) beschlossen. (D) (Beifall bei der LINKEN) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- nerin das Wort der Kollegin Jessica Tatti, Fraktion Die Differenzierter müssen wir bei der ortsunabhängigen Linke. Plattformarbeit, der Crowdwork, vorgehen. Die Arbeit in der Crowd wird ausschließlich online erbracht. Zum Teil (Beifall bei der LINKEN) finden sich hier hochqualifizierte und auch richtig gut bezahlte Tätigkeiten wie Programmierung, Architektur, Rechtsberatung und Design. Selbstständigkeit ist hier Jessica Tatti (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und völlig in Ordnung. Aber der weit größere Teil der Crowd- Kollegen! Die Linksfraktion legt Ihnen heute Vorschläge worker verrichtet kleinteilige und einfache Tätigkeiten; für gute Arbeit in der Plattformökonomie vor. Unter Platt- zum Beispiel geht es um das Abtippen von Listen oder formarbeit verstehen wir alle Dienstleistungen, die über das Schreiben von Katalogtexten. Das wird sehr schlecht das Internet vermittelt und erbracht werden. Dabei wer- und oft weit unterhalb des Mindestlohns bezahlt. Zwar den die Beschäftigten digital koordiniert und kontrolliert. sind diese Beschäftigten keine Arbeitnehmer im klassi- schen Sinn. Sie sind aber von den Plattformen wirtschaft- Viele Plattformbetreiber machen ihre Beschäftigten zu lich abhängig und werden durch deren Technik und Selbstständigen und erklären sich selbst zu reinen Ver- AGBs fremdbestimmt. Das werten wir als arbeitnehmer- mittlern. Damit entledigen sie sich ihrer Verantwortung ähnlich. als Arbeitgeber. Sie müssen sich nicht um Arbeitnehmer- rechte scheren, nicht um Arbeitsmittel, nicht um Min- (Beifall der Abg. Jutta Krellmann [DIE LIN- dest- oder Tariflöhne. Mitbestimmung – Fehlanzeige! KE]) Genau das ist nicht länger hinnehmbar! Das heißt: Diese prekären Selbstständigen müssen wir deutlich besser schützen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Bei vielen Plattformen frage ich mich, ob das Geschäftsmodell wirklich die großartige Dienstleistung Für sie will Die Linke ein Mindestentgelt ähnlich dem ist oder nicht eher die krasse Ausbeutung der Beschäftig- gesetzlichen Mindestlohn einführen. Wir wollen, dass ten. Dieser Verdacht drängt sich geradezu auf, wenn sie gemeinsam über ihre Entlohnung und ihre Arbeits- Plattformen wie Uber und Lyft, wie jetzt in Kalifornien, bedingungen mit den Plattformbetreibern verhandeln damit drohen, ihr Geschäft einzustellen, falls sie ihre können, und wir wollen, dass Arbeitsschutzrechte auch Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21735

Jessica Tatti (A) in der Crowd gelten. Das ist eigentlich eine Selbstver- gemeinsam erheben sollten, ist, dass wir das Thema Platt- (C) ständlichkeit, um das hier mal in aller Deutlichkeit zu formarbeit in den Mikrozensus aufnehmen, um mal wirk- sagen. lich belastbare Zahlen zu haben, wie es denn eigentlich (Beifall bei der LINKEN) aussieht. Werte Kolleginnen und Kollegen, Die Linke schlägt (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ein wohlüberlegtes Vorgehen vor. Wir wollen nicht die werden wir unterstützen!) Plattformen plattmachen, sondern unredliche Geschäfts- Dass wir uns hier streiten, ob es jetzt 80 oder 99 Prozent modelle, damit verantwortungsvolle Plattformunterneh- sind, ist ja relativ unproduktiv, wenn man ehrlich ist. men wachsen können. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Zahlen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) sind immer wichtig! Das unterstützen wir, Herr Der Wettbewerb darf nicht weiter auf dem Rücken der Kollege!) Beschäftigten ausgetragen werden. Das Zweite ist: Sie zeichnen hier ein Bild, nach dem Frau Staatssekretärin Griese, richten Sie Minister Heil die unredlichen Geschäftsmodelle hier dominieren. Auch von uns aus: Er kündigt jetzt seit drei Jahren an, gesetz- das kann ich nicht so darstellen. Wenn Sie die Leute liche Regelungen zur Plattformökonomie einzubringen. fragen, warum sie das machen, dann nennen über 90 Pro- Regieren heißt aber mehr als ankündigen. Während schon zent der Leute, die das überwiegend im Nebenerwerb Kanzlerkandidaten gekürt werden, ist immer noch nichts machen, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, weite- passiert. Der Minister steht hier weiter im Wort, zu han- re Aufträge, interessantes Zubrot. Keine 10 Prozent deln. sagen, sie würden sich geldlich gezwungen fühlen, das (Beifall bei der LINKEN) zu tun. Auch das ist ja ein Indiz. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsident Wolfgang Kubicki: GRÜNEN]: Ja, aber dann muss die Arbeit Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der trotzdem fair sein!) Kollege Thomas Heilmann, CDU/CSU-Fraktion. Ich hatte ja schon gesagt: Bei Gigwork ist das Problem (Beifall bei der CDU/CSU) sicher größer. Deswegen sollte man damit auch anfangen. Da sind es natürlich vor allen Dingen die Fahrer und die Thomas Heilmann (CDU/CSU): Zustellbranche, bei denen man schwere Bedenken haben Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau kann, ob es eigentlich sinnvoll ist, wie das jetzt organi- (B) Tatti! Liebe Zuschauer, wenige auf der Tribüne, wahr- siert wird. Bei allen anderen, glaube ich, können wir nicht (D) scheinlich mehr an den digitalen Endgeräten! Um die, annehmen, dass das Arbeitnehmer sind, weil das nicht der die vor den digitalen Endgeräten sitzen, geht es ja jetzt Charakter ihrer Tätigkeit ist, weil es systematisch nicht so auch irgendwie. Ich habe beim ersten Lesen Ihres Antra- ist; das Problem ist auch nicht groß genug. ges, Frau Tatti, gesagt: Na ja, immerhin ist es ein wirklich (Jessica Tatti [DIE LINKE]: Das steht da auch wichtiges Thema. Gut, dass Sie sich damit beschäftigen, nicht drin! Sie müssen mal anständig lesen!) und auch gut, dass Sie uns als Regierungskoalition da treiben. – Umso länger ich mich dann mit den Details – Na ja, Sie sagen natürlich schon, dass bei Gigwork beschäftigt habe, je mehr Haare habe ich in der Suppe grundsätzlich anzunehmen sei, dass das Arbeitnehmer gefunden. Das wird uns in den Ausschüssen noch eine sind. Das halte ich nicht für sinnvoll. Menge Arbeit verursachen, wenn wir das wirklich wol- Sie verschweigen auch, dass die Plattformer auch sys- len. tematisch in einer Marktwirtschaft große Vorteile brin- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da sind gen. Sie nennen selber Helpling. Eine Plattform wie diese wir gespannt! – Dr. Matthias Zimmer [CDU/ führt eben dazu, dass Putzhilfen usw. nicht überwiegend CSU]: Das wird einfach rasiert!) im Schwarzarbeitsbereich tätig sind, sondern sozusagen Es wird vernünftig zu analysieren und festzustellen sein, ans Licht gezogen werden und auch mal transparenter worum es geht. Sie haben gerade gesagt, es sei wohlüber- wird, was da stattfindet, was ich persönlich für einen legt. Dieses Kompliment kann ich Ihnen leider nicht großen Vorteil halte. Es wird auch mehr nach dieser machen. Ich will Ihnen auch gerne begründen, warum Arbeit nachgefragt, gerade auch im B2C-Bereich, also das so ist. von Privathaushalten. Auch das halte ich, ehrlich gesagt, für einen Vorteil, weil es die Arbeitsmenge vergrößert. Vorweg noch mal: Ja, es gibt gerade bei Gigwork, weniger bei Crowdwork unredliche Geschäftsmodelle. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Wir sind uns einig: In einer sozialen Marktwirtschaft GRÜNEN]: Das sind doch keine Selbstständi- haben die nichts zu suchen. Dagegen müssen wir etwas gen!) tun. Ich halte Ihren Vorschlag – um auch etwas Positives zu Fangen wir mit Ihrem Zahlenwerk an. Sie sagen selber, sagen –, wir müssten uns mal diese AGBs angucken und 80 Prozent täten es im Nebenerwerb. Nach den Zahlen, überlegen: „Welche AGBs lassen wir zu, und welche die ich nachgelesen habe, sind es eher 99 Prozent. Ich lassen wir nicht zu?“, für sehr bedenkenswert. Dem weiß nicht, woher Sie die 80 Prozent haben. Ich finde, kann ich deutlich mehr abgewinnen als Ihren übrigen die erste Forderung, die wir als Parlament vielleicht Vorschlägen. 21736 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Thomas Heilmann (A) Beim Thema Crowdwork vergessen Sie komplett den Da es meistens nur zu einer sporadischen und auf ein- (C) internationalen Aspekt; zelne Aufträge beschränkten Zusammenarbeit kommt, hat das Arbeitsgericht München bereits im vergangenen (Jessica Tatti [DIE LINKE]: Nein! Den ver- Jahr eindeutig festgelegt, dass es sich bei Crowdworkern gessen wir überhaupt nicht!) um Selbstständige im Sinne des § 84 Absatz 1 Satz 2 denn nicht nur die Plattformen können im Ausland sein, HGB handelt. Das bedeutet: Sie arbeiten nach eigenem sondern auch die anderen Anbieter. Selbst der Katalog- Ermessen mit eigenem Arbeitswerkzeug auf eigene textschreiber kann sehr wohl im Ausland sein. Das ist, Rechnung an einem Ort ihrer Wahl. Sie sind dem Auf- glaube ich, die erste Wirkung, die wir haben. Wenn Sie traggeber nicht weisungsgebunden. sozusagen mit der Bombe auf diese Geschäftsmodelle Sie fordern die Einführung eines Mindestentgeltes. zugehen, dann ist meine Vermutung, dass das vor allen Dingen international stattfinden wird, Das ist ein sehr starker staatlicher Eingriff in den Markt. Am Ende haben wir eine staatliche Preisbindung und ein (Jessica Tatti [DIE LINKE]: Sie haben den Bürokratiemonster, also die digitalisierte Ausgabe der Antrag einfach nicht ganz gelesen!) DDR. so wie Sie das ja zum Beispiel in der Callcenterbranche (Beifall bei der AfD – Jessica Tatti [DIE LIN- schon vielfach erleben. KE]: Das ist ja peinlich!) Abschließend würde ich allerdings auch das Bundes- Zu Ihrem Antrag „Gigworking“. Statt einen Arbeitneh- arbeitsministerium bitten, zu sagen: Wir müssen noch in mer direkt im Unternehmen zu beschäftigen, wird seine dieser Legislaturperiode vorankommen. – Das betrifft Leistung eingekauft. Gigworker gelten somit auch als auch das Thema Soloselbstständige und deren Absiche- Selbstständige. Zustande kommt der Kontakt, wie Sie rung, die bei Gig- und Crowdwork sozusagen nur teil- wissen, zwischen beiden Parteien über eine Internetplatt- weise gegeben ist. Was wir auch auf jeden Fall hinbe- form, oftmals bereits über Handyapps. Nennen wir hier kommen sollten, ist, dass wir das Thema in dieser beispielhaft Uber, die Sie gerade schon erwähnt haben, Legislaturperiode in den Mikrozensus aufnehmen; denn oder auch MyHammer. Der Gigworker stellt nicht nur genauere Daten bedeuten, glaube ich, für alle Seiten eine seine Arbeitskraft, sondern auch seine Infrastruktur zur Versachlichung der Debatte. Verfügung. Man geht in Deutschland von circa 2 Millio- Vielen Dank. nen Gigworkern aus, darunter vor allem Studierende und Rentner. Die Mehrheit der Beschäftigten sieht in dieser (Beifall bei der CDU/CSU) Tätigkeit einen Nebenjob. Diejenigen, die ihn in Vollzeit ausüben, arbeiten nur vorübergehend in der Gig Econo- (B) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: my, meist zur Überbrückung einer Arbeitslosigkeit und (D) Vielen Dank, Herr Kollege Heilmann. – Nächster Red- im Schnitt nicht länger als eineinhalb Jahre. ner ist der Kollege Uwe Witt, AfD-Fraktion. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der AfD) GRÜNEN]: Es muss doch trotzdem fair sein! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, und was heißt das?) Uwe Witt (AfD): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Lie- – Dazu kommen wir, lieber Kollege Birkwald. be Zuschauer an den TV-Geräten! Nimmt man nun die Anträge der Linkenfraktion (Ulli Nissen [SPD]: Und die Zuschauerinnen?) genauer unter die Lupe, so findet man ein Konvolut an Plänen und Forderungen, die die Freiheit der Judikative – Wir diskutieren hier zwei Anträge der Fraktion Die Linke sprich: die Entscheidungen der Arbeitsgerichte – legisla- zu den Themen Crowd- und Gigworking. Lassen Sie uns tiv einschränken wollen. Ich sage sogar: Die Linken wol- kurz den tatsächlichen Istzustand umreißen. len geltende Rechtsprechung umgehen. Im Jahr 2019 lag die Zahl der Crowdworker in (Jessica Tatti [DIE LINKE]: Das ist Unsinn! – Deutschland bei knapp über 1 Million. Von dieser 1 Mil- Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir sind lion Crowdworkern waren allerdings nur 25 Prozent tat- hier die Legislative! Wir machen die Gesetze!) sächlich aktiv. Die für Crowdworker über das Internet zur Verfügung stehenden Jobs können, wie Sie wissen, ganz Die Linke möchte also wieder einmal das Prinzip der unterschiedlicher Art sein, und auch der Schwierigkeits- freien und sozialen Marktwirtschaft gegen von oben grad differiert stark. angeordnete Verstaatlichung austauschen, wie so oft unter dem Deckmantel angeblicher Arbeitnehmerrechte. Wer Mikrojobs im Internet übernimmt, tut dies meist, um sein derzeitiges Einkommen ein wenig aufzubessern; (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Erst mal denn 39 Prozent der Crowdworker gehen in erster Linie Montesquieu lesen und verstehen!) einer abhängigen Beschäftigung nach, 31 Prozent befin- Doch wo deutsche Arbeitsgerichte kein Arbeitnehmer- den sich in Ausbildung oder im Studium, lediglich 8 Pro- Arbeitgeber-Verhältnis sehen, kann auch nicht die Frak- zent aller Crowdworker sind selbstständig, weitere 7 Pro- tion der Linken eines konstruieren. Daher werden wir zent arbeitslos. Ungefähr die Hälfte aller Mikroaufträge Ihren Antrag natürlich ablehnen. dauern zwischen 5 und 15 Minuten. 65 Prozent der Crowdworker erhalten pro Auftrag ein durchschnittliches (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Nettoeinkommen von 1,99 Euro. GRÜNEN]: Da klatscht nicht mal die AfD!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21737

Uwe Witt (A) Danke schön. (Jessica Tatti [DIE LINKE]: Sie hatten so gut (C) (Beifall bei der AfD) angefangen!) Stattdessen brauchen wir vor allem drei Dinge: erstens Vizepräsident Wolfgang Kubicki: einen besseren arbeitsrechtlichen Schutz – dazu ist es Vielen Dank, Kollege Witt. – Nächster Redner ist der notwendig, die arbeitsrechtliche Statusklärung für Platt- Kollege Dr. Martin Rosemann, SPD-Fraktion. formtätige anzupassen, damit bestehendes Recht auch durchgesetzt werden kann –, zweitens ein einfacheres (Beifall bei der SPD) sozialrechtliches Statusfeststellungsverfahren, damit wir allen Beteiligten Sicherheit geben, und drittens die gene- Dr. Martin Rosemann (SPD): relle Absicherung von Selbstständigen durch unsere so- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- zialen Sicherungssysteme. ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Normalerweise Meine Damen und Herren, wir merken doch jetzt in der gehe ich ja nicht auf Vorredner der AfD ein. Aber ich Coronakrise nicht nur bei Plattformarbeit, dass eines der finde schon, Herr Witt, dass es eine der vornehmsten großen Probleme in unserer Gesellschaft ist, dass Selbst- Aufgaben des deutschen Parlaments in einer sozialen ständige nur unzureichend sozial abgesichert sind. Viele Marktwirtschaft ist, die Regeln der sozialen Marktwirt- Selbstständige kommen und sagen: Warum kriege ich schaft, zu denen auch der Schutz von Arbeitnehmerinnen eigentlich kein Kurzarbeitergeld? und Arbeitnehmern gehört, umzusetzen. Das ist die Auf- gabe des Parlaments; dafür sind wir gewählt. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte. LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Martin Rosemann (SPD): Meine Damen und Herren, die Digitalisierung bringt Die Antwort ist einfach: Weil sie nicht in die Arbeits- neue Erwerbsformen und neue Geschäftsmodelle hervor. losenversicherung eingezahlt haben. Deswegen brauchen Dazu gehört auch die Plattformarbeit. Plattformen brin- wir eine umfassende soziale Absicherung von Selbststän- gen Angebot und Nachfrage von Tätigkeiten zusammen, digen in unseren sozialen Sicherungssystemen. in den Bereichen Reinigung, Essensauslieferung bis hin zur Programmierung, also ganz unterschiedliche Berei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten che. Bisher ist Plattformarbeit in ihren unterschiedlichen der LINKEN) Facetten ja kein Massenphänomen; aber Plattformarbeit (B) nimmt zu, auch durch Corona. Wir werden bei der Rente damit anfangen, ganz konkret. (D) Aber meine Überzeugung ist, dass wir dabei nicht stehen Es ist wie so oft: Es gibt Licht und Schatten. Plattform- bleiben können. arbeit hat Potenziale. Sie bietet neue Erwerbsmöglichkei- ten. Sie hilft Anbietern, neue Kunden zu gewinnen, ein- Herzlichen Dank. fach und ohne große Kosten. Und sie erhöht auf der (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Thomas anderen Seite für die Kundinnen und Kunden die Heilmann [CDU/CSU]) Markttransparenz. Aber Plattformarbeit hat eben auch Nachteile. Sie ist in vielen Fällen ein Einfallstor für Scheinselbstständigkeit. Sie wird genutzt für schlechte Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Arbeitsbedingungen bis hin zur Ausbeutung. Das, meine Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Rosemann. – Nächster Damen und Herren, wollen und können wir als Sozial- Redner ist der Kollege Matthias Nölke, FDP-Fraktion. demokratinnen und Sozialdemokraten nicht akzeptieren. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Jessica Tatti [DIE LINKE]) Matthias Nölke (FDP): Deshalb sehen wir Regulierungsbedarf. Bundesminister Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Heil wird im Herbst diesen Jahres Vorschläge dazu vor- Kollegen! Diese beiden Anträge der Linken dokumentie- legen. ren wieder mal ein tiefsitzendes Misstrauen in die Mün- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sind wir digkeit der Menschen und in das Streben von vielen nach mal gespannt!) Eigenverantwortung und Selbstverwirklichung. Sie wol- len selbstständige Crowd- und Gigworker faktisch in Einiges, was Die Linke in ihrem Antrag aufgeschrie- Arbeitnehmer umwidmen. ben hat, ist sicherlich diskussionswürdig. Aber es gibt halt auch Vorschläge, die grundsätzlich falsch sind. (Jessica Tatti [DIE LINKE]: Nicht mal das Dazu gehört Ihr Vorschlag, Plattformarbeiter generell zu stimmt!) abhängig Beschäftigten zu erklären. Damit legen Sie die Axt an die Selbstständigkeit. Heute (Jessica Tatti [DIE LINKE]: Nur Gigworker!) sind es die Crowdworker, morgen die nächste Branche, und übermorgen fällen Sie den Baum des freien Unter- – Ja, auch wenn Sie es nur auf Gigworker konzentrieren nehmertums. wollen, bleibt es falsch. Denn es wird weder den Erwar- tungen der Betroffenen noch den Besonderheiten der (Beifall bei der LINKEN – Jessica Tatti [DIE Plattformökonomie, auch bei den Gigworkern, gerecht. LINKE]: Ich vermisse Johannes Vogel!) 21738 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Matthias Nölke (A) Als Hüter der sozialen Marktwirtschaft aber sagen wir Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) Freie Demokraten Ihnen: Dieser Baum bleibt stehen. Vielen Dank, Herr Kollege Nölke. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Tobias Grünen. Matthias Peterka [AfD]) Gründung und Selbstständigkeit sind Ausdruck von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Freiheits- und Gestaltungswillen, von Entschlossenheit und der Bereitschaft, auch einen steinigen Weg zu Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- beschreiten, weil man eben vom Ziel überzeugt ist. Und NEN): seien wir mal ehrlich: Ihr Bild von Plattformarbeit hat mit Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle- der Realität in Deutschland kaum etwas zu tun. gen! Es ist gut, dass die Fraktion Die Linke, liebe Jessica Tatti, dieses Thema heute auf die Tagesordnung gesetzt Die Studie „Plattformarbeit in Deutschland“ der Ber- hat; denn es braucht auf den Plattformen natürlich auch telsmann-Stiftung zeichnet ein völlig anderes Bild als Regeln und Standards. Die Rechte der Beschäftigten Ihre Anträge. So stellt sie beispielsweise fest, dass es müssen gestärkt werden. Auch auf den Plattformen sich bei Plattformarbeit in Deutschland zu 99 Prozent muss es fair und gerecht zugehen. um einen Nebenerwerb handelt, der eine Haupttätigkeit zeitlich und finanziell ergänzt. Auch ist der Plattform- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN arbeiter in Deutschland – Zitat – „eher überdurchschnitt- und bei der LINKEN) lich qualifiziert und finanziell bessergestellt“. Zusam- Wenn Gigworker zu Soloselbstständigen gemacht wer- menfassend sagt die Studie – ich zitiere –: den, also ohne Rechte, ohne Schutz und ohne soziale Plattformarbeit in Deutschland ist daher mitnichten Absicherung sind, dann ist das in keiner Weise akzep- ein Bereich pauschal prekär arbeitender Clickwor- tabel. Deshalb will die Fraktion Die Linke gesetzlich ker … klarstellen, dass es bei der Gig-Ökonomie immer um sozialversicherungspflichtige Beschäftigung geht. Die Deshalb ist es auch falsch, sie wie klassische Arbeiter des Motivation kann ich nachvollziehen. Die Fahrradkuriere Industriezeitalters zu behandeln. von den Essenslieferdiensten sind aus meiner Sicht ganz Für die Linkspartei klar Angestellte, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die Lin- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist ke, bitte! Die Linkspartei gibt es schon 13 Jahre es!) nicht mehr!) (B) und das Gleiche gilt auch für die Taxifahrerinnen von (D) – wenn es Ihnen besser gefällt: für Die Linke –, so scheint Uber. es, ist Selbstständigkeit ein Makel, ein Lebensweg zwei- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ter Wahl. Sie verkennen den Wunsch der Menschen, SES 90/DIE GRÜNEN) selbstbestimmt ihren eigenen Lebensentwurf zu verfol- gen und aus eigener Kraft etwas Neues aufzubauen. Und doch ist das zu pauschal; denn es gibt eben auch andere Plattformen, die beispielsweise handwerkliche Wir Freie Demokraten dagegen respektieren und unter- Dienstleistungen vermitteln. Deshalb plädieren wir für stützen diesen Wunsch ausdrücklich. Wir wünschen uns einen anderen Weg. Wir wollen von Fall zu Fall, von eine bessere Gründerkultur, und wir begreifen die Vielfalt Branche zu Branche mit dem Statusfeststellungsverfah- der Lebensentwürfe auch in der Arbeitswelt als Bereiche- ren prüfen, ob es sich um selbstständige oder um abhän- rung unserer Gesellschaft. gige Beschäftigung handelt. (Beifall bei der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir Freie Demokraten fordern daher rechtssichere Rah- Bei den Kriterien der Statusfeststellung sehen wir aber menbedingungen, die Selbstständigen das Leben erleich- großen Handlungsbedarf. Sie müssen geschärft und pra- tern und es nicht erschweren. Soloselbstständige wie xistauglich ausgestaltet werden. Hier ist die Bundesregie- Arbeitnehmer zu regulieren, Start-ups mit immer neuer rung längst in der Pflicht. Bürokratie zu belasten, ist ein Irrweg, selbst wenn er gut gemeint ist, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP) Dann gibt es noch die anderen Plattformen; sie sind schon angesprochen worden. Hier programmieren Deshalb kann man nur sagen: Gönnen Sie den Men- Crowdworker einmal betriebsintern, einmal in weltweiter schen ihre Freiheit! Konkurrenz. Es gibt auch die Clickworker, die kleinteili- (Jessica Tatti [DIE LINKE]: Was hat das damit ge Arbeitsaufträge am PC erledigen. Diese Arbeit ist orts- zu tun? Das ist doch Unsinn!) ungebunden, und genau hier wird es richtig kompliziert. Hier brauchen wir auf jeden Fall klare Regelungen bei Fördern Sie eine Kultur des Mutes und der Eigenverant- den Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Notwendig ist wortung; denn das braucht Deutschland mehr denn je. die soziale Absicherung von Soloselbstständigen. Und Vielen Dank. was wir schon lange fordern, ist irgendeine Form von Mindesthonorar; denn auch hier braucht es unbedingt (Beifall bei der FDP) eine faire Untergrenze bei der Bezahlung. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21739

Beate Müller-Gemmeke (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Davon zu differenzieren ist der Gigworker, der in der (C) Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da sind Regel einfachere Tätigkeiten verrichtet und der auf einem wir uns wieder einig!) lokalen Markt agiert. – Matthias, wieder Köln und Düs- seldorf. Wenn es um die Plattformen geht, dann ist uns auch das Thema Mitbestimmung wichtig. Wir haben bereits (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja!) Anfang dieses Jahres gefordert, dass die Mitbestimmung Hier agiert die Plattform in einem anderen und viel tief- auf arbeitnehmerähnliche Personen und auch auf eren und viel weiter gehenden Feld. Es geht nämlich nicht Erwerbstätige auf Plattformen ausgeweitet wird; denn nur um das reine Zusammenbringen von Angebot und auch sie sollen die Möglichkeit erhalten, dass sie sich Nachfrage, sondern um die Abrechnung, den Einsatz einmischen, mitreden und aktiv ihre Arbeitswelt mitge- bis hin zum Inkasso. Dennoch gibt es auch hier selbst- stalten können. ständige Beschäftigung. Beim Crowdworker sehe ich am (Beifall der Abg. Katharina Dröge [BÜND- wenigsten Handlungsbedarf. NIS 90/DIE GRÜNEN]) Der Antrag, den ihr formuliert habt, führt dazu, dass Das Thema ist also vielfältig, und vor allem ist es man pauschal alle Plattformen zum Arbeitgeber erklärt. wichtig. Es ist aber auch kompliziert. Ich freue mich (Jessica Tatti [DIE LINKE]: Das stimmt doch auf die Debatte im Ausschuss. Es wird bestimmt kontro- gar nicht! Lesen Sie doch mal den Antrag!) vers und damit auch spannend. Er führt dazu, dass ich Gigworker in die Schwarzarbeit Vielen Dank. treibe, und er führt dazu, dass ich Crowdworking-Platt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – formen, die nämlich nicht im lokalen, sondern im inter- Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die Freu- nationalen Wettbewerb stehen, ins Ausland treibe. Der de ist ganz unsererseits!) Antrag, den Sie gestellt haben (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: GRÜNEN]: Das sind doch zwei Anträge!) Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner: für – oder die beiden Anträge –, hat nicht den Menschen im die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Tobias Zech. Fokus, sondern Strukturen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich bin ein Fan von betrieblicher Mitbestimmung. Ich habe mich hier immer für die Tarifeinheit eingesetzt, ich Tobias Zech (CDU/CSU): habe mich hier immer für Mitbestimmung eingesetzt. (B) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol- Aber dass man jetzt Crowdworking-Plattformen in den (D) legen! Fast als Schlussredner will ich die Debatte ein Regelungsraum des Betriebsverfassungsgesetzes stellen bisschen schärfen und das, was wir diskutiert haben, in will, führt am Ziel vorbei. Sie haben nicht den Menschen die richtige Richtung lenken. Ich glaube, wir müssen im Blick, Sie haben Strukturen im Blick. Somit kann man eines verstehen: In diesem Land – egal ob ich selbststän- beide Anträge nur ablehnen. dig tätig oder abhängig beschäftigt bin – werden Aus- Aber: Das Thema ist wichtig. Wenn wir in die Zukunft beutung und prekäre Arbeitsverhältnisse nicht toleriert. blicken, dann werden wir einen immer weiter sich dyna- Deshalb ist der Gesetzgeber aufgefordert, Mängel zu er- misierenden Arbeitsmarkt erleben. Wir müssen dem, was kennen und abzustellen. Dafür sind wir heute hier, und wir bei Gigworking, Crowdworking und anderen sich neu das diskutieren wir auch. entwickelnden Arbeits-, Beschäftigungs- und Selbststän- In dieser Diskussion, die wir aufgerufen haben, gibt es digkeitsverhältnissen erleben, Rechnung tragen. Dabei zwei unterschiedliche Definitionen. Der Crowdworker ist gibt es zwei Ziele. in der Regel gut ausbildet. Der Crowdworker arbeitet in Für mich Ziel Nummer eins: Wir brauchen Rechtssi- der Regel in einem globalen Wettbewerb, also nicht zwi- cherheit, und zwar Rechtssicherheit für alle am Prozess schen Köln und Düsseldorf, sondern zwischen Köln und Beteiligten, für die Kunden, die eine Dienstleistung ent- Taipeh oder zwischen Köln und Marseille. gegennehmen, für die Dienstleister, die sie erbringen – (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Hast natürlich haben sie das Recht, sich als selbstständig anzu- eine gute Stadt als Beispiel genommen! – sehen und selbstständig tätig zu werden –, aber wir brau- Gegenruf des Abg. Dr. Matthias Zimmer chen diese Rechtssicherheit auch für die Plattformbetrei- [CDU/CSU]: Ja, Marseille finde ich gut!) ber. – Das stimmt. Ich bin mir auch nicht sicher, ob der kultur- Deshalb müssen wir uns – das haben wir heute schon elle Unterschied zwischen Köln und Düsseldorf nicht zweimal gehört – mit der Statusfeststellung beschäftigen. größer ist als zwischen Köln und Taipeh. Wir brauchen mehr Flexibilität bei der Statusfeststellung. Auch das Ministerium braucht mehr Flexibilität bei der (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU Statusfeststellung, ohne dass wir § 7 SGB IV aufweichen. und der LINKEN) Wir müssen uns überlegen, ob wir das, was wir in der Unabhängig davon ist beim Crowdworker ein ganz Vergangenheit gemacht haben – bei der Statusfeststellung klares unternehmerisches Handeln erkennbar. Hier agiert auf den Auftrag zu schauen –, auf die Tätigkeit ausdeh- die Plattform als Vertriebskanal, als Kanal, der Angebot nen und die Tätigkeiten bewerten. Wir geben den Tätig- und Nachfrage zusammenbringt. keiten das Plazet und somit auch das Gütesiegel einer 21740 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Tobias Zech (A) Selbstständigkeit. Und wir brauchen mehr Fachkompe- Fünf von hundert Menschen – das habe ich gelesen – (C) tenz bei der Clearingstelle der Rentenversicherung. Ich sind bereits in dieser Branche beschäftigt: Gigworking, denke, wir brauchen ein Expertengremium aus Crowd- Crowdworking, Clickworking, Mikrotasking und was es workern, Gigworkern, aber auch aus Plattformbetreibern, da alles so gibt. Diese Branche wächst immer stärker. Ich die diese Dynamik des Arbeitsmarktes bei der Statusfest- habe mich mit einer Fahrradkurierin getroffen. Sie hat stellung einbringen. 10 000 Kolleginnen und Kollegen; das ist also keine klei- ne Branche. Sie fahren mit dem Fahrrad Essen aus, ent- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Über weder in großen Rucksäcken, die sie umgeschnallt haben, manches können wir verhandeln!) oder in riesigen Behältern. Dieses Geschäft wird über Das zweite Ziel ist viel wichtiger: Wir brauchen eine eine Plattform organisiert. soziale Absicherung, und zwar für jeden Arbeitenden in diesem Land: Diese 10 000 Beschäftigten wollten sich über die inter- ne Kommunikationsplattform vernetzen und haben (Beifall der Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU] dann – nach vielen Schwierigkeiten – auch einen und Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Betriebsrat gegründet. Alle 10 000 Beschäftigten hatten NEN]) aber nur befristete Arbeitsverträge. Die Arbeitsverträge für die abhängig Beschäftigten, aber auch für die Selbst- der Betriebsratsmitglieder sind ausgelaufen; somit war ständigen, für die Gigworker, für die Crowdworker. Wir auch der Betriebsrat wieder weg. Das kann nicht sein. brauchen eine Absicherung, um kein System zu schaffen, Das ist eine Umgehung der Mitbestimmung. Mir liegt in dem man sein Leben lang als Crowdworker, Gigwor- sehr am Herzen, dass die Mitbestimmung gestärkt wird. ker oder als sonstig Selbstständiger arbeitet und dann in Es geht darum, dass wir neu definieren, was ein Betrieb der Altersarmut landet. Wir müssen diesen Menschen ein ist. Den gibt es so nicht mehr, wie man es aus dem Fabrik- Hilfsmittel an die Hand geben und sie in die soziale wesen oder vielleicht aus eigener Erfahrung kennt. Das Sicherung bringen. Wir brauchen die Selbstständigkeit, Zutrittsrecht für Gewerkschaften muss geregelt werden, den Mittelstand, die Unternehmen in diesem Land; aber eine bessere Kommunikation muss möglich sein. Das wir brauchen auch eine soziale Absicherung. sind alles Dinge, die zu klären sind, und zwar von uns.

Ich kann mir vorstellen, dass wir mit dieser Debatte (Beifall bei der SPD und der LINKEN) auch eine Debatte über die Sozialversicherung oder die Alterssicherung von Soloselbstständigen anstoßen. Wir Aber auch die Arbeitgebenden hier im Land – auch müssen entsprechende Regelungen dafür treffen, aber wenn sie aus Amerika kommen und das vielleicht nicht nicht festgelegt auf eine der Säulen. Vielmehr sollen die so kennen – müssen wissen, dass Mitbestimmung gelebte (B) Soloselbstständigen frei in der Wahl der Absicherung Demokratie ist. Mitbestimmung ist eine Schule der (D) sein, egal ob betrieblich, privat oder gesetzlich. Aber Vor- Demokratie im Arbeitsleben. Das hilft der Demokratie sorge muss sein. insgesamt in unserem Land; denn Demokratie muss (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da gestärkt werden, sie muss geschützt werden. Wer Arbeit können wir uns wieder streiten!) erledigt haben will, wie auch immer, durch einen 40- Stunden-Job, einen 35-Stunden-Job oder durch Multitas- Dann haben wir ein Zukunftskonzept, dann haben wir ein king, das vier Sekunden dauert, und das zwanzigmal am Konzept, das die Dynamik des Arbeitsmarktes abbildet. Tag, muss dafür auch ordentlich bezahlen und die Das stellt den Menschen in den Mittelpunkt und nicht die Beschäftigten schützen. Struktur. Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: der Kollege Bernd Rützel von der SPD. Vielen Dank, Kollege Rützel. – Ich schließe die Aus- sprache zu diesem Tagesordnungspunkt. (Beifall bei der SPD) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Bernd Rützel (SPD): den Drucksachen 19/16886 und 19/22122 an die in der Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Kollegen! Wenn man die Debatte zusammenfasst, dann Gibt es andere Überweisungsvorschläge? – Das ist nicht kann man sehen, dass bis auf zwei Parteien hier in diesem der Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. Haus alle erkannt haben, dass diese relativ junge Ökono- mie, diese digitalisierte Arbeitswelt nicht zügellos oder Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf: ohne Regeln bleiben kann, sondern dass man genau hin- a) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- schauen und einen Schutz für die Beschäftigten in dieser desregierung eingebrachten Entwurfs eines Branche schaffen muss, aber auch faire Wettbewerbsbe- Gesetzes zur Stärkung des fairen Wettbe- dingungen herstellen muss. Das ist unser Job; das ist werbs unsere Aufgabe. Deswegen war es gut, dass Sie von den Linken diese Anträge heute eingebracht haben. Drucksache 19/12084 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21741

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- diesem Gesetz: Wir verhindern, wir verbieten miss- (C) schusses für Recht und Verbraucherschutz bräuchliche Abmahnungen, liebe Kolleginnen und Kol- (6. Ausschuss) legen. Drucksache 19/22238 (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) b) Zweite und dritte Beratung des von den Dabei ist, um es klar zu sagen, die befürchtete große Abgeordneten Stephan Brandner, Fabian Abmahnwelle durch die Datenschutz-Grundverordnung Jacobi, Dr. Lothar Maier, weiteren Abgeord- ausgeblieben; aber es gibt eben doch noch genügend neten und der Fraktion der AfD eingebrach- Fälle und vor allem auch genügend windige Anwalts- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämp- kanzleien, die missbräuchlich abmahnen und nur aus fung des Abmahnmissbrauchs Gewinninteresse unsere Unternehmen abzocken. Da kön- Drucksache 19/13205 nen wir nicht zuschauen, und deswegen ist das ein wichti- ges Gesetz. Herzlichen Dank an das Justizministerium für Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- die gute Zusammenarbeit. schusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Drucksache 19/22238 Das entscheidende Mittel ist, dass wir die finanziellen Anreize für diese Abzocke einschränken. Gerade weil c) Beratung der Beschlussempfehlung und des sich bei kleineren Firmen, etwa bei Onlineshops oder Berichts des Ausschusses für Recht und Ver- Start-ups, schnell einmal ein kleiner Fehler einschleicht, braucherschutz (6. Ausschuss) wollen wir dort die Erstattung von Anwaltskosten bei – zu dem Antrag der Abgeordneten Roman Abmahnungen wegen Verstößen gegen Informations- Müller-Böhm, Stephan Thomae, und Kennzeichnungspflichten abschaffen. Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der FDP (Beifall bei der SPD) Maßnahmen für mehr Fairness bei Das ist ein ganz wichtiger Schritt, weil es gerade bei Abmahnungen diesen Kleinunternehmen und Start-ups schnell passieren kann, dass ein noch unerfahrener Geschäftsführer loslegt, – zu dem Antrag der Abgeordneten eben nicht die strengen Vorschriften einhält und dann mit Dr. Manuela Rottmann, Tabea Rößner, den erheblichen Folgen zu leben hat. Das werden wir Claudia Müller, weiterer Abgeordneter verhindern, liebe Kolleginnen und Kollegen. und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE (B) GRÜNEN (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ingmar (D) Jung [CDU/CSU]) Abmahnungen – Transparenz und Rechtssicherheit gegen Missbrauch Genauso schließen wir die Erstattung von Abmahnkos- ten wegen Datenschutzverstößen aus. Die Grenze ziehen Drucksachen 19/13165, 19/6438, 19/22238 wir hier bei Unternehmen mit weniger als 100 Mitarbei- Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein tern; das ist immer noch eine recht stattliche Größe. Ganz Änderungsantrag sowie ein Entschließungsantrag der wichtig war uns auch, dass gemeinnützige Vereine, wenn Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Für die Aussprache sie die Datenschutz-Grundverordnung auf ihren Internet- ist eine Dauer von 30 Minuten beschlossen. seiten nicht einhalten, nicht abgemahnt werden können. Wenn alle Interessierten bitte Platz nehmen und auf- Es gab bei vielen Sportvereinen, bei vielen Vereinen die merksam zuhören. Sorge, dass es hier zu hohen Abmahnkosten kommt. Auch das werden wir mit diesem Gesetz verhindern, liebe Ich eröffne die Aussprache, und es beginnt der Kollege Kolleginnen und Kollegen. Dr. Johannes Fechner für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Wir verhindern ausdrücklich missbräuchliche Abmah- nungen und haben im Gesetz ganz präzise definiert, wann Dr. Johannes Fechner (SPD): wir eine Abmahnung als missbräuchlich ansehen. Also, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie- wenn ein Unternehmen etwa sehr viele Abmahnungen be Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Unver- gegenüber einem Mitbewerber ausspricht, obwohl es sel- schämte Aufforderungen zu allen möglichen Unterlas- ber kaum wirtschaftlich tätig ist, oder wenn der Gegen- sungserklärungen, horrende Forderungen von standswert für die Berechnungen der Abmahnkosten Anwaltsgebühren, Drohungen mit einem Schufa-Eintrag exorbitant hoch ist: Das sind alles Anzeichen für miss- und Ähnliches, all das kennen wir aus unseren Bürgers- bräuchliche Abmahnungen, und die werden wir verbie- prechstunden und aus den Briefen von Unternehmen, ten. wenn sie von windigen Anwaltskanzleien unverschämte und vor allem missbräuchliche Abmahnungen bekom- Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn men. Das wollen wir stoppen; denn es kann nicht sein – erfreulicherweise die von vielen befürchtete Abmahn- und zwar gerade jetzt in der Coronazeit –, dass sich unse- welle durch die Datenschutz-Grundverordnung ausge- re Unternehmen mit diesen missbräuchlichen Abmah- blieben ist: Es gibt nach wie vor noch hohes Missbrauch- nungen herumschlagen müssen, die nur zum Ziel haben, spotenzial. Deswegen werden wir hier entsprechende die Unternehmen abzuzocken. Genau das stoppen wir mit Regelungen treffen. Es mag sein, dass manche Abmah- 21742 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Dr. Johannes Fechner (A) nung vor Gericht sicherlich gar keinen Bestand hätte; Punkt zwei: Abmahnungen wegen Verstößen gegen (C) aber wir wollen schon mit einer klaren Rechtslage ver- Informationspflichten im Internet. Diese bilden den hindern, dass es überhaupt zum Ausspruch und zum Ver- Schwerpunkt missbräuchlicher Abmahnungen. Der sand von solchen missbräuchlichen Abmahnungen Regierungsentwurf will hierauf reagieren, indem in die- kommt. sem Bereich der Anspruch gegen den Abgemahnten auf den Ersatz von Rechtsanwaltskosten entfallen soll. Das Dazu gehört dann auch, dass wir den sogenannten flie- deckt sich insoweit mit unserem Entwurf. Wir wollen genden Gerichtsstand einschränken. Denn es kann nicht aber darüber hinaus auch vorsehen, dass bei einer ersten sein, dass Unternehmen, weil sie die Abmahnung vor Abmahnung, wenn sie denn berechtigt ist, zwar eine einem weit entfernten Gericht anfechten müssen, sagen: Unterlassungserklärung abzugeben ist, diese aber nicht „Ich erspare mir den Ärger, ich erspare mir die Reise- und strafbewehrt sein muss, dass also auf ein Vertragsstrafe- die Anwaltskosten“, und dann zahlen, obwohl sie eigent- versprechen des Abgemahnten insoweit verzichtet wer- lich im Recht gewesen wären. den kann. Dadurch soll in dem genannten Bereich auch (Beifall bei der SPD) dieser weitere Anreiz zu missbräuchlichen Abmahnun- gen entfallen. Auch in diesem Punkt ist unser Entwurf Deswegen werden wir auch hier Einschränkungen vor- also konsequenter. nehmen; auch das ist ein ganz wichtiger Teil von diesem Gesetz. Ferner bleibt der Regierungsentwurf dort hinter unse- rem zurück, wo es um Abmahnungen wegen Verstößen Alles in allem: ein wichtiges Gesetz gegen Abzocke gegen die DSGVO geht. Während der Regierungsent- mit Abmahnungen. Stimmen wir deshalb diesem Gesetz wurf auch insoweit lediglich den Anspruch auf Erstattung zu! von Rechtsanwaltskosten entfallen lassen will, und auch Vielen Dank. das nur bei bestimmten Unternehmen, sieht unser Ent- wurf vor, Verstöße gegen die DSGVO gänzlich aus dem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Anwendungsbereich der Abmahnungen nach dem Wett- der CDU/CSU) bewerbsrecht herauszunehmen. Schließlich Punkt drei: der missglückte Versuch, die Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Generalklausel zu missbräuchlichen Abmahnungen Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Fabian durch Beispiele zu konkretisieren. Hier hieß es ursprüng- Jacobi. lich, ein Missbrauch liege insbesondere vor, wenn eine erheblich überhöhte Vertragsstrafe gefordert werde. Jetzt (Beifall bei der AfD) heißt es stattdessen, der Missbrauch sei im Zweifel anzu- (B) nehmen, wenn die Vertragsstrafe offensichtlich überhöht (D) Fabian Jacobi (AfD): sei. Gewonnen ist dadurch nicht wirklich viel. Nach wie Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor knapp vor besteht für den Abgemahnten erhebliche Unsicher- einem Jahr haben wir hier das erste Mal den Gesetzent- heit, ob er nun die Abmahnung gefahrlos zurückweisen wurf der Bundesregierung zur Eindämmung von miss- kann oder nicht. Das aber ist für die Betroffenen gerade bräuchlichen Abmahnungen behandelt. Damals habe ich der wichtigste Punkt. Auch insoweit überzeugt uns also drei Punkte angesprochen, die wir als Schwächen des der Regierungsentwurf auch in seiner nachgebesserten Regierungsentwurfs ansehen und die uns veranlasst Form nicht. Wir werden ihn daher ablehnen und stellen haben, einen eigenen Gesetzentwurf zum selben Gegen- anheim, stattdessen unserem Gesetzentwurf zuzustim- stand vorzulegen, über den hier heute ebenfalls abge- men. stimmt wird. Vielen Dank. Die Regierungsfraktionen haben unsere Kritik, viel- (Beifall bei der AfD) leicht auch als Ergebnis der durchgeführten Expertenan- hörung, offenbar als berechtigt erkannt, jedenfalls haben Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: sie in den von mir seinerzeit genannten Punkten versucht Für die CDU/CSU-Fraktion hat als Nächster das Wort nachzubessern und haben den Regierungsentwurf gering- der Kollege Ingmar Jung. fügig abgeändert. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Das Bemühen ist anzuerkennen; aber uns überzeugt das (Beifall bei der CDU/CSU) Ergebnis nicht in dem Maße, dass wir dem veränderten Regierungsentwurf heute zustimmen würden. Ingmar Jung (CDU/CSU): Punkt eins: der Gerichtsstand am Ort der Rechtsver- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- letzung, der sogenannte fliegende Gerichtsstand, der ren! Ich bin froh, dass wir heute hier die zweite und dritte dadurch, dass die Rechtsverfolgung, zum Beispiel von Lesung zu diesem Gesetzentwurf noch haben. Verstößen im Internet, bei allen Gerichten in Deutschland Ich will, weil wir alle die ganze Zeit über „Abmahn- möglich ist, die sinnvolle Bildung spezialisierter Gerichte missbrauch“ sprechen – das war auch beim letzten Mal ermöglicht hat. Er sollte zunächst abgeschafft werden. schon so –, vorweg eines klarstellen: Unser System im Der geänderte Regierungsentwurf macht hier nun einen Lauterkeitsrecht, das wir hier haben, ist so: Wenn sich halben Schritt zurück und will ihn nur noch teilweise jemand auf illegale Weise Wettbewerbsvorteile ver- abschaffen. Unser eigener Gesetzentwurf ist da konse- schafft – durch Schleichwerbung, durch Irreführung, quenter und lässt ihn einfach bestehen. durch illegale Nachahmungen und Ähnliches –, geben Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21743

Ingmar Jung (A) wir bewusst gesetzgeberisch dem, der verletzt ist, dem Lassen Sie mich vielleicht noch zwei, drei Sachen (C) ein Wettbewerbsnachteil widerfährt, mit der Abmahnung sagen, die sich geändert haben. Wir haben hier bei der ein recht scharfes Schwert in die Hand. Das ist ein Sys- ersten Lesung gestanden – die ist schon ein bisschen her – tem, das Wettbewerbsgleichheit in diesem Bereich wie- und haben von unserer Fraktion aus durchaus damals derherstellt, in einem Verfahren zwischen Wettbewer- schon gesagt: Es gibt den einen oder anderen Punkt, bei bern. Daran wollen wir nichts ändern, weil sich das bei dem wir noch einmal hinschauen müssen und vielleicht uns sehr bewährt hat; das wollen wir auch beibehalten. auch etwas ändern müssen. Das haben wir nach der Sach- verständigenanhörung jetzt auch gemacht. Wir wollen nur die Fälle erfassen und sanktionieren, in denen genau dieses Recht ausgenutzt wird. Denn – da Wir haben zum einen bei den Wirtschaftsverbänden darf man sich auch nichts vormachen – es gibt Fälle, in den Grad der Betroffenheit noch ein Stück weit erhöht, denen Wettbewerbsverstöße oder scheinbare Wettbe- dass dort auch nur der eine Abmahnung geltend machen werbsverstöße ausgenutzt werden, um in ein Abmahn- kann, der tatsächlich berechtigt ist, dessen Mitglieder recht oder ein scheinbares Abmahnrecht hineinzukom- tatsächlich in kritischer Weise betroffen sind. Wir haben men. Wenn am Ende eine Abmahnung ausgesprochen die Innungsverbände, die üblicherweise privatrechtlich wird, nicht um einen Wettbewerbsnachteil auszugleichen, organisiert sind, noch in den Kreis der Abmahnberechtig- sondern nur deshalb, um bestimmte Kosten zu generie- ten aufgenommen; ich glaube, da waren wir uns am Ende ren – weil man dort ein Geschäftsmodell entwickelt hat –, auch sehr einig. dann ist der Sinn des Lauterkeitsrechts auf den Kopf Und wir haben beim fliegenden Gerichtsstand in der gestellt; denn dann wird der zu Unrecht Abgemahnte Tat eine Änderung vorgenommen. Da – gebe ich zu – bin am Ende einem Wettbewerbsnachteil ausgesetzt. Genau auch ich im Rahmen der Anhörung schlauer geworden. das soll das Lauterkeitsrecht gerade nicht herstellen. Des- Ich war am Anfang auch der Auffassung, dass man den wegen wollen wir diesen echten rechtsmissbräuchlichen fliegenden Gerichtsstand für diese Fälle ganz abschaffen Abmahnungen einen Riegel vorschieben. Ich denke, das könnte. Aber ich habe mich von denen, die praktisch sehr gelingt mit diesem Gesetz, und ich bin froh, dass wir das viel damit arbeiten, durchaus überzeugen lassen, dass es noch zum Abschluss bringen, meine Damen und Herren. viele Fälle gibt – bei großen wettbewerbsrechtlichen Ver- stößen, bei Unternehmen, die typischerweise damit zu (Beifall bei der CDU/CSU) tun haben –, dass sogar beide Seiten ein Interesse daran Lassen Sie mich auf ein paar Punkte eingehen, über die haben können, vor ein fachlich spezialisiertes Gericht zu wir durchaus länger diskutiert haben. Natürlich ist die kommen. Abgrenzung zwischen diesen beiden Fällen, die ich (Beifall des Abg. Dr. Heribert Hirte [CDU/ (B) eben geschildert habe, gar nicht so unmittelbar leicht zu CSU]) (D) treffen. Deswegen haben wir versucht, uns auch vorzu- Deswegen glaube ich, dass wir für diese Fälle es richtig stellen: Wo passiert denn dieser Rechtsmissbrauch am gemacht haben, dort den fliegenden Gerichtsstand nicht meisten? Nach der Sachverständigenanhörung mussten abzuschaffen. wir – gemeinsam, glaube ich – feststellen: Die größte Gefahr besteht doch dann, wenn jemand, der diesen Miss- Aber die Fälle, von denen wir eben gesprochen haben, brauch vorhat, möglicherweise kleine Verstöße gegen die Informations- und Kennzeichnungspflichten, das, Wettbewerbsrechte in einer Vielzahl geltend machen was typischerweise, vielfach im Internet passiert, da wol- kann. Das passiert üblicherweise bei Informations- und len wir eben dem, der nur darauf aus ist, Aufwendungs- Kennzeichnungspflichten im elektronischen Rechtsver- ersatzansprüche, möglicherweise Vertragsstrafen auszu- kehr, also im Internet. lösen, das Abmahnrecht zu missbrauchen, nicht mehr die Möglichkeit geben, ein Gericht sich auszusuchen, das Genau für diese Fälle schaffen wir jetzt das ab, was der möglicherweise einmal anders entschieden hat als viele große Anreiz ist, nämlich der sogenannte Aufwendungs- andere, und somit das Recht wieder zu missbrauchen. ersatzanspruch, also die teilweise recht hohen Anwalts- Deswegen glaube ich, dass wir auch da genau die richtige kosten. Die sind im Einzelfall bei Abmahnungen gerecht- Trennlinie gefunden haben: den fliegenden Gerichtsstand fertigt; das ist gar keine Frage. Wenn es aber eine Vielzahl dort erhalten, wo es Sinn macht, aber dort nicht erhalten, von Abmahnungen betrifft, dann entsteht eine Höhe, die wo der Missbrauch stattfindet. am Ende rechtsmissbräuchlich werden kann. Die Verstö- ße können weiterhin geltend gemacht werden. Aber den (Beifall bei der CDU/CSU) Anreiz über diesen hohen Aufwendungsersatz schaffen Letztlich haben wir noch zwei Dinge gemacht: Wir wir jetzt ab. Deswegen glaube ich, dass wir die richtige haben die Fallgruppen konkretisiert, bei denen wir Trennlinie dort gezogen haben. Abmahnungen für missbräuchlich halten. Der Vorschlag kam ursprünglich einmal von den Grünen – nicht von der Ich weiß, Frau Kollegin Rottmann, Sie haben bedeu- AfD, wie wir eben gehört haben. Beides hat uns aber tende Dinge dagegengesetzt. Wir werden uns dann mal nicht alleine veranlasst, darüber nachzudenken, sondern unterhalten, vielleicht wenn das Gesetz in Kraft ist. Aber vielmehr das, was wir in der Sachverständigenanhörung ich glaube, wir haben genau die richtige Trennlinie gezo- gehört haben. gen, um hier Missbrauch von gerechtfertigter Geltend- machung von Abmahnungen zu trennen. Ich glaube, das Wenn ich jetzt noch Zeit hätte, würde ich Ihnen etwas ist der richtige Weg. zur Reparaturklausel erzählen. Die Zeit habe ich aber nicht, und da es heute eh lange genug dauert, will ich (Beifall bei der CDU/CSU) nicht überziehen. 21744 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Ingmar Jung (A) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. take down“-Verfahren verweisen, welches unkompliziert (C) und sehr einfach die Verhältnismäßigkeit bei Abmahnun- (Beifall bei der CDU/CSU) gen wahren würde. Man würde nämlich erst einmal ver- warnen müssen, bevor man formell abmahnen kann. Das Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: wäre ein Instrument, von dem wir denken, dass es in der Vielen Dank, Kollege Jung, auch dafür, dass Sie sich Sache deutlich geeigneter wäre. Ich empfehle Ihnen, das an die Zeit gehalten haben. – Der Kollege Roman Müller- auf jeden Fall noch einmal nachzulesen. Böhm hat das Wort für die FDP-Fraktion. Im Ergebnis sehen wir im Gesetzentwurf positive Ten- (Beifall bei der FDP) denzen, sehen aber nicht die wahren Lösungen der Pro- bleme. Deswegen werden wir uns zum Gesetzentwurf der Roman Müller-Böhm (FDP): Bundesregierung enthalten und empfehlen die Zustim- Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und mung zu unserem Antrag. Kollegen! „Was lange währt, wird endlich gut“, ich glau- Herzlichen Dank. be, so oder so ähnlich muss die Bundesregierung gedacht haben. Immerhin sind nun zwei Jahre vergangen, nach- (Beifall bei der FDP) dem Sie aufgefordert wurden, einen Gesetzentwurf vor- zulegen, der den Abmahnmissbrauch in unserem Land Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: angeht. Nur, wissen Sie, würde ich meine Redezeit von Der nächste Redner: für die Fraktion Die Linke der drei Minuten ähnlich verschwenderisch nutzen wie Sie Kollege Thomas Lutze. die letzten zwei Jahre, ich dürfte eigentlich nur die letzten zehn Sekunden etwas sagen. Das ist ziemlich peinlich für (Beifall bei der LINKEN) diese Bundesregierung. (Beifall bei der FDP) Thomas Lutze (DIE LINKE): Denn es währte lange, wurde aber nie gut. Insbesondere Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe seitdem Sie im Sommer einige Änderungen vorgelegt Kolleginnen und Kollegen! Es wird Zeit, dass den Wild- haben, wurde deutlich, dass der Gesetzentwurf in dieser westmethoden bei den gewerbsmäßigen Abmahnungen Form nach wie vor Schwächen hat und sogar neue Pro- endlich Einhalt geboten wird. bleme verursachen kann. Es droht eine Verschlimmbes- (Beifall bei der LINKEN) serung. Ich will Ihnen das an zwei kurzen Beispielen deutlich machen. Dass sich Agenturen und Kanzleien darauf speziali- (B) siert haben, ganz normale Bürgerinnen und Bürger sowie (D) Erstes Beispiel: der Aufwendungsersatz. Abmahnun- Unternehmen mit kostenpflichtigen Abmahnungen zu gen – das wurde hier bereits ausgeführt – sollen eigentlich belegen, hat nichts mit dem Schutz der Rechtsstaatlich- im Interesse eines ehrlichen Wettbewerbs bzw. zur keit zu tun. Es ist ein perverses Geschäftsmodell und Durchsetzung von Verbraucherrechten erfolgen und nicht reine Abzocke. zur Generierung von Aufwendungsersatz und Vertrags- strafen. Die von der Bundesregierung neu vorgeschlage- (Beifall bei der LINKEN) ne Systematik zur Unterscheidung von berechtigten und unberechtigten Ansprüchen könnte jedoch dazu führen, Daher ist es positiv, wenn die Bundesregierung dem dass berechtigte Abmahnungen unterbleiben, weil näm- nun einen Riegel vorschieben will. Zukünftig muss zum lich die Gefahr zukünftig besteht, dass die Abmahnung Beispiel eine Abmahnbefugnis vorliegen, die es so bis- relativ leicht als missbräuchlich gewertet wird und der lang nicht gab. Es müssen auch qualifizierte Verbände Abmahnende daher nicht zur Sache durchdringt bzw. sein, die beim Justizministerium registriert sein müssen, sogar noch das Risiko trägt, hinterher Gegenansprüchen wenn sie gegen eventuelle Rechtsvergehen vorgehen des Anspruchsgegners ausgesetzt zu sein. wollen. Das sind nur zwei einer ganzen Reihe von Ver- schärfungen und Konkretisierungen, mit denen das Ge- Das zweite Beispiel – das wurde auch schon in der setz endlich verändert und verbessert wird. Anhörung dazu relativ deutlich –: Wir haben die unbe- stimmten Rechtsbegriffe, insbesondere im Artikel 1 in Aber bei allem Lob findet eine Oppositionsfraktion § 8b Absatz 2 Nummern 3 und 4. Hier handelt es sich auch immer wieder etwas zum Kritisieren. Es ist leider um die Begriffe „unangemessen hoch“ und „erheblich nicht nur das Haar in der Suppe, sondern ein handfestes überhöht“. Die beiden Begrifflichkeiten sind nicht näher Problem. Ich meine das sogenannte Unterlassungsklage- bestimmt und werden wahrscheinlich wohl eher für eine recht. Hier werden, wie der Name schon sagt, juristische Beschäftigungstherapie für Rechtsanwältinnen und oder natürliche Personen aufgefordert, Dinge zu unter- Rechtsanwälte sorgen, als dass sie wirklich eine Erleich- lassen, zum Beispiel, wenn Rechte Dritter verletzt wer- terung in der Praxis bedeuten. Auch das kritisieren wir den. deutlich. Die Verbraucherschutzverbände, die bislang eine sehr Ich will Ihnen aber nicht nur Kritik entgegenbringen, ordentliche und notwendige Arbeit geleistet haben und sondern wir wollen auch Lösungen aufzeigen. Das tun leisten, sind bei einer Verschärfung dummerweise auch wir als Freie Demokraten nicht erst seit heute, sondern betroffen. In einer Anhörung im Oktober 2019, also vor seit zwei Jahren. Ich empfehle die Lektüre unseres Antra- fast einem Jahr, ist dies bereits thematisiert worden. Liebe ges. Insbesondere möchte ich Sie auf das „Notice and Entwurfsverfasser von der Bundesregierung, es wäre Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21745

Thomas Lutze (A) genügend Zeit gewesen, eine Sonderregelung für diese (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) Verbraucherschutzverbände zu finden. Das wollten Sie sowie bei Abgeordneten der FDP) aber nicht. Denjenigen, die von unseriösen Abmahnern unter (Beifall bei der LINKEN) Druck gesetzt und abgezockt werden, helfen Sie aber Fazit, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir unterstüt- nicht wirklich weiter. Opfer von Abmahnmissbrauch zen die Novelle des Gesetzes gegen den unlauteren Wett- sind vor allem Rechtslaien, die Rechtsberatung und bewerb, aber nicht die Novelle des Unterlassungsklage- Gerichtsverfahren scheuen. Sie lassen sich von gewerbs- rechts. Ich glaube, wir wären gut beraten, wenn der mäßigen Abmahnern mit Gewinninteressen leicht unter Bundestag diese Gesetze nach der Bundestagswahl Druck setzen. Dann geben sie Unterlassungserklärungen noch einmal aufruft und die Wirkung gründlich über- mit hohen Strafversprechen ab, aus Angst vor einer prüft. gerichtlichen Auseinandersetzung. Ich hoffe trotzdem sehr, dass es mit der heutigen Geset- Noch mehr unbestimmte Rechtsbegriffe sind die fal- zesänderung gelingt, dass unbescholtene Bürgerinnen sche Antwort auf dieses Machtgefälle. und Bürger sowie Unternehmen nicht weiter mit Mahn- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Unterlassungsschreiben traktiert werden. Das Pro- blem an diesen Schreiben sind ja nicht die Verweise auf Wie soll denn eine kleine Onlinehändlerin einschätzen, mögliche Rechtsverstöße; es sind die damit verbundenen ob – ich zitiere aus Ihrem Entwurf – der Gegenstandswert Gebührenforderungen der Abmahnenden. Vielleicht soll- für eine Abmahnung „unangemessen hoch“ oder eine te man auch mal darüber nachdenken, dass eine erste Vertragsstrafe „erheblich überhöht“ ist? Wie soll sie das Abmahnung, ganz gleich, wer sie stellt, grundsätzlich einschätzen? Nützlich wären öffentlich verfügbare Infor- kostenfrei sein muss. Das würde dafür sorgen, dass sich mationen über missbräuchliche Abmahnpraktiken und die schwarzen Schafe in dieser Branche endlich ein neues ein Recht, sich im Nachhinein leichter von einer Unter- Hobby suchen müssen. lassungserklärung zu lösen, die auf einer missbräuchli- Vielen Dank. Glück auf! chen Abmahnung beruht. Wir brauchen auch eine Klar- stellung, dass bereits gezahlte Abmahngebühren und (Beifall bei der LINKEN) gezahlte Vertragsstrafen zurückgefordert werden können, wenn ein anderer Betroffener im Nachhinein gerichtlich Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: klären lässt, dass es sich um eine missbräuchliche Abmahnwelle handelt. Die nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/ (B) Die Grünen die Kollegin Dr. Manuela Rottmann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nützlich wäre auch die von uns seit Jahren geforderte Gruppenklage. All das würde das Machtgefälle wirklich Dr. Manuela Rottmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verringern. NEN): Wir haben als Grüne sehr frühzeitig auf diesen völlig Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und anderen Weg hingewiesen, ihn vorgeschlagen. Ich habe Kollegen! Gerne hätte ich heute den 25 000 Unterstütze- auch heute kein triftiges Argument dagegen gehört. Das rinnen und Unterstützern der Petition gegen Abmahn- zeigt für mich, dass dieses Gesetzgebungsverfahren wirk- missbrauch mitgeteilt, dass sich ihr Einsatz gelohnt hat. lich nicht optimal gelaufen ist. Leider ist Ihr Gesetz sicher gut gemeint, aber es ist nicht gut gemacht. Noch ein letzter Satz zur Aufhebung des Designschut- zes für Ersatzteile. Das finden wir gut, das fördert den (Beifall der Abg. Katharina Dröge [BÜND- Wettbewerb. Aber für bereits eingetragene Kfz-Modelle NIS 90/DIE GRÜNEN]) greift Ihre Regelung erst in 25 Jahren, also wenn ich Die Aufgabe war, die Vorteile der Abmahnung zu schon sehr, sehr alt bin. erhalten und gleichzeitig Abmahnmissbrauch zu verhin- dern. Das ist nicht einfach. Aber das, was Sie jetzt tun, ist (Ingmar Jung [CDU/CSU]: Ich auch!) in beide Richtungen schlecht. Mit dieser Mogelpackung blamieren Sie sich. Hätten Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) unserem Änderungsantrag wenigstens hier zugestimmt, dann hätten Sie sich wenigstens diese Blamage erspart. Den seriösen Verbänden nehmen Sie in weiten Teilen den Aufwendungsersatz. Kleine Branchenverbände wer- Vielen Dank. den als Korrektiv völlig ausfallen, weil Sie Mindesthür- den eingezogen haben. Die wenigen schwarzen Schafe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – unter den Verbänden werden die von Ihnen aufgestellten Ingmar Jung [CDU/CSU]: Ganz bewusst so!) Hürden mühelos überspringen. Für große Onlineunter- nehmen mit großen Rechtsabteilungen machen Sie es Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: noch billiger, Informationsrechte der Verbraucherinnen Nächste Rednerin: die Kollegin Mechthild Rawert, und Verbraucher zu ignorieren. Das schwächt die Rechts- SPD-Fraktion. durchsetzung in Deutschland, und es schwächt den Wett- bewerb zulasten kleiner Unternehmen. (Beifall bei der SPD) 21746 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

(A) Mechthild Rawert (SPD): Leidtragende sind viele Autofahrerinnen und Autofahrer, (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie- aber auch die Wirtschaft und vor allen Dingen kommu- be Zuschauende! Es ist gut, dass das Gesetz zur Stärkung nale Unternehmen. Für die Verkehrsbetriebe oder die des fairen Wettbewerbs jetzt kommt. Dass es kommt, ist Stadtreinigung etwa heißt das: weiter hohe Kosten. der Beharrlichkeit der SPD zu verdanken. Deswegen werden wir als SPD uns weiterhin dafür (Beifall bei der SPD – Heiterkeit bei Abge- einsetzen, dass die Regelung auch auf den Bestandsmarkt ordneten der CDU/CSU und der FDP]) ausgeweitet wird; denn nur so kann sie umfassend und schnell Wirkung entfalten, und das ist im Interesse der Damit geben wir auch eine Antwort auf die vielen Kommunen, der Wirtschaft und der Verbraucher sowie Petentinnen und Petenten. Wer schon den vorherigen der Verbraucherinnen. Das wäre im Interesse von uns Tagesordnungspunkt mitbekommen hat: Wir geben allen. auch eine Antwort für viele Bereiche, die schlicht und ergreifend mehr Schutz und fairen Wettbewerb verdie- Danke. nen. (Beifall bei der SPD) Wir schützen mit diesem Gesetz insbesondere kleinere Unternehmen vor missbräuchlichen Abmahnungen. Wir Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: schützen zum Beispiel die vielen Händler, die jetzt in der Es erhebt sich der Schlussredner zu diesem Tagesord- Coronazeit Masken selber nähen und online verkaufen. nungspunkt, der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU- Für sie ist es ein echtes Problem, wenn sie plötzlich von Fraktion. einer Abmahnung betroffen sind. (Beifall bei der CDU/CSU – Marianne Natürlich ist es richtig und wichtig für den freien Wett- Schieder [SPD]: Ich habe ihn schon vermisst! bewerb, dass Abmahnungen möglich sind, zum Beispiel, Ich habe gedacht, der kommt heute gar nicht wenn gesetzliche Informationspflichten missachtet wer- mehr! Aber kein Abend ohne Volker Ullrich den. Aber der Schutz vor missbräuchlichen Abmahnun- im Plenarsaal!) gen ist ebenso wichtig; denn nicht selten hängt davon die Existenz von Unternehmen ab. Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- ren! Wenn Sie sich mit Unternehmensgründern oder mit Es ist schon beschrieben worden: Die Masche ist billig. Inhabern kleiner Handwerksbetriebe unterhalten und fra- (B) Abzocker durchsuchen Webseiten automatisiert nach gen, was bei der Erstellung eines Onlinebusiness die (D) Minimalverstößen und versenden dann eine Vielzahl an größte Sorge ist, dann antworten sie, dass die Frage Abmahnungen qua Serienbrief – möglichst viele Abmah- nach dem Absatz die eine und die Frage, ob man das nungen mit möglichst wenig Aufwand. Sie tun das nicht, Impressum richtig geschrieben hat, die andere große um fairen Wettbewerb sicherzustellen, sondern um Kos- Sorge ist, und zwar vor allen Dingen deswegen, weil tenerstattungen und Vertragsstrafen zu kassieren. Damit sich kleine und mittelständische Unternehmen zu Recht machen wir Schluss, und das ist gut so. fürchten, wegen eines kleinen Fehlers im Impressum abgemahnt und mit hohen Kosten überzogen zu werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das hat mit dem Schutz des Wettbewerbs im Grunde Jetzt noch eines zur Reparaturklausel – sie war schon genommen wenig zu tun, sondern ist ein Geschäftsmo- angekündigt –: Wir haben uns schon seit Längerem für dell, das aus den Fugen geraten ist, und mit diesem die Neuregelung der Reparaturklausel im Designrecht Geschäftsmodell machen wir heute Schluss, meine eingesetzt; denn damit wird der Markt für sichtbare Damen und Herren. Ersatzteile künftig geöffnet. (Beifall bei der CDU/CSU und der LINKEN) (Dr. Manuela Rottmann [BÜNDNIS 90/DIE Es geht nicht darum, dass wir die Abmahnung als GRÜNEN]: Sehr künftig!) Rechtsinstrument infrage stellen. Gerade die Selbstregu- Die Monopolstellung der Hersteller für Kotflügel, lierung des Marktes über Abmahnungen hat einen öko- Scheinwerfer und Co wird endlich aufgebrochen. Das nomischen Nutzen, weil sich die Wettbewerber in der Tat gilt für alle Designs, die nach dem Inkrafttreten des selber ins Benehmen setzen müssen, ob ein Wettbewerbs- Gesetzes angemeldet werden. verstoß vorliegt oder nicht. Aber die Grenze ist dort erreicht, wo es nicht mehr darum geht, einen gravieren- (Ingmar Jung [CDU/CSU]: So ist es!) den Wettbewerbsverstoß aus der Welt zu schaffen, son- dern wo allein das ökonomische Interesse an den Ich stimme allen zu, die aufgrund dieses Punktes Trau- Abmahngebühren im Vordergrund steht. Das ist etwas, er tragen; denn leider hat es unser Koalitionspartner abge- was weder dem Wettbewerb noch den Interessen der klei- lehnt, dass diese Regelung auch auf ältere Fahrzeuge nen Gewerbetreibenden nützt. anzuwenden ist. Entscheidend ist, dass die Abmahnung auch zukünftig (Ingmar Jung [CDU/CSU]: Richtig! – Ralph möglich ist; aber sie wird aufgrund des Wegfalls des Auf- Lenkert [DIE LINKE]: Hört! Hört! Immer die- wendungsersatzes nicht mehr diese ökonomische Dimen- ser Koalitionspartner!) sion haben, und ich glaube, das ist jetzt ein guter Kom- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21747

Dr. Volker Ullrich (A) promiss, der auch die Fehler aus der Welt schafft, die das Der Schutz des geistigen Eigentums ist auch aus dem (C) Gesetz aus dem Jahr 2013, das gut gemeint war, nicht Eigentumsgrundrecht des Grundgesetzes heraus ein beheben konnte. abwägungsrelevanter Belang. Deswegen haben wir hier diesen Kompromiss gefunden. (Dr. Manuela Rottmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schon wieder „gut gemeint“!) Ich glaube insgesamt, mit dieser Änderung wird deut- lich, dass wir bereits jetzt, aber auch mittel- und lang- Wir wollen auch mit mehr Transparenzpflichten und fristig im Bereich der Automobilreparatur vielen helfen einer höheren Darlegungslast für den Abmahnenden ver- werden. Deswegen gibt es diesen Kompromiss. hindern, dass er von vornherein eine Abmahnung auch Das Gesetz ist ein guter Kompromiss. Es beseitigt das aus Gründen eines fehlgeleiteten Wettbewerbsbegriffes Abmahnunwesen. Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung. in die Welt setzt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klar ist auch, dass wir denjenigen zukünftig helfen, die Marianne Schieder [SPD]: Das machen wir!) von einer missbräuchlichen Abmahnung betroffen sind. Sie haben zukünftig nämlich die Möglichkeit, Aufwen- dungsersatz für ihre eigenen Rechtsverfolgungskosten Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: vom Abmahner zu verlangen. Ich glaube, das ist ein guter Vielen Dank, Kollege Ullrich. – Ich schließe die Aus- Interessenausgleich, der die Kleinen schützt und trotz- sprache zu diesem Tagesordnungspunkt. dem das Instrument der Abmahnung in der Welt lässt. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Deswegen ist es auch richtig, dass wir beim fliegenden desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung Gerichtsstand eine Zweiteilung vorgenommen haben. des fairen Wettbewerbs. Gerade wenn es um strukturelle Ungleichheit zwischen Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz emp- Großen und Kleinen geht, kann es nicht sein, dass der fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Große den Gerichtsstand bestimmt und der Kleine Drucksache 19/22238, den Gesetzentwurf der Bundesre- bezahlt, weil er zum Beispiel aus Augsburg nicht nach gierung auf Drucksache 19/12084 in der Ausschussfas- Hamburg möchte, um dort ein Verfahren zu führen. Das sung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag von ist ganz selbstverständlich. Aber wenn sich zwei Wett- Bündnis 90/Die Grünen vor, den Sie auf Drucksache bewerber auf Augenhöhe begegnen, dann, glaube ich, ist 19/22262 finden. es nach wie vor angemessen, dass beide den Gerichts- Über diesen Änderungsantrag von Bündnis 90/Die stand auch eigenverantwortlich bestimmen können. Des- Grünen stimmen wir zuerst ab. Wer stimmt für den Ände- wegen haben wir auch in dieser Frage des Gerichtsstands rungsantrag? – Das sind die Grünen und die Linken. Wer (B) einen guten Kompromiss gefunden. stimmt dagegen? – Alle übrigen Fraktionen des Hauses. (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Enthaltungen? – Keine. Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt. Wichtig ist auch, dass wir bei Abmahnungen zum The- ma Datenschutz-Grundverordnung sicherstellen, dass Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf der Bun- sich das Ehrenamt nicht fürchten muss, betroffen zu desregierung auf Drucksache 19/12084 in der Ausschuss- sein. Wir wollen nicht regeln, ob die Datenschutz-Grund- fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – CDU/ verordnung eine marktrelevante Tatsache ist oder nicht – CSU, SPD. Wer stimmt dagegen? – AfD und Grüne. Ent- das sollen die Gerichte entscheiden –; wir wollen aber haltungen? – FDP und Linke. Der Gesetzentwurf ist deutlich machen, dass diejenigen, die sich ehrenamtlich damit in der zweiten Beratung angenommen. engagieren, zukünftig nicht auch noch Abmahnungen Wir kommen zur wegen der Datenschutz-Grundverordnung befürchten dritten Beratung müssen. Das ist also auch ein Gesetz, welches denen hilft, die sich tatsächlich engagieren. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Es Zum Schluss jetzt noch eine kurze Bemerkung zum erheben sich die Mitglieder der Fraktionen von CDU/ Thema „Designschutz und Reparaturklausel“. Ich glaube, CSU und SPD. Wer stimmt dagegen? – Das sind die es ist richtig, dass wir eine Unterscheidung zwischen den Abgeordneten der Fraktionen AfD und Bündnis 90/Die Bauteilen, die ab sofort hergestellt werden, und denjeni- Grünen. Enthaltungen? – FDP und Linke. Der Gesetzent- gen, Frau Kollegin Rawert, die bereits produziert werden, wurf ist angenommen. getroffen haben. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- (Mechthild Rawert [SPD]: Ja, da bin ich ande- ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf rer Meinung!) Drucksache 19/22263. Wer stimmt für den Entschlie- ßungsantrag? – Das sind die Grünen und die Fraktion Warum? Weil es um den Schutz geistigen Eigentums Die Linke. Gegenprobe! – Alle übrigen Fraktionen des geht. Wir müssen hier einen Kompromiss finden bezogen Hauses. Enthaltungen? – Keine. Der Entschließungsan- auf die Bauteile, die neu hergestellt werden und bei denen trag ist damit abgelehnt. die Hersteller wissen, dass sie keinen Designschutz mehr haben, und die Bauteile, die im Vertrauen darauf produ- Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der ziert worden sind, dass es einen Rechtsschutz gibt. AfD zur Bekämpfung des Abmahnmissbrauchs. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt (Ingmar Jung [CDU/CSU]: So ist es!) unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf 21748 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Drucksache 19/22238, den Gesetzentwurf der Fraktion Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt für die Fraktion (C) der AfD auf Drucksache 19/13205 abzulehnen. Ich bitte der CDU/CSU der Kollege Johannes Röring. diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, (Beifall bei der CDU/CSU) um das Handzeichen. – Das ist die Fraktion der AfD. Wer stimmt dagegen? – Alle übrigen Fraktionen des Hau- ses. Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist in Johannes Röring (CDU/CSU): zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es Geschäftsordnung die weitere Beratung. ist schon dreist, wie FDP und AfD in ähnlicher Weise heute Abend wieder einmal versuchen, den Landwirten Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp- Sand in die Augen zu streuen fehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucher- schutz auf Drucksache 19/22238 fort, wo der Ausschuss (Stephan Thomae [FDP]: Na, na, na! – Carina unter Buchstabe c die Ablehnung des Antrags der Frak- Konrad [FDP]: Haben Sie den Antrag denn tion der FDP auf Drucksache 19/13165 mit dem Titel gelesen?) „Maßnahmen für mehr Fairness bei Abmahnungen“ emp- und ihnen weiszumachen, dass die Düngeverordnung in fiehlt. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Aus- irgendeiner Weise zurückgedreht werden kann. Sie ist schusses? – Das ist die Koalition, CDU/CSU und SPD, beschlossen, und sie gilt. Und mir muss auch keiner und das ist die AfD. Gegenprobe! – Dagegen stimmt die erzählen, was diese Düngeverordnung den Landwirten FDP-Fraktion. Enthaltungen? – Bündnis 90/Die Grünen abverlangt. Das ist mir sehr wohl bekannt. und Linke. Die Beschlussempfehlung ist damit angenom- Ich weiß aber auch, wie groß der Druck aus Brüssel men. gewesen ist, die Düngeverordnung im Zuge der Umset- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d zung der Nitratrichtlinie zu verschärfen. Eine Geldstrafe, seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags die drohte, hat mir nicht die meisten Sorgen gemacht. der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache Meine größere Sorge war, dass uns die Brüsseler selber 19/6438 mit dem Titel „Abmahnungen – Transparenz die Düngeverordnung vorschreiben würden, und Rechtssicherheit gegen Missbrauch“. Wer stimmt (Zuruf des Abg. Stephan Protschka [AfD]) für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? – CDU/CSU, SPD, FDP und AfD. Gegenprobe! – Bünd- und die wäre dann so scharf geworden, wie es sich einige nis 90/Die Grünen und Linke. Enthaltungen? – Keine. von den Grünen, von den NGOs und von den Wasserwirt- Die Beschlussempfehlung ist angenommen. schaftlern gewünscht hätten. Ich rufe die Zusatzpunkte 11 und 12 auf: (Artur Auernhammer [CDU/CSU]: So ist es!) (B) ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Es ist ein sehr durchsichtiges Manöver, Herr Hocker (D) Berichts des Ausschusses für Ernährung und und Herr Protschka, wie Sie sich hier als Retter der Landwirtschaft (10. Ausschuss) zu dem Antrag Bauern aufblasen. Gleich geht es dann mit der nament- der Abgeordneten Stephan Protschka, Berengar lichen Abstimmung weiter, und morgen kommt wieder Elsner von Gronow, Peter Felser, weiterer Abge- die Entrüstung in den sozialen Medien. Das haben Sie ordneter und der Fraktion der AfD ja schon öfter geübt. Antrag auf abstrakte Normenkontrolle beim (Artur Auernhammer [CDU/CSU]: Mehr kön- Bundesverfassungsgericht gemäß Artikel 93 nen die auch nicht!) Absatz 1 Nummer 2 des Grundgesetzes wegen Was mich auch ärgert, ist, dass Sie, AfD und FDP, die der Verordnung zur Änderung der Düngever- Arbeit meiner Kollegen in unserer Arbeitsgruppe so ordnung und anderer Vorschriften geringschätzen. Wir haben nämlich mit Albert Drucksachen 19/19158, 19/20235 Stegemann, Artur Auernhammer, Hermann Färber, Hans von der Marwitz, Kees de Vries und noch vielen ZP 12 Beratung der Beschlussempfehlung und des mehr echte Fachleute in unserer Arbeitsgruppe, Berichts des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) zu dem Antrag (Stephan Thomae [FDP]: Nützt es was?) der Abgeordneten Dr. , echte Bauern, die ihr Handwerk verstehen, die aber auch Frank Sitta, Carina Konrad, weiterer Abgeordne- Fachwissen haben, und das ist in der Politik angesichts ter und der Fraktion der FDP der komplizierten Düngeverordnung ja nicht falsch. Mit ihnen kann man über Pflanzenernährung, über Bodenver Praxisgerechte Düngeverordnung für echten - Umweltschutz besserung reden, sie kennen das Gesetz des Minimums, die Liebig’sche Tonne, sie wissen, was eine Weender Drucksachen 19/11109, 19/13642 Analyse ist, sie sind Fachleute. Und Sie sind Schaum- Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der schläger. Fraktion der AfD werden wir nach der Aussprache (Beifall bei der CDU/CSU) namentlich abstimmen. Sie unterschlagen auch den enormen Einsatz von Gitta Für die Aussprache selbst ist eine Dauer von 30 Minu- Connemann und unserer Ministerin Julia Klöckner, die ten beschlossen. mit ihrer Mannschaft in Brüssel für uns gekämpft haben. Wir könnten anfangen, wenn Sie sich entscheiden wür- Mehr war nicht drin. den, hierzubleiben oder rauszugehen. – Danke schön. (Lachen bei Abgeordneten der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21749

Johannes Röring (A) Jetzt muss die Düngeverordnung umgesetzt werden. In (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE (C) Kürze wird der Bundesrat beschließen, dies einheitlich zu GRÜNEN]: Ach nee!) machen Damit der Boden aber nicht verarmt und die neu (Franziska Gminder [AfD]: Alles über einen gepflanzten Pflanzen über ausreichend Nährstoffe verfü- Kamm!) gen, müssen die dem Boden entzogenen Nährstoffe wie- der ergänzt werden. Genau aus diesem Grund wird und auch Einträge aus anderen diffusen Quellen in die gedüngt. Gewässer und das Grundwasser miteinzubeziehen. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das Messstellennetz – und dabei bleibe ich – muss NEN]: Wow! – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/ über jeden Zweifel erhaben sein. DIE GRÜNEN]: Ui! – Ulli Nissen [SPD]: Das (Zuruf von der AfD: Ist es aber nicht!) haben alle nicht verstanden! Bitte noch mal von Auch die Binnendifferenzierung ist demnächst Pflicht vorn!) und muss umgesetzt werden, so wie es in hervorragender Unsere heimischen Landwirte sind absolute Experten in Weise unsere Ministerin Ulla Heinen-Esser in Nordrhein- dem Bereich und benötigen hierbei weder Belehrungen Westfalen macht. durch Berufspolitiker noch pauschale Düngeverordnun- gen vom grünen Reißbrett, die die regionalen Bodenbe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – sonderheiten ja gar nicht berücksichtigen können. Dr. [AfD]: So viel Weih- rauch!) (Beifall bei der AfD – Sylvia Kotting-Uhl Meine Damen und Herren, Mut macht mir auch, wie [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war jetzt viele Landwirte dieses Thema beherzt anpacken und aber nicht naturwissenschaftlich! Das war eher investieren. Zum Beispiel haben sich in meinem Wahl- populistisch!) kreis 90 Landwirte aufgemacht und investieren 17 Millio- Die von Ihnen verabschiedeten neuen Verschärfungen nen Euro in eine Anlage, die aus Gülle erst mal regenera- in der Düngeverordnung sind grundgesetzwidrig und tive Energie und dann auch noch wertvollen organischen widersprechen diesem einfachen Düngeprinzip. Bei- Dünger gewinnt. spielsweise sollen landwirtschaftliche Flächen, die angeblich zu sehr mit Nitrat belastet sind, ab nächstem Es gibt viele dezentrale Projekte. Zum Beispiel möchte Jahr nur noch mit 80 Prozent der benötigten Pflanzen- ich Projekte erwähnen, bei denen es darum geht, aus nährstoffe gedüngt werden dürfen. Das wäre gerade so, Gärresten und Gülleresten Torfersatz zu machen. Das als würden Sie mit dem Auto von Berlin nach München hilft dem Moor, vermeidet Emissionen und hilft den fahren – eine Fahrstrecke von circa 600 Kilometern –, (B) Betrieben bei der Verarbeitung von Dünger ganz enorm. (D) aber Sprit für nur 480 Kilometer kaufen würden. Gut, Diese Initiativen gilt es zu unterstützen. Landwirte, die die Grünen würden mit dem E-Auto fahren – die kämen zusätzlichen Lagerraum schaffen, die in die Gülle- und nie an. Gärrestverarbeitung, in neue Ausbringtechniken investie- (Heiterkeit bei Abgeordneten der AfD) ren, aber auch Wasserkooperationen mit den Wasserwer- ken eingehen, gilt es auch finanziell zu unterstützen. Das Aber Sie kämen auch nicht an, weil Ihnen der Sprit aus- ist CDU/CSU-Politik. Falsche Versprechungen, Herr ginge. Hocker, helfen den Bauern einfach nicht. (Beifall bei der AfD) Vielen Dank fürs Zuhören. Mit diesen Auflagen zerstören Sie langfristig die (Beifall bei der CDU/CSU) Bodenfruchtbarkeit und verhindern jeglichen Humusauf- bau. Das ist umweltschädlich und nicht umweltfreund- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: lich, meine Damen und Herren. Der Anbau von Brotwei- zen und Gemüse wird ebenfalls unmöglich. In Folge Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Kollege werden wir also noch mehr Lebensmittel aus Ländern Stephan Protschka. importieren müssen, die deutlich niedrigere Produktions- (Beifall bei der AfD) standards haben als wir; gar nicht zu reden von den wirt- schaftlichen Folgen für die kleinen und mittleren land- Stephan Protschka (AfD): wirtschaftlichen Familienbetriebe. Sie haben einige Habe die Ehre, Herr Präsident! Servus, liebe Kollegin- Kollegen genannt, Herr Röring. Das sind ja alles Groß- nen und Kollegen! Gott zum Gruße, liebe Gäste hier im grundbesitzer; Sie sprechen ja nicht von kleinen Land- Hohen Haus und zu Hause am TV-Gerät! Weil große wirten. Teile der Anwesenden scheinbar immer noch Probleme Allein die neuen verfassungswidrigen Auflagen belas- mit den naturwissenschaftlichen Zusammenhängen ten die Landwirtschaft mit Kosten von jährlich mindes- haben, beginne ich mit dem kleinen Einmaleins der Dün- tens 299 Millionen Euro. Sie zerstören Existenzen. Sie gung: zerstören Familien, meine Damen und Herren. (Zuruf der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜND- (Beifall bei der AfD) NIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich weiß ganz genau – ich meine, Herr Röring hat Nach der Ernte werden mit dem Erntegut auch die darin damit schon begonnen –, dass Sie jetzt gleich mit der enthaltenen Pflanzennährstoffe abtransportiert. Leier anfangen: Ja, die Verschärfung der Düngeverord- 21750 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Stephan Protschka (A) nung war alternativlos – das ist das Lieblingswort der Rainer Spiering (SPD): (C) Regierungspartei und der Frau Merkel –, weil die EU- Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, Kommission Deutschland sonst zu hohen Strafzahlungen Herr Protschka, Sie sollten Ihren eigenen Antrag mal verdonnern wird. – Dabei wissen Sie ganz genau, dass lesen. das falsch ist. Jahrelang haben die zuständigen Ministe- rien getrickst und völlig überhöhte Nitratwerte aus einem (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE nicht repräsentativen Messnetz an die EU gemeldet. Es GRÜNEN]: Hat er nicht!) ist also kein Wunder, dass die EU-Kommission aufgrund Sie haben uns ja jetzt ziemlich viel von den bäuerlichen der falschen Datengrundlage falsche Schlüsse ziehen Existenzen erzählt. Ich habe gelernt, dass alle Kollegin- muss. nen und Kollegen von der CDU und CSU Groß- grundbesitzer sind; das lasse ich mal so im Raum stehen. (Zuruf der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜND- Ich glaube aber, das ist nicht der Fall. NIS 90/DIE GRÜNEN]) Viel schlimmer, Herr Protschka, ist etwas völlig ande- Bei einer grundlegenden Überprüfung der Nitratwerte res. Sie streben ein Normenkontrollverfahren vor dem würden wir feststellen, dass wir in Deutschland keine Bundesverfassungsgericht an. Nitratprobleme haben; (Artur Auernhammer [CDU/CSU]: Der weiß (Marianne Schieder [SPD]: Oje! Oje! So wie doch gar nicht, was das ist!) wir kein Corona haben, so haben wir auch kein Jetzt machen Sie Folgendes – ich will Ihnen das gerne Nitrat!) mal vorlesen, wenn Sie Ihren eigenen Antrag nicht ken- nen –: Sie behaupten, die Änderung der Düngeverord- denn 99 Prozent unseres Grundwassers sind sauber. Des- nung schränke die Berufsausübungsfreiheit und die halb brauchen wir uns vor einer Verurteilung des Europä- Eigentumsgarantie in unverhältnismäßiger Weise ein. ischen Gerichtshofes nicht zu fürchten. Aus Ihrem Redebeitrag ist dazu ja nichts herausgekom- men. Da Sie sich jetzt auch als naturwissenschaftlicher (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Experte darstellen, würde ich an beidem große Zweifel Das haben Sie naturwissenschaftlich jetzt äußern. herausgearbeitet!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Darum appelliere ich an jeden anständigen bürgerli- bei Abgeordneten der LINKEN und des chen Abgeordneten, also von der Mitte bis zur rechten BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Seite des Hauses, sich unserer Normenkontrolle anzu- (B) schließen und dadurch dafür zu sorgen, die verfassungs- Jetzt wird es aber noch viel schlimmer – und da wird (D) widrigen Verschärfungen der Düngeverordnung rückgän- der Antrag der AfD meiner Ansicht nach hochgradig gig zu machen. Jeder Einzelne von Ihnen hat jetzt noch gefährlich –: mal die Chance, die Existenz Zehntausender kleiner und (Zuruf von der AfD: Oh! – Weiterer Zuruf von mittlerer deutscher Familienbetriebe zu schützen, die der AfD) ansonsten unwiederbringlich ihre Hoftore schließen müs- sen. – Nein, für die Landwirtschaft. – Gesetzt den Fall, wir wären so bekloppt und würden Ihnen heute folgen, dann Bitte helfen Sie uns dabei, die bäuerliche Landwirt- würden Sie das Bundesverfassungsgericht zwingen, zwi- schaft in Deutschland zu erhalten; denn spätestens in schen Ihren vermeintlichen Eigentumsrechten und einem der übernächsten Wahlperiode, wenn ich unter einem wesentlich höheren Gut abzuwägen, nämlich der Unver- AfD-Kanzler Landwirtschaftsminister bin, sehrtheit von Boden, Luft und Wasser. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜND- Abg. Stephan Protschka [AfD]) NISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn Sie das Bundesverfassungsgericht dazu zwingen gibt es vernünftige Politik für Umwelt, Landwirtschaft würden, diese Abwägung zu treffen, dann wäre das Urteil und Tierschutz. klar. Und wissen Sie, wen Sie dann an den Pranger stellen würden? Die Landwirte. Danke schön, meine Damen und Herren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der AfD – Marianne Schieder Das wäre völlig unverhältnismäßig, völlig ungerecht [SPD]: Gott sei Dank wird das nie so werden! und – ich sage Ihnen das mal auch im Zusammenhang Es gibt kein Corona, es gibt kein Nitrat! Und mit den Landwirten – eine Mordsschweinerei. der will Landwirtschaftsminister werden!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Für die Fraktion der SPD hat der Kollege Rainer Ich sage Ihnen aus siebenjähriger Erfahrung: Es gibt Spiering das Wort. Anträge, die sind überflüssig. Einige sind nicht zeitge- mäß, einige oder viele von der AfD sind nicht europa- (Beifall bei der SPD) rechtskonform, und es gibt Schaufensteranträge. Ihren Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21751

Rainer Spiering (A) Antrag würde ich heute unter „Nepper, Schlepper, prüfen zu können. Wir müssen ein Immissionsmessnetz (C) Bauernfänger“ fassen. Deswegen werden wir ihn ableh- mit einem Emissionsmessnetz koppeln, wie es die Uni- nen. versität Gießen vorgeschlagen hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich sage Ihnen: Wir können das. Dann können wir in der CDU/CSU und des Abg. Friedrich der Tat auch nach dem Verursacherprinzip vorgehen, und Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) dann können wir Ross und Reiter nennen. Wir werden feststellen, dass ein Großteil der Landwirte sich ord- Die FDP schreibt: Es gibt „Regionen mit zu hohem nungsgemäß verhält. Und einige sind eben nicht so Gülleaufkommen“. – Erst mal herzlichen Dank für die ordentlich; denen können wir dann auf die Finger klop- Erkenntnis. Jetzt kommt die Antwort der FDP darauf: fen. Sie wollen den Wirtschaftsdünger auf die Straße bringen; das steht ja in Ihrem Antrag. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Zurufe von der SPD) Mir geht es aber noch um einen anderen Begriff, und Bei uns heißt so etwas: Gülletourismus. der heißt Respekt: Respekt vor den Menschen, die in Jetzt komme ich ja aus einer Region, die wirtschaftlich diesem Wirtschaftsbereich arbeiten; dazu hat der Sozial- stark ist – ist auch einer ihrer Vertre- minister heute einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wir müs- ter –, mit einer allgemein starken Veredelungswirtschaft. sen sie alle mitnehmen, alle, die in diesem Prozess arbei- Wir haben aber anliegende Regionen – die kennt man ten. Sie müssen alle das Gefühl haben, dass sie anständig vielleicht in Rheinland-Pfalz nicht so – wie das wunder- behandelt werden: der Fleischer, die Fleischerin, die Flei- schöne Weserbergland, den Hochsauerlandkreis, die schereiverkäuferin und der Fleischereiverkäufer, die Leu- Nordsee, Ostfriesland, und was glauben Sie, mit welcher te, die an den Arbeitsbändern stehen, die Leute, die in Begeisterung die applaudieren, wenn wir genau den von diesem Land unter teilweise miserablen Umständen Ihnen vorgeschlagenen Gülletourismus einführen? Des- leben. wegen lehnen wir Ihren Antrag natürlich auch ab. Wenn wir uns mit dem System der Fleischwirtschaft in Deutschland auseinandersetzen, dann müssen wir die (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Friedrich Kette von A bis Z durchleuchten. Dann werden wir Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) auch den Landwirtinnen und Landwirten und unserer Ich bekenne für die SPD ganz eindeutig: Wir wollen Bevölkerung gerecht werden. Aber wir müssen das in Landwirtschaft. Wir wollen Landwirtschaft in Deutsch- einem Kreislauf sehen und Respekt für alle Menschen haben, die in diesem Bereich arbeiten. (B) land, und zwar aus vielen Gründen: um eine Struktur zu (D) erhalten, die über viele Jahrhunderte gewachsen ist, mit Herzlichen Dank fürs Zuhören. eigenständigen Landwirtinnen und Landwirten; um unse- rer Kulturlandwirtschaft willen, die wir unbedingt brau- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten chen. Das hat auch etwas mit unserem Gefühl für unsere der CDU/CSU und des Abg. Friedrich Regionen zu tun, wo wir tief verankert sind. Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Aber wir brauchen auch die Güter, die unser Leben ausmachen: Boden, Luft, Wasser. Deswegen glaube ich Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: auch, dass wir neben dem, was Europa uns androht – Die Kollegin Carina Konrad hat das Wort für die Frak- Geldzahlungen und, und, und –, vor allen Dingen die tion der FDP. Verantwortung für die nachfolgenden Generationen (Beifall bei der FDP) haben, damit sie das mitbekommen, was wir auch mitbe- kommen haben, nämlich die Unversehrtheit unserer natürlichen Umgebung und eine Perspektive, auch in Carina Konrad (FDP): Zukunft gute Böden, saubere Luft und reines Wasser zu Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und haben. Kollegen! Im Antrag der AfD heißt es, der Deutsche Bundestag begrüßt, wenn sich Abgeordnete in ausreich- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sylvia ender Zahl zusammenfinden, um beim Bundesverfas- Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) sungsgericht gegen die Düngeverordnung zu klagen. Lie- be Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße auch vieles. Die Frage, die Sie hier aufwerfen – die hat Johannes Ich hätte es auch begrüßt, wenn sich genug Abgeordnete Röring eben aufgeworfen –, ist die der Messnetze. Da zusammengefunden hätten, um die Düngeverordnung macht sich natürlich dann auch eine etwas klüngelige erst mal praxisgerecht zu formulieren. Ich hätte es auch Politik in Deutschland bemerkbar. Als man sich vor begrüßt, wenn sich genug Abgeordnete zusammengefun- 30 Jahren entschlossen hat, die Messnetze zu nutzen, da den hätten, um die Düngeverordnung sachgerecht zu waren das natürlich Immissionsmessnetze. Es gab noch überarbeiten. Aber das ist unrealistisch, und das haben gar nicht die Möglichkeit, diese mit Emissionsmessnet- die letzten Monate hier gezeigt. Das haben CDU, CSU zen zu koppeln. und SPD gemeinsam hier in diesem Haus bewiesen. Das Wenn wir mit den Landwirtinnen und Landwirten und haben sie letztendlich auch mit ihrer Entscheidung im auch mit unserer Bevölkerung gut umgehen wollen, dann Bundesrat bewiesen. Da waren es ausschließlich die Län- nutzen wir das, was dieses Deutschland kann, nämlich die der mit Regierungsbeteiligung der Freien Demokraten, Digitalisierung, um Daten zu erheben, um das alles über- die diesem Unsinn nicht zugestimmt haben. 21752 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Carina Konrad (A) (Beifall bei der FDP) mittel einsetzt, der schont nicht nur die Klimabilanz, der (C) Mit Ihrem Antrag zum Normenkontrollverfahren hal- tut auch etwas für die Bodenfruchtbarkeit. Deshalb ist es ten Sie den Landwirten eine Möhre vor die Nase, die so wichtig, organische Dünger einzusetzen und dadurch unerreichbar ist, und das wissen Sie. auch mineralische Dünger einzusparen. Die letzten drei Jahre haben doch deutlich gezeigt, wo die Dürre zuge- (Stephan Protschka [AfD]: Weil ihr zu langsam nommen hat. Es zeigt doch, wie wichtig in Zukunft ein wart!) vernünftiges Wasser- und Nährstoffmanagement sein Statt sich jetzt sachlich einzubringen – das hat Ihr Beitrag wird. hier eben deutlich gezeigt –, krakeelen Sie lauthals. Das führt garantiert nicht zum Ziel, sondern es kostet Zeit, Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: und – das wurde hier auch schon gesagt – das ist Zeit, Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende. die die Landwirte nicht haben. Denn die Investitionen, die benötigt werden, um diese Verordnung, die jetzt ver- abschiedet wurde, umzusetzen, müssen jetzt getätigt wer- Carina Konrad (FDP): den. Herr Präsident, ich komme zum Ende. – Ohne Organe gibt es keinen Humus, und ohne Humus gibt es auch Mit der AVV zur Ausweisung der roten Gebiete wurde keine Steigerung von Wasser- und Nährstoffspeicherver- von der Bundesregierung eine Lücke geschaffen, um die mögen. Das war der fachliche Teil, vielleicht auch für die Schwachstellen der Düngeverordnung zu schließen. Wir Kollegen der AfD-Fraktion. Freien Demokraten fordern die Bundesregierung jetzt auch direkt auf, die Düngeverordnung an den Stellen zu Vielen Dank Herr Präsident. überarbeiten, die unpraktikabel sind. Es muss darum gehen, die Gewässerqualität, Rainer Spiering, dort zu Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: verbessern, wo Probleme bestehen. Das geht auch, ohne Der Kollege Ralph Lenkert hat das Wort für die Frak- Existenzen zu ruinieren; da sind wir uns ganz sicher. tion Die Linke. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der LINKEN) Unser Antrag, um darauf einzugehen, fordert im Wesentlichen zwei Dinge – wenn Sie ihn gelesen hätten, Johannes Röring, hätten Sie das gesehen –: Wir fordern Ralph Lenkert (DIE LINKE): einen verursachergerechten Ansatz. Wer nachweislich Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle- keine problematischen Nitratemissionen verursacht, für gen! Bei der Nitratrichtlinie geht es um sauberes Trink- (B) den muss es Ausnahmen von einer strengen Regulierung wasser für alle Menschen, auch in Deutschland, und es ist (D) geben. Mit der AVV zur Ausweisung scheint die Bundes- schon empörend, wie AfD und FDP dies in ihren Anträ- regierung diesen Weg jetzt endlich zu gehen, und das gen ignorieren. 27 Prozent der Grundwasserkörper in begrüßen wir ausdrücklich; das will ich hier auch sagen. Deutschland enthalten zu viel Nitrat. Die Wasserwerke Mittels des Modellansatzes AGRUM soll jetzt endlich im Kreis Ludwigsburg nördlich von Stuttgart zum Bei- eine echte Binnendifferenzierung stattfinden können, spiel müssen ihr Wasser mit Wasser aus dem Bodensee eine Binnendifferenzierung, die wir übrigens schon seit mischen, der 100 Kilometer entfernt ist, nur um die Beginn dieses Prozesses fordern. Grenzwerte einhalten zu können. Deutschlandweit wer- den Trinkwasserbrunnen stillgelegt, weil Nitratwerte zu Aber wir begrüßen nicht alles; das möchte ich hier hoch sind, und regional warnen Behörden vor der Nut- auch ausdrücklich sagen. Es besteht immer noch großer zung von Wasser aus privaten Brunnen, weil dies für Nachbesserungsbedarf bei der Verordnung. Da sind wir Babys und Kleinkinder schädlich ist. Wie ignorant muss beim Thema Phosphor. Es kann nicht sein, dass Land- man sein, diese Trinkwasserprobleme auszublenden? wirte für schlechte Gewässer verantwortlich gemacht werden, wenn 80 Prozent der Phosphateinträge nach- (Beifall bei der LINKEN) weislich aus nichtlandwirtschaftlichen Ursachen stam- Die Trockenheit verschärft die Probleme. Daher ist es men. Wer so reguliert, macht sich nicht nur fachlich besser, diese nicht optimale Düngemittelverordnung für lächerlich, der macht auch den Bock zum Gärtner und den Trinkwasserschutz zu haben, als sie nicht zu haben. eine ganze Branche zum Sündenbock. Denn sauberes Wasser ist ein Menschenrecht und für Die (Beifall bei der FDP) Linke nicht verhandelbar. Es ist doch klar, dass alle Verursacher in den Blick (Beifall bei der LINKEN) genommen werden müssen. Im letzten Jahr bei einem Starkregenereignis in Berlin sind 45 000 Kubikmeter Das meiste Nitrat stammt aus der Landwirtschaft. Abwasser ungeklärt in die Spree eingeleitet worden. Da Durch eine falsche Agrarförderung, ausgerichtet auf braucht man doch keine feine Nase, wenn man durch die höchste Erträge, auf Exportüberschüsse und auf einen Straßen geht, um zu riechen, dass hier etwas gewaltig Wettbewerb mit Dumpingpreisen für Landwirtschafts- stinkt. produkte, haben die unionsgeführten Landwirtschaftsmi- nisterien ein Zusammengehen von Landwirtschafts- und Wir fordern noch eine zweite Sache in unserem Trinkwasserschutz verhindert. Dieses Dilemma muss Antrag. Rainer Spiering, wir fordern Vorfahrt für organi- aufgelöst werden. sche Dünger. Denn Gülle und Mist sind wertvolle Wirt- schaftsdünger. Wer organische statt mineralische Dünge- (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21753

Ralph Lenkert (A) Die Linke will eine andere Landwirtschaftspolitik. Wir Ja, Kolleginnen und Kollegen, die abstrakte Normen- (C) wollen maximale Viehbestände von 1,5 Großviehein- kontrollklage ist ein wichtiges Rechtsmittel für indivi- heiten je Hektar. Wir wollen eine bessere Förderung duelle Freiheits- und Grundrechte. Aber die konstruierte von Umweltdienstleistungen und natürlich auch einen Einschränkung der Eigentums- und Berufsfreiheit durch Ausgleich von Verlusten für Landwirtinnen und Land- die neue Düngeverordnung, die die AfD konstruiert, ist wirte, die durch Umweltmaßnahmen entstehen. doch schlicht absurd. Das ist eine offensichtliche gefähr- (Beifall bei der LINKEN) liche Irreführung der Allgemeinheit. Es ist billiger Popu- lismus, nicht mehr und nicht weniger. 1991 erließ die EU die Nitratrichtlinie. Alle Bundes- regierungen verdrängten das Problem, egal ob mit Union, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SPD, FDP oder Grünen besetzt, und die Nitratwerte in sowie bei Abgeordneten der SPD) vielen Trinkwasserbrunnen stiegen. 2014 veranlasste die Die Rechtsauffassung der AfD ist doch: Jeder hat das EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Recht, die Umwelt aus Eigennutz auf Kosten und zum Deutschland. Aber erst 2017 handelte die Bundesregie- Nachteil aller zu verschmutzen. Sie demaskieren sich rung mit einer unzureichenden Verordnung. Und erst als doch selbst, wenn Sie meinen, die uneingeschränkte Nut- eine Strafzahlung von bis zu 850 000 Euro pro Tag droh- zung des Privateigentums stehe höher als öffentliche te, wurde die Verordnung im März 2020 – 29 Jahre nach Gemeingüter. Dahinter steht bei Ihnen ein gänzlich aso- Verabschiedung der EU-Nitratrichtlinie – verabschiedet. zialer, ultraliberaler, gemeinschaftsschädlicher Freiheits- Ob unter Zeitdruck oder aus Dummheit die CDU- begriff. Regierung Fehler machte, ist uns nicht bekannt. Aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN jetzt droht durch die Fehler bei der Verabschiedung der und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Richtlinie eine juristische Blockade beim Trinkwasser- der SPD – Dr. Marco Buschmann [FDP]: Ich schutz. Liebe Bürgerinnen und Bürger, ein solch unver- verbitte mir, das liberal zu nennen!) antwortliches Handeln der Bundesregierung gefährdet unser Trinkwasser, und es ist bedauerlich, dass erst die Mit über 50 Jahren Berufserfahrung als Bauer und EU die Regierung an ihre Pflicht zum Schutz der Gesund- nicht als Großgrundbesitzer, Herr Protschka, fühle ich heit erinnern musste. mich dem Erbe, das mir mitgegeben wurde, dem Gemein- wohl und den Interessen zukünftiger Generationen tief (Beifall bei der LINKEN) verpflichtet. Die Koalition muss dringend ihre Fehler korrigieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich wiederhole: Trinkwasser ist ein Menschenrecht und sowie bei Abgeordneten der LINKEN) keine Spielwiese für politische Spielchen. (B) Die Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums, Herr (D) (Beifall bei der LINKEN) Protschka, der Erhalt unserer natürlichen Lebensgrund- Den AfD-Antrag, der nichts weiter bewirkt als eine lage und der bäuerlichen Landwirtschaft sind wichtige weitere Blockade beim Trinkwasserschutz und der die Gemeingüter, die wir zu schützen haben. Gesundheit unserer Bürgerinnen und Bürger gefährdet, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnen wir ab. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- (Beifall bei der LINKEN) KEN) Dieses Denken in Generationen, das wir Bauernkinder Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: mitbekommen haben – Gemeinwohl- und Bodenverbun- Der Kollege Friedrich Ostendorff hat das Wort für denheit –, ist Ihnen doch vollkommen abhandengekom- Bündnis 90/Die Grünen. men und fremd. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) Ihnen geht es um Polarisierung, um Spaltung der Gesell- Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schaft. NEN): (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Herr Präsident! Machen wir kein langes Federlesen: SES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Ulli Was wir heute wieder mal von Rechtsaußen vorgesetzt Nissen [SPD]) bekommen, soll eine Vorführung des Parlaments, des Parlamentarismus, eine Verhöhnung des Rechtsstaates, Sie wollen die Demokratie vorführen und zerschlagen. eine Verhöhnung unserer Demokratie sein, nicht mehr Dafür werden wir Ihnen hier keine Bühne bieten, auch und nicht weniger. Ihnen geht es doch überhaupt nicht nicht für solche Anträge. Wir lehnen deshalb Ihren um eine sachliche Klärung der Düngeverordnung; das Antrag entschieden ab. ist doch alles vorgeschoben. Sie missbrauchen unsere Übrigens, ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass demokratischen Instrumente für Ihre undemokratischen Sie von der FDP nicht in der Lage sind, sich zu solch Interessen. einem unmöglichen Antrag klar zu positionieren. Das (Beifall der Abg. Dr. Franziska Brantner nehmen wir mit großem Bedauern zur Kenntnis. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Was Sie uns heute wieder aufbürden, ist an Absurdität sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der überhaupt nicht zu überbieten. SPD und der LINKEN) 21754 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Friedrich Ostendorff (A) Aber auch Ihren eigenen populistischen Antrag in dem die Gülle auf die Straße bringen? – Nein, wir brauchen (C) vordergründigen Bemühen, dumpfe Stimmungen zu lösungsorientierte Ansätze, und die Grundlage dafür ist bedienen, jetzt mit der Düngeverordnung gelegt. (Lachen des Abg. Dr. Marco Buschmann Auch ich weiß, wir müssen an der einen oder anderen [FDP]) Stelle noch nachjustieren. In den sogenannten grünen Gebieten, die nicht belastet sind, wo die Niederschläge lehnen wir als Grüne ab. So werden wir das Problem mit sehr stark sind, sind 170 Kilogramm Stickstoff pro Hektar dem Nitrat nicht lösen. einfach zu wenig; da können wir noch mehr düngen. Auf der anderen Seite sind die roten Gebiete eine große (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herausforderung für die Betriebe; die müssen dement- sowie bei Abgeordneten der SPD) sprechend reagieren. Wir als Regierungskoalition haben uns darauf verständigt, diese Betriebe zu unterstützen und Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: ihnen Lösungsansätze zu bieten. Diese Unterstützung Der nächste und letzte Redner zu diesem Tagesord- wird natürlich auch im Bereich der Digitalisierung erfol- nungspunkt ist der Kollege Artur Auernhammer, CDU/ gen. Es gibt moderne Techniken, es gibt umweltfreund- CSU-Fraktion. liche Techniken. Wer, wenn nicht Deutschland, könnte sie einsetzen? Wer, wenn nicht wir in der deutschen (Beifall bei der CDU/CSU) Landwirtschaft? Ich sage ganz offen: Mich schreibt auch der eine oder Artur Auernhammer (CDU/CSU): andere Biobauer an, der ebenfalls Probleme mit den Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- hohen Auflagen hat. Auch diese Betriebe werden wir legen! Seit gestern Abend diskutiert die deutsche Land- unterstützen. wirtschaft über ein ganz anderes Thema. Gerade unsere Schweinehalter blicken mit Sorge auf die Entwicklung Mir ist es ein großes Bedürfnis, heute auf eines hinzu- bei der Afrikanischen Schweinepest. Ich bin in diesen weisen: In den letzten Wochen und Monaten wurde oft Stunden und Tagen dankbar dafür, dass wir im Bundes- über eine sogenannte Radikalisierung innerhalb der landwirtschaftsministerium sehr gut vorbereitet sind und Landwirtschaft diskutiert. Meine Damen und Herren, dieser großen Herausforderung für unsere heimische die Landwirtschaft radikalisiert sich nicht. Es gibt Ein- Landwirtschaft begegnen und sie auch meistern können. zelne, die über die Stränge schlagen. Einzelne haben zum Beispiel bei der Kabinettssitzung am Herrenchiemsee Meine sehr verehrten Damen und Herren, so war es politisch Verantwortliche – auch das sind Menschen – (B) auch bei der Düngeverordnung. Wir haben hier in diesem als „Totengräber“ bezeichnet. Ich finde das unmöglich. (D) Hause lange gestritten, wir haben lange diskutiert, und Und als die europäischen Landwirtschaftsminister in wir haben einen Kompromiss erreicht. Es wäre hilfreich Koblenz zusammenkamen, waren es wieder Einzelne, gewesen, wenn die FDP heute hier nicht wieder versucht die politisch Verantwortliche in unserem Land als „Hen- hätte, die Regierungskoalition vorzuführen, wo doch die ker der Landwirtschaft“ bezeichnet haben. Meine sehr FDP-Landesminister im Bundesrat ganz anders entschei- verehrten Damen und Herren, das geht zu weit. Davon den. müssen wir uns deutlich distanzieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulli (Beifall bei der CDU/CSU) Nissen [SPD]: Hört! Hört!) Die Anträge der AfD und der FDP – ich mache zwi- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die AfD- schen den beiden keinen Unterschied mehr – Fraktion will Verfassungsklage erheben, weil sie die (Carina Konrad [FDP]: Das ist eine Unver- Eigentumsgarantie gefährdet sieht. Es geht hier aber schämtheit!) auch um das Recht auf eine saubere Umwelt; das müssen wir abwägen. Der Kollege Spiering hat es ausgeführt. tragen nicht dazu bei, dass man die Probleme objektiv Dieser Schuss kann so was von nach hinten losgehen; angeht und löst. Das ist Polarisierung in höchstem aber das ist Ihnen ja egal. Fachlich sind Sie ja gar nicht Maße, und das müssen wir verurteilen. gut aufgestellt; das haben wir mitbekommen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ordneten der SPD) der SPD) Es hat jetzt zum ersten Mal die sogenannte Zukunfts- Meine Damen und Herren, jeder Landwirt, der nach kommission Landwirtschaft im Bundeskanzleramt guter fachlicher Praxis arbeitet, weiß, dass er auch eine getagt, auf Einladung der Bundeskanzlerin. Ich bin zuver- Verantwortung für die Umwelt hat. Das haben uns viele sichtlich; denn hier sitzen alle wichtigen Akteure am Landwirte in den letzten Wochen und Monaten gesagt. So Tisch, und auch alle, die dazukommen wollen, sind zu arbeiten viele Landwirte seit Generationen in unserem den Arbeitsgruppen eingeladen. Sie werden über Land. Zukunftsthemen der Landwirtschaft diskutieren. Das ist kein Thema, das man für billigen Populismus missbrau- Zu dem Antrag der FDP, nach dem die Gülle quer chen sollte, weil man nur auf die nächste Wahl schielt, durch Deutschland transportiert werden soll, sage ich: sondern das ist ein generationenübergreifendes Thema. Mir reicht es schon, dass wir Tiere ewig weit transportie- Deshalb hat es mich sehr gefreut, dass sich die Landju- ren. Auch das gefällt mir nicht. Sollen wir jetzt auch noch gend an dieser Diskussion beteiligt und sich einbringt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21755

Artur Auernhammer (A) Meine sehr verehrten Damen und Herren, gerade in Grüne und Linke. Gegenprobe! – Die FDP. Enthaltun- (C) diesen Tagen, in denen viele Schweinehalter nicht wis- gen? – Die AfD. Die Beschlussempfehlung des Aus- sen, wie sie nächste Woche ihre Schweine verkaufen schusses ist damit angenommen. können, in denen viele Zuchtsauenbetriebe nicht wissen, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: wer ihnen ihre Ferkel noch abkauft, sollten wir wirklich abrüsten. Wir sollten nicht polarisieren, sondern bei land- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- wirtschaftlichen Themen zum gesunden, normalen Men- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur aktuel- schenverstand zurückkommen. Den vermisse ich bei den len Anpassung des Freizügigkeitsgesetzes/EU Anträgen von AfD und FDP. und weiterer Vorschriften an das Unionsrecht Danke schön. Drucksache 19/21750 (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Inneres und Heimat (f) ordneten der SPD) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ich schließe die Aussprache. Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- beschlossen. fehlung des Ausschusses für Ernährung und Landwirt- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem schaft zu dem Antrag der Fraktion der AfD mit dem Titel Parlamentarischen Staatssekretär Stephan Mayer. „Antrag auf abstrakte Normenkontrolle beim Bundesver- fassungsgericht gemäß Artikel 93 Absatz 1 Nummer 2 (Beifall bei der CDU/CSU) des Grundgesetzes wegen der Verordnung zur Änderung der Düngeverordnung und anderer Vorschriften“. Stephan Mayer, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- nister des Innern, für Bau und Heimat: Zu der namentlichen Abstimmung liegt eine Erklä- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin- rung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung nen und Kollegen! Auch wenn aus nachvollziehbaren vor.1) Gründen nach wie vor die Coronapandemie die öffent- Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- liche Wahrnehmung beherrscht, müssen wir klar sehen: lung auf Drucksache 19/20235, den Antrag der Fraktion Es gibt auch andere Themen, die unsere Zukunft in der AfD auf Drucksache 19/19158 abzulehnen. Die Frak- Deutschland, aber auch darüber hinaus nachhaltig beein- tion der AfD hat namentliche Abstimmung verlangt. flussen werden und die deshalb ein entschiedenes Han- (B) (D) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, wenn deln des Gesetzgebers erfordern. ich die Abstimmung eröffnet habe, trotzdem noch kurz Zu diesen Themen gehört der Brexit, der Austritt des hierzubleiben; denn wir müssen noch eine weitere Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union, Abstimmung durchführen. Um größere Ansammlungen der, wie Sie wissen, zum 1. Februar dieses Jahres statt- vor den Urnen zu vermeiden und den notwendigen gefunden hat – demokratisch legitimiert mit dem Refe- Abstand voneinander wahren zu können, haben Sie rendum aus dem Jahr 2016, aber – das möchte ich an der nach der Eröffnung der namentlichen Abstimmung wie- Stelle festhalten, zumindest für den Großteil dieses der 30 Minuten Zeit, um in der Westlobby Ihre Stimme Hohen Hauses – mit großem Bedauern zur Kenntnis abzugeben. genommen wurde. Aber wir müssen uns mit der Realität Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die abfinden. Es ist ausweislich des Austrittsabkommens fest vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind die Plätze an vereinbart, dass bis Ende dieses Jahres aller Voraussicht den Urnen besetzt? – Jawohl, das ist der Fall. Ich eröffne nach die Briten die Rechte und die Pflichten verlieren, die die namentliche Abstimmung über die Beschlussempfeh- sie bisher hatten. Aber zum 1. Januar des kommenden lung auf Drucksache 19/20235 zu dem Antrag der Frak- Jahres wird es eine Änderung geben. tion der AfD auf Drucksache 19/19158. Die Abstimmung Gegenstand des Austrittsabkommens ist, die Frage zu wird um 21 Uhr geschlossen. Das bevorstehende Ende klären, wie wir mit den britischen Staatsangehörigen der namentlichen Abstimmung wird Ihnen rechtzeitig umgehen, die sich derzeit in Deutschland aufhalten. bekannt gegeben.2) Unsere Herangehensweise als Bundesregierung ist die, Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- dass wir möglichst unbürokratisch und vor allem auch möglichst offen und human vorgehen. Es wird also so ses für Ernährung und Landwirtschaft zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Praxisgerechte Dünge- aussehen, dass die britischen Staatsangehörigen und verordnung für echten Umweltschutz“. Der Ausschuss ihre Familienangehörigen, aber auch nahestehende Per- sonen, die sich bis zum 31. Dezember dieses Jahres in empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/13642, den Antrag der Fraktion der Deutschland aufhalten, Bestandschutz erfahren. FDP auf Drucksache 19/11109 abzulehnen. Wer für diese Das Gleiche gilt für sogenannte Grenzpendler, also Beschlussempfehlung des Ausschusses stimmt, den bitte britische Staatsangehörige, die in den Niederlanden ich um das Handzeichen. – Das sind CDU/CSU, SPD, oder in Österreich leben und in Deutschland arbeiten. Diese Regelung gilt jetzt schon nicht mehr für den 1) Anlage 6 Umzug innerhalb der Europäischen Union und auch nicht 2) Ergebnis Seite21762 C für Personen, die ab dem 1. Januar 2021 nach Deutsch- 21756 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Parl. Staatssekretär Stephan Mayer (A) land einreisen. Es wird also in Zukunft klar differenziert Ich danke ganz herzlich für die Aufmerksamkeit. (C) zwischen den britischen Staatsangehörigen, die Bestand- schutz genießen, und denen, die ab dem 1. Januar 2021 (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nach Deutschland einreisen. Für sie gilt dann der ordneten der SPD) Bestandschutz nicht mehr, und sie werden wie EU-Dritt- staatsangehörige behandelt. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Das Austrittsabkommen, das zwischen dem Vereinig- Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Kollege ten Königreich und der EU verhandelt wurde, ist unmit- Dr. Christian Wirth. telbar geltendes europäisches Recht, und es verlangt den Vertragspartnern und auch den EU-Mitgliedstaaten die (Beifall bei der AfD) Erfüllung gewisser Pflichten ab. Zu diesen Pflichten gehört, dass wir die Statusrechte für britische Staatsange- hörige regeln. Wir haben die Wahlfreiheit, ob wir kraft Dr. Christian Wirth (AfD): Gesetzes den Status festschreiben oder ob wir eine Herr Präsident! Werte Kollegen! Liebe Mitbürger! Ein Antragsmöglichkeit eröffnen. Die Bundesregierung hat Satiriker sagte vor nicht langer Zeit: In 20 Jahren wird es sich aus pragmatischen Gründen für eine Regelung kraft nur noch zwei Staaten in der EU geben, die Engländer, Gesetzes entschieden, vor allem auch, um missliche Fälle weil sie nicht rauskommen, und die Deutschen, weil sie an die EU glauben. In Ersterem hat er sich geirrt. Es bleibt zu vermeiden, beispielsweise dass jemand die Antrags- also noch etwas Hoffnung. frist versäumt. Der Gesetzentwurf, den das Kabinett am 20. Mai die- Wieder gibt es Bewegung beim Thema Freizügigkeit ses Jahres verabschiedet hat, sieht daher vor, dass briti- und Nachzug, wieder einmal in die falsche Richtung. Aus sche Staatsangehörige bis einschließlich 30. Juni nächs- der EU kommt nie etwas, das auch nur das kleinste biss- ten Jahres, mittels Pass oder mittels eines Nachweises, chen Bremse an die Migration legt. Aus der EU wird auch dass sie in Deutschland leben, die Möglichkeit haben, nie etwas kommen, das auch nur den kleinsten Unter- bei ihrer zuständigen Ausländerbehörde die EU-rechtlich schied zwischen den Nationalstaaten respektiert und vorgesehene Karte zu erwirken. Die Gebühren, die dafür anerkennt. Nicht zuletzt aus diesen Gründen hat das bri- verlangt werden, entsprechen den Gebühren, die deutsche tische Volk sich dafür entschieden, sich der europäischen Staatsangehörige für den Personalausweis zu entrichten Zwangsjacke zu entledigen. Nicht zum ersten Mal in haben. Ich bin der festen Überzeugung, dass damit eine dieser Legislaturperiode passen wir deshalb unsere sehr pragmatische und vor allem auch eine sehr faire Gesetzgebung an. Es geht um Anpassungen, die nicht Lösung gefunden wurde. nötig gewesen wären, wenn die Bundesregierung ihr poli- (B) tisches Gewicht nicht in falscher Arroganz dazu einge- (D) Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf noch zwei setzt hätte, den Briten jede Reform in der EU zu verwei- Regelungspunkte vor. Im Sozialgesetzbuch III wird für gern, Anpassungen, die wir schon lange hinter uns hätten, deutsche Studenten, die in Großbritannien oder in Nord- wenn es nicht die Strategie der EU gewesen wäre, die irland studieren, festgeschrieben, dass sie auch weiterhin Briten für ihre Volksabstimmung zu bestrafen, statt auf für den gesamten Ausbildungsabschnitt, also für ihr wei- eine Zukunft in Partnerschaft und Freundschaft hinzu- teres Studium, BAföG-bezugsberechtigt sind. arbeiten. Ein letzter Punkt, der behandelt wird – es geht um ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr Natürlich ist Rechtssicherheit nun, wo die Briten frei 2012 –, betrifft eine Regelungslücke aus der EU-Frei- sind, wichtig. Deswegen kann man den diesbezüglichen zügigkeitsrichtlinie, die im EU-Freizügigkeitsgesetz Regelungen auch durchaus zustimmen. Aber es wäre schnell umgesetzt werden soll, vor allem um ein mögli- nicht die Bundesregierung, wenn sie nicht in vorauseilen- ches Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission dem Gehorsam im Rahmen der Freizügigkeit ein Trojani- zu vermeiden. Es geht dabei darum, dass auf Antrag vor sches Pferd in diesen Gesetzentwurf eingebaut hätten. Sie der Ermessensentscheidung und nach der Einzelprüfung führen einen neuen Begriff in das Freizügigkeitsgesetz die Möglichkeit gegeben wird, dass EU-Drittstaatsange- ein, den das Gesetz in Deutschland so noch nicht kennt, hörige zu freizügigkeitsberechtigten Unionsangehörigen nämlich den der „nahestehenden Person“. Nicht mehr nur nach Deutschland reisen können. Hier geht es zum einen Verwandtschaft, Ehe und eingetragene Lebensgemein- um die Personengruppe der Pflegekinder und zum ande- schaften sollen aufenthaltsberechtigt sein, nein, ausrei- ren um die Personengruppe der langjährig nichtehelichen chend ist nach Absatz 4a jegliche Verwandtschaft, ohne Lebenspartner. im Sinne von § 1589 BGB in gerader oder Seitenlinie verwandt und somit Familienangehöriger zu sein, und Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es nach Absatz 4c jede Person, die irgendwie bescheinigen handelt sich aus meiner Sicht bei dem in erster Lesung kann, mit einem Aufenthaltsberechtigten zusammenge- zur Beratung anstehenden Gesetzentwurf um einen sehr lebt zu haben. Sie geben sich zwar in der Einleitung des wichtigen Gesetzentwurf. Ich bitte vor dem Hintergrund Gesetzentwurfs bemüht: Natürlich sei es wichtig, eine der Eilbedürftigkeit um eine umsichtige, aber vor allem zusätzliche „Belastung der Sozialsysteme“ zu vermeiden, auch um eine zügige Beratung des Gesetzentwurfes, ins- und natürlich wollen Sie keine „verstärkte Zuwande- besondere um den in Deutschland lebenden britischen rung“. Aber wenn Sie das nicht wollen, dann lassen Sie Staatsangehörigen möglichst rasch Rechtssicherheit den Unsinn, den Sie ins Gesetz geschrieben haben. angedeihen zu lassen, was die Zukunft ihres Aufenthalts- status anbelangt. (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21757

Dr. Christian Wirth (A) Sie haben sich in der Euro-Krise und in der Flücht- Mit dem über Jahre anhängigen Vertragsverletzungs- (C) lingskrise, bei den Maastricht-Kriterien und jetzt bei der verfahren stehe ich bescheiden und demütig vor Ihnen, ist Coronakrise über europäisches Recht hinweggesetzt. doch die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union Jetzt buckeln Sie wieder und freuen sich klammheimlich, eine der wichtigsten Errungenschaften des europäischen dass man Ihnen von der EU wieder vorschreibt, wie man Einigungsprozesses und einer der sichtbarsten Vorzüge Deutschland schaden kann. Mit der Definition einer für die Bürgerinnen und Bürger. Es ist gut und richtig, nahestehenden Person, direkt im Unterpunkt a, erweitern die Kritik der EU-Kommission endlich aufzugreifen und Sie den Begriff auf alle und jeden, mit dem man irgend- die Einreise sowie den Aufenthalt von Lebenspartnerin- eine gemeinsame Abstammung nachweisen kann. Sie nen und -partnern und weiteren Familienangehörigen von haben keinerlei Beschränkungen nach oben oder unten, Unionsbürgerinnen und -bürgern zu erleichtern. Zukünf- weder in Ihrem Gesetz noch im Bürgerlichen Gesetz- tig soll die Antragstellung auch nahestehenden Personen buch, auf das Sie sich berufen. Wenn man irgendwo einen ermöglicht und nicht allein auf den Verwandtschaftsgrad gemeinsamen Vorfahren im 18. Jahrhundert findet, ist abgestellt werden. Die Entscheidung fällt auf Basis von man nahestehende Person. Das ist dogmatisch unsauber, individuellen Prüfungen der Gesamtumstände. rechtlich unsinnig und tatsächlich eine Katastrophe, wenn man an die Migration denkt. Ein Erfolg ist, dass das Anpassungsgesetz den unio- nsrechtlichen Vorgaben einer Erleichterung entspricht. (Beifall bei der AfD) Leicht machen es die restriktiven Bedingungen für eine In Punkt c verlangen Sie eine „ordnungsgemäß Antragstellung auf Einreise und Aufenthalt den Antrag- bescheinigte … Gemeinschaft“. Das könnte schwammi- stellenden jedoch nicht, was einzelne migrationspoli- ger kaum formuliert sein, vor allem da so eine Gemein- tische Verbände wie zum Beispiel „Der Paritätische“ schaft ja vor allem im Ausland bestanden haben soll. kritisieren. Einige Kritikpunkte aus den zu diesem Schon jetzt hat man mit allerlei gefälschten amtlichen Anpassungsgesetz vorliegenden Stellungnahmen sind Dokumenten aus dem Ausland zu kämpfen. Was soll jetzt im Gesetzentwurf bereits übernommen worden. Das noch auf Echtheit geprüft werden: eine gemeinsame sind beispielsweise die Aufnahme der Lebenspartnerin- Stromrechnung aus dem Libanon? – Nein, Sie vermi- nen und -partner oder die Streichung der Voraussetzung schen in Ihrem Antrag zu viel. Sie erlauben keine aus- einer besonderen Härte. reichende Debatte über diese sehr grundsätzliche Aus- Hervorheben möchte ich die Stellungnahme des Bun- weitung des Begriffs der nahestehenden Person. desrates. Er fordert die Beibehaltung der fiktiven Prüfung Trennen Sie die Teile in Ihrem Antrag; dann können wir des Aufenthaltsrechts bei der Beantragung von Sozial- zumindest über den Brexit-Teil reden. So ist diese merk- leistungen. Das scheint mir sozialpolitisch plausibel zu würdige Schimäre schon jetzt inakzeptabel und (B) sein. Der Wegfall dieser Praxis würde dazu führen, dass (D) schlimmstenfalls ein ganz bewusst so vermengtes Troja- viele Personen, die einen objektiven Aufenthaltsgrund nisches Pferd. erfüllen, von existenzsichernden Sozialleistungen ausge- Vielen Dank. schlossen würden. Natürlich ist mir bewusst: Freizügig- keit kann nur in vorgegebenen Strukturen mit klaren (Beifall bei der AfD) rechtlichen Normen umgesetzt werden.

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Die Kollegin Sylvia Lehmann ist die nächste Rednerin Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus für die Fraktion der SPD. der Fraktion der Grünen? (Beifall bei der SPD) Sylvia Lehmann (SPD): Sylvia Lehmann (SPD): Ich möchte zu Ende sprechen. Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- gen! Werte Zuschauende! Der vorliegende Regierungs- Liebe Kolleginnen und Kollegen, dennoch sollten wir entwurf belegt, wie schnell gesetzliche Rahmenbedin- uns noch einmal fragen, ob wir wirklich wollen, dass gungen angepasst werden können, wenn beispielsweise diese europäisch verordnete Erleichterung in der strengs- infolge des Brexits aufgrund der mit Jahresende auslauf- tmöglichen aller Umsetzungen das Licht der Welt erb- enden Übergangsfrist die Zeit brennt. Der Regierungsent- lickt. wurf belegt aber auch, wie lange sich ein Vorgang hin- ziehen kann – wie hier eine adäquate Umsetzung der EU- Mit der bereits beschriebenen Demut und Bescheiden- Freizügigkeitsrichtlinie, welche den Nachzug bestimmter heit danke ich Ihnen. nahestehender Personen regelt. (Beifall bei der SPD) Zügig – was ich selbstverständlich begrüße – wurden BAföG-Regelungen angepasst. Auch 2021 können Stu- dierende aus Deutschland ein zuvor im Vereinigten Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Königreich begonnenes Studium noch geregelt abschlie- Nächster Redner: der Kollege Konstantin Kuhle, FDP- ßen. Heute in Deutschland lebende Britinnen und Briten Fraktion. erhalten nach Ablauf der Übergangsfrist unbürokratisch einen Aufenthaltstitel. (Beifall bei der FDP) 21758 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

(A) Konstantin Kuhle (FDP): vernünftige Weise sehen können. Es ist absolut in Ord- (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir spre- nung, dass man in Coronazeiten auf Reiserestriktionen chen heute Abend über eine Reform des EU-Freizügig- setzt. Aber es ist nicht in Ordnung, dass diese Bundesre- keitsrechts. Der erste Anlass für diese Reform ist der gierung, dass die Große Koalition die Ausnahmen, die die Brexit. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Regie- EU doch zulässt, in so bornierter, in so weltfremder rung soll für jene britischen Staatsbürger, die sich bis zum Weise umsetzt, dass man sich einmal in Deutschland Ende der Übergangszeit am 31. Dezember dieses Jahres getroffen haben muss oder einen gemeinsamen Wohnsitz in Deutschland aufhalten, im Freizügigkeitsrecht ein star- gehabt haben muss, um diese Ausnahmen in Anspruch zu kes Aufenthaltsrecht geschaffen werden. Das ist der rich- nehmen. Meine Damen und Herren, Tourismus muss in tige Weg; denn die Bürgerinnen und Bürger des Vereinig- Coronazeiten limitiert werden. Das ist schlimm genug. ten Königreichs, die außerhalb ihres Landes in anderen Aber Liebe ist kein Tourismus. Mitgliedstaaten der Europäischen Union leben wollen, (Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie dürfen nicht die Leidtragenden des Brexit sein. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der FDP) GRÜNEN) Wir haben, meine Damen und Herren, weitere Schritte, Binationale Paare, die nicht verheiratet sind, brauchen ein die mit diesem Gesetzesvorschlag der Regierung unter- stärkeres Recht der Freizügigkeit. Diese Paare haben sich nommen werden. Unter anderem wird eine Regelung ein- seit Monaten nicht gesehen, und die Bundesregierung geführt, die es deutschen Studierenden ermöglicht, ein- und die Große Koalition verschleppen eine vernünftige, facher BAföG zu empfangen, wenn sie eine gewisse Zeit unbürokratische Ausnahme zugunsten dieser Paare, das Erasmus-Programm im Vereinigten Königreich nut- obwohl die EU es längst zulässt. Werden Sie hier tätig, zen. Ich meine, dass wir in den Beratungen im Ausschuss und dann sind wir da auf einem guten Weg. überlegen sollten, wie man es in Zukunft für britische Vielen Dank. Studierende vereinfachen kann, in Deutschland tätig zu sein, in Deutschland zu arbeiten, in Deutschland zu (Beifall bei der FDP) studieren. Es darf nicht die junge Generation sein, die unter dem Brexit leidet; denn die junge Generation im Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Vereinigten Königreich hat sich ja gerade gegen den Bre- Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin xit ausgesprochen. Deswegen sollte die Reform des Frei- Ulla Jelpke. zügigkeitsrechts gleichsam eine Einladung an die junge Generation des Vereinigten Königreichs sein, auch nach (Beifall bei der LINKEN) Deutschland zu kommen. (B) (D) (Beifall bei der FDP) Ulla Jelpke (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem letz- Meine Damen und Herren, ich will ganz kurz darauf ten Punkt, den Herrn Kuhle eben angesprochen hat, kann eingehen, dass es ja schon bemerkenswert ist, dass der ich mich nur anschließen. Auch ich finde, dass Dritt- Bundestag ausgerechnet in einer Woche das Austrittsab- staatsangehörige, die sich lieben, jederzeit zusammen- kommen umsetzt, in der der britische Premierminister kommen dürfen müssen und dass es unglaublich büro- Johnson ganz offen im Parlament bekennt, das Austritts- kratisch gehandhabt wird. Das ist wirklich abzulehnen. abkommen verletzen zu wollen. Das zeigt einmal mehr: Der Brexit ist ein populistisches Wahnsinnsprojekt zulas- (Beifall bei der LINKEN) ten des Friedens in Irland, zulasten der europäischen Idee Meine Damen und Herren, wir beraten hier verschie- und zulasten der Bürgerinnen und Bürger. dene Änderungen des Freizügigkeitsgesetzes, das die (Beifall bei der FDP) Einreise und den Aufenthalt von Unionsbürgerinnen und -bürgern regelt. Vorgesehen ist, dass der Anspruch Meine Damen und Herren, der zweite Anlass für die auf Familiennachzug zu Unionsbürgern auf Personen Reform des Freizügigkeitsrechts, über die wir heute in außerhalb der Kernfamilie ausgeweitet wird, zum Bei- erster Lesung beraten, ist die Verbindung aus vielgestal- spiel auf Geschwister, Pflegekinder oder unverheiratete tigen Familienkonstellationen, die es heutzutage gibt, und Lebenspartnerinnen und -partner. aus dem Zuzug von Drittstaatsangehörigen zu Unio- nsbürgerinnen und Unionsbürgern. Da gibt es ein offenes Das hört sich erst mal gut an; allerdings muss man hier Vertragsverletzungsverfahren, da gibt es ein Urteil des ganz klar sagen, dass der Europäische Gerichtshof dies Europäischen Gerichtshofs, und all das hat zur Folge, bereits 2012 in einem Urteil vorgegeben hat. Ich finde es dass klar ist: Deutschland setzt die EU-Freizügigkeits- schon äußerst peinlich, dass man hier so tut, als würde richtlinie bisher nicht hinreichend um. Deswegen ist es man eine migrationspolitische Großtat vollbringen, wenn gut, dass wir miteinander darüber diskutieren, wie man man fast ein ganzes Jahrzehnt lang den Betroffenen den diese Vertragsverletzung aus der Welt schaffen kann. Familiennachzug verweigert hat. Das ist wirklich ein Skandal. Weil wir aber an der Schnittstelle von Unionsrecht und dem Zuzug von Drittstaatsangehörigen zu Unionsbürgern (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- tätig sind, will ich die Gelegenheit nutzen, um eine andere neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Schnittstelle dieser Rechtskreise anzusprechen. Das sind Bei einem weiteren Punkt im Gesetzentwurf geht es die Regeln, die aktuell verhindern, dass sich binationale um die Aufenthaltsrechte britischer Staatsangehöriger Paare, die nicht verheiratet sind, in dieser Coronazeit auf nach dem Brexit. Die Bundesregierung hat mehrfach Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21759

Ulla Jelpke (A) betont, dass Unionsbürgerinnen und -bürger aus Groß- -bürger sind. Das gilt unter bestimmten Voraussetzungen (C) britannien, die in Deutschland leben, durch den Brexit zum Beispiel für Pflegekinder, Lebenspartnerinnen und keine Nachteile erleiden sollen. Lebenspartner, Geschwister – das hat die Kollegin Jelpke gesagt –, Tanten und Onkel. Das wird unter dem kühlen, (Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: unscheinbaren Begriff „nahestehende Personen“ subsu- Richtig!) miert. Aus unserer Sicht ist das ganz zweifellos „Fami- Staatssekretär Mayer hat noch im Frühjahr dieses Jah- lie“. res im Innenausschuss bestätigt, das es für diese Gruppe keinen Ausweisungsschutz gibt. Aber jetzt lesen wir auf Da die Bundesregierung die Unionsbürgerrichtlinie einmal im Gesetzentwurf, dass die Ausweisregelungen, jedoch nie umgesetzt hat, konnten diese nahestehenden die für Drittstaatsangehörige gelten, auch auf sogenannte Familienmitglieder über Jahre hinweg ihre Rechte nicht Altbriten angewendet werden sollen. Meine Damen und in Anspruch nehmen. Trotz mehrfacher Rügen – das hat Herren, das ist ein ganz klarer Wortbruch, den man nicht der Parlamentarische Staatssekretär wohl irgendwie ver- akzeptieren kann. gessen zu sagen – durch die Europäische Kommission, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- trotz eines Vertragsverletzungsverfahrens und einer ein- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) deutigen Rechtsprechung des EuGH ist nichts passiert. Schließlich nutzt die Bundesregierung den Gesetzent- Das ist ein Armutszeugnis für den starken Rechtsstaat, wurf, um klammheimlich weitere Leistungsausschlüsse aber vor allem ist es eine Tragödie für all die Familien, für Unionsbürgerinnen und -bürger durchzusetzen. Eine deren gemeinsames Leben in Deutschland zu Unrecht positive Rechtsprechung der Sozialgerichte, bei der verkompliziert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht geprüft wird, ob Unionsbürgerinnen und -bürger wurde. Mit der Neuregelung werden nun zwar endlich Anspruch auf Leistungen nach dem Aufenthaltsgesetz die zu Unrecht bestehenden Barrieren für die Familien haben, soll künftig nicht mehr möglich sein. In der Folge abgebaut; leider bleibt die Ausgestaltung aber viel zu würden Jobcenter in noch mehr Fällen als bisher Leistun- restriktiv. Das ist bereits erläutert worden. gen ablehnen. Liebe Frau Kollegin Lehmann, betroffen wären bei- Wir sollten im Ausschuss in Ruhe darüber beraten und spielsweise unverheiratete Elternpaare mit Kindern, entsprechend nachbessern. Ich habe Sie, Frau Lehmann, Schwangere vor der Geburt des Kindes, Menschen mit so verstanden, dass Sie da durchaus offen sind. Ein wich- schweren Erkrankungen und andere Härtefälle. All diese tiger Punkt ist die fortschreitende Beschneidung der Leis- besonders schutzbedürftigen Gruppen will die Bundesre- tungsrechte. Wer sind diese Menschen, die nicht mehr (B) gierung künftig von existenzsichernden Leistungen aus- Teil unserer Fürsorgegemeinschaft sein sollen? Frau (D) schließen. Ich halte das für extrem unsozial und unsolida- Jelpke hat es bereits aufgezählt. risch den europäischen Unionsbürgerinnen und -bürgern gegenüber. Wen trifft das vor allem? Das trifft ausschließlich (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Frauen in bestimmten Konstellationen: Frauen mit Kin- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dern. Die Sozialrechtsprechung wurde bereits erwähnt. Es trifft die nichterwerbstätige Frau während des Mutter- Das sollten wir auf jeden Fall im Ausschuss diskutieren. schutzes. Es trifft die Pflegekinder einer alleinstehenden Danke. Arbeitnehmerin. Oder es trifft auch die Mutter eines deut- (Beifall bei der LINKEN) schen Kindes, die bislang keine Aufenthaltserlaubnis von der Ausländerbehörde erhalten hat.

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Ich möchte Sie alle noch mal auffordern, die heute Die nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen die eingegangene Stellungnahme vom Bundesweiten Koor- Kollegin Filiz Polat. dinierungskreis gegen Menschenhandel zu lesen. Darin steht, dass von dieser unscheinbaren Regelung vor allem Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die von Menschenhandel betroffenen Frauen aus anderen Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- EU-Mitgliedstaaten betroffen sind. Deshalb fordern wir, ren! Herr Parlamentarischer Staatssekretär Mayer, mit die Leistungsausschlüsse von Unionsbürgerinnen und dem vorliegenden Gesetzentwurf packt die Bundesregie- Unionsbürgern endlich zu beseitigen und die soziale Ent- rung endlich ein Problem an, dem sie sich mehr als 15 Jah- rechtung unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger zu been- re verweigert hat. den. Es geht um nicht weniger als um das Familienleben von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern; das haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN meine Kolleginnen sehr schön erläutert. Nach der Unio- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) nsbürgerrichtlinie haben alle EU-Bürgerinnen und -bürger, die freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Fami- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. lienangehörigen das Recht, in einem anderen Mitglied- staat zu leben, zu arbeiten und zu wohnen. Die Richtlinie ermöglicht die Familieneinheit auch dann, wenn Fami- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lienmitglieder selbst keine Unionsbürgerinnen und und bei der LINKEN) 21760 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

(A) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: weise Telekommunikationsüberwachung. Bereits heute (C) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie daran ermittelt die Bundespolizei in über 800 Fällen im Zusam- erinnern, dass wir um 21 Uhr die namentliche Abstim- menhang mit dem Freizügigkeitsrecht von EU-Bürgern. mung schließen. Wer noch nicht abgestimmt hat, dem Es gibt, glaube ich, überhaupt keinen sachlichen Grund – empfehle ich, dies in den nächsten vier Minuten noch da schaue ich insbesondere die Kolleginnen und Kolle- zu tun. gen der SPD an –, diese bandenmäßige Ausnutzung der EU-Freizügigkeit nicht genauso zu behandeln wie die Die Reden des Kollegen Seif und des Kollegen kriminellen Aktivitäten im normalen Aufenthaltsrecht. Dr. Castellucci gehen zu Protokoll.1) Der letzte Redner zu diesem Punkt ist der Kollege Wir sind in der ersten Lesung. Daher sollten wir durch- Alexander Throm, CDU/CSU-Fraktion. aus nochmals darüber nachdenken, ob wir nicht tatsäch- lich gegen die Schleuser, gegen die Kriminellen härter (Beifall bei der CDU/CSU) vorgehen und der Bundespolizei andere Möglichkeiten geben. Denn niemand will ja wohl die Schleuserbanden Alexander Throm (CDU/CSU): schützen und schonen. Insofern freue ich mich auf die Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Beratungen im Parlament und im Ausschuss. Kollegen! Das Recht auf Freizügigkeit in der EU ist für uns eine Selbstverständlichkeit. Das war in früheren Herzlichen Dank. Generationen noch nicht so. Nach dem Brexit merken jetzt auch die Briten, dass es keine Selbstverständlichkeit (Beifall bei der CDU/CSU) ist. Die britische Regierung will offensichtlich die Brü- cken zur EU komplett einreißen, koste es, was es wolle. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Es wurde schon angesprochen: In dieser Woche ist man Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. sogar bereit, internationales Recht vorsätzlich zu bre- chen. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs Wir wollen dies nicht. Wir wollen vor allem rechtstreu auf Drucksache 19/21750 an die in der Tagesordnung bleiben, was die bisherigen Vereinbarungen mit Groß- aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere britannien anbelangt. Wir wollen das auch nicht auf Überweisungsvorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann dem Rücken der bereits in Deutschland lebenden briti- verfahren wir wie vorgeschlagen. schen Staatsbürger austragen; deswegen werden wir hier Ich komme zurück zum Zusatzpunkt 11. Die Zeit für ein relativ unkompliziertes, einfaches Verfahren wählen, die namentliche Abstimmung ist gleich vorbei. Darf ich (B) damit diese Personen in Deutschland bleiben können. fragen, ob noch ein Mitglied des Hauses anwesend ist, (D) Ein weiterer Punkt, den wir in diesem Gesetz zu gege- das seine Stimme abgeben wollte, aber noch nicht abge- bener Zeit, also nicht ganz zeitnah, regeln, betrifft eine geben hat? Haben alle, die abstimmen wollten, sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wonach Abstimmung beteiligt? – Das ist der Fall. Ich schließe die nahestehende Verwandte von EU-Bürgern, die selbst Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und nicht EU-Bürger sind, eine Möglichkeit haben, nach Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Deutschland zu kommen und in Deutschland zu bleiben. Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2) Eine Korrektur muss ich hier anbringen: Es ist nicht so, dass es diese Möglichkeit bislang überhaupt nicht gege- Wir kommen zu Zusatzpunkt 13: ben hätte; vielmehr hatte Deutschland dies im Freizügig- keitsgesetz bislang nicht ausdrücklich geregelt. Das Beratung des Antrags der Abgeordneten holen wir jetzt mit klaren Regeln und Pflichten nach. Dr. Andrew Ullmann, Michael Theurer, Renata Ein großzügiges Recht auf Freizügigkeit müssen wir Alt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der verteidigen. Überall da, wo es großzügige Rechte gibt, FDP gibt es auch Missbrauch, und das bereits heute. Deswe- Praxistaugliche und intelligente COVID-19- gen möchte ich noch einen Punkt ansprechen, der zwar Teststrategie im Referentenentwurf stand, der aber keinen Eingang in den Gesetzentwurf gefunden hat: die Bekämpfung von Drucksache 19/22114 Schleuserbanden, von Personen aus dem Bereich organi- Überweisungsvorschlag: sierte Kriminalität, die dafür sorgen, dass ein EU-Bürger, Ausschuss für Gesundheit (f) zumeist aus Osteuropa, angeworben wird und dass dieser Ausschuss für Inneres und Heimat dann über Scheinehen bzw. Heiratsurkunden andere Per- sonen nach Deutschland holt. Es ist eine Aussprache von 30 Minuten beschlossen. Für das bandenmäßige und gewerbsmäßige Schleusen Ich eröffne die Aussprache. Bereit steht und das Wort ohne Beteiligung eines EU-Bürgers und ohne Ausnut- erhält der Kollege Dr. Andrew Ullmann von der FDP- zung der EU-Freizügigkeit sieht bereits das Aufenthalts- Fraktion. gesetz eine Strafverschärfung vor. Damit einher gehen wichtige Ermittlungsbefugnisse der Polizei, beispiels- (Beifall bei der FDP)

1) Anlage 7 2) Ergebnis Seite 21762 C Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21761

(A) Dr. Andrew Ullmann (FDP): Dritter Punkt. Es müssen ausreichende Testkapazitäten (C) Sehr geehrte Herren Präsidenten! Meine Damen und und Testverfahren vorgehalten werden. Wenn es mit den Herren! Sie alle hier kennen die Zeitungsberichte über Testkapazitäten eng wird, müssen wir offen sein für alter- SARS-CoV-2-Laboruntersuchungen, die schieflaufen. native Lösungen auch außerhalb der humanmedizini- Die einen nennen es eine kleine Panne. Andere und ich schen Laboratorien. nennen das skandalös. Ergebnisse werden zu langsam (Beifall bei der FDP) oder gar nicht übermittelt. Es wird hier zu viel, da zu wenig getestet. In Bayern haben wir ein wildes Massen- So, meine Damen und Herren, sollte eine nationale testen. Das ist nicht der richtige Weg. Denn spätestens bei Teststrategie aussehen; denn so schützt sie uns und unsere der zweiten Infektionswelle im Herbst oder Winter wird Freiheit. Ich freue mich sehr auf die Diskussionen im es bei den Testressourcen eng werden. Die bestehende Ausschuss. Teststrategie funktioniert nicht. Herzlichen Dank. Meine Damen und Herren, wer verantwortlich handeln (Beifall bei der FDP) will, muss gezielt und klug testen. Deshalb legen wir eine intelligente und praxistaugliche Teststrategie vor, als ers- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: te Fraktion hier im Bundestag. Sie ermöglicht schnelles, digitales und gezielteres Testen. Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullmann. Sie wollten gerade eine Frage herauslocken. Ich will darauf hinwei- (Beifall bei der FDP) sen: Sie sehen, der Präsident hat schon wieder gewech- selt. Sie schützt die Risikogruppen und das Gesundheitssys- tem. Eine sinnvolle, durchführbare und nachhaltige Test- (Dr. Andrew Ullmann [FDP]: Ich habe Sie auch strategie muss einer zwingenden Logik folgen. Die Basis schon begrüßt!) muss der aktuelle Stand der Wissenschaft sein. Die Stra- – Ja, das weiß ich. – Wir haben es nach 21 Uhr. Ich wollte tegie muss im Angesicht des sich entwickelnden Wissens nur darauf hinweisen: Angesichts des Zeitkontingents, agil auf Veränderungen reagieren. Es muss für die Bevöl- das wir noch haben – trotz der bereits vorbildlich zu kerung auch nachvollziehbar sein, nach welchen Krite- Protokoll gegebenen Reden –, werde ich Kurzinterven- rien getestet werden kann. tionen und Zwischenfragen nicht mehr zulassen, damit (Unruhe bei der LINKEN) wir möglichst noch vor Mitternacht diese Veranstaltung hier zu einem sinnvollen Ende führen können. – Wenn Sie Fragen haben, fragen Sie ruhig. Ich freue Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Rudolf (B) mich darauf. Henke, CDU/CSU-Fraktion. (D) Von unseren Vorschlägen möchte ich drei Punkte (Beifall bei der CDU/CSU) herausheben, die für eine nationale Teststrategie uner- lässlich sind: Rudolf Henke (CDU/CSU): Erstens. Informationen müssen fließen. Geschwindig- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei- keit ist Pflicht. Menschen wollen und müssen rechtzeitig ne Damen und Herren! Mit Blick auf unsere nationale wissen, was das Testergebnis ist, um so später verant- Teststrategie befinden wir uns in der Tat in einer wichti- wortungsvoll handeln zu können. Deshalb, meine Damen gen Woche. Morgen enden auch im letzten Bundesland, und Herren, müssen sie das Ergebnis der Untersuchung nämlich in Baden-Württemberg, die Sommerferien. Das innerhalb von 24 Stunden erfahren. Ende der Reisezeit und der nahende Herbst erfordern natürlich eine erneute Weiterentwicklung unserer Test- (Beifall bei der FDP) strategie. Insofern danke ich der FDP-Fraktion, Ohne Ergebnisse sind unnötige Quarantäne und Men- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) schengefährdungen die Folge. Das ist ein unerträglicher Zustand. dass sie uns heute Gelegenheit verschafft, hier die Beschlüsse, die die Bundeskanzlerin mit den Minister- Zweitens. Die Menschen müssen Teststationen regio- präsidenten getroffen hat, zum Ende der Sommerferien nal und lokal vor Ort kennen. Viele klagen zu Recht und zum Herbstbeginn zu reflektieren. Denn am darüber, dass sie gar nicht wissen, wo, wann, wohin, unter 27. August haben sich die Kanzlerin und die Länderchefs welchen Umständen sie sich testen lassen müssen. Sie auf ein Update der Strategie verständigt. werden von A nach B geschickt und sind eher irritiert, Dieses Update erhielt ja auch die Zustimmung von drei als sich unterstützt zu fühlen. Die Teststationen müssen Landesregierungen, an denen die FDP beteiligt ist, in auf verschiedenen Kommunikationswegen bekannt Schleswig-Holstein sogar mit dem Gesundheitsminister, gemacht werden: Fernsehen, Radio, Zeitung, Internet Herrn Garg. usw. Wichtig dabei ist: Niederschwellig muss die Infor- mation erhältlich sein. (Dr. Andrew Ullmann [FDP]: Da funktioniert es ja! – Dr. Marco Buschmann [FDP]: Es gibt (Beifall bei der FDP) auch Bundesländer, wo es funktioniert!) Dabei ist auch zu beachten, dass die alltägliche medizi- Insofern werden Sie ja auch zustimmen, dass diese Eini- nische Versorgung dadurch nicht beeinträchtigt wird oder gung vom 27. August einige intelligente Anpassungen gar weitere Patienten oder Personal gefährdet werden. angesichts der jüngsten Praxiserfahrungen umfasst. 21762 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Rudolf Henke (A) (Dr. Andrew Ullmann [FDP]: Wie ist es in verlockende Sehnsucht. Aber wir dürfen uns in der medi- (C) Bayern?) zinischen Realität und der politischen Debatte nicht zu Eine davon wird bereits in der kommenden Woche in allzu einfachen Antworten verleiten lassen. Alle Testme- Kraft treten, wie das Gesundheitsministerium sie derzeit thoden haben spezifische Vor- und Nachteile. Sie bleiben vorbereitet: Die kostenlose Testung für Einreisende aus bis auf Weiteres im Einzelfall interpretationsbedürftig. Nichtrisikogebieten endet. Die Zahl der festgestellten Zum Schluss: Das Herbstupdate für Anfang Oktober Infektionen war zum Glück sehr gering. Der Beschluss- ist in Arbeit. Die Union unterstützt das Plädoyer der FDP text zur Telefonschaltkonferenz formuliert das so: für zielgerichtetes Testen und agile Veränderungen. Das Bei den freiwilligen Testungen von Rückreisenden hat unsere fachliche Unterstützung. aus Nicht-Risikogebieten war die Zahl der festge- stellten Infektionen dagegen außerordentlich gering. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Deshalb endet die Möglichkeit zur kostenlosen Tes- Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. tung für Einreisende aus Nicht-Risikogebieten am Ende der Sommerferien aller Bundesländer mit dem 15.09.2020. Rudolf Henke (CDU/CSU): Zugleich zeigen aber die aktuellen Entwicklungen in Damit identifizieren wir uns. Der Antrag ist aber ange- Frankreich, in Spanien, in Italien, sichts des laufenden Updates entbehrlich. (Dr. Andrew Ullmann [FDP]: In Bayern!) (Dr. Marco Buschmann [FDP]: Schwache Ausrede! Einfach zustimmen!) wie zerbrechlich alle Zwischenerfolge sein können und dass internationale Mobilität weiterhin besonderer Auf- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. merksamkeit bedarf. In diesem Kontext begrüße ich den Bund-Länder-Beschluss, zum 1. Oktober die Regeln für (Beifall bei der CDU/CSU) Reisende aus Risikogebieten anzupassen – dies auch im Licht der Verfügbarkeit von Testkapazitäten. Die Anpas- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sung – Test ab dem fünften Tag – verdeutlicht, wie wich- Vielen Dank, Herr Kollege Henke. tig eine enge Verzahnung von neuem Wissen, Laboren und Kapazitäten des Öffentlichen Gesundheitsdienstes Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, gebe ich das ist. von den Schriftführerinnen und Schriftführer ermittelte Bei der Priorisierung von Kapazitäten sind wir uns alle Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Be- schlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung und (B) einig, dass symptomatische Verdachtsfälle enger Kon- (D) taktpersonen zu nachgewiesenen Infizierten immer Vor- Landwirtschaft (10. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- rang haben müssen. In der kalten Jahreszeit mit saison- ordneten Stephan Protschka, Berengar Elsner von Gron- alen Atemwegserkrankungen müssen wir aber auch ow, Peter Felser, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Kapazitäten für Einrichtungen vorhalten, in denen sich der AfD „Antrag auf abstrakte Normenkontrolle beim besonders vulnerable Gruppen aufhalten oder Kinder Bundesverfassungsgericht gemäß Artikel 93 Absatz 1 ihr Recht auf Bildung wahrnehmen. Deshalb freut mich Nummer 2 des Grundgesetzes wegen der Verordnung auch die Meldung aus Nordrhein-Westfalen, dass das zur Änderung der Düngeverordnung und anderer Vor- Land unter der Ägide von Ministerpräsident Laschet, schriften“, Drucksachen 19/19158 und 19/20235, Gesundheitsminister Laumann, Wirtschaftsminister bekannt: abgegebene Stimmen 627. Mit Ja haben Pinkwart den Ausbau von Corona-Labordiagnostik bei gestimmt 545, mit Nein haben gestimmt 80, Enthaltun- der Firma Qiagen in Hilden mit 18,3 Millionen Euro gen 2. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. fördert. (Karsten Hilse [AfD]: FDP, ihr seid ja wirk- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und lich …! – Entschuldigung!) der FDP) – Ich habe Ihren Zwischenruf bedauerlicherweise nicht In den letzten Tagen ist viel über neue Testmethoden verstanden. und deren mögliche Vorteile im Vergleich zum PCR-Test gesprochen worden. Schnelltests sind natürlich eine sehr (Zuruf von der CDU/CSU: Unbedeutend!)

Endgültiges Ergebnis Heike Brehmer Abgegebene Stimmen: 627; Norbert Maria Altenkamp Christoph Bernstiel Ralph Brinkhaus davon Philipp Amthor Dr. ja: 545 Artur Auernhammer Marc Biadacz nein: 80 Dorothee Bär enthalten: 2 Thomas Bareiß Ja Maik Beermann Michael Brand (Fulda) Marie-Luise Dött (Börde) Dr. Hansjörg Durz CDU/CSU Dr. Dr. André Berghegger Sebastian Brehm Hermann Färber Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21763

(A) Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers Bettina Margarethe (C) Andreas G. Lämmel Wiesmann Axel E. Fischer (Karlsruhe- Anita Schäfer (Saalstadt) Klaus-Peter Willsch Land) Ulrich Lange Dr. Wolfgang Schäuble Elisabeth Winkelmeier- Dr. Dr. Silke Launert Becker Thorsten Frei Paul Lehrieder Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Christian Schmidt (Fürth) Tobias Zech (Hof) Dr. Andreas Lenz Dr. Michael Frieser Patrick Schnieder Ingo Gädechens Nadine Schön Dr. Matthias Zimmer Dr. Dr. Dr. Klaus-Peter Schulze SPD Uwe Schummer Nikolas Löbel Bernhard Loos (Weil am Ursula Groden-Kranich Rhein) Ingrid Arndt-Brauer Dr. Jan-Marco Luczak Bela Bach Hermann Gröhe Klaus-Dieter Gröhler Detlef Seif Heike Baehrens Dr. Ulrike Bahr Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Dr. Thomas de Maizière Dr. Manfred Grund Dr. Sören Bartol Dr. Björn Simon Fritz Güntzler Matern von Marschall (Heidelberg) Jens Spahn Hans-Georg von der Dr. Marwitz Leni Breymaier Dr. Stephan Mayer (Altötting) Dr. Karl-Heinz Brunner Albert Stegemann Jürgen Hardt Dr. Jan Metzler Dr. Lars Castellucci (Rostock) Mark Hauptmann Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans Dr. Daniela De Ridder Dr. Matthias Heider Michelbach Dr. Johannes Steiniger Dr. Mathias Middelberg Christian Frhr. von Stetten Thomas Heilmann Sabine Dittmar (B) (Chemnitz) Karsten Möring Dr. Wiebke Esdar (D) Gero Storjohann Mark Helfrich Axel Müller Rudolf Henke Sepp Müller Max Straubinger Carsten Müller Dr. Johannes Fechner Dr. Marc Henrichmann (Braunschweig) Dr. Stefan Müller (Erlangen) Dr. Hermann-Josef Tebroke Dr. Edgar Franke Dr. Heribert Hirte Dr. Alexander Hoffmann Hans-Jürgen Thies Alexander Throm Michael Gerdes Dr. Dr. Georg Nüßlein Dr. Dietlind Tiemann Antje Tillmann Erich Irlstorfer Wilfried Oellers Angelika Glöckner Florian Oßner Timon Gremmels Dr. Volker Ullrich Josef Oster Arnold Vaatz Ingmar Jung Uli Grötsch Bettina Hagedorn (Kleinsaara) Rita Hagl-Kehl Torbjörn Kartes Dr. Stefan Kaufmann Dr. Kees de Vries Ronja Kemmer Dr. Johann David Dr. Christoph Ploß Wadephul Michael Kießling Dr. Dr. Barbara Hendricks Marcus Weinberg Gustav Herzog Axel Knoerig (Hamburg) Gabriele Hiller-Ohm Alois Rainer Dr. Thomas Hitschler Peter Weiß Carsten Körber Lothar Riebsamen (Emmendingen) Alexander Krauß Sabine Weiss (Wesel I) Johannes Röring Rüdiger Kruse Dr. Norbert Röttgen Marian Wendt Michael Kuffer Dr. Roy Kühne Erwin Rüddel Annette Widmann-Mauz Gabriele Katzmarek 21764 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

(A) Dr. Marcel Klinge Andrej Hunko (C) Stefan Schwartze Ulla Jelpke Dr. Lukas Köhler Kerstin Kassner Dr. Bärbel Kofler Rita Schwarzelühr-Sutter Carina Konrad Dr. Achim Kessler Elvan Korkmaz-Emre Rainer Spiering Wolfgang Kubicki Jan Korte Konstantin Kuhle Jutta Krellmann Christine Lambrecht Martina Stamm-Fibich Christian Lange Sonja Amalie Steffen (Backnang) Ralph Lenkert Dr. Sylvia Lehmann (Heilbronn) Dr. Gesine Lötzsch Helge Lindh Thomas Lutze Kirsten Lühmann Markus Töns Pascal Meiser Carsten Träger Dr. Jürgen Martens Amira Mohamed Ali Cornelia Möhring Marja-Liisa Völlers Alexander Müller Norbert Müller (Potsdam) Katja Mast Dirk Vöpel Roman Müller-Böhm Zaklin Nastic Dr. Joe Weingarten Dr. Dr. Alexander S. Neu (Lausitz) Dr. Bernd Westphal Matthias Nölke Susanne Mittag Gülistan Yüksel Sören Pellmann Falko Mohrs Dagmar Ziegler Dr. h. c. Thomas Sattelberger Tobias Pflüger Siemtje Möller Dr. Jens Zimmermann Frank Schäffler Bettina Müller Dr. Detlef Müller (Chemnitz) AfD Matthias Seestern-Pauly Eva-Maria Schreiber Michelle Müntefering Dr. Petra Sitte Dr. Rolf Mützenich Dr. Friedrich Straetmanns Bettina Stark-Watzinger Dr. Ulli Nissen FDP Jessica Tatti Thomas Oppermann Grigorios Aggelidis Katja Suding Andreas Wagner Harald Weinberg (B) Renata Alt Linda Teuteberg (D) Mahmut Özdemir Michael Theurer Katrin Werner (Duisburg) Christine Aschenberg- Dugnus Stephan Thomae Manfred Todtenhausen BÜNDNIS 90/ Jens Beeck Dr. DIE GRÜNEN Dr. Dr. Andrew Ullmann (Minden) (Rhein-Neckar) Johannes Vogel (Olpe) (Südpfalz) Nicole Westig Dr. Mechthild Rawert Sandra Bubendorfer-Licht Canan Bayram Dr. Marco Buschmann Dr. Franziska Brantner Sönke Rix Carl-Julius Cronenberg Britta Katharina Dassler DIE LINKE Dr. Anna Christmann Dr. Martin Rosemann Bijan Djir-Sarai Doris Achelwilm Ekin Deligöz René Röspel Christian Dürr Gökay Akbulut Katharina Dröge Dr. Harald Ebner Michael Roth (Heringen) Dr. Dr. Susann Rüthrich Lorenz Gösta Beutin Kai Gehring Bernd Rützel Matthias W. Birkwald Reginald Hanke -Förster Dr. Peter Heidt Michel Brandt Anja Hajduk Marianne Schieder Katrin Helling-Plahr Britta Haßelmann Markus Herbrand Dr. Birke Bull-Bischoff Dr. Bettina Hoffmann Dr. Jörg Cezanne Dr. Katja Hessel Fabio De Masi (Aachen) Manuel Höferlin Dr. Diether Dehm Dr. Kirsten Kappert- (Wetzlar) Dr. Christoph Hoffmann Anke Domscheit-Berg Gonther Carsten Schneider (Erfurt) Reinhard Houben Klaus Ernst Katja Keul Michael Schrodi Dr. Sven-Christian Kindler Gyde Jensen Dr. André Hahn Maria Klein-Schmeink Dr. Heike Hänsel Sylvia Kotting-Uhl (Spandau) Matthias Höhn Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21765

(A) Stephan Kühn (Dresden) Fraktionslos Kay Gottschalk Jan Ralf Nolte (C) Christian Kühn (Tübingen) Armin-Paulus Hampel Marco Bülow Renate Künast Mariana Iris Harder- Tobias Matthias Peterka Markus Kurth Kühnel Paul Viktor Podolay Monika Lazar Nein Dr. Roland Hartwig Stephan Protschka Steffi Lemke CDU/CSU Jochen Haug Martin Reichardt Dr. Udo Theodor Hemmelgarn Dr. Robby Schlund Dr. Martin Hess Dr. Irene Mihalic Jörg Schneider Dr. Heiko Heßenkemper Claudia Müller Beate Müller-Gemmeke Karsten Hilse AfD Dr. Nicole Höchst Dr. Bernd Baumann Marc Bernhard Friedrich Ostendorff Dr. Detlev Spangenberg Lisa Paus Leif-Erik Holm Dr. Peter Boehringer Filiz Polat Johannes Huber René Springer Stephan Brandner Tabea Rößner Fabian Jacobi Beatrix von Storch Claudia Roth (Augsburg) Jürgen Braun Dr. Dr. Alice Weidel Dr. Manuela Rottmann Marcus Bühl Dr. Corinna Rüffer Tino Chrupalla Norbert Kleinwächter Dr. Ulle Schauws Joana Cotar Enrico Komning Dr. Christian Wirth Dr. Jörn König Uwe Witt Stefan Schmidt Steffen Kotré Charlotte Schneidewind- Berengar Elsner von Dr. Rainer Kraft Hartnagel Gronow Rüdiger Lucassen Fraktionslos Kordula Schulz-Asche Dr. Dr. Wolfgang Strengmann- Peter Felser Jens Maier Kuhn Dietmar Friedhoff Dr. Lothar Maier Margit Stumpp Dr. Dr. Birgit Malsack- Markus Frohnmaier Winkemann Enthalten Jürgen Trittin Dr. Götz Frömming Fraktionslos Dr. Dr. (B) Dr. Hansjörg Müller (D) Beate Walter-Rosenheimer Albrecht Glaser Volker Münz Dr. Franziska Gminder Sebastian Münzenmaier Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt.

Nächster Redner zu dem Zusatzpunkt 13 ist der Kolle- (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ge Detlev Spangenberg, AfD. Einem dpa-Artikel vom 2. September ist zu entneh- (Beifall bei der AfD) men, dass die Vorsitzende des Deutschen Netzwerkes Evidenzbasierte Medizin, Frau Lühmann, die hohe Anzahl durchgeführter Tests im Verdacht hat, uns ein Detlev Spangenberg (AfD): falsches Bild zu vermitteln. Müssen Sie mal mit ihr Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Pra- reden; das hat sie so gesagt. Kurz gesagt: Bei einer gerin- xistaugliche und intelligente Covid-19-Teststrategie – so gen Infektionsrate in der Bevölkerung wie derzeit fallen das Thema. Der Antrag kritisiert zu Recht, dass in hohem falsch positive Testergebnisse so stark ins Gewicht, dass Maß und nicht zielgerichtet getestet wird; da sind wir uns mit den dann gemeldeten Infektionszahlen ein stark ver- bestimmt einig. Zum PCR-Test muss man aber feststel- zerrtes Bild gezeichnet wird. len: Die übliche Handhabung der Tests auf das neue Coronavirus, auch von einigen Drosten-Test genannt, ist (Beifall bei der AfD – Rudolf Henke [CDU/ untauglich, um ausreichend sichere Ergebnisse und Aus- CSU]: Sie wissen ja gar nicht, wie die Labors sagen zur Verbreitung von SARS-CoV-2 zu liefern. vorgehen! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU (Beifall bei der AfD – Rudolf Henke [CDU/ und der FDP) CSU]: Was für ein Unsinn! – Dr. Andrew – So ist es nun mal. – Es entsteht so der Eindruck einer Ullmann [FDP]: Blödsinn!) Pandemielage, was nicht haltbar ist. Wir haben keine Es entsteht, meine Damen und Herren, eine mathema- Pandemie, meine Damen und Herren! tisch-statistisch begründete Fehlinterpretation der Lage durch hohe Anzahl von Testungen im Zusammenhang (Beifall bei der AfD – Dr. Achim Kessler [DIE mit der Fehlerhaftigkeit im Bereich der falsch positiven LINKE]: Genau! Pandemiebekämpfung durch Testergebnisse. Nicht-mehr-Testen!) 21766 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Detlev Spangenberg (A) Auch Minister Jens Spahn hat am 14. Juni im soge- behalten. Aber von einer Epidemie oder Pandemie kön- (C) nannten „Nach-Bericht aus Berlin“ auf die Gefahr falsch nen wir und sollten wir nicht sprechen und nicht unver- positiver Tests hingewiesen. antwortlich Hysterie verbreiten. (Dr. Andrew Ullmann [FDP]: Dafür gibt es ja (Beifall bei der AfD) validierte Testverfahren!) Massentests sind absolut zu vermeiden. Positive Testergebnisse müssten immer durch weitere Tests der positiv getesteten Personen und genauere Test- verfahren überprüft werden, was auch die Hersteller der Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Tests erklären, aber in der Praxis offenbar nicht durchge- Kommen Sie zum Schluss, bitte. führt wird oder nicht durchgeführt werden kann. Dies geht aus demselben Artikel hervor. Detlev Spangenberg (AfD): (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE Viele Tests mit einem ungenauen PCR-Test verschaf- GRÜNEN]: Das ist ja der persönliche Berater fen Unklarheit und Verwirrung. Damit werden auch die von Trump, der Ihre Reden schreibt!) Weichen für falsche politische Entscheidungen gestellt. Wir lehnen den Antrag ab – In einem Medienbericht heißt es derzeit: In vielen Län- dern der Welt verwendete PCR-Tests auf aktive Viren Vizepräsident Wolfgang Kubicki: liefern ungenaue Ergebnisse, und wenn man die Daten aus der Fachliteratur zusammenfasst, muss mit einer Kommen Sie bitte zum Schluss. falsch positiven Rate von circa 1 Prozent gerechnet wer- den. Je mehr getestet wird, desto mehr kann es also den Detlev Spangenberg (AfD): Anschein haben, dass es viele Infizierte gibt, obwohl das – letzter Satz; danke sehr –, weil auch die FDP davon gar nicht zutrifft. ausgeht, bei besserer Handhabung könnten akzeptable (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Ergebnisse erreicht werden. Die genannte Problematik falscher Ergebnisse, die wir damit haben, wird bei dem Leuchtet Ihnen vielleicht nicht ein, ist mathematisch aber Antrag nicht berücksichtigt. so. Die PCR-Testkits sollten nicht als direkte Evidenz für klinische Diagnosen benutzt werden können. Vielen Dank Und jetzt ein paar Worte zu den Todesfällen, den Ster- (Beifall bei der AfD – Rudolf Henke [CDU/ bestatistiken, die wir ja auch immer mit anführen. Laut CSU]: Was für ein Quatsch! Addition von (B) EuroMOMO – ist Ihnen ja bekannt; die beschäftigen sich Quatsch!) (D) mit der Übersterblichkeit – kann man insbesondere für die Zeit ab der 34. Kalenderwoche erkennen, dass die Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Sterberaten in zahlreichen europäischen Ländern derzeit Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Dittmar, niedrig sind SPD-Fraktion. (Dr. Andrew Ullmann [FDP]: Gott sei Dank!) (Beifall bei der SPD) und in einigen Ländern in fast allen Altersgruppen einen Tiefstand über den Zeitraum der letzten drei Jahre Sabine Dittmar (SPD): erreicht haben. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Die Annahme einer derzeitig hohen Infektionsrate mit Kollegen! Der Ansatz der AfD „Wir testen nicht, dann gleichzeitig hoher Gefährlichkeit des SARS-CoV-2 kann haben wir auch keine Pandemie mehr“ ist schon ein sehr nicht aus der Sterbestatistik entnommen werden – ganz spannender. im Gegenteil, meine Damen und Herren! (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, (Beifall bei der AfD) der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE In zahlreichen Ländern war im Frühjahr/Sommer 2020 GRÜNEN) keine erhöhte Sterberate zu verzeichnen, laut EuroMO- Kolleginnen und Kollegen, liest man den Antrag der MO – so heißen sie ja – beispielsweise in Österreich, FDP-Fraktion, stellt sich schon die Frage, ob sich die Dänemark, Estland, Finnland, Griechenland und noch Verfasser mit den Tatsachen der Epidemiebekämpfung einigen mehr. In manchen Ländern Europas liegen die in den zurückliegenden Wochen und Monaten wirklich Sterbezahlen deutlich unter dem Durchschnitt, zum Bei- auseinandergesetzt haben. spiel in Großbritannien, Frankreich, Irland und auch wei- teren Staaten. Insgesamt betrachtet verursacht das Virus (Dr. Andrew Ullmann [FDP]: Sie wohnen doch keine so dramatische Lage, wie sie derzeit von einigen auch in Bayern!) Leitmedien gezeichnet wird. Aber wir kennen das ja: Nur Selbstverständlich haben wir eine praxistaugliche und die schlechte Nachricht ist die gute Nachricht. intelligente Teststrategie, Meine Damen und Herren, wir hatten in den Jahren (Lachen bei der FDP) 1995/96 circa 25 000 Grippetote, 2012/13 und 2017/18 jeweils mehr als 20 000 Grippetote. Man muss die Lage die an dem jeweiligen aktuellen wissenschaftlichen und die Ausbreitung dieses Virus natürlich im Auge Erkenntnisstand über das Virus ausgerichtet war und ist. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21767

Sabine Dittmar (A) Selbstverständlich wird jede Person, die mit typischen Denn alles andere wäre eine nicht verantwortbare Ver- (C) Symptomen zu einem Arzt oder zu einer Ärztin geht, schwendung von Ressourcen, sowohl der Materialien getestet. Es wurde und wird auch getestet, wer beispiels- als auch der Leistungsfähigkeit der Labore, die in den weise als Kontaktperson ein erhöhtes Risiko für SARS- letzten Wochen an ihre Leistungsgrenzen geführt wurden. CoV-2-Infektionen hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Per Rechtsverordnung wurde bereits im Juni die recht- Und natürlich werden wir auch die Antigen-Schnell- liche Grundlage – und das war eine ganz wichtige tests, sobald sie validiert und für die Fläche anwendbar Entscheidung – dafür geschaffen, dass auch asympto- sind, mit in die Strategie einbeziehen. Gerade bei Reihen- matische Personen, die zum Beispiel in Krankenhäusern, testungen in Gemeinschaftseinrichtungen oder auch für Pflegeeinrichtungen, Kitas, Schulen und anderen Ge- eine zügige Differenzialdiagnostik zwischen Influenza meinschaftseinrichtungen arbeiten oder darin gepflegt, und Covid-19 können sie zu einer erheblichen Entlastung betreut, behandelt werden, kostenlos und regelmäßig der sehr spezifischen und aufwendigen PCR-Tests bei- getestet werden. tragen. Deshalb bin ich froh, dass Bund und Länder nun (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wieder an einem Strang ziehen. Die angekündigte Anpas- der CDU/CSU) sung der Teststrategie und der Quarantäneregelungen ist richtig und notwendig. Richtig ist aber auch, dass die Möglichkeiten dieser Rechtsverordnung von Region zu Region, von Gesund- Es war eine richtige Entscheidung, dass wir Rückkeh- heitsamt zu Gesundheitsamt sehr unterschiedlich aus- rer aus Risikogebieten unmittelbar in die Quarantäne gelegt worden sind. Das ist wirklich ein Ärgernis, und schicken und erst nach fünf Tagen die Möglichkeit der deswegen ist es richtig, wenn das Bundesgesundheitsmi- Freitestung schaffen. nisterium hier noch mal, wie angekündigt, nachschärft. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Denn die genannten Personen und Berufsgruppen haben Abg. Rudolf Henke [CDU/CSU]) Priorität bei der Testung. Beim unmittelbaren Test nach Einreise ist das Risiko (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schlicht und ergreifend zu hoch, dass ein positiver Befund der CDU/CSU) übersehen wird, weil der Test noch nicht anschlägt. Das Mit der Teststrategie verfolgen wir das Ziel, konkrete RKI hat uns dies eindrucksvoll belegt. Deswegen, Kolle- Ausbrüche zu bekämpfen und die Weiterverbreitung des ginnen und Kollegen der FDP, verwundert es mich schon Virus in Deutschland zu bremsen. Ich denke, meine sehr, dass Ihre Fraktion weiterhin an der Testung unmit- Damen und Herren, die Entwicklung zeigt ganz deutlich, telbar bei Einreise festhalten will. Ihr Gesundheitsminis- (B) dass wir hier bislang sehr erfolgreich unterwegs waren. ter in Schleswig-Holstein ist da in seinen Erkenntnissen (D) und Forderungen schon sehr viel weiter. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Natürlich werden wir, wenn die wissenschaftlichen der CDU/CSU) Erkenntnisse es zulassen, sowohl die Quarantänezeit Der Erfolg der Strategie gründet auch darauf, dass sie von 14 Tagen bei Personen, die sich in der Inkubations- weitgehend von den Bundesländern mitgetragen wurde. phase befinden, als auch die Isolationszeit von Infizier- Ich sage hier deshalb auch: Bedauerlich und im Grunde ten, die aktuell 10 Tage beträgt, verkürzen. Aber das auch kontraproduktiv war der Vorstoß des bayerischen werden wir nicht politisch oder medial getrieben ent- Ministerpräsidenten zur Durchführung von Massentests scheiden, sondern auf Grundlage von wissenschaftlich für jedermann und die Dynamik, die das mit Blick auf die basierten Erkenntnissen. Reiserückkehrer ausgelöst hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/ [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist gut DIE GRÜNEN]) so!) Diese Massentests sind nicht nur medizinisch fragwür- Ganz entscheidend ist, dass die Quarantäneregeln dig, sie sind mit Blick auf den Infektionsschutz auch beachtet und kontrolliert und eine Missachtung auch nahezu wirkungslos und, wie sich gezeigt hat, auch über- sanktioniert wird. Dafür muss der Öffentliche Gesund- haupt nicht praktikabel. Das war ein echter Bärendienst, heitsdienst die notwendigen Kapazitäten haben. Es ist den Herr Söder uns da erwiesen hat. gut, dass sich Bund und Länder mit dem Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst auf ganz konkrete Maß- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nahmen zur personellen und digitalen Verstärkung der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Gesundheitsämter verständigt haben. FDP – Dr. Marco Buschmann [FDP]: Dann stimmen Sie doch dem Antrag zu!) (Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren, die Kapazität von 1,4 Mil- Der ÖGD wird in den kommenden Jahren mit 4 Milliar- lionen Testdosen in der Woche ist enorm. Und auch die den Euro unterstützt. Allerdings werden diese Maßnah- Strategie „Testen, testen, testen“ ist richtig – das Ganze men sicher in diesem Herbst noch nicht greifen. Deshalb zielgerichtet, planvoll und nachhaltig. müssen wir uns weitere Möglichkeiten überlegen, wie wir den ÖGD kurzfristig personell stärken können. Ich (Dr. Marco Buschmann [FDP]: Wie es geht, persönlich finde den Vorschlag vom Bundesverband der steht in unserem Antrag!) Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdiens- 21768 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Sabine Dittmar (A) tes, ein bundesweites Freiwilligenregister zu initiieren, die Hälfte der Testkapazitäten, die wir im Moment zur (C) sehr überzeugend. Hier würde ich mir wünschen, Frau Verfügung haben. Die andere Hälfte müsste dann ausrei- Staatssekretärin, dass sich auch Ihr Haus mit dem Vor- chen für Krankenhauspersonal, für Lehrkräfte, für Schü- schlag konstruktiv auseinandersetzt. Hier sind Flexibilität lerinnen und Schüler, für Arztpraxen, für Physiothera- und Kreativität gefragt. peuten, nicht zu vergessen für die über 4 Millionen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Menschen mit Pflegebedarf. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine effiziente Test- (Dr. Marco Buschmann [FDP]: Wir könnten strategie ist notwendig, um weiterhin gut durch das Pan- die Kapazitäten verdreifachen über die Veteri- demiegeschehen zu kommen, um gezielt gefährdete Per- närmedizin!) sonen und Berufsgruppen zu schützen und um die Das Konzept, wie diese Lücke zu schließen ist, bleibt die Testkapazitäten generell klug einzusetzen. Deshalb sind FDP schuldig. Der Antrag der FDP klingt gut, ist aber wir heute schon sehr viel weiter, als es der FDP-Antrag vollkommen wirkungslos. suggeriert. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Dr. Andrew Sehr geehrte Damen und Herren, es ist an der Zeit, Ullmann [FDP]) Nägel mit Köpfen zu machen und tatsächlich die Alter- nativen zu benennen. Antigentests müssen so schnell wie Zum Abschluss noch der Hinweis: möglich in die Teststrategie integriert werden, doch die Bundesregierung ignoriert das Potenzial, das in den Anti- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: gentests liegt. Und das, meine Damen und Herren, ist Nein, Frau Kollegin, die Redezeit ist zu Ende. vollkommen verantwortungslos. (Beifall bei der LINKEN) Sabine Dittmar (SPD): Lassen Sie sich impfen! Am Montag hat die Bundesregierung, Frau Staatssek- retärin, auf meine Frage nach der Genauigkeit dieser (Beifall bei der SPD) Tests völlig desinteressiert geantwortet, ihr sei dazu nichts bekannt. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Dr. Andrew Ullmann [FDP]: Das sind auch Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege keine Mediziner!) Dr. Achim Kessler, Fraktion Die Linke. (B) Dabei waren schon vor einem Monat 29 solcher Tests in (D) (Beifall bei der LINKEN) einer globalen Datenbank aufgelistet, wohlgemerkt mit- samt den Daten zu ihrer Zuverlässigkeit. Diese Ignoranz Dr. Achim Kessler (DIE LINKE): des Gesundheitsministeriums ist gefährlich und muss Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Über beendet werden. ein halbes Jahr nach Ausbruch der Pandemie hat die (Beifall bei der LINKEN) Bundesregierung noch immer keine schlüssige Teststra- tegie. Das ist der gesundheitspolitische Offenbarungseid Die Bundesregierung verlässt sich derzeit vollkommen der Bundesregierung und ihres überaus ehrgeizigen auf PCR-Tests. Gesundheitsministers. (Sabine Dittmar [SPD]: Stimmt nicht!) (Rudolf Henke [CDU/CSU]: Das ist doch auch Dabei sind diese Tests teuer. Es dauert mindestens zwei nicht wahr!) Tage, bis die Ergebnisse übermittelt werden können. Die Maßnahmen, die die FDP in ihrem Antrag vor- Außerdem ist die Verfügbarkeit sehr begrenzt. Die Anti- schlägt, halte ich im Großen und Ganzen für richtig. gentests hingegen sind billig, in riesiger Anzahl produ- (Beifall bei der LINKEN und der FDP – zierbar und sehr einfach in der Anwendung. Und sie Dr. Marco Buschmann [FDP]: Sehr gut!) liefern innerhalb weniger Minuten Ergebnisse. Denn solange es keine Impfung gibt, sind Tests eine (Zuruf des Abg. Rudolf Henke [CDU/CSU]) wirksame Methode zur Bekämpfung der Pandemie. Die 17 Antigentests sind in der EU inzwischen zugelassen. FDP schlägt beispielsweise vor, Kolleginnen und Kolle- Doch ich habe noch nichts davon gehört, liebe Bundes- gen in der Altenpflege alle 14 Tage zu testen. Das ist eine regierung, dass Sie sich auch nur bemüht hätten, solche richtige Forderung; denn in Pflegeheimen sind Coro- Tests in den Pflegeheimen anzuwenden. Selbst wenn die- naausbrüche besonders verheerend. Wir wissen das alle. se Tests nur 90 oder 60 Prozent der Infektionen erkennen, Aber wie die Bundesregierung hat auch die FDP kei- dann ist das doch wesentlich besser als die 0 Prozent, die nen realistischen Vorschlag zur Durchführung; und wir im Moment haben. darauf kommt es an. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Dr. Andrew Ullmann [FDP]: Ja, doch!) neten der FDP) In Deutschland arbeiten rund 1 Million Kolleginnen und Sorgen Sie dafür, dass die Antigentests in ausreichen- Kollegen in der Altenpflege. Sie alle zwei Wochen zu der Zahl hergestellt werden! Wir brauchen endlich eine testen, bedeutet 500 000 Tests pro Woche. Das ist knapp fundierte und eine wirksame Teststrategie, – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21769

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte. sowie bei Abgeordneten der FDP) Ein umfassender Infektionsschutz ist auch eine Aufgabe Dr. Achim Kessler (DIE LINKE): des Bundes. – insbesondere für Menschen mit besonderen Risiken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. sowie bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, Pflegefachkräfte und Mitar- beitende in Gesundheitseinrichtungen und Kliniken Vizepräsident Wolfgang Kubicki: haben durch ihren Einsatz dazu beigetragen, dass wir Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Kessler. – Nächste Red- gut durch die erste Phase von Covid-19 gekommen nerin ist die Kollegin Kordula Schulz-Asche, Fraktion sind. Wir alle miteinander – und ich betone: alle – müssen Bündnis 90/Die Grünen. uns dafür einsetzen, dass diese Gruppe keine finanziellen Nachteile durch regelmäßige Testungen haben wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die Pandemie ist nicht vorbei, meine Damen und Her- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Spätestens ren. Wir brauchen ein kluges, wissenschaftlich basiertes seit dem bayerischen Testdebakel, das wir erleben muss- Vorgehen, damit wir auch in der Lage sind, auf dynami- ten, dürfte auch vermeintlich vorbildlichen Krisenmana- sche Lagen im Herbst und im Winter zu reagieren. Dafür gern klar sein, dass es im weiteren Verlauf dieser Pande- brauchen wir eine intelligente Teststrategie; das ist von mie nicht um „härter, schneller, weiter“ geht, sondern großer Bedeutung. dass wir zu einer stabilen Kontrolle des Infektionsgesche- Lassen Sie mich abschließend zusammenfassen: Das hens kommen, und dafür müssen wir testen, testen, tes- ist ein guter Antrag; er könnte fast von uns sein. Ich freue ten. mich auf die Debatte im Ausschuss. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Danke schön. sowie bei Abgeordneten der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Und zwar viel testen, aber eben auch zielgerichtet testen. und bei der FDP – Dr. Marco Buschmann (B) Das ist das Entscheidende; denn die Testkapazitäten sind [FDP]: Mehr Lob geht gar nicht!) (D) beschränkt, und das bezieht sich nicht nur auf das Mate- rial, sondern der größte Engpass besteht, wie wir wissen, im Bereich des Personals. Bis es da zu Änderungen Vizepräsident Wolfgang Kubicki: kommt, brauchen wir eine praxistaugliche und intelligen- Der Kollege Dr. Roy Kühne, CDU/CSU-Fraktion, hat te Covid-19-Teststrategie, wie auch der Titel des FDP- seine Rede zu Protokoll gegeben.1) Ich finde, das ver- Antrags lautet, der übrigens sehr viele gute Forderungen dient auch einen Applaus. enthält. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNIS- und bei der FDP) SES 90/DIE GRÜNEN) Zwei Punkte liegen mir besonders am Herzen: Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Erich Irlstorfer, CDU/CSU-Fraktion, den ich Erster Punkt. Die Teststrategie muss ausgerichtet sein daran erinnere, dass es ein Drei-Minuten-Beitrag sein an bestimmten Gruppen in der Bevölkerung, also an wird. denen, die ein besonders hohes Risiko der Infektion haben und/oder die ein hohes Risiko von Komplikationen (Beifall bei der CDU/CSU) haben. Das sind zum Beispiel Kranke und Pflegebedürf- tige, aber natürlich auch Angehörige sowie Personen, die im Bereich der ambulanten und stationären Langzeitpfle- Erich Irlstorfer (CDU/CSU): ge oder im Krankenhaus arbeiten. Meine Damen und Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Herren, natürlich müssen auch andere Bereiche des nehme mir diese Worte sehr zu Herzen. Zu dem vorlie- gesellschaftlichen Lebens, wo ein besonderes Risiko genden Antrag kann ich nur eins sagen: Ich habe schon besteht, in diese spezifischen Teststrategien für die ein bisschen das Gefühl, dass man hier im Wesentlichen genannten Gruppen einbezogen werden. Dinge aus den Vorhaben der Bundesregierung kopiert, sie dann verpackt und hier neu präsentiert hat. Der zweite Punkt, der mir am Herzen liegt: Wenn eine solche Teststrategie für Menschen gilt, die besonderen (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Andrew Risiken ausgesetzt sind, dann muss auch sichergestellt Ullmann [FDP]: Nur besser! – Dr. Marco sein, dass die Kosten nicht zulasten des Öffentlichen Buschmann [FDP]: Wie war das denn mit Ihren Gesundheitsdienstes oder der gesetzlichen Versicherun- veterinärmedizinischen Kapazitäten?) gen gehen. Der Bund darf sich an dieser Stelle nicht aus seiner finanziellen Verantwortung verabschieden. 1) Anlage 8 21770 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Erich Irlstorfer (A) Ich kann nur sagen, meine sehr geehrten Damen und Überweisungsvorschlag: (C) Herren, wir sind doch alle daran interessiert, Lösungen Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz zu finden, und die Menschen so testen, wie es richtig ist, Ausschuss für Wirtschaft und Energie sodass wir sie im Endeffekt schützen. Das ist das, was Ausschuss Digitale Agenda zählt. Haushaltsausschuss Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten Sehr geehrte Kollegin Schulz-Asche, Sie reden hier beschlossen. – Der Platzwechsel ist auch nahezu vollzo- von einem bayerischen Testdebakel. Es ist ja klar, dass gen. man als Opposition diese Chance nutzt, um Kritik zu üben; aber ich kann Ihnen nur sagen: Uns leitet hierbei Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erstem nicht der olympische Gedanke – härter, schneller, Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Günter weiter –, vielmehr geht es um mehr Testungen, es geht Krings für die Bundesregierung das Wort. um Probetestungen, (Beifall bei der CDU/CSU)

(Dr. Andrew Ullmann [FDP]: Um richtige Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Testungen!) minister des Innern, für Bau und Heimat: und vor allem geht es darum, dass sie passgenau sind. Wir Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- möchten Risikogruppen schützen. Diese Tests sind ein ren! Die Bundesregierung legt Ihnen heute einen Gesetz- Mittel, das uns eine gewisse Sicherheit gibt und nicht entwurf zur Stärkung der Sicherheit im Pass- und Aus- nur Sicherheit vorgaukelt. Ich glaube, das ist das Ent- weiswesen vor, der in den letzten Monaten für einige scheidende. Aufmerksamkeit gesorgt hat. Im Fokus steht dabei, dass Passbilder aus Sicherheitsgründen ausschließlich digital Ich glaube auch, meine sehr geehrten Damen und Her- von privaten Dienstleistern oder in der Behörde erstellt ren, dass uns die Pandemie leider noch länger begleiten werden sollen. Wichtig ist mir, festzuhalten, dass es mög- wird, als wir es uns vorstellen können. Gerade in der lich bleibt, dass private Fotografen diese Bilder den Wissenschaft und in der Forschung – Sie haben das The- Behörden zuliefern. ma Antigentests und dergleichen angesprochen – werden Klar ist aber auch, dass es sich bei Ausweisen, bei wir immer dazulernen, egal in welcher Konstellation, ob Pässen um äußerst wichtige sicherheitskritische Doku- auf Landes- oder auf Bundesebene. Wir lernen doch täg- mente handelt. Viele private und staatliche Stellen und lich, damit zu leben. Wir sind in Wissenschaft und For- nicht zuletzt unsere Sicherheitsbehörden sind dringend schung aktiv. Und dieses Wissen gibt uns doch auch die darauf angewiesen, dass sie sich auf die Echtheit, die Möglichkeit zur Veränderung. Das ist doch eine Stärke, Wahrheit solcher Dokumente verlassen können. Aus die- (B) wenn man entsprechend reagieren kann. (D) sem Grunde hat man sich vor vielen Jahren nicht nur in Daran halten wir fest, und wir werden natürlich auch Deutschland dazu entschlossen – toller Fortschritt –, immer wieder neue Programme auflegen. Wir nehmen Lichtbilder in Pässe zu kleben, inzwischen sogar bio- viel Geld in die Hand, und wir sind der Überzeugung metrische Lichtbilder. Das alles waren damals, zu jener und der Meinung, dass eine Erhöhung der Menge an Tests Zeit, als man es eingeführt hat, Sicherheitsfortschritte. deutliche Verbesserungen bringt, dass Menschen dadurch Das Problem ist nur: Auch die Kriminellen bleiben geschützt und vor Leid bewahrt werden und somit auch nicht inaktiv, sie überlegen sich auch neue Dinge; für Leben gerettet werden. Das ist unser Ziel, und das treibt ihre sinisteren Zwecke nutzen auch sie den technischen uns an. Fortschritt. So ist bei der digitalen Bildbearbeitung inzwi- Herzlichen Dank. schen das sogenannte Morphing möglich geworden. Mit einer entsprechenden Software können so zwei oder (Beifall bei der CDU/CSU) sogar bis zu sieben Passbilder zu einem einzigen Gesamt- bild verschmolzen werden. Das neue Bild wird so konfi- guriert, dass es die biometrischen Merkmale beider oder Vizepräsident Wolfgang Kubicki: eben mehrerer Personen enthält. Somit kann nicht nur die Vielen Dank, Herr Kollege Irlstorfer, vorbildlich. – Passinhaberin, der Passinhaber, sondern eben auch eine Damit schließe ich die Aussprache. andere Person, deren Gesichtszüge dann biometrisch dem Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Passbild entsprechen, den Pass beispielsweise für den Drucksache 19/22114 an die in der Tagesordnung aufge- Grenzübertritt nutzen. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Über- Dazu bedarf es leider nicht einmal eines besonderen weisungsvorschläge? – Das sehe und höre ich nicht. technischen Spezialwissens. Man kann sehr einfach an Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. die entsprechende Software gelangen; sie wird intensiv und offensiv im Internet beworben. Als Ziel wird offen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: propagiert – Zitat –: staatliche Datenbanken mit Fehl- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- informationen zu fluten. – Eine Überprüfung, Detektion gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär- von Lichtbildern auf derartige Bearbeitung ist nach dem kung der Sicherheit im Pass-, Ausweis- und gegenwärtigen Stand der Technik noch sehr schwierig ausländerrechtlichen Dokumentenwesen und wäre wohl auf Dauer unmöglich, wenn Lichtbilder wie bisher erst ausgedruckt und später wieder einges- Drucksache 19/21986 cannt werden; der Medienbruch ist hier offensichtlich. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21771

Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings (A) Die Funktion von Pässen und Personalausweisen als Allein seit der Grenzöffnung 2015 kamen rund 2 Mil- (C) Dokumente zur Identitätskontrolle ist dadurch natürlich lionen angebliche Flüchtlinge ins Land, davon über 1 Mil- im Kern bedroht. Wir reagieren auf diese Bedrohung mit lion ohne Papiere, ohne jedweden Pass. Das ist unfassbar. diesem Gesetzentwurf. Künftig soll daher das Passbild (Gökay Akbulut [DIE LINKE]: Schwachsinn!) entweder unmittelbar in der Behörde aufgenommen oder ausschließlich von registrierten privaten Dienstleis- Ein solches Chaos hätte vor der Merkelzeit noch als völ- tern der Behörde digital übermittelt werden. lig unvorstellbarer Ausnahmezustand gegolten. An unse- ren Grenzen spielen sich unglaubliche Szenen ab. Schon Der Gesetzentwurf stärkt aber auch an anderer Stelle 2015 berichteten Beamte an der bayerischen Grenzsta- die Authentizität des Ausweisdokumentes. Ich will nur tion, dass alle paar Stunden Klempner die Toiletten aus- einen Punkt herausgreifen, den wir aufgenommen haben pumpen müssten, weil sie mit unzähligen Pässen ver- in Umsetzung der europäischen Verordnung zur Erhö- stopft waren. hung der Sicherheit der Personalausweise von Unio- nsbürgern: Erstmals werden für die Europäische Union (Gökay Akbulut [DIE LINKE]: Oh! Was haben einheitliche Sicherheitsstandards für Personalausweise Sie wieder getrunken?) verbindlich festgelegt. Das ist eine gute Sache und belas- Was hier ins Klo gespült wird, sind nicht nur irgendwel- tet uns nicht wesentlich, weil deutsche Ausweisdoku- che Pässe. Was hier im Dreck der Kanalisation versackt, mente diese dort festgelegten Vorgaben bereits ganz über- ist unsere Sicherheit, ist unsere Ordnung und das letzte wiegend erfüllen. Verpflichtend wird nun jedoch die bisschen Respekt vor unserem Rechtsstaat, meine Damen Speicherung des Fingerabdrucks im Chip des Personal- und Herren. ausweises vorgeschrieben. Das Personalausweisgesetz wollen wir an diese Vorgaben anpassen, weil europä- (Beifall bei der AfD – Gökay Akbulut [DIE isches Recht natürlich national anzupassen ist. LINKE]: Das müssen ausgerechnet Sie sagen!) Meine Damen und Herren, meine Redezeit reicht unter Wir sehen, Deutschland hat gigantische Probleme. der gestrengen Amtsführung des Bundestagspräsidenten (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Mit der AfD, natürlich nicht aus, um jetzt die übrigen Punkte des ja!) Gesetzentwurfes ebenfalls vorzustellen. Ich lade Sie Aber mit dem heutigen Gesetz geht es der Regierung daher ganz herzlich zum Selbststudium dieser Punkte nicht um deren Lösung, sondern um die Regelung – wir ein und bitte den Bundestag um intensive Beratung und haben es gerade gehört – winziger Details und um den zügige Verabschiedung des Gesetzentwurfes. üblichen linksgrünen Unsinn. Eine Kostprobe: Merkels Vielen Dank. neues Gesetz soll an der Grenze Genderdiskriminierung (B) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der verhindern. In Dokumenten kann jetzt statt Mann oder (D) CDU/CSU und der SPD) Frau ein drittes Geschlecht eingetragen werden, (Manuel Höferlin [FDP]: Das ist internationa- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: les Passrecht!) Herr Staatssekretär, herzlichen Dank für diese wirklich um, so wörtlich, „mögliche … Diskriminierung beim bemerkenswerten Worte. Ich möchte den Kollegen Grenzübertritt zu unterbinden“. Da kann man angesichts Schnieder darauf hinweisen, dass es mit Sicherheit nicht der Masse nur sagen: Wahnsinn! am Redner gelegen hat, dass die Präsenzstärke der Union Die Regierung will außerdem das sogenannte Mor- so ist, wie sie ist. Also, ich fand die Rede sachangemes- phing verhindern. Dabei wird aus Porträtfotos zweier sen. Menschen durch Bildbearbeitung ein Bild gemacht, das (Dr. Roy Kühne [CDU/CSU]: Fulminant!) beiden ähnelt. So können zwei Personen einen Pass benutzen. Aber ist das unser Hauptproblem? Was bringt Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Bernd es denn, wenn Pässe etwas fälschungssicherer sind, Baumann, AfD-Fraktion, das Wort. (Dr. Heribert Hirte [CDU/CSU]: Viel!) (Beifall bei der AfD) aber an unseren Grenzen niemand einen Pass braucht? Tausende strömen unkontrolliert ins Land, immer noch, Dr. Bernd Baumann (AfD): jeden Monat, trotz Corona. Das weit größere Problem als Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vergange- Passfälschung ist Merkels Verzicht auf jede Form von ne Woche nahm die Polizei bei Routinekontrollen einen Passkontrolle, millionenfach. Das muss aufhören, meine Mann fest. Eingereist als Flüchtling hatte er 35 verschie- Damen und Herren! dene Identitäten. (Beifall bei der AfD) (Gökay Akbulut [DIE LINKE]: Sie wiederho- len sich!) Fehlende Pässe verhindern auch die meisten Abschie- bungen. 250 000 Ausreisepflichtige werden vor allem Auch zwei Haftbefehle lagen gegen den Mann vor. Meine deshalb nicht abgeschoben. Die Folgen zeigen sich täg- Damen und Herren, 35-mal den deutschen Staat betro- lich, wie jetzt gerade in Berlin, wo ein abgelehnter Asyl- gen, vielleicht 35-mal Sozialhilfe abgezockt – das ist bewerber auf der Autobahn zig Fahrzeuge rammte und kein Einzelfall, das ist Alltag in Deutschland, und den viele Menschen schwer verletzte. Wegen nicht geklärter haben Sie zu verantworten, meine Damen und Herren. Identität wurde er nicht abgeschoben – seit drei Jahren. (Beifall bei der AfD) Was muten Sie den Bürgern zu! 21772 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Dr. Bernd Baumann (A) (Gökay Akbulut [DIE LINKE]: Mit der AfD!) Bei Ihrem Vortrag kommt mir in den Sinn: Die Idee ist (C) ja, dem Morphing Herr zu werden, um zu verhindern, Sie verwandeln unseren demokratischen Nationalstaat in dass Identitätstäuschung sich vollzieht. Ihr Antlitz könnte eine Art totalen Einwanderungsstaat mit Denkverboten man noch so sehr morphen, es wird an der falschen gegen jedes vernünftige Argument. Das sehen wir auch Gesinnung immer erkennbar bleiben. heute wieder hier, meine Damen und Herren. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN und des Abg. Uwe Kekeritz [BÜND- Was wir brauchen, was wir wirklich brauchen, NIS 90/DIE GRÜNEN]) (Gökay Akbulut [DIE LINKE]: Ist die Insofern ist die AfD fälschungssicher; das zumindest ist Abschiebung der AfD!) Ihnen gelungen. Das kann ich Ihnen nicht ersparen, da Sie ist eine systematische Ermittlung aller Identitäten. Vor- ja zur Thematik nicht geredet haben, es sich offensicht- bilder dafür gibt es. Nur ein Beispiel: die Ermittlungs- lich auch erspart haben, sich den Gesetzentwurf anzu- gruppe Identität des Berliner Landeskriminalamts. Da schauen. Gleichwohl haben Sie uns eindrucksvoll bewie- klärte eine winzige Truppe in kurzer Zeit Hunderte Iden- sen, dass Sie offensichtlich einen Merkel-Komplex titäten, Asyltäuscher konnten abgeschoben werden. haben – so oft, wie Sie Frau Merkel erwähnt haben. Offensichtlich muss die Kanzlerin – das muss ich auch (Gökay Akbulut [DIE LINKE]: Nur die AfD als Sozialdemokrat jetzt sagen – etwas richtig gemacht nicht!) haben. Sie haben sich auch nicht entblödet, von Gender- Das müssen wir massiv ausbauen, in Bund und Ländern. gaga oder links-grünem Gendergaga zu sprechen. Auch Meine Damen und Herren, wir müssen endlich damit da scheinen irgendwelche traumatischen Erlebnisse in beginnen, falsche Identitäten umfassend aufzuklären. der Vergangenheit zu liegen. (Beifall bei der AfD – Gökay Akbulut [DIE (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN) LINKE]: Ja! Und die falsche Identität der Ich konzentriere mich jetzt aber nicht auf die Traumata AfD!) der AfD – das machen wir demnächst wieder, morgen Die AfD hat dazu einen eigenen Vorschlag eingebracht. zum Beispiel –, sondern kurz auf drei Themen, die diesen Wer aber Ihr Gesetz liest, bekommt den Eindruck, die Gesetzentwurf betreffen, drei kritische Punkte. Grünen wären längst an der Macht. Punkt eins – es wurde schon geschildert – ist die Digi- (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE talisierung infolge der Gefährdung durch Morphing. Eine GRÜNEN]: Oh!) große Debatte – und das ist eigentlich ein Lehrbeispiel (B) dafür, wie Politik und Zivilgesellschaft um gute Lösun- (D) Deren Gendergaga macht Deutschland aber – das müssen gen ringen – wurde geführt über die Grundidee, dies wir deutlich sagen – nicht sicherer. komplett in die Verantwortung der Behörde zu überge- (Gökay Akbulut [DIE LINKE]: Selber gaga!) ben, Lichtbildaufnahmen nur dort behördlich durchfüh- ren zu lassen. Das würde aber bedeuten, dass die Foto- Deutschland braucht weniger Grün, auch auf der Regie- branche in eine echte Bredouille käme; denn zwei Drittel rungsbank, Deutschland braucht mehr Blau. der Unternehmen in diesem Bereich sind heutzutage wei- (Beifall bei der AfD – Dr. André Hahn [DIE testgehend noch von Lichtbildaufnahmen abhängig. Des- LINKE]: Er hat zu viel getrunken!) halb ist der Vorschlag, wie er Ihnen zur Entscheidung – erst zur Beratung im Ausschuss – vorliegt, ein durchaus Vizepräsident Wolfgang Kubicki: salomonischer; denn beide Möglichkeiten werden eröff- net. Die digitale Übermittlung durch den privaten Dienst- Nun hat das Wort der Kollege Helge Lindh, SPD-Frak- leister ist wichtig, weil wir, erst recht unter den jetzigen tion. Bedingungen, diese Branche nicht einfach zusammenbre- (Beifall bei der SPD – Beifall bei Abgeordne- chen lassen können. Die Branche ist in der Lage, Sicher- ten der AfD) heitsstandards einzuhalten. (Unruhe) Helge Lindh (SPD): Ah, die Fans von der AfD wieder; ich freue mich. – Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Herr Hemmelgarn? Ich hoffe sehr. (Heiterkeit bei der SPD sowie der Abg. Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE (Udo Theodor Hemmelgarn [AfD]: Ja!) GRÜNEN]) Dass ich jemanden mit meiner Rede so in Unruhe ver- Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle- setze, hätte ich jetzt nicht gedacht bei dem Thema; aber es gen! Ich will jetzt auch ein Lächeln in Ihr Gesicht zau- gelingt offensichtlich. bern, noch mehr Lächeln; denn ich möchte eigentlich die (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sagen Sie doch sieben Minuten nicht ausschöpfen. einmal etwas zur Sache!) (Beifall des Abg. Karsten Hilse [AfD]) – Das tue ich ja die ganze Zeit. Sie haben ja nur über Frau Ich werde es auch nicht tun – wobei ich nach der Rede Merkel und ihren Genderkomplex gesprochen, ich spre- von Herrn Baumann versucht wäre, es zu tun. che zum Thema. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21773

Helge Lindh (A) Die andere Möglichkeit ist eben, Lichtbildaufnahmen (Heiterkeit) (C) in der Behörde zu machen, entweder über Selbstbedie- nungsautomaten oder eben mit Kamerasystem unter – Ich spreche auch von mir. behördlicher Betreuung. Diese Option ist sinnvoll, sie Nächster Redner ist der Kollege Manuel Höferlin, berücksichtigt auch weitere Aspekte, etwa dass Men- FDP-Fraktion. schen mit Behinderung so bessere Möglichkeiten haben, und sie ist auch unbürokratisch; denn wenn Zweifel an (Beifall bei der FDP) Qualität oder Sicherheit bestehen, kann kurzfristig in der Behörde mit dem Kamerasystem ein Bild gemacht wer- den. Punkt eins wäre damit sinnvoll gelöst. Manuel Höferlin (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- Kommen wir zu Punkt zwei. Herr Professor Krings nen und Kollegen! Bei dem Gesetzentwurf der Bundes- erwähnte schon die Frage der Fingerabdrücke. Sie wird regierung geht es im Kern – das hat der Staatssekretär heiß diskutiert und wird in den kommenden Wochen und ausgeführt – um das Thema Morphing, das digitale Ver- Monaten – eher Wochen – sicher noch eine Rolle spielen. ändern von Bildern. Das ist ein wichtiges Thema bei der Aber wir setzen da nicht einfach etwas um, weil es uns Fälschungssicherheit von Ausweispapieren. Sie haben Spaß macht, sondern weil die EU-Verordnung dies vor- das super erklärt. Da muss man nichts mehr hinzufügen. sieht. Angesichts der datenschutzrechtlichen Standards der EU scheint uns das nicht nur geboten, sondern auch Ich stehe hier und kann nicht anders, als die Bundes- verantwortbar und sinnvoll. Aber wir wissen – man kennt regierung tatsächlich zu loben. Sie haben ein bisschen die Kritik von Digitalcourage –, es ist ein strittiges The- dafür gesorgt, bei digitalen Lösungen eines analogen ma. Problems voranzugehen, und Sie haben Ihren Standpunkt Kommen wir zum dritten spannenden Aspekt, der beim Thema Passbilder innerhalb eines halben Jahres sicher noch für einige Diskussionen sorgen wird: Um komplett geändert. Kurzer Rückblick auf Januar: Ihr ers- die Behörden entsprechend mit Lichtbildapparaten aus- ter Entwurf sah ein Verfahren vor, bei dem die Menschen zustatten, sieht der jetzige Vorschlag des BMI vor, dass ihr Bild an einem Automaten in der Ausweisstelle selbst die Bundesdruckerei dies machen wird. Die meisten, die machen sollten, während ein Mitarbeiter dabei steht und sich mit dem Thema – anders als Herr Baumann – wirk- dies beaufsichtigt, sozusagen betreutes Selbstportrait. lich befasst haben, wissen, dass es daran erhebliche Kritik Das haben Sie jetzt abgeschafft. Das finde ich einen guten aus der Biometriebranche gibt, weil man Zweifel hat, Weg. dass diese Standards allein von der Bundesdruckerei Sie hätten es auch fast geschafft, zweimal ein und die- sichergestellt werden können, und weil es letztlich auch (B) selbe Branche zu brüskieren. Die Fotografen waren schon (D) ein wirtschaftliches Problem ist. Unsere Aufgabe als Par- bei der verkorksten Umsetzung der DSGVO auf der Pal- lament, im Ausschuss und letztlich hier bei der Entschei- me. Aber auch da haben Sie vielleicht jetzt noch die dung, wird sein, zwischen Sicherheits- und Wirtschafts- Kurve bekommen. interessen abzuwägen, uns – das finde ich notwendig – die Argumente der Biometriebranche ganz genau anzu- Aber – Sie ahnen es – meinem kleinen Lob folgt natür- hören und dann eine vernünftige Entscheidung auf lich auch ein Aber. Auch wenn die Bundesregierung eini- Grundlage von Datenschutz, Sicherheit und wirtschaft- ge Änderungen an dem ersten Entwurf geschafft hat, den lichen Erwägungen zu treffen. wir jetzt weiter verhandeln werden, trauen Sie sich nicht wirklich, den Erstellungsprozess der Ausweisdokumente Insgesamt also ein sehr sinnvoller, sachlicher, jenseits digital zu transformieren. Schade. Es wäre so schön von vermeintlichem Gendergaga und Merkel-Komplexen gewesen. Stellen Sie sich einmal vor: Jeder von uns hat notwendiger Vorschlag, der sogar noch sicherstellt, dass einen Personalausweis mit einer eID. Wenn es eine App Strafgefangene künftig besser gesellschaftlich integriert gäbe, bei der ich mich sicher identifizieren könnte, einen werden; denn sie müssen spätestens drei Monate vor ihrer Antrag ausfüllen könnte, mein eigenes Bild machen Entlassung aus der Haft einen Personalausweis bekom- könnte, es zur Behörde schicken könnte, dann müsste men. Das ist klug, eine Anpassung an die Realität und ein ich nur noch einmal zum Amt gehen, um den Personal- Beitrag zur Resozialisierung. So muss Gesetzgebung ausweis abzuholen. Das wäre ein digital transformierter gehen. Vorgang eines Verfahrensweges in der Verwaltung, der Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Ich bin ein- dringend angemessen gewesen wäre. Leider haben Sie deutig unter sieben Minuten geblieben. Meine Parlamen- sich nicht getraut, wirklich digital zu transformieren. tarische Geschäftsführerin lächelt genauso wie Herr Das wäre schön gewesen. Kubicki – ein schöner Abend. (Beifall bei der FDP) Vielen Dank. Ich hoffe, Sie schaffen es noch, im weiteren Verfahren (Beifall bei der SPD – Beifall bei Abgeordne- noch etwas Mut zu fassen. Es ist ein bisschen so, als ob ten der AfD) Sie im Schwimmbad auf die Leiter gestiegen wären, auf dem 10-Meter-Brett fast angekommen wären, sich aber Vizepräsident Wolfgang Kubicki: noch nicht richtig trauen, zu springen. Vielleicht liegt es Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. Vielleicht kann ich auch daran, dass die Verwaltung doch noch nicht ganz hier auch ein Lächeln auf Ihr Gesicht zaubern, wenn ich digital transformiert ist, was sichere Übertragungswege sage: Sie haben nicht nur in der AfD-Fraktion Fans. angeht. Wir werden es sehen. 21774 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Manuel Höferlin (A) Zum Schluss eine letzte Bemerkung – der Kollege Ich bin froh, dass wir für das Fotostudio – es ist ange- (C) Lindh hat es schon angemerkt –: Ich gehe fest davon sprochen worden – eine Lösung gefunden haben und wir aus, dass wir im weiteren Verfahren nicht die Formulie- beide Varianten möglich machen. Wer also in Zukunft ein rung stehen lassen werden, dass es einen Fotoautomaten, künstlerisch anspruchsvolles Passfoto haben möchte, der ein Produkt geben wird. Es ist, glaube ich, völlig undenk- kann weiterhin zum Experten gehen und dort das Foto bar, dass der Innenminister per Verordnung vorgibt, ein machen lassen. Er muss das nicht in der Behörde machen. Produkt in alle Verwaltungen zu stellen. Das ist auch Dort wird es sicherlich eher ein Standardfoto werden. völlig unnötig. Es gibt viele am Markt, die es genauso Noch etwas möchte ich in diesem Zusammenhang gut können. Sie können ja den Rahmen vorgeben. Dann erwähnen: Ich war jahrelang Bürgermeister und habe des- kann man es ausschreiben. Ich glaube, das ist ein richtiger halb natürlich, Herr Staatssekretär, auch die kommunalen Weg. Darüber werden wir uns im weiteren Verfahren Verwaltungen vor Ort im Blick. Wir werden schon genau unterhalten müssen. darauf achten müssen, wie die zusätzliche Belastung in Vielen Dank. den Meldeämtern unserer Städte und Gemeinden aus- sieht. Es wird sicherlich einen höheren Zeitaufwand (Beifall bei der FDP) bedeuten, dieses Verfahren dort anzuwenden. Dort werde ich natürlich auf einen fairen Ausgleich achten, und – das Vizepräsident Wolfgang Kubicki: ist auch vom Kollegen Lindh angesprochen worden – ich Herzlichen Dank, lieber Kollege Höferlin. – Die Kol- werde auch gemeinsam mit den Kolleginnen und Kol- leginnen Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke, und Filiz Polat, legen im Innenausschuss noch einmal sehr genau den Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, haben Ihre Reden zu Blick darauf werfen, wie wir mit den Herstellern der Protokoll gegeben.1) Fotoautomaten umgehen. Da, glaube ich, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Josef Oster, CDU/CSU-Fraktion. Meine Damen, meine Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, alles in allem, finde ich, sind das gute und (Beifall bei der CDU/CSU) notwendige Verbesserungen, die in diesem Gesetzent- wurf stehen. Es sind sinnvolle Nachschärfungen bezüg- Josef Oster (CDU/CSU): lich der Sicherheit unseres Personalausweises. Ich sage es Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen abschließend noch einmal: mehr Sicherheit für die Bür- und Kollegen! Wir beraten zu später Stunde ein, wie ich gerinnen und Bürger, mehr Komfort für die Bürgerinnen finde, gutes Gesetz. Es geht um unseren guten alten Per- und Bürger. Damit ist das ein nahezu perfekter Gesetz- sonalausweis, der ein bisschen in die Jahre gekommen ist. entwurf. (B) (D) Es geht darum, ihn sicherheitstechnisch nachzuschärfen. Vielen Dank. Für uns, die Unionsfraktion, ist klar: Die Sicherheit unse- res Personalausweises hat für uns höchste Priorität. Es (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- geht letzten Endes um die Eintrittskarte in unser Land. ordneten der SPD) Es geht für mich aber noch um mehr. Es geht in Zukunft immer stärker auch darum, dass der Personalausweis zur Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Eintrittskarte zu nahezu allen staatlichen Dienstleistun- Vielen Dank, Herr Kollege Oster. – Der Kollege Hans- gen wird. Wir wollen nahezu jede Dienstleistung der Jürgen Irmer, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede zu öffentlichen Verwaltung in Deutschland digital zugäng- Protokoll gegeben.2) Mit dieser Feststellung schließe lich machen. Dabei wird der Personalausweis eine zent- ich die Aussprache. rale Rolle spielen. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- Herr Höferlin, ich bin ganz bei Ihnen. Das, was wir fes auf Drucksache 19/21986 an die in der Tagesordnung heute machen, kann nur ein Schritt sein auf dem Weg aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere hin zu einem vollständig digitalisierten Personalausweis. Überweisungsvorschläge? – Das sehe und höre ich nicht. Das muss das Ziel sein. Aber er muss dann auch sicher Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. sein, und dazu tragen wir heute einen wichtigen Teil bei. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Es geht in diesem Zusammenhang aber nicht nur um Sicherheit – ich will das hier auch betonen –, es geht Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ schlicht und ergreifend auch um eine Erleichterung für CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines die Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande: auf der Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung einen Seite mehr Sicherheit, auf der anderen Seite eine des Bundeswahlgesetzes Erleichterung. Ich muss, wenn ich einen neuen Personal- Drucksache 19/20596 ausweis brauche, nicht mehr zwingend vorher ins Foto- Überweisungsvorschlag: studio. Diesen Gang kann ich mir ersparen. Ich muss ihn Ausschuss für Inneres und Heimat (f) mir nicht ersparen, aber ich kann ihn mir ersparen. Also: Ausschuss für Wahlprüfung eine Erleichterung, mehr Sicherheit, mehr Komfort. Ich Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz würde fast sagen: Es ist ein nahezu perfekter Gesetzent- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten wurf. beschlossen. – Platzwechsel finden nicht statt.

1) Anlage 9 2) Anlage 9 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21775

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- in diesem Land eine Bundestagswahl mit Blick auf unse- (C) ner dem Kollegen Michael Frieser, CDU/CSU-Fraktion, re normalen Empfindungen und Ansprüche also nicht das Wort. mehr organisierbar ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Deshalb kann über den Weg dahin sehr wohl debattiert und gestritten werden; das ist auch gut so. Wir machen den Vorschlag, dass das Bundesministerium des Innern Michael Frieser (CDU/CSU): nur dann diese Organisation über eine Verordnung regeln Vielen Dank. – Herr Präsident! Werte Kolleginnen und kann, wenn auch das Parlament den entsprechenden Kollegen! Covid-19 hat uns nicht nur vor große Heraus- Zustand feststellt. forderungen, sondern auch unsere Geduld auf eine extre- me Probe gestellt. Wir – bis hinauf zum Parlament – Jetzt kann man sagen: Der Bundestag müsste sich dazu haben, wie selten in der Geschichte dieses Landes, in versammeln. Was ist aber, wenn er sich nicht mehr ver- einer Geschwindigkeit lernen müssen: Wie geht man sammeln kann? Also machen wir das über den Wahlprü- mit so etwas um? fungsausschuss, der gemeinhin nicht nur über eine beson- dere Legitimation verfügt, sondern eben auch ein sehr Die Bürgerinnen und Bürger haben das Ihre getan, viel kleinerer Spiegel dieses Parlamentes ist. haben sich diszipliniert und zurückgehalten. Das ist der Grund, warum Deutschland im Augenblick so dasteht, Deshalb glauben wir, dass es an dieser Stelle wirklich wie es dasteht, nämlich gut. das mildeste Mittel des Eingriffs ist, dass wir die Gewal- tenteilung – das Einbeziehen des Parlaments – aufrecht- Aber im Ergebnis läuft es darauf hinaus, dass wir als erhalten, aber dann die organisatorischen, formalen Wege Parlament feststellen mussten: Eigentlich ist nur der Ver- beim Bundesinnenministerium verorten. Der Punkt ist, teidigungsfall wirklich geregelt. Deshalb gilt es, für die die Parteien in ihrer Eigenständigkeit, in ihrer Organisa- Herausforderungen, die auf unsere Demokratie zukom- tionsselbstständigkeit zu unterstützen, damit sie flexibel men – nicht nur im Falle einer Pandemie, sondern auch auf diese Situation reagieren, flexibel – auch übrigens in in anderen, wesentlichen Krisen –, einen Weg zu finden, den Regionen flexibel – von ihrer Satzung Gebrauch wie man etwas ganz Grundsätzliches erhält, nämlich die machen und weiterhin die Demokratie von unten nach Grundprinzipien der Demokratie. Worauf fußen die? Das oben organisieren können. Grundgesetz macht nicht umsonst ein solches Aufheben um die Organisation dieser Demokratie, weil es um etwas Deshalb glaube ich: Wir haben wirklich viel gelernt – ganz Wesentliches geht, nämlich um den Grundsatz der auch in dieser Krise –, bis hin zu einem wirklich digitalen Macht auf Zeit. Macht auf Zeit heißt Periodizität. In Schub. Es gilt, auch darüber nachzudenken, wie wir über (B) bestimmten Abständen müssen Wahlen durchgeführt diesen Zeithorizont und natürlich auch über die Frage (D) werden, um die Macht dem Souverän, den Bürgerinnen hinaus, wie wir einen solchen Krisenfall meistern kön- und Bürgern, wieder zurückzugeben. nen – natürlich sind Parteien auch Vereine; deshalb müs- sen wir sie auch gleichbehandeln –, in Zukunft mit digita- Was machen sie, wenn Versammlungen in diesem len Parteitagen umgehen und wie in Zukunft die Land nicht mehr möglich sind? Ich glaube, dass ich in Meinungsbildung von unten nach oben möglichst barrie- meinem lauschigen Mittelfranken von Flutkatastrophen refrei funktionieren kann. relativ verschont bleibe, andere Ecken in diesem Land vielleicht nicht. Was ist im Falle einer Pandemie, wenn Es ist ein Anfang, diesen Schub zu verwenden, um uns sich Menschen nicht mehr versammeln können? Genau auch dafür zu wappnen, diese unsere so wichtige Demo- darum geht es. Bei der Änderung des Bundeswahlgeset- kratie, die sich als schlagkräftig erwiesen hat, auch in zes geht es darum, die Handlungsfähigkeit zu erhalten. Zukunft in Krisen und bei Herausforderungen aufrecht- Die Funktionalität wird nun mal über uns und über viele zuerhalten und zu verteidigen. Tausende von Mandatsträgern in diesem Land sicherge- Vielen Dank. stellt. Deshalb geht es darum: Wie schaffen wir es, dass die (Beifall bei der CDU/CSU) Übertragung dieser Macht auf Zeit auch in Fällen des großen Drucks, der großen Herausforderungen gewähr- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: leistet werden kann? Das wollen wir nicht einfach dele- Herzlichen Dank, Herr Kollege Frieser. – Nächster gieren, indem wir sagen: „Liebes Bundesministerium des Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Jochen Innern, mach, was du willst“ – Kollege Krings, nehmen Haug. Sie mich nicht so ernst –, sondern wir wollen, dass die Gewaltenteilung an dieser Stelle erhalten bleibt, dass das (Beifall bei der AfD) Parlament mit einbezogen ist. Jochen Haug (AfD): (Konstantin Kuhle [FDP]: Stimmt doch nicht!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Schon jetzt hat das Bundesinnenministerium, was das Bemerkung vorab, Herr Frieser: Ich bin jetzt schon ein Thema „Wahlen und ihre Organisation“ anbetrifft, extre- bisschen erstaunt. Sie sprechen hier an, es werde nichts an me Möglichkeiten, gerade über den Verordnungsweg. das Bundesinnenministerium delegiert und der Gewal- Hier geht es aber darum, dass wir – das Parlament, der tenteilungsgrundsatz sei gewahrt. Es ist natürlich genau Souverän – feststellen müssen, wann eine solche Situa- das Problem, dass das hier in keiner Weise der Fall ist; tion tatsächlich eingetreten ist, wann am Ende des Tages aber darauf werde ich gleich in meiner Rede eingehen. 21776 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Jochen Haug (A) Meine Damen und Herren, Demokratie lebt von Prä- Über die Praktikabilität ähnlicher Dinge: kein Wort. (C) senz, von der Zusammenkunft zur selben Zeit am selben Dies kann dem Bestimmtheitsgrundsatz selbstverständ- Ort, sei es in einer Versammlung der Bürger, sei es in lich nicht Genüge leisten. einer Versammlung der Abgeordneten im Parlament oder in einer Versammlung der Partei. Hier werden die Man muss sich das im Übrigen vor Augen führen: Sie gemeinsamen Angelegenheiten beraten und entschieden. wollen hier die Möglichkeit der Abweichung von demo- Folgerichtig schreibt auch das Bundeswahlgesetz vor, kratischen Spielregeln einführen, die sich über Jahrzehn- dass Kandidaten zur Bundestagswahl in Versammlungen te herausgebildet haben, und dann sagen Sie im Gesetzes- bestimmt werden müssen. Die Koalitionsfraktionen legen text nicht einmal näherungsweise, wie Sie sich ein nun im Zuge der Coronakrise einen Gesetzentwurf vor, Aufstellungsverfahren ohne Präsenzveranstaltung vor- der die Möglichkeit der Abweichung hiervon schaffen stellen. Das ist grotesk. will. (Beifall bei der AfD) Was genau steht in diesem Gesetzentwurf? Das Bun- Was bleibt abschließend zu sagen? Der vorliegende desinnenministerium soll im Falle einer Naturkatastrophe Gesetzentwurf enthält in einem der sensibelsten Bereiche oder eines ähnlichen Ereignisses – wir alle wissen: es ist der Demokratie quasi eine Blankovollmacht für das Bun- an Corona gedacht – ermächtigt werden, durch Rechts- desinnenministerium. Er verstößt gegen den Gewaltentei- verordnung Regelungen zur Benennung von Wahlbewer- lungsgrundsatz und das Demokratieprinzip. bern ohne Versammlungen zu treffen. Voraussetzung soll die Feststellung des Wahlprüfungsausschusses des Deut- Wir lehnen ihn selbstredend ab. schen Bundestages sein, dass die Durchführung von Ver- Danke schön. sammlungen ganz oder teilweise unmöglich sei. (Beifall bei der AfD) Nun ist sicherlich nichts dagegen einzuwenden, für Krisensituationen Notfallregelungen zu treffen. Was Sie hier heute aber vorlegen, ist verfassungswidrig. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Herzlichen Dank, Herr Kollege Haug. – Nächster Red- (Beifall bei der AfD) ner ist der Kollege Mahmut Özdemir, SPD-Fraktion. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfas- sungsgerichts muss der parlamentarische Gesetzgeber (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten alle wesentlichen Entscheidungen selber treffen. Er darf der CDU/CSU) sie nicht anderen Normgebern oder der Exekutive über- (B) lassen. Die Delegation wesentlicher Entscheidungen Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD): (D) käme einem Akt der Selbstentmachtung gleich. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Eine Neuregelung des Wahlrechts, genauer gesagt: der Kollegen! Zum Inhalt des Gesetzentwurfs wurde schon Kandidatenaufstellung – und hier geht es um eine Neu- einiges gesagt, und abermals dazu vorzutragen, halte ich regelung –, ist ein Paradebeispiel für die Wesentlichkeit nicht für notwendig. unter Grundrechts- und Demokratieaspekten. Es ist eine (Konstantin Kuhle [FDP]: Du hast doch sieben Operation am Herzen der Demokratie. Sie muss vom Minuten!) parlamentarischen Gesetzgeber selbst verantwortet wer- den. Keinesfalls darf sie der freien Rechtsschöpfung Deshalb möchte ich Ihnen lieber die Beweggründe mei- durch die Exekutive überlassen werden. Somit scheidet ner SPD-Bundestagsfraktion mitteilen, warum wir dieses eine Regelung durch Verordnungsermächtigung, wie sie Änderungsgesetz einbringen. hier von Ihnen vorgesehen ist, bereits grundsätzlich aus. Die Covid-19-Pandemie hat dazu geführt, dass wir in (Beifall bei der AfD) vielen Lebensbereichen unsere Gewohnheiten ändern mussten, und sie hat das öffentliche Leben teilweise Nun könnte man die Prüfung des Gesetzentwurfs an zum Erliegen gebracht. Wir haben Entscheidungen in dieser Stelle beenden, wenn er nicht auch noch in sonsti- diesem Hause allerdings immer ohne Unterbrechungen ger Weise völlig missraten wäre. Er verstößt nämlich und auch ohne nennenswerte Brüche treffen können. auch gegen den Bestimmtheitsgrundsatz. Die Parteiendemokratie war immer intakt, und Wahlen Nur einmal angenommen, eine Regelung durch dürfen ebenfalls unter keinen Umständen beschränkt Rechtsverordnung wäre hier rechtlich zulässig. Dann werden. Vielmehr ist es auch unsere Aufgabe als Hort müssten nach Artikel 80 Grundgesetz Inhalt, Zweck der Demokratie, hier die entsprechenden sicheren Lösun- und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz gen dafür zu finden. bestimmt werden. Mit anderen Worten: Der parlamenta- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) rische Gesetzgeber müsste der Verwaltung ein Programm vorgeben. Daran fehlt es hier völlig. Der Gesetzestext Ich finde, wir haben gelernt, dass die Durchführung selbst verliert kein einziges Wort darüber, auf welchem größerer Versammlungen, wie zum Beispiel Mitglieder- Wege die notwendigen Aufstellungsversammlungen versammlungen oder Parteitage, durch die derzeitige ersetzt werden sollen. Lediglich in einem kurzen Absatz Situation und insbesondere auch durch die Verordnungen der Begründung sind Alternativen vage angedeutet, etwa in den Ländern zu Versammlungen einerseits organisato- eine Vorstellung der Kandidaten auf schriftlichem oder risch, andererseits aber natürlich auch gesetzlich und elektronischem Wege mit anschließender Briefwahl. finanziell unmöglich wird bzw. vor schwierigste Heraus- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21777

Mahmut Özdemir (Duisburg) (A) forderungen gestellt ist. Die Verfassung kennt solche Das alles sind Einlassungen und Diskussionsentwürfe im (C) Lagen als Naturkatastrophen oder Ereignisse von ähnlich Rahmen der ersten Lesung. Kein Gesetzentwurf verlässt höherer Gewalt. dieses Haus so, wie er reingekommen ist. Das ist die Struck’sche Regel, und daran halten wir Sozialdemokra- Diese Änderung des Bundeswahlgesetzes ist jetzt der ten uns natürlich diszipliniert. Versuch, einen pragmatischen Lückenschluss zu finden, um mehr Rechtssicherheit hinzukriegen, und Rechtssi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des cherheit für die Bundestagswahlen und auch für deren Abg. Dr. Heribert Hirte [CDU/CSU]) Vorbereitung ist unsere vornehmste Pflicht hier in diesem Wir wollen eine bundeseinheitliche Regelung schaf- Haus. fen, damit in allen Bundesländern die gleichen Vorschrif- ten gelten, aber wir wollen nicht, dass aufgrund von Ich finde, wir müssen für 2021 – und das ist das oberste Coronaverordnungen irgendwelche Versammlungen in Gebot – gucken: Was regelt das Bundeswahlgesetz einem Bundesland möglich, aber woanders nicht möglich eigentlich? Das Bundeswahlgesetz regelt, wann wir sind oder Parteien zu kreativen Regelungen greifen müs- Bewerberinnen und Bewerber aufstellen dürfen, wann sen. Was beispielsweise in Nordrhein-Westfalen jetzt wir Vertreterinnen und Vertreter wählen dürfen, um die durch eine Anpassung der Coronaregelungen möglich Versammlungen zu bevölkern, die sie wählen sollen, und geworden ist, war in anderen Bundesländern nicht mög- wann diese Versammlungen frühestens stattfinden kön- lich, und das darf nicht sein. Wenn wir unsere Demokratie nen. bundeseinheitlich zu jeder Zeit ins Werk setzen wollen, Herr Haug, Sie haben gerade davon gesprochen, dass müssen wir hier als Bundesgesetzgeber auch tätig wer- das nicht hinreichend bestimmt sei. Ich weiß nicht, ob Sie den. das Grundgesetz nicht gelesen und das System von Ge- Gesetze sind keine Satzungen der Parteien. Es wäre setz und Verordnungsermächtigung nicht verstanden geradezu widersinnig, wenn wir hier ein Gesetz machten haben. und am Ende des Tages sich Parteien wieder zusammen- setzen müssten, um ihre Satzungen anzupassen, um von (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Enrico dem, was im Gesetz steht, Gebrauch machen zu können. Komning [AfD]: Er ist Volljurist!) Wer diesen zwei Sätzen gerade folgen konnte, dem Aber in § 52 Bundeswahlgesetz steht die Verordnungs- möchte ich noch sagen: Eine Partei kann in einer Not- ermächtigung, und diese sorgt dafür, dass technische lage – und nichts anderes als einen Notmechanismus wol- Anweisungen zum formellen Wahlrecht auch vom Bun- len wir herstellen – vom Gesetz direkt Gebrauch machen. desinnenministerium getroffen werden können. Die leitenden Gremien einer Partei müssen von diesen (B) (D) Mit diesem Änderungsgesetz verfeinern wir das Rege- gesetzlichen Grundlagen unmittelbar Gebrauch machen lungsgefüge, und wir bauen zusätzlich eine demokrati- dürfen. sche Absicherung ein – und das Ganze eben für den Das ist ein Gesetzentwurf zur Gesetzesänderung, der Fall, dass ganz oder teilweise eine Unmöglichkeit Lehren aus der aktuellen Covid-19-Pandemie zieht. besteht, solche Versammlungen bzw. Veranstaltungen (Thomas Seitz [AfD]: Welche Pandemie? – durchführen zu können. Derartige Unmöglichkeiten dür- Lachen bei der SPD und der CDU/CSU sowie fen Parteien nicht der Möglichkeit berauben, Bewerbe- bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und rinnen und Bewerber aufzustellen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall des Abg. René Röspel [SPD]) – Humor am Abend, Wenn Versammlungen von Anwesenden nicht möglich (Enrico Komning [AfD]: Der war gut!) sind – beispielsweise aus Gründen des Gesundheitsschut- auch wenn es schwarzer Humor ist! zes –, müssen wir hier neue Wege einräumen und auch (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Brauner!) gehen. Viel mehr noch: Wir müssen in jeder Situation und in jeder Lage die Parteiendemokratie, die Willensbildung – „Brauner“ Humor. Ich finde, das ist einfach die Ver- innerhalb der Parteien, angepasst ermöglichen. neinung von Wahrheiten; das muss man hier in diesem Haus, glaube ich, auch mal öffentlich machen. Das, was (Karsten Hilse [AfD]: Ihr wollt schon vorsor- diese Kolleginnen und Kollegen hier machen, ist einfach gen! Echt mal! Das ist so durchsichtig!) die Verneinung der Wahrheit. Ich finde, der neue Absatz 4 genügt diesen Ansprü- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten chen, die ich gerade formuliert habe und die die SPD- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Bundestagsfraktion mitträgt. GRÜNEN) Wir haben die Regelung auf die Aufstellung von Wahl- Ich hoffe inständig, dass wir von diesem Änderungs- bewerberinnen und Wahlbewerbern begrenzt und sind im gesetz und von diesen Regelungen nie Gebrauch machen Rahmen eines gestuften Verfahrens auch gerne dazu müssen. bereit, den Bundestag anstelle des Wahlprüfungsaus- (Karsten Hilse [AfD]: Ihr widersprecht euch!) schusses einzusetzen bzw. den Wahlprüfungsausschuss – Ich würde meine Rede gerne fortsetzen. nachgelagert vorzusehen. (Karsten Hilse [AfD]: Können Sie gerne (Konstantin Kuhle [FDP]: Sehr großzügig!) machen!) 21778 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Mahmut Özdemir (Duisburg) (A) Sie können gleich gerne weiterpöbeln, aber ich würde (Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Oh!) (C) gerne meine Rede halten, und Sie können sich dem demo- Wir sprechen heute über das 25. Änderungsgesetz zum kratischen Diskurs im Ausschuss gerne stellen. Bundeswahlgesetz, und es gibt innerhalb der politischen Das ist ein Notmechanismus. Er hat enge Vorausset- Parteien und zwischen den politischen Parteien sowie den zungen, einen begrenzten Anwendungsbereich und eine Fraktionen hier im Haus ja eine sehr ausgiebige Debatte demokratische Absicherung durch den Wahlprüfungsaus- über den Zusammenhang zwischen politischen Prozessen schuss, damit er eben nicht zweckentfremdet werden und Digitalisierung. Das war vor Corona richtig, und das kann. ist während Corona richtig. Es ist auch nach Corona Die erste Lesung ist zugleich immer auch ein erster weiter erforderlich, dass politische Prozesse an die Digi- Aufruf des Themas, und weitere Themen liegen weiterhin talisierung angepasst werden. auf dem Tisch. Ich spreche nur mal an, dass vereinsrecht- (Beifall bei der FDP) liche Regelungen und Anpassungen insbesondere für Parteien weiterhin notwendig sind, insbesondere im Hin- Wir müssen über digitale Parteitage sprechen, wir blick auf die Digitalisierung. Ich sehe, dass auch die müssen über eine digitale Kandidatenaufstellung spre- Selbstvergrößerung des Deutschen Bundestages nach chen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber es gab bei der jüngsten Einigung im Koalitionsausschuss als ein mir in den letzten Monaten durchaus die eine oder andere weiteres Thema für diesen Regelungskomplex auf dem Sitzung, die digital stattgefunden hat und etwas kürzer Verhandlungstisch liegt, ausgefallen ist. Manche sind sogar ganz ausgefallen, und man muss sagen: Die Digitalisierung hat hier durch- (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: aus eine segensreiche Wirkung auf den einen oder ande- Da haben Sie ja total versagt!) ren politischen Prozess, und wir sollten diesen Weg des- und ich sehe auch, dass wir Lücken im Parteienrecht – wegen weitergehen. Wir sind daher als Freie Demokraten und das wird die AfD-Fraktion sicherlich besonders inte- auch offen, darüber zu diskutieren. ressieren – zu schließen haben und schließen wollen, (Beifall bei der FDP) insbesondere was den Missbrauch von Wahlwerbung, Unterstützung durch Dritte und Finanzierung durch Drit- Hier geht es heute aber um Personenwahlen. Es geht te betrifft. Bei diesem Thema würde ich mir von der AfD hier um die Aufstellung von Bewerberinnen und Bewer- den gleichen Eifer wünschen, den Sie heute gezeigt bern zum Deutschen Bundestag, und ich finde, bei der haben, und dass Sie in Sachen Transparenz im Parteien- Aufstellung von Personen – innerparteilich, aber vor recht eng an unserer Seite in diesem Haus streiten. allem, wenn es um Parlamentswahlen geht – müssen wir besonders vorsichtig sein; denn diesen besonderen (B) Ich finde, wir haben über Parteigrenzen hinweg sehr Charakter einer Personenwahl – wenn man sich ein Bild (D) gute überparteiliche Gespräche zu diesem Thema ange- von einer Person machen will, wenn man vielleicht zwei stoßen. Dass sich eine bestimmte Partei nicht sachdien- oder drei Personen zur Auswahl hat, denen Fragen stellen lich an diesem Diskurs beteiligen will, weil sie Wahrhei- und sie nebeneinander vergleichen will – hat man in die- ten verneint, nehme ich hier zur Kenntnis. ser Form eben nur in einer Präsenzveranstaltung, und es bedarf sehr guter Gründe, das durch eine digitale Veran- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: staltung zu ersetzen. Ich finde, wir müssen sehr vorsichtig Herr Kollege. und sehr behutsam sein, wenn wir so was durch eine Kombination aus Onlinevorstellung und Briefwahl – so ist es hier ja gedacht – ersetzen wollen. Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD): Ansonsten bitte ich um konstruktive Diskussionen im Dafür gibt es auch ein rechtliches Argument, nämlich Ausschuss. Ich freue mich bereits jetzt auf die zweite und den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl. Es gibt ja die die dritte Lesung und bedanke mich beim Präsidenten, Wahlrechtsgrundsätze im Grundgesetz, und es gibt den dass er mir 25 Sekunden zusätzlich gewährt hat. Grundsatz der Öffentlichkeit, der durch das Bundesver- fassungsgericht festgeschrieben wurde und besagt, dass Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. die Öffentlichkeit wahrnehmen muss, wie der Willens- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der bildungsprozess bei einer Wahl vonstattengeht. Dazu CDU/CSU) gehört, dass man sämtliche Teilelemente einer Wahl nachvollziehen kann. Wenn das Ganze nur online und per Briefwahl erfolgt, dann muss man besonders achtsam Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sein, wie man so was ausgestaltet. Das ist ein besonders Jetzt waren es 30 Sekunden, aber das ist völlig egal. – sensibler Vorschlag. Vielen Dank, dass Sie zum Ende gekommen sind, Herr Kollege Özdemir. Es mag in Zeiten einer Pandemie richtig sein, darüber zu diskutieren. Was aber jedenfalls nicht geht – und damit Als nächster Redner erhält von mir der hellwache Kol- bin ich beim formellen Argument –, ist, das dann im lege Konstantin Kuhle, FDP-Fraktion, das Wort. Wege einer Rechtsverordnung zu machen. Das kann nicht (Beifall bei der FDP) sein. (Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie Konstantin Kuhle (FDP): bei Abgeordneten der AfD und des BÜNDNIS- Sehr geehrter, lieber Herr Präsident! SES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21779

Konstantin Kuhle (A) Wir können bei einem so gravierenden Eingriff in die Seit Beginn der Krise sind wir als Parlament immer (C) Öffentlichkeit der Wahl das Ganze nicht bloß auf dem wieder den Versuchen der Regierung ausgesetzt, Kompe- Rechtsverordnungswege regeln. tenzen an sich zu reißen. Ich erinnere mich noch an eine Woche im März, als der Vorschlag eines Notparlaments Lieber Kollege Mahmut Özdemir, diese Parlaments- im Raum stand, der erst nach massiver Kritik wieder beteiligung, die hier im Gesetzentwurf der Bundesregie- zurückgenommen wurde. Genau so eine Selbstbeschnei- rung vorgesehen ist, ist das Papier nicht wert, auf dem sie dung versuchen Sie uns jetzt wieder unterzujubeln. Da geschrieben steht; denn das ist nur auf die Tatbestands- machen wir als Linke nicht mit. seite bezogen. (Beifall bei Abgeordneten der AfD) (Beifall bei der LINKEN) Der Wahlprüfungsausschuss beschließt: „Es gibt eine Die ganze Zeit galt der Grundsatz, dass das Wahlrecht Pandemie oder eine Naturkatastrophe“, und dann macht Sache des Parlaments und seiner Gremien ist. Damit das Bundesministerium des Innern irgendwas. – So steht haben Sie vor Kurzem gebrochen, als Sie Ihr Pseudo- es in Ihrer Vorlage, und das ist zu kurz gesprungen; das Wahlrechtsreförmchen im Koalitionsausschuss beschlos- wird dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahlen und sen haben. Ja, Ihnen reicht die absolute Mehrheit für eine auch den anderen Wahlrechtsgrundsätzen nicht gerecht. Wahlrechtsreform. Aber bei diesem hochsensiblen The- ma, der Ausgestaltung unserer parlamentarischen Demo- Deswegen ist das ein weiterer Schritt, mit dem das kratie, war es bisher gute Sitte, möglichst alle Fraktionen Parlament seiner Domäne, dem Wahlrecht, durch eine zu beteiligen. übergriffige Exekutive beraubt wird, Mit diesem Gesetzentwurf gehen Sie nun noch einmal (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten einen Schritt weiter. Sie wollen den Freibrief dafür, als der AfD, der LINKEN und des BÜNDNIS- Exekutive an der Kandidatenaufstellung herumschrauben SES 90/DIE GRÜNEN) zu dürfen. Das Wahlrecht ist aber Sache des Parlaments, wie wir es übrigens auch bei der Diskussion über das und das wissen Sie. Wir sind absolut offen dafür, Vorkeh- Wahlrecht erleben, wo es um die Verkleinerung des Bun- rungen für die Kandidatenaufstellung in Pandemiezeiten destages geht, und wie wir es in der Pandemie auch bei zu treffen. Dabei muss es sich aber um klare gesetzliche der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Festlegungen handeln, in welchem Rahmen sich die Kan- Tragweite erleben, wo auch ein antizipierter Notzustand didatenaufstellung zu bewegen hat. Ihre blumigen Sätze, aufrechterhalten wird, obwohl die rechtlichen Vorausset- wie die Aufstellungen denn aussehen könnten, sind nichts zungen nicht mehr gegeben sind. als Nebelkerzen, wenn keinerlei Verbindlichkeit besteht. (B) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- (D) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und Herr Kollege Kuhle, mir bricht das Herz, aber Sie des Abg. Konstantin Kuhle [FDP]) müssen aufhören. Die Entscheidung, wie die Kandidatinnen und Kandida- ten für das Parlament bestimmt werden, hat eben nichts in Konstantin Kuhle (FDP): den Händen der Exekutive verloren. Diese Befürchtung haben wir auch im Zusammenhang mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf, und deswegen Mir ist auch gar nicht klar, für welche Notsituationen muss das deutlich von der Exekutive auf das Parlament Sie hier eigentlich vorsorgen wollen. Wenn sich die verlagert werden. Dann kann man über alles reden. Situation derart verschärft, dass wir als Parlament nicht mehr in der Lage sind, ein Gesetz zu verabschieden: Vielen Dank. Glauben Sie ernsthaft, dass in einem solchen Fall regu- läre Wahlen abgehalten werden könnten? Ich bin mir sehr (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sicher: Für diesen Fall müsste eigentlich wesentlich mehr der AfD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- nachjustiert werden als nur bei der Kandidatenaufstel- NEN) lung.

Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Mir scheint es, als ginge es Ihnen noch um etwas ande- res. Sie wollen nicht nur die Mitsprache des Bundestages Vielen Dank, Herr Kollege Kuhle. – Nächster Redner beschneiden, sondern ganz besonders auch die des Bun- ist der Kollege Friedrich Straetmanns, Fraktion Die Lin- desrates. Man hört aus den Reihen der Regierung ja ke. immer wieder, wie genervt Sie vom Austausch mit den (Beifall bei der LINKEN) Ministerpräsidenten und -präsidentinnen sind. Föderalis- mus kann anstrengend sein, aber ich halte es für eine absolut richtige Lehre aus dem nationalsozialistischen Friedrich Straetmanns (DIE LINKE): Staatsaufbau, dass wir ein föderales System haben, in Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- dem sich verschiedene Ebenen untereinander kontrollie- nen und Kollegen! Das aktive und das passive Wahlrecht ren und austarieren. müssen gerade auch in Zeiten einer Pandemie gewahrt bleiben und deshalb angepasst werden. Hierin sind wir Deswegen müssen wir Ihren Gesetzentwurf in der vor- uns völlig einig. Doch wie Sie hier an dieses Problem liegenden Form ablehnen; denn es ist selten eine gute herangehen, ist absolut inakzeptabel. Idee, wenn Entscheidungen, die normalerweise ausdisku- 21780 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Friedrich Straetmanns (A) tiert und von vielen Menschen gemeinsam getroffen wer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) den, plötzlich von einer Person alleine getroffen werden sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der sollen, erst recht, wenn diese Person Horst Seehofer ist. Abg. Katja Suding [FDP]) Vielen Dank. Dieser Gesetzentwurf soll nicht nur eine Vorschrift für die Coronapandemie sein. Nein, davon bin ich auch nicht (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- ausgegangen, als die Parteien gesagt haben – öffentlich neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) war das ja zu lesen; Herr Ziemiak, Sie sind heute ja hier; ich weiß das auch von unserem Bundesgeschäftsführer –: Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Lasst uns eine Regelung für die wirkliche Ausnahme- Vielen Dank, Herr Kollege Straetmanns. – Nächste situation einer Pandemie finden. – Dem kann man sich Rednerin ist die Kollegin Britta Haßelmann, Fraktion ja gar nicht verschließen. Aber plötzlich gilt diese Rege- Bündnis 90/Die Grünen. lung, diese Verordnungsermächtigung, auch für Naturka- tastrophen und ähnliche Ereignisse. In Klammern frage (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ich mal: Wo ist denn die Bestimmtheit von „ähnlichen Ereignissen“? Für was alles wollen Sie denn das BMI ermächtigen, über Ausnahmen zu entscheiden? So geht Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): das nicht. Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Absicht, in der Zeit der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Coronakrise und in besonders dramatischen Notlagen wie sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- dieser Pandemie für Aufstellungsversammlungen und KEN) vielleicht auch für Parteitage etwas regeln zu wollen, Um beim Beispiel von Herrn Frieser zu bleiben: Wenn kann ich begrüßen. Ich weiß, dass in den Parteien darüber in Franken eine Naturkatastrophe passiert, dann ist das nachgedacht wird, ich weiß, dass in den Fraktionen darü- schlimm für Franken und für Bayern, aber das hat mit ber nachgedacht wird. Das kann man natürlich unterstüt- Nordrhein-Westfalen und mit der pandemischen Lage zen; das tut auch unsere Partei. – So weit, so gut. dort nichts zu tun. Hier braucht es jetzt endlich Präzision. Nun aber zum Gesetzentwurf von Union und SPD: Der Wir brauchen Klarheit darüber, und die Entscheidung Gesetzentwurf ist ein Beispiel dafür, wie man es wirklich muss beim Bundestag, beim Parlament, liegen. nicht machen kann. An der Bestimmtheit muss gearbeitet werden, und die Befugnisse müssen sich ändern. Dann sind wir gerne (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bereit, mit Ihnen darüber zu reden und zu einer gemein- (B) sowie des Abg. Konstantin Kuhle [FDP]) samen Auffassung zu kommen. (D) Er ist total unbestimmt, und wir können in einer so sen- Vielen Dank. siblen Frage doch nicht mit völlig unbestimmten Pau- schalverordnungen arbeiten. Ich versuche seit Tagen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das deutlich zu machen. Das Parlament hat relevante Ent- sowie bei Abgeordneten der FDP) scheidungen zu treffen – und nicht ein Ministerium. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vielen Dank, Frau Kollegin Haßelmann. – Das letzte sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wort in dieser Debatte hat der Kollege Philipp Amthor, Ich bitte auch CDU/CSU und SPD, jetzt endlich mal CDU/CSU-Fraktion. die Argumente zu hören. Wir können an dieser Stelle (Beifall bei der CDU/CSU) nicht einfach Fehler wiederholen, die wir an anderer Stel- le gemacht haben. Philipp Amthor (CDU/CSU): Ich sage Ihnen ganz eindeutig: In § 5 Absatz 2 des Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Infektionsschutzgesetzes geht es um einen verfassungs- haben heute Abend gesehen, dass es ganz unterschied- rechtlichen Ausnahmezustand, wie ihn ein Staatsrechtler liche Wege gibt, wie man aus der Sommerpause in diese bezeichnete. Debatte zurückkommen kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr. Manuela Rottmann [BÜNDNIS 90/DIE sowie des Abg. Konstantin Kuhle [FDP]) GRÜNEN]: Ja!) Inzwischen tun das auch Staatsrechtlerinnen und Staats- Man kann es so machen wie die AfD und einfach rechtler, die Ihnen nahestehen. Lassen Sie uns also mal undifferenziert drauflospoltern. Das ist schlecht, aber darüber nachdenken, was zu tun ist, und zwar gemein- auch nicht überraschend. Man kann es so machen, wie sam, was Sie ja immer einfordern. Ich fände das gut. wir es heute bei anderen Rednern gehört haben: Man kann unseren Vorschlag kritisieren, aber keinen eigenen Diesem Gesetzentwurf fehlt es an Bestimmtheit, die- vorlegen. Wir haben von Ihnen nicht gehört, wie es denn sem Gesetzentwurf fehlt eine Klarheit in Bezug auf alternativ gehen könnte. Man kann es aber auch so Befugnisse, dieser Gesetzentwurf enthält eine unfassbare machen wie unsere Regierungskoalition: Man kann seine Weite der Verordnungsermächtigung des BMI, und das Sacharbeit ordentlich machen und einen vernünftigen ist in einer so zentralen Frage wie dem Bundeswahlgesetz Vorschlag für das Wahlrecht vorlegen. Das haben wir nicht in Ordnung und nicht tragbar. heute gemacht. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21781

Philipp Amthor (A) (Beifall bei der CDU/CSU – Britta Haßelmann Dann kommt verfassungsgemäßes Handeln, liebe Kolle- (C) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da müsste ich ginnen und Kollegen. gleich eine Zwischenfrage stellen!) (Beifall bei der CDU/CSU – Konstantin Kuhle Wir werden schon in der nächsten Woche intensiv [FDP]: Was denn? Was denn konkret?) darüber reden, wie wir die notwendige Verkleinerung Die Rechtsbindung des Bundesinnenministeriums liegt des Bundestages hinbekommen. Wir werden uns aber in natürlich vor. Deswegen habe ich keinen Zweifel daran, dem Zusammenhang auch die Frage stellen, wie wir in der Pandemiefestigkeit vorankommen können. (Zuruf des Abg. Konstantin Kuhle [FDP]) Es ist natürlich so, dass wir in der aktuellen Lage noch dass wir hier auch die Wahlrechtsgrundsätze berücksich- körperlich zusammenkommen können – unter den beson- tigen werden. – So viel zur Technik. deren Hygienebedingungen der Pandemie. Deswegen Frau Haßelmann, ehe Sie sich ärgern, wollen wir noch wurden bisher auch schon viele Nominierungsveranstal- mal was Versöhnliches sagen; denn Sie haben völlig recht tungen für den Bundestag durchgeführt, und sie werden mit dem, was Sie gesagt haben: auch weiter durchgeführt werden. Wir wollen nur einen Notmechanismus für den nicht zu wünschenden noch (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- härteren Krisenfall schaffen. Deswegen ist es wichtig, NEN]: Ich habe recht, ja!) dass wir hier eine Alternativlösung vorlegen, die eben Ja, wir müssen im parlamentarischen Verfahren sicher- nicht nur für Corona vorgesehen ist, sondern die eine lich auch noch mal gucken, ob wir am Großen und Gan- Flexibilisierung des Wahlrechts im Krisenfall ermöglicht, zen noch die eine oder andere Anpassung vornehmen die wir bisher so nicht hatten. können. Ich will es noch einmal deutlich sagen: Hier wird kriti- (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: siert, dass wir das Mittel einer Rechtsverordnung wählen. Ja!) Im Ausgangspunkt ist für uns wichtig: Es wird bei dem jetzigen Infektionsgeschehen dabei bleiben, dass die Ich habe schon im Zusammenhang mit der Digitalisie- Nominierungen für den Bundestag weiter als Präsenzver- rung des Planungsverfahrens gesagt: Es ist richtig, anstaltungen durchgeführt werden. Und das ist auch rich- wenn wir aus der Not von Corona auch die Tugenden tig so. der Digitalisierung ziehen. – Deswegen finde ich es wich- tig, dass wir im Rahmen der weiteren parlamentarischen Wir müssen aber für den Krisenfall vorsorgen, und wir Beratungen noch mal darüber reden, wie wir die Digita- als Parlament sind eben Herr der Lage, was das Beur- lisierung der Parteiarbeit, des Wahlrechts voranbringen (B) teilen des Krisengeschehens angeht. Denn nicht der Bun- können. (D) desinnenminister, nicht die Regierung wird darüber ent- scheiden, wann diese Verordnungsermächtigung greift, Ich finde es vor allem wichtig, dass wir nicht nur über sondern wir werden darüber entscheiden. das Wahlrecht reden, sondern auch über das Parteien- recht, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Zuruf der Abg. Britta Haßelmann [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben vorgesehen, dass das der Wahlprüfungsaus- Aus meiner Parteienfamilie hat es die CSU schon vorge- schuss tut. Und ich glaube, das ist auch folgerichtig. macht; die Junge Union Deutschlands wird mit einem digitalen Deutschlandtag nachziehen. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Zuruf des Abg. Dr. André Hahn [DIE LIN- NEN]: Überhaupt nicht!) KE]) Denn das Gremium, das die Wahl als Ganzes prüft, kann Und wir zeigen: Wenn es nötig ist, dann sind digitale natürlich auch seine Beurteilung bei der Nominierung Parteitage auch in Zeiten der Pandemie ein probates Mit- abgeben. tel. Ich finde, wir sollten darüber reden, wie wir für den (Beifall des Abg. Dr. Patrick Sensburg [CDU/ Notfall eine Rechtsgrundlage schaffen können, damit CSU]) auch die Parteien an dem teilhaben können, was für Ver- eine heute schon durch unser Coronaübergangsregime Es ist für uns wichtig, dass wir sagen: Ja, wenn die möglich ist. Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen, wenn wir als Par- lament feststellen: „Ja, von dieser Verordnungsermächti- Ich will Ihnen das etwas metaphorisch sagen: Wenn gung soll Gebrauch gemacht werden“, einem die Möglichkeiten des Internets zur Verfügung stehen, sollte man sich nicht auf die Gedankenwelt des (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Faxgeräts beschränken. NEN]: Nein, nicht das Parlament! Nur ein Wahlprüfungsausschuss!) (Dr. Manuela Rottmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einen Parteitag mit Faxgerät dann ist es eben nicht so, wie Konstantin Kuhle gesagt habe ich noch nie gemacht, Herr Amthor!) hat, dass dann irgendetwas passiert, sondern dann passiert das, was wir von unserem Bundesinnenministerium In diesem Geiste werden wir mit Ihnen beraten. gewohnt sind und wie wir es kennen: Herzlichen Dank. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) 21782 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: eigentlich lebensfähig sind. Wir dürfen nicht zulassen, (C) Mit diesen Worten beende ich die Aussprache. dass gute Arbeitsplätze verloren gehen, die eigentlich gerettet werden können. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/20596 an die in der Tagesordnung (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Lufthansa!) aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Gleich zu Beginn der Pandemie haben wir beschlos- Überweisungsvorschläge? – Ich sehe und höre, das ist sen: Unternehmen müssen keine Insolvenz anmelden, nicht der Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. wenn sie wegen der Pandemie in Schwierigkeiten gera- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: ten. So konnten sie die Zeit überbrücken, bis die staat- Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ lichen Hilfen ausbezahlt waren, und so haben wir viele Unternehmen retten können. CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des COVID-19-Insol- Inzwischen hat sich die Lage leicht entspannt. An vie- venzaussetzungsgesetzes len Orten gibt es freilich eine Art Krisenroutine. Doch die Drucksache 19/22178 Pandemie ist noch nicht überwunden; das wissen wir alle. Daher schlagen wir Ihnen zwei Punkte vor: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Erstens. Lassen Sie uns einen Schritt zurück in die Ausschuss für Wirtschaft und Energie Normalität gehen. Für Unternehmen, die trotz aller Hil- Ausschuss für Arbeit und Soziales fen akut zahlungsunfähig sind, sollen wieder die norma- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten len Regeln gelten: Sie müssen Insolvenz anmelden. Für beschlossen. die betroffenen Unternehmen ist das natürlich eine bittere Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Pille. Für die gesunden Unternehmen ist der Schritt ner Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Christian jedoch wichtig; denn ihre Geschäftspartner müssen wis- Lange das Wort. sen, woran sie sind, damit sie ihnen weiterhin vertrauen können. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Und ja, unser Insolvenzrecht ist modern und leistungs- fähig. Es hat vielen kranken Unternehmen wieder auf die Beine geholfen. Außerdem arbeiten wir daran, die Mög- Christian Lange, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- lichkeiten, ein Unternehmen zu sanieren, weiter zu ver- ministerin der Justiz und für Verbraucherschutz: bessern, Stichwort: präventiver Restrukturierungsrah- Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und men. Den Gesetzentwurf dazu werden wir noch in (B) Kollegen! Helmut Schmidt hat einmal gesagt: „Charakter diesem Jahr vorlegen. (D) zeigt sich in der Krise.“ Ich bin davon überzeugt: Unsere Gesellschaft hat sich in der Krise sehr charakterfest Zweitens. Lassen Sie uns den Unternehmen mehr Zeit gezeigt. Wir erleben eine beeindruckende gesellschaft- geben, die zwar überschuldet sind, aber nicht akut zah- liche Solidarität. Die Menschen haben ihre Gewohnhei- lungsunfähig. Sie haben die Chance, die Insolvenz dauer- ten aus Einsicht geändert, sie haben sich aus Überzeu- haft abzuwenden. Diese Chance wollen wir ergreifen. gung eingeschränkt, und zwar, um sich gegenseitig vor Dafür soll für sie die Pflicht, Insolvenz anzumelden, bis dem gefährlichen Virus zu schützen. Neun von zehn zum Jahresende ausgesetzt bleiben. Menschen stehen hinter den Maßnahmen zum Schutz Wir wollen also Arbeitsplätze erhalten, wir wollen vor Corona. bestehende Strukturen erhalten, und wir wollen die Soli- Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung ist unser darität und den Zusammenhalt stärken. Deshalb bitte ich gesellschaftlicher Zusammenhalt in der Krise sogar Sie um Unterstützung des Gesetzentwurfs der Bundesre- gewachsen. Wir setzen deshalb, meine Damen und Her- gierung. ren, alles daran, diese Solidarität und diesen Zusammen- Herzlichen Dank. halt zu bewahren, ja ihn zu stärken. Denn viele Men- schen – das wissen wir – müssen in der Krise große (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Opfer bringen. der CDU/CSU) Vizekanzler Olaf Scholz hat das größte Hilfspaket in der bundesdeutschen Geschichte geschnürt, ein Hilfspa- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: ket mit deutlich verlängertem Kurzarbeitergeld, mit Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Nächster Redner Zuschüssen für Selbstständige und Kleinbetriebe, mit ist der Kollege Fabian Jacobi, AfD-Fraktion. einem Bonus für Familien – kurzum ein Hilfspaket, das all den Menschen hilft, die am stärksten von der Krise (Beifall bei der AfD) betroffen sind: den Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- mern. Fabian Jacobi (AfD): Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und (Beifall bei der SPD) Herren! Am 25. März haben wir hier das COVID-19- Heute, meine Damen und Herren, werbe ich dafür, dass Insolvenzaussetzungsgesetz beschlossen, um die gesetz- diese Solidarität und dieser gesellschaftliche Zusammen- liche Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags für halt weiter stark bleiben. Wir dürfen nicht zulassen, dass Unternehmen, die durch die staatlichen Coronamaßnah- die Pandemie wirtschaftliche Strukturen kaputtmacht, die men zahlungsunfähig oder überschuldet werden, für Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21783

Fabian Jacobi (A) sechs Monate auszusetzen. Wir als AfD-Fraktion haben Wenn die Regierungsfraktionen also nicht noch erheb- (C) diesem Gesetz damals zugestimmt. Die Begründung lich bessere Gründe für ihren Vorschlag liefern sollten als dafür ist auch rückblickend richtig – Zitat –: die, die man in dieser rudimentären Begründung bisher nachlesen kann, dann werden wir diesen Vorschlag Wer in dieser völlig unübersehbaren Lage um sein voraussichtlich ablehnen. Schauen wir mal! Unternehmen und um die Arbeitsplätze seiner Mit- arbeiter kämpft, der soll bis auf Weiteres nicht auch Vielen Dank. noch mit der strafbewehrten Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags zusätzlich belastet werden. (Beifall bei der AfD) Zwei Dinge sind hier wichtig: zuerst einmal die seiner- zeit in der Tat völlig unübersehbare Lage. Niemand konn- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: te im März die weitere Entwicklung absehen: welche Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Formen und Ausmaße das Geschehen annehmen würde, Kollege Dr. Heribert Hirte, CDU/CSU-Fraktion. welche Maßnahmen erforderlich werden würden, welche Folgen diese Maßnahmen für Unternehmen haben wür- (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der den und welche staatlichen Hilfen es geben würde, um CDU/CSU: Professor Hirte!) diese Folgen abzumildern. In dieser Situation größter – Ja, ich weiß, dass der Kollege Hirte Professor ist. Aber Ungewissheit und wegen dieser Ungewissheit war die wir haben uns darauf verständigt, dass die Professoren vorübergehende Aussetzung der Insolvenzantragspflicht nur mit Doktor angeredet werden wollen. richtig. (Ingmar Jung [CDU/CSU]: Das gilt nicht für Damit sind wir beim zweiten wichtigen Aspekt meiner alle! – Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: damaligen Begründung: die Worte „bis auf Weiteres“. Das glaube ich nicht! – Weitere Zurufe von Für uns jedenfalls war schon damals klar, dass die Sus- der CDU/CSU: Oh!) pendierung einer für eine Marktwirtschaft so elementaren Regel wie der Insolvenzantragspflicht nur unter extremen Bedingungen erfolgen kann und dass sie zu enden hat, Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): sobald diese extremen Bedingungen nicht mehr vorlie- Vielen Dank für die Erklärung der Bescheidenheit. – gen. Guten Abend, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der AfD) Kollegen! Wir reden heute – das geht Schlag auf Schlag – zum zweiten Mal über Insolvenzrecht. Gestern Abend Das ist heute unseres Erachtens eindeutig der Fall. haben wir über den Gesetzentwurf zur weiteren Verkür- (B) zung des Restschuldbefreiungsverfahrens geredet; da (D) (Zuruf des Abg. Michael Donth [CDU/CSU]) ging es um Privatinsolvenzen. Heute geht es um Unter- Die geschilderte Situation größter Ungewissheit, wie wir nehmensinsolvenzen. Beides sind wichtige Themen, sie im März hatten, besteht schlicht nicht mehr. Das gerade nach und in der Coronakrise. Geschehen hat seinen Lauf genommen, die ergriffenen Maßnahmen sind bekannt, ihre Auswirkungen sind Unternehmensinsolvenzen sind ein Thema, das die mir bekannt, die zur Verfügung stehenden staatlichen Hilfen bekannten Unternehmen auch in Köln sehr umtreibt, weil sind bekannt. sie immer wieder, wenn sie in der Krise vor der Frage stehen: „Muss ich einen Insolvenzantrag stellen?“, nicht Und nun kommen die Regierungsfraktionen und wissen, wie sie weiter vorgehen sollen: Antrag stellen, möchten die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht ver- keinen Antrag stellen, öffentliche Mittel beantragen. Des- längern – nicht in Gänze, aber für den Insolvenzgrund der halb ist es ein ganz wichtiger Punkt, dass wir hier – wir Überschuldung. Die nachzulesende Begründung des haben es gerade gehört – im März, als sich die Corona- Gesetzentwurfs ist kurz, lapidar und oberflächlich: Es krise abzeichnete, Klarheit geschaffen haben. wird schlicht statuiert, eine Überschuldungsprüfung sei wegen der vermeintlich fortbestehenden Ungewissheiten (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Es geht doch!) gar nicht möglich, da könne man diesen Insolvenzgrund Diese Klarheit hat den Unternehmen durch die Krise geh- auch weiter unberücksichtigt lassen. – Das überzeugt uns olfen. Wir haben die Insolvenzantragspflicht wegen Zah- nicht. lungsunfähigkeit und Überschuldung suspendiert. (Beifall bei der AfD) Was machen wir jetzt? Wir sehen, dass die Krise einem Zum einen bleibt die pauschale Behauptung allgem- Ende entgegengeht, dass sich die Lage stabilisiert. Und einer und fundamentaler Ungewissheiten ebendies: eine wir schlagen Ihnen hier eine differenzierte Lösung vor: bloße Behauptung. Zum anderen wird die Begründung Wir wiederbeleben auf der einen Seite die Insolvenzant- der Bedeutung des Insolvenzgrunds der Überschuldung ragspflicht wegen Zahlungsunfähigkeit – das sind die nicht gerecht. Seine weitere Aussetzung liefe darauf Unternehmen, die wirklich kein Geld mehr haben –, hinaus, Unternehmen, deren Vermögen bereits heute weil die betroffenen Unternehmen sonst ihren Gläubigern ihre Verbindlichkeiten nicht mehr decken, weiter wirt- vorspiegeln könnten, sie wären noch zahlungsfähig. Das schaften zu lassen und damit andere, die in Geschäftsver- ist ein wichtiges Signal, weil sich sonst eine Blase von bindung mit diesen Unternehmen stehen oder noch treten, Unternehmen bilden könnte, die nicht zahlen können, der Gefahr auszusetzen, bei einer später doch eintreten- wodurch letztlich die Wirtschaft insgesamt in einen den Insolvenz mit in den Abgrund gezogen zu werden. Abwärtsstrudel gezogen werden könnte. 21784 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Dr. Heribert Hirte (A) Auf der anderen Seite – Herr Jacobi hat es angespro- zum Wahlrecht schon gehört haben. Ich will nur eines (C) chen – setzen wir die Insolvenzantragspflicht wegen sagen: Da gibt es schon Punkte, bei denen man darüber Überschuldung weiter aus. Und das tun wir – das ist die nachdenken muss, ob es wirklich noch angemessen ist, Begründung, die Ihnen fehlt – auch deshalb, weil wir uns von der Verordnungsermächtigung Gebrauch zu machen. im Koalitionsvertrag die Frage gestellt haben, ob dieser Das betrifft – erstens – tatsächlich die Interaktion der Insolvenzantragsgrund überhaupt gerechtfertigt ist. Denn Aktionäre auf der Hauptversammlung untereinander, wir wissen seit Jahren, dass es viele, viele rechnerisch die sich im Augenblick virtuell nicht in der gleichen überschuldete Unternehmen gibt, die zwar wahrschein- Weise verwirklichen lässt. Es betrifft – zweitens – die lich auch insolvenzrechtlich überschuldet sind, aber kei- Fristen, die aus Coronagründen verkürzt wurden. Wenn nen Antrag stellen oder bei denen anschließend, im Ver- das Ministerium die entsprechende Verordnungsermäch- fahren der Insolvenzeröffnung, herauskommt, dass sie tigung verlängern sollte, dann müsste man über die Frage schon überschuldet waren. nachdenken, ob man die Fristen nicht wieder an das Nor- malmaß anpasst. Auch insoweit gehen wir in die Norma- Das heißt nichts anderes, als dass dieser Antragsgrund lität zurück, und das sollten wir berücksichtigen. nicht wirklich funktioniert. Theoretisch mag er funktio- nieren. Er funktioniert für all die Berater, die dann große Im Übrigen wünsche ich mir eine gute Beratung und Gutachten schreiben müssen, aber für die Praxis der klei- hoffe, dass Sie dem Gesetz am Ende zustimmen. nen und mittelständischen Unternehmen funktioniert er Herzlichen Dank und gute Nacht. nicht. Deshalb – das kann ich aus voller Überzeugung sagen – ist dies ein erster Schritt in eine vollständige (Beifall bei der CDU/CSU) Abschaffung dieses Insolvenzantragsgrundes, über die wir demnächst – und damit komme ich zur Zukunft – Vizepräsident Wolfgang Kubicki: noch weiter zu beraten haben. Herr Professor Hirte, vielen Dank für den Wunsch, Demnächst – auch das ist die Zukunft; nichts anderes aber so weit ist es noch nicht. ist gestern Abend schon angesprochen worden – haben (Dr. Heribert Hirte [CDU/CSU]: Für mich jetzt wir die Restrukturierungsrichtlinie der Europäischen bald!) Union umzusetzen. Einen Teil haben wir gestern schon in unsere Arbeit übernommen, was die Privatinsolvenzen – Sie werden hierbleiben, bis die Beratung zu diesem angeht, und der präventive Restrukturierungsrahmen – Tagesordnungspunkt zu Ende ist. ein präventives Instrument zur Insolvenzvermeidung – (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Dr. Heribert wird als großer Block in den nächsten Monaten kommen. Hirte [CDU/CSU]: Das ist aber ein strenges (B) Ich habe gerade aus dem Justizministerium gehört, dass Regime!) (D) die Vorbereitung sehr weit fortgeschritten ist. Wir werden Darauf werde ich jetzt besonders achten. das bekommen, was eigentlich wichtig ist, nämlich die Möglichkeit, Unternehmen, die in der Krise sind, wieder (Josef Oster [CDU/CSU]: Klare Ansage!) auf die Füße zu stellen. Das ist das, was wir eigentlich Nächster Redner ist der Kollege Stephan Thomae, wollen. Daran können wir dann arbeiten und haben eine FDP-Fraktion. Möglichkeit, aus der Krisenzeit herauszugehen, mit prä- ventiven Sanierungsinstrumenten, die wir in den nächs- (Beifall bei der FDP) ten Wochen auch hier werden beraten können. – Insofern ist dies ein wichtiger Zwischenschritt. Ich hätte mir bei Stephan Thomae (FDP): dieser Gelegenheit auch die eine oder andere Reform des Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kol- normalen Insolvenzrechts gewünscht. Darüber werden legen! Lieber Kollege Professor Hirte, es lohnt sich in wir vielleicht doch noch einen Moment nachzudenken der Tat für Sie, noch ein bisschen zu bleiben. Es wäre haben. eigentlich richtig gewesen, die Maßnahmen, die Sie für Vielleicht ein technischer Hinweis, weil das aus der die Zukunft angekündigt haben, schon heute hier zu prä- Praxis an uns herangetragen wurde: Wir haben in dieser sentieren. Das wäre nämlich möglich gewesen: Sie hätten etwas komplexen Norm auch eine Privilegierung von nur den Antrag der FDP-Fraktion, der am 2. Juli dieses KfW-Darlehen. Bei diesen KfW-Darlehen ändert sich Jahres hier eingebracht wurde, verwenden müssen, um nichts an der Privilegierung. Der zeitliche Anwendungs- sich davon inspirieren zu lassen, wenn nicht gar davon bereich für diese Privilegierung bleibt bestehen. Wir abzuschreiben. ändern das Recht für die Zukunft. (Beifall bei der FDP) Ein letzter Punkt. Mit demselben Gesetzespaket, das In der Tat ist unser Land gesundheitlich weniger hart in auch das COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz bein- Bedrängnis geraten – wir hatten weniger Todesopfer zu haltet – es war das erste Gesetzespaket, das wir im Zivil- beklagen – als viele andere, vergleichbare Länder. Aber recht als Antwort auf die Coronakrise beschlossen die Maßnahmen, die wir ergriffen haben, haben im Bil- haben –, haben wir auch über die virtuellen Hauptver- dungsbereich und bei Unternehmern schon ihre Spuren sammlungen beschlossen, über die Antwort im Gesell- hinterlassen – bei manchen Branchen mehr, bei anderen schaftsrecht auf das Insolvenzrecht. Wir wissen, dass weniger. Ich denke da nur an die Veranstaltungsbranche, das Justizministerium im Moment darüber nachdenkt, Kunst und Kultur, die gestern hier in Berlin demonstriert auch da die entsprechenden Normen zu verlängern – ein haben. Bei den Messebauern, im Gastronomiebereich, ähnlicher Problemkreis, wie wir es eben in der Debatte bei den Hotels und in vielen anderen Bereichen gibt es Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21785

Stephan Thomae (A) schon viele Unternehmen, die pandemiebedingt an den Dr. Manuela Rottmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) Rand der Überschuldung, der Zahlungsunfähigkeit gera- NEN): ten sind. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben den Unternehmen mit der Ausset- Was die Regierung gemacht hat, sind namentlich zwei zung der Insolvenzantragspflicht tatsächlich eine Atem- Maßnahmen: Zum einen hat sie Stützungsmaßnahmen pause verschafft, wir haben die Uhr angehalten. Ich will ergriffen – mit dem Nachteil, dass künftige Generationen Ihnen aber sagen, dass ich seither trotzdem ganz schlecht als Steuerzahler die Kosten dafür zu begleichen haben; geschlafen habe. Das hat folgenden Grund: Es gab ja das sind Generationenlasten. Zum anderen hat sie eben- Vorbilder für die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht, diese Instrumente der Aussetzung der Insolvenzantrags- aber das waren ja immer lokal begrenzte Ereignisse; das pflicht geschaffen. Aber auch das hat eben eine Kehr- war anlässlich des Hochwassers in Sachsen-Anhalt und seite: Dadurch wird das Gift des Misstrauens sozusagen solcher Dinge. Wir haben jetzt eine Krise, für die es kein in die Blutbahnen der Wirtschaft injiziert; denn man weiß Vorbild gibt, die sich weder auf Regionen beschränkt nicht mehr genau, ob der Vertragspartner wirklich solvent noch auf bestimmte Branchen, sondern die fast alle Bran- ist oder ob er eigentlich ein Geschäftsmodell hat, das chen erfasst hat. nicht mehr tragfähig ist. Es ist ein echtes Problem, dass Es ist richtig: Unverschuldete Insolvenzen sind ein das Misstrauen hier Einkehr hält und sich dadurch eine volkswirtschaftlicher Schaden, sie sind ein Verlust; Bugwelle von Schulden, eine Bugwelle eigentlich insol- denn damit gehen nicht nur Unternehmen und Arbeits- venter Unternehmen immer weiter aufbaut, irgendwann plätze verloren, sondern es geht auch Wissen, Innova- bricht und auch andere Unternehmen ins Verderben rei- tionsfähigkeit und Wettbewerb in Deutschland verloren. ßen kann. Das ist ein echtes Problem, das man lösen muss. Das ist eben die Kehrseite der Instrumente, die Das andere Problem ist, dass die flächendeckende Aus- Sie geschaffen haben, verehrte Damen und Herren von setzung der Insolvenzantragspflicht in ganz Deutschland der Regierung. nicht nur das Risiko einer Bugwelle mit sich bringt. Mei- ne größte Befürchtung ist, dass sie auch Misstrauen und Deswegen – jetzt komme ich auf das zu sprechen, was Angst auslöst, dass das Vertrauen, das Wirtschaftskreis- Sie, Herr Kollege Professor Hirte, ausgeführt haben – läufe – sozusagen der Blutkreislauf – brauchen, damit sie wäre es richtig gewesen, diese Maßnahmen jetzt schon funktionieren, verloren geht, dass das Vertrauen von Lie- zu ergreifen, es Unternehmen zu ermöglichen, sich aus feranten, dass sie für ihre Lieferung bezahlt werden, das eigener Kraft zu regenerieren, zu rekonstruieren und zu Vertrauen von Dienstleistern, dass sie für ihre Dienstleis- restaurieren. Das sind eben Instrumente der Restrukturie- tung bezahlt werden, verloren geht. (B) rung, die uns auch durch die europäische Richtlinie auf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) erlegt werden. Die Schaffung dieser Instrumente vorzu- ziehen und sie schon in diesem Jahr zu implementieren, Deswegen finde ich es richtig, dass wir ab dem 1. Okto- wäre richtig. ber wieder zum bisherigen Insolvenzrecht bei Zahlungs- unfähigkeit zurückkehren. Ich finde es angesichts des Insofern freue ich mich auf das, was da noch kommt, hohen Anteils kreditförmiger Staatshilfen, auch ange- was Sie angekündigt haben; denn es ist genau das Rich- sichts des hohen Anteils privater Darlehen, den wir gera- tige, einen Schutzschirm aufzuspannen, ein Gläubiger- de haben, noch richtig, die Ausnahme für überschuldete schutzverfahren zu ermöglichen, damit die Unternehmen Unternehmen beizubehalten. Ich brauche aber auf Dauer aus eigener Kraft wieder auf die Beine kommen können. noch etwas mehr Überzeugung, als ich sie heute gehört Das wäre richtig, das wäre notwendig, und das muss jetzt habe. Gerade wegen der Kombination mit der Privilegie- kommen. Ich empfehle Ihnen die Lektüre unseres am rung der Gesellschafterdarlehen, die wir mit diesem 2. Juli dieses Jahres eingebrachten Antrages. Coronagesetz auch vorgenommen haben, mache ich mir da noch ein bisschen Sorgen. Aber Sie haben ja die Chan- ce, mich zu überzeugen. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) Ich will auch ausdrücklich loben, dass das Bundesjus- tizministerium hier einen verfassungsrechtlich sauberen Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Weg gegangen ist: nicht über die Verordnung, sondern über den Gesetzgeber. Vielen Dank, Herr Kollege Thomae. – Die Kollegin Gökay Akbulut, Fraktion Die Linke, hat ihre Rede zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 1) Protokoll gegeben. Es ist wichtig, dass Sie das tun; denn Sie zeigen, dass man auch in der Pandemie die Regeln der Verfassung einhal- Nächste Rednerin – und damit folgt die letzte Wort- ten kann. Das ist eine Lehre, die andere Mitglieder im meldung zu diesem Tagesordnungspunkt – ist die Kolle- Kabinett vielleicht ernster nehmen sollten: Eine Pande- gin Dr. Manuela Rottmann, Bündnis 90/Die Grünen. mie ist nicht die Zeit, in der man mit der Verfassung schlampig umgeht, sondern die Zeit, in der man sie im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gegenteil sehr, sehr ernst nimmt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1) Anlage 10 sowie des Abg. Konstantin Kuhle [FDP]) 21786-21796 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

Dr. Manuela Rottmann (A) Wir müssen dringend weitere Fragen bearbeiten. Beim Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs (C) präventiven Restrukturierungsrahmen habe ich das auf Drucksache 19/22178 an die in der Tagesordnung Gefühl: Wir sind mit den Debatten ein bisschen hinten- aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere dran. Aber das will ich dem Ministerium gar nicht zum Überweisungsvorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann Vorwurf machen, weil es kompliziert ist. verfahren wir wie vorgeschlagen. Ich habe aber auch noch einen Wunsch: Ich erwarte Herr Professor Hirte, ich bedanke mich, dass Sie mit vom Bundeswirtschaftsminister, dass er nicht nur denje- Ihrer Anwesenheit die Debatte weiter bereichert haben. nigen hilft – so ist momentan mein Eindruck –, die jahre- lange Übung in der Beantragung von Staatshilfen haben, (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Dr. Heribert Hirte [CDU/CSU]: Überhaupt kei- SES 90/DIE GRÜNEN) ne Frage!) deren Lobbykanäle ins Wirtschaftsministerium funktio- Wir sind, liebe Kolleginnen und Kollegen, damit am nieren, sondern dass er sich mit allen Branchen an einen Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Tisch setzt, auch mit denen, die bislang keine Lobby haben. Ich möchte sagen: Ich bin stolz darauf, dass es diesem Hohen Haus mit mir gemeinsam gelungen ist, den Zeit- Vielen Dank. überhang von fast zwei Stunden komplett abzubauen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist eine hervorragende Leistung und gerade auch in Krisenzeiten vorbildlich. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Rottmann. – Die Kol- tages auf morgen, Freitag, den 11. September 2020, legen Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion, und 9 Uhr, ein. Alexander Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Die Sitzung ist damit geschlossen. Mit dieser Feststellung beende ich die Aussprache. (Schluss: 22.55 Uhr)

(B) (D)

1) Anlage 10 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21797

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Entschuldigte Abgeordnete

Abgeordnete(r) Abgeordnete(r)

Bas, Bärbel SPD Remmers, Ingrid DIE LINKE Dağdelen, Sevim DIE LINKE Renner, Martin Erwin AfD Dörner, Katja BÜNDNIS 90/ Reusch, Roman Johannes AfD DIE GRÜNEN Ryglewski, Sarah SPD Ferschl, Susanne DIE LINKE Sauter, Christian FDP Freihold, Brigitte DIE LINKE Schielke-Ziesing, Ulrike AfD Gabelmann, Sylvia DIE LINKE Schmidt (Fürth), Christian CDU/CSU Göring-Eckardt, Katrin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Sitta, Frank FDP Held, Marcus SPD Steinke, Kersten DIE LINKE Hocker, Dr. Gero Clemens FDP Strack-Zimmermann, FDP Dr. Marie-Agnes Lambsdorff, Alexander FDP Graf Strenz, Karin CDU/CSU Lehmann, Sven BÜNDNIS 90/ Vogler, Kathrin DIE LINKE DIE GRÜNEN Weber, Gabi SPD (B) Maas, Heiko SPD (D) Weiler, Albert H. CDU/CSU Mackensen, Isabel* SPD Wiese, Dirk SPD Motschmann, Elisabeth CDU/CSU Zdebel, Hubertus DIE LINKE Oehme, Ulrich AfD Zimmermann (Zwickau), DIE LINKE Özdemir, Cem BÜNDNIS 90/ Sabine DIE GRÜNEN Zimmermann, Pia DIE LINKE Pasemann, Frank AfD Pilger, Detlev SPD * aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes

Anlage 2

Ergebnisse der Wahl von Mitgliedern des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (Zusatzpunkt 5 a) Abgegebene Stimmkarten: 662 Ergebnis der Wahl eines ordentlichen Mitglieds

Abgeordnete/r Ja-Stimmen* Nein-Stimmen Enthaltungen Ungültige Stimmen Peter Boehringer 144 485 30 3

* Zur Wahl sind mindestens 355 Ja-Stimmen erforderlich. 21798 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

(A) Abgegebene Stimmkarten: 622 (C) Ergebnis der Wahl eines stellvertretenden Mitglieds

Abgeordnete/r Ja-Stimmen* Nein-Stimmen Enthaltungen Ungültige Stimmen Dr. Birgit Malsack-Winkemann 133 495 30 4

* Zur Wahl sind mindestens 355 Ja-Stimmen erforderlich.

Anlage 3

Ergebnis der Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremiums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundeshaushaltsordnung (Zusatzpunkt 5 b) Abgegebene Stimmkarten: 663

Abgeordnete/r Ja-Stimmen* Nein-Stimmen Enthaltungen Ungültige Stimmen Marcus Bühl 132 500 31 –

* Zur Wahl sind mindestens 355 Ja-Stimmen erforderlich.

Anlage 4

Ergebnis der Wahl von Mitgliedern des Gremiums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesengesetzes (Zusatzpunkt 5 c) (B) Abgegebene Stimmkarten: 664 (D)

Abgeordnete/r Ja-Stimmen* Nein-Stimmen Enthaltungen Ungültige Stimmen Albrecht Glaser 112 515 37 – Volker Münz 139 490 34 1

* Zur Wahl sind mindestens 355 Ja-Stimmen erforderlich.

Anlage 5

Namensverzeichnis der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die an den Wahlen zu den Zusatzpunkten 5 a bis c teilgenommen haben

CDU/CSU Silvia Breher Uwe Feiler Enak Ferlemann Dr. Michael von Abercron Sybille Benning Sebastian Brehm Dr. André Berghegger Heike Brehmer Axel E. Fischer (Karlsruhe- Stephan Albani Land) Norbert Maria Altenkamp Melanie Bernstein Ralph Brinkhaus Christoph Bernstiel Dr. Carsten Brodesser Dr. Maria Flachsbarth Peter Altmaier Thorsten Frei Peter Beyer Gitta Connemann Philipp Amthor Dr. Hans-Peter Friedrich Artur Auernhammer Marc Biadacz Astrid Damerow (Hof) Steffen Bilger Alexander Dobrindt Michael Frieser Dorothee Bär Peter Bleser Michael Donth Hans-Joachim Fuchtel Thomas Bareiß Norbert Brackmann Marie-Luise Dött Ingo Gädechens Norbert Barthle Michael Brand (Fulda) Hansjörg Durz Dr. Thomas Gebhart Maik Beermann Dr. Reinhard Brandl Thomas Erndl Alois Gerig Manfred Behrens (Börde) Dr. Hermann Färber Eberhard Gienger Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21799

(A) Eckhard Gnodtke Andrea Lindholz Jana Schimke Oliver Wittke (C) Ursula Groden-Kranich Dr. Carsten Linnemann Tankred Schipanski Tobias Zech Hermann Gröhe Patricia Lips Christian Schmidt (Fürth) Emmi Zeulner Klaus-Dieter Gröhler Nikolas Löbel Dr. Claudia Schmidtke Paul Ziemiak Michael Grosse-Brömer Bernhard Loos Patrick Schnieder Dr. Matthias Zimmer Astrid Grotelüschen Dr. Jan-Marco Luczak Nadine Schön Markus Grübel Daniela Ludwig Felix Schreiner SPD Manfred Grund Dr. Saskia Ludwig Dr. Klaus-Peter Schulze Oliver Grundmann Karin Maag Uwe Schummer Niels Annen Monika Grütters Yvonne Magwas Armin Schuster (Weil am Ingrid Arndt-Brauer Fritz Güntzler Dr. Thomas de Maizière Rhein) Bela Bach Olav Gutting Gisela Manderla Torsten Schweiger Heike Baehrens Christian Haase Dr. Astrid Mannes Detlef Seif Ulrike Bahr Florian Hahn Matern von Marschall Johannes Selle Nezahat Baradari Jürgen Hardt Hans-Georg von der Reinhold Sendker Doris Barnett Matthias Hauer Marwitz Dr. Patrick Sensburg Dr. Matthias Bartke Mark Hauptmann Thomas Silberhorn Sören Bartol Dr. Matthias Heider Stephan Mayer (Altötting) Björn Simon Lothar Binding Mechthild Heil Dr. Michael Meister Tino Sorge (Heidelberg) Thomas Heilmann Dr. Angela Merkel Jens Spahn Dr. Eberhard Brecht Frank Heinrich (Chemnitz) Jan Metzler Katrin Staffler Leni Breymaier Mark Helfrich Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans Dr. Karl-Heinz Brunner Rudolf Henke Michelbach Dr. Wolfgang Stefinger Katrin Budde Michael Hennrich Dr. Mathias Middelberg Albert Stegemann Dr. Lars Castellucci Marc Henrichmann Dietrich Monstadt Andreas Steier Karsten Möring Peter Stein (Rostock) Dr. Daniela De Ridder Christian Hirte Sebastian Steineke Dr. Karamba Diaby Dr. Heribert Hirte Axel Müller Johannes Steiniger Esther Dilcher Alexander Hoffmann Sepp Müller Christian Frhr. von Stetten Sabine Dittmar Karl Holmeier Carsten Müller Dieter Stier Dr. Wiebke Esdar Dr. Hendrik Hoppenstedt (Braunschweig) Gero Storjohann Yasmin Fahimi Erich Irlstorfer Stefan Müller (Erlangen) Stephan Stracke Dr. Johannes Fechner (B) Hans-Jürgen Irmer Dr. Andreas Nick Max Straubinger Dr. Fritz Felgentreu (D) Thomas Jarzombek Petra Nicolaisen Dr. Hermann-Josef Dr. Edgar Franke Andreas Jung Michaela Noll Tebroke Ulrich Freese Ingmar Jung Dr. Georg Nüßlein Hans-Jürgen Thies Dagmar Freitag Alois Karl Wilfried Oellers Alexander Throm Michael Gerdes Anja Karliczek Florian Oßner Dr. Dietlind Tiemann Martin Gerster Torbjörn Kartes Josef Oster Antje Tillmann Angelika Glöckner Henning Otte Markus Uhl Timon Gremmels Dr. Stefan Kaufmann Ingrid Pahlmann Dr. Volker Ullrich Kerstin Griese Roderich Kiesewetter Sylvia Pantel Arnold Vaatz Michael Groß Michael Kießling Martin Patzelt Kerstin Vieregge Uli Grötsch Dr. Georg Kippels Dr. Joachim Pfeiffer Volkmar Vogel Bettina Hagedorn (Kleinsaara) Volkmar Klein Stephan Pilsinger Rita Hagl-Kehl Christoph de Vries Axel Knoerig Dr. Christoph Ploß Metin Hakverdi Kees de Vries Jens Koeppen Eckhard Pols Sebastian Hartmann Thomas Rachel Dr. Johann David Dirk Heidenblut Markus Koob Wadephul Kerstin Radomski Hubertus Heil (Peine) Carsten Körber Marco Wanderwitz Alexander Radwan Gabriela Heinrich Alexander Krauß Nina Warken Alois Rainer Wolfgang Hellmich Gunther Krichbaum Kai Wegner Dr. Peter Ramsauer Dr. Barbara Hendricks Dr. Günter Krings Dr. Anja Weisgerber Eckhardt Rehberg Gustav Herzog Rüdiger Kruse Peter Weiß Michael Kuffer Lothar Riebsamen (Emmendingen) Gabriele Hiller-Ohm Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers Josef Rief Sabine Weiss (Wesel I) Thomas Hitschler Andreas G. Lämmel Johannes Röring Ingo Wellenreuther Frank Junge Katharina Landgraf Dr. Norbert Röttgen Marian Wendt Josip Juratovic Ulrich Lange Stefan Rouenhoff Kai Whittaker Thomas Jurk Dr. Silke Launert Erwin Rüddel Annette Widmann-Mauz Oliver Kaczmarek Jens Lehmann Albert Rupprecht Bettina Margarethe Elisabeth Kaiser Paul Lehrieder Stefan Sauer Wiesmann Ralf Kapschack Dr. Katja Leikert Anita Schäfer (Saalstadt) Klaus-Peter Willsch Gabriele Katzmarek Dr. Andreas Lenz Dr. Wolfgang Schäuble Elisabeth Winkelmeier- Cansel Kiziltepe Antje Lezius Becker Arno Klare 21800 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

(A) Lars Klingbeil Martin Schulz Dr. Heiko Heßenkemper Britta Katharina Dassler (C) Dr. Bärbel Kofler Swen Schulz (Spandau) Karsten Hilse Bijan Djir-Sarai Frank Schwabe Nicole Höchst Christian Dürr Elvan Korkmaz-Emre Stefan Schwartze Martin Hohmann Hartmut Ebbing Anette Kramme Andreas Schwarz Dr. Bruno Hollnagel Dr. Marcus Faber Christine Lambrecht Rita Schwarzelühr-Sutter Leif-Erik Holm Daniel Föst Christian Lange Rainer Spiering Johannes Huber Otto Fricke (Backnang) Svenja Stadler Fabian Jacobi Thomas Hacker Dr. Karl Lauterbach Martina Stamm-Fibich Dr. Marc Jongen Reginald Hanke Sylvia Lehmann Sonja Amalie Steffen Jens Kestner Peter Heidt Helge Lindh Mathias Stein Stefan Keuter Katrin Helling-Plahr Kirsten Lühmann Kerstin Tack Norbert Kleinwächter Markus Herbrand Caren Marks Claudia Tausend Jörn König Torsten Herbst Dorothee Martin Michael Thews Steffen Kotré Katja Hessel Katja Mast Markus Töns Dr. Rainer Kraft Dr. Gero Clemens Hocker Christoph Matschie Carsten Träger Rüdiger Lucassen Manuel Höferlin Dr. Matthias Miersch Ute Vogt Frank Magnitz Dr. Christoph Hoffmann Klaus Mindrup Marja-Liisa Völlers Jens Maier Reinhard Houben Susanne Mittag Dirk Vöpel Dr. Lothar Maier Ulla Ihnen Falko Mohrs Dr. Joe Weingarten Dr. Birgit Malsack- Olaf In der Beek Claudia Moll Bernd Westphal Winkemann Gyde Jensen Siemtje Möller Dirk Wiese Corinna Miazga Dr. Christian Jung Bettina Müller Gülistan Yüksel Andreas Mrosek Karsten Klein Detlef Müller (Chemnitz) Dagmar Ziegler Hansjörg Müller Dr. Marcel Klinge Michelle Müntefering Stefan Zierke Volker Münz Daniela Kluckert Dr. Rolf Mützenich Dr. Jens Zimmermann Sebastian Münzenmaier Pascal Kober Dietmar Nietan Dr. Lukas Köhler Ulli Nissen Jan Ralf Nolte AfD Carina Konrad Thomas Oppermann Gerold Otten Wolfgang Kubicki Tobias Matthias Peterka Josephine Ortleb Dr. Bernd Baumann Konstantin Kuhle Paul Viktor Podolay Mahmut Özdemir Marc Bernhard Alexander Kulitz Stephan Protschka (Duisburg) Andreas Bleck Ulrich Lechte Martin Reichardt (B) Aydan Özoğuz Peter Boehringer Christian Lindner (D) Dr. Robby Schlund Stephan Brandner Michael Georg Link Christian Petry Jürgen Braun Jörg Schneider (Heilbronn) Sabine Poschmann Marcus Bühl Uwe Schulz Oliver Luksic Florian Post Matthias Büttner Thomas Seitz Till Mansmann Achim Post (Minden) Petr Bystron Martin Sichert Dr. Jürgen Martens Florian Pronold Tino Chrupalla Detlev Spangenberg Christoph Meyer Martin Rabanus Joana Cotar Dr. Dirk Spaniel Alexander Müller Mechthild Rawert Dr. Gottfried Curio René Springer Roman Müller-Böhm Beatrix von Storch Andreas Rimkus Siegbert Droese Frank Müller-Rosentritt Dr. Alice Weidel Sönke Rix Thomas Ehrhorn Dr. Martin Neumann Dr. Harald Weyel Dennis Rohde Berengar Elsner von (Lausitz) Dr. Martin Rosemann Gronow Wolfgang Wiehle Matthias Nölke René Röspel Dr. Michael Espendiller Dr. Heiko Wildberg Hagen Reinhold Dr. Ernst Dieter Rossmann Peter Felser Dr. Christian Wirth Bernd Reuther Michael Roth (Heringen) Dietmar Friedhoff Uwe Witt Dr. h. c. Thomas Susann Rüthrich Dr. Anton Friesen Sattelberger Bernd Rützel Dr. Götz Frömming FDP Frank Schäffler Dr. Wieland Schinnenburg Dr. Alexander Gauland Grigorios Aggelidis Johann Saathoff Matthias Seestern-Pauly Dr. Axel Gehrke Renata Alt Axel Schäfer (Bochum) Judith Skudelny Albrecht Glaser Christine Aschenberg- Dr. Nina Scheer Franziska Gminder Dugnus Dr. Hermann Otto Solms Marianne Schieder Wilhelm von Gottberg Nicole Bauer Benjamin Strasser Udo Schiefner Kay Gottschalk Jens Beeck Katja Suding Dr. Nils Schmid Armin-Paulus Hampel Dr. Jens Brandenburg Linda Teuteberg Uwe Schmidt Mariana Iris Harder- (Rhein-Neckar) Michael Theurer Ulla Schmidt (Aachen) Kühnel Mario Brandenburg Stephan Thomae Dagmar Schmidt (Wetzlar) Dr. Roland Hartwig (Südpfalz) Manfred Todtenhausen Carsten Schneider (Erfurt) Jochen Haug Sandra Bubendorfer-Licht Dr. Andrew Ullmann Johannes Schraps Udo Theodor Hemmelgarn Dr. Marco Buschmann Gerald Ullrich Michael Schrodi Johannes Vogel (Olpe) Ursula Schulte Martin Hess Carl-Julius Cronenberg Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21801

(A) Nicole Westig Dr. Gesine Lötzsch Canan Bayram Dr. Konstantin von Notz (C) Katharina Willkomm Thomas Lutze Dr. Franziska Brantner Omid Nouripour Pascal Meiser Agnieszka Brugger Friedrich Ostendorff DIE LINKE Amira Mohamed Ali Dr. Anna Christmann Lisa Paus Cornelia Möhring Ekin Deligöz Filiz Polat Doris Achelwilm Katharina Dröge Tabea Rößner Gökay Akbulut Norbert Müller (Potsdam) Harald Ebner Claudia Roth (Augsburg) Simone Barrientos Zaklin Nastic Matthias Gastel Dr. Dietmar Bartsch Dr. Manuela Rottmann Dr. Alexander S. Neu Kai Gehring Lorenz Gösta Beutin Corinna Rüffer Thomas Nord Stefan Gelbhaar Matthias W. Birkwald Manuel Sarrazin Petra Pau Erhard Grundl Heidrun Bluhm-Förster Ulle Schauws Sören Pellmann Anja Hajduk Michel Brandt Dr. Frithjof Schmidt Britta Haßelmann Christine Buchholz Victor Perli Stefan Schmidt Dr. Bettina Hoffmann Dr. Birke Bull-Bischoff Tobias Pflüger Charlotte Schneidewind- Jörg Cezanne Martina Renner Dr. Anton Hofreiter Hartnagel Fabio De Masi Bernd Riexinger Ottmar von Holtz Kordula Schulz-Asche Dr. Diether Dehm Eva-Maria Schreiber Dr. Wolfgang Strengmann- Anke Domscheit-Berg Dr. Petra Sitte Dr. Kirsten Kappert- Kuhn Gonther Klaus Ernst Helin Margit Stumpp Uwe Kekeritz Nicole Gohlke Friedrich Straetmanns Markus Tressel Katja Keul Dr. Gregor Gysi Dr. Kirsten Tackmann Jürgen Trittin Sven-Christian Kindler Dr. André Hahn Jessica Tatti Dr. Julia Verlinden Maria Klein-Schmeink Heike Hänsel Alexander Ulrich Daniela Wagner Matthias Höhn Dr. Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Beate Walter-Rosenheimer Andrej Hunko Andreas Wagner Gerhard Zickenheiner Ulla Jelpke Harald Weinberg Stephan Kühn (Dresden) Kerstin Kassner Katrin Werner Christian Kühn (Tübingen) Dr. Achim Kessler Renate Künast Fraktionslos Markus Kurth Marco Bülow BÜNDNIS 90/ Monika Lazar Jan Korte Verena Hartmann DIE GRÜNEN Steffi Lemke Jutta Krellmann Lars Herrmann Caren Lay Dr. Tobias Lindner (B) Uwe Kamann (D) Sabine Leidig Dr. Irene Mihalic Mario Mieruch Ralph Lenkert Annalena Baerbock Claudia Müller Margarete Bause Beate Müller-Gemmeke Dr. Frauke Petry Stefan Liebich Dr. Danyal Bayaz Dr. Ingrid Nestle Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt.

Anlage 6 ein Kompromiss, der die drohende Einleitung eines Erklärung nach § 31 GO Zweitklageverfahrens gegen Deutschland mit hohen Geldstrafen abwenden konnte. des Abgeordneten Marc Henrichmann (CDU/CSU) zu der namentlichen Abstimmung über die Be- Die verschärften Auflagen stellen die Landwirtinnen schlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung und Landwirte in Deutschland vor eine große Herausfor- und Landwirtschaft zu dem Antrag der Abgeord- derung. Die Bauern brauchen aber jetzt pragmatische neten Stephan Protschka, Berengar Elsner von Lösungen, um diese anspruchsvollen Ziele zu erreichen. Gronow, Peter Felser, weiterer Abgeordneter und Eine Normenkontrollklage vor dem Bundesverfassungs- der Fraktion der AfD: Antrag auf abstrakte Nor- gericht, wie es die AfD-Fraktion in ihrem Antrag fordert, menkontrolle beim Bundesverfassungsgericht hilft dem Berufsstand keineswegs weiter. gemäß Artikel 93 Absatz 1 Nummer 2 des Grund- gesetzes wegen der Verordnung zur Änderung der Düngeverordnung und anderer Vorschriften Die Bundesregierung hat die Verfassungsmäßigkeit vorab geprüft und kann diese nur bestätigen. Die Ein- (Zusatzpunkt 11) griffe, also die Beschränkungen der Anwendung von Düngemitteln, die die Düngeverordnung in den belaste- Die Novellierung der Düngeverordnung 2020 war ein ten Gebieten vorsieht, seien gerechtfertigt und in Abwä- langer Aushandlungsprozess zwischen der Bundesregie- gung mit dem Ziel des Umweltschutzes, im Übrigen auch rung und der EU-Kommission. Am Ende stand, wie ein Staatsziel mit Verfassungsrang, auch verhältnismä- immer bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Rahmens, ßig. 21802 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

(A) Der Klageweg, die Überprüfung der Gesetzgebung vor Der Gesetzentwurf sieht bisher keine Begrenzung nach (C) den höchsten Gerichten, steht in Deutschland erfreuli- dem Verwandtschaftsgrad bei Verschwägerten vor. Das cherweise allen frei, im Parlament gibt es dafür aber ist nicht nachvollziehbar, zumal beispielsweise zur kaum Mitstreiter: Eine überwiegende Mehrheit im feder- Urgroßnichte in der Regel kein besonders enges persönli- führenden Agrarausschuss des Deutschen Bundestages ches und wirtschaftliches Verhältnis besteht. Das Gesetz sowie in den mitberatenden Ausschüssen hat die Ableh- sollte auch hier eine klare Grenze ziehen. Der Kreis der nung des Antrags empfohlen. Aus genannten Gründen Aufenthaltsberechtigten darf nicht ausufern. habe ich heute in der namentlichen Abstimmung gegen den Antrag gestimmt. Der Gesetzentwurf setzt auch notwendige Regelungen um, die nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU erforderlich werden. Briten, die vor dem Ende· des Über- gangszeitraums in Deutschland leben, bekommen auto- Anlage 7 matisch ein Aufenthaltsdokument ausgestellt. Deshalb sind keine Antragsfristen einzuhalten. Unnötige Bürokra- Zu Protokoll gegebene Reden tie wird vermieden. Hier unterscheiden wir uns positiv zur ersten Beratung des von der Bundesregierung von den Briten, die einen Antrag verlangen. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur aktuel- Ein wichtiges und starkes Signal senden wir an deut- len Anpassung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und sche Studierende in Großbritannien. Die BAföG-Leistun- weiterer Vorschriften an das Unionsrecht gen enden nicht abrupt, sondern werden bis zum Ende des (Tagesordnungspunkt 19) britischen Ausbildungsabschnitts geleistet. Alles in allem: ein gelungener Gesetzentwurf, der im Detlef Seif (CDU/CSU): Der vorliegende Gesetzent- weiteren parlamentarischen Verfahren noch geringfügig wurf setzt zwei Schwerpunkte: erstens, ein EU- nachjustiert werden sollte, um den Kreis der Berechtigten Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland zu treffsicher zu begrenzen. beenden, zweitens, Regelungen zu treffen, die durch den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europä- Dr. Lars Castellucci (SPD): Am Ende der Debatte ischen Union erforderlich werden. kann dieser Gesetzentwurf noch einmal eingeordnet wer- Die EU-Kommission verlangt in einem Vertragsverlet- den. zungsverfahren die vollständige Umsetzung der EU-Frei- Erstens geht es um Freizügigkeit in Europa. Für uns ist zügigkeitsrichtlinie. Nahen Angehörigen von EU-Bür- (B) Europa mehr als ein Markt. Es ist gut, dass Waren und (D) gern sollen hiernach Einreise und Aufenthalt in einem Dienstleistungen frei bewegt werden können, aber was Mitgliedstaat erleichtert werden. wäre das für ein Europa, wenn nicht auch wir Bürger- Das ist ein nachvollziehbares und berechtigtes Interes- innen und Bürger Freiheit genießen könnten. Wir haben se der betroffenen Unionsbürger und ihrer nahen Ange- für diese Freiheit lange gekämpft. (Ich habe das als hörigen: Wichtig ist hier aber, diesen Personenkreis zu schweren Rückschlag empfunden, wie schnell aufgrund begrenzen und klar zu definieren. Damit steuern wir der Coronapandemie Grenzen auch innerhalb Europas auch hier die Zuwanderung und begrenzen die Belastung geschlossen wurden. Das mag eine Maßnahme gewesen der Sozialsystem. Einige Formulierungen des Gesetzent- sein, die schnell umsetzbar war und kurzfristig zur Ein- wurfs sind deshalb noch zu schärfen. schränkung von Kontakten geeignet. Vielmehr aber erfordert gerade auch die Pandemie grenzüberschreitende Sofern bei Verwandten die Freizügigkeit davon abhän- Zusammenarbeit und Solidarität.) Das Virus wird uns die gig gemacht wird, dass ihnen als Familienangehörige Freizügigkeit nicht kaputtmachen. Unterhalt gewährt wird, muss es sich um eine gesetzliche Unterhaltsverpflichtung handeln. Anderenfalls könnten Zweitens geht es um Migration. Migration gibt es, alleine freiwillige Zahlungen zu einem Aufenthaltsstatus solange es Menschen gibt, und Migration ist eine Quelle führen. Das wäre missbrauchsanfällig. für Wohlstand, für Innovation, für Entwicklung. Das gelingt umso besser, je geordneter es zugeht. Deshalb Die Empfehlung des Bundesrates, eine Definition geht es uns um Steuerung von Migration. Das Fachkräf- redaktionell zu überarbeiten, ist zu unterstützen, damit teeinwanderungsgesetz ist ein ganz wichtiger Baustein, ein Mehrfachnachzug ausgeschlossen wird. Das betrifft den diese Koalition auf den Weg gebracht hat. insbesondere den Fall, dass neben der nichtehelichen Lebensgemeinschaft zugleich eine Ehe oder eine einge- Allerdings lässt sich Migration nicht immer steuern. tragene Lebenspartnerschaft besteht. Das gilt insbesondere für die erzwungene Migration, wo Menschen vor Verfolgung oder Bürgerkrieg fliehen. Frei- Die Gemeinschaft mit dem Lebensgefährten muss auf zügigkeit bedeutet ja gerade, dass nicht gesteuert wird. Dauer angelegt sein. Um Missbrauch auszuschließen, Denken wir an die Jahre nach der Wirtschafts- und sollte das Zusammenleben mindestens ein Jahr andauern. Finanzkrise vor gut zehn Jahren. Damals kamen insbe- Viele Mitgliedstaaten haben sogar höhere Anforderun- sondere viele junge Menschen aus Südeuropa, weil sie gen. So verlangen Malta und Portugal ein zweijähriges, dort keine Perspektiven hatten. Viele von ihnen sind Frankreich sogar ein mindestens fünfjähriges Zusam- auch wieder zurückgekehrt. Diese Freiheit wollen wir menleben. Es wäre nicht verständlich, wenn Deutschland gerade nicht beschneiden. Genau diese Freiheit wollen hier nicht ebenfalls einen Mindestzeitraum festlegt. wir bewahren. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21803

(A) Wenn es also in Moria brennt und 13 000 Menschen ihr Pflegeheimen, Krankenhäusern und Einrichtungen für (C) ohnehin beschämendes Obdach verlieren, können wir Menschen mit Behinderung. Hier geht es um wertvolle nichts steuern. Hier können wir nur eins tun: helfen, Arbeit für Menschen, welche eh schon eingeschränkt tun, was in unseren Möglichkeiten liegt. Und das sollte sind. auch umgehend geschehen. Angesichts der weitgehenden Rückkehr zum Regelbe- Gerade weil wir nicht alles steuern können, müssen wir trieb in Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen das gut steuern, was in unserem Einfluss liegt. Genau das sehen die Länder je nach Infektionsgeschehen daneben geschieht mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. auch zielgerichtete Testungen vor allem bei den Lehrkräf- Wir regeln ten sowie Erzieherinnen und Erziehern vor. Ganz wich- tig: Normalität. – für die geplagten Bürger des Vereinigten Königreichs, Bestandteil der Teststrategie sollten auch örtliche Test- dass diejenigen, die bereits jetzt bei uns leben, weiter- zentren sein, an denen schnell, unbürokratisch und zuver- hin ein Aufenthaltsrecht haben, lässig sowohl Einzelpersonen als auch größere Gruppen – für unsere Staatsbürger, die eine Ausbildung im Ver- getestet werden können. Der Bund wird die Kostentra- einigten Königreich begonnen haben, dass sie Ausbil- gungsregelungen, wo notwendig, entsprechend anpassen. dungsförderung für den gesamten Zeitraum ihrer Aus- Für Rückkehrer aus Risikogebieten ist vereinbart, dass bildung erhalten können, die bisherige Möglichkeit in zahlreichen Bundesländern, – wie unter bestimmten Voraussetzungen auch Naheste- durch einen Test kurz vor oder nach der Einreise nach hende von EU-Bürgern, die selbst nicht EU-Bürger Deutschland die Selbstisolation frühzeitig beenden zu sind, nach Deutschland kommen können. können, verändert werden soll – wegen des Problems, Es ist gesagt worden, die Kriterien seien streng ange- dass Infektionen am Ende des Aufenthalts im Risikoge- legt. Noch einmal: Es geht darum, gut steuern, was zu biet oder während der Rückreise nicht erfasst werden. steuern ist. Deshalb ist es konsequent, wenn Behörden Deshalb wird möglichst ab 1. Oktober 2020 eine neue nach eingehender Prüfung der persönlichen Situation Regelung zur Selbstisolation – Quarantäne – für Reisen- eine Entscheidung treffen können. Deshalb ist es konse- de aus Risikogebieten eingeführt. Danach ist eine vor- quent, dass plausibel gemacht werden muss, dass einem zeitige Beendigung der Selbstisolation frühestens durch eine Person tatsächlich nahesteht. Und deshalb ist es kon- einen Test ab dem fünften Tag nach Rückkehr möglich. sequent, die Regelungen des Aufenthaltsgesetzes anzu- Das Bundesministerium des Innern ist gebeten, eine ent- wenden, wonach etwa der Lebensunterhalt gesichert sprechende Änderung der Muster-Quarantäneverordnung sein muss oder die Identität der Personen geklärt ist. vorzulegen. (B) Die Kritikpunkte werden wir uns in den anstehenden Ausdrücklich festgehalten ist auch, dass die Sicherung (D) Beratungen anschauen. Insgesamt unterstützen wir den ausreichender Testkapazitäten mit zugehöriger Logistik vorgelegten Entwurf, weil er uns hilft, Freizügigkeit zu und Infrastruktur ein wesentlicher Bestandteil der Fort- sichern und Migration zu steuern. schreibung einer gemeinsamen Teststrategie ist und daher ausreichende Testkapazitätsreserven sicherzustellen sind, etwa für systematische Reihentestungen bei Ausbrüchen. Anlage 8 Die Länder haben den Bund gebeten, einen Bericht über die vorhandenen Kapazitäten und neue diagnostische Zu Protokoll gegebene Rede Optionen vorzulegen. Auf Basis dieser Analysen werden Bund und Länder die Testkapazitäten, soweit möglich, zur Beratung des Antrags der Abgeordneten ausbauen. Dr. Andrew Ullmann, Michael Theurer, Renata Alt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Der Bundesminister der Gesundheit ist bereits beauf- FDP: Praxistaugliche und intelligente COVID-19- tragt, in Absprache mit der Gesundheitsministerkonfe- Teststrategie renz die Teststrategie entsprechend anzupassen. Der Antrag der FDP-Fraktion ist daher obsolet. (Zusatzpunkt 13) Abschließend möchte ich aber noch betonen, dass wir bei einer erweiterten Strategie auch andere Bereiche im Dr. Roy Kühne (CDU/CSU): Ich danke der FDP für Auge haben sollten, welche eben nicht so offensichtlich ihren Antrag, sage aber auch gleich zum Anfang: Er ist sind. Ich denke hier an unsere Rettungsorganisationen in inhaltlich korrekt, aber obsolet. Die Bundesregierung Deutschland, welche unter widrigen·Bedingungen ihre erarbeitet aktuell eine erweiterte Strategie, was im Okto- wertvolle Arbeit leisten – oftmals ehrenamtlich: Hier ber abgeschlossen sein soll. müssen wir gewährleisten, dass unsere Strategie darauf Wie bereits zwischen den Gesundheitsministern der Rücksicht nimmt. Länder und ebenfalls in der Telefonschaltkonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefs der Länder am 27. August 2020 vereinbart, wird die nationale Teststrate- gie bis Oktober überarbeitet. Diese Überarbeitung soll unter anderem vorsehen, dass symptomatische Ver- dachtsfälle und enge Kontaktpersonen wie bisher priori- tär getestet werden. Gleiches gilt für Testungen, um in gefährdeten Bereichen vorzubeugen, etwa in Alten- und 21804 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

(A) Anlage 9 Dazu gehört auch, dass das ein Problem ist, das wir (C) nicht nur aus dem Asylantragswesen bei ausländischen Zu Protokoll gegebene Reden Pässen kennen, so sie denn vorhanden sind. Das passiert leider auch sehr oft in Deutschland – gerade im Bereich zur ersten Beratung des von der Bundesregierung von sozialen Transferleistungen. Der Schaden für den eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär- Steuerzahler ist immens, Berichte darüber gibt es regel- kung der Sicherheit im Pass-, Ausweis- und aus- mäßig; die Dunkelziffer ist vermutlich höher, als wir länderrechtlichen Dokumentenwesen wahrhaben wollen. Die Folge ist: Das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates schwindet beim Bürger. (Tagesordnungspunkt 21) Daher kann ein solcher Identitätsmissbrauch nur dann schnell und sicher vor Ort festgestellt werden, wenn im Hans-Jürgen Irmer (CDU/CSU): Es gibt kaum etwas Dokument die für jeden Menschen einzigartigen Finger- Höherwertiges, was ein Staat verleihen kann, als seine abdrücke gespeichert werden und zum Abgleich zur Ver- Staatsbürgerschaft. Ausdruck der Staatsbürgerschaft ist fügung stehen. Wer dagegen aus Datenschutzgründen das Ausweisdokument. Genauso, wie wir nicht leichtfer- etwas hat, missbraucht den Datenschutz und macht ihn tig unsere Staatsbürgerschaft vergeben sollten – und zum Täterschutz. Der anständige Bürger ist der Dumme. darüber könnte man eine eigene Debatte führen –, genau- Und ich frage mich, ob man hier wirklich Politik für so wenig sollten wir leichtfertig mit der Passsicherheit Sozialbetrüger machen möchte, indem man das ablehnt. umgehen. Mit der Digitalisierung und anderen Fortschrit- ten müssen wir als Staat im Interesse der Sicherheit unse- Es dürfte Sie im Ergebnis nicht verwundern, dass ich rer Bürger und unseres Landes Schritt halten. Wir wissen, diesen Gesetzentwurf für einen wichtigen und zeitgemä- dass mit Morphing und anderen Tools Passbilder manipu- ßen Beitrag zur Sicherheit unseres Landes und seiner liert werden. Dies geschieht bei der Passbeantragung, bei Bürger halte, und ich verstehe nicht, wie man diesem der verfälschte Fotos abgegeben werden. Mehrere Entwurf nicht zustimmen kann. Gesichtsbilder werden zu einem einzigen Gesamtbild verschmolzen, sodass andere Personen als der eigentliche Passinhaber diesen nutzen könnten, beispielsweise, um Ulla Jelpke (DIE LINKE): Im Titel des Gesetzent- unerlaubt Grenzen zu überschreiten, oder für Sozialbe- wurfs behauptet die Bundesregierung, es gehe um die trug. Dies können und werden wir von der Unionsfrak- „Stärkung der Sicherheit“ von Ausweisen. Aber in Wahr- tion nicht hinnehmen. heit will sie alle Bürgerinnen und Bürger zwingen, künf- tig ihre Fingerabdrücke im Personalausweis speichern zu (B) Daher schreibt dieses Gesetz fest, dass Bilder für (D) Dokumente nur in der Behörde erstellt werden dürfen. lassen. Diese millionenfache Verletzung des Grundrechts Und ja, dagegen gab es Widerstand insbesondere von auf informationelle Selbstbestimmung lehnen wir ganz Fotostudios. Ihnen sind wir entgegengekommen, indem klar ab, weil sie völlig unverhältnismäßig ist. wir festgeschrieben haben, dass auch digitale Bilder von privaten Dienstleistern sicher an die Behörde übermittelt Der Bundesinnenminister hat jetzt auf dem Umweg werden können. Das ist gut und richtig so und gewähr- über die EU das erreicht, was er immer schon angestrebt leistet dennoch die Sicherheit gegenüber Fälschungen. hat. Dabei gibt die Bundesregierung selbst zu – als Ant- wort auf eine Kleine Anfrage von mir –, dass keine Not- Darüber hinaus schreibt das Gesetz fest, dass zur ef- wendigkeit für diese Maßnahme besteht. fektiven Gefahrenabwehr die Vorschriften zum Abruf der Seriennummer überarbeitet werden und eine Versions- So schreibt sie, dass die Fingerabdrücke Zitat „zur nummer auf deutschen und ausländerrechtlichen Doku- Echtheitsüberprüfung der Dokumente nicht benötigt“ menten eingeführt wird. Auch werden künftig zwei Fin- werden. Man braucht sie also gar nicht. Ein Fingerabd- gerabdrücke im Speichermedium des Personalausweises ruckvergleich kann Kontrollmaßnahmen allenfalls ver- verpflichtend gespeichert. Das war bei Vertretern der lin- kürzen, zum Beispiel, wenn ein echter Ausweis durch ken Seite des Hauses umstritten. Hauptsächlich wurden eine Person genutzt wird, die dem Ausweisinhaber ähn- Argumente wie Datenschutz und Misstrauen gegen den lich sieht. Staat angeführt. Lassen Sie mich dazu Folgendes sagen: Erstens handelt es sich dabei um eine Verpflichtung Das ist im letzten Jahr in Deutschland ungefähr 1 000- aufgrund der europäischen Vorgabe aus Artikel 3 Absatz 5 mal vorgekommen. Aber um solche seltenen Fälle in den der Verordnung (EU) 2019/1157, und diese gilt ab dem Griff zu kriegen, darf man doch nicht eine ganze Bevöl- 2. August 2021 unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Inso- kerung zwingen, ihre Fingerabdrücke speichern zu las- fern müssen und werden wir diese Vorgabe umsetzen. sen. In der ganzen EU sind bis zu 340 Millionen Men- schen betroffen. Das ist unverhältnismäßig und riskant. Zweitens. Diese Vorgabe ist auch richtig und sinnvoll. Auf europäischer Ebene berichteten die zur Identitätsfest- Denn die Sicherheit der Fingerabdruck-Daten ist nicht stellung berechtigten Behörden insgesamt über eine stark gewährleistet. Sichere Daten sind nur solche, die man gar zunehmende Zahl von Verdachtsfällen, in denen echte nicht erst erfasst. Stellen Sie sich vor, der Chip mit den Dokumente von anderen, ähnlich aussehenden Personen Fingerabdrücken wird gehackt. Das ist ein Fest für Kri- gebraucht werden. Wer das nicht wahrhaben will, weil es minelle, die damit Betrug mit falschen Identitäten betrei- nicht ins Menschenbild passt, ist blind vor der Realität. ben können. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020 21805

(A) Auf diese Missbrauchsgefahr hat auch der Europäische Anlage 10 (C) Datenschutzbeauftragte hingewiesen. Er hat überhaupt große Kritik an dieser Zwangsspeicherung und nennt Zu Protokoll gegebene Reden sie unbegründet und unnötig. Darauf hätte die Bundesre- gierung mal hören sollen. zur ersten Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Das Mindeste wäre gewesen, auf eine freiwillige Spei- Gesetzes zur Änderung des COVID-19-Insolven- cherung der Fingerabdrücke zu setzen, wie schon bisher. zaussetzungsgesetzes Derzeit lässt nur ein Drittel der Ausweis-Antragsteller in Deutschland seine Fingerabdrücke speichern. Anstatt das (Tagesordnungspunkt 23) zu akzeptieren, greifen EU und Bundesregierung jetzt zum Zwang. Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Bevor ich noch Im Übrigen enthält der Gesetzentwurf weitere unange- einige Punkte zur Sache ergänze, sind mir zwei Vorbe- messene Regelungen, etwa das faktische Verbot für klei- merkungen wichtig: ne und mittlere Unternehmen, Fotoautomaten in den Bür- Die erste Vorbemerkung geht in Richtung der Grünen. gerämtern zu betreiben. Darüber werden wir noch im Bereits gestern haben Sie bei der Debatte zum Insolvenz- Ausschuss zu reden haben. recht immer wieder versucht, den Eindruck zu erwecken, dass die Grünen gern sehr viel schneller, effizienter und umfassender helfen würden, als es die Bundesregierung Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der heute tut. Die Wahrheit ist doch, dass die Grünen nur da helfen vorliegende Gesetzentwurf hat bereits im Vorfeld – es wollen, wo es ihre Ideologie zulässt! Ich darf erinnern an wurde mehrfach gesagt – zu Recht für reichlich Diskus- die vielen tausend Arbeitsplätze in der Automobilindust- sionen gesorgt, nicht zuletzt, weil Sie mit Ihren Ankündi- rie und bei den Zulieferbetrieben. All diese Arbeitsplätze gungen Bürgerinnen und Bürger unter den Generalver- sind Ihnen doch völlig egal, solange sie mit dem Ver- dacht der Bildmanipulation gestellt haben. brennungsmotor in Verbindung zu bringen sind. Auch Insgesamt schädigt die Bundesregierung mit ihrem Ge- das gehört zur Wahrheit dazu. setzentwurf trotz vorsichtiger Aufweichung der ursprün- Die zweite Vorbemerkung geht in Richtung AfD. Das glichen Pläne die örtlichen Fotostudios und Unternehmen war heute wieder ein polemischer Auftritt, der das Prinzip der digitalen Bildverarbeitung nachhaltig und bindet der AfD sehr gut zeigt. Geboten wird von Ihnen stets die gleichzeitig wichtige personelle Ressourcen in Behörden Botschaft, die jeweils tagesaktuell das größte Verhet- für das Erstellen der Fotos. (B) zungspotenzial hat. Heute war die Botschaft: „Die Bun- (D) Aber auch die zukünftige Verpflichtung zur Aufnahme desregierung hat mit dem Lockdown grundlos unser biometrischer Merkmale in den Personalausweis sehen Land kaputt gemacht.“ wir kritisch. Die datenschutzrechtlichen Bedenken der- Vor einigen Monaten, genau genommen am 12. März, jenigen, die sich um ihre informationelle Selbstbestim- war die Botschaft noch eine andere. Da hat Ihre Frak- mung sorgen, können wir sehr gut nachvollziehen. tionsvorsitzende auf Twitter mit markigen Worten den Als Grünen-Bundestagsfraktion erwarten wir vom sofortigen Lockdown gefordert. Ihnen geht es also gar BMI eine Innen- und Sicherheitspolitik, die empirische nicht um die Menschen, geschweige denn um die Sache. Belege für die Notwendigkeit solcher Maßnahmen vor- Ihnen geht es nur um die Frage, mit welcher Botschaft Sie legt; denn der Eingriff in die Bürgerrechte ist auch bei die meisten Menschen aufhetzen können! diesem Vorhaben tiefgreifend, der sicherheitspolitische Nun noch einige Ausführungen zur Sache: Viele Mehrwert nicht belegt. Experten rechnen jetzt im Herbst mit einer Pleitewelle. Wir werden in dieser schweren Zeit die Unternehmen und Weder die EU-Kommission noch die Bundesregierung Arbeitgeber nicht alleine lassen. Deshalb verlängern wir konnten bislang belegen, wie groß das angeführte Pro- die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht um weitere blem des Morphings in Wahrheit ist. Es wäre in den drei Monate bis zum 31. Dezember 2020. Das soll aller- Beratungen interessant, zu erfahren, welche konkreten dings nur für die Unternehmen gelten, die überschuldet, Erkenntnisse dem Innenministerium vorliegen. aber nicht zahlungsunfähig sind. Wer überschuldet ist, Schon heute ermöglichen die digitalen Lichtbilder eine dessen Fall ist in § 19 Absatz 2 InsO geregelt. Überschul- eindeutige Identifizierung, und es gibt zahlreiche weitere dung liegt grundsätzlich einmal dann vor, wenn das Ver- Sicherheitsvorgaben, die Fälschungen effektiv verhin- mögen des Schuldners die Verbindlichkeiten nicht mehr dern. Deutsche Pässe gehören zu den sichersten der Welt! deckt. Zahlungsunfähig ist hingegen derjenige, der die Zahlungen an die Gläubiger eingestellt hat. All diese Argumente abwägend, steht der jetzt vorlie- gende Gesetzentwurf unseres Erachtens in keinem Ver- Hierbei will ich deutlich machen, dass das Insolvenz- hältnis zu einem bisher nicht näher dargelegten Sicher- recht immer auch einen ausgewogenen Ausgleich zwi- heitsproblem. schen den Interessen des Schuldners und den Interessen des Gläubigers finden muss. Dabei ist es auch Verpflich- Als Parlament werden wir uns im Innenausschuss, aber tung des Staates, andere Teilnehmer des Geschäftsver- auch in den anderen Fachausschüssen weiter intensiv mit kehrs vor solchen Teilnehmern zu schützen, die einfach dieser Vorlage beschäftigen. nicht mehr zu retten sind. 21806-21815 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. September 2020

(A) Daher ist es richtig, die Pflicht zur Stellung des Insol- Als Linksfraktion haben wir im März – trotz einiger (C) venzantrags für die Unternehmen zu belassen, die trotz Kritik – dem Gesetzentwurf zur Abmilderung der Folgen der Pandemiehilfen zahlungsunfähig sind. Dieser Über- der Coronapandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafver- legung liegt der Gedanke zugrunde, dass ein Unterneh- fahrensrecht zugestimmt. Denn natürlich musste schnell men, das trotz Ausschöpfung der Coronahilfen und trotz und kurzfristig gehandelt werden. Nun soll dieses Gesetz Ausschöpfung weiterer Instrumente wie zum Beispiel der bis zum Ende des Jahres verlängert werden. Kurzarbeit zahlungsunfähig ist, im Kern nicht mehr Wir unterstützen natürlich Maßnahmen zum Schutz gesund ist. Im Interesse eines gesunden Geschäftsver- von kleinen und mittelständischen Unternehmen, aber kehrs wäre es nicht richtig, solchen Unternehmen die nicht den Ansatz der Bundesregierung. Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags zu ersparen. Die Bundesregierung handelt, wie in vielen Bereichen Ich freue mich auf die weitere Beratung. während des Krisenmanagements, nicht vorausschauend. Denn was passiert, wenn die Frist endet? Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Der von Bundesjus- Anstatt die drohende Insolvenzwelle nur zu verschie- tizministerin Lambrecht eingebrachte Gesetzentwurf zur ben, ist eine Debatte darüber nötig, welchen Beitrag der Änderung des COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetzes Staat zu einer Belebung der Wirtschaft leisten kann. Der sieht eine wichtige Änderung vor. Es ist richtig, die Insol- beste Schutz vor Insolvenzen ist ein Staat, der investiert, venzantragspflicht weiter auszusetzen, damit die Unter- und genau in diesem Bereich fehlt der Bundesregierung nehmen und Arbeitsplätze gerettet werden und Gläubi- der Mut. Diesen fehlenden Mut kritisiert nicht nur Die gern eine echte Chance gegeben wird, ihre Forderungen Linke. auch realisiert zu bekommen. Die Fristverlängerung bis zum Ende des Jahres begrüße ich ausdrücklich. Zwangsläufig sehen wir die Gefahr, dass es nach Ende der Frist – ob diese nun im September oder Dezember Allen ist uns bewusst, dass der wirtschaftliche Ein- endet – zu einem schlagartigen Anstieg von Insolvenzan- bruch Ende September noch nicht überwunden ist, und meldungen kommt. Zahlreiche Insolvenzanträge, die über den weiteren Verlauf des Infektionsgeschehens bisher und über die nächsten drei Monate hinweg aufge- besteht sowohl auf nationaler als auch auf europäischer schoben wurden, werden dann die – ohnehin überlaste- und internationaler Ebene weiterhin Unsicherheit. Es ist ten – Insolvenzgerichte erreichen. deshalb richtig, dass Unternehmen, die pandemiebedingt überschuldet sind, weiterhin die Möglichkeit gegeben Der massive Anstieg bzw. die verspäteten Meldungen werden sollte, sich unter Inanspruchnahme staatlicher der Insolvenzen bergen das Risiko, dass die Bilanz – bis Hilfsangebote zu sanieren. dahin gesunder Unternehmen – in Mitleidenschaft gezo- (B) gen werden und deren Zahlungsfähigkeit gefährdet wird. (D) Nur so können Unternehmen und Arbeitsplätze geret- Hier sehen wir eine Belastung der Stabilität von Teilen tet werden und Gläubigern eine echte Chance gegeben des Bankensektors. Uns fehlt an dieser Stelle die Präsen- werden, ihre Forderungen auch realisiert zu bekommen. tation einer umfassenden Strategie zur Abwendung der Eine Insolvenz mit einer Miniquote nützt niemand. Alles Krise. andere gefährdet Arbeitsplätze und lässt Gläubiger ins Leere laufen. Die Priorität zur Lösung der Coronakrise darf nicht an erster Stelle die Zahlungsfähigkeit von Unternehmen bil- Dass die Verlängerung der Aussetzung der Insolven- den. Wir müssen die Menschen in den Mittelpunkt stel- zantragspflicht natürlich nicht bei Zahlungsunfähigkeit len. gelten soll, ist selbstredend. Die Gesetzesänderung soll nur für Unternehmen gelten, die infolge der Covid-19- Höhere Löhne – insbesondere für systemrelevante Pandemie überschuldet sind, ohne zahlungsunfähig zu Berufe, höhere Investitionen in das Bildungs- und sein. Denn anders als bei zahlungsunfähigen Unterneh- Gesundheitswesen, ein Pandemiezuschlag auf niedrige men bestehen bei überschuldeten Unternehmen Chancen, Renten und Hartz IV: Das ist das, was viele Menschen die Insolvenz dauerhaft abzuwenden. Ob die Verlänge- brauchen. rung bis zum Ende des Jahres ausreichen wird, werden All das wären Maßnahmen, die die Kaufkraft stärken wir ganz genau beobachten. und damit nicht nur die Lebensbedingungen der Men- schen verbessern, sondern eben auch den von Insolvenz bedrohten Unternehmen helfen würden. Gökay Akbulut (DIE LINKE): Wir debattieren heute über die Verlängerung des Insolvenzaussetzungsgesetzes Wir haben an vielen Stellen gesehen, dass die Corona- bis zum 31. Dezember 2020. Die Bundesregierung legt pandemie die Krisen verstärkt hat, die die Bundesregie- hier eine unzureichende Lösung vor, um eine reflexartige rung vernachlässigt. Wir brauchen vorausschauende Pla- Schadensbegrenzung zu verlängern. Einen durchdachten nung, um diese Krise gut zu überstehen, und keine und vor allem weitsichtigen Plan sehen wir nicht. reflexartige Politik.

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