Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur (1990-2011)

Ralf Schnell (Siegen Uni)

Ich freue mich, in der Deutschen Abteilung der Yonsei-Universität einen Vortrag über Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur halten zu dürfen. Gegenwartsliteratur – damit ist der Zeitraum seit 1989 gemeint, seit dem Ende der deutschen Teilung. Das Jahr 1989 ist das vierte der Jahresdaten, die die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert entscheidend geprägt haben. Die Jahre 1918, 1933, 1945, 1989 waren historisch einschneidende Daten und folgenreich – wenngleich in unterschiedlicher Weise – auch für die Literatur. 1918 – das Jahr, in dem in Deutschland die Monarchie als Herrschaftsform beseitigt und verfassungsmäßig eine parlamentarische Demokratie, die „Weimarer Republik“, begründet wurde; 1933 – mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland, der Hitlerdiktatur, dem Völkermord an den Juden und dem Zweiten Weltkrieg; 1945 – das Jahr der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 8. Mai mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der Teilung in Ost und West und der Entstehung zweier deutscher Staaten; 1989 schließlich das Ende der Spaltung der Welt in Ost und West, der Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme in Europa, 28 유럽사회문화 제10호 verbunden mit der deutschen Wiedervereinigung. Der 9. November 1989, der Tag, an dem nach fast drei Jahrzehnten die Mauer in geöffnet wurde, läutete eine Jahrhundertwende ein. Er signalisierte nicht allein das Ende der DDR und die Erosionen der Blockbildung zwischen Ost und West, sondern er bestätigte auch das bereits im Übergang zu den achtziger Jahren erkennbare Verblassen der großen Utopien, denen sich das Denken im 20. Jahrhundert verpflichtet gesehen hatte, und das Verlöschen der bestimmenden Ideologien, denen die Politik gefolgt war.

Bis in die feinsten Verästelungen von Ökonomie und Kultur lassen sich im Übergang zum 21. Jahrhundert die Vibrationen des 9. November 1989 nachvollziehen: der Wandel zwischen Ost und West, die Verschiebungen im ideologischen Gefüge und die neuen globalen Perspektiven, die sich aus diesem historischen Ereignis ergeben haben. Ich werde im Folgenden den Wirkungen nachgehen, die das Jahr 1989 auf die Entwicklung der deutschen Literatur besessen hat. Insbesondere der Formenreichtum des Romans mit seinen komplexen Strukturen hat es ermöglicht, die vielfältigen Spannungen und Veränderungen einer aus den Fugen geratenden Welt festzuhalten. Hier finden sich alle Tendenzen und Entwicklungen versammelt: das Gefälle zwischen politischer Klimaveränderung und individueller Erfahrung, die Irritationen und Desorientierungen, die sich von heute auf morgen ergeben hatten, das unverhoffte Glück wie die enttäuschten Erwartungen, die mit dem Niedergang ganzer Systeme des Denkens und Handelns verbunden waren. Der Roman ist zweifellos das gewichtigste literarische Genre dieses Zeitraums. Ich konzentriere mich im Folgenden auf fünf Aspekte der jüngeren Romangeschichte: Wende-Romane, Transkulturelle Prosa, Pop-Romane, Holocaust-Literatur und Prosa der Erinnerung. Auch dabei wähle ich selbstverständlich aus. Sie werden versehen, dass ich nicht alle interessanten Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur (1990-2011)ㆍRalf Schnell 29

Autoren nennen und nicht alle wichtigen Werke erwähnen kann.

1. Wende-Romane

Der saloppe und unscharfe Begriff „Wende-Literatur“ bezeichnet jene literarischen Arbeiten, die sich mit dem Problem der deutschen Einheit auseinandersetzen, also auch mit Fragen der deutschen Teilung, der Begegnung der Menschen in Ost und West, den Entfremdungssymptomen innerhalb Deutschlands und der Möglichkeit ihrer zum Teil kritisch, zum Teil humoristisch gezeichneten Überwindung. Sprechen wir zunächst von den älteren, etablierten und arrivierten Autoren. Auf ihre Weise: subtil und sensibel, verletzlich und verletzt, hat sich wiederholt mit der sich verändernden Wirklichkeit der DDR auseinandergesetzt, und zwar zunächst in ihrer umstrittenen Erzählung Was bleibt, einem erst 1990 veröffentlichten, autobiographisch inspirierten Bericht über die Zeit ihrer Bespitzelung durch den Staatssicherheitsdienst der DDR gegen Ende der siebziger Jahre. Die Verbindung von politischer und persönlicher Geschichte hat die Autorin auch in ihrer Erzählung Leibhaftig (2001) thematisiert, anhand einer Protagonistin – teils Ich-, teils personale Erzählerin – die sich auf dem Weg ins Krankenhaus befindet, Dysfunktionen des Herzrhythmus erleidet und inmitten einer schweren Krise, physischer wie psychischer und politischer Art, eine Schwächung des Immunsystems und einen Zusammenbruch der Abwehrkräfte durchlebt: ein Gleichnis für den Niedergang der DDR. Die Authentizität dieser Erzählung wird zu einem großen Teil durch die autobiographische Dimension verbürgt, die mit dem Namen der Autorin verbunden ist. Dies gilt auch für Wolfs knapp ein Jahrzehnt später erschienenen melancholischen Rückblick auf die Zeit des Umbruchs in der DDR (Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud, 30 유럽사회문화 제10호

2010). Dieser zugleich subjektive und öffentlichkeitsorientierte Monolog eröffnet den Zugang zu einem Leben, das sich aus der Distanz schaffenden Perspektive eines Aufenthalts in Los Angeles nicht zuletzt der eigenen Melancholie versichert. Des Themas „Wende“ hat sich auch Günter Grass in seinem Roman Ein weites Feld (1995) angenommen, dessen erzählte Zeit von Dezember 1989 bis Oktober 1991 reicht, also die entscheidenden Monate der deutschen Wiedervereinigung umfasst. Seine historische, die Perspektive der Wende-Literatur entgrenzende Dimension deutet bereits der Titel an: ein Zitat der Redewendung, die der alte Briest in Theodor Fontanes Roman Effi Briest (1895) nach Art einer leitmotivischen Wiederkehr benutzt, so wie die Figur Hoftaller eine Anspielung auf Hans Joachim Schädlichs Roman Tallhover (1985) darstellt. Diese mehrschichtige Konzeption erlaubt dem Erzähler ein Spiel zwischen Zeiten und Ereignissen, wiederholte und vielfache Spiegelungen von Räumen und Charakteren, Architekturen und Bauten, historischen Biographien und Gegenwartsprofilen. Günter Grass und Christa Wolf sind die bekanntesten Schriftsteller, die sich mit der Entwicklung in Deutschland vor und nach 1989 auseinandersetzen. Zwei weitere namhafte Autoren sind in diesem Zusammenhang ebenfalls zu nennen. Zum einen Wolfgang Hilbig mit seinen Prosatexten Alte Abdeckerei (1991), »Ich« (1993) und Das Provisorium (2000). Alte Abdeckerei, Hilbigs bis zu diesem Zeitpunkt poetisch dichtester Text, ist eine Erzählung, deren Substanz dunkle Traumrealitäten und phantastische Abgründe bilden, zusammengesetzt aus vielfältigen Anspielungen und Verweisen auf Faschismus und Stalinismus, auf Unterdrückung und Terror im Zeitalter der Diktaturen, auf Gräber und Kadaver, Ruinen und Katastrophen, Abraumhalden und Vernichtungslager. Der Roman »Ich« bietet das Porträt eines Spitzels, der, obwohl er Schriftsteller werden möchte, sich vom DDR-Staatssicherheitsdienst Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur (1990-2011)ㆍRalf Schnell 31 zur Beobachtung der Literatenszene in Berlin anwerben lässt. Die deprimierenden Abgründe einer solchen Existenz vergegenwärtigt Hilbig in sprachlich düsteren, konzentriert die Atmosphäre der untergehenden DDR einfangenden Bildern aus den Kellerarealen der Stasi, die bisweilen ebenso undurchdringlich erscheinend wie die Wirklichkeit, für die sie stehen. Als eine Variation auf dieses Thema lässt sich Das Provisorium lesen, ein nun nicht mehr in der DDR, sondern im vereinten Deutschland angesiedelter Roman, dessen Protagonist, der Schriftsteller C., seinerseits den alltäglichen Abgründen einer heillosen Gegenwart ausgesetzt ist. Und auch Christoph Hein setzt sich in seinem Roman Willenbrock (2000) mit der neuen Ost-West-Realität auseinander, in Form eines Ost-West-Konflikts ganz anderer Art: dem Übergreifen von Mafiamethoden aus dem Osten Europas auf den Westen des Kontinents, die erst möglich wurden, nachdem die Mauer gefallen war. Zu den Tugenden der Erzählkunst Heins gehören seit jeher Distanz, Genauigkeit und Lakonismus. In Willenbrock verbindet der Autor diese Tugenden mit dem Spannungsreichtum einer Art Kriminalgeschichte, deren politische und gesellschaftliche Dimensionen unterderhand miterzählt werden. Zu nennen sind ferner der dialogisch angelegte Text Der Wendehals (1995) und die Erzählung Die vier Werkzeugmacher (1996) von . Beide Werke bieten kritische, dialektisch durchkonstruierte Sprach-Etüden über Ausdrucksformen einer Verbitterung, die sich gegen die jüngste Entwicklung wehrt, wissend, dass nichts zu ändern ist, und daher durchweg einen ironischen Grundton wahrt. In Form einer Spiegelung ost-westlicher Lebensgeschichten nimmt sich auch Klaus Schlesinger des Gegenstandes in seiner meisterhaft durchkalkulierten Erzählung Trug (2000) an, die pointiert, in knappen, realistisch gehaltenen Schnittmustern, die unterschiedlichen, unversehens sich kreuzenden Wege der beiden männlichen Protagonisten 32 유럽사회문화 제10호 gegeneinander ausspielt. Soweit zunächst jene Schriftsteller der älteren Generation, die sich bereits seit langem einen Namen gemacht haben. Kommen wir nun zu den jüngeren Autoren der Wende-Literatur. Zu einem der größten Bucherfolge wurde der Roman Helden wie wir (1995) von , in dem die historische Dimension des Mauerfalls auf ironische Weise ins Grotesk-Absurde gezogen wird. Im Mittelpunkt steht ein junger Mann, der auf allen Gebieten des Lebens versagt, insbesondere in der Liebe, ein Opportunist und impotenter Gernegroß, der dennoch auf seine Weise – nämlich mit Hilfe seines monströsen Gliedes – zum Fall der Mauer beiträgt und sich damit von der auf ihm lastenden Gegenwart der DDR befreit. Auch bei Brussigs Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee (2000) handelt es sich um eine Bearbeitung von DDR-Erfahrungen angesichts der Mauer in Berlin, und auch dieser Roman wurde, bis hin zur Verfilmung durch Leander Haußmann, ein Erfolg. Brussigs leichthändige Art, simplen Vorgängen mit Scherz, Satire und Ironie, aber ohne deren tiefere Bedeutung nachzugehen, kommt offenbar bei einem Lesepublikum gut an, das sich unterhalten will und diesen Anspruch – wie mit dem Roman Wie es leuchtet (2004) auch – bei Brussig bestens bedient sieht. In Der Zimmerspringbrunnen (1995) von Jens Sparschuh mit dem ironischen Untertitel Ein Heimatroman wird die Geschichte eines Mannes erzählt, der sich nach dem Zusammenbruch der DDR in immer größere Isolation begibt und schließlich kommunikationsunfähig ist, bis er endlich Anschluss an den vom Westen initiierten wirtschaftlichen Aufbruch in der DDR findet. Eine in realistisch-sachlicher Stillage gehaltene Erzählung, die untergründig die tragischen Dimensionen des banalen Alltags, die lächerlichen Züge der alltäglichen Tragik vermittelt. Wie in seinen knappen Prosatexten mit dem doppeldeutigen Titel Simple storys (1998) zeigt auch in Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur (1990-2011)ㆍRalf Schnell 33 der Dialogvielfalt seines Romans Adam und Evelyn (2008) unterschiedliche Gefühlslagen einer bunt gemischten Gesellschaft im Deutschland der Wendezeit. Unsicherheiten und Ängste in der Liebe stehen neben Selbsttäuschungen und Aufbruchsversuchen eines jungen Paares, an dessen Entwicklung leichthändig und ironisch Szenen des deutschen Alltagslebens kurz nach der Wende und den ersten Erfahrungen mit der ungewohnten neuen Freiheit nachgezeichnet werden, Eindrücke und Episoden, die sich am Ende wie ein Puzzle zu einer vielfältigen und vielschichtigen Momentaufnahme der neuen deutsch-deutschen Wirklichkeit fügen. Die Romane und Erzählungen von Brussig, Sparschuh und Schulze haben den Vorzug satirischer Leichtigkeit und parodistischen Übermuts: Sie spielen mit ihrem schwergewichtigen historisch-politischen Thema, indem sie es als Parabel für den verzwickten und verschrobenen Weltzustand benutzen. Demgegenüber bildet eine souveräne erzählerische Dramaturgie den Vorzug des Romans Hampels Fluchten (2000) von Michael Kumpfmüller. Er erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der 1962, ein Jahr nach dem Mauerbau, in die DDR geht, sich dort mit allerlei Allerweltsberufen durchschlägt und sich mit der notizbuchförmigen Erinnerung an zahlreiche Liebschaften über Wasser hält, von denen am Ende – wie von der DDR auch – nichts bleibt als eben dies: Notizen. Mit Kumpfmüllers Roman tritt eine historische Perspektive in die Wende-Problematik, die in den anderen Prosaarbeiten zu diesem Thema häufig fehlt. Bisweilen wird lediglich der Umbruch des Jahres 1989 erzählerisch entfaltet, häufiger stehen die hieraus resultierenden Folgen im Mittelpunkt des Geschehens. Dessen Vorgeschichte aber, die Voraussetzungen der Krise im Sozialismus selbst, die Irrtümer und Verwerfungen des Denkens, die zu Konflikten im Weltmaßstab geführt haben – sie werden nur ausnahmsweise zu einem auch sprachlich und künstlerisch eindrucksvollen Bestandteil der Wende-Romane. 34 유럽사회문화 제10호

Dies gilt insbesondere im Hinblick auf Uwe Tellkamps 1000seitigen Roman Der Turm (2008), der die letzten Jahre des ‚real existierenden Sozialismus’ in Gestalt einer dreifach untergliederten Erzählperspektive reflektiert. Das in Dresden spielende Werk ist von der Literaturkritik zu Recht als ein Schlüsselroman des bürgerlichen Milieus in der DDR verstanden worden: Anhand vielfältiger Lebensläufe schildert es, eingefangen in detaillierten Momentaufnahmen, eine Zeit des Niedergangs, deren Symptome sich allenthalben wahrnehmen lassen. Ein beeindruckendes Zeugnis der Zeit des Umbruchs stellt nicht zuletzt Eugen Ruges Epos In Zeiten des abnehmenden Lichts (2011) dar, ein historisch in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurückgehendes, geopolitisch bis nach Südamerika ausgreifendes Werk, das einen autobiographisch fundierten Einblick in die Geschichte der kommunistischen Bewegung gibt. Anhand von vier Generationen, die durch die männlichen Mitglieder einer Familie repräsentiert werden, zeichnet der Autor die unterschiedliche Nähe zu den Dogmen und Glaubenssätzen des Sozialismus nach, die Widersprüche in der Partei- und Staatsführung der DDR und die Verkümmerungen und Verkrüppelungen, denen die Menschen unterworfen waren. Man darf von einem authentischen Geschichtsroman der deutschen Teilung sprechen, der eine komplexe, durch klare Zeitmarken definierte Struktur besitzt und mit unprätentiösen sprachlichen Mitteln arbeitet.

2. Transkulturelle Prosa

Neben den Wende-Romanen repräsentiert eine transkulturelle Prosa die zweite bedeutende Entwicklungstendenz des deutschsprachigen Romans, ein Genre, für das sich Begriffe wie ‚Migrationsliteratur’ , ‚multikulturelle Literatur‘ oder ‚Literatur der Fremde’ durchgesetzt haben: Literatur von Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur (1990-2011)ㆍRalf Schnell 35

Deutsch schreibenden, doch nicht deutschstämmigen Autoren. Die genannten Begriffe verweisen auf die komplexen Zusammenhänge transkulturellen Schreibens1): auf die Wahrnehmung des Anderen als eines Fremden unter Aspekten des jeweils Eigenen. Solchen terminologischen Konstrukten haftet deshalb etwas Fragwürdiges an, weil in sie die Dynamik kultureller Austausch- und Anverwandlungsprozesse nicht begriffsbildend eingeht. Die Autoren und Texte, um die es hier geht, durchlaufen im Austausch mit der für sie ‚fremden‘ Kultur einen Prozess der Transformation, aus dem etwas Neues hervorgeht: eine deutschsprachige Dichtung an der Grenze zweier Kulturen, die unterschiedliche kulturelle Dispositionen in sich verbindet. Es handelt sich hier um transkulturelle Phänomene, die aus der dynamischen Prozessualität des ‚Dazwischen’ eine eigenständige künstlerische Signatur entwickelt haben. Solche Zwischen-Texte besitzen ein hohes Maß an Perspektiven- und Formenvielfalt, Inventions- und Innovationskraft, interkultureller und intermedialer Komplexität, an Crossover-Strukturen und Mehrfach-Kodierungen. Die Ästhetik der Transkulturalität als poetische Bereicherung zu begreifen, setzt allerdings voraus, ihr jenes Maß an Wahrnehmungsfähigkeit und Formenreichtum zuzugestehen, das sich beispielhaft in der phantasiereichen und sprachlich innovativen Literatur des gebürtigen Syrers Rafik Schami (Das Schaf im Wolfspelz, 1982; Die Sehnsucht fährt schwarz, 1988) zeigt. 1971 nach Deutschland eingewandert, hat es Schami verstanden, orientalische Erzählkunst und Erzähltraditionen mit aktuellen Themen und Problemen aus seiner neuen Sprachheimat so zu verbinden, dass sich aus beidem eine eigener Logik entspringende Sphäre märchenhafter Motive entfaltet, exemplarisch zu verfolgen in seinen Zirkusromanen Der Ehrliche Lügner (1992) und Reise zwischen Nacht und Morgen (1995), mit denen Schami zu einem der

1) Vgl. Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000. 36 유럽사회문화 제10호 meistgelesenen Autoren im deutschsprachigen Raum geworden ist. Die – zumindest quantitativ – bedeutendste Gruppe von Autoren einer transkulturellen Literatur stammt aus der Türkei. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang die im Alter von 17 Jahren in die Bundesrepublik gegangene Saliha Scheinhardt, die sich in ihren erzählenden Werken mit den Lebensgeschichten türkischer Frauen auseinandersetzt (Drei Zypressen, 1984; Und die Frauen weinten Blut, 1985; Liebe meine Gier, die mich frißt, 1992; Die Stadt und das Mädchen, 1994; Mondscheinspiele, 1996). Scheinhardt erzählt schlicht, direkt, aus einer Perspektive der Betroffenheit durch Mit- und Nacherleben. Thematisch geht es um Identitätsfindung zwischen den Kulturen, eine autobiographisch begründete Problematik, die auch der Roman Lebensstürme (2000) umkreist: die Geschichte einer Frau, die nach langen Jahren in Deutschland in ihre türkische Heimat zurückkehrt, um wieder zu sich zu finden. Zu den erfolgreichen Autoren solcher autobiographisch geprägte Literatur gehört auch die in der Türkei geborene Emine Sevgi Özdamar, die bereits seit 1965 – allerdings mit zahlreichen Unterbrechungen – im deutschen Sprachraum lebt, meist in Berlin. Der Durchbruch gelang ihr mit dem Roman Das Leben ist eine Karawanserei / hat zwei Türen / aus einer kam ich rein / aus der anderen ging ich raus (1992). Er ist aus der unkonventionellen und unbefangenen Perspektive eines jungen Mädchens erzählt, das den Blick des Lesers auf eine traditionsreiche, nahezu märchenhafte Wirklichkeit lenkt, vermittelt durch eine vielstimmige erzählerische Farbigkeit. Zu einem weithin, in der Presse wie in Rundfunk und Fernsehen, mit großem Beifall bedachten Erfolg wurde ihr zweiter Roman, Die Brücke vom Goldenen Horn (1998), ein Werk, dessen zeitlicher Rahmen zwischen die Daten 1966 (Ankunft der Erzählerin in Berlin) und 21. 11. 1975 (Tod Francos in Spanien und Rückreise der Erzählerin von Istanbul nach Berlin) gespannt ist. Geschildert wird die Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur (1990-2011)ㆍRalf Schnell 37

Schwierigkeit der Erzählerin, in Deutschland ‚anzukommen‘, das heißt vor allem: sprachlich und kulturell Fuß zu fassen, aber auch politische und soziale Spannungen von historischen Dimensionen auszuhalten: zwischen Ost und West, Oben und Unten, Islam und Christentum, Tradition und Moderne. Wie kein anderer Autor hat Feridun Zaimoglu wegen seiner grammatischen und sprachlichen Kühnheiten frühzeitig Aufsehen erregt. Schon der Titel seines ersten Prosabandes, Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft (1995) provozierte, da er das gegen die türkische Minderheit in Deutschland gerichtete Pejorativ ‚Kanaken‘ ironisch in den Rang eines programmatischen Markenzeichens verkehrte. Der Band repräsentiert eine Art Feldforschung inmitten türkischer Underdogs und Außenseiter, deren Idiom der Autor ins Deutsche übertragen hat, um ihm auf diese Weise ein eigenes Terrain zu sichern: das eines erfahrungsgesättigten und sprachkräftigen transkulturellen Ausdruckspotentials, das sich, allen Marginalisierungstendenzen der deutschen Gesellschaft zum Trotz, seiner eigenen Qualitäten bewusst ist. Sein Roman Liebesmale, scharlachrot (2000) nimmt seinerseits Elemente der Transkulturalität in Gestalt einer Liebesgeschichte zwischen einem Türken, der in Deutschland lebt, und einer Türkin auf. In Form von Briefwechseln werden die Konflikte, die aus den neu entstehenden Beziehungsgeflechten und -verwicklungen in der traditionsverhafteten Türkei hervorgehen, geschildert und am Ende dadurch gelöst, dass der türkische Held dorthin geht, wohin er gehört: nach Deutschland. Benachbart sind die bislang genannten Texte jener transkulturellen Literatur, die aus der Gruppe der sogenannten Rumäniendeutschen stammt. Geboren zwischen 1950 und 1960, kamen ihre Autoren meist in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre nach Westdeutschland und verschafften sich hier in wenigen Jahren eine eigenständige literarische Reputation verschafft. Zu ihnen gehören Rolf Bossert, Helmuth Frauendorfer Johann Lippet, Horst Samson, Dieter 38 유럽사회문화 제10호

Schlesak, William Totok, Werner Söllner und Richard Wagner. Es sind Autoren, die auf Grund ihrer Herkunft mancherlei Erfahrungen miteinander teilen: die Diktatur in Rumänien, die Situation einer sozial und politisch diskriminierten Minderheit, langjährige kulturelle und sprachliche Isolation, schließlich die Emigration nach Deutschland. Dass selbst eine mikroskopisch wahrnehmende und präzise notierende Erzählerin wie Herta Müller, die Literaturnobelpreis-Trägerin des Jahres 2009, in Romanen wie Der Fuchs war damals schon der Jäger (1992), Herztier (1994), Heute wär ich mir lieber nicht begegnet (1997) und vor allem Atemschaukel (2009) die deprimierenden, entwürdigenden, entmenschlichenden Rumänien-Erfahrungen immer aufs neue thematisiert und umkreist, deutet auf die traumatischen Dimensionen dieser Zeit. Es ist die Erfahrung von Grenzsituationen, die immer wieder thematisiert und ineinander gespiegelt werden, die Erfahrung lebensgeschichtlicher Brüche und Widersprüche, die Herta Müller in Form Doppelbödigkeiten und Subtexten in ihre Werke eingearbeitet hat.

3. Pop-Romane

Neben der Wende-Literatur und der Transkulturellen Prosa ist als dritter Strang der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur der Pop-Roman zu nennen. Das Lebensgefühl dieser neuen Autorengeneration, die um 1968 geboren wurde, hat der Publizist Florian Illies in seinem Bestseller Generation Golf (2000) nachgezeichnet, in Form eines Porträts, das nicht ohne Kritik und Ironie und doch mit großer Sympathie aus biographischer Nähe entworfen ist. Die ‚Generation Golf‘ in Deutschland ist – folgt man Illies – eine Generation des Körperkults und des Markenfetischismus, die den Konsum liebt, den Luxus und die Moden, eine post-ideologische Generation, die sich auf hohem Niveau ihre Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur (1990-2011)ㆍRalf Schnell 39

Wünsche zu erfüllen und die ganze Welt zu bereisen weiß. Sie nimmt in ihrem Lebensstil Attribute des angelsächsischen Yuppie-Typus auf, der die achtziger Jahre bestimmt hat: flotter Lebensstil, schicke Kleidung, modische Frisuren, schnelle Autos, saloppe Verkehrsformen, überdurchschnittliches Einkommen. Eine hedonistische Generation, die nicht in politischen Kategorien oder solchen der Ethik und Moral, der revolutionären Veränderung und Umgestaltung der Welt oder gar in Dimensionen der Utopie denkt und die schon gar nicht den mittlerweile verblichenen Idealen der 68er-Generation nachtrauert. Sie steht vielmehr für die Befreiung von ideologischen Schlacken und plädiert für den unterhaltenden Aspekt von Literatur, für eine neue künstlerische Unbefangenheit, für die Bereitschaft, ohne Rücksicht auf Denk-Vorschriften oder Form-Vorbehalte zu erzählen, ohne den sichernden Blick auf Begriffe und Theoreme wie ‚Moderne’ oder ‚Avantgarde’ und ohne Orientierung an normativen poetologischen Vorgaben. Dass sich für einen Teil dieser Prosa die Bezeichnung ‚Pop-Roman‘ durchsetzen konnte, hat mehrere Gründe. Sie liegen zum einen in der Anknüpfung an den Aspekt des ‚Populären‘, das sich als das Gegenständliche im Gegensatz zum Abstrakten verstehen lässt, als Aspekt des Gebrauchscharakters der Kunst, als der für einen signifikanten Teil der Gegenwartskunst charakteristische Zug der Reproduktion von bereits Reproduziertem. In einem engeren Sinn klingt damit auch der Bezug zur Rock- und Pop-Musik an, die Tatsache also, dass Begriffe, Strukturen und Codes der Pop-Musik zu Wahrnehmungsrahmen und Wahrnehmungsformen, mithin zu ästhetischen Dispositiven einer Literatur geworden sind, die mit der konventionellen kategorialen Unterscheidung zwischen U(nterhaltsamer)- und E(rnsthafter)-Kultur gebrochen hatte. In einer bestimmten Hinsicht reproduziert sich dieser Impuls als Schreibprinzip in den Romanen Christan Krachts. Sein Erstling Faserland 40 유럽사회문화 제10호

(1995), ein geschickt doppeldeutig gewählter Titel, repräsentiert den Versuch einer Art Bestandsaufnahme in Form von Zeitzeichen, die nach dem Muster des Romans Less Than Zero (1985; dt. unter dem Titel Unter Null, 1999) von Brett Easton Ellis konzipiert ist. Der gebürtige Schweizer durchreist Deutschland vom Norden (Sylt) bis zum Süden (Bodensee), um sich am Ende, zurück in der Schweiz (Zürich), für zweihundert Franken über den Zürichsee rudern zu lassen. Was die Reise erbringt, sind Zeichen einer Zeit, in der sich die Alltagsphysiognomie eines Landes als ein mattes und ‚hohles‘ Oberflächengekräusel aus Lebensäußerungen erweist, ein Indikator für den Sinn- und Substanzverlust des Lebens in Deutschland, registriert mit erzählerischer Larmoyanz, doch nicht ohne Witz erzählt. Kracht hat diesen Erzählweg mit seinem zweiten Roman, 1979 (2001), verlassen. Die Geschichte zweier junger Männer auf dem Weg in den Iran und nach Tibet endet tödlich für den einen der beiden, in der barabarischen Tortur eines chinesischen Gefängnisses für den anderen. Das Ende bleibt ebenso ohne Aussicht auf Befreiung wie auch Krachts dritter Roman, Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008), in dem anhand einer „Schweizer Sowjet Republik (SSR)“ ein mitteleuropäisches Kriegszenario durchgespielt wird: die negative Utopie einer heillosen Endzeit in düsteren Farben. Fraglos haben Schriftsteller wie der Jungstar und Bestsellerautor Benjamin Lebert, der als 17jähriger binnen weniger Monate den Verkauf von 200000 Exemplaren seines Erstlingswerks Crazy (1999) erleben konnte und dazu noch dessen Verfilmung (2002), von der Konjunktur der Pop-Literatur profitiert. Im Sog dieses modischen Mainstreams haben auch Autorinnen wie Sibylle Berg (Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot, 1997; Sex II, 1998; Amerika, 1999) oder Alexa Hennig von Lange (Relax, 1998) mit ihren ersten literarischen Veröffentlichungen den zweifelhaften Rang von ‚Kultautorinnen‘ erlangt. Der Absatz ihrer Werke erklomm Bestsellerhöhen, ihre Medienpräsenz Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur (1990-2011)ㆍRalf Schnell 41 war überwältigend. Als Beleg dieses ‚Wunders‘ dienten Autorinnen wie Karen Duve (Regenroman, 1999; Dies ist kein Liebeslied, 2002), Zoë Jenny (Das Blütenstaubzimmer, 1997; Der Ruf des Muschelhorns, 2000), Julia Franck (Der junge Koch, 1997; Liebediener, 1999; Bauchlandung, 1999), Inka Parei (Die Schattenboxerin, 1999), (Geschichte vom alten Kind, 1999), ferner Elke Naters (Lügen, 1999), Silvia Szymanski (Chemische Reinigung, 1998; Sex mit Mike, 1999), Judith Hermann (Sommerhaus, später, 1998; Nichts als Gespenster, 2003), Kathrin Schmidt (Die Gunnar-Lennefsen-Expedition, 1998), Birgit Vanderbeke (Alberta empfängt einen Liebhaber, 1997; Ich sehe was, was du nicht siehst, 1999; abgehängt, 2001) und Alissa Walser (Die kleinere Hälfte der Welt, 2000). Die ‚Lesbarkeit‘ dieser Prosaarbeiten wurde allenthalben gerühmt, die Verkaufszahlen sprachen für sich, und doch muss man deutlich differenzieren. Autorinnen wie Judith Hermann, Birgit Vanderbeke oder Alissa Walser arbeiten, durchaus ‚traditionalistisch‘, mit einem Bild- und Perspektivenrepertoire, das der gegenständlichen Welt des Alltags entnommen ist. Doch ihnen gelingen Erzählverläufe, Szenen und Pointen, die das Erwartbare unterminieren und das Ungewohnte ins erzählerische Recht setzen. Innovativ hieran ist die souveräne Verfügung über das Geschehen, die den emphatischen Begriff einer ‚Autorschaft‘ ganz unsentimental rehabilitiert. Nicht wenige der anderen zuvor genannten Texte aber lesen sich allenfalls zum Zeitvertreib leicht und angenehm, zur Unterhaltung oder zum Konsum. Was von solchen Prosaarbeiten die gleichzeitig erscheinenden Texte männlicher Pop-Literaten unterscheidet, ist nicht allein der Plot, der Erzähl- und Handlungskern, sondern vor allem ein doppelbödiger Duktus des Erzählens, wie er Romane von Thomas Meinecke oder Mathias Politicky auszeichnet. Politickys Weiberroman (1997) bietet hierfür ein gutes Beispiel: die Geschichte eines jungen Mannes namens Gregor Schattschneider, der in 42 유럽사회문화 제10호 drei Stationen mit Hilfe von drei Frauen drei Phasen seiner Mannwerdung durchläuft (fortgeführt in Ein Mann von vierzig Jahren, 2000), die durch den Erzähler in Kommentar und Anhang vielfach humoristisch gebrochen, ironisiert und in Frage gestellt wird, auf eine Weise, die der Orientierung im Zeitalter der Pop-Kultur ebenso fähig ist wie der Selbstpositionierung in der Literaturgeschichte. Dass positives Wissen auf diese Weise zum diskursiven Material, zum Stoffgebiet des Erzählens werden kann, zeigt sich auch in Thomas Meineckes souverän über die Diskurse des Feminismus verfügenden Roman Tomboy (1998). In ihm wird die Geschichte junger Leute, vor allem einer jungen Frau namens Vivian, erzählt, die sich, in der Umgebung Heidelbergs lebend, in einem diskursiven Gespinst aus feministischen Theorien nicht nur bewegen, sondern verstricken und verheddern, so sehr, dass am Ende der parodistische Effekt mit dem gelehrten Räsonnement gleichauf liegt. Das Verfahren funktioniert, indem und weil es weder einer Handlungslogik noch der Figurenpsychologie bedarf. Vielmehr treten die Figuren als den Diskurs organisierende Reflektoren auf, deren Alltag den hochgestochenen Text – in Form von Inkongruenzen zwischen Praxis und Theorieanspruch – immer wieder in die Irre weist, bis am Ende, ohne jede Häme, alle Klarheit beseitigt ist.

4. Romane des Holocaust

Damit komme ich zu dem vierten Aspekt meines Vortrags, zur Holocaust-Literatur. Als hilfreiche Bestimmung der spezifischen Erinnerungsleistung von Literatur hat sich der Begriff ‚kulturelles Gedächtnis‘2)

2) Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 6. Auflage. München 2007. Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur (1990-2011)ㆍRalf Schnell 43 erwiesen. Einvernehmen besteht darüber, dass im Konzept einer ‚Gedächtniskultur’ die Herausbildung einer sozialen Identität fassbar wird, die der Selbstverständigung ganzer Gesellschaftsformationen, zumindest aber relevanter sozialer Teilbereiche dient. Das ‚Gedächtnis‘ und der systematisch ihm benachbarte Bereich der ‚Erinnerung‘ fungieren in diesen Konzepten als Medien der Zeit- und Raumerfahrung, die substantiell durch die sozialen Rahmenbedingungen von Wahrnehmung und Erinnerung geprägt werden. Dabei ist die Frage nach den Überlieferungsformen der Erinnerung entscheidend. Das heißt: Das Medium der Literatur trägt zur Ausbildung eines kulturellen Gedächtnisses bei. Auf welche Weise aber dies geschieht, wie eine Literatur konzipiert sein muss, der dies gelingen soll, welchen Veränderungen sie unterworfen ist – das ist allererst zu prüfen, und zwar anhand einzelner Werke, der ihnen zugrundeliegenden Lebensgeschichten wie der ihnen eigenen Formensprache. Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, dass man die Literatur, welche den Holocaust thematisch als lebensgeschichtliche Erfahrung aufnimmt, nach dem Generationenaspekt unterscheidet. Denn nicht nur besteht eine Differenz zwischen der Generation der Zeitzeugen und den nachwachsenden Generationen. Vielmehr besteht auch eine Differenz innerhalb der Generation der Zeitgenossen selber: die Differenz des erlebenden Ich und des schreibenden, das Erlebte verarbeitenden und erzählenden Ich. Ein eindrucksvolles Beispiel für die Verarbeitung dieses Erfahrungshintergrundes bietet der 1992 veröffentlichte autobiographische Bericht weiter leben der Germanistin und Schriftstellerin Ruth Klüger. In ihm wird die Differenz des erlebenden und des schreibenden Ich bereits durch den ebenso lakonischen wie hintergründigen Untertitel Eine Jugend explizit reflektiert. Die Autorin hat eine Jugend ganz eigener, durchaus nicht verallgemeinerbarer Art durchlitten: in Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und 44 유럽사회문화 제10호

Christianstadt (Groß-Rosen), in Konzentrationslagern, in denen vieles zu durchleben war, nur eines gewiss nicht: eine Jugend im Sinne einer generationenspezifischen oder entwicklungspsychologischen Repräsentativität. Ruth Klüger will am Beispiel ihrer Jugend zeigen, was ‚eine Jugend’ in einem bestimmten geopolitischen Raum namens ‚Deutsches Reich’ zu einer bestimmten Zeit, der des Nationalsozialismus, gewesen ist. Es ist ein Generationen-‚Roman’, im doppelten Sinn des Wortes: geschrieben aus dem Abstand von zwei Generationen, geschrieben für jene Generation(en) nachgewachsener und noch nachwachsender junger Deutscher, die den Holocaust als Zeitgenossen nicht mehr erlebt haben. weiter leben ließe sich – könnte man vom autobiographischen Gehalt des Werks absehen – als ein literarisches Werk lesen, das einer schon traditionsreichen Gattung zugehört: als Roman eines Lebens unter dem Nationalsozialismus, in dessen Mittelpunkt – wie etwa in Christa Wolfs Roman Kindheitsmuster, auf den Klüger sich ausdrücklich bezieht – ein Kind steht. Dass man dieses Werk als einen konventionellen Roman dennoch nicht lesen kann, hat nicht in erster Linie mit dem Sujet, der stofflichen Substanz der Holocaust-Thematik zu tun, sondern entspringt der erzählerischen Qualität der Gegenwartsreflexionen, die den Bericht leitmotivisch durchziehen und ihn am Ende nahezu vollständig in den Hintergrund treten lassen. Das Form- und Vermittlungsproblem jener ersten Autorengeneration stellt sich in jenen literarischen Arbeiten nicht mehr, die als Werke einer ‚zweiten Generation‘ über die Shoah gelten, Romane jüdischer Autorinnen zumeist, die den Holocaust nicht selbst erlebt hatten, weil sie zu jung waren oder mit ihren ins Exil gegangenen Familien im Ausland lebten. Hierzu zählt etwa Jeannette Lander (Ein Sommer in der Woche der Itke K., 1971; Auf dem Boden der Fremde, 1972; Die Töchter, 1976; Ich, allein, 1980), die als Tochter jüdischer polnischer Einwanderer in New York geboren wurde. In ihren literarischen Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur (1990-2011)ㆍRalf Schnell 45

Werken erzählt sie von den spezifischen Sozialerfahrungen einer Jüdin, in den Vereinigten Staaten wie in Deutschland, von Erfahrungen mit Vorurteilen, Rassismus, Ausgrenzung, von Verlusterfahrungen, von Trauer und vom Neubeginn. In vergleichbarer Weise versucht auch die einer jüngeren Generation angehörende Barbara Honigmann (Roman von einem Kinde, 1986; Eine Liebe aus Nichts, 1991; Soharas Reise, 1996) die Schwierigkeiten zu beschreiben, die einer jüdischen Identitätsfindung nach der Shoah in Deutschland entgegenstehen, ein beispielhaft in den sechs Erzählungen des zuerst publizierten Bandes, Roman von einem Kinde, entfaltetes lebensgeschichtliches Motiv, das auch in späteren Arbeiten und Äußerungen der Autorin immer wieder anklingt (Damals, dann und danach, 1999). Dazu gehört auch das Motiv der Absage an das Land, in dem die Shoah möglich werden konnte, und das Motiv des Zorns, der Ohnmacht und der Verzweiflung angesichts eines in Deutschland neuerlich zu beobachtenden Antisemitismus. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch Robert Schindel mit seinem autobiographisch grundierten, als Generationenepos angelegten Roman Gebürtig (1992), der weit in die problematische Geschichte deutsch-jüdischer Verflechtungen ausgreift und insbesondere die Opfer-Täter-Problematik auf subtile Weise auslotet. Diese Problematik schließt zum einen die fragwürdige Dialektik von Philo- und Antisemitismus ein, der sich Norbert Gstrein in seinem literarästhetisch komplexen, vielstimmig und vielschichtig instrumentierten Roman Die englischen Jahre (1999) gewidmet hat, zum anderen die Opfer, die es auf der Täterseite gab. Die künstlerische Leistung der Holocaust-Romane im engeren Sinne hat der amerikanische Literaturwissenschaftler Geoffrey Hartman mit dem Titel seines Buches Das beredte Schweigen der Literatur (dt. 2000) anschaulich umschrieben: als die Fähigkeit der poetischen Sprache, Differenzen wahrzunehmen, Emotionen und Nuancen mitzuteilen, Zwischenräume inmitten 46 유럽사회문화 제10호 von Bildern und Wörtern zu schaffen, in denen der Leser sich zu bewegen vermag, vor allem aber: die Zunge zu lösen und Zeugnis zu geben angesichts einer Katastrophe, die in der Geschichte der Menschheit einzigartig ist. Die genannten Beispiele machen deutlich: Die historische Wahrheit der Shoah-Literatur ist so konkret wie die (Formen-) Sprache, die den Überlebenden – generationenabhängig – jeweils zur Verfügung stand.

5. Prosa der Erinnerung

Ich komme damit zu meinem letzten Aspekt. Dass der Beitrag der Literatur zu einem kulturellen Gedächtnis und damit ihre spezifische Erinnerungsleistung sich thematisch nicht auf die Holocaust-Literatur begrenzen lässt, versteht sich von selbst. Verschiedentlich hat etwa der Erinnerungsfähigkeit der Literatur Ausdruck verliehen, von der Verteidigung der Kindheit (1991) bis zu Finks Krieg (1996), am eindringlichsten wohl in einem autobiographisch inspirierten Roman Der springende Brunnen (1998), dessen Titel das „Nachtlied“ aus dem zweiten Teil von Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra zitiert: „Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen.“3) Es geht um die Schilderung einer Kindheit und Jugend in Wasserburg am Bodensee während des Dritten Reichs. Im Mittelpunkt steht ein Junge, dessen Lebensdaten denen des Autors entsprechen und der zudem auf Walsers zweiten Vornamen (Johann) hört. Walser zeigt am Beispiel dieses jungen Menschen und seiner Familie die Alltagssorgen, die Zwänge und die Freuden einer Existenz unter

3) Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 4. München 1980. S. 136. Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur (1990-2011)ㆍRalf Schnell 47 nationalsozialistischer Herrschaft. In drei Anläufen, die drei lebensgeschichtlichen Phasen entsprechen, werden Annäherungen an diese Jugend unternommen, jeweils eingeleitet durch ein Kapitel mit der Überschrift „Vergangenheit als Gegenwart“, das theoretische Reflexionen über die Zeitverhältnisse eines erinnernden Erzählens enthält. Deutlich erkennbar ist dabei der Versuch, Distanz zum Gegenstand der Erinnerung zu schaffen und zugleich die gewählten Formen der Vermittlung, mithin das erinnerte Geschehen als Wirklichkeit und Wahrheit eigener Art, ins Recht zu setzen. Die Wirklichkeitsmaterialien einer Jugend im Dritten Reich bilden den Stoff des Romans, übertragen in den Gestus einer einfachen, häufig parataktisch gefügten Sprache mit zum Teil dialektaler Einfärbung, die das Kolorit der Region und die Mentalität der Menschen vermittelt. Ein springender Brunnen, dem Geschichte entspringt – in dieser diachronen Entgrenzung liegt das Verdienst der Familiengeschichte Walsers. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch die Prosaarbeiten Hans Ulrich Treichels (Heimatkunde oder Alles ist heiter und edel, 1996; Der Verlorene, 1998), die sich teils ironisch-humoristisch, teils sarkastisch mit der Kindheit in der Provinz, aber auch mit den Folgen der Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzen. Ferner Arnold Stadlers Kindheits-Trilogie, auch sie zunächst in der Provinz angesiedelt (Ich war einmal, 1989), doch im zweiten Teil erweitert durch Reisen in exotische Gefilde (Feuerland 1992), um am Ende in der provinziellen Leidens- und Schmerzensregion wieder anzukommen (Mein Hund, meine Sau, mein Leben, 1994). Gleichfalls eine Erinnerungs-Trilogie hat Dieter Forte mit Tagundnachtgleiche (1999) verfasst, bestehend aus Das Muster (1992), Der Junge mit den blutigen Schuhen (1995) und In der Erinnerung (1998) – historische Geschichte als Familiengeschichte, von Bergarbeitern in Polen und Seidenwebern Italien über die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs bis zu 48 유럽사회문화 제10호 den Anfängen des bundesdeutschen Wirtschaftswunders. Auch Wilhelm Genazino legt zu Beginn der neunziger Jahre eine autobiographisch inspirierte Familiengeschichte vor. In Die Liebe zur Einfalt (1990) erzählt er die Geschichte einer (seiner) Jugend in den fünfziger Jahren, nach dem Verlust der Mutter, begleitet von vielfältigen Entgrenzungen durch Reflexionen und Literaturzitate – eine Art Chronik der frühen Bundesrepublik, die ihre Fortsetzung in der Erzählung Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman (2003) gefunden hat. Hier geht es um einen jungen Mann, der Schriftsteller werden möchte, um seine Freundin, die ihn verführen will, um die Nachwehen der Ära Adenauer und um die Vorzeichen der Aufbruchsbewegungen in den sechziger Jahren. Die Geschichte einer Kindheit und Jugend erzählt, autobiographisch inspiriert, auch Ulla Hahn in ihren als Teil einer Trilogie geplanten Romanen Das verborgene Wort (2001) und Aufbruch (2009), und ebenso liegt eine autobiographisch angeregte Kindheitsgeschichte dem Prosaband Verfrühte Tierliebe (1995) von Katja Lange-Müller zugrunde, die Geschichte eines pubertierenden Mädchens, das in der DDR aufwächst, sich als Objekt elterlicher Erziehungsvorstellungen erfährt und die Erwartungen der Erwachsenenwelt nicht erfüllt. Mit Kindheit und Jugend in der DDR setzt sich schließlich auch die mehrbändige Autobiographie von Peter Wawerzinek (Nix, 1990; Das Kind das ich war, 1994; Mein Babylon, 1995; Vielleicht kommt Peter noch vorbei, 1997) auseinander. Für Wawerzinek, Autor des Jahrgangs 1954, bedeutete das Ende ‚seines‘ Staates den Beginn einer Neu(er)findung der eignen Person – am eindrucksvollsten nachgezeichnet ist sie in seiner Odyssee einer Jugend mit dem Titel Rabenliebe (2010). Autobiographisch inspiriert sind auch die Prosaarbeiten Peter Kurzecks. Seit Ende der neunziger Jahre treibt der Autor ein einzigartiges Erzählprojekt voran, dessen programmatischer Rahmentitel Das alte Jahrhundert bereits den Anspruch verrät: einen poetischen Beitrag zum kulturellen Gedächtnis der Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur (1990-2011)ㆍRalf Schnell 49 deutschen Gesellschaft zu liefern, ein auf insgesamt zwölf Bände angelegtes Vorhaben, das in der deutschsprachigen Romanliteratur seinesgleichen sucht. Übers Eis (1997), Als Gast (2002), Ein Kirschkern im März (2004), Oktober und wer wir selbst sind (2007) und Vorabend (2011) lauten die bislang erschienenen Titel der Bände, deren geographischer und kultureller Erzählraum in der (hessischen) Provinz angesiedelt ist. In immer neuen Anläufen werden hier Konstellationen des Erzähler-Ichs umspielt, immer aufs Neue werden Wahrnehmungen und Empfindungen anderer Figuren aufgenommen, reflektiert und auf ebenso sensible wie ironische und heitere Weise in den Fluss der Zeit übersetzt – dies ist das Programm, nach dem Kurzecks Romanwelt eingerichtet ist, eine ‚Heimatkunde’ im besten Sinn, deren offene Ästhetik sie vor jeder Volkstümelei bewahrt. Auf andere Weise ist die Erkundung der individuellen wie der historischen Geschichte in den Werken W.G. Sebalds (Nach der Natur, 1988) ausgearbeitet. Es handelt sich um ein Verfahren des Beobachtens und Sammelns, Historisierens und Perspektivierens, das sich an unterschiedliche Gegenstände knüpfen, von diesen ausgehen, sich von ihnen entfernen und jederzeit zu ihnen zurückkehren kann (Schwindel. Gefühle., 1990). In Lebensgeschichten Einzelner – so in den vier literarischen Biographien des Bandes Die Ausgewanderten (1992) – scheint die Historiographie ganzer Epochen auf, Dokumentarisches steht gleichrangig neben Phantastischem, erzählerischer Sinn fürs Detail verbindet sich mit dem Gestus des großen, erhaben wirkenden Begriffs. Fiktionalität geht über in den Essay, gelehrte Exkurse in Kunst- und Naturgeschichte, die mit Reflexionen über Architektur und Städtebau verknüpft sind (Austerlitz, 2001). Nicht zuletzt Zeichnungen und Fotografien gehören zum intertextuell und intermedial orientierten Formenarsenal dieser Literatur, die mit der Genrebezeichnung ‚Roman‘ unzureichend umschrieben wäre. Es ist eine gelehrte Prosa, die den Kosmos der Welt und der Geschichte neu 50 유럽사회문화 제10호 erschließt, wenn nicht gar aufs neue entwirft. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch Reinhard Jirgls Romane (MutterVaterRoman, 1990; Im offenen Meer, 1991; Abschied von den Feinden, 1995; Hundsnächte, 1997), die zum Teil erst nach der deutschen Wiedervereinigung erscheinen konnten. Der Autor war zu Zeiten seiner Schreibexistenz in der DDR ein unerwünschter und – weit schlimmer – ein unveröffentlichter Autor. Aufsehen erregten seinerzeit nicht so sehr seine Themen – Nationalsozialismus, Krieg, Nachkrieg – oder etwa der Handlungskern des MutterVaterRomans, die Geschichte des Paares Walter und Margarte, das sich nach den Wirren des Krieges, dem Erlebnis des Bombenterrors und der Erfahrung des Selbstverlustes neue, gangbare Wege zu bahnen versucht. Aufsehen erregte vielmehr die avantgardistisch auf eine Zerlegung gängiger Wahrnehmungs- und Ausdrucksmuster angelegte Ästhetik dieses Romans. Jirgl sucht künstlerisch kompromisslos die Abgründe der deutschen Wirklichkeit in ihren sprachlichen Konstellationen auf und erkundet diese. Er stellt Sprach-Labyrinthe her und entwirft Wort-Apokalypsen, die den Leser unerbittlich und unnachsichtig über die Grenzen der kommunikativen Verständigungsmöglichkeiten hinaustreiben. Dass es wiederum der durch die Gegenwart angeregte Blick ist, der den Zugang zu Vergangenem eröffnet, und dass ebenso die Zeitgenossenschaft einen souveränen, bisweilen spielerischen Umgang mit Personen und Geschichten, Figuren und Ereignissen auch der Gegenwart ermöglicht, das sei zum Abschluss an drei jüngst erschienenen Werken verdeutlicht. Auf ganz eigenen Wegen eröffnet Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt (2005) der Erinnerung neue Räume, der in fiktiver Form den Lebensweg zweier Wissenschaftler von Weltrang, doch sehr unterschiedlichen Temperaments rekapituliert: Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß. Dass dieses Werk nach drei vorangegangenen Romanen des Autors (Mahlers Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur (1990-2011)ㆍRalf Schnell 51

Zeit, 1999; Der fernste Ort, 2001; Ich und Kaminski, 2003) zu einem internationalen Bestseller werden konnte, dürfte mit der subtilen, hintergründigen Ironie des Erzählers zusammenhängen, die sowohl die fragilen Persönlichkeiten der beiden genialen Forscher als auch die Erosion der Weltsysteme und Wissenschaftstraditionen nachzeichnet, in denen diese befangen bleiben. Mit einem Wissenschaftler setzt sich auch Sibylle Lewitscharoffs Roman Blumenberg (2011) auseinander, keine Biographie, sondern eine Hommage an den großen Philosophen Hans Blumenberg. Sie lebt aus einem phantastischen Einfall: Sie gibt dem entschiedenen Agnostiker einen Löwen an die Seite, in seinem Arbeitszimmer wie in seinen Vorlesungen, eine allegorische Figur, die das Andere der Vernunft verkörpert und so das Rationalitätsprinzip des Denkers ins rechte Verhältnis zum Glauben und zur Irratio setzt. Schließlich sei Martin Mosebachs Roman Was davor geschah (2010) genannt, der von einer Bettgeschichte seinen Ausgang nimmt: Die im Titel des Buches sinngemäß zitierte Frage einer Geliebten nach der Vorgeschichte ihres Liebhabers veranlasst ihren Partner, in vielfältigen, teils komischen und burlesken, teils abgründigen und absurden Variationen ein virtuoses Bild der Frankfurter Kultur- und Gesellschaftsszene zu entwerfen. Drei Werke, die dem Rückblick auf die Geschichte des deutschen Romans einen optimistischen Ausblick erlauben: auf die Zukunft eines Erzählens, das sich in immer neuen Anläufen mit einer großen Vielfalt von Themen und Problemen und in einer beständig sich erneuernden Formensprache immer aufs Neue entwirft und poetisch ins Recht setzt.

Res mee

Wenn man angesichts dieser Vielfalt und Fülle von Werken und Autoren ein Fazit ziehen will, so lautet es: Die deutschsprachige Romanliteratur unserer 52 유럽사회문화 제10호

Zeit zeugt von einer ungebrochenen Lust am Erzählen. Sie steht literarästhetisch auf einem hohen Niveau. Sie stammt von Schriftstellern, die ihr Handwerk verstehen, die weltoffen und lebensklug sind. Und sie findet ein großes Publikum ebenso wie öffentliche Anerkennung. Dass sich dies von der Lyrik und von der dramatischen Literatur nicht im selben Maße sagen lässt, liegt in der Natur der Sache: Die letzten zwei Jahrzehnte waren von einer unvergleichlichen Dynamik, der die Gattung des Romans, die komplexe Formensprache der Prosa wohl am ehesten gerecht werden konnte. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit

Literaturverzeichnis

Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 6. Auflage. München 2007. Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 4. München 1980. Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur (1990-2011)ㆍRalf Schnell 53

[국문요약]

랄프 슈넬 (지겐대학교)

본 논문에서 제시하고 있는 현대문학이란 독일 분단이 종식된 1989년 이후 시대의 문학을 칭한다. 1989년이라는 해는 20세기 독일 역사가 결정 적으로 각인된 역사적 날짜 중 네 번째에 해당한다. 바로 1918년, 1933년, 1945년, 1989년이 역사적으로 중대한 날짜로서, 문학의 영역에서도 서로 다른 방식으로 많은 영향을 끼쳤다. 그 중에서도 1989년은 동서로 나뉘었 던 세계의 종언, 유럽의 사회주의 체계의 붕괴와 함께 독일이 재통일된 해 라고 할 수 있다. 1989년 11월 9일에는 거의 30년 동안 존재했던 베를린 장벽이 다시 열려 하나의 세기 전환기를 알렸다. 이 날은 동독이 막을 내 리고 동서 간에 형성되어있던 블록이 해체된 것을 신호했을 뿐만 아니라, 20세기의 사유가 이행해야 할 의무가 있다고 여겼던 거대한 유토피아가 이미 80년대로의 이행기에 분명하게 퇴색했음을, 그리고 정치적으로 추구 했던 특정 이데올로기가 소멸했음을 다시 한 번 확인해 주었다. 이 정치적 격변의 여파는 21세기의 이행기에 경제와 문화의 가장 섬세한 지류에까지 미친다. 즉 동과 서의 변화, 이데올로기 구조의 변이, 이러한 역사적 사건 에서 비롯된 새로운 글로벌 전망들이 그러하다. 특히 소설이 가지고 있는 형식의 풍부함은 그 복잡한 구조와 함께 와해된 세계의 다양한 긴장과 변 화들을 잡아내는데 적합했다. 여기에 모든 경향들과 발전 상황이 모아진 다. 즉, 정치적 기후변화와 개인적 경험 사이의 낙차, 예기치 않게 나타난 방향 상실과 당혹감, 사유와 행위에 대한 모든 체계의 몰락과 결부되어 있 는 실망스러운 기대 혹은 기대하지 않았던 행복. 소설은 의심의 여지없이 이러한 시대의 가장 중요한 문학 장르이다. 본 논문에서는 특히 최근의 소 설사가 보이는 다섯 가지 측면에 집중하는 바, 전환기 소설, 횡단문화적 산문, 팝 소설, 홀로코스트 문학, 회상의 산문이 바로 그것이다. 이러한 작 업은 독일 소설문학이 문예미학적으로 높은 수준에 올라와 있음을 증명할 54 유럽사회문화 제10호

것이며, 지난 20년이 소설의 장르, 산문의 복합적 형식언어가 가장 적합할 수 있었던, 비교할 수 없을 정로도 역동적인 시기였음을 보여줄 것이다.

주제어 : 현대문학(Gegenwartsliteratur). 전환기 소설(Wende-Romane), 횡단문화적 산문(Transkulturelle Prosa), 팝 소설(Pop-Romane), 홀로코스트 소설(Romane der Holocaust)

(논문투고일: 2013.04.20/심사일: 2013.05.10/ 심사완료일: 2013.05.27)