„GNADENLOS SADISTISCH“ Thomas Muster Über Wimbledon, Ehrgeiz Und Den Konkurrenzkampf Unter Den Tennisprofis
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SPORT SPIEGEL-Gespräch „GNADENLOS SADISTISCH“ Thomas Muster über Wimbledon, Ehrgeiz und den Konkurrenzkampf unter den Tennisprofis SPIEGEL: Herr Muster, warum spielen Muster: Mich dort abschießen zu lassen steht bei mir schräg, fast parallel zum Bo- Sie nicht in Wimbledon? wäre sicher keine sinnvolle Aktion. Im den. Auf Rasen, wo die Bälle unheimlich Muster: Ich habe in diesem Frühjahr vorigen Jahr hatte ich da nichts zu ver- flach abspringen, würde ich sie nur noch sechs Sandplatzturniere gespielt, das lieren. Nach meinem Sieg in Paris stün- mit dem Rahmen treffen. Ändere ichden war sehr, sehr viel Tennis. Mit Wimble- de diesmal mein Ruf auf dem Spiel. Griff, bekommen die Bälle weniger Vor- don wäre die Saison zu lang. Denn eines ist klar: Rasen ist für mein wärtsdrall, und ich verliere meine Stärke. SPIEGEL: Ihre Kollegen stellen die ge- Spiel der denkbar schlechteste Boden. SPIEGEL: Kann es wegen dieser Speziali- samte Planung auf Wimbledon ab. SPIEGEL: Andere Profis reizt gerade der sierung jemals noch einen Grand-Slam- Muster: Für mich sind die Sandplatztur- Wechsel zwischen den Belägen – Andre Sieger geben, der auf allen Böden siegt? niere Gstaad und Stuttgart-Weissenhof Agassi immerhin so sehr, daß er gegen Muster: Du kannst wie Pete Sampras bedeutender. Sicherlich hätte ich als alle Prognosen in Wimbledon gewann. oder Agassi in Melbourne, Wimbledon Nummer vier der Welt eine gewisse Muster: Ich bin auf Sand aufgewachsen. und New York auf schnellen Böden ge- Verantwortung, in Wimbledon zu spie- Ich müßte mein auf diesen Boden auto- winnen – und Paris bleibt die Ausnahme, len, aber ich habe vor allem eine Ver- matisiertes Spiel komplett umstellen. wo du es nie schaffst. Aber wer weiß: antwortung meinem Körper gegenüber. SPIEGEL: Was macht die Umstellung so Vielleicht schafft es ja einer aus der neuen SPIEGEL: Die Tradition, die in diesem schwer? Generation. Yewgeny Kafelnikow oder Mekka des Tennis gepflegt wird, ist Muster: Es fängt mit meiner extremen Andrej Medwedew sind echte Allround- kein Wert an sich? Griffhaltung an: Die Schlägerfläche spieler. Muster: Wimbledon ist an- SPIEGEL: Was haben die, ders, weil die größten Stars was Ihnen fehlt? sich den Bräuchen unter- Muster: Ich bin mit Boris ordnen: Alle Spieler müs- Becker der älteste Spieler sen sich weiß kleiden – und in den Top ten. Wir haben alle tun es. Aber ganz so unser Handwerk vor elf, verklärt sehe ich es auch zwölf Jahren gelernt, und wieder nicht. Rasentennis wir stehen manchmal stau- ist doch erbärmlich anzu- nend vor den Jungen: Die schauen. Ein Aufschlag, ein spielen auf jedem Belag al- Volley, drei Sätze werden les oder nichts, sie wachsen da glatt in 80 Minuten her- mit Material auf, mit dem untergebogen. Man muß ich nicht mehr spielen nicht viel laufen, schwitzen, kann. Diese neuen Breit- kämpfen – Wimbledon ist rahmenschläger beschleu- nicht anstrengend. Ich frage nigen so stark, daß mir die mich: Was ist wirkliches Bälle ins Aus segeln. Tennis? SPIEGEL: Das wahre Ten- SPIEGEL: Nämlich? nis wird für Sie mit Holz- Muster: Alle Facetten aus- schlägern und auf roter zureizen, die das Spiel bie- Asche gespielt? tet. 34 Asse zu schlagen Muster: Jedenfalls haben kann es jedenfalls nicht dort Zuschauer mehr Freu- sein. Selbst in Wimbledon de. Das Problem ist nur, scheint man das inzwischen daß die Spieler-Vereini- ja ähnlich zu sehen; sonst gung, die ATP, nichts un- hätten sie dort nicht ternimmt, um das Sand- die Bälle langsamer ge- platztennis zu forcieren. In macht. Europa verdient die ATP SPIEGEL: Vielleicht meiden das Geld, doch in Amerika Sie Wimbledon aus Angst gibt sie es aus. Dort entste- vor einer Blamage. Dort ha- hen überall Hartplatztur- ben Sie noch nie ein Match niere, die keiner sehen gewonnen. will. SPIEGEL: Denkt die ATP amerikanisch, weil die bei- Das Gespräch führten die Redak- teure Klaus Brinkbäumer und Al- P. CARON / SYGMA den Besten, Sampras und fred Weinzierl. French-Open-Sieger Muster: „Ich bin ein einfacher Mann“ Agassi, Amerikaner sind? 146 DER SPIEGEL 26/1995 . Horizont meiner Karriere, pas- siert ist. Ich weiß diesen Erfolg zu verkraften. Ich war in den elf Jahren viermal in den Top ten, aber auch schon Nummer 120. Aber ich bin sowieso kein Me- gastar wie Agassi. SPIEGEL: Was trennt Sie von ihm? Muster: Ich kann mich nicht ge- ben wie eine Diva. Ich kann nicht jeden Tag der Öffentlich- keit einen Film vorspielen. Ich bin ein einfacher Mann, für den sich nichts ändert. Der Titel von Paris hat für mich nur eine sport- liche Wertigkeit. SPIEGEL: Fast jeder Sportler verspricht nach Siegen, er wolle der alte bleiben – kaum einem gelingt es. Ihre Autogramm- stunden müssen bereits wegen Überfüllung abgebrochen wer- den. T. EXLER Muster: Ja und? Dann gehe ich Rekonvaleszent Muster (1989): „In Grenzen nahe der Bewußtlosigkeit vorstoßen“ wieder nach Hause. Da bin ich emotionslos. Muster: DasistdasProblem.Und weildie lang über irgendwelche Kanäle flimmer- SPIEGEL: Ihre Hand- und Fußabdrücke beiden in Europa indiesem Jahr fürchter- ten. mußten Sie in der Straße der Sieger in lich auf Sand gespielt haben, gibt es dem- SPIEGEL: Sie reden der Zweiklassenge- Wien hinterlassen, wo sich Idole wie nächst vielleicht noch weniger Sandplatz- sellschaft das Wort. Junge Spielerbleiben Niki Lauda, Arnold Schwarzenegger turniere. Deshalb müssen wir uns fragen, außen vor. oder Franz Klammer verewigt haben. ob wir nicht eine eigenständige europäi- Muster: Die können sich in kleineren Muster: Ich bin trotzdem kein National- sche Tour ins Leben rufen – nach dem Turnieren nach oben spielen. Ich bin frü- held. Wenn ich jetzt mit Ohr- oder Na- Vorbild der Golfer. her auch nach Lagos gefahren; wo ich ge- senring auftreten würde, würden die SPIEGEL: Die ATP wurde 1971 als Ge- wohnt habe, schwammen jeden Tag fünf Leute sagen: Es ist vorbei mit ihm, diese werkschaft gegründet. Siefühlen sich von Leichen vorbei. 1500 Profis können wir Stufe hat er nicht mehr geschafft. ihr nicht mehr vertreten? nicht auf Dauer ernähren. Wir sind ein SPIEGEL: Bislang konnten Sie es sich im- Muster: Siewar einmal eine Vereinigung, beinharter Profisport und kein Sozialsy- merhin leisten, auch mal auf den Davis- die gegen den Weltverband antrat. Inzwi- stem für gescheiterte Tennisspieler. Cup zu verzichten. Künftig würde schen ist sie eine eigene Firma, die Spie- SPIEGEL: Sie sind mit Ihrem Sieg bei den Österreich das als Landesverrat empfin- lerinteressen nicht mehr gegenüber Drit- French Open im Olymp des Tennis ange- den. ten vertritt. Es ist unser Problem, daß wir kommen. Passen Sie in die Welt von Muster: Wenn mir die Bedingungen uns auf Tennis konzentrieren. Deswegen Agassi und Becker? nicht passen, sage ich wieder nein. Da istessoeinfach fürdie ATP-Funktionäre, Muster: In Paris ist ja nicht ein 17jähriges bin ich kompromißlos. Ich lebe ja nicht mit den Spielern zu hantieren. Die ma- Wunderkind geboren worden. Mein Vor- einmal in diesem Lande. Ich bin kein chen mit uns, was sie wollen. teil ist, daß mir das mit fast 28 Jahren, am nationales Eigentum. SPIEGEL: Wieso brauchenJung-Millionä- SPIEGEL: Patriotische Gefühle sind Ih- re denn eine Gewerkschaft? nen fremd? Muster: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In Thomas Muster Muster: Das Gerede vom Nationalstolz Deutschland zahlen wir von den Preisgel- wird doch nur hineingetragen, um mehr dern 17,8 Prozent Steuern, in Österreich aus Leibnitz (Österreich) wurde mit Kohle zu verdienen. Letztlich geht es 20. Jetzt gibt es in Frankreich ein neues 16 Jahren Tennisprofi. Seitdem wird für den Verband wie für die Spieler vor Gesetz, wonach wir 56 Prozent Steuern er von dem ehemaligen Medizinstu- allem um Anteile am Gewinn. zahlen müssen – rückwirkend für drei denten und Eiskunstläufer Ronald SPIEGEL: Herr Muster, woher rührt Ihr Jahre. Nun muß Sergi Bruguera eine Mil- Leitgeb trainiert, der zugleich sein Ehrgeiz? lion Dollar nachzahlen und ich etwa Manager ist. Muster, 27, gewann Muster: Ich hasse es einfach, zu verlie- 600 000 Mark – einfach so, ab in den bis zur vergangenen Woche sechs ren. Ich bin ein Steher. Ich kann in Lei- Briefkasten damit. Da hätte die ATP Wi- Sandplatzturniere in Folge; vor zwei stungsgrenzen in meinem Körper vor- derstand organisieren und mit der Absa- Wochen gelang ihm in Paris sein er- stoßen, die nahe an die Bewußtlosigkeit ge aller Turniere in Frankreich drohen ster Erfolg bei einem Grand-Slam- herangehen. Diese Dimensionen errei- müssen. Turnier. Zuschauern fällt der in chen wohl nur wenige. SPIEGEL: Was halten Sievon der jüngsten Monte Carlo lebende Profi immer SPIEGEL: Sie haben 1989 schon drei Wo- Kreation der ATP, den Super-9-Turnie- wieder durch seine Stöhnlaute auf. chen nach einem schweren Verkehrsun- ren, bei denen es zum Showdown der „Ich finde es grausam, seit ich mich fall wieder trainiert. Sind Sie getrieben Weltbesten kommen soll? so auf Videos gesehen habe“, sagt von Versagensängsten? Muster: Diese Formel 1 des Tennis bietet Muster, „aber ich kann es nicht än- Muster: Die hat jeder Sportler. Aus die- eine Ballung der Besten. Ein Grundübel dern. Sobald ich auf dem Platz ste- sen Negativimpulsen ziehen wir unsere war zuletzt doch, daß alle Katastrophen- he, geht es wieder los.“ Energien. Wer ohne Zweifel antritt und matches von Provinzturnieren stunden- sagt: „Ich bin stark“, der verliert. DER SPIEGEL 26/1995 147 . SPORT SPIEGEL: Viele Sportler entwickeln ihre SPIEGEL: Ist Becker ein schlechter Ver- Motivation aus einem Minderwertig- lierer? keitskomplex. Muster: Alle Topspieler sind schlechte Muster: Die meisten Stars kommen aus Verlierer. Aber Becker zeigt es öffent- ärmlichen Verhältnissen. Der Sport lich, wenn er sich nach seinem Aus in nimmt ihnen die Existenzangst. Paris darüber aufregt, daß auch Spitzen- SPIEGEL: Das gilt auch für Sie? spieler abends um halb acht und bei Nie- Muster: Sicherlich. Ich kam mit 15 für selregen auf den Court müssen. Da hät- drei Jahre auf ein Internat in der Wiener te er gleich verlangen können, daß man Südstadt. Das war für mich der größte die Stars immer gewinnen läßt.