Historische Hochwasser der Die Rekonstruktion von Scheitelabflüssen ausgewählter Ahr-Hochwasser

Thomas Roggenkamp/Jürgen Herget

irft man einen Blick auf die unterschied- Wlichsten Quellen zu historischen Hochwas- sern der Ahr, lässt sich vermuten, dass einige von solchen Ausmaßen waren, wie sie von heu- tigen Hochwassern an der Ahr längst nicht er- reicht werden. Insbesondere die schweren Hoch- wasserereignisse vom 21. Juli 1804 und 13. Juni 1910 mit zahlreichen Toten, schweren Verwü- stungen und Zerstörungen lassen dies vermuten. Um Vergleiche von Hochwasser anstellen zu können, bedarf es eines Wertes, welcher die Größe des Hochwassers objektiv wiedergibt. Hierfür wird der Scheitelabfluss herangezogen. Dieser gibt an, wie hoch der Abfluss (Kubik- meter Wasser pro Sekunde) des Flusses zum Zeitpunkt des Höchstwasserstandes gewesen ist. Ein Vergleich der maximalen Pegelstände wäre zwar naheliegender, da sich jedoch zum Beispiel die Flussbettbreite und –tiefe durch Baumaßnahmen verändert, ist ein Vergleich der Hochwassermarke in Walporzheim mit der jeweiligen Pegelstände nicht aussagekräftig. Angabe des Höchstwasserstandes während des Hochwassers vom 21. Juli 1804 Quellen historischer Ahr-Hochwasser Quellen zu historischen Hochwasserereignissen Neben Hochwassermarken bieten auch histo- für die Ahr umfassen neben schriftlichen Be- rische Fotoaufnahmen die Möglichkeit einer richten auch alte Fotografien und Hochwasser- Rekonstruktion. Insbesondere das Hochwasser marken an verschiedenen Stellen entlang des vom 13. Juni 1910 ist außergewöhnlich gut Flusses. Die bekannteste Stelle dürfte dabei der dokumentiert. Dabei ist Bad Neuenahr, und Straßentunnel von sein. Die vier hier hier vor allem die Poststraße, hervorzuheben, vermerkten Hochwasserereignisse fanden im wo zahlreiche Fotografien entstanden, welche späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert statt. das Hochwasser zu verschiedenen Zeiten und Das älteste Ereignis markiert das Hochwasser Wasserständen dokumentieren. An weiteren vom 24. Juni 1888. Das verheerende Hochwas- Orten entlang der Ahr zeigen Fotoaufnahmen ser von 1804 ist hier nicht verzeichnet, da der dagegen meist die Schäden nach Abklingen Felsdurchbruch zum Tunnelbau erst im Jahr der Hochwasserwelle, welche auf qualitativer 1834 stattfand (Görtz 1971). Weitere Hochwas- Ebene die zerstörerische Kraft eines Ahr-Hoch- sermarken finden sich beispielsweise an Gebäu- wassers veranschaulichen. Auch gilt es zu be- den in der Pützgasse in Walporzheim sowie der rücksichtigen, dass in manche Aufnahmen, so Burgstraße in . An beiden Stellen sind beispielsweise auf einer Karte in , das die Höchstwasserstände der Hochwasser von Hochwasser erst nachträglich hineinretuschiert 1804 und 1910 vermerkt. wurde.

150 u Heimatjahrbuch Kreis 2015 Lage der Untersu- chungsstandorte und ihre jeweiligen Quellen zu histo- rischen Hochwasser- ereignissen

Ein weites Feld der historischen Quellen sind telabflüsse, doch bieten sie einen interessanten alle Formen von schriftlichen Überlieferungen. Einblick in die lange Zeitreihe historischer Ahr- Ein großer Fundus an historischen Schriften zur Hochwasser. Eine ausführliche Chronologie his- Region des Ahrtals findet sich bei frick (1933). torischer Ahr-Hochwasser findet sich bei seel Allerdings sind diese Texte zu Hochwassern in (1983), welcher mit großer Sorgfalt eine Fülle der Regel von qualitativer Art. Teilweise werden von historischen Quellen zusammen getragen Hochwasser lediglich erwähnt, ohne weitere hat, bei der die früheste Erwähnung eines Ahr- Auskünfte über Wasserstände oder Schäden zu Hochwassers auf das Jahr 1348 zurückreicht. machen. Auch sind subjektive Übertreibungen möglich, wenn ein Ereignis größer wahrge- Rekonstruktion der Scheitelabflüsse nommen wurde, als es tatsächlich gewesen ist. Nach der eingehenden Analyse der verschie- Besonders die Berichte zu den Ereignissen von denen Quellen und ihrer Bewertung stellen 1804 und 1910 sind teilweise in einem sehr dra- sich insgesamt fünf historische Hochwasserer- matischen Erzählstil verfasst (vgl. UlricH 1938, eignisse heraus, welche für die Rekonstruktion frick 1955 und Janta & poppelreUter 2010). Da- des Scheitelabflusses in Frage kommen, da die her eignen sich die zahlreichen schriftlichen Quellen hierzu ausreichend genaue Angaben Quellen zu historischen Ahr-Hochwassern nicht zum Höchstwasserstand beinhalten. Diese sind für die quantitative Rekonstruktion der Schei- das Hochwasser vom 21. Juli 1804, für welches

Ein Vergleich des gleichen Standortes in der Poststraße, Bad Neuenahr. Auf der linken Seite die Auf- nahme während des Hochwassers vom 13. Juni 1910, rechts eine Aufnahme von 2012, auf der die Häuserfas- sade zu erkennen ist. Der historische Was- serstand lässt sich somit übertragen und vermessen.

Heimatjahrbuch Kreis Ahrweiler 2015 u 151 sich Hochwassermarken in Dernau und Wal- zeichnungen, für die Vermessungen vorge- porzheim finden, vom 24. Juni 1888 (Hochwas- nommen wurden. Für den bereits erwähnten sermarke in Altenahr), 13. Juni 1910 (Hochwas- Straßentunnel in Altenahr kommt hinzu, dass sermarken in Altenahr, Dernau, Walporzheim, dieser im Jahr 1969 saniert und ausgebaut wur- sowie Fotografien in Bad Neuenahr), 16. Januar de. Die heutige Breite von 11 m kann dem- 1918 (Hochwassermarke in Altenahr), sowie nach nicht zur Bestimmung des durchströmten 11. Januar 1920 (ebenfalls Hochwassermarke Querschnitts verwendet werden. Zum Zeitpunkt in Altenahr). der zu rekonstruierenden Hochwasser war der Wie lassen sich diese Hochwasserereignisse Tunnel lediglich 20 Fuß breit (Görtz 1971), was nun quantitativ bestimmen, der möglichst 6,28 m entspricht (zur Umrechnung wird das genaue Scheitelabflusswert berechnen? Der rheinländische Fußmaß von 1 Fuß = 31,39 cm Abfluss eines Flusses wird in Kubikmetern pro verwendet). Sekunde (m³/s) angegeben und ist das Produkt Die Fließgeschwindigkeit berechnet sich aus aus durchströmtem Querschnitt (angegeben in mehreren Faktoren, welche einzeln bestimmt Quadratmetern, m²) und Fließgeschwindigkeit werden können (Roggenkamp 2012, Herget (Meter pro Sekunde, m/s). Um den Scheitelab- 2012). Die verwendete, empirisch erhobene fluss berechnen zu können, bedarf es also An- Formel (nach Manning) lautet gaben zu beiden Faktoren zum Zeitpunkt des v [m/s] = R2/3 * S1/2 * n-1 Höchstwasserstandes. Um den durchströmten v steht für die Fließgeschwindigkeit. R gibt den Querschnitt bestimmen zu können, werden sog. hydraulischen Radius an (Quotient aus Angaben zum genauen Höchstwasserstand, der durchströmten Fläche und dem benetzten sowie zur Topographie benötigt. Der Höchst- Umfang). S das Energieliniengefälle, welches wasserstand lässt sich im Falle von Hochwas- in diesem Fall mit dem Gefälle des Wasser- sermarken recht einfach vermessen. Für Fo- spiegels gleichgesetzt werden kann. n steht für toaufnahmen ist dies allerdings schon etwas den Rauhigkeitsbeiwert, welcher beispielsweise schwieriger. So zeigen die Fotoaufnahmen aus den Grad des Einflusses von Ufervegetation, Bad Neuenahr zwar meist sehr exakt die Was- oder von Hindernissen wie Brückenpfeiler auf serstände an, doch hat sich die Bebauung der die Fließgeschwindigkeit des Wassers im Fluss Poststraße, in der die meisten Aufnahmen ent- berücksichtigt. Diese Faktoren können sich in standen sind, in den vergangenen einhundert unterschiedlichem Maße verlangsamend auf Jahren weitgehend verändert, so dass häufig die Fließgeschwindigkeit auswirken. Mit den ein Referenzpunkt fehlt, an dem sich der Was- ermittelten Daten zu Höchstwasserständen serstand abmessen ließe. Zeigt ein Foto bei- und der historischen Topographie lässt sich spielsweise einen Wasserstand, welcher bis zu der hydraulische Radius bestimmen. Auch die einer bestimmten Höhe an einer Häuserwand Bestimmung des Gefälles birgt keine größeren reichte, lässt sich die Höhe des Wasserstandes Probleme, da sich das Gefälle eines Flusses auf kaum ausmessen, wenn besagte Häuserwand natürliche Weise nur so langsam verändert, heute nicht mehr in der gleichen Gestalt wie dass das heutige Gefälle des Wasserspiegels zum Zeitpunkt des Hochwassers besteht. Dass auch zur Berechnung historischer Hochwasser sich einzelne Details historischer Bebauung je- verwendet werden kann, zumal seitdem kei- doch auch heute noch wieder finden lassen, ne Flussbaumaßnahmen durchgeführt worden zeigt Abb. S. 151. Die ursprüngliche Häuser- sind, die das Gefälle deutlich verändert haben. fassade wurde beibehalten und bietet somit die Für die Bestimmung der Rauhigkeit ist wiede- Möglichkeit, die genaue Höhe des historischen rum eine genaue Analyse historischen Materi- Wasserstandes auszumessen. als notwendig. Kartenmaterial, wie beispiels- Um die historische Topographie bestimmen zu weise die Kartenaufnahmen von Tranchot und können, bedarf es der Auswertung historischen v. Müffling, welche zu Beginn des 19. Jahr- Kartenmaterials, früher Fotografien der nahen hunderts entstanden sind, können hierzu In- Umgebung der Ahr oder alter Brückenbau- formationen liefern. Daneben dienen wiederum

152 u Heimatjahrbuch Kreis Ahrweiler 2015 Altenahr Dernau Walporzheim Bad Neuenahr 21. Juni 1804 - 1208 m3/s 1180 m3/s - 24. Juni 1888 280 m3/s - - - 13. Juni 1910 496 m3/s 549 m3/s 541 m3/s 585 m3/s 16. Januar 1918 236 m3/s - - - 11. Januar 1920 170 m3/s - - - Rekonstruierte Scheitelabflüsse historischer Ahr-Hochwasser für vier Standorte Fotoaufnahmen als wertvolles Quellenmaterial, Scheitelabflüsse aller Hochwasser sind für die da sie oft Informationen zur Beschaffenheit der jeweiligen Standorte, für die sie rekonstruiert Auen enthalten. Für genauere Informationen wurden, in Tabelle S. 153 o. aufgeführt. zur Methode und einzelne Werte sei auf roG- Vergleicht man die einzelnen Rekonstrukti- Genkamp (2012) verwiesen. onsergebnisse aus Altenahr, Dernau, Walporz- heim und Bad Neuenahr zum Hochwasser von Ergebnisse 1910 miteinander, so zeigt sich eine gewisse Nachdem die einzelnen Formelelemente der Schwankung. Dies kann zum einen durch die durchströmten Fläche, sowie der Fließge- ungleiche Qualität des Quellenmaterials der schwindigkeit rekonstruiert sind, lässt sich der jeweiligen Standorte hervorgerufen sein, zum Scheitelabfluss berechnen. Dabei zeigt sich, anderen zeigen jedoch auch jüngere gemessene dass von den fünf rekonstruierten Ahr-Hoch- Hochwasser, dass es zwischen den einzelnen wassern gleich drei höhere Scheitelabflüsse er- Standorten zu Schwankungen gleicher Größen- reichten, als alle bisher gemessenen Abflüsse. ordnung von 23 % kommen kann (landesamt Der höchste gemessene Abfluss lag bei 214 m³/s für natUr, Umwelt Und VerbraUcHerscHUtz nord- und wurde am Pegel Altenahr am 21. Dezem- rHein-westfalen 2011). ber 1993 aufgezeichnet. Wie bereits vermutet, Neben den Scheitelabflüssen kann für die stechen die beiden Hochwasser von 1804 und Poststraße in Bad Neuenahr zusätzlich eine 1910 deutlich hervor. Ein Vergleich dieser bei- Hochwasserganglinie für den 13. Juni 1910 den Ereignisse zeigt jedoch, dass der Scheitel- rekonstruiert werden. Da mehrere Fotografien abfluss vom 21. Juli 1804 mit 1208 m³/s (be- neben dem exakten Wasserstand auch Straßen- rechnet für den Standort Dernau) etwa doppelt uhren zeigen, ist es möglich, den aus dem je- so hoch war, wie der Scheitelabfluss vom 13. weiligen Wasserstand berechneten Abfluss mit Juni 1910 mit etwa 585 m³/s (berechnet für der entsprechenden Uhrzeit in Verbindung zu den Standort Bad Neuenahr). Die einzelnen setzen. Ergänzt durch den bereits rekonstru-

Rekonstruktions- ergebnisse und der Vergleich zu den größten gemessenen Ahr-Hochwasser

Heimatjahrbuch Kreis Ahrweiler 2015 u 153 In der Poststraße entstandene Fotoaufnahmen des Ahr-Hochwassers vom 13. Juni 1910. Neben den Wasserständen ist durch die Aufnahme von Straßenuhren auch der jeweilige Zeitpunkt angegeben. ierten Scheitelabfluss, welcher nach Berichten verglichen werden. Dies ist für die Hochwasser in Bad Neuenahr gegen 10.30 Uhr vormittags vom 30. Mai 1984, sowie vom 16. März 1988 erreicht wurde (Ulrich 1938), ergibt sich ei- geschehen. In beiden Fällen lagen die berech- ne Ganglinie mit einem raschen Anstieg und neten Abflusswerte knapp unterhalb der tat- einem langsameren Abklingen des Abflusses. sächlichen Messwerte mit Abweichungen von Dieses Bild der Hochwasserganglinie ist typisch 5,2 bzw. 7,4 % (Roggenkamp 2012). Da die Wer- für Ahr-Hochwasser und zeigt sich auch bei te aufgrund der sehr geringen Abweichungen jüngeren Ereignissen deren Messwerte in zeit- innerhalb eines tolerierbaren Bereiches liegen, lich hoher Auflösung für die Pegel Altenahr können auch die Ergebnisse der rekonstruierten und Bad Bodendorf bereitgestellt werden. Der Scheitelabflüsse historischer Ahr-Hochwasser besonders schnelle Anstieg des Abflusses deckt als plausibel eingestuft werden. sich auch mit schriftlichen Quellen, welche von einem sehr plötzlichen Auftreten des Hochwas- Literatur sers berichten (Ulrich 1938). Auch wenn die - Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen (2011) (Hrsg.): Deutsches Gewässerkundliches Jahrbuch – Rheingebiet hier angewandte Methode zur Rekonstruktion Teil III, Mittel- und Niederrhein mit deutschem Issel- und Maasgebiet. historischer Hochwasserereignisse bereits für Abflussjahr 2007. Recklinghausen. - Elleder, L., Herget, J., Roggenkamp, T. u. A. Niessen (2013): Historic floods andere Untersuchungsräume wie zum Beispiel in the city of Prague – a reconstruction of peak discharges for 1481 – 1825 Köln (Herget & Meurs 2010) oder Prag (Elleder based on documentary sources. In: Hydrology Research 44, 2, S. 202-214. et al. 2013) angewendet wurde, so konnte für - Frick, H. (1933): Quellen zur Geschichte von Bad Neuenahr. Selbstverlag der Gemeinde Bad Neuenahr. das Hochwasser vom Juni 1910 in Bad Neuen- - Frick, H. (1955): Das Hochwasser von 1804 im Kreise Ahrweiler. In: Hei- ahr die Ganglinie eines historischen Hochwas- matjahrbuch des Kreises Ahrweiler 1955. S. 43-51. - Görtz, I. (1971): Der Straßentunnel bei Altenahr. In: Heimatjahrbuch des sers erstmalig mit stündlich genauer Auflösung Kreises Ahrweiler 1971. S. 94-96. rekonstruiert werden. - Herget, J. & H. Meurs (2010): Reconstructing peak discharges of historic flood levels in the city of , . In: Global and Planetary Verlässlichkeit der Ergebnisse Change 70, S. 108-116. - Herget, J. (2012): Am Anfang war die Sintflut – Hochwasserkatastrophen Inwieweit die rekonstruierten Scheitelabflüsse in der Geschichte. Primus Verlag. Darmstadt. - Janta, L. & H. Poppelreuter (2010): „…Das Elend übersteigt jeden Begriff…“ den tatsächlichen Scheitelabflüssen entspre- – Ahr-Hochwasser am 12./13. Juni 1910 forderte 52 Menschenleben. In: chen, kann durch einen Plausibilitätstest über- Heimatjahrbuch des Kreises Ahrweiler 2010. S. 188-197. prüft werden. Dazu werden die Abflüsse jün- - Roggenkamp, T. (2012): Rekonstruktion historischer Hochwasser der Ahr. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Geographisches Institut, Universität gerer Hochwasser, ausgehend vom Höchstwas- . serstand, mit der angewandten Methode berech- - Seel, K. A. (1983): Die Ahr und ihre Hochwässer in alten Quellen. In: Heimatjahrbuch des Kreises Ahrweiler 1983. S. 91-102. net. Die gewonnenen Ergebnisse können somit - Ulrich, C. (1938): Hochwasserkatastrophe der Ahr am 12./13. Juni 1910. mit den tatsächlich gemessenen Abflusswerten In: Jahrbuch Ahrweiler 1938. S. 92-106.

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