Punk Rock Seite 1-4:-Titelei 12.12.2008 13:47 Uhr Seite 1

Punk war wie loszufahren, ohne Straßenkarte, ohne Adresse. Es war, als hätte jemand ein Auto geklaut und gerufen: ›Wer kommt mit?‹ Jimmy Pursey, Sham 69 Seite 1-4:-Titelei 12.12.2008 13:47 Uhr Seite 2

Zum Buch

Nach Legs McNeils Please Kill Me über die amerikanische Entste- hungsgeschichte des Punk und Verschwende Deine Jugend, Jürgen Tei- pels Chronik der deutschen Szene, liegt mit John Robbs Buch erst- mals auch eine komplette Geschichte des britischen Punk vor – von den Protagonisten aus erster Hand erzählt. Autor John Robb, der mit seiner Band The Membranes selbst von Anfang an mit dabei war, lässt alle zu Wort kommen: Musiker, Veranstalter, Fanzine-Macher und Fans. Mit John Lydon, Malcolm McLaren, Mick Jones, , Ari Up, Charlie Harper, Poly Styrene, Siouxsie Sioux und zahlreichen anderen Gesprächspartnern hat Robb einige der wich- tigsten Protagonisten vors Mikro gebracht. Sie erzählen, was sie zu Punks hat werden lassen, welche Musik sie vor Punk gehört haben, welches die besten Punkkonzerte waren und was sich auf ihnen abgespielt hat. Das Buch vermittelt die ganze Intensität dieser weni- gen von Chaos und Zufall, von Träumen und Rebellion bestimmten Monate und macht Lust, selbst eine Bewegung loszutreten.

Zum Autor

John Robb wuchs in der britischen Hafenstadt Blackpool auf. Nach- dem er das Fanzine The Rox herausgegeben hatte, gründete er 1977 The Membranes, eine Band, die als Wegbereiter des Post-Punk gilt. In den späten Achtzigern arbeitete er als Journalist für das Magazin Sounds. Seit den Neunzigern ist Robb wieder als Musiker aktiv und tourt mit seiner neuen Band Goldblade regelmäßig durch Europa. Punk Rock Seite 1-4:-Titelei 12.12.2008 13:47 Uhr Seite 3

JOHN ROBB PUNK ROCK

DIE GESCHICHTE EINER REVOLUTION

Aus dem Englischen von Martin Büsser und Chris Wilpert

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Punk Rock Seite 1-4:-Titelei 12.12.2008 13:47 Uhr Seite 4

Die Originalausgabe PUNK ROCK. AN ORAL HISTORY erschien bei Ebury Press, London Die deutsche Erstausgabe erschien 2007 bei Ventil Verlag KG, Mainz

Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 04/2009

Copyright © 2006 by John Robb Copyright © 2007 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House

Umschlaggestaltung: © Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, München – Zürich

eISBN 978-3-641-11277-6

www.heyne-hardcore.de + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 5

INHALT

9 / Vorwort 13 / Intro 17 / Die Wurzeln Von Punk – 1950/69 48 / Glam-Rock und andere Revolutionen der frühen Siebziger – 1970/74 102 / I’m not an abortion. Die Geburt von Punk – 1975 146 / Der Weg ins Chaos – 1976, Teil I 199 / Das Xerox-Jahr – 1976, Teil II 235 / Punk wird zum schmutzigen Wort – 1976, Teil III 269 / Die Explosion – 1977, Teil I 308 / In 1977, I hope I go to heaven – 1977, Teil II 349 / Generation why – 1977, Teil III 387 / No map or address – 1978 431 / The second wave peaks – 1979 475 / Protest und Überleben – 1980/84 511 / Outro 515 / Register 524 / Bildnachweise + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 6

Die Beteiligten

Adrian Sherwood (Prodzuent) Eric Debris (Metal Urbaine: Gesang) Aki Qureshi (Southern Death Cult, Eugene Reynolds (The Rezillos: Gesang) Fun-Da-Mental: Schlagzeuger und Garry Bushell (Journalist. The Gonads: Produzent) Gesang) Al Hillier (Punk-Fan. Mitglied der Gavin Friday (Virgin Prunes: Gesang) »Finchley Boys«) Gaye Advert (The Adverts: Bass) Andi Czezowski (Manager von The Damned und Generation X, Betreiber Gee Vaucher (Artwork für Crass) des Roxy Clubs) (Chelsea: Gesang) Andy Kanonik (Demob: Gesang) Geordie (bürgerlicher Name: Kevin Ari Up (The Slits: Gesang) Walker. Killing Joke: Gitarrist) Arturo Bassick (The Lurkers: Bass) Glen Matlock (The : Bass. Rich Kids: Bass und Gesang) Barney Sumner (Joy Division: Gitarre. New Order: Gesang und Gitarre) Guy Trelford (Schriftsteller aus Nord- Beki Bondage (Vice Squad: Gesang) irland, Autor von »It Makes You Want to Spit«) Billy Bragg (Riff Raff, später solo: Gesang und Gitarre) Henry Rollins (Black Flag, Rollins Band: Gesang) Bob Dickinson (Journalist) Howard Devoto (Buzzcocks, Magazine: (London SS, The Damned, Gesang) Tanz Der Youth, Lords Of The New Church: Gitarre) Hugh Cornwell (The Stranglers: Gesang und Gitarre) Brian X (Punk aus London) Ian Brown (Stone Roses und solo: Brian Young (Rudi: Gesang und Gitarre) Gesang) Budgie (Big In Japan, The Slits, Siouxsie J. J. Burnel (The Stranglers: Bass und and the Banshees, The Creatures: Gesang) Schlagzeug) J. C. Carroll (The Members: Gitarre) Captain Sensible (The Damned: Bass und Gitarre. Solo: Gesang) Jah Wobble (Public Image Limited: Bass) Charlie Harper (UK Subs: Gesang) Jake Burns (Stiff Little Fingers: Gesang) Chris Bailey (The Saints: Gesang) Jaz Coleman (Killing Joke: Gesang) Chrissie Hynde (The Pretenders: Jeremy Cunningham (The Levellers: Gesang) Bass) Clint Boon (Inspiral Carpets: Keyboards) Jeremy Diggle (Student am St. Martin’s College, London) Colin Abrahall (GBH: Gesang) Jimmy Pursey (Sham 69: Gesang) Colin Newman (Wire: Gesang) John Bentham Damian O’Neill (The Undertones: (Filmemacher, Manager Gitarre) von Outl4w) David Gedge (Wedding Present: Gesang) John Ellis (Bazooka Joe, The Vibrators, The Stranglers: Gitarre) Deko (Punk aus Dublin. Paranoid Visions: Gesang) John Lydon (The Sex Pistols, Public Image Limited: Gesang) (Filmemacher, DJ im Roxy; : Effekte und John O’Neill (The Undertones: Gitarre) Gesang) Justin Sullivan aka Slade the Leveller Eddie (bürgerlicher Name: Jonathan (New Model Army: Gesang) Edwards. Roadie von Bazooka Joe. (, Public Image The Vibrators: Schlagzeug) Limited: Gitarre) + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 7

Kevin Hunter (Epileptics, Flux of Pink Pat Collier (The Vibrators: Bass) Indians: Gitarre) Paul Madden (Fotograf) Knox (The Vibrators: Gitarre und Paul Research (The Scars: Gitarre) Gesang) Paul Stolper (Kunsthändler und Punk- (Motörhead: Bass und Gesang) Sammler) Linder Sterling (Künstlerin und Foto- Pauline Murray (Penetration, The grafin. Ludus: Gesang) Invisible Girls: Gesang) Malcolm McLaren (Manager der Sex Penny Rimbaud (Crass: Schlagzeug Pistols) und Ideologie) Marc Riley (The Fall: BBC Radio 1, Pete Shelley (Buzzcocks: Gitarre und DJ ›Lard‹) Gesang) Marco Pirroni (Siouxsie and the Peter Hook (Joy Division, New Order: Banshees, The Models, Rema Rema, Bass) Adam and the Ants: Gitarre) Poly Styrene (X-Ray Spex: Gesang) Mark Helford (frühe Gestalt in der Punk-Szene, schließlich Leiter des Ranking Roger (The Beat: Gesang) Clash-Fanclubs) (London SS, The Damned, Mark Perry (Herausgeber des Sniffin’ The White Cats: Schlagzeug) Glue-Fanzines; Alternative TV: Richard Jobson (The Skids: Gesang) Gesang) Richie Rocker (MDM: Bass) Mark Stewart (The Pop Group: Gesang) Rob Lloyd (The Prefects, The Nightin- Mensi (bürgerlicher Name: Thomas gales: Gesang) Mensforth. Angelic Upstarts: Gesang) Robin Chapekar (Bazooka Joe: Gitarre) Michelle Brigandage (Brigandage: Segs (bürgerlicher Name: Vince Segs. Gesang) The Ruts: Bass) Mick Crudge (The Fits: Gesang) Siouxsie Sioux (Siouxsie and the Mick Hucknall (Simply Red und solo: Banshees, The Creatures: Gesang) Gesang) Steve Diggle (Buzzcocks: Gitarre) Mick Jones (London SS, The Clash, Big Audio Dynamite: Gitarre und Steve Kent (The Business: Gitarre) Gesang) Steve Severin (Siouxsie and the Mick Rossi (Slaughter and the Dogs: Banshees: Bass) Gitarre) T.V. Smith (The Adverts: Gesang) Micky Fitz (The Business: Gesang) Terrie (The Ex: Gitarre) Micky Geggus (Cockney Rejects: Gitarre) Tessa Pollitt (The Slits: Bass) Mike Thorne (A&R von EMI, Produzent Tom (Punk-Fan aus Middlesborough) von Wire) Tom Vague (Herausgeber des Vague- Neville Staple (The Specials, Fun Boy Fanzine) Three: Gesang) Tony D (Fanzine-Macher: Ripped And Nick Cash (Kilburn and the High Roads, Torn und Kill Your Pet Puppy) 999: Gitarre und Gesang) (London SS, Chelsea, Nick Tesco (The Members: Gesang) Generation X, Sigue Sigue Sputnik: Nick Wells (Student am St. Martin’s Bass) College, London) Tony Wilson (Radiomoderator; Gründer Nils Stevenson (anfangs Co-Manager von Factory Records) der Sex Pistols; Manager von Siouxsie Vic Godard (Subway Sect: Gesang) and the Banshees) Watford John (Argy Bargy: Gesang) Noel Martin (Menace: Schlagzeug) Wilko Johnson (Dr. Feelgood, Ian Dury Paolo Hewitt (Autor, Journalist) and the Blockheads: Gitarre) + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 8

Editorische Notiz

Über das ganze Buch verteilt finden sich Fußnoten an den Stellen, wo es uns sinnvoll erschien, Zusatzinformationen zu liefern, ohne dabei den Lesefluss zu stören. Diese Methode hat natürlich etwas Willkürliches – es wäre einfach nicht möglich gewesen, jede erdenkbare Informa- tion mit einer Fußnote zu versehen –, erschien uns aber doch sinnvoll, da das Buch ohne Fußnoten zu unzugäng- lich wäre. Alle Äußerungen im Buch geben die Meinung der jewei- ligen Sprecher wieder. Autor und Herausgeber haben so viele Fakten wie möglich geprüft, doch alle Erinnerungen sind natürlich subjektiv und manchmal fehlerhaft; die Zeit hat ihre Tücken, deshalb ist davon auszugehen, dass der ein oder andere Leser mit den Darstellungen der Geschehnisse nicht immer einverstanden ist. Denjenigen, die im Buch zu Wort kommen, geht es nicht anders. + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 9

VORWORT

Von Michael Bracewell

Seit Punk vor 30 Jahren sein erstes Grollen auf der britischen Insel hören ließ, ist die Bewegung zum Bestandteil der Kulturindustrie geworden und konkurriert als solcher mit Andy Warhols Factory und den Beatles. Deshalb schwingt ein wenig unfreiwillige Ironie in einer Äußerung Malcolm McLarens aus der rebellischen Zeit von 1976 mit: »Geschichte ist dazu da, auf sie zu scheißen«. Wie sich herausstellen sollte, wurden viele Leute, die Punk mit ins Leben riefen, selbst zu gewissenhaften Archivaren und sorgfältigen Verwaltern ihrer eigenen Geschichte. Oder sie sind sich zumindest bewusst, dass sie für kurze Zeit an etwas ganz Besonderem teilgenommen haben. Über den britischen Punk sind schon einige Bücher veröffentlicht worden, allen voran Jon Savages »England’s Dreaming«, das in mehr- facher Hinsicht zum Standardwerk geworden ist, an dem sich auch andere Autoren orientiert haben. Doch während viele Bücher versucht haben, ein Resümee von Punk zu ziehen oder ihn als Mythos zu glori- fizieren, legt John Robb hier erstmals eine minutiöse Studie über die Anfangsjahre von Punk vor, die komplett aus den Erinnerungen und Gedanken derjenigen besteht, die damals aktiv waren und alles haut- nah miterlebten. Das macht die Besonderheit und die Intimität des Buches aus. Es ist klar, dass Punk seine eigene Historisierung mit dem Slogan »No Future« eigentlich ad absurdum führen wollte. Und es ist auch klar, dass viele Protagonisten die klassische Zeit von Punk zwischen 1976 und 1978 nicht in einen Schrein gesperrt sehen wollen, sondern etwas dagegen haben, wenn sentimentale Nostalgie ins Spiel kommt oder von einer besseren Zeit die Rede ist. Sieht man davon einmal ab, ist es allerdings bemerkenswert, welch tiefe, ihr ganzes Leben ver- ändernde Wirkung Punk auf viele Menschen hatte, die mit ihm in Berührung kamen. + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 10

10 / Vorwort

Alles an Punk war auf aggressive Weise modern. Man könnte Punk als eine Bewegung definieren, die das Gespür für Modernität einer kritischen Masse nahe gebracht hat. Wer an Punk teilnahm, gab so ein für alle erkennbares politisches Statement ab, wie ungenau oder nihi- listisch es auch immer gewesen sein mag. In einer Zeit, in der Musik und Mode noch provozierten und in der Öffentlichkeit nicht nur Empörung, sondern offenen Hass hervorriefen, war es extrem mutig, sich für Punk zu entscheiden. Punk bescherte seinen Schöpfern und Anhängern ein oder zwei Jahre voller intensiver Erfahrungen. All das ist längst in unzähligen Geschichten verarbeitet worden; das vorliegende Buch zeigt, dass die Geschichte des Punk zu einer Erzäh- lung mit offenem Ausgang geworden ist. Alle Beteiligten haben ihre eigene Geschichte: wie sie sich zum Beispiel dieses oder jenes Klei- dungsstück gekauft und wie sie eine bestimmte Platte zum ersten Mal gehört haben, oder wie sie zum ersten Mal in einem ganz bestimmten Laden gewesen sind. Einschließlich der ganzen Rahmenbedingungen – wie wenig Geld sie damals hatten, wie stark die ersten Punks gesell- schaftlich isoliert und wie wenige es am Anfang überhaupt waren. Dadurch hat Punk alle Beteiligten gegenüber den eigenen Einflüssen und der eigenen Umgebung sensibilisiert. Auf welche Weise fanden sie sich selbst in diesem seltsamen exhibitionistischen Rausch wieder? Und welche Erwartungen hatte jeder Einzelne in Punk gesetzt? War es Klassenkampf oder eine neue Version der Dada-Bewegung? Situatio- nismus oder Kampftrinken? Ein Angriff auf konventionelle Geschlech- terrollen oder freizügiger Sex? War es Mode oder Anti-Mode oder das Umschlagen von Anti-Mode in Mode? In fast all diesen Fällen lieferte Punk keine klaren Antworten, sondern jede Menge unterschiedlicher Erklärungsansätze – er lebte von der Spannung aus Gegensätzen. Für jeden Einzelnen und für jede Gruppe, die in Punk nach Antwor- ten, einem Lebensziel oder Unterhaltung suchte, wurde die Sache zu einem Spiegel. Die Klassenkämpfer sahen darin einen Klassenkampf, die Ästheten der Art School eine Neubelebung des Cabaret Voltaire. Punk wurde zum Katalysator und zum Beschleuniger – er stellte die Dinge auf den Kopf und machte so den Blick frei für neue Perspek- tiven. Das zeigt sich allein schon daran, dass innerhalb der Bewegung von Anfang an debattiert wurde, wie Punk überhaupt zu definieren sei – die inneren Widersprüche waren ja Bestandteil seiner Identität. Aus all diesen Gründen ist die Geschichte des Punk später von unzähligen Leuten unterschiedlich definiert und besetzt worden; und + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 11

Vorwort / 11

Britisches Punk-Publikum 1977

inmitten der Debatten stellt sich ferner auch immer wieder die Frage nach der Authentizität. Welche war die wahre Identität von Punk? Und welche Version ist der ursprünglichen Idee am nächsten? Die Bedeutung des vorliegenden Buches besteht darin, dass hier die ganz persönlichen Aussagen von Zeitzeugen versammelt wurden: Dank der Unmittelbarkeit ihrer Erfahrungen liest sich die Geschichte wie ein Roman; die Sprecher selbst werden zu Charakteren – fehlbar, arrogant, großzügig, nachdenklich, witzig. Punk entstand nicht nur auf der Kings Road, in Chelsea, Covent Garden oder Soho, sondern verschaffte sich auch in zahllosen öden Vorstädten und in der Provinz lautstark Gehör. Für diejenigen, die Punk jenseits der Metropolen erlebten, in denen Differenzen und Andersartigkeit wohl eher toleriert werden, hatte das Ganze wahrscheinlich eine noch viel höhere Intensität. Die unterschiedlichen Stimmen lassen eine Ära und deren Lebens- gefühl wieder aufleben – ihre Vorgeschichten und ihr Blick auf alltäg- + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 12

12 / Vorwort

liche Details geben der Geschichte einen Rahmen und werfen Licht ins Dunkel jener Zeit der neu aufkeimenden Ideen und der absterbenden alten Ideale. Sie geben außerdem die paradoxe Regierungsform des Punk wieder, die als eine elitäre Demokratie beschrieben werden kann. Es gibt keine »wahre« Geschichte des Punk, denn Punk selbst brach ja mit dem Begriff der Authentizität ebenso wie mit dem Glauben an kulturelles Eigentum. Die Energie von Punk wurde in hohem Maße – auf gefährliche Weise – von Negativität angetrieben; in der einen oder anderen Weise war Gewalt ein ständiger, flüchtiger Begleiter. Die vielen Stimmen in diesem Buch bestätigen, dass damals eine tiefe, elementare Ruhelosig- keit in der Luft lag, hervorgegangen aus dem, was W. H. Auden einst als »die komplette Langeweile« bezeichnet hatte. Sie machte Punk so unvergesslich und gab der Bewegung die Kraft, alle Münzen neu zu prägen, was inzwischen auch mal wieder nötig wäre.

Dezember 2005 + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 13

INTRO

Punk veränderte alles. Nicht nur unsere Hosen. Unser Leben. Jeder stieß mit ganz eigenen Erwartungen zu Punk. Jeder hat seine ganz eigenen Erinnerungen an die Sache mitgenommen. Und einige von uns sind immer noch dabei, immer noch angespornt vom Feuer dieser Revolution. Vor Punk waren wir eine Generation, die noch auf ihren Soundtrack wartete. Die Sechziger hingen wie ein Nebel im Raum, eine Party, von der jeder gehört hatte, aber zu der keiner hatte gehen können. In den frühen Siebzigern gab es zwar auch großartige Musik, aber wir wollten endlich etwas Eigenes. Man konnte den Glam der Frühsiebziger oder die endlose Freak- show namens »Top of the Pops« mit Glotzaugen anstarren, wäre aber nie auf die Idee gekommen, selber Musik zu machen. So etwas mach- ten nur Rockstars, die von einem fremden Planeten kamen, oder diese seltsamen Mitschüler, die im Musiksaal der Schule rumhingen und mit denen nie jemand sprach. In den Siebzigern in Blackpool aufzuwachsen, bedeutete, von außen auf die Welt zu blicken. Die schäbige Hafenstadt hatte bereits Rost an- gesetzt und besaß nichts mehr vom Glanz der Fünfziger. Wir schauten uns die Spiele der genialen Tangerines (Blackpool FC) an und gingen enttäuscht wieder nach Hause. In unserem vom Wind gepeitschten, sicheren europäischen Zuhause fühlten wir uns Millionen Kilometer vom Zentrum der Welt entfernt. Doch dann schlug Punk wie ein irr- sinniger Blitzschlag ein. Punk-Rock war ein Kulturkrieg. Du warst entweder drinnen oder draußen. + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 14

14 / Intro

1975 war öde. 1976 war nicht besser. Um mich herum eine Welt voller Beamter, an der ich nicht teilhaben wollte. Ich wollte ausgehen. Ich wollte keinen beschissenen Job. Ich hatte keine Lust, auf die Universität zu gehen. In der Zeitung sah ich zum ersten Mal Bilder von Punks und wusste sofort, wie sich ihre Musik anhört. Nie zuvor waren sich eine Musik und das Erscheinungsbild der Musiker so nahe gewesen. Im Leben geht es nicht einfach nur darum, zu existieren: Es geht darum, mit 100 Mei- len pro Stunde zu leben. Doch wer Mitte der Siebziger in einem verreg- neten Loch lebte, war in einem Schwarzweiß-Film gefangen – ich musste raus, ich brauchte Farben. Als ich wieder einmal in Blackpool in der Eissporthalle rumhing, dem Ort, wo man 1976 mit 15 eben hingegangen ist, hörte ich »Anar- chy in the UK«. Es war eine Offenbarung: Ein heftiger Lärmwall als Intro und dann der unglaublichste Gesang, den ich je gehört hatte. Ganz egal, dass John Lydon heute ein Zyniker ist, der einen Scheiß auf die damalige Zeit gibt. 1976 hörte sich seine Stimme nach totaler Befreiung an. Er war witzig, beißend und drückte genau das aus, was alle damals fühlten – dieser dürre Junge spuckte dem verlogenen Estab- lishment direkt ins Gesicht. Warum eine »Oral History« des Punk schreiben? Nun, warum nicht endlich mal die Geschichte direkt von denen hören, die dabei waren? Jon Savage hat bereits den definitiven historischen Abriss geliefert, und »Burning Britain« ist ein hervorragendes Buch über die zweite Punk- Welle. Ich wollte mir einfach das Ganze von denen erzählen lassen, die Punk erlebt hatten. Ich wollte ihre ganz persönliche Geschichte, nicht diese bescheuerte Theorie, die nachträglich über Punk gestülpt wurde. Ich wollte eine Geschichte, die nichts mit irgendeiner offiziellen Par- teilinie zu tun hatte. Die ganze Sache ist nämlich viel komplexer. Dahinter steckt mehr als nur eine Gruppe von Bowie-Freaks, die Punk erfand, als sie im »Sex«-Shop abhing. Mehr als das heroische Aufbegehren der Clash. Da war auch noch das ganze Fußvolk der Revolution: die kleineren Grup- pen, die weniger angesagten Gruppen. Da war der geniale Exzentriker Vic Godard, da war der coole Bass-Sound von J. J. Burnel, der wie ein Faustschlag in den Magen ging, da waren Adam Ant mit seinem charis- matischen Sadomaso-Pop in schwarzem Leder, der die Fetischszene begeisterte, Linders atemberaubendes Artwork, die zur Ikone geworde- + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 15

Intro / 15

ne Siouxsie Sioux, Jimmy Shams herzerweichende Hymnen an die neue Generation, Pete Shelleys Gespür, einen flotten Pop-Klassiker nach dem anderen rauszuhauen. Und auch die Tausenden von pickeligen Kids dürfen nicht vergessen werden, die über die ganze Insel verteilt zu den neuen Klängen in den verschrammten viktorianischen Tanzsälen hin und her hüpften, außer sich vor Begeisterung in ihren improvisierten Punk-Klamotten – um- gekrempelte Schuljacken und selbst gebastelte Buttons –, all diejenigen, die durch das Fenster des Backstage-Raums gekrochen waren, ein- geschmuggelt von Joe Strummer auf einer der legendären Clash-Tour- neen. Und es geht um die Brigaden von »Do it yourself«-Adepten, die linkisch auf ihren Instrumenten herumschrubbten und es der ganzen Welt mit den drei Akkorden zeigen wollten, die sie gerade mal vor einer Woche auf ihren Flohmarkt-Gitarren erlernt hatten. All diese schä- bigen, nervösen Bands, die zum ersten Mal in ihrem Leben im Jugend- zentrum oder in der Gemeindehalle auf der Bühne standen. All die ramponierte Prosa, die in ramponierte Schreibmaschinen gehämmert wurde, als die Xerox-Generation damit begann, ihre eigene Szene wie besessen zu dokumentieren. Punk war wahrscheinlich die erste Pop- kultur, die sich selbst zu Tode analysierte. Es geht um all die irre, abgedrehte Energie, die billigen Drogen und das beknackte Rumgeknutsche, und natürlich um die ganze aufregende Musik, die Woche für Woche auf Singles veröffentlicht wurde, in selbst gebasteltem Cut-up-Artwork und mit einem Foto von hageren Musi- kern auf dem Backcover. Damals konnte man überall in Großbritannien jemanden mit auf- gestellten Haaren treffen und auf der Straße ansprechen. Es war eine Geheimgesellschaft, eine Parallelwelt inmitten der anderen, fahlen Welt; sie hatte den intensivsten und herrlichsten Soundtrack, die bes- ten Klamotten, die kämpferischsten Debatten, die idealistischste poli- tische Einstellung. Punk veränderte das Leben von allen, die mit ihm in Berührung kamen. Aber das Beste an der ganzen Sache war, dass wir nicht bloß passive Konsumenten geblieben sind – wir waren auch die Besitzer des Gan- zen. Jeder war in irgendeiner Weise involviert. Es waren nicht bloß die großen Stars, die als Wortführer fungierten. Wir waren alle Wort- führer! Jeder lebte seine eigene Version von Punk. Jeder traf die eigene Entscheidung, was Punk für ihn bedeutete. Es gab endlose Diskussio- nen darüber, wofür wir überhaupt kämpften, was für Schuhe wir an + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 16

16 / Intro

unseren Füßen tragen sollten, was für Musik wir hören sollten und wie wir diese beschissene Welt verändern könnten. Es war die erste Pop- kultur, die sich nach dem Graswurzel-Prinzip verbreitete, die ganz in unserer Hand lag. Ihre Energie hat sich nie verbraucht. Sie wird auf immer weiter- leben, weltweit: Großartige Konzerte, großartige Festivals, großartige Menschen. Punk versetzte das Establishment in Angst und Schrecken. Punk hat mich dazu gebracht, selbst auf die Bühne zu gehen und Musik zu machen. Punk hat mich dazu gebracht, mein Leben zu ändern. Punk ... Punk hat mein Leben gerettet. Und ich wollte wissen, warum ... + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 17

KAPITEL 1 1950/69 DIE WURZELN VON PUNK

Wann hat Punk angefangen? 1976? 1975? Begann er mit den Stooges oder bereits mit den Stones oder Elvis, oder sollten wir noch weiter zurückgehen, ins Mittelalter oder die Zeit davor? Protestlieder hat es zweifellos schon immer gegeben: Ihre Tradition reicht von abgedrehten Eigenbrötlern, die im antiken Rom ihre anti-imperialistischen Lieder zum Besten gaben, bis zu Straßensängern, deren mit irrem Blick und krächzender Stimme vorgetrage- ner, gegen alle Autoritäten gerichteter Wortschwall die mittelalterlichen Märkte beschallte. Dieser unabhängige Geist, die Stimme der Außenseiter, ist so alt wie die Menschheit. Doch erst in jüngster Zeit kommt dieser Geist elektrisch verstärkt daher – er ist dadurch lauter und wilder geworden. Im Punk kulminierte so ziemlich alles, was es schon zuvor in der Rock- musik gegeben hatte: der rotzige Hard-Rock-Sound, die hemmungslosen Stooges, ein die Massenmedien provozierender Elvis, die pure Revolution, die von den Hippies prophezeit wurde, der elegante Stil der Mods und der rebellische Gestus der Rocker, der stampfende Pop-Blitzkrieg, den Glam- Rock angezettelt hatte – und sogar die Experimente des Siebziger-Prog-Rocks und des Underground-Art-Rocks haben Spuren hinterlassen. Punk entstand nicht einfach nur aus der Liebe zu Ziggy Stardust. Die Fäden kamen aus allen Richtungen zusammen: Von den Beatles und von Glam, von Iggy und den Sweet, von Pub-Rock und von Captain Beefheart. Punk brachte all dies zusammen und verschmolz 1977 in Großbritannien zu etwas, das sich mit voller Wucht gegen das Establishment richtete. Die Interviews in diesem + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 18

18 / Die Wurzeln von Punk – 1950/69

Buch machen deutlich, wie unterschiedlich die Hintergründe der Protago- nisten gewesen sind. Als Referenz wird so ziemlich alles genannt, was wild und bunt war. Für die Modedeppen dauerte Punk nur ein paar Monate, doch als sie gerade dabei waren, ihre fetten Hipster-Ärsche in die abgeschmackten (und, ehrlich gesagt, total widerlichen) New-Romantic-Klamotten zu quetschen, wurde Punk erst so richtig Underground, erlebte seine zweite Welle, flan- kiert von anderen aus Punk hervorgegangenen Bewegungen, von Gothic bis Psychobilly, von Anarcho-Punk bis zu 2 Tone – im Windschatten von Punk war gleich eine ganze Reihe an Szenen entstanden, die zum Maßstab und Qualitätssiegel aller modernen Musik wurden, zur Meßlatte für kommende Generationen.

THE MASS MEDIA F.U.C.K. OF ELVIS Früher Rock’n’Roll und die Geburt der Rockrebellen

Penny Rimbaud (Crass: Schlagzeug und Ideologie) Vor Elvis habe ich schon Bill Haley gehört, aber er hat mich nicht so sehr beeindruckt, wie es Rock’n’Roll später tat. »Rock Around The Clock« und »See You Later Alligator« hatten etwas von Varieté, es hat mich einfach nicht wirklich ergriffen, mehr auf eine geistige Art berührt – wenn das bei einem Zwölf- oder Dreizehnjährigen überhaupt geht! Als ich einmal mit Bill Haleys Version von »Oh When The Saints« unterm Arm nach Hause radelte, passte mich mein Bruder am Dorfweiher ab und wurde richtig sauer. Er war ziemlich auf Jazz fixiert und wir hatten einen Mordsstreit darüber, dass ich keinen Schimmer von guter Musik hätte. Ich kaufte mir Elvis sofort, als er rauskam. Seltsamerweise waren die ganzen Teds viel größere Fans von Bill Haley als von Elvis. Elvis hat Rock’n’Roll erst sexualisiert und sexy gemacht, und das war der Zeit- punkt, als mir zum ersten Mal klar wurde, dass ich ein sexuelles Wesen war. Ich habe außerdem englischen Jazz und einige amerikanische Sachen gehört, wie z. B. Gerry Mulligan, der ziemlich groovig und cool war. Die englischen Sachen wie Humphrey Lyttelton waren großartig. Humphrey spielte Saxophon, was total verpönt war – all die konserva- tiven Jazzfans haben ihn abgelehnt. + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 19

Früher Rock’n’Roll und die Geburt der Rockrebellen / 19

Hugh Cornwell (The Stranglers: Gesang und Gitarre) Was ich als erstes gehört habe? Ich glaube, es war Cliff Richard. Es war eine Zeit des Umbruchs, und diese Musiker tauchten plötzlich aus dem Nichts auf. Es gab zwar auch Rock’n’Roller in England, aber die haben mich nicht so sehr beeindruckt wie die Everly Brothers oder Buddy Holly zur gleichen Zeit. Bevor Cliff mit seinen frühen Hits auftauchte, dachte ich nicht, dass etwas an die amerikanischen Sachen heranreichen könnte. Zu dem Zeitpunkt hatte ich auch schon Chuck Berry für mich ent- deckt und versucht, seine Songs nachzuspielen. Entdeckt habe ich Chuck Berry durch meinen Bruder, der auch eine große Sammlung an Jazzplatten hatte. Er war sehr jazzbegeistert, und wenn er ausging, ver- bot er mir ausdrücklich, seine Platten anzurühren, aber ich tat es trotz- dem! Ich stieß auf Art Blakey, Mose Allison – ich hatte das große Glück, Geschwister zu haben, die mich sehr früh auf diese Musik brachten.

Lemmy (Motörhead: Bass und Gesang) In den Fünfzigern habe ich Little Richard im Cavern in Liverpool gesehen. Zu der Zeit lebte ich in Anglesey, du kannst dir also vorstellen, wie umwerfend das war. Kurz darauf wurde ich so etwas wie ein Ted.

Penny Rimbaud Auf der Public School hing ich mit ein paar Kids herum. Wir waren Lausbuben, die mit den harten Typen gegenüber vom Bur- ton’s rumlungerten, wo der Billardtisch in Brentwood war. Es gab eine ziemlich geladene Stimmung zwischen den Squaddies und den Teds, und wir waren die tuntigen Jungs von der Public School, die versuch- ten, alles durcheinander zu bringen, es war aufregend und gefährlich. Die Teds hatten etwas Spannendes an sich, sie haben mir beigebracht, dass es auch eine Welt jenseits von der meines Vaters gibt.

Charlie Harper (UK Subs: Gesang) Der frühe Rock’n’Roll war während der Kindheit meine erste Leidenschaft. Also die ganz Großen – Elvis, Jerry Lee, Chuck Berry, Bo Diddley. In den Fünfzigern gab es diese Notting- Hill-Aufstände, und einige Kids an unserer Schule wurden zu Rassisten und wollten die Musik der Schwarzen loswerden. Ich aber habe so Sachen wie Chuck Berry geliebt und habe ihre Plattensammlungen für ein paar Pennies übernommen. So kam ich zu Larry Williams und Sachen, von denen ich ansonsten nie etwas gehört hätte – Big Bopper, Jerry Lee Lewis, so ein Zeug. + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 20

20 / Die Wurzeln von Punk – 1950/69

Eine der ersten Platten, die ich mir gekauft habe, war von Cliff Richard and the Drifters, wie die Shadows damals noch hießen. Mit 15 habe ich die Schule verlassen. Ich war noch immer an Musik interes- siert. Ich wollte Künstler werden und ging nach Paris. Dort bin ich zum Montmartre gegangen, wo all die Künstler abhingen, und musste feststellen, dass alle mit Brieföffnern statt mit dem Pinsel malten. Ich war total überwältigt; allerdings war ich handwerklich völlig unbegabt. Ich schlenderte durch Paris und landete in diesem Café, wo es auch Rock’n’Roll-Platten gab. Rock’n’Roll war damals in Frankreich ein großes Ding.

Knox (The Vibrators: Gitarre und Gesang) In Watford habe ich Leute wie Gene Vincent gesehen – ihn habe ich gleich zweimal in einer dieser damals üblichen Revue-Shows mit mehreren Künstlern gesehen. Eddie Coch- rane habe ich mir angeschaut, als ich dreizehn war; er war klasse. Johnny Kidd and the Pirates waren auch famos.1 Dasselbe gilt für Cliff Richard and the Shadows – einige ihrer frühen Sachen waren richtig gut. »Move it« war großartig. Es ist schade, dass die Shadows nicht in dieser Richtung weitergemacht haben. »Apache« war auch ein klasse Song.

Glen Matlock (The Sex Pistols: Bass. Rich Kids: Bass und Gesang) Die erste Musik, die ich als Kind gehört habe, war ein Haufen Rock’n’Roll-Platten aus der Sammlung meines Onkels – Little Richard, Jerry Lee Lewis, einige raue Sachen, die schnell wieder in der Versenkung verschwunden sind, und einige Jahre später kam dann der Beat-Boom mit den Kinks, Small Faces und Yardbirds, das war dann wirklich meine Musik. Dieser über- drehte Gitarrensound, der damals durchs Radio jagte, hat mich total gepackt. Damals drehte sich schnell alles um die Small Faces, diesen ganzen Mod-Kram. Ich habe mich ein bisschen beteiligt, aber eigentlich war ich noch zu jung, um ein Mod zu sein – ich habe versucht, schätze ich, diesen Look ein wenig zu imitieren. Die Mod-Bewegung war ganz und gar ein Phänomen der Sechziger. Damals war es das große Ding. Als ich Steve und Paul kennenlernte, wurde schnell klar, dass sie aus einem ähnlichen Hintergrund kamen. Sie standen auf Bands wie die Faces und The Who. Steve, Paul und Wally habe ich 1973 kennengelernt.2 Alle, die in den Sechzigern aufwuchsen, blickten in die Zukunft. Ich warte allerdings immer noch auf meinen Rucksack mit Düsenantrieb + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 21

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und auf fliegende Autos! Damals waren alle futuristisch drauf. Alles musste möglichst modern sein. Deshalb hört sich die Musik von damals auch heute nicht so an, als wäre sie schon 25 oder 30 Jahre alt.

WHEN WE WAS FAB Beatles, Stones, Mods und mehr

Kevin Hunter (Epileptics, Flux of Pink Indians: Gitarre) Als Schüler habe ich vor allem Pop gehört. Meine Eltern hatten mich zu den Beatles mitgenom- men, aber ich kann mich daran kaum mehr erinnern. Ich bin den Leu- ten ja damals nur bis zu den Knien gegangen. Das war Anfang 1963 in den Margate Winter Gardens – kurz bevor die Band groß rauskam. Ich erinnere mich an zwei Konzerte, unter anderem eines, das am frühen Abend stattfand. Es war für Eltern mit ihren Kindern und nicht beson- ders voll. Ich mochte die Sachen, die in den Charts waren. Die erste selbst gekaufte Platte war eine Single von den Hollies. Aber eigentlich habe ich immer die härteren Sachen vorgezogen, deshalb, erinnere ich mich, bin ich auch ganz schnell zu den Kinks gekommen. Aber echt schwer zu sagen, was genau ich daran gemocht habe.

Lemmy 1964 habe ich in Manchester gelebt und mich in Stockport und Cheetham Hill herumgetrieben. Dann bin ich in die Band Rockin’ Vicars3 eingestiegen. Wir haben in der ganzen Gegend gespielt – in Oldham, in Ashton. Wir sind immer ins Twisted Wheel gegangen, sind

1 Man kann tatsächlich eine Verbindungslinie von Johnny Kidd, dem wohl ersten britischen Hardcore-Rock’n’Roller, zu Punk ziehen. Er trat als Pirat auf, inklusive Augenbinde, seine ruppige Musik war ähnlich wie die des grandiosen Vince Taylor ein Vorreiter des britischen Hardrock. Die Debüt-Single »Please Don’t Touch« von 1959 und »Shakin’ All Over« von 1960 waren zwei der besten britischen Rock’n’Roll-Platten aller Zeiten. Kidd starb 1966 durch einen Verkehrsunfall. Mick Green, Gitarrist im späteren Line-up der Pirates, war ein großer Einfluss auf Wilko Johnson (siehe Kapitel 2), der wiederum als Gitarrist eine Schlüsselfigur für die Punk- und Post-Punk-Szene war. 2 Steve Jones, Paul Cook, Wally Nightingale und Glen Matlock gründeten 1973 The Strand, die so etwas wie die Keimzelle der späteren Sex Pistols waren. 3 Die Rockin’ Vicars waren eine wilde Proto-Punk-Band aus Manchester bzw. Blackpool gegen Ende der Sechziger. Lemmy war in den letzten Jahren ihres Bestehens Mitglied. Sie sind manchmal im Priester-Outfit aufgetreten. + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 22

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dort selbst aber nie aufgetreten. Wir haben auch einmal im Cavern gespielt, das inzwischen einem riesigen Einkaufszentrum weichen musste. In Manchester war viel los, ähnlich wie in Liverpool gab es haufenweise Bands. Wir kannten die Hollies und Herman’s Hermits, und wir hingen immer in dem Gitarrenladen in der Oxford Street ab, im Barrets. Wir sind auch zusammen mit Manfred Mann aufgetreten. The Rockin’ Vicars haben immer alle übertroffen, außer einmal, als wir zusammen mit den Hollies in der Free Trade Hall gespielt haben – es würde zu weit führen, die ganze Geschichte zu erzählen, aber unser Schlagzeuger erwies sich als totaler Idiot, der die Bühne unter sich zum Einstürzen brachte und in das Loch fiel! [lacht] Er hätte daraus eigent- lich etwas lernen müssen, aber ich muss leider sagen, das hat er nicht.

Al Hillier (Punk-Fan. Mitglied der »Finchley Boys«) Wie auf die meisten Leute in den Sechzigern haben die Beatles auch auf mich einen wahnsinnigen Ein- druck gemacht. Meine Mutter hat mich wie ein religiöser Fanatiker zu »Jones Bros« auf der Holloway Road geschleift, und nach einem kurzen Eindruck über Kopfhörer ist sie zur Ladentheke gestürzt und hat alles von den Beatles gekauft. Als die Beatles-Filme herauskamen, insbesondere »Help!«, hatten sie eine fast magische Wirkung auf mich. Ihr possenhaftes Gehabe ebnete den Weg für eine ganze Reihe ausgeflippter Popkünstler und hat ohne Zweifel irrsinnig komische Bands wie die Monkees erst ermög- licht. In der Grundschule habe ich meine eigene »Band« The Tigers gegründet. Den Nervenkitzel, auf dem Spielplatz herumzutoben und von allen Mädchen verfolgt zu werden, weil ich ein »Popstar« bin, ver- spüre ich noch heute. Die Rolling Stones waren als Gegenstück zu den Beatles erfolgreich, und ich mochte sie auf Anhieb. Besonders als ich jünger war, sagte mir natürlich das aggressive Outlaw-Image der Stones mit ihren ganzen Drogenexzessen mehr zu. Die Bilder der Hell’s Angles von Altamont verfestigten diese Haltung, in meiner persönlichen Rangliste standen sie gleich neben Jimi Hendrix, den ich auch sehr mochte und der immer völlig unangepasst und cool wirkte. Wenn er im Fernsehen zu sehen war, hatte man immer den Eindruck, er schere sich einen Dreck um irgendetwas; eine Haltung, die J. J. Burnel ein paar Jahre später bis zu einem gewissen Grad wieder aufleben ließ. Für The Doors interessierte ich mich erst später, auch wenn ich in Paris bei einem Schulausflug nur ein paar hundert Meter weit von dem + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 23

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Gebäude in der Rue Beautreillis weg war, wo Jim Morrison am 3. Juli 1971 starb – im wahrsten Sinne des Wortes nur einen Steinwurf von unserem Pariser Hotel entfernt.

Penny Rimbaud Die Beatles machten Pop erst politisch. Durch John Len- non wurde mir bewusst, dass man für seine Rechte selbst sprechen kann. Bis dahin musste man einen Universitätsabschluss oder zumin- dest Philosophie studiert haben, um seine Meinung sagen zu dürfen. Immer wenn ich meine Meinung geäußert hatte, war ich dafür nieder- geschrien worden. Lennon ließ mich erkennen, dass meine Meinung genau so viel zählte wie jede andere auch.

Steve Diggle (Buzzcocks: Gitarre) Wir hatten Unmengen an Platten: »Wooden Heart« von Elvis, die ganzen Sachen von Charlie Drake, und Bernard Cribbins1! Ich bin mit den Beatles, den Stones, den frühen The Who und Bob Dylan groß geworden. Es gab in meiner Straße gegenüber ein Mädchen. Sie hatte das erste Dylan-Album. Einer meiner Freunde hatte das erste Beatles-Album, und so waren das die Sachen, die ich als erstes gehört habe. Ein paar Häuser weiter wohnte mein Cousin, der ein Ted war und die ganze Zeit Elvis und Little Richard hörte, wirklich guten Rock’n’Roll. Das psychedelische Zeug, vor allem Velvet Under- ground, habe ich erst später entdeckt, als ich 14 war. Ich war damals auch eine Art Mod. Ich erinnere mich, wie ich um 1965 im Belle Vue in Manchester Leute mit »The Who«-Schriftzügen auf ihren Parkas sah. Das hat mich begeistert und ich wollte sofort auch einen Roller. Wenn Townshend seine Gitarre zerschlagen hat, oder was die Stones und die Beatles vermittelt haben – das waren Dinge, die dir deine Eltern nicht beibringen konnten ... dass es so etwas wie eine Subkultur gab. Ich dachte immer, es wäre zu aufwändig, in einer Band zu sein. Für mich hatte es gereicht, mich in Straßengangs rumzutreiben und rund um Rusholme und in Manchester Ärger zu bekommen, und später in Ardwick, das war das Richtige für mich. Ich weiß noch, wie ich da in einer Wildlederjacke rumgelaufen bin und die Leute haben mich deswegen angemacht. Wenn man damals in einer Reihenhaus-

1 Charlie Drake und Bernard Cribbins nahmen in den Fünfzigern und Sechzigern weg- weisende Platten wie »My Boomerang Won’t Come Back« (Drake) und »Right Said Fred« (Cribbins) auf. + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 24

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siedlung auffällig gekleidet war, hatte das einem eine Menge Schwie- rigkeiten eingebracht. Aber so was härtet einen auch ab. Es war wie in »Coronation Street«1: Exakt genau so, wie im ruhigen Norden, wo sich alle Nachbarn kennen, und man schon richtigen Ärger kriegt, wenn man Fensterscheiben einwirft – das alles hat mich politisch erst aufge- weckt, mein Umfeld und die Frustrationen.

Charlie Harper Als ich von Paris nach London zurückgekommen bin, waren die Sechziger voll im Gange. Ich besuchte die ganzen Clubs, die Rolling Stones waren da gerade das große Ding. Ich habe mich sofort in sie verliebt und folgte ihnen überall hin – mein Spitzname war Charlie Stones. Ich habe Brian Jones ein wenig kennengelernt; er mochte meine Klamotten und meine Schuhe. Damals habe ich noch eher wie ein Beatnik ausgesehen. Ich trug so grüne Sandalen, die ich selbst mit Lederfarbe gefärbt hatte. Die haben ihm gefallen. Die Stones spielten unten im Ken Colyer’s 51 Club. Dort gab es jede Woche eine R’n’B-Nacht, ich glaube freitags. Sonntags spielten sie im Richmond Railway Hotel und dann in allen Jugendclubs rund um Lon- don. Ich habe sie mir angesehen, wann immer ich konnte – nicht selten dreimal die Woche. Als sie schon bekannter waren, sah ich sie im Tooting Granada, einem bestuhlten Kino. Zusammen mit einem Freund saß ich ganz in der Nähe der Bühne. Die Band kam raus und das Publikum – drei Viertel davon junge Mädchen – fing an zu schrei- en, alle sprangen auf und hüpften wild herum. Die Mädels waren so aufgeregt, dass sie über die Sitze sprangen. Mein Kumpel wurde von einer fast zerquetscht und brach sich ein Bein. Nach den Stones habe ich angefangen, mich für die Pretty Things zu begeistern. All diese Clubs hatten mindestens eine Hausband, zum Beispiel John Mayall im Marquee – das war alles ziemlich jazzorien- tiert. Ich werde nie meinen Besuch im 100 Club vergessen, wo die Kinks spielten, als sie gerade von ihrer Tour zurückgekommen waren. »You Really Got Me« war gerade in die Charts geklettert und sie waren in dem Laden damals die ganz normale Hausband. Etwa 100 von uns haben sich dorthin auf den Weg gemacht und plötzlich waren dort auch um die 300 Mädchen. Ich war damals Straßenmusiker und wollte mich im Sommer als Folkmusiker versuchen. Ich wollte mit meiner Gitarre nach Südfrank- reich oder Spanien aufbrechen und dort auf den Kreuzfahrtschiffen zwischen Frankreich und Spanien mit Musik mein Geld verdienen. Ich + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 25

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wollte nach St. Tropez, spanischen Sekt trinken für vier Groschen die Flasche. Wir haben alles nur Denkbare gespielt. Ich werde nie verges- sen, wie ich zum ersten Mal in Nizza auf der Straße spielte. Am Ende des Tages war mein Hut im Eimer, so viel Geld war da drin.

Hugh Cornwell Es war eine aufregende Zeit. Wir haben permanent neue Sachen entdeckt: Es war ein wirklich aufregender Moment, als ich zum ersten Mal »Not Fade Away« von den Stones gehört habe. Wahnsinn, war das umwerfend! Mit 15 bin ich ins Marquee gegangen und habe dort einfach alle gesehen: The Yardbirds, The Who, Steve Winwoods Band vor Traffic.2 Die Graham Bond Organisation fand ich großartig. Sie waren völlig anders, und auch sehr jazzig – ohne Gitarren, dafür sehr orgellastig, fantastisch. Ich bin dort immer alleine hingegangen und wurde Stammgast. Es lief alles sehr zivilisiert ab. Ich trank nie etwas und nahm auch keine Drogen, ich stand nur da und sah mir die Bands an. Ich hab auch nie mit jemandem geredet, ich war noch ziemlich jung. Als The Who dort spielten, trug ich einen schwarzen Rollkragenpullover und hatte mir ihr Logo aus Filz selbst gebastelt und angesteckt.

Brian James (London SS, The Damned, Tanz Der Youth, Lords Of The New Church: Gitarre) Als Kind mochte ich Sachen wie die Stones und die Yardbirds, später dann The Who, gleichzeitig hörte ich aber auch Blues – John Mayall, Peter Green. Über sie habe ich mich dann für amerikanische Musik interes- siert, großartige Musiker, und mich reingearbeitet: »Wer hat das geschrieben? Woher kommt dieses Stück?« Ich habe viele Livekonzerte gesehen. Ich war bei John Lee Hooker Ende der Sechziger im Starlight Ballroom. Er wurde von der Savoy Blues Band begleitet, die ihr Set zuerst spielten, dann kam Hooker auf die Bühne und stieg bei ihnen ein. Und B. B. King in der Albert Hall mit erstaunlicher Vorband – es dürften Peter Greens Fleetwood Mac gewe- sen sein.3

1 »Coronation Street« ist eine englische Soap-Opera, die Anfang der Sechziger ins Leben gerufen wurde und bis heute läuft. 2 The Spencer Davis Group. 3 Fleetwood Mac spielten am 22. April 1969 mit B.B. King in der Albert Hall. + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 26

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Mick Jones (London SS, The Clash, Big Audio Dynamite: Gitarre und Gesang) Als ich noch sehr jung war, war ich in den Fanclubs von den Animals und den Kinks. Ich habe ganze Samstage damit verbracht, mich in die Cheyne Walk zu stellen, wo Mick Jagger und Keith Richards wohnten. Wir standen uns ab dem frühen Abend die Beine in den Bauch und gafften durch das Zaungitter – das war vor Mick Jaggers Haus –, bis er plötzlich ans Fenster kam und irgendjemand die Fensterläden schloss. Dann stellten wir uns vor das nächste Fenster, das dann auch geschlossen wurde. Danach gingen wir zum Haus von Keith. So haben wir damals unsere Samstage verbracht, bevor wir zur Carnaby Street gegangen sind.

Knox Ich habe schon als Schüler in Bands gespielt. Als ich 14 oder 15 war, hatte ich eine Band, die sich Knox and the Nightriders nannte, eine andere hieß The Renegades – wir spielten R’n’B-Coverversionen. An der Schule machte ich einen auf Ted. Ich hatte so eine Art Haartolle. Die Beatles habe ich einmal live gesehen, die Stones mehrfach – ich habe sie im Gaumont in Watford gesehen. Damals gab es diese Tour- Pakete mit sechs oder acht Bands am Abend, und wir haben sie uns alle angeschaut – Tausende von Leuten kamen zu diesen Konzerten. Wir waren dabei, als Screaming Lord Sutch auf der Bühne aus sei- nem Sarg stieg. Und ich habe sogar Jimi Hendrix gesehen, als er oben im Londoner Manor House gespielt hat. Wir hatten uns eigentlich nicht viel davon versprochen und kamen zu spät, aber dann – mein Gott! Es war verdammt laut, er spielte Sachen wie »Hey Joe« und coverte »Like A Rolling Stone« von Bob Dylan. Mitte der Sechziger spielten wir in Jugendclubs, auf Feten, Hoch- zeiten, so ein Zeug. Ich war Sänger und Gitarrist, wir waren eine vier- köpfige Band mit einem zweiten Gitarristen. Wir waren noch kleine Jungs und haben schon all diese Auftritte bekommen. Wir haben ton- nenweise Stücke gecovert, vor allem Nummern, die damals in den Charts waren. Dann unterbrachen wir unsere Konzertserie, weil wir uns voll darauf konzentrieren wollten, Profimusiker zu werden. Da- nach bin ich zur Art School gegangen und habe neue R’n’B-Bands gegründet. Es gab so viele Gitarristen, dass ich für einige Monate ans Keyboard gewechselt bin – Keyboardspieler hat es nämlich noch nicht so viele gegeben. 1965 bin ich dann nach Bristol gezogen. Die Musik, die wir in diesen Bands gespielt haben, hat mir eigentlich nie beson- ders gut gefallen. + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 27

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Später war ich dann für ein paar Jahre in Edinburgh. Zwischenzeit- lich lebte ich vom Verkauf meiner Gemälde – ich war immer pleite, aber manchmal habe ich eins verkauft. Edinburgh war eine gute Zeit: Ich arbeitete im unabhängigen Theater, kochte dort. Dort hast du jeden getroffen. Ich lernte Michael Elphick kennen, Stephen Rea, spä- ter traf ich Robbie Coltrane, einige aus der Scaffold-Komikertruppe und Mike Radford, den Filmemacher.

Rat Scabies (London SS, The Damned, The White Cats: Schlagzeug) Ich bin in Kingston in der Nähe von London geboren. The Who bei »Top of the Pops«, die Rolling Stones und die Beatles – das waren die ersten Bands, die ich mochte. Die ersten Platten, die ich hatte, waren Dave Clark Five, Sandy Nelson und einige Jazz-Sachen.1 Im Radio lief damals viel Jazz – das waren die kommerziell erfolgreichen Sachen, Crooner oder Jazz. Es gab damals keine verschiedenen Sender wie Radio One oder Radio Two. Es war also nicht viel los. Ich kann mich erinnern, dass ich in der Zei- tung von Mods und Rockern gelesen hab. Ich weiß noch, wie ich zum hiesigen Festplatz runter gegangen bin, und dort waren hunderte Kids mit ihren Rollern. Es hat damals keinen besonderen Eindruck auf mich gemacht, ich war wohl zu jung dafür. Ich habe beobachtet, was dort vor sich ging, ohne viel zu verstehen. Ich verspürte immer eine besondere Neigung zu Schlagzeugen, es war einfach da, wie etwas Angeborenes. Das ist der Grund, wieso ich Dave Clark Five, und wieso ich Jazz mochte – es gab dort immer Schlagzeugsoli. Ich weiß noch, wie ich Eric Delaney im London Palla- dium gesehen habe, als Drummer einer Big Band, und er hatte zwei Bass-Drums, damit war er der Star des Abends – sie hatten Glühbirnen in sein Schlagzeug hineingelegt. Er war ein ganz schön innovativer Typ mit riesigen Pauken. Ich habe ihn einmal im Fernsehen gesehen, kurz darauf bekam ich dann ein Kinder-Schlagzeugset von meinen Eltern geschenkt. Das war natürlich bloß Spielzeug. Später habe ich ein rich- tiges Schlagzeug gekriegt, so in den späten Sechzigern, als ich zehn oder elf war. Zu der Zeit habe ich viel The Who gehört. Damals spielte noch Keith Moon mit, sie haben immer das komplette Equipment zerstört.

1 Sandy Nelson war ein populärer amerikanischer Rock’n’Roller in den späten Fünfzigern und Anfang der Sechziger, der Hits wie z. B. »Teen Beat« hatte. Er ist berühmt für vorwie- gend instrumentale Platten mit Schlagzeugsoli. + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 28

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Ich mochte Bands, die eine bestimmte Einstellung vermittelten, und davon gab es nicht viele. Ich mochte die Stones nicht so sehr, weil sie schräg und unsauber waren. Ich mochte auch die Beatles nicht beson- ders, die wiederum waren zu sauber und aufgeräumt. Es gab zwar noch die Kinks, aber die haben nicht so reingehauen. Ich mochte alles, wo das Schlagzeug herausstechend war.

John O’Neill (The Undertones: Gitarre) Mein erster Einfluss waren die Platten meines großen Bruders Jim. Er war drei Jahre älter als ich und ein Beatles-Sammler. »Sgt. Pepper« war das erste Album, das ich je gehört habe. Alle bei uns im Haus waren Beatles-Fans und warteten sehn- süchtig auf den zweiten Weihnachtsfeiertag, wegen des Beatles-Films. Wir verpassten ihn nie, es war das Beste an Weihnachten.

Budgie (Big In Japan, The Slits, Siouxsie and the Banshees, The Creatures: Schlagzeug) Ich bin in St. Helens aufgewachsen. Ich kann mich noch dunkel an die Pil- kingtons-Glasfabriken erinnern. Keine Gegend für allzu große Erwar- tungen ans Leben. Es war so etwas wie die Außenstelle von Liverpool. Heute findest du allerdings kaum mehr jemanden mit dem Akzent von St. Helens in der Stadt – sie sprechen inzwischen alle den Liverpooler Scouse-Akzent. Ich habe damals ganz von meinen älteren Geschwis- tern profitiert. Die hatten große Plattensammlungen und die echten Dansette-Plattenspieler. Erst kamen die Beatles, dann stand meine Schwester auf die Walker Brothers und P. J. Proby. Mein Bruder moch- te die Animals und Pretty Things. Neben den Beatles und Stones hör- ten wir auch noch eine Compilation von den Kinks. Ray Davis war ein echter Pionier!

T.V. Smith (The Adverts: Gesang) Die Beatles waren die erste Pop-Band, die mir etwas bedeutete, dann die Rolling Stones, die das genaue Gegenteil verkörperten – das war, als ich sechs war!

Gaye Advert (The Adverts: Bass) The Monkees und die Beatles waren etwas, woran ich mich förmlich klammerte, später kamen Black Sabbath und Led Zeppelin dazu. Es muss zwar noch etwas dazwischen gegeben haben, aber ich weiß nicht mehr, was. Auf Black Sabbath bin ich gesto- ßen, weil einige meiner früheren Freunde deren Album hatten und es großartig fanden. Danach kamen Frank Zappa, Captain Beefheart und alles, was in diese Richtung ging, und Alice Cooper. Schließlich die + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 29

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New York Dolls – und Iggy. Zu dem Zeitpunkt war ich auf der Art School – mein Freund Nick hatte das alles. Ich hielt es für fantastisch und maß alles, was danach kam, daran. In Torquay gab es einen Plattenladen, wo man diese Alben bekom- men konnte. Da ich in Bideford in Devon lebte, bestellte ich über den Virgin-Mailorder, der super war, weil man Sachen schon vor Veröffent- lichungstermin bestellen konnte. Allerdings haben sie oft die falschen Platten oder mehr als eine geschickt. Ich hab dreimal Pink Floyds »Ummagumma«! Einmal hab ich Cans »Monster Magnet« bestellt, aber stattdessen haben sie mir den »Midnight Cowboy«-Soundtrack geschickt! Aber es war aufregend, diese Platten in der tiefsten Provinz hören zu können. Es gab dort nur vier oder fünf, die sich dafür begeis- terten. Aber natürlich war es unmöglich, eine dieser Bands live zu sehen. Ich hab nur die Dolls gesehen – und das war letztes Jahr auf dem Reading Festival!

Wilko Johnson (Dr. Feelgood, Ian Dury and the Blockheads: Gitarre) Ich hatte von Musik keine große Ahnung. Die Rolling Stones, glaube ich, habe ich gehört, als sie angesagt waren, und als ich 16 war, habe ich die Beatles live gesehen. Aber die Stones haben mich dem amerikanischen Rhythm ‘n’Blues nahe gebracht – erst dadurch bin ich in die Musik eingestie- gen. Dadurch bekam ich Lust, Gitarre zu spielen. Ich rede von dem R’n’B der Sechziger, also vom Stax- und Chess-Label und von der Blues- Szene in Chicago. Ich habe nie versucht, Blues zu spielen. Alle waren damals in einer Band und haben R’n’B-Songs nach ein- und demsel- ben Schema gespielt. Mitte der Sechziger spielte ich in der Schule in einer Band, und als ich 1967 zur Universität ging, habe ich meine Gitarre mitgenommen. Aber dort gab es niemanden, mit dem ich hätte spielen können, also ist sie unter meinem Bett liegen geblieben. Ich habe das Musizieren völlig aus den Augen verloren und meine Zeit drei Jahre lang mit Studieren und Reisen verbracht.

Siouxsie Sioux (Siouxsie and the Banshees, The Creatures: Gesang) Von Bildern irri- tiert zu werden, war für mich immer faszinierender, als einen Doris- Day-Film anzusehen. Meine Mutter hat mich förmlich gezwungen, Elvis- und Doris-Day-Filme anzusehen, aber ich hab ihnen nie eine besondere Bedeutung beigemessen. Die verrückte Königin in »Schnee- wittchen« hat mich immer wesentlich mehr beeindruckt. Wenn sie im + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 30

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Sturm als Hexe auftrat, das gefiel mir. Zur selben Zeit mochte ich auch Busby Berkeley und »42nd Street« sehr.1 Ich mag das Spiel mit Wider- sprüchen; wenn etwas zu ausgewogen und zu glatt ist, kann ich damit nicht viel anfangen. Das ist der Grund, warum ich mich für viele ver- schiedene Stile begeistern kann – für die Zwanziger zum Beispiel ge- nauso wie für die frühe Op-Art von Bridget Riley.2 Meine negative Weltsicht wurde durch die Vororte geprägt, London hingegen hat immer eine gewisse Anziehungskraft auf mich ausgeübt. Als meine Schwester mich einmal zu »Biba« in der Kensington High Street mitgenommen hat, habe ich mir dort einen Mantel gekauft. Ich mochte den Laden so sehr, dass ich später auch alleine dorthin bin. Die Vororte waren ein guter Maßstab, um zu erkennen, wie wenig man dazugehörte. Wir lebten in einer typischen Wohngegend, eingezäunt von Nachbarn, und unser Haus war das Einzige, das anders war. Erst einmal war es das einzige, das nicht aus roten Backsteinen gebaut war, es war weiß verputzt und hatte ein Flachdach, und außen herum stan- den Bäume. Alle anderen hatten Terrassen und einen sauber zurecht- gestutzten Rasen. Wir hatten vorne mächtige Rotbuchen und dazu eine riesige Ligusterhecke. Man konnte von außen unmöglich unser Haus einsehen! Alle anderen haben einen förmlich dazu eingeladen, hinter die sauber-adretten Vorhänge zu schauen – dort, wo das Leben in sei- ner reinsten Normalität vorgeführt wurde. Was zwar hinter verschlos- senen Türen bestimmt nicht so war, aber das war zumindest der Ein- druck, den man davon hatte. Für unsere Familie gab es keinen Grund, sich als Teil der Gemeinde zu verstehen. Mir war immer klar, dass wir anders waren. Mein Vater hatte ein Alkoholproblem, was dieses Gefühl noch verstärkte. Man kann sagen, dass unsere frühen Aufnahmen, zumindest die ersten bei- den Alben, von dieser kleinstädtischen Lebensweise geprägt waren – einfach von den Verhältnissen, in denen ich aufwuchs. Die Musik war das Einzige, was mir das Ganze erträglicher machte. Wenn ich Musik laufen hatte, konnte ich Streitereien und Probleme vergessen. Sie sorgte für Harmonie, Freude und Spaß in der Familie. Meine erste intime Beziehung mit einer Platte war »Johnny Remember Me« von John Leyton – mittlerweile habe ich herausgefunden, dass sie von Joe Meek produziert wurde, der ein richtiges Unikat war.3 Es gab darauf diesen tollen, fast geisterhaften Chorgesang, eine wunderbare Melodie, und außerdem ging es um seine tote Freundin. Ich war wie besessen davon. Ich war gerade erst drei oder vier, als das Album 1961 + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 31

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herauskam, und ich brauchte immer jemanden, der es für mich auf den Plattenteller legte. Als ich älter wurde, hörte ich viel Tamla Motown und viel R’n’B, besonders Aretha Franklin und die Temptations. Dann kamen irgend- wann natürlich die Beatles und die Stones. Ich war total begeistert vom »White Album«. Ich mochte auch die frühen, poppigen Beatles – »Love Me Do« zum Beispiel –, aber das »White Album« bedeutete mir wirklich viel. Popmusik war für mich Realitätsflucht, ich war nie besonders wissbegierig aufs richtige Leben. Ich hatte nie die Ambition, ausgebildete Musikerin oder Sängerin zu werden. Ich wollte einfach nur einen Traum ausleben; das war die gleiche Faszination, die das Kino auf mich ausübte. Hitchcock war meine andere Obsession – besonders »Psycho« und dessen Soundtrack. Ich war begeistert von der unaussprechlichen Spannung – Joe Meek setzte das Studio auf eine ähnliche Art und Weise ein: wie ein Labor, in dem mit Klängen experi- mentiert wurde. Diese Versuche, eine Atmosphäre zu erzeugen, wie Töne nachhallten und welche Wirkung Klänge hatten – das war mir immer sehr wichtig.

Steve Severin (Siouxsie and the Banshees: Bass) Also zuerst waren da die Beatles. Die erste Popmusik, an die ich mich erinnern kann, war die »Twist And Shout«-EP, die mir meine Eltern gekauft hatten. Danach habe ich die Stones entdeckt und ab diesem Moment waren alle Schleusen offen! Von da an wurde Musik zu meiner Leidenschaft. Ich eignete mir enzyklopädisches Wissen an. Ich wurde zum absoluten Nerd! Ich wusste, wer auf welcher Platte Bass spielte, wer Schlagzeug und in wel- chem Studio sie aufgenommen wurde! »Disraeli Gears« von Cream war die erste Platte, die ich mir gekauft habe. Ich erinnere mich noch, wie das »White Album« von den Beatles rauskam und wir alle in der Schule drauf abgefahren sind. Das war ein riesiges Ereignis! Neben

1 Berkeley war ein berühmter Hollywood-Choreograf in den Dreißigern, der für Filme wie »42nd Street« (1933) oder »Gold Diggers of 1935« (1935) spektakuläre und häufig auch surreale Fantasie-Tanz-Sequenzen entworfen hatte. 2 Britische Künstlerin, die in den Sechzigern als Aushängeschild der Op-Art (eigentlich: Optical Art) bekannt wurde. Ihre ausdrucksstarken, abstrakten Gemälde spielen stark mit optischen Täuschungen und sorgen für ein psychedelisches Flirren vor den Augen. 3 Joe Meek war ein Genie in der britischen Pop-Landschaft, der in seinem Schlafzimmer in Islington, London, faszinierende Klanglandschaften produzierte. Außerdem war er Erfinder von so bedeutendem Studio-Equipment wie Kompressoren. Seine berühmteste Produktion war »Telstar« von den Tornados. Er beging 1967 Selbstmord. + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 32

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schmalzigen Balladen und den alten Croonern kamen dadurch plötz- lich auch abgefahrene Sachen in die Charts – die ganze Popwelt wurde spannender.

Noel Martin (Menace: Schlagzeug) Als Teenager habe ich die Beatles und die Stones gehört. Meine erste Platte war »Abbey Road«. Ich kann mich noch gut dran erinnern, wie ich mit den Kopfhörern auf den Ohren zu Hause gesessen und verdutzt die ganzen Klänge verfolgt habe, die von der einen Seite zur anderen gewandert sind. Die Musik war mir gar nicht mal das Wichtigste, ich interessierte mich vor allem für die Pro- duktion. Wie haben sie das nur gemacht? Danach wurde ich zu einem dieser Deep-Purple-Typen. Es ging also um dieses ganze Musiker-Ding – wie gut Ian Paice am Schlagzeug war –, dann interessierten mich Thin Lizzy wegen ihrer ganzen Bezüge zu Irland ... und schließlich kam Punk.

ROOTS RADICALS Dreadlocks treffen auf Punk-Rock

Neville Staple (The Specials, Fun Boy Three: Gesang) Was ich als erstes gehört habe, war Reggae, Ska und Bluebeat – Prince Buster, I Roy, Duke Reid, diese ganzen Sachen halt. Ich kam 1960 von Jamaika nach England, wuchs in Rugby auf und zog dann nach Coventry. Ich habe in Man- chester gelebt, in London, in Sheffield, in Huddersfield, eigentlich überall.

Don Letts (Filmemacher, DJ im Roxy; Big Audio Dynamite: Effekte und Gesang) Ich gehörte der ersten Generation der »British Black« an! Toots and the Maytalls, Bluebeat und Ska habe ich gehört, das ganze Zeug, das ich von meinem Vater kannte. Über die Freunde, mit denen ich abhing, wurde ich zum großen Beatles-Fan. Die erste selbst gekaufte Single war »Penny Lane« und das erste Album war von Marvin Gaye. Ich wurde zum absolut närrischen Beatles-Fan – im negativen Sinne. Ich hatte eine riesige Sammlung aus Perücken, Tassen, Postern. Es gab eine Zeit, da war ich der zweitgrößte Sammler von Beatles-Fanartikeln in ganz England! Erst mit Punk-Rock + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 33

Dreadlocks treffen auf Punk-Rock / 33

wurde mir bewusst, was sich da für ein Scheiß bei mir angesammelt hatte. In der Oberstufe war ich drei Jahre lang der einzige Schwarze meines Jahrgangs. Ich begann abzutauchen, mich in diese ganze weiße Kultur einzugraben: »My People Were Fair« von Tyrannosaurus Rex – nette Sache. »Disraeli Gears« von Cream, King Crimson, Captain Beefheart – alles coole Musik.1 Bis dann Glam auftauchte. Das gesellschaftliche Klima war eigentlich gut, bis Enoch 1968 seine »Rivers of Blood«-Rede gehalten hat – ganz egal, was mir bis dahin meine Mitschüler nachgerufen hatten, es war frei von jedem rassisti- schen Hintergrund.2 Nachdem er diese Rede gehalten hatte, war ich plötzlich der »schwarze Bastard«. Es kam zu einem Bruch innerhalb der Gesellschaft – aus harmloser Neckerei wurde offene Diskriminierung. Als Kind war ich ein dicker Schwarzer mit Brille, konnte allerdings mit meinen Mitmenschen gut umgehen – was dich nicht umbringt, macht dich nur stärker. Als sich die Lage dann verschärfte, begannen wir uns für die Bürgerrechtsbewegung in den USA zu interessieren. Die ersten Angela-Davis-Buttons tauchten auf.3 Aus dieser Richtung erhielt ich mein politisches Bewusstsein, zusammen mit dem, was aus Jamai- ka kam – kurz darauf erschien Bob Marley auf der Bildfläche und all das schien sich zu einer Bewegung zu fügen.

Glen Matlock In Kensal Green, wo ich aufgewachsen bin, lebten viele karibische Einwanderer. An heißen Tagen hatten sie ihre Fenster offen und Bluebeat dröhnte aus allen Wohnungen. Mir war also schon früh bewusst, dass es auch noch andere Arten von Musik gab. Mit einem Musiker von den Skatalites habe ich auf der Straße Fußball gespielt. Meine Herangehensweise an Musik war immer schon sehr unortho- dox. Als ich älter wurde, interessierten mich Sachen wie Tamla Motown,

1 Captain Beefheart, die Band um den exzentrischen Sänger Don Van Vliet, brachten Rock und Blues auf eine ziemlich schräge Weise zusammen, die sich wie ein Zusammenprall von Howling Wolf und John Coltrane anhörte. Sie veröffentlichten eine Reihe großartiger Alben, darunter das zum Klassiker gewordene »Trout Mask Replica«. 2 John Enoch Powell gehörte zum rechten Flügel der British Conservative Party. In seiner am 20. April 1968 (Hitlers Geburtstag) gehaltenen Rede warnte er in Anlehnung an Vergil, dass »Ströme von Blut« fließen würden, wenn Großbritannien seine Grenzen nicht für Einwanderer schließe. 3 Angela Davis war eine radikale afroamerikanische Aktivistin und Mitglied der Black Panther Party. Sie setzte sich vor allem für die Gleichheit der Hautfarben und Geschlechter ein. + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 34

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aber auch die Faces, die ich seit ihren Small-Faces-Tagen mochte, und Mott the Hoople. Ich habe schon als kleiner Junge das Reading Festival besucht und mir Sachen wie die Spencer Davis Group, Alex Harvey Band und Status Quo angesehen, also nicht diesen ganzen Clodagh- Rogers-Kram.1

Garry Bushell (Journalist. The Gonads: Gesang) Als Kind hab ich hauptsächlich T. Rex, Ska, Desmond Dekker und Skinhead Reggae gehört. Ich war zu jung, um ein Skinhead zu sein, ich war eher so was wie ein Suedehead.2 Das Meiste, was ich gehört habe, war Musik von Schwarzen. Schließ- lich habe ich Black Sabbath bei »Top of the Pops« mit »Paranoid« und Deep Purple mit »Black Night« gesehen. Das war mir neu, so etwas hatte ich noch nie gehört, aber es war toll und ich begann mich für Rock zu begeistern – Thin Lizzy und so.

Budgie Ich hatte meine Reggae-Phase, was etwas eigenartig war, denn alle anderen standen auf Tamla Motown und fuhren eine Lambretta, aber ich war dazu noch zu jung. Ich war in meiner eigenen Moon- stomp-Welt – den »Reggae Chartbusters«.3 Und ich mochte die Up- setters. Ich liebte solche Sachen mit Saxophon und Bläser-Arrange- ments. Dann bin ich in das Universum von Led Zeppelin und Heavy Metal eingetaucht und habe mir die Haare wachsen lassen. Ich begann, mich immer mehr von den anderen abzukapseln und war kurz davor abzu- drehen, mit Drogen anzufangen oder irgendwas in der Art.

Don Letts Die Leute geben heute viel auf die Verbindung von Punk und Reggae und sagen: »Das ist eine abgefahrene Mischung«. Aber mal ehrlich, schon die Mods hatten Bluebeat gehört und Reggae spielte bereits für die erste Skinhead-Generation eine wichtige Rolle, als alles noch eine Mode war, nichts Faschistisches. Die ganzen weißen Arbei- terklasse-Kids identifizierten sich mit der Musik aus Jamaika, die auf Trojan rauskam. Sie mochten es, schätze ich, weil es weit und breit die einzig rebellische Musik war. Sie war total gegen das Establishment gerichtet. Die bissigen Songtexte und die Affinität zu Style, Sta-Prest- Jeans, Filzhüten, Angorastoffen – all das waren Dinge, auf die Jugend- liche natürlich abfahren. Ich war ein schwarzer Skinhead. Ich trug meinen schwarzen Crombie, mein gefaltetes Taschentuch, mein Prince- of-Wales-Stoffmuster, meine Brogues und Loafer,4 meine Sta-Prest- + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 35

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Jeans von Levi’s und meine Ben-Sherman-Klamotten. Ich war voll mit dabei. Und wenn du dir um 1970 nichts von Ben Sherman leisten konntest, dann hast du Brutus getragen.

Al Hillier Gegen Ende der Sechziger auf der Gesamtschule habe ich mich sofort von der Skinhead-Kultur angezogen gefühlt. So um 1970/71 hörte ich Sachen wie Dave Barker oder Ansel Collins’ »Monkey Spanner«, und die typischen Skinhead-Hits auf Trojan Records, die auf den »Tighten Up«-Compilations vertreten sind – »Liquidator«, »Eliza- bethan Reggae« oder »Return Of The Django« –, und weitere groß- artige Reggae-Klassiker, die mich total beeindruckt haben. An einem Sonntag bin ich in den Phonograph Club hineingekommen, einen Skinhead-Laden in einem Keller gegenüber der Golders Green Station in London. Der Trick war, dass meine älteren Kumpels auf der steilen Treppe Chaos gestiftet haben, sodass ich im Durcheinander an den Türstehern vorbeigekommen bin. Reggae wurde auf die Erde gebracht, um dazu zu tanzen. Ich halte jeden für einen Lügner, der mir erzählt, dass er ruhig sitzen bleiben kann, wenn »Al Capone« von Prince Buster gespielt wird.5 Besonders dieser Song verursacht bei mir heute noch eine Gänsehaut, und meine ganze Begeisterung für die Skinhead-Sache gründet sich auf dieses ein- zige, brillante Stück Musik. Aber es hat auch sonst gut zu mir gepasst: ich mochte die Kleidung und die ganze Einstellung der Skins – was

1 Clodagh Rogers war ein erfolgreicher britischer Popsänger in den Sechzigern und Sieb- zigern. Bekannt wurde er vor allem durch »Jack In The Box«, Großbritanniens Beitrag zum Eurovision Song Contest 1971. 2 Suedeheads verstanden sich ebenso wie Skinheads als eine Subkultur, deren musikalische Vorlieben Ska, Rocksteady und Reggae bzw. ab den Achtzigern auch Oi! waren, die sich jedoch – daher der Name – nicht über die kurzen Haare oder die Glatze definierten, sondern durch ein schickeres Auftreten und längere Haare. 3 »The Reggae Chartbusters« hieß eine Reihe von LP-Samplern auf Trojan Records, die auf Ska, Rocksteady und Dub spezialisiert waren. Trojan ist das beste Label dieses Genres und kann auf ein riesiges Backprogramm an Musik aus Jamaika zurückblicken. Das Label wurde 1968 gegründet, benannt nach den Lastwagen von Leyland Motors, mit denen in Jamaika die riesigen Sound Systems transportiert wurden. Auf deren Anhänger war zu lesen: »Duke Reid – The Trojan King of Sound«. The Upsetters waren die Studioband von Lee »Scratch« Perry. Perry war die innovative Kraft des Reggae und der Erfinder dessen, was später Dub genannt wurde. 4 Brogues sind elegante Schuhe mit Lochverzierungen an der Spitze, Loafer Schlüpfhalb- schuhe mit Absatz, die von Männern und Frauen getragen werden können. 5 Prince Buster war eine der ersten Größen der jamaikanischen Szene. Die komplette Reihe herausragender Platten auf dem Bluebeat-Label beeinflusste eine ganze Generation nach- folgender Musiker. + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 36

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überraschenderweise von meinen Eltern völlig akzeptiert wurde. Un- sere Eltern bevorzugten das saubere, adrette Auftreten und die ordent- lichen kurzen Haare gegenüber den langhaarigen, stinkenden Hippies, die Drogen rauchten und Kaftans trugen. So gesehen hätten sie mir wahrscheinlich sogar einen Mord verziehen. Ich habe meine Skinhead-Attitüde niemals abgelegt. Bis zur Geburts- stunde von Punk habe ich ausweglos nach etwas gesucht, das diese völ- lig mittelmäßige und todlangweilige Zeitspanne der Musikgeschichte ablösen würde – ich halte diese Zeit musikalisch immer noch für eine der ödesten und nichtssagendsten überhaupt.

Segs (bürgerlicher Name: Vince Segs. The Ruts: Bass) Reggae war meine erste Liebe. Meine Schwester war fünf Jahre älter als ich. Sie war ein weiblicher Skinhead und brachte mir Mitte der Sechziger, als ich zehn Jahre alt war, Sachen wie Prince Buster nahe. Ich mochte »Al Capone«, »Ten Commandments« – super Songs! Den »Tighten Up Volume 2«-Sam- pler. Jede Menge Motown. Ich bin mit Radio Luxemburg und The Who aufgewachsen. Ich mochte diese ganzen Drei-Minuten-Singles. Ich bin unter Skinheads aufgewachsen, aber ich hasste das Gewalt- tätige daran. Beim Fußball stand ich meistens ganz hinten, um den Schlägereien aus dem Weg zu gehen. Ich bin immer weggerannt – das war nichts für mich. Ich ging in Clubs, hörte mehr und mehr Musik, Stücke wie »Liqui- dator«, das inzwischen zur Fußballhymne geworden ist.1 In der Schule hörten sich alle diese verkopfte Musik an, so Sachen wie Deep Purple, während ich immer noch auf Ska stand. Dann habe ich allerdings angefangen, Dope zu rauchen und fand Deep Purple plötzlich auch gut – ich machte einen Crashkurs in Sachen Rock. Das war allerdings alles etwas öde. Ich hatte lange Haare, hing bei Freunden rum und kiffte. Cool, dachte ich, Haschkekse essen und diesen Rock-Kram hören.

Adrian Sherwood (Produzent) Meine Familie stammt aus dem Norden. Ich bin ziemlich oft umgezogen, von Slough bis High Wycombe. Als ich jung war, habe ich mich wahnsinnig für Soul interessiert. Aber zur sel- ben Zeit bin ich auch schon auf Reggae und Ska gestoßen – vor allem auf die exzentrischen Sachen, so abgedrehte Stücke wie »Wear You To The Ball« von U Roy.2 Als ich in den schwarzen Clubs der Nachbar- schaft mit Reggae in Berührung kam, war ich sofort Feuer und Flam- me. Einer meiner Kumpels war Veranstalter in einem Reggae Club und + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 37

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außerdem kannte ich Ron Watts, der den Nag’s-Head-Club in High Wycombe leitete. Dann begann ich für die Plattenfirma Carib Gems zu arbeiten und wurde zu deren zweitem Geschäftsführer. Ich mochte Roots Music, da war Carib Gems genau richtig, sie brachten so großartige Songs raus wie »Observe Life« von Michael Rose, »Babylon Won’t Sleep Tonight« und »Sleepers« von Wayne Jarrett and the Righteous Flames. Jede Menge starke Sachen.

Colin Newman (Wire: Gesang) Ich bin in den Sechzigern aufgewachsen. Ich und mein Kumpel Declan sind allen Trends nachgejagt. Wir haben jede Woche den NME gelesen, und ganz egal, wer dort auf dem Cover war – wir folgten ihm blind. Ich habe alle Moden mitgemacht – du kannst irgendeinen Namen nennen, ich war sicher mal Fan davon. Der Reggae auf Trojan hat mich genauso interessiert wie Prog-Rock. Das erste Genesis-Album war Schrott, aber ihr zweites oder drittes war gut, gleichzeitig liebte ich die Upsetters und alles, was es dazwischen noch gab, von Neil Young bis zu Traffic und Stevie Wonder. Alles Neue war irgendwie gut, ich stürzte mich drauf, weil ich von Musik völlig besessen war. Ich hatte überhaupt keinen musikalischen Hintergrund. Meine Eltern waren Banausen. Niemand hat mich in Jazz oder so etwas eingeführt. Ich habe mir alles selbst angeeignet.

PUNK FLOYD Psychedelia, die späten Sechziger und lange Haare

Hugh Cornwell Im sogenannten Sommer der Liebe arbeitete ich in einer Pflanzenzucht – es war der letzte Sommer, bevor ich an die Universität ging, und als ich noch zu Hause wohnte. Ich hatte keine Ahnung, wovon da geredet wurde. Ich war wahrscheinlich noch zu jung, um zu begreifen, was los war.

1 Ende 1969 ein Top-Ten-Hit für die Harry J All Stars. 2 U Roy war der DJ von King Tubby. Neben Scratch Perry gilt der spätere King Tubby als Erfinder des Dub. + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 38

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Charlie Harper Die Sache mit den Hippies ging los, als ich gerade in Süd- frankreich war. Dort war ich vor allem mit Musikern zusammen, die anfingen, Stücke von Dylan und Donovan zu spielen. Ich erinnere mich daran, Paul Simon live gesehen zu haben. Das war im Scotch House mitten in Soho, im Pub eines Folk-Clubs. Ich habe mich stark mit der Folk-Szene beschäftigt. Dann war ich in Stockholm, wo es eine großartige Szene gab, überall spielten die Leute ihre Fiedel, waren ihrer Zeit weit voraus – es klang wie die Pogues. Außerdem war ich auf dem Isle-of-Wight-Festival, habe dort The Who und Jimi Hendrix gesehen. Um drei Uhr morgens, als Joan Baez gerade auf die Bühne kam, bin ich mit dem Bus zurück nach London gefahren.1

Brian James Die Hippie-Bewegung kam ganz plötzlich. Ich war davon kein großer Fan! Die einzige britische Band, die ich mochte, waren die Pink Fairies, die noch etwas mehr dem Rock’n’Roll verhaftet waren. Sie trugen Lederjacken, ihnen war alles scheißegal. Sie hätten auch die Zäune beim Isle-of-Wight-Festival eingerissen, um umsonst reinzu- kommen. Ich war dort und habe das Festival verlassen, als ich hörte, dass die Fairies ihr Konzert in einem Alternativzelt spielten, das sich am anderen Ende des Geländes befand. Ich war da, um die Faries und Hawkwind zu hören, die Notting-Hill-Szene.

Mick Jones In London war so viel los. Man hatte das Gefühl, im Zentrum der Bewegung zu stehen. Für uns war das alles total exotisch. Wir wa- ren Kids, sahen die Stones und versuchten ein wenig, ihren Kleidungs- stil zu imitieren, trugen gebatikte T-Shirts und Halstücher in komi- schen Farben. Ich bin schon früh alleine durch London gezogen. Mit sechs oder sieben habe ich angefangen, ins Kino zu gehen. Ich kaufte mir einen Red Rover und erkundete alle Ecken der Stadt.2 Im Gegensatz zu vielen meiner Freunde hatte ich keine so strengen Eltern, die ständig auf mich aufpassten. Als ich zwölf war, ging ich auf meine ersten Konzerte. Zuerst die kostenlosen Veranstaltungen im Hyde Park: The Nice und die Pretty Things waren die ersten, die ich dort gesehen habe. Und noch ein paar weitere, bis die Stones dort spielten.3 Ich besuchte alle möglichen Ecken der Stadt, um mir Bands anzuschauen – das war das Wichtigste für mich. + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 39

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Captain Sensible (The Damned: Bass und Gitarre. Solo: Gesang) Ich bin in der Costa del Croydon aufgewachsen und ich wollte immer ein Biker sein. Ich hielt die Stimme von Steve Marriott für großartig, aber das Problem, das ich meine ganze Schulzeit über mit den Small Faces hatte, war, dass ich immer eine Lederjacke mit buntem Aufdruck auf dem Rücken und ein Motorrad haben wollte. Obwohl ich also die Musik von The Who und den Small Faces mochte, musste ich gegenüber den anderen Möchtegern-Bikern, mit denen ich befreundet war, so tun, als würde ich auf Eddie Cochrane und so stehen. Ich war eher ein Mitläufer, bis ich zum ersten Mal »See Emily Play« hörte.4 Eines Tages auf dem Schulweg hörte ich Tony Blackburn im Morgenprogramm – ich hatte so ein kleines, tragbares Transistorradio. Ich war spät dran und hatte das Radio fest an mein Ohr gepresst, und dann kam dieser unglaubliche Song, mit seinen psychedelischen Ele- menten, der wunderschönen Melodie und diesem aberwitzigen briti- schen Gestus! Ich setzte mich auf irgendeine Gartenmauer, scherte mich überhaupt nicht darum, dass ich zu spät kommen würde und nachsitzen müsste, ich war nur noch hingerissen von dem Sound. Er hatte eine irre, tief greifende Wirkung auf mich und veränderte mein Leben für immer. Von da an wusste ich, dass das Herumquälen mit Mathe und technischen Zeichnungen nichts für mich war. Ich kam nach Hause und bekniete meine Eltern, mir eine Gitarre zu kaufen. Es ist eine Schande, was aus Pink Floyd geworden ist. Ich traue mich fast gar nicht zuzugeben, dass ich sie mochte; und auch immer noch mag, denn mit Syd Barrett war es einfach eine völlig andere Band als später. Ich meine das nicht abwertend gegenüber Bankangestellten – irgendwann werde ich auch einmal mit einem zu tun haben –, aber

1 Das Isle-of-Wight-Festival 1970 war eines der größten Festivals in Großbritannien. Das Festival ging in die Geschichte ein, weil französische Anarchisten versuchten, den Zaun des Festivals niederzureißen, um damit gegen die Eintrittspreise zu protestieren. 2 Red Rover hießen die damaligen Bustickets in London. 3 Die kostenlosen Festivals im Hyde Park fanden zwischen 1968 und 1971 statt. Auf der ersten Veranstaltung am 29. Juni 1968 spielten Pink Floyd und Tyrannosaurus Rex; The Nice und The Pretty Things vier Wochen später auf der zweiten Veranstaltung, die Stones auf der sechsten am 5. Juli 1969. 4 Ein früher psychedelischer Pink-Floyd-Klassiker von 1967, als der visionäre Songwriter und Gitarrist Syd Barrett noch Frontmann der Band war. Ihr erstes Album und mehr noch ihre frühen Singles sind von seinem versponnenen Genie geprägt, ebenso aber auch von seinem starken LSD-Konsum. Dieses Niveau haben sie nie wieder erreicht. Syd Barrett verließ die Band 1968, veröffentlichte Anfang der Siebziger zwei Soloalben und starb am 7. Juli 2006 in völliger Zurückgezogenheit nach langer Krankheit in seinem Heimatort in Cambridge. + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 40

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es ist Bankangestellten-Rock geworden. Syd Barrett dagegen hat nie wie ein Bankangestellter ausgesehen! Wenn du mit Syd Tee trinken könn- test, es würde dein Leben verändern!

Mick Jones Ich ging los, um mir alle erdenklichen Bands anzusehen. Damals war ich noch nicht besonders wählerisch. Hauptsache, eine Band spielte. Wir sind immer ins Roundhouse gegangen, zu dieser Großveranstaltung namens Implosion, die jeden Sonntag stattfand – Hawkwind, jede Menge Underground-Bands waren da. Das war 1970. Und wir sind ins Marquee, um Bands wie Blodwyn Pig zu hören. Es war fabelhaft. Ich erinnere mich sogar noch daran, wie laut das war. Am nächsten Morgen bin ich zur Schule und hatte immer noch ein Pfeifen im Ohr. Ich konnte nichts mehr hören. Heute bin ich fast taub! Ich schätze mal, dass ich damals ganz schön hip war, auch wenn ich mich gar nicht so gesehen habe. Ein befreundeter Junge namens Nick Laird-Clowes gründete später die Band Dream Academy. Er war der kleine Freund von dem berühmten DJ Jeff Dexter. Wir trafen uns damals öfters im Roundhouse, weil Jeff Dexter dort auflegte. Andy Dunkley war der andere DJ. Sie spielten vor allem Underground und Import-Platten aus den USA. In London gab es nur ganz wenige Läden – sie befanden sich in der Berwick Street –, wo du US-Importe kaufen konntest. Ich hatte damals richtig lange Haare, in der Schule haben sie mich deswegen sogar angemacht: »Lass dir die Haare schneiden!« Sie wuch- sen einfach und wuchsen ... in dem Alter ist dir das völlig egal. Ich wurde lange Zeit »Little Mick« genannt, weil ich fast nur mit Älteren rumhing, die sich stets darüber wunderten, was der Kleine bei ihnen suchte. Ich war der totale Hippie. Lange Haare, und völlig idiotisch getanzt habe ich auch! Eine tolle Zeit!

Tony James (London SS, Chelsea, Generation X, Sigue Sigue Sputnik: Bass) Ich muss ziemlich bescheuert gewesen sein, als ich mit 17 in einer Band spielte, die nur Stücke des Mahavishnu Orchestra coverte!1 Plötzlich sah ich mich einen 13/8-Takt spielen. Der wichtigste Einfluss für mich zu die- sem Zeitpunkt war John Peel. In seiner Sendung hörte ich East of Eden, Family, Blodwyn Pig, die ganzen klassischen englischen Underground- Bands dieser Zeit. Mick Jones wurde von denselben Sachen beeinflusst, er kennt diese Bands auch alle. Wenn ich sage: »Was hältst du von + punkrock inhalt 2.aufl. 20.12.2007 12:12 Uhr Seite 41

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Blodwyn Pig«, wird er sagen: »Die sind super! Jack Lancaster mit zwei Saxophonen gleichzeitig.« Wir sind beide von derselben Ära geprägt.2 Ich entdeckte Led Zeppelin und die Stones. Frank Zappas »Hot Rats« war eine der ersten Platten, die ich mir je gekauft habe. Das war in den späten Sechzigern, da war ich ungefähr 16. Die ersten Bands, die ich live gesehen habe, waren Deep Purple und Taste auf Eel Pie Island – es hat mich völlig umgehauen. Es war eine Offenbarung, ein Moment, wo man dasteht und sich denkt: »Ich will da oben stehen, nicht hier unten in der Menge.« Es ist, als sähe man sein Schicksal. Spielen gelernt habe ich auf einer Ukulele, weil es das einzige Saiten- instrument im Haus war, das ich finden konnte. Später hatte ich eine billige gebrauchte Akustikgitarre mit nur vier Saiten – ich wollte ja schließlich der Bassist sein –, und sofort hatten wir eine Band in der Schule.

Captain Sensible Ich glaube, dass alles, was einen als Kind prägt, einen für immer begleitet. Ich für meinen Teil wurde von The Move, The Kinks, The Who und The Small Faces verdorben.3 Auf gewisse Weise war es zwar Popmusik, aber sie haben ihre Stücke selbst geschrieben, sie waren anzüglich und sie konnten ordentlich live spielen. Und sie waren keine braven Jungs – die meisten waren ausgeflippte Irre. Heut- zutage, wo alles von Casting-Shows und Plattenfirmen dominiert wird, fragt man sich, wo noch Platz für so etwas wäre. Heute würden wir niemals so etwas wie The Crazy World of Arthur Brown zu hören bekommen! Niemand würde mit in Flammen stehenden Haaren sin- gen: »I am the god of hellfire!« Das ist schade für alle jungen Musik- liebhaber, es läuft einfach nicht so, wie es sollte. Hitler hat seine politische Karriere nur begonnen, weil er als Maler keinen Erfolg hatte. »Ich bin ein Genie. Nein? Fickt euch, ich werde es euch beweisen ...« Das passiert, wenn Spinner sich nicht verwirklichen können.

1 Das Mahavishnu Orchestra war eine Impro-Jazz-Rockband der frühen Siebziger, die von dem innovativen Fusion-Gitarristen John McLaughlin geleitet wurde. 2 Blodwyn Pig wurde im November 1968 von Mick Abrahams gegründet, nachdem er Jethro Tull verlassen hatte, und sie veröffentlichten zwei Underground-Rock-Alben. Das Cover ihrer ersten Platte zeigte einen Schweinskopf mit einem Nasenring, einer Kippe im Maul, einer Sonnenbrille und Kopfhörern. Im September 1970 stieg Pete Banks von Yes mit ein, aber die Band löste sich Ende 1970 auf. 3 The Move waren Roy Woods großartige, leider völlig unterbewertete Bubblegum-Pop- Gruppe der späten Sechziger. UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

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Am Anfang war das Chaos

Mit John Robbs „oral history“ liegt jetzt erstmals die komplette Geschichte des britischen Punk vor – erzählt von den wichtigsten Zeitzeugen. Autor John Robb, lässt alle zu Wort kommen: John Lydon, Malcolm McLaren, Captain Sensible, Billy Bragg oder Siouxsie Sioux. Herausgekommen ist ein unverzichtbares Standardwerk, das die Bewegung in ihrer ganzen Bandbreite beleuchtet: von Mode über Politik bis zur Musik.

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