Thema. | Freitag, 15. November 2013 | Seite 2 Das Protokoll gemischter Gefühle Soll der Aussenminister an die Beerdigung J. F. Kennedys? Die Bundesräte waren unsicher

Gedenkgottesdienst in nach dem Kennedy-Attentat, 25. 11. 1963. Die Bundesräte Willy Spühler, Ludwig von Moos und (v. l. n. r.). Foto Keystone

Von Benedict Neff Botschafter in Washington an die Beer- wollen, spiele eine wichtige Rolle. An- terreich und Schweden, zwei mit der digung zu schicken. Die Lage jedoch dererseits sei die präjudizielle Wirkung Schweiz am ehesten vergleichbare Län- Bern. Zu einer ausserordentlichen Sit- habe sich «grundlegend geändert». einer Beteiligung nicht zu übersehen.» der, in diesem Fall verhalten. Auf dieses zung lud der damalige Bundespräsident Staatshäupter und Aussenminister aus laviert ebenso zwischen Votum ging das Plenum in der Folge Willy Spühler (SP) seine Bundesrats­ aller Welt kündigten sich an: Ludwig Er- einem «gefühlsmässig» und einem «ver- nicht mehr ein. Der Bundespräsident kollegen. Es war Sonntagabend, der hard und Willy Brandt aus Deutschland, standesmässig». sieht als «Ergebnis der Diskussion», dass 23. November 1963, 21 Uhr – vor General de Gaulle aus Frankreich, ja der Bundesrat den Aussenminister 24 Stunden erlag John F. Kennedy ei- selbst Anastas ­Mikojan aus der Sowjet­ Das Empfinden des Volkes Wahlen nach Washington schickt. «Die- nem Attentat in Dallas, Texas. Zu klären union. «Für uns stelle sich nun die Frage, Dann leitet der Bundespräsident ser Feststellung wird nicht opponiert», war eine delikate Frage: Sollte ein Bun- ob wir unsere Neutralitätspolitik und die Spühler wohl die Entscheidung ein. Es so das Protokoll. desrat an der Beerdigung des erschosse- Gefahr, ein Präjudiz zu schaffen soweit handle sich bei Kennedys Tod um einen Am 25. November nahm Wahlen an nen US-Präsidenten teilnehmen? Oder treiben sollen, dass wir als gefühllos er- ausserordentlichen Fall, der ausseror- Kennedys Beerdigung teil. Mit ihm eine würde damit ein Präjudiz geschaffen, scheinen. Man müsse sich überlegen, ob dentliches Handeln erfordere. «Für den geschätzte Million Menschen. Am Tag mit weitreichenden Folgen für die es nicht ein Fall sui generis sei.» Sprechenden», heisst es im Protokoll, darauf trifft sich Wahlen um 10.30 Uhr ­Auslegung der Schweizer Neutralität? Ludwig von Moos (CVP) pflichtet «sei entscheidend das Empfinden unse- mit Dean Rusk, dem damaligen US-­ Müsste man künftig auch an Beerdigun- seinem Kollegen bei und spricht von ei- res Volkes und der ganzen Welt. Es wür- Aussenminister im State Department. gen, an die man lieber nicht gehen wür- ner «ganz unerhörten Tat». Aber recht- de deshalb sehr schwer fallen, beiseite Die Unterredung dauert 25 Minuten de? Etwa nach Russland? fertige sie solch ungewöhnliches Han- stehen zu wollen.» Man solle den Aus- und ist ebenfalls protokolliert. Es ging um die Schweizer Neutrali- deln, einen Bundesrat nach Washington senminister nach Washington schicken. tät in Zeiten des kalten Krieges. Aber zu schicken? Müsste sich die Schweiz Nun stimmt auch Wahlen eindeutig Kondolieren und Geschäften konnte es sich die Schweiz überhaupt da künftig «in einem Falle, wo wir uns zu: «Unser Volk würde es nicht ver­ «Herr Bundesrat Wahlen eröffnet leisten, hier abseitszustehen? Nach lieber nicht vertreten lassen würden», stehen, wenn wir zurückstehen würden. das Gespräch mit einigen, den traurigen ­einigem Abwägen und Lavieren fällt der nicht gleich verhalten? Wäre es da nicht Die Abordnung eines ehemaligen Bun- Umständen entsprechenden Worten.» Bundesrat um 21.30 Uhr seinen Ent- besser, etwa einen alt Bundesrat als desrates wäre eine halbe Lösung.» Vom Kondolieren wechselt man aber schluss. Das Protokoll zur Sitzung veröf- Sonderdelegierten abzuordnen? Das Wahlen berichtet jetzt, dass er sich vor- schnell zu den Geschäften. Der Tod fentlichte diese Woche die Forschungs- Protokoll hält fest: «Herr von Moos gängig mit den abwesenden Bundesrä- Kennedys bildet nur die Klammer eines gruppe Diplomatische Dokumente der möchte sich vorläufig nicht festlegen.» ten Chaudet und Bonvin in Verbindung Gesprächs über Politik und Wirtschaft. Schweiz anlässlich des 50. Todestages Hans Peter Tschudi (SP) ist ebenso gesetzt habe – auch diese würden für Vor allem thematisiert Wahlen das so- von J. F. Kennedy am 22. November. unentschieden, wägt hin und her. «Herr eine bundesrätliche Vertretung optie- genannte «Uhrenproblem». Die USA Tschudi neigt gefühlsmässig dazu Zu- ren. Einverstanden, aber deutlich ver- verhängten damals hohe Einfuhrzölle «Ganz unerhörte Tat» rückhaltung zu üben», steht im Proto- haltener muss sich nun auch von Moos auf den Import Schweizer Uhren. Friedrich Traugott Wahlen (SVP), in koll. Wegen der Familie müsse man gemeldet haben: «Herr von Moos neigt Wahlen brachte aber auch die Unzu- dessen Zimmer die Sitzung stattfand, nicht hingehen. Eine andere Frage sei nun dazu, dem zuzustimmen was der friedenheit von Basel als Reaktion auf berichtet, dass das Politische Departe- hingegen die USA, meint er. «Die Er­ Herr Bundespräsident erklärt habe.» die Schliessung des amerikanischen ment (das heutige EDA) noch am Vor- wägung im Hinblick auf die anderen Trotzdem heisst es weiter, wäre von Konsulats zum Ausdruck. «Wärmstens» mittag der Ansicht war, den Schweizer Länder nicht aus dem Rahmen fallen zu Moos froh, zu wissen, wie sich denn Ös- empfiehlt er eine «baldige Revision des Entscheides». Rusk liess es sich darauf- hin nicht nehmen, ein paar Worte ame- rikanischer Weitläufigkeit von sich zu geben. «Es ist für einen Amerikaner schwer zu verstehen, weshalb in einem solchen Falle ein Konsulat nicht genü- gen könnte. 50 Meilen (80 km) sind heute keine Distanz.» Für den Bundesrat erwies sich der Entscheid als richtig, die Distanz Bern– Washington ausnahmsweise auf sich zu nehmen. Ausdrücklich verdankt der US-Aussenminister, «dass ein amtieren- der Bundesrat zu diesem traurigen An- lass zum ersten Male nach Washington gekommen sei». 1964 wird das US-Kon- sulat in Basel wiedereröffnet – weniger als vier Jahre später wird es jedoch er- neut geschlossen. 1967 erzielt die Schweiz schliesslich eine Übereinkunft mit den USA über den Zollabbau. Letztendlich, und das zeigt das Pro- tokoll, liess sich der Bundesrat vom Ge- fühl leiten. Man spürte: Es war ein aus- serordentlicher Fall. Man relativierte die Neutralität, um nicht kaltherzig zu wirken. Nur zum Kondolieren kam man nicht. Die Geschäfte gingen weiter, schon einen Tag nach der Beerdigung. Dramaturgie einer gefühlsmässigen Entscheidung. Auszüge aus dem Verhandlungsprotokoll der 82. Sitzung des Auslandreisen sind in den folgenden ­Bundesrats vom 23. November 1963. www.dodis.ch/30765 Jahren häufiger geworden.