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I

1 HISTORISCH-POLITISCHE 2 3 MITTEILUNGEN 4 5 6 Archiv für 7 8 Christlich-Demokratische Politik 9 10 11 12 13 Im Auftrag der 14 Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. 15 herausgegeben von 16 Günter Buchstab und Hans-Otto Kleinmann 17 18 19 20 21 22 9. Jahrgang 23 2002 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN 42

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II

1 HISTORISCH-POLITISCHE MITTEILUNGEN 2 Archiv für Christlich-Demokratische Politik 3 4 9. Jahrgang 2002 5 Im Auftrag der 6 7 Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. 8 herausgegeben von 9 Dr. Günter Buchstab und Prof. Dr. Hans-Otto Kleinmann 10 Redaktion: Dr. Brigitte Kaff 11 Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland 12 13 Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. 14 Wissenschaftliche Dienste 15 16 Archiv für Christlich-Demokratische Politik 17 Rathausallee 12 18 53757 Sankt Augustin bei 19 Tel 02241 / 246 210 20 Fax 02241 / 246 669 21 22 e-mail: [email protected] 23 internet: www.kas.de 24 25 Verlag: 26 Böhlau Verlag GmbH & Cie, Ursulaplatz 1, D-50668 Köln 27 e-mail: [email protected] 28 29 Die Zeitschrift »HISTORISCH-POLITISCHE MITTEILUNGEN/Archiv 30 für Christlich-Demokratische Politik« erscheint einmal jährlich mit einem 31 Heftumfang von ca. 260 Seiten. Der Preis beträgt € 19,50. Ein Abonnement 32 verlängert sich automatisch um ein Jahr, wenn die Kündigung nicht zum 33 1. Dezember erfolgt ist. Zuschriften, die Anzeigen und Vertrieb betreffen, 34 werden an den Verlag erbeten. 35 36 © 2002 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln 37 Alle Rechte vorbehalten 38 39 Satz: Satzpunkt Bayreuth GmbH 40 Druck und Verarbeitung: MVR-Druck, Brühl 41 42 ISSN 0943-691X

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1 2 3 Inhalt 4 5 AUFSÄTZE 6 7 Winfried Becker 8 Eine katholische Adels-Internationale. 9 Die deutschen Teilnehmer am Genfer Komitee (1870–1878) ...... 1 10 11 Rudolf Uertz 12 Die Christliche Demokratie im politischen Ideenspektrum ...... 31 13 14 Norbert Trippen 15 Josef Kardinal Frings und ...... 63 16 17 Krzysztof Ruchniewicz 18 Adenauers Verhältnis zu Polen und seiner Bevölkerung ...... 73 19 20 Franz Möller 21 und die Bundesversammlung in 1969 ...... 95 22 23 Andreas Wirsching 24 Die mediale »Konstruktion« der Politik und die »Wende« 25 von 1982/83 ...... 127 26 27 Hanns Jürgen Küsters 28 Mit Naturnotwendigkeit eintretende Veränderungen – Oder: 29 Was die Regierung Kohl zum Mauerfall beitrug ...... 141 30 31 32 DIE ÄRA KOHL IM GESPRÄCH 33 II. Die Medienpolitik der 80er Jahre 34 35 Jürgen Wilke 36 Einführung ...... 161 37 38 39 Der Kampf um die neue Medienordnung. 40 Initiativen und Innovationen ...... 169 41 42

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IV Inhalt

1 2 Christian Schwarz-Schilling 3 Der Neuerer hat Gegner auf allen Seiten – Eine Bilanz...... 177 4 5 6 Es geht darum, realistische Formen des Konsenses zu finden, 7 auch über Parteigrenzen hinweg ...... 195 8 9 Peter Schiwy 10 Aus der Defensive zum Erfolg. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten 11 im Spiegel des medienpolitischen Wandels ...... 203 12 13 Claus Detjen 14 Das Schwanken der Zeitungsverleger: Zwischen Ablehnung und 15 Engagement ...... 209 16 17 Beate Schneider 18 Die Wende auf dem Medienmarkt ...... 217 19 20 21 LITERATUR 22 23 Günter Buchstab 24 Johannes Schauff zum 100. Geburtstag ...... 227 25 26 27 ABSTRACTS – Résumés – Zusammenfassungen ...... 231 28 29 Die Mitarbeiter dieses Bandes ...... 244 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42

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AUFSÄTZE 1 2 3 Eine katholische Adels-Internationale. 4 Die deutschen Teilnehmer am Genfer Komitee (1870–1878) 5 6 Von Winfried Becker 7 8 Das Genfer Komitee und die Lage der Katholiken in Deutschland und Österreich 9 10 Das aufgewühlte Verhältnis zwischen Kirche und Staat, wie es bei Anbruch 11 der 1870er Jahre in mehreren europäischen Ländern, auch in Deutschland, be- 12 stand, konfrontierte die Gläubigen, die Nationen und Staaten mit einer Fülle 13 von klärungsbedürftigen Problemen. Schon vor der Einnahme Roms und dem 14 Verlust des Rests des Kirchenstaats verlieh der Suffragan-Bischof von Lau- 15 sanne-Genf, Gaspard Mermillod (1824–1892), den Bestrebungen zur Vertei- 16 digung des bedrohten Papsttums dadurch Ausdruck, dass er am 25. Februar 17 1870 im mamertinischen Kerker am Forum Romanum, in der symbolträchti- 18 gen alten Pilgerstätte, »zum Kampf für ein öffentlich-gesellschaftliches Kö- 19 nigtum Christi« aufrief.1 Es war gleichsam die Gründungsrede für eine Ver- 20 einigung, die sich nach der Einnahme Roms am 23. Oktober 1870 in Genf als 21 »Comité de défense catholique« konstituierte. Hier trafen etwa 30 streng kirch- 22 lich gesinnte Vertreter der Katholiken Italiens, Frankreichs, Englands, 23 Deutschlands, Spaniens, Belgiens, Hollands, Österreichs und der Schweiz zu- 24 sammen, meist prominente Repräsentanten katholischer Laien, die in ihren 25 Ländern einen hohen Bekanntheitsgrad besaßen oder Leitungsfunktionen in- 26 nehatten. Keimzellen des Genfer Komitees lagen in Kontakten legitimistisch- 27 konservativer, meist adliger Kreise, die in Rom während der 1860er Jahre auf- 28 genommen worden waren, um den Kirchenstaat gegen das Vordringen des li- 29 beralen italienischen Nationalstaats zu schützen: Österreichische Adelige wa- 30 ren mit Anhängern des Grafen von Chambord und spanischen Karlisten zu- 31 sammengetroffen. 32 33 34 1 Karl BUCHHEIM, Ultramontanismus und Demokratie. Der Weg der deutschen Katholi- 35 ken im 19. Jahrhundert, München 1963, S. 243–246; August M. KNOLL, Der soziale Gedanke 36 im modernen Katholizismus, Bd. 1, Von der Romantik bis Rerum novarum, Leipzig 1932, S. 109. – Erweiterte Fassung eines auf dem Kolloquium »The Black International« an der Univ. 37 Löwen am 19.9.2000 gehaltenen Vortrags, dessen englische Version in den Konferenzakten 38 erschienen ist: Emiel LAMBERTS (Ed.), The Black International, the Holy See and the Rise of 39 Militant Catholicism in Europe (1870–1878), Löwen 2002 (Kadoc Studies, 29). Ich danke Prof. 40 Emiel Lamberts/Löwen für viele Hinweise und für die Überlassung von Kopien der umfang- reichen Korrespondenz Anton von Pergens (Briefe Loës, Wambolts und Isenburgs an Pergen) 41 sowie Prof. Bruckmüller/Wien für wertvolle Informationen. 42

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2 Winfried Becker

1 Der Streit um den Kirchenstaat, der durch die Einnahme Roms am 2 20. September 1870 nicht beendet wurde, bildete nur das Symptom einer um- 3 fassenden Umbruchphase, in der sich Europa damals befand. In Italien und 4 Deutschland gelangte die nationalstaatliche Bewegung zum Sieg. Die Eini- 5 gungskriege veränderten das im Wiener Kongress gebildete, bereits durch den 6 Krimkrieg herausgeforderte europäische Staatensystem. Der mit ihnen verbun- 7 dene Aufschwung des nationalliberalen Bürgertums schuf zwei innenpolitische 8 Unruheherde: Das neue Wirtschaftsbürgertum wandte sich gegen die katholi- 9 sche Kirche, erklärte sie zum Hemmnis jeden Fortschritts. Neben seinem An- 10 tiklerikalismus riss es eine zweite, eine soziale Front gegenüber den ärmeren 11 Bevölkerungsschichten und der sich im Industrialisierungsprozess allmählich 12 herausbildenden Arbeiterklasse auf. 1864 wurde in London unter dem Einfluss 13 von Karl Marx und Friedrich Engels die Erste Internationale gegründet. 14 Der neue Säkularismus, Nationalismus und auch die aufkommende soziale 15 Frage riefen in der Kurie, die direkt betroffen war, sowie in »ultramontanen« 16 kirchlichen Kreisen Unruhe hervor. Im Einklang mit Papst Pius IX. gedachte 17 das Genfer Komitee an das katholische Volk zu appellieren, wenn schon die 18 Regierungen der Staaten sich von Religion und Kirche entfernen würden. Be- 19 reits in den 1860er Jahren waren Volksbewegungen für den Papst entstanden, 20 z.B. die Association de Saint Pierre in Belgien. Das den Kirchenstaat vertei- 21 digende Zuavenkorps (1860–1870) vereinte Anhänger des Papsttums aus ver- 22 schiedenen Ländern, vor allem aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden. 23 Das Genfer Komitee beschloss sogleich, auf dem Gebiet der Meinungsbil- 24 dung tätig zu werden. Es kam überein, ein in deutscher und französischer Spra- 25 che zwei- bis dreimal wöchentlich erscheinendes Publikationsorgan, die Gen- 26 fer Correspondenz, herauszugeben. Deren Zweck sollte sein, die internationale 27 Presse mit korrekten Nachrichten aus dem Leben der Kirche zu versorgen, 28 politische Entwicklungen aus der Sicht der katholischen Kirche zu kommen- 29 tieren und rückhaltlos für die Verteidigung des Stuhls Petri einzutreten: Ziel 30 war die Wieder-Verankerung der Kirche in der Gesellschaft. Die Leitung des 31 Pressebüros und der Zeitung übernahm zunächst der Konvertit und österrei- 32 chische Diplomat Gustav Graf Blome. 33 Die Genfer Correspondenz, so war geplant, sollte ca. 300 katholischen Zei- 34 tungen in Europa kostenlos zugesandt werden. Doch fand ihre Tätigkeit wie 35 die des Genfer Büros schon im Oktober 1873 aus nicht nur finanziellen Grün- 36 den ein Ende. Allerdings wurde im September 1871, auch als Antwort auf 37 den Aufstand der Commune in Paris, im Kloster Einsiedeln (Schweiz) ein »Co- 38 mité des Permanents« gegründet. Dieses Komitee permanenter Vertreter der 39 katholischen Länder stand weiterhin in engem Kontakt mit dem Hl. Stuhl und 40 verstand sich als »christliche und katholische Internationale«, auch als 41 »schwarze« gewissermaßen in Konkurrenz zur »roten Internationale«. Nach 42 Aufhebung des Genfer Büros traten die »Permanenten« in direkte Kontakte

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Eine katholische Adels-Internationale 3 mit der Kurie. Ihre wohl wichtigste – anonyme – Anlaufstelle war »innomi- 1 nato«, der Briefe mit »Frédéric« zeichnete. Dahinter verbarg sich Monsignore 2 Wladimir Czacki (1835–1888), Privatsekretär des Papstes, 1873 Sekretär der 3 Studienkongregation, 1877 Sekretär der Kongregation für außerordentliche 4 Angelegenheiten, einer Abteilung des Staatssekretariats. Er stammte aus pol- 5 nischem Adel und hatte über den Salon seiner Tante in Rom, der Fürstin Emilia 6 Odescalchi, nützliche gesellschaftliche Kontakte anbahnen können. Czacki 7 hatte mehrere Freunde im Kardinalskollegium, war polyglott und aufgrund sei- 8 ner diplomatischen Laufbahn mit den politischen Verhältnissen in Europa 9 wohlvertraut. 10 Unter den Konferenzteilnehmern aus Deutschland ragte Fürst Karl zu Lö- 11 wenstein-Wertheim-Rosenberg (1834–1921) hervor. Er steuerte 5000 Francs 12 zu den von Deutschland für die Genfer Correspondenz bereitgestellten 13 30 000 Francs bei.2 Seine finanzielle Opferbereitschaft entsprang seinem tie- 14 fen Engagement für das bedrängte Papsttum, zugunsten dessen er die öffent- 15 liche Meinung mobilisieren wollte. Kurz vor der Genfer Zusammenkunft hatte 16 Löwenstein eine große Wallfahrt nach Fulda organisiert, die sich zur ein- 17 drucksvollen Kundgebung für Papst Pius IX. entwickelte. Da von den gekrön- 18 ten Häuptern Schutz- und Hilfsmaßnahmen für den Stuhl Petri nicht zu er- 19 warten waren, sondern im Gegenteil das 1870 verkündete Unfehlbarkeits- 20 dogma die neuen Nationalstaaten Deutschland und Italien in ihrem 21 Souveränitätsstolz gekränkt hatte, setzten Mermillod, Gustav Blome, Löwen- 22 stein und ihre Gesinnungsgenossen ihre Hoffnungen anscheinend vor allem 23 auf eine in den europäischen Ländern zu erweckende Volksbewegung, in der 24 das seiner politischen und finanziellen Unabhängigkeit beraubte Papsttum eine 25 neue Stütze würde gewinnen können. 26 Es bedurfte allerdings solcher Ideen und Bestrebungen gar nicht, um das 27 Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und dem Staat, zumal in Deutsch- 28 land, mit schweren Spannungen aufzuladen. Die bei der Eröffnung des erst- 29 mals gewählten Reichstags (21.3.1871) gehaltene Thronrede bekannte sich de- 30 monstrativ zum Prinzip der Nicht-Einmischung in das innere Leben anderer 31 Völker. Die Reden führender nationalliberaler Abgeordneter gaben der Adres- 32 se, mit der die Thronrede beantwortet wurde, eine entschieden antirömische 33 und antikatholische Tendenz; sie spielten das neue, protestantische, selbstän- 34 dige Deutschland der Hohenzollern gegen den mittelalterlichen, angeblich 35 vom römischen Papsttum beherrschten Staat aus. Vergeblich bemühte sich die 36 37 38 2 Paul SIEBERTZ, Karl Fürst zu Löwenstein. Ein Bild seines Lebens und Wirkens nach 39 Briefen, Akten und Dokumenten, München/Kempten 1924, S. 287–290; Heinz HÜRTEN, Karl 40 Heinrich Fürst zu Löwenstein (1834–1921), in: Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deut- schen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. v. Jürgen ARETZ/Rudolf MORSEY/Anton 41 RAUSCHER, Bd. 9, Münster 1999, S. 51–61. 42

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4 Winfried Becker

1 Zentrumspartei, die Adresse dahingehend abzuändern, daß sie »eine Interven- 2 tion zugunsten des Papstes nicht grundsätzlich ausschloss«,3 obwohl noch 3 während des Deutsch-Französischen Krieges Preußen sich von der italieni- 4 schen revolutionären Politik gegenüber dem Hl. Stuhl distanziert hatte. Jetzt 5 sah Bismarck schon in dem Zusammentritt der 1870/71 von katholischen Par- 6 lamentariern ins Leben gerufenen Zentrumspartei eine Gefährdung seiner 7 Machtstellung. Er versuchte sogleich, den Papst gegen die katholische Partei 8 einzunehmen, und ließ diese an der Kurie mit der Unterstellung denunzieren, 9 sie habe sich offiziell für eine Intervention Deutschlands zugunsten des Papst- 10 tums eingesetzt und trete dem neuen Reich überhaupt feindlich gegenüber. 11 Bismarck gelang es zwar nicht, die Kurie zu einer Erklärung gegen das Zen- 12 trum zu bewegen. Aber die Fronten in Deutschland verhärteten sich über 13 Nacht. Der Reichskanzler brandmarkte schon das Auftreten der prokatholi- 14 schen Zentrumspartei als illoyalen Akt deutscher Bürger, die sich dem Papst, 15 also einem fremden Staatsoberhaupt, unterwürfen. Im beginnenden Kultur- 16 kampf zeigten Wähler und Sympathisanten des Zentrums und der Bayerischen 17 Patriotenpartei ihre Sympathie für das seiner weltlichen Stütze beraubte Ober- 18 haupt der Kirche durch Sammlungen, Treuebekundungen und Wallfahrten 19 nach Rom. 20 Der deutsche Katholizismus, der sich nun formierte, ging auf verschiedene 21 Wurzeln zurück. Romantische Denker hatten, enttäuscht vom revolutionären 22 Säkularismus, ein universales Bild von Staat und Gesellschaft entworfen und 23 in dessen Mitte die neue Besinnung auf die Werte des christlichen Glaubens 24 gestellt. Kreise religiöser Erneuerung übten Kritik am Staatskirchentum, so 25 vor allen Joseph Görres in seinem 1838 in fünf Auflagen erschienenen Atha- 26 nasius. Im Revolutionsjahr 1848 erhoben die Katholiken auf dem politischen 27 Feld die Forderung nach Freiheit für die Kirche. Die Verdrängung Österreichs 28 aus den kleindeutschen Nationalstaat weckte Kräfte der Selbstbehauptung in 29 der sich nun abzeichnenden katholischen Minorität des Hohenzollernstaats und 30 beflügelte die Parteibildung des Zentrums, zumal 1867 und 1871 ein auf dem 31 allgemeinen Wahlrecht beruhender Reichstag zusammentrat. Die 1848 ins Le- 32 ben gerufenen Katholikentage zeigten, dass auf der Grundlage der nun vor- 33 übergehend gewährten Vereinsfreiheit Laien und Priester die bürgerlichen 34 Freiheiten für sich in Anspruch nahmen. Zwischen 1850 und 1867 fanden 35 sechs der 15 in diesem Zeitraum stattfindenden gesamtdeutschen Katholiken- 36 tage in der Donaumonarchie statt (zweimal in Linz/Donau, je einmal in Wien, 37 Salzburg, Prag und Innsbruck). Vor dem Hintergrund des josephinischen 38 Staatskirchentums fanden die österreichischen Katholiken später als die deut- 39 40 3 Rudolf LILL, Der Kulturkampf in Preußen und im Deutschen Reich (bis 1878), in: Hubert 41 JEDIN (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. VI/2, Die Kirche zwischen Anpassung und 42 Widerstand (1878–1914), Freiburg u.a. 1985, S. 32f.; K. BUCHHEIM (wie Anm. 1), S. 225–229.

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Eine katholische Adels-Internationale 5 schen zu einer Gesamtorganisation. Erst 1877 trat ein erster österreichischer 1 Katholikentag »für die gesamte Monarchie« zusammen, nachdem 1868 libe- 2 rale Schul- und Ehegesetze erlassen worden waren und Reaktionen von ka- 3 tholischer Seite notwendig gemacht hatten. Die deutschen Katholiken mussten 4 sich seit 1866 nicht nur mit der neuen Minoritätssituation abfinden. Ebenfalls 5 ungeklärt war, welchen politischen Stellenwert die katholische Vereins- und 6 Parteibildung gewinnen würde. War die Beschränkung der Aktivität auf die 7 reine Verteidigung der katholischen Kirche geboten, oder sollten die neuen 8 parlamentarischen Entwicklungsmöglichkeiten wahrgenommen werden? Soll- 9 ten sich die deutschen Katholiken primär als Angehörige einer international 10 verbreiteten Konfession, von der moralischen Macht des Papsttums geleitet, 11 verstehen oder mehr im neuen nationalen Staat wirken? 12 In der solchermaßen problemgeladenen, schon zugespitzten Situation ka- 13 men manche Artikel der Genfer Correspondenz, die von 1870 bis 1873 er- 14 schien, Bismarck und den liberalen Blättern sehr gelegen, um das Gespenst 15 einer schwarzen Internationale an die Wand zu malen, von der eine ernste 16 innen- und außenpolitische Bedrohung für das neue Reich ausgehe und die 17 im Begriffe stehe, eine feindliche Koalition, etwa Frankreichs und Österreichs, 18 gegen Deutschland zu schmieden.4 Im Mai 1871 prophezeite die Genfer Cor- 19 respondenz in einem von den Historisch-politischen Blättern abgedruckten Ar- 20 tikel jedem Reich, das sich von der Sache Roms abwende, ein frühes Ende. 21 Als die Genfer Correspondenz ein Gespräch Wilhelm Emmanuel von Kettelers 22 mit Bismarck, in dem Ketteler den Staatsmann im kirchlichen Sinne zu be- 23 einflussen suchte und vor den Nationalliberalen warnte, negativ kommentierte, 24 distanzierte sich der Mainzer Bischof am 27. Oktober 1871 öffentlich von der 25 Genfer Correspondenz. Die übertriebene und prahlerische Herausstellung der 26 Macht des Papstes könne bei den Gegnern der Kirche die »unbegründetsten 27 Befürchtungen« hervorrufen.5 Im November 1871 löste sich auch Löwenstein, 28 wahrscheinlich unter dem Einfluss Kettelers, von der Genfer Correspondenz, 29 nachdem er auf der Konferenz von Einsiedeln im Sommer 1871 anscheinend 30 vergeblich versucht hatte, diese Arbeitsgemeinschaft auf einen bedachtsame- 31 ren Kurs zu bringen. Er nahm Anstoß an Formulierungen, die den Eindruck 32 erwecken könnten, die Katholiken stellten sich leichtfertig auf das Risiko eines 33 neuen Religionskriegs und gewaltsamer Auseinandersetzungen ein. Nahm aus 34 35 36 4 Winfried BECKER, Otto von Bismarcks Rolle bei Ausbruch, Verschärfung und Beilegung des preußischen Kulturkampfes, in: Rudolf LILL/Francesco TRANIELLO (Hg.), Der Kulturkampf 37 in Italien und in den deutschsprachigen Ländern, Berlin 1993, S. 57–85; Otto PFÜLF, Bischof 38 von Ketteler (1811–1871). Eine geschichtliche Darstellung, Bd. 3, Mainz 1899, S. 162 (Bis- 39 marck am 16.11.1871). 40 5 Karl BACHEM, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Deutschen Zentrumspartei. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Bewegung, sowie zur allgemeinen Ge- 41 schichte des neueren und neuesten Deutschland 1815–1914, Bd. 3, Köln 1927, S. 215f. 42

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6 Winfried Becker

1 deutscher Sicht die Genfer Correspondenz viel zu wenig Rücksicht auf die 2 neue Situation im Kaiserreich,6 so warf diese den deutschen Katholiken über- 3 triebene Zurückhaltung, mangelnde ultramontane Gesinnung und fehlende Ge- 4 schlossenheit vor.7 5 6 Die deutschen Mitglieder des Genfer Komitees 7 8 Löwenstein war seit Jahren Präsident des Zentralkomitees der Generalver- 9 sammlungen der katholischen Vereine Deutschlands, der später so genannten 10 deutschen Katholikentage, die 1848 ins Leben gerufen worden waren. Seine 11 Entscheidung schien also von weitreichender Bedeutung zu sein. Der zwischen 12 Sommer 1871 und Mitte 1873 amtierende »permanente« Vertreter Deutsch- 13 lands im Genfer Komitee, Franz Wambolt von Umstadt (1829–1908), sah sich 14 isoliert und seines Rückhalts bei der zentralen Vertretung der deutschen Ka- 15 tholiken beraubt. Der zuvor im diplomatischen Dienst des Großherzogtums 16 Hessen-Darmstadt stehende Freiherr war mit Löwenstein und fünf anderen 17 prominenten Katholiken 1868 in das neu gegründete Zentralkomitee der deut- 18 schen Katholiken gewählt worden. Er hatte einen – allerdings nicht angenom- 19 menen – Wahlaufruf der hessischen Katholiken zu den Reichstagswahlen von 20 1871 entworfen, in dem er sich »für Wiederherstellung des Kirchenstaates in 21 seiner ursprünglichen Ausdehnung« aussprach.8 Wambolt kritisierte während 22 der 1880er Jahre Windthorsts liberalen, verfassungsrechtlich motivierten »lin- 23 ken« Kurs der Zentrumspartei. Nach Löwensteins Rücktritt 1871 war er drauf 24 und dran, sein Amt im Genfer Komitee niederzulegen, behielt es aber dann 25 doch bei und fungierte im Frühjahr 1873 sechs Wochen lang sogar als Vertreter 26 des seit April 1872 amtierenden Direktors des Genfer Büros, des österreichi- 27 schen Grafen Johann Anton von Pergen (1839–1902). Wambolt zog sich 28 schließlich, mit durchaus auch weltanschaulicher Begründung, aus dem 29 Deutschland des Kulturkampfs auf sein neues Gut Hopfenbach (heute Hmelj- 30 31 32 6 K. BUCHHEIM (wie Anm. 1), S. 244; BACHEM (wie Anm. 5), S. 215; Adolf M. BIRKE, 33 Bischof Ketteler und der deutsche Liberalismus. Eine Untersuchung über das Verhältnis des liberalen Katholizismus zum bürgerlichen Liberalismus in der Reichsgründungszeit, Mainz 34 1971, S. 88f.; Fritz VIGENER, Ketteler. Ein deutsches Bischofsleben des 19. Jahrhunderts, Mün- 35 chen/Berlin 1924, S. 661f. 36 7 Wambolt an Cramer, 31.10.1871, Archives Cramer, Nijmegen (AC), 437, 13, 1; GCP an die Permanenten, Très confidentiel Nr. 12, [Nov.] 1871, Nr. 15, 6. Dez 1871, AC, 456, 20 37 b, 5; Cramer an Blome, 3.11.1871, AC, 24, I, 709 b; Blome an Cramer, 7.11.1871, AC, 434, 38 12 b, I. 39 8 K. BUCHHEIM (wie Anm. 1), S. 220 Anm. 6, S. 182; Margaret Lavinia ANDERSON, 40 Windthorst. Zentrumspolitiker und Gegenspieler Bismarcks (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 14), Düsseldorf 21988, S. 321f., 407; Gothaisches Genealogisches Ta- 41 schenbuch der Freiherrlichen Häuser, 28. Jahrgang, 1878, S. 911 u. 30. Jahrgang 1880, 42 S. 906f. (Franz Wamboldt von Umstadt; Reichsfreiherren).

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Eine katholische Adels-Internationale 7 nik) bei Rudolfswerth (heute Novo mesto) in Krain (Slowenien) zurück. Eine 1 solche Entscheidung dürfte weniger begüterten Gesinnungsgenossen kaum 2 möglich gewesen sein. Allerdings machten ihm in seiner neuen Umgebung 3 gerade auf religiösem Gebiet die großen Mentalitätsunterschiede zu schaf- 4 fen. 5 Wambolts vertraulicher Adressat Pergen war Blome 1872 in der Leitung des 6 Genfer Büros gefolgt, das er sich bis Ende 1873 mit dem französischen Grafen 7 Paul de Bréda teilte. Pergen, geboren in Pottenbrunn (Niederösterreich), ge- 8 storben auf Schloß Aspang (Niederösterreich), war von 1863 bis 1867 Militär- 9 attaché in München, Rom und Paris. 1868 wurde er österreichischer Legati- 10 onssekretär in Rom, quittierte aber noch im selben Jahr den diplomatischen 11 Dienst. In jungen Jahren hatte er während seiner Romaufenthalte die Sympathie 12 Papst Pius’ IX. errungen, er blieb seinerseits über dessen Pontifikat hinaus ein 13 treuer Anhänger des Papsttums. 1873 übernahm er in Österreich das Präsidium 14 der 1860 gegründeten Erzbruderschaft St. Michael und widmete sich, auch un- 15 ter Einsatz seines Vermögens, dem Aufbau des politischen und sozialen Ka- 16 tholizismus in Österreich, pflegte vor allem dessen internationale Beziehungen. 17 Er konnte in den 1870er Jahren als Führer der österreichischen Katholiken gel- 18 ten und wurde ständiger Kommissar der österreichischen Katholikentage.9 19 Außer Wambolt blieben zwei andere Repräsentanten des deutschen Katho- 20 lizismus der Genfer Correspondenz bis zu deren Einstellung Ende 1873, dann 21 dem Genfer Komitee der »Permanenten« und besonders dem Vertrauensmann 22 Roms, Pergen, bis 1876 und Jahre darüber hinaus verbunden. Eine intensive 23 Korrespondenz mit Pergen unterhielt Felix Freiherr von Loë (1825–1896) aus 24 Terporten bei Goch (Niederrhein). 1866 als Landrat des Kreises Kleve (1859– 25 1866) aus politischen Gründen zur Disposition gestellt, wurde Loë von 1867 26 bis 1871 fraktionsloser Abgeordneter des norddeutschen Reichstags, 1870 bis 27 1876 und 1890 bis 1896 Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses für 28 das Zentrum. Eine populäre Führungsrolle fiel ihm als Präsident der deutschen 29 Katholikentage von 1868 und 1877 und vor allem als Mitgründer und Orga- 30 31 32 33 9 Erika WEINZIERL-FISCHER, Aus den Anfängen der christlichsozialen Bewegung in Österreich. Nach der Korrespondenz des Grafen Anton Pergen, in: Mitteilungen des österrei- 34 chischen Staatsarchivs 14 (1961), S. 465–486; Walther KILLY/Rudolf VIERHAUS (Hg.), Deut- 35 sche Biographische Enzyklopädie (DBE), Bd. 7, München 1998, S. 599; Wilhelm KOSCH, Das 36 Katholische Deutschland. Biographisch-bibliographisches Lexikon, Bd. 2, Augsburg 1937 Sp. 3474f.; Constant von WURZBACH, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, 37 22. Theil, Wien 1870, S. 1–9 (Adelsgeschlecht Pergen); vgl. SIEBERTZ (wie Anm. 2), S. 335, 38 287 (Michaelsbruderschaft); K. BUCHHEIM (wie Anm. 1), S. 107; Harry SLAPNICKA, Das Ent- 39 stehen der Katholischen Volksbewegung, in: Rudolf ZINNHOBLER/Harry SLAPNICKA/Peter 40 GRADAUER (Hg.), Bischof Franz Joseph Rudigier und seine Zeit, Linz 1987, S. 111–118; Josef WOLNY, Fünfzig Jahre für Kirche und Papst. Chronik der Erzbruderschaft vom heiligen Mi- 41 chael in Wien (1860–1910), Wien 1911. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 nisator des Mainzer Vereins der deutschen Katholiken (1872–1876) zu.10 Der 2 Konvertit Fürst Karl von Isenburg-Birstein (1838–1899) war von 1873 bis 3 1876 für Deutschland Mitglied des Genfer Komitees der »Permanenten«, der 4 permanenten Vertreter der europäischen Länder in Genf. Der Schwager Lö- 5 wensteins heiratete 1865 Marie Louise, geb. Erzherzogin von Österreich. Karl 6 Isenburg wurde 1866 in die Erste Kammer des Großherzogtums Hessen-Darm- 7 stadt, 1868 in das preußische Herrenhaus aufgenommen; 1872 war er leitend 8 im Mainzer katholischen Kasino tätig. 1880 unterstützte er Carl Friedrich Frei- 9 herrn von Fechenbach und Eduard Freiherrn von Ungern-Sternberg bei ihren 10 erfolglosen Bemühungen um die Gründung einer christlichen Partei der So- 11 zialreform aus katholischen und evangelischen Konservativen,11 die unter an- 12 derem antiparlamentarische, berufsständisch-korporativistische und antisemi- 13 tische Programmpunkte anvisierte. Isenburg beobachtete auch argwöhnisch 14 die angeblichen Fortschritte des Freimaurertums im Habsburgerreich. Wäh- 15 rend der zweiten Hälfte des Jahres 1873 übernahm der Königlich Bayerische 16 Kämmerer Ferdinand Graf von Hompesch-Bollheim (1824–1913) für kurze 17 Zeit das Direktorium des Genfer Büros. Wambolt hatte Pergen die Berufung 18 dieses bayerischen Karrierediplomaten wegen dessen außenpolitischer Erfah- 19 rung nachdrücklich empfohlen.12 Von 1874 bis 1877 hatte Hompesch ein 20 Reichstagsmandat des Zentrums für den Wahlkreis Trier 1 (Daun-Prüm-Bit- 21 burg) inne.13 Trotz seiner Leitungsfunktion wurde er allerdings in die Ge- 22 schäfte des Komitees nicht genügend einbezogen. 23 An den Jahreskonferenzen des Genfer Komitees zwischen 1871 und 1875 24 (Genf 1870, 1872, Einsiedeln 1871, Ferney 1873, 1874, Bregenz 1875) nah- 25 men außer den genannten Adligen weitere Vertreter der katholischen Bewe- 26 gung Deutschlands teil. Ihr Kreis war aus mehreren Gründen eng gezogen. 27 Denn die Augusttagungen des Komitees überschnitten sich zeitlich mit den 28 Generalversammlungen des Mainzer Vereins und den Generalversammlungen 29 der Katholiken Deutschlands (so genannt seit 1871). Die kostspieligen Reisen 30 31 32 10 Bernhard MANN (Bearb.), Biographisches Handbuch für das Preußische Abgeordne- 33 tenhaus 1867–1918, Düsseldorf 1988, S. 249. 11 Hans-Georg ASCHOFF/Heinz-Jörg HEINRICH (Hg.), Ludwig Windthorst. Briefe 1834– 34 1880, Paderborn 1995, S. 517–519; vgl. Friedrich HARTMANNSGRUBER, Die christlichen Volks- 35 parteien 1848–1933. Idee und Wirklichkeit, in: Günther RÜTHER (Hg.), Geschichte der christ- 36 lich-demokratischen und christlich-sozialen Bewegungen in Deutschland, Teil 1, Köln 1986, S. 219–324, 270–273; über Isenburg auch F. VIGENER (wie Anm. 6), S. 699, 709; M. ANDER- 37 SON (wie Anm. 8), S. 259f., 263f., 320, 340. 38 12 Wambolt an Pergen, Umstadt 13.2.1873; Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (HHSA), 39 Pergen-Papiere (PP), II. 1853 Attaché, 1856 Legationssekretär in St. Petersburg, 1859–1863 40 Ministerresident in Athen, 1865 in Bern, 1865 Bevollmächtigter Minister und Gesandter Bay- erns in Florenz, 1868 in London, 1871 als Legationsrat I. Klasse im vorläufigen Ruhestand. 41 13 Bernd HAUNFELDER, Reichstagsabgeordnete der Deutschen Zentrumspartei 1870– 42 1933. Biographisches Handbuch und historische Photographien, Düsseldorf 1999, S. 184. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Eine katholische Adels-Internationale 9 muteten den vom Kulturkampf betroffenen und zeitlich eingespannten Laien, 1 die mehrfach noch zu Wallfahrten nach Rom aufgerufen wurden, weitere fi- 2 nanzielle Opfer zu.14 Dennoch erschienen die Reichstagsabgeordneten (1874) 3 Cajus Graf zu Stolberg-Stolberg (1797–1874), der 1871 die Abordnung der 4 deutschen Katholiken an Pius IX. anführte und über den 1870 Kontakte der 5 deutschen Katholiken zu König Johann von Sachsen liefen,15 und Dr. jur. Josef 6 Lingens (1818–1902). Lingens hatte bei einem Studienaufenthalt in Paris 7 Frédéric von Ozanam und dessen Vinzenzvereine kennengelernt. Als Aache- 8 ner Rechtsanwalt wurde er 1852 in den preußischen Landtag gewählt. Er ge- 9 hörte zu den Gründungsmitgliedern und dann zum inneren Führungskreis der 10 Zentrumspartei. 1862 empfing ihn Papst Pius XI. in Porto d’Anzio, 1875 er- 11 hielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Löwen. Von 1856 bis 1901 war 12 Lingens Stadtverordneter von Aachen, von 1871 bis 1901 Mitglied des Reichs- 13 tags. Er spielte auch eine führende Rolle im katholischen Vereinswesen, in 14 der katholischen Arbeiterbewegung und in der Caritas-Bewegung am Nieder- 15 rhein. 1870 befürwortete er eine Adresse des Aachener Stadtrats an König 16 Wilhelm I. von Preußen zum Schutz des Papstes und zählte zu den Initiatoren 17 des Genfer Komitees.16 18 Gründungsmitglieder der Zentrumsfraktion waren auch die 1875 in Bre- 19 genz anwesenden Reichstagsabgeordneten für Neumarkt/Oberpfalz (1871– 20 1874), Hermann Freiherr Reichlin von Meldegg (1832–1914), und für Re- 21 gensburg (1871–1874, 1889–1893), Adolf Wilderich Graf von Walderdorff 22 (1835–1919).17 Reichlin, 1849 bis 1861 im österreichischen Militärdienst, 23 war Hofkavalier der Erbprinzessin Helene von Thurn und Taxis, geborener 24 Herzogin zu Bayern und Schwester der österreichischen Kaiserin Elisabeth. 25 26 27 14 Isenburg an Pergen, Birstein 27.6.1874, 25.8.1876: »Sehr viele Herren«, die er ansprach, 28 haben für 1876 abgelehnt zu kommen. HHSA, PP, I. 29 15 B. HAUNFELDER (wie Anm. 13), S. 268; P. SIEBERTZ (wie Anm. 2), S. 287, 290. 16 Herbert LEPPER (Bearb.), Volk, Kirche und Vaterland. Wahlaufrufe, Aufrufe, Satzungen 30 und Statuten des Zentrums 1870–1933. Eine Quellensammlung zur Geschichte insbesondere 31 der Rheinischen und Westfälischen Zentrumspartei, Düsseldorf 1998, S. 43; B. HAUNFELDER 32 (wie Anm. 13), S. 207f.; August BRECHER, Josef Lingens (1818–1902). Advokat – Anwalt, in: 33 Karl SCHEIN (Hg.), Christen zwischen Niederrhein und Eifel, Bd. 2, Aachen/Mönchengladbach 1993, S. 27–51, 34, 47, 210f. 34 17 B. HAUNFELDER (wie Anm. 13), S. 241, 277; Wolfgang SCHMIDT, Eduard Graf von 35 Walderdorff und seine Nachkommen auf Hauzenstein und Kürn, Regensburg 1988, S. 88–90; 36 Werner CHROBAK, Politische Parteien, Verbände und Vereine in Regensburg 1869–1914, Re- gensburg 1982, II S. 237, III S. 260, 264f.; E. WEINZIERL-FISCHER (wie Anm. 9), S. 465f. – 37 Franz Wilderich von Walderdorff (1831–1898) war nach 1866 mit Ernst Lieber für die Ka- 38 tholische Laienbewegung (Vereine, Presse, Wahlen) in Nassau tätig; vgl. Marie-Luise CRONE, 39 Franz Wilderich von Walderdorff (1831–1898). Sein Engagement für die katholische Kirche, 40 in: Friedhelm JÜRGENSMEIER (Hg.), Die von Walderdorff. Acht Jahrhunderte Wechselbezie- hungen zwischen Religion – Reich – Kirche und einem rheinischen Adelsgeschlecht, Köln 1998, 41 S. 445–457. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Der Gutsbesitzer Walderdorff, angeheirateter Verwandter des Reichsgrafen 2 Leopold Clemens von Spee und des Freiherrn Franz von Bodmann, Schwie- 3 gersohn des in Bayern begüterten Grafen Maximilian von Seinsheim, eines 4 Mitbegründers der Bayerischen Patriotenpartei, war von 1874 bis ca. 1885 5 stellvertretender Vorsitzender des katholischen Casinos in Regensburg. 1869 6 hatte der aus dem Hessischen stammende Reichsgraf als Deputierter des 7 Konstitutionellen Volksvereins für den Wiener Wald die österreichischen 8 Katholiken zur Teilnahme am »konstitutionellen Leben« aufgerufen. Ein 9 weiterer deutscher Adliger im Komitee war der Baron von Schierstädt aus 10 Kleinheubach in Unterfranken, einer anhaltisch-märkischen Adelsfamilie 11 entstammend, Gutsdirektor Karl zu Löwensteins auf dessen böhmischem Gut 12 Haid, »ein getreuer Freund und Mitarbeiter« des Fürsten, der diesen bei der 13 Wahlagitation unterstützte und beispielsweise 1877 im Gründungskomitee 14 des Augustinus-Vereins für die katholische Presse vertrat.18 Ansehnliche pu- 15 blizistische Vertreter des katholischen Deutschland bei den Genfer Jahres- 16 besprechungen waren Dr. Heinrich Maas (1826–1895), und Wilhelm Molitor 17 (1819–1880). Der Jurist Maas, ein konvertierter Sohn jüdischer Eltern, wur- 18 de 1854 Kanzleidirektor des Erzbistums Freiburg. In dieser Funktion gewann 19 er eine Schlüsselstellung, verfocht im badischen Kulturkampf entschieden 20 den katholischen Standpunkt, trat auf die Seite der Zentrumspartei und galt 21 liberalen Kreisen, einschließlich des Großherzogs Friedrich von Baden, als 22 »intransigent«. Noch 1889 unterhielt er, von seinen anti-ultramontanen Geg- 23 nern mehrfach abwertend als Jude tituliert, »seit langer Zeit« eingegangene 24 »vertrauliche Beziehungen mit vatikanischen Kreisen«.19 Der Speyerer 25 Domkapitular (seit 1857) Molitor erwies sich als tatkräftiger Förderer der 26 katholischen Bewegung und ihrer Presse in der Rheinpfalz. Abgeordneter 27 des bayerischen Landtags von 1875 bis 1877, trat der kirchenpolitische Pu- 28 blizist auch mit zahlreichen literarischen Werken hervor. Drei weitere Teil- 29 nehmer an den Jahrestagungen waren Heinrich Theophil Freiherr von Schröt- 30 ter, der 1876 einen Aufruf zur feierlichen Begehung der dreißigjährigen 31 Thronbesteigung Pius’ IX. unterschrieb und wegen seiner Reden im Kultur- 32 kampf gerichtlich belangt wurde (Genf 1870, Einsiedeln 1871, Genf 1872, 33 34 35 18 P. SIEBERTZ (wie Anm. 2), S. 90, 95, 190, 199, 303, 417. 36 19 Karl Johann Georg v. Eisendecher an Otto v. Bismarck, Karlsruhe 25.12.1889. Hans- Jürgen KREMER (Hg.), Das Großherzogtum Baden in der politischen Berichterstattung der 37 preußischen Gesandten 1871–1918, 1. Teil, 1871–1899, 1990, S. 437f., 330, 135; 38 Walther Peter FUCHS (Hg.), Großherzog Friedrich I. von Baden und die Reichspolitik 1871– 39 1907, Bd. 2, 1879–1890, Stuttgart 1975, S. 79, 132, 387f., 413f.; Bd. 3, 1890–1897, Stuttgart 40 1980, S. 84f., 87, 207; Veröffentlichungen von Heinrich MAAS: Zum Frieden zwischen Kirche und Staat (1880); Geschichte der katholischen Kirche in Baden (1891); vgl. auch W. KOSCH 41 (wie Anm. 9), II, Sp. 2725; H.-G. ASCHOFF (wie Anm. 11), S. 450; zu Molitor: W. KOSCH 42 (wie Anm. 9), II, Sp. 3049. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Eine katholische Adels-Internationale 11

Ferney 1873),20 Marie Artaud Haussman (Einsiedeln 1871) und Johann Ja- 1 cob21 (Bregenz 1875). 2 Was die regionale Herkunft der Komitee-Mitglieder betrifft, so stammten 3 sie vom Niederrhein, aus dem südlichen Hessen, aus Baden und aus den Re- 4 gierungsbezirken Unterfranken und Oberpfalz des Königreichs Bayern (mit 5 Beziehungen nach Oberschwaben). Auffällig war die starke Verankerung in 6 Hessen-Darmstadt und im angrenzenden Unterfranken (Wambolt, Isenburg, 7 Löwenstein bzw. Schierstädt). Sie mag mit der starken sozialen Stellung der 8 hier und am Mittelrhein ursprünglich ansässigen reichsgräflichen und reichs- 9 freiherrlichen Adelsfamilien (Isenburg, Löwenstein, Wambolt, Walderdorff) 10 zusammenhängen, die für eine politische Vertretung »ultramontaner« Stand- 11 punkte genügend Zeit und Mittel aufbringen konnten. Allerdings handelte es 12 sich durchwegs um aktive Mitglieder der seit den 1860er Jahren hervortreten- 13 den katholischen Bewegung, so dass sich unter diesem Aspekt die Standes- 14 grenzen verwischten. Über die Komitee-Tätigkeit hinaus hielten vor allem des- 15 sen adlige Teilnehmer untereinander die Verbindung aufrecht: Loë mit Lö- 16 wenstein (1891), der über Schierstädt mit dem Genfer Komitee noch in 17 Berührung gestanden hatte, Isenburg mit Maas (1886), Wambolt und Loë mit 18 Blome. 19 20 Ein Netzwerk von Korrespondenten 21 22 Die Briefwechsel Pergens mit Loë (1874–1894), Wambolt (1871–1876, 1881– 23 1902) und Isenburg (1874–1888) geben Aufschluss darüber, wie die interna- 24 tionalen Kontakte während des Erscheinens und nach der Auflösung der Gen- 25 fer Correspondenz sich entwickelten und welcher Mittel sie sich bedienten. 26 Darüber hinaus fällt Licht auf die Entwicklung des deutschen und österreichi- 27 schen Katholizismus, auf deren Verhältnis zu den liberalen Bewegungen und 28 allgemein zu den politischen Entwicklungen. Diese kleine Adelsgruppe, die 29 allerdings Verbindungen zu gleichgesinnten Standesgenossen und zu bürger- 30 lichen Vertretern des Katholizismus unterhielt, war papsttreu gesinnt, trat dem 31 neuen, nationalen Liberalismus schon wegen des ererbten Standes unabhängig 32 33 20 Aufruf v. Mai 1876 in der Korrespondenz Loë-Pergen, HHSA, PP, II; Isenburg an Per- 34 gen, Birstein 27.6.1874, HHSA, PP, I. 35 21 Wahrscheinlich ist Heinrich Hansjakob (1837–1916) gemeint, politisch tätiger Priester 36 (Pfarrer in Hagnau und Freiburg i. Br.) und Volksschriftsteller, Mitglied der Katholischen Volks- partei Badens, die mit Erfolg gegen den badischen Kammerliberalismus auftrat; früher Befür- 37 worter einer Sozialreform. A.P.H. VAN RIJSWIJCK, Heinrich Hansjakob, Heerlen 1948, S. 39, 38 132 (nur Beziehungen zu Maas; diese Biographie ist allerdings unbefriedigend). Auch Artur 39 J. HOFMANN, Hansjakob und der badische Kulturkampf, Freiburg/Morstadt 1981; Hans HEID/ 40 Max WEBER, Heinrich Hansjakob und Rastatt, Rastatt 1995 sowie Helmut BENDER, Heinrich Hansjakob, in: Bernd OTTNAD (Hg.), Badische Biographien, Bd. 2, Stuttgart 1987, S. 117–120 41 (Literatur) geben keine Hinweise auf Hansjakobs mögliche Kontakte mit dem Genfer Komitee. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 gegenüber und beäugte kritisch die Entwicklungen im eigenen konfessionellen 2 Lager. 3 Die Mitglieder des »Komitees der Permanenten« hatten als Vertreter ihrer 4 Länder beim Genfer Büro den Kontakt zwischen diesem sowie den katholi- 5 schen Organisationen bzw. der Presse ihrer Länder zu vermitteln. Die Korre- 6 spondenz Wambolts, Isenburgs und Loës mit Pergen diente zunächst dem ver- 7 traulichen Gedankenaustausch, verschiedenen Absprachen, der Nachrichten- 8 übermittlung und dem gegenseitigen Zuspruch. Der Brief war dafür kein 9 ideales Medium. Um der Neugierde der staatlichen Post keine Nahrung zu 10 geben, wählte vor allem Wambolt Pseudonyme für Personen und Institutionen. 11 Loë suchte ein System von Deckadressen aufzubauen – in Tirol, in Goch am 12 Niederrhein und auf der holländischen Seite der Grenze sowie auf österrei- 13 chischem Gebiet an der »schlesischen Grenze«.22 Pergen verlangte von den 14 »Permanenten« Wambolt und Isenburg monatliche Berichte; diese und die an- 15 deren Länderberichte wurden gekürzt und zusammengefasst in der Genfer 16 Correspondenz veröffentlicht. Pergen schickte seinerseits »Procès verbaux«, 17 Protokolle internationaler Besprechungen und »Très confidentiels«. Isenburg 18 hielt angesichts der Tatsache, dass er vor allem aus Zeitungen schöpfen müsse, 19 1874 Vierteljahres- statt Monatsberichte für ausreichend.23 Als geeignete 20 Schwerpunkte seiner Berichterstattung nannte er Pergen unter anderem die 21 Vereinstätigkeit und die Wahlen zum Reichstag. 1877, als seine Berichte nicht 22 mehr erfordert waren, meldete er eine bessere Nachrichtensituation als in frü- 23 heren Jahren: Nach 1870 hatte er zunächst Zeitungsmeldungen und Nachrich- 24 ten verwerten müssen, die er bei seinen Reisen nach Berlin gewonnen hatte. 25 Wambolt, »permanenter« Vertreter und zeitweiliger Direktor im Komitee, 26 führte seine schwache »Wirksamkeit« darauf zurück, dass er zuviel vom 27 »Schreibtische aus regiren und agitiren mußte«.24 Die zurückgezogenen Stand- 28 orte in Birstein (Hessen) und Umstadt (Odenwald), die Ferne zu Berlin und 29 zu »den in der Regierung stehenden Leuten« empfanden beide Berichterstatter 30 ebenso als Beeinträchtigung wie die durch den Kulturkampf bewirkte Läh- 31 mung und Niedergeschlagenheit. Bei beiden war der Schock, den die kultur- 32 kämpferischen Aktionen der Regierungen auslösten, deutlich spürbar. 33 So erwiesen sich persönliche Begegnungen als besonders notwendig, die 34 manche Führungskräfte aber wiederum wegen Termin-Überschneidungen, ge- 35 richtlicher Vorladungen, Ferienreisen in der Sommerzeit oder wegen der vie- 36 len Presse-, Partei- oder Vereinsaktivitäten, die vor Ort geboten waren, nicht 37 wahrnehmen konnten. Die Briefpartner konstatierten 1876, dass das Interesse 38 für übernationale »allgemeine katholische Angelegenheiten« in Deutschland 39 40 22 Loë an Pergen, Terporten (bei Goch) 17.8.1875. HHSA, PP, II. 41 23 Isenburg an Pergen, Birstein 27.6.1874, 2.2.1877. HHSA, PP, I. 42 24 Wambolt an Pergen, Umstadt 5.7.1873. HHSA, PP, II. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Eine katholische Adels-Internationale 13 noch wenig entwickelt sei und dass es von den kirchlichen »Verhältnissen in 1 Deutschland« ohnehin nur Bedrückendes zu berichten gebe.25 So konnte Isen- 2 burg Lingens nicht für seine Vertretung auf der Jahrestagung in Annecy 1876 3 gewinnen, so dass vermutlich dort gar kein Vertreter aus Deutschland auf- 4 tauchte. Einige Male wurde über die Orte der Zusammenkünfte, etwa für Tref- 5 fen der »Permanenten«, die Pergen vorschlug, gestritten. Isenburg hielt Genf, 6 aber auch eine Stadt in Belgien, zu der die Italiener vermutlich nicht kämen, 7 und Rom, das zu unruhig sei, für ungünstig, und plädierte für das Zusammen- 8 treffen an einem »Gnadenort in Tirol« in dieser »traurigen Zeit« der Bedrän- 9 gung der Kirche.26 Indes warnte der Brixener Fürstbischof Vinzenz von Gasser 10 1875 Pergen vor der Anberaumung einer internationalen Katholikenkonferenz 11 in der Tiroler Hauptstadt Innsbruck wegen der zu erwartenden ablehnenden 12 Haltung des liberal gesinnten Innsbrucker Magistrats. 13 Solche Differenzen bewegten sich im Rahmen allgemeiner Erörterungen 14 über die Reform des Genfer Komitees und der internationalen Begegnungen, 15 die 1873/74 und noch einmal 1878 – nach dem Beginn des Pontifikats 16 Leos XIII. – einsetzten. Zwischen den Vertretern der Kurie, Pergen und sei- 17 nen Briefpartnern wurden mehrfach die Modalitäten einer Neugestaltung der 18 internationalen Beziehungen zwischen dem Laienkatholizismus der europäi- 19 schen Länder erörtert. Schon zur Zeit des Erscheinens der Genfer Correspon- 20 denz kam es zu Reibungen. Wambolt tadelte mehrmals Pergens zu lasche Ge- 21 schäftsführung sowie die Indolenz beteiligter Adelskreise. Klage wurde ge- 22 führt über Geheimniskrämerei, über die mangelnde Information der deutschen 23 Teilnehmer und die Übergehung des Direktors Hompesch.27 24 Aus deutscher Sicht ging es vor allem darum, schriftliche Nachrichten zu 25 empfangen oder weiterzugeben, die geeignet waren, die katholische Bevölke- 26 rung aufzuklären, ihr Zusammengehörigkeitsgefühl zu wecken oder zu stärken 27 und eine breitere internationale Öffentlichkeit über die Lage der Kirche in 28 Deutschland zu unterrichten. Wambolt erschien dafür 1873 Genf als liberaler 29 Druckort der Correspondenz geeigneter als Wien oder gar das »Gebiet eines 30 deutschen Staatsprokurators«, wo Strafen drohen würden: »Wir müssen allen 31 Gutgesinnten hier den Sprechsaal offen halten«.28 Wambolt und Pergen hatten 32 sich um die Annahme, Überarbeitung oder Ablehnung von Artikeln deutscher 33 Autoren zu kümmern,29 ebenfalls um Übersetzungsarbeiten, die beträchtliche 34 35 36 25 Isenburg an Pergen, Birstein 5.11.1876, 25.8.1876. HHSA, PP, I. 26 Isenburg an Pergen, Birstein 19.5.1874, 2.3.1874. HHSA, PP, I; vgl. zum Folgenden 37 GCP an die Permanenten, 17.7.1875, AC, 456, 20 b, 5; E. WEINZIERL-FISCHER (wie Anm. 9), 38 S. 474. 39 27 Wambolt an Pergen, Umstadt 19.3.1871, 4.3.1873; Loë an Pergen, Rom 20.5.1878. HH- 40 SA, PP, II. 28 Wambolt an Pergen, 4.3.1873. HHSA, PP, II. 41 29 Wambolt an Pergen, Umstadt 7.1.1873, 11.1.1873. HHSA, PP, II. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Sprachkenntnisse verlangten. Die Mitteilungen der Genfer Informationsbüros 2 waren an katholische Blätter in Deutschland weiterzugeben. Nach einer inter- 3 nen Aufstellung sollten zwischen 1870 und 1873 120 deutsche Zeitungen Ab- 4 nehmer der Genfer Correspondenz sein: Abnehmer waren danach nicht nur 5 die Kirchenblätter und Zeitungen der mehrheitlich katholischen Gebiete – 6 Emsland, Westfalen, Rheinland, Baden, Oberschwaben, Bayern, Schlesien, 7 Posen – sondern auch Blätter der Enklaven oder Diasporagebiete wie Hildes- 8 heim, Osnabrück, Fulda, Magdeburg, Danzig, Braunsberg in Ostpreußen und 9 Elberfeld. Nach der Änderung des Systems und der Aufhebung der Genfer 10 Correspondenz Ende 1873 nahm sich der Abnehmerkreis für die Botschaften 11 Czackis in einer Meldung Isenburgs vom Frühjahr 1874 sehr viel bescheidener 12 aus: Für die Absetzung von Nachrichten des Genfer Informationsbüros seien 13 die Deutsche Reichszeitung (Bonn), das Märkische Kirchenblatt (Berlin) und 14 die Germania (Berlin) gewonnen.30 Isenburg wollte als »Permanenter« diese 15 Vermittlungsaufgabe nicht allein übernehmen und machte die Zuziehung des 16 Mainzer Domkapitulars Heinrich Moufang zur Bedingung seiner Mitarbeit im 17 Komitee. Anfang 1876 wurden in Deutschland noch immer alle von Genf aus- 18 gehenden Initiativen mit großem Misstrauen aufgenommen.31 19 20 Erneutes Ringen um ein internationales katholisches Pressezentrum 21 22 Angesichts solcher Schwierigkeiten begannen Loë und der Mainzer Verein 23 spätestens im August 1874 mit dem Aufbau eines eigenen Korrespondenzbü- 24 ros in der preußischen Universitätsstadt Bonn, für das sich der den Genfern 25 bekannte Redakteur Dr. Winand Virnich (1836–1890)32 zur Verfügung stellte. 26 Virnich war zwischen 1867 und 1873 unter anderem Schriftleiter der Essener 27 Volkszeitung, der Breslauer Hausblätter und der Deutschen Reichszeitung 28 (Bonn) gewesen, wurde 1873 Mitglied des Zentralkomitees der Rheinischen 29 Zentrumspartei und von 1887–1890 Mitglied des Reichstags. In Bonn hoffte 30 Loë junge Universitätsabsolventen für die Mitarbeit zu gewinnen. Er begrüßte 31 Pergens Plan zur Einrichtung eines neuen Konferenzbüros in Wien, wollte aber 32 anscheinend die alten Fehler vermieden wissen: Die Artikel der Genfer Cor- 33 respondenz seien »vielfach in französischem Stile geschrieben«33 und »für un- 34 sere deutschen Zeitungen wenig werth« gewesen.34 Nunmehr und für die Zu- 35 36 30 Isenburg an Pergen, Birstein 27.3.1874. HHSA, PP, I. Aufstellung der Empfänger-Zei- 37 tungen 1870–1873: AC, 456, 20 b, 3. 38 31 Wambolt an Pergen, Umstadt 21.1.1876. HHSA, PP, II. 39 32 B. HAUNFELDER (wie Anm. 13), S. 276; H. LEPPER (wie Anm. 16), S. 173, 183, 198, 251. 40 33 Loë an Pergen, Terporten 5.10.1874. HHSA, PP, II. 34 Loë an Pergen, Terporten 22.8.1874. HHSA, PP, II. Gegen die Eignung eines bestimm- 41 ten Redakteurs führte Loë unter anderem dessen jüdische Herkunft an. Vgl. Peter PULZER, 42 The Rise of Political Anti-Semitism in and Austria, London 1988 (1964), S. 267. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Eine katholische Adels-Internationale 15 kunft wollte er römischen Meldungen »rasche Auskunft« und authentische 1 Tatsachenberichte entnehmen können, um etwa den »Lügen« oder antikirch- 2 lichen Sensationsmeldungen der liberalen und offiziösen Presse sogleich ent- 3 gegentreten zu können. Besonders ungeeignet fand er die früheren Korrespon- 4 denzen des »Mr. Frederic« d.h. des Monsignore Czacki. Die Gewinnung ei- 5 gener auswärtiger Korrespondenten in Wien und Rom, bei der Pergen, ein Graf 6 Fugger und ein Graf Waldburg behilflich waren, aber auch in Paris und Lon- 7 don, sollte vor allem dazu dienen, die katholischen deutschen Blätter mit Aus- 8 landsnachrichten zu versorgen.35 Für Nachrichten vom inländischen Markt sah 9 Loë hingegen den Bedarf gedeckt. Auch war an einen Austausch von Artikeln 10 und Nachrichten zwischen deutschen und österreichischen Zeitungen gedacht; 11 insbesondere sollte Pergen für die Verbreitung von Zusendungen Virnichs und 12 des Mainzer Vereins in der katholischen Presse Österreichs sorgen. Loë hegte 13 im Oktober 1874 den ehrgeizigen Plan, in allen europäischen Hauptstädten 14 Korrespondenten anzustellen, die dort die öffentliche Meinung im katholi- 15 schen Sinne beeinflussen sollten. 16 Nach dem definitiven Ende der Genfer Correspondenz 1873 und des nach 17 dieser weiterbestehenden »Komitees der Permanenten«, von dem Isenburg Loë 18 Anfang 1877 in Kenntnis setzte,36 machte sich das Fehlen einer internationalen 19 »Centralstelle« nachteilig bemerkbar. Loë unterhielt nun selbst Kontakte zu 20 Wladimir Czacki, dem Vertrauten Papst Pius‘ IX. (»innominato«), zu Kardinal 21 Alessandro Franchi und zu Herzog Scipione Salviati, dem Leiter der (nicht po- 22 litischen) katholischen Bewegung in Italien, des Opera dei Congressi. Er be- 23 mühte sich mit Pergen um die Wiederbelebung katholischer internationaler Ver- 24 sammlungen oder zumindest kleiner Komitees und suchte auch seine römischen 25 Korrespondenten dafür zu gewinnen. Eine erste, im Herbst 1877 unter dem Vor- 26 sitz Mermillods in Rom anlässlich der Pilgerfahrten einberufene internationale 27 Konferenz blieb ergebnislos.37 Unter Leo XIII. gründete Kardinal Franchi ein 28 29 35 Loë an Pergen, Terporten 5.10.1874, anliegend ausführliches Programm für das Kor- 30 respondenzbüro unter Virnich (Bonn, Colmantstr. 5). HHSA, PP, II. Erst 1894 entstand in 31 Wien die katholische Reichspost. Friedrich FUNDER, Vom Gestern ins Heute. Aus dem Kai- 32 3 serreich in die Republik, Wien/München 1971, S. 122ff., 235. 33 36 Loë an Pergen, Terporten 2.3.1877. HHSA, PP, II. 37 Loë an Pergen, Terporten 21.10.1877. HHSA, PP, II. Kardinal Czacki, aufgrund seiner 34 diplomatischen Laufbahn mit den Verhältnissen Europas wohlvertraut, vertrat die Ansicht, die 35 Kirche »müsse mit allen Regierungen und auch mit der Demokratie gute Beziehungen pflegen« 36 (1885). Bogdan GRAF VON HUTTEN-CZAPSKI, Sechzig Jahre Politik und Gesellschaft, Bd. 1, Berlin 1936, S. 135, 13. Zu Salviati, 1878–1884 Leiter des Opera, Silvio TRAMONTIN, Opera 37 dei congressi e dei comitati cattolici in Italia, in: Francesco TRANIELLO/Giorgio CAMPANINI, 38 Dizionario storico del movimento cattolico in Italia 1860–1980, Bd. I/2, Turin 1981, S. 336– 39 347; vgl. Christoph WEBER, Kardinäle und Prälaten in den letzten Jahrzehnten des Kirchen- 40 staates. Elite-Rekrutierung, Karriere-Muster und soziale Zusammensetzung der kurialen Füh- rungsschichten zur Zeit Pius’ IX. (1846–1878), Halbband 1–2, Stuttgart 1978, S. 301–304, 331, 41 548 (Czacki hier nicht erwähnt). 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 stärker an die Kurie gebundenes »internationales Presse-Zentrum«, für das Per- 2 gen, Salviati und Loë nun tätig wurden. Loë und der Leiter des Mainzer Kor- 3 respondenz-Büros des 1876 aufgelösten Mainzer Vereins, Dr. Eduard Marcour, 4 suchten eine Schlüsselstellung für die Weitergabe der seit 1878 wieder aus Rom 5 einlaufenden Nachrichten an die katholische Presse zu erlangen. Marcour, so 6 schlug Loë vor, sollte diese Eingänge an interessierte Blätter in Deutschland 7 verteilen, Loë davon jeweils direkt Abdrucke aus Rom sowie »confidentielle 8 Sachen und Briefe« erhalten.38 Umgekehrt erboten sich Loë und Pergen, Nach- 9 richten aus Deutschland und Österreich sowie an sie herangetragene Wünsche 10 und Bemerkungen an den Vatikan zu senden. Loë bestand darauf, aus Rom kei- 11 ne »Direktiven«, sondern Nachrichten über klare Fakten ohne diplomatische 12 Ummäntelung zu erhalten. Aber er forderte, über diese öffentlich verwertbaren 13 Informationen hinaus vertrauliche Mitteilungen zu bekommen, die ihn instand 14 setzen würden, bei komplizierten Entwicklungen wie der Anbahnung von Ver- 15 handlungen zwischen Berlin und Rom jenes Hintergrundwissen zu erwerben, 16 das ihm für eventuell erforderliche Stellungnahmen oder Dementis der katho- 17 lischen Presse unverzichtbar schien.39 Wie es um die Informationen aus dem 18 Zentrum der Kirche stand, ging auch daraus hervor, dass die Katholiken in 19 Deutschland erstmals aus der (liberalen) Kölnischen Zeitung vom Tode 20 Pius’ IX. erfuhren. Bis 11. Juli 1878 konnte Loë zehn zum Empfang der neuen 21 römischen Korrespondenzen bereit stehende Zeitungen melden.40 Das System 22 bewährte sich aber offenbar nicht, weil keine regelmäßigen Nachrichtenartikel 23 aus Rom eintrafen, folglich einige der von Loë gewonnenen Zeitungen, weil 24 sie diese Meldungen einplanen mussten, schon nach wenigen Monaten die Ab- 25 nahme kündigen wollten.41 Die bedeutende Kölnische Volkszeitung wehrte sich 26 überhaupt gegen die Zwischenschaltung eines Vertrauensmannes. Loë hatte eine 27 solche Stellung allerdings nicht nur für sich verlangt, sondern auch Korrespon- 28 denzpartner für die anderen europäischen Länder in Anregung gebracht. Nach 29 den bisherigen Erfahrungen schien es ihm zweckmäßig zu sein, diesen »Ver- 30 trauensmännern« von Rom aus wirklich Vertrauen zu schenken und ihnen auch 31 Informationen zugänglich zu machen, die nicht in die für die Öffentlichkeit be- 32 stimmten Korrespondenzen Aufnahme finden würden.42 33 34 35 38 Möglichst an die Deckadresse Blienbeck (Niederlande). Loë an Pergen, Räckelwitz 36 (Sachsen) 24.6.1878, 8.7.1878. HHSA, PP, II. 39 Loë an Pergen, Terporten 11.6.1878, 8.8.1878; vgl. Loë an Pergen, Köln 7.2. [1878]. 37 HHSA, PP, II. 38 40 Deutsche Reichszeitung (Bonn), Germania (Berlin), Trier’sche Landeszeitung, Libori- 39 us-Blatt (Paderborn), Fuldaer Zeitung, Düsseldorfer Volksblatt, Rheinischer Merkur (Köln), 40 Kölnische Volkszeitung, Niederrheinische Volkszeitung (Krefeld), Neuss-Grevenbroicher Zei- tung. Loë an Pergen, Terporten 10.7.1878, 11.7.1878. HHSA, PP, II. 41 41 Loë an Pergen, Terporten 8.9.1878. HHSA, PP, II. 42 42 Loë an Pergen, Terporten 28.6.1878. HHSA, PP, II. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Eine katholische Adels-Internationale 17

Internationale Aktivitäten und katholische Solidarität 1 2 Das Genfer Komitee und die seinen Absichten treu bleibenden ehemaligen 3 Mitglieder legten entscheidenden Wert auf nationen-übergreifende Aktivitäten 4 und »Demonstrationen« katholischer Solidarität. Isenburg, Loë, Wambolt und 5 andere dem Zentrum oder der Bayerischen Patriotenpartei nahestehende Ad- 6 lige, an erster Stelle Karl zu Löwenstein, setzten sich für international oder 7 national zusammengesetzte Deputationen und Pilgerfahrten nach Rom ein; da- 8 bei fanden die national organisierten Wallfahrten in Deutschland mehr Zulauf 9 als die internationalen.43 Diese Pilgerfahrten bildeten nach der Absicht ihrer 10 Initiatoren die Fortsetzung der Massendemonstrationen, die anläßlich von 11 Papstadressen, Papstfeiern und Wallfahrten zu Anfang der 1870er Jahre statt- 12 gefunden hatten. Die deutschen Teilnehmer der Genfer Konferenzen unter- 13 nahmen erhebliche Anstrengungen, auch das Vereinswesen für den überna- 14 tionalen Zusammenhalt des Katholizismus nutzbar zu machen. Dabei wurde 15 deutlich, dass den deutschen Vereinsbildungen eine gewisse Modellfunktion 16 zukam. So sammelte Isenburg »Statuten verschiedener katholischer Vereine«, 17 um sie Monsignore Grassi in Mailand übergeben zu lassen;44 Loë übersandte 18 Pergen die Statuten der katholischen Casinos von München und Aachen.45 19 Dieser interessierte sich auch lebhaft für die Entstehung des 1873 um 20 88 000 Mitglieder zählenden Mainzer Vereins (»Vereins der Mainzer Katho- 21 liken«), dessen Keimzelle, wie Loë ihm genau schilderte, in der Bildung eines 22 siebenköpfigen Zentralkomitees der Katholikentage gelegen hatte, die 1868 23 auf der 19. Generalversammlung der katholischen Vereine Deutschlands in 24 Bamberg vorgenommen worden war.46 Für die Verbreitung des 1872 gegrün- 25 deten, Ende 1875 gerichtlich verbotenen Mainzer Vereins setzten sich in 26 Rheinland und Westfalen, wo er die weitaus meisten Mitglieder gewann, aus 27 dem Kreis des Genfer Komitees Felix von Loë, Ferdinand von Hompesch- 28 Bollheim und Joseph Lingens ein, in Hessen Wambolt und Karl von Isenburg- 29 Birstein, in Baden Jakob Lindau, in Bayern Karl von Löwenstein und Graf 30 Ludwig von Arco-Zinneberg. Unter den deutschen Bischöfen stellte sich allein 31 Heinrich Hofstätter von Passau gegen den angeblich die kirchliche Hierarchie 32 beeinträchtigenden Verein. Nachdem Graf Arco-Zinneberg den Hl. Stuhl über 33 34 35 43 Isenburg an Pergen, Offenbach 10.2.1876 mit Postskript Kleinheubach 21.2.1876, HH- 36 SA, PP, I; Wambolt an Pergen, Umstadt 21.6.1876, HHSA, PP, II; reiches Material bei P. SIEBERTZ (wie Anm. 2), S. 279ff., 314–345. 37 44 Isenburg an Pergen, Birstein 27.8.1876. HHSA, PP, I. 38 45 Loë an Pergen, Terporten 14.5.1874. HHSA, PP, II. 39 46 Loë an Pergen, Terporten 25.3.1876, HHSA, PP, II; vgl. über den Mainzer Verein: Jo- 40 hannes B. KISSLING, Geschichte des Kulturkampfes im Deutschen Reiche, Bd. 2, Freiburg i.Br. 1913, S. 309–325, Bd. 3, Freiburg i.Br. 1916, S. 128–134; K. BUCHHEIM (wie Anm. 1), 41 S. 180f., 259–263; F. VIGENER (wie Anm. 6), S. 669. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 die Ziele des Mainzer Vereins unterrichtet hatte, wies ein päpstliches Breve 2 vom 10. Februar 1873 Hofstätter zurecht und billigte ausdrücklich den Einsatz 3 des Vereins für die Rechte der Kirche und die Freiheit der Seelsorge. 4 Loë ermutigte Pergen mehrfach, das Beispiel der deutschen Katholikentage 5 nachzuahmen und für die Einrichtung selbständiger österreichischer Katholi- 6 kentage sich der Mithilfe der österreichischen Bischöfe zu versichern, die da- 7 durch von ihren josephinisch-staatskirchlichen Traditionen abgebracht wür- 8 den. Wie er selbst österreichische Delegationen zu den deutschen Katholiken- 9 tagen erbat, so schickte Loë Pergen eine Liste von 68 namhaften Katholiken 10 aus mehreren größeren deutschen Bundesstaaten, die er für Einladungen zu 11 dem ersten österreichischen Katholikentag (Wien 1877) empfahl.47 Obwohl 12 in Deutschland ein Mangel an Rednern herrschte, bemühte Loë sich 1874, für 13 eine Zusammenkunft von Katholiken in Wien den Stadtpfarrer Adalbert Huhn 14 aus München-Au oder den Gründer der Katholischen Volkspartei in Baden, 15 Jakob Lindau, zu gewinnen. Durch die Knüpfung engerer Beziehungen zwi- 16 schen den deutschen und österreichischen Katholiken wollte Loë sogar dazu 17 beitragen, den politischen, seit 1866 eingetretenen Riss zwischen Deutschland 18 und Österreich zu überbrücken. 19 Doch stand hinter solchen großdeutschen Absichten keine nationalistische 20 Einstellung, wohl aber Abneigung gegen einen »Neo-Borussismus«, der sich 21 antikirchlich gebärde (Wambolt). Isenburg schloss »nationale Animositäten 22 [...] für den Katholiken unserer Färbung« prinzipiell aus.48 Wambolt sah im 23 »Partikularismus und Chauvinismus die schlimmsten Vorwürfe [...], die dem 24 Katholiken geboten werden (!) können«; interessant ist hier die Verwendung 25 des Begriffs Partikularismus – offenbar auch zur Bezeichnung nationaler Ab- 26 schließungstendenzen –, während die nationalen Liberalen diesen Begriff zur 27 Abwertung »ultramontaner« Bestrebungen heranzogen. Wambolt stellte seinen 28 »Katholicismus« über seinen »Germanismus«,49 wenngleich er zu der Menta- 29 lität der slowenischen Einwohner seiner neuen Heimat Unterkrain nur schwer 30 Zugang fand. Von ihren österreichischen Freunden und vom Kaiserhaus er- 31 hofften Isenburg, Loë, Baron Schierstädt und dessen Vorgesetzter Löwenstein 32 finanzielle Hilfe für den infolge des Brotkorbgesetzes plötzlich mittellos ge- 33 34 35 36 47 Loë an Pergen, Terporten 27.7.1876. HHSA, PP, II. Allgemeine österreichische Katho- likentage: 1877 Wien, 1889 Wien, 1892 Linz, 1896 Salzburg, 1905 Wien, 1907 Wien, 1910 37 Innsbruck. Friedrich STRASSNIG/Fritz DOLLMANITS, Katholiken und Päpste in Österreich. Do- 38 kumentationsmaterial der vom 1. bis 31. August 1983 von der Österreichischen Nationalbib- 39 liothek veranstalteten Ausstellung, Wien 1983. Vgl. zum Folgenden Loë an Pergen, Terporten 40 7.3.1874, HHSA, PP, II; Walter SAUER, Katholisches Vereinswesen in Wien. Zur Geschichte des christlich-konservativen Lagers vor 1914, Salzburg 1980, S. 34–40. 41 48 Isenburg an Pergen, Birstein 19.5.1874. HHSA, PP, I. 42 49 Wambolt an Pergen, Laibach 23.8.1876. HHSA, PP, II. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Eine katholische Adels-Internationale 19 wordenen Pfarrklerus in Preußen.50 Unter den fünf besonders notleidenden Di- 1 özesen befanden sich Trier und Hildesheim. (Im Bistum Trier sank während 2 des Kulturkampfs in 15 Jahren die Zahl der Pfarrer von 816 auf 442; mehr 3 als 200 Trierer Priester wurden gefangen gesetzt oder zur Emigration genö- 4 tigt.) Die Bemühungen blieben nicht vergeblich. Mehrfach warb Isenburg auch 5 für den St.-Raphaels-Verein zum Schutz katholischer Auswanderer in Öster- 6 reich, unter anderem wies er darauf hin, dass der Verein sich die seelsorgliche 7 Betreuung der sehr zahlreichen slawisch sprechenden Auswanderer aus Böh- 8 men angelegen sein lasse.51 Auch im Verhältnis zu anderen Staaten waren es 9 die kirchlichen Belange, die zur Anknüpfung von Banden der Annäherung mo- 10 tivierten. Die Telegramme und Sympathieadressen von 50 katholischen Män- 11 ner- und Frauenvereinen Italiens an den Freiburger Katholikentag von 1875 12 nahm dessen Präsident Wambolt ebenso dankbar an wie die der Österreicher 13 und anderer Nationen52 und rief seinerseits die deutschen katholischen Vereine 14 zur Entsendung von Antwort-Adressen auf. Wambolt bestürmte 1892 Pergen, 15 als »Kommissär der Oesterreichischen Katholikentage« eine Adresse an den 16 Spanischen Katholikentag in Sevilla zu richten, um dessen Demonstration der 17 Verbundenheit mit den Ländern der neuen Welt – 400 Jahre nach der Ent- 18 deckung Amerikas – und dessen Eintreten für die »Unabhängigkeit des 19 Hl. Stuhls« zu unterstützen.53 Die »Genf-Einsiedler-Freunde« von 1870/71 ga- 20 ben die Hoffnung nicht auf, dass regelmäßig internationale Vereinstreffen or- 21 ganisiert werden könnten, aus denen länderübergreifende, zentrale Katholiken- 22 Komitees hervorgehen würden. Loë plante eine »internationale Besprechung« 23 anlässlich der 1881 unternommenen Wallfahrt des 1879 gegründeten »Cani- 24 sius-Vereins zum Schutze der religiösen Erziehung der Jugend« nach Freiburg 25 (Schweiz).54 Dieser Verein trat für die den Kindern, den Eltern und der Kirche 26 zukommenden Rechte an den staatlich dominierten Schulen ein. Er war nach 27 dem international wirkenden Jesuiten Petrus Canisius (1521–1597) benannt, 28 der, in den Niederlanden geboren, seine Tätigkeit auf Deutschland, Österreich 29 und die Schweiz ausgedehnt hatte. Bis September 1880 hatte der Verein 30 50 000 Mitglieder gewonnen. Seinem Vorstand gehörten aus dem früheren 31 Umkreis des Genfer Komitees Karl zu Löwenstein, Schierstädt, Loë, Wambolt, 32 Virnich, sodann Domkapitular Paul Haffner aus Mainz, Kaplan Georg Fried- 33 rich Dasbach aus Trier und andere führende Katholiken an; die Genannten 34 waren schon früher aktiv und teils 1868 auf der Katholikenversammlung in 35 36 37 50 Isenburg an Pergen, Birstein 17.12. [1875]. HHSA, PP, I; Loë an Pergen, Terporten 38 15.9.1875, 13.10.1875, 20.1.1876. HHSA, PP, II. 39 51 Isenburg an Pergen, Birstein 27.3. [1874], ders. an dens., Berlin 5.11.1888. HHSA, PP, I. 40 52 Rundschreiben Wambolts, Freiburg i.Br. 4.9.1875. HHSA, PP, II. 53 Wambolt an Pergen, Hopfenbach (Unterkrain [heute Hmeljnik]) 27.9.1892. HHSA, PP, II. 41 54 Loë an Pergen, Terporten 5.6.1881 u. 27.9.1880. HHSA, PP, II. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Dieburg in der Diözese Mainz vertreten gewesen.55 Loë schien regelrecht auf- 2 zublühen, als er im Auftrag des katholischen Vereins Belgiens zu dessen Ge- 3 neralversammlung 1885 nach Löwen einladen konnte. Dort wurde die Bildung 4 eines Zentralkomitees und internationalen katholischen Kongresses beschlos- 5 sen; Mermillod billigte den Plan.56 Für Loë ergaben sich hier Kontakte mit 6 dem Vizepräsidenten der Union nationale Belgiens, Graf Albert Robiano. Ins- 7 gesamt vermisste Loë unter dem beginnenden Pontifikat Papst Leos XIII. die 8 Anregungen für »internationale Zusammenkünfte« und eine entsprechende 9 »Ermuthigung«; aber dieser Ultramontane verlangte nicht nach einer »autori- 10 tativen Initiative Rom’s«, sondern demonstrierte auch durch sein Handeln, 11 dass er immer wieder auf »Privatwege« setzte, um zu einem internationalen 12 Aktionsbündnis zu gelangen.57 Eine der Bestrebungen des Genfer Komitees 13 war gewesen, mit Rückhalt der Kurie – der allerdings versagt worden war – 14 als eine Art supranationales Weisungsgremium gegenüber den Katholiken-Ko- 15 mitees der einzelnen Länder zu fungieren. Felix Loë zeigte sich mehrfach als 16 Anwalt dezentraler Lösungen, obwohl er einen übernationalen Zusammenhalt 17 anstrebte, und bevorzugte zugleich direkte Verbindungen zur Kurie. 18 19 Die Stellung des katholischen Adels zu Religion und Gesellschaft 20 21 Alle diese Organisationsbemühungen entsprangen wohl weniger einer reak- 22 tionären, autoritativen oder interessengeleiteten Einstellung der beteiligten 23 Adelskreise. Sie zielten vielmehr auf die Wiedergewinnung einer christlichen 24 Gesellschaft, wie diese auch von konservativen französischen Katholiken er- 25 strebt wurde. Der Internationalismus der ultramontanen Adligen ist von ihren 26 die neue Welt der Nationalstaaten übergreifenden älteren Beziehungen, Hei- 27 ratsverbindungen und Besitztransaktionen sicherlich begünstigt worden. Deut- 28 lichere Anhaltspunkte für ihre Zielvorstellungen lassen sich der verstärkt in 29 den 1850er Jahren einsetzenden Neubesinnung des katholischen Adels in 30 Deutschland entnehmen. Schon nach 1848 hatte sich die soziale und politische 31 Stellung des Adels im Verhältnis zur Vormärzzeit verschlechtert. Die Auflö- 32 sung des Deutschen Bundes 1866 leitete die Beseitigung der in Artikel 14 der 33 Bundesakte garantierten standesherrlichen Vorrechte ein. Im Vormärz hatte 34 sich der katholische Adel beispielsweise in Württemberg, wo er noch viele 35 Kirchenpatronate innehatte, gegenüber der staatlichen Bürokratie für die Er- 36 haltung der kirchlichen Rechte und Freiheiten eingesetzt. Schon hier begann 37 38 55 1. Jahresbericht des Canisiusvereins, Mainz 8.9.1880; F. VIGENER (wie Anm. 6), 39 S. 529; Petrus Canisius. Er bewegte den Erdteil, hg. v. der Diözese Innsbruck, Innsbruck 1994. 40 56 Loë an Pergen, Terporten 6.4.1885, 17.5.1885 u. 10.6.1885. Vgl. Paul GÉRIN, Catho- licisme social et démocratie chrétienne (1884–1904), in: Emmanuel GERARD/Paul WYNANTS 41 (Hg.), Histoire du mouvement ouvrier chrétien en Belgique, Tom. 1, Löwen 1994, S. 59–113. 42 57 Loë an Pergen, Räckelwitz (Sachsen) 18.7.1881, Terporten 22.6.1881. HHSA, PP, II. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Eine katholische Adels-Internationale 21 er anscheinend, die Brücke zur katholischen Volksbewegung zu schlagen. Zu- 1 gleich intensivierte er seine Organisationsbemühungen. 1863 entstand der Ver- 2 ein katholischer Edelleute Westfalens, 1869 der Verein katholischer Edelleute 3 Deutschlands mit Sitz in Münster, der auch Österreich einschloss, 1876 die 4 Genossenschaft katholischer Edelleute in Bayern.58 Die Zentrumsabgeordne- 5 ten Ludwig Windthorst und Peter Reichensperger setzten sich 1876 im Reichs- 6 tag für die Erhaltung der standesherrlichen Gerichtsbarkeit ein; ihr mehrfach 7 geäußertes Bestreben nach allgemeiner Wahrung von gegebenen Rechten ent- 8 sprechend dem Zentrumsprogramm stimmte hier mit bestimmten Adelsinter- 9 essen überein. Loë sandte Pergen die Statuten des Vereins katholischer Edel- 10 leute zu und ging davon aus, dass sein österreichischer Freund mit diesem 11 Reformprogramm einverstanden sein würde.59 12 Die Schrift »An den katholischen Adel Deutschlands« (1869) weist einige 13 Parallelen zu den von den Genfern verwendeten Argumentationsmustern auf. 14 Der Adel erscheint »dank seiner unabhängigen Stellung« als der prädestinierte 15 Anwalt der Kirche. Er tritt aus prinzipiellen Gründen für »Recht und Wahr- 16 heit« ein – zugleich eine Forderung der Zentrumspartei wie des Mainzer Ver- 17 eins von 1872. Darüber hinaus bezeugt speziell seine kirchliche Gesinnung 18 seine Abkehr von den historischen Fehlern seiner Vorfahren, der »adligen Kir- 19 chenfürsten«, die durch ihren verweltlichten Wandel beim Volk das »Vertrau- 20 en in die Göttlichkeit der Kirche« untergruben und dadurch halfen, der Revo- 21 lution den Weg zu bereiten.60 Der Adel soll »ein einfach gläubiges, folgsames, 22 liebendes Glied der Kirche werden«.61 Eine historische Fehlentwicklung wird 23 auch darin gesehen, dass der Adel sich in der jüngsten Vergangenheit zu sehr 24 an die Seite der die Staatsgewalt überschätzenden Fürsten und Regierungen 25 drängen ließ. Sein zeitgerechter Platz wird dem Adel in einer gegliederten Ge- 26 sellschaft zugewiesen, wo er eine intermediäre Stellung zwischen der Krone 27 und dem Volk beziehen und die Gegensätze zwischen diesen einander feind- 28 lich gegenübertretenden Mächten der neuen Zeit überbrücken soll. Die eigene 29 Vereinsorganisation ist offenbar selbst ein Zugeständnis an die moderne Welt, 30 eine Adelsreform, um inmitten der Veränderungen auf neue Weise die eigene 31 32 33 58 Heinz REIF, Adelserneuerung und Adelsreform in Deutschland 1815–1874, in: Elisabeth FEHRENBACH/ Elisabeth MÜLLER-LUCKNER (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770– 34 1848, München 1994, S. 203–230, 214; vgl. Walter-Siegfried KIRCHER, Adel, Kirche und Po- 35 litik in Württemberg 1830–1851. Kirchliche Bewegung, katholische Standesherren und Demo- 36 kratie, Göppingen 1973, S. 68ff., 256–263; Rolf SCHIER, Standesherren. Zur Auflösung der Adelsvorherrschaft in Deutschland (1815–1918), Heidelberg/Karlsruhe 1977, S. 121, 130–134. 37 59 Loë an Pergen, Terporten 27.9.1880. HHSA, PP, II. 38 60 An den katholischen Adel Deutschlands, Mainz 1869: Druck von Franz Sausen, 23 S., 39 Beilage zu dem Brief Loë an Pergen, Terporten 27.9.1880, HHSA, PP, II, hier S. 7f.; Eintreten 40 für »die unabänderlichen Prinzipien des Rechts und der Wahrheit«: Isenburg an Pergen, Bir- stein 2.11.1877. HHSA, PP, I. 41 61 An den katholischen Adel, S. 80. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 gesellschaftliche und politische Stellung zu definieren und zu sichern. Die 2 Schrift findet die »absolute Monarchie« ebenso überlebt wie den »Parlamen- 3 tarismus« und die »Beamtenheere«; sie fordert eine zwischen Adel und Volk 4 näher anzubahnende »persönliche Beziehung«.62 Damit soll zwar der Adel er- 5 halten werden, sich aber als Stand zumal von den breiteren Bevölkerungs- 6 schichten nicht abkapseln. Ein gewisser Patriarchalismus spricht aus der Ab- 7 sicht, dass der »katholische Adel« einerseits die Freiheitsrechte des Volkes 8 »gegen Übergriffe der Machthaber« schützen, andererseits aber das Volk im 9 Gefühl der »Achtung und Liebe zu der von Gott gesetzten Autorität« bestärken 10 soll. 11 Diese Neubestimmung der politisch-gesellschaftlichen Position, die dem 12 Adel eine eigentümlich schillernde demokratisch-patriarchalische Aufgabe zu- 13 wies, erfuhr sichtlich eine Stärkung durch das Sentire cum ecclesia, die ultra- 14 montane Mobilisierung der katholischen Gläubigen für den »Gefangenen im 15 Vatikan«, wie ein geflügeltes Wort in den 1870er Jahren lautete, für die in 16 ihrem gefesselten Oberhaupt gleichsam leidend verkörperte Kirche. Immer 17 wieder beriefen sich die deutschen Genfer auf die »Volksbewegung«, die ihr 18 ein sichereres Unterpfand einer guten Zukunft zu bieten schien als der »Par- 19 lamentarismus« und der »Liberalismus«. Wie schon erwähnt, war auch ihre 20 Vorliebe für Österreich-Ungarn am ehesten daraus erklärlich, dass es sich bei 21 diesem Staat, dessen innere Auseinandersetzung um die konfessionellen Ge- 22 setze mit dem preußischen Kulturkampf etwas vorschnell parallelisiert wur- 23 de,63 um die einzige verbliebene katholische Großmacht mit traditionell engen 24 Beziehungen zum Papsttum handelte. Ideal für Österreichs Entwicklung fand 25 darum Loë, der in diesem Punkt sicherlich auf die Zustimmung seiner Freunde 26 rechnen konnte, die Entstehung einer »katholischen Partei« oder Volksbewe- 27 gung, auf die sich der Kaiser würde stützen können.64 Mochten solche Erwä- 28 gungen unrealistisch sein, weil auch Österreich-Ungarn vom Liberalismus er- 29 30 31 62 Ebd. S. 21, 4. 32 63 Loë an Pergen, Terporten 7.3.1874, 14.5.1874. HHSA, PP, II. Über die konfessionellen 33 Gesetze 1868 und 1874: Erika WEINZIERL, Spannungen in der österreichisch-ungarischen Monarchie 1878–1914, in: H. JEDIN (wie Anm. 3), S. 48–52; Friedrich ENGEL-JANOSI, Öster- 34 reich und der Vatikan 1846–1918, Bd. 1, Graz 1958, S. 184–194; Gavin LEWIS, Kirche und 35 Partei im Politischen Katholizismus. Klerus und Christlichsoziale in Niederösterreich 1885– 36 1907, Wien/Salzburg 1977, S. 9–18; Heinrich BRÜCK/Johannes B. KISSLING, Geschichte der katholischen Kirche in Deutschland im 19. Jahrhundert, Bd. 3, Münster 1905, S. 214–272, 37 Bd. 4, Münster 1908, S. 187–217. 38 64 Loë an Pergen, Terporten 2.3.1877. HHSA, PP, II. Vgl. Georg FRANZ, Kulturkampf. 39 Staat und katholische Kirche in Mitteleuropa. Von der Säkularisation bis zum Abschluß des 40 preußischen Kulturkampfes, München 1954, S. 126. Auftreten eines mit dem Liberalismus und Nationalismus verbundenen Antiklerikalismus seit etwa 1848: Karl-Reinhart TRAUNER, Die 41 Los-von-Rom-Bewegung. Gesellschaftspolitische und kirchliche Strömung in der ausgehenden 42 Habsburgermonarchie, Szentendre (Ungarn) 1999. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Eine katholische Adels-Internationale 23 fasst war und weil jede Art von Parteipolitik in dem Vielvölkerstaat neo-ab- 1 solutistischen Zuschnitts besondere Bedingungen zu erfüllen hatte, so konnte 2 man, von ihnen ausgehend, kritische Anfragen an das neue Staatensystem stel- 3 len, wie es sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hatte: Wenn die Re- 4 gierungen nur noch den Staatsegoismus zur Richtschnur nehmen und die Bin- 5 dungen an Kirche und Volk abstreifen würden, dann drohe der »Weltbrand«, 6 der von Österreich und der ganzen stolzen Staatenwelt nur Asche zurücklassen 7 werde.65 8 9 Konservativer versus liberalen Katholizismus? 10 11 Wie aber stellten sich die im Genfer Komitee organisierten deutschen Katho- 12 liken zur Innenpolitik und speziell zum politischen Katholizismus in Deutsch- 13 land? Sie urteilten negativ über den »modernen Parlamentarismus«,66 und be- 14 scheinigten diesem eine kurze Lebensdauer. Loë verwarf während seiner 15 Festungshaft Hompeschs persönlich überbrachten Antrag, ein Mandat, wohl 16 zum Reichstag, anzunehmen, weil er seine Zeit besser verwenden könne.67 17 Nach der Aufhebung der die Unabhängigkeit der Kirchen garantierenden Ver- 18 fassungsartikel in Preußen neigte Loë zu der Meinung, die Zentrumspartei sol- 19 le sich aus dem Parlament zurückziehen.68 Immerhin waren der Reichstag und 20 der preußische Landtag im Kulturkampf von einer rücksichtslos vorgehenden, 21 antiklerikal eingestellten Mehrheit beherrscht. Indes liefen auch die korpora- 22 tistischen oder berufsgenossenschaftlichen, sozial-politischen Bestrebungen, 23 die Loë bei Vogelsang begrüßte,69 die aber Wambolt bei Blome zunächst an- 24 scheinend mit Vorbehalten registrierte,70 auf eine Einschränkung des Parla- 25 mentarismus hinaus.71 Die Mitglieder des Genfer Komitees fanden ihre Kon- 26 fessionsgenossen in Deutschland von dem siegreichen Prinzip des Liberalis- 27 mus allzu sehr angekränkelt. Mit Schärfe wurde beobachtet und getadelt, dass 28 der Vorwurf der Reichsfeindlichkeit bei den Katholiken des Zentrums Wir- 29 kung zeige;72 Ende 1872 bezeichnete Wambolt das liberal eingestellte Zen- 30 31 32 65 So Loë an Pergen, Wesel (Citadelle) 28.11.1876, angesichts der Krieg-in-Sicht-Krise. 33 HHSA, PP, II. 66 Ebd. und passim. 34 67 Ebd. 35 68 Loë an Pergen, Berlin 18.4.1875. HHSA, PP, II. 36 69 Loë an Pergen, Terporten 15.11.1878. HHSA, PP, II. 70 Wambolt an Pergen, Miltenberg 1.5.1881: Er wolle nächstens von Blome erfahren, was 37 dieser über die »socialen Reformen« denke: »In seinem letzten Briefe schien er denselben fast 38 das Wort reden zu wollen«. HHSA, PP, II. 39 71 Karl zu Löwenstein an Joseph Edmund Jörg, Haid 12.4.1898. Dieter ALBRECHT (Be- 40 arb.), Joseph Edmund Jörg. Briefwechsel 1846–1901, Mainz 1988, S. 528. 72 Bei Christoph Moufang, der schon länger Gegner Wambolts war: Wambolt an Pergen, 41 Laibach 23.8.1876. HHSA, PP, II. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 trumsblatt Kölnische Volkszeitung (KV) gar als »Kölnische Verbrecherin«. 2 Anlass zu konkreten Auseinandersetzungen und wiederholten Verdächtigun- 3 gen wurde die von den Genfer Korrespondenten freilich allzu eilfertig den 4 deutschen Katholiken nachgesagte Neigung, einen voreiligen Friedensschluss 5 mit der Reichsleitung auf Kosten der kirchlichen Rechte eingehen zu wollen. 6 Im Frühjahr 1876 beantwortete Wambolt eine Broschüre Peter Reichensper- 7 gers, die den Frieden zwischen Staat und Kirche über Konkordatsverhandlun- 8 gen anzubahnen riet, mit dem Vorschlag, besser zum aktiven Widerstand über- 9 zugehen: Unter diesem Begriff schwebte ihm indes wohl nur vor, dass das 10 katholische Volk die verfolgten Priester verstecken sollte (wie zur Zeit der 11 Französischen Revolution).73 Peters Bruder August Reichensperger konterte, 12 indem er den deutschen Antirevolutionären Loë und Wambolt, dazu ihren fran- 13 zösischen und österreichischen Gesinnungsgenossen, bescheinigte, mit ihrem 14 Kurs der Konfrontation würden sie nichts erreichen, »den Kohl nicht fett ma- 15 chen«.74 Doch deren Warnungen vor den vorgetäuschten Friedensabsichten 16 der Berliner Regierung, die Pergen zur Weiterleitung nach Rom und wohl auch 17 Ansprechpartnern im Vatikan direkt übermittelt wurden, waren berechtigt und 18 zeugten vom notwendigen Willen zum Widerstand. Auch Ketteler, Loë’s Duz- 19 freund, sah sich 1877 genötigt, von den Nationalliberalen verbreitete Gerüchte 20 über Friedensverhandlungen zu dementieren. 21 Die deutschen Genfer Korrespondenten waren keineswegs, wie August Rei- 22 chenspergers unwillige Bemerkung suggerieren mochte, zur Tat unfähige, 23 nicht mehr in ihre Zeit passende Maximalisten. Das bewies schon ihre rege 24 Presse- und Vereinstätigkeit, besonders Felix von Loës Einsatz für den Main- 25 zer Verein. In diesem, in der Vereinsbewegung überhaupt erblickten sie eine 26 wichtige Ergänzung oder gar Alternative zum Auftreten des parlamentarischen 27 Katholizismus. Der schien ihnen zu sehr auf Berlin konzentriert zu sein, dem 28 Vereinswesen eher fern zu stehen; auch seien aufgrund der doppelten Bean- 29 spruchung durch die Einzellandtage und den Reichstag die Abgeordneten ge- 30 radezu ermüdet.75 Die von der preußischen Justiz erzwungene Auflösung des 31 Mainzer Vereins beraubte in ihren Augen die deutschen Katholiken des zen- 32 tralen Sammelpunkts. Sie konnte auch durch Loës sofortige Reaktion einer 33 neuen Zeitungsgründung, der Monatsschrift Katholische Stimme (ab 1. Jan. 34 1876) mit sehr bald 8000 Abonnenten nicht kompensiert werden.76 Dieses 35 36 73 Wambolt an Pergen, Umstadt 9.3.1876; HHSA, PP, II. Hier auch ein Artikel Wambolts 37 über die Schrift von Peter REICHENSPERGER: Der Kulturkampf oder der Friede in Staat und 38 Kirche?, Berlin, 1.–3. Aufl. 1876. Vgl. K. BACHEM (wie Anm. 5), S. 276f. 39 74 August Reichensperger an Joseph Edmund Jörg, Köln 6.5.1876; D. ALBRECHT (wie 40 Anm. 70), S. 431f. 75 Isenburg an Pergen, Birstein 5.12.1876. HHSA, PP, I. 41 76 Leiter der Monatsschrift war Winand Virnich. Loë an Pergen, Terporten 10.2.1876. 42 HHSA, PP, II. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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Vereinsverbot fügte tatsächlich der Organisation des deutschen Katholizismus 1 einen schweren Schlag zu. Aber Isenburg war danach nüchtern genug zu er- 2 kennen: »Augenblicklich giebt es kein anderes Bindemittel als die Centrums- 3 fraktion im Reichstage, welche ja ohnehin bei weitem die größte Zahl hervor- 4 ragender katholischer Männer in sich schließt [...]«.77 Er selbst hatte unlängst 5 mit sog. liberalen Katholiken zusammengearbeitet, hatte 1874 auf der parla- 6 mentarischen Ebene der hessischen Ersten Kammer zusammen mit dem ehe- 7 maligen Minister Reinhard von Dalwigk gegen die Einführung der preußischen 8 Kirchengesetze gestimmt und im Mainzer Kasino mitgearbeitet. Als Pergen 9 anscheinend bei Wambolt, der sich gleichsam ins Exil, auf sein neu erworbenes 10 Gut in Krain, zurückgezogen hatte, einen Artikel gegen den Parlamentarismus 11 bestellte, holte er sich eine Abfuhr: »Eine entschiedene Befürwortung der par- 12 lamentarischen Abstention würde in Deutschland als ein crimen laesi centri 13 angesehen werden, und wer erst unter solchen Verdacht stünde, dem würden 14 ein für alle Male die Spalten der Kath. Blätter verschlossen«.78 Die Aussage 15 dokumentierte eindrucksvoll, dass der deutsche Katholizismus in Parlament 16 und Presse innerhalb weniger Jahre zu jener Geschlossenheit und respektablen 17 Vertretung gefunden hatte, die von der Genfer Correspondenz 1871 noch so 18 schmerzlich vermisst worden waren.79 Dazu hatte auch der von Loë inspirierte 19 Mainzer Verein wesentlich beigetragen. 20 Wambolt hat seine von Ketteler öffentlich desavouierte These von der Su- 21 prematie der Kirche noch einmal kämpferisch auf dem Freiburger Katholi- 22 kentag von 1875 vorgetragen;80 und an den Vorarbeiten des offiziellen Ko- 23 mitees für den 3. Allgemeinen Österreichischen Katholikentag in Linz 1892 24 vermisste er offenbar ein entschiedenes Eintreten für das bedrängte Papsttum. 25 Dennoch war ihm an dem höheren Gut der Vermeidung eines offenen Dis- 26 senses gelegen. Die 1875/76 und öfter von Wambolt, Loë und Isenburg an- 27 gesprochene oder befürchtete Spaltung zwischen »ultramontanen« und »libe- 28 ralen« bzw. »liberalisierenden« Katholiken trat nicht ein.81 Die genannten An- 29 tirevolutionäre, wenig zahlreich, suchten anscheinend ihre Gegner eher in 30 Frankreich bei der Richtung des Anti-Infallibilisten und Bischofs Félix Dupan- 31 32 33 77 Wie Anm. 75. 34 78 Wambolt an Pergen, Hopfenbach [Hmeljnik] bei Rudolfswerth [heute Novo mesto], 35 13.12.1876. HHSA, PP, II. 36 79 Sehr große »Einigkeit«: Loë an Pergen, o.O., o.D. HHSA, PP, II. Dies bestätigt die These Konrad Repgens von der Beschleunigung der »katholischen Politik« nach 1871 durch 37 Bismarck. Konrad REPGEN, Entwicklungslinien von Kirche und Katholizismus in historischer 38 Sicht, in: Anton RAUSCHER (Hg.), Entwicklungslinien des deutschen Katholizismus, München 39 u.a. 1973, S. 11–30, 24f. 40 80 Wambolt an Pergen, Umstadt 14.9.1875. HHSA, PP, II. 81 Ebd. »Gefahr einer öffentlichen Spaltung« Ende 1875: Isenburg an Pergen, Offenbach 41 10.2.1876, mit Postskriptum Kleinheubach 21.2.1876. HHSA, PP, I. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 loup (1802–1878).82 Durch personelle Querverbindungen, Glaubensübungen 2 und politische Praxis – vor allem in der Vereinsbewegung – mit dem größeren 3 Corps der deutschen Katholiken ohnehin verbunden, eigneten sie sich nicht 4 als giftige Spaltpilze, wenngleich sie zunächst ein gespanntes Verhältnis zum 5 unter Windthorst dominant werdenden liberalen Flügel des Zentrums hatten. 6 Sie bildeten eine konservative Gruppierung im Spektrum der politisch aktiven 7 Katholiken. Loë, Wambolt, Isenburg und ihre Gesinnungsgenossen waren 8 zwar auch aus Standesgründen gegen die Bürokratie, das Vordringen der 9 Staatsgewalt und den Liberalismus, die politische Weltanschauung des natio- 10 nalen Bürgertums, eingestellt, doch ihr Eintreten für das Papsttum und die 11 Rechte der Kirche im Kulturkampf, ihr Einsatz für karitative Aufgaben und 12 ihr Streben nach religiöser Lebensgestaltung verband sie mit ähnlich gesinnten 13 Angehörigen ihrer Konfession. 14 15 Das Streben nach Sozialreform 16 17 Die sozialpolitischen Reformgedanken haben in dem Gedankenaustausch der 18 drei führenden Deutschen des Genfer Komitees zumindest während der 1870er 19 Jahre nicht im entferntesten die Rolle gespielt wie die mit der Bedrängnis der 20 Kirche zusammenhängenden religiösen und politischen Fragen. Loë nahm so- 21 gar zunächst politischen Anstoß an dem Redakteur der in Wien erscheinenden 22 Zeitung Vaterland, dem besonders als Sozialreformer hervortretenden Karl 23 von Vogelsang (1818–1890). 1876 beschwerte er sich bei Pergen über Vo- 24 gelsangs schmeichelhafte Beurteilung der Außenpolitik des liberalen österrei- 25 chisch-ungarischen Außenministers Gyula Andrássy (1823–1890).83 Dennoch 26 wurden Loë und seine Freunde mehr und mehr von sozialen bzw. korporativen 27 Ideen beeinflusst. Aus antiliberaler und pro-österreichischer Einstellung be- 28 grüßte Loë 1878 Vogelsangs Programm der Sozial-politischen Blätter. Er wol- 29 le dieses in seiner Neuen Zeitung verbreiten: Österreich »ist gesünderer Ideen 30 fähig als Neu-Deutschland, wo auch katholischerseits fortwährend dem Libe- 31 ralismus als dem aufblühenden Princip geopfert wird«.84 Die sozialpolitische 32 Aufgeschlossenheit bildete offenbar die positive Kehrseite seines Anti-Libe- 33 ralismus. Der Reformvorschlag im katholischen Adelsprogramm von 1869, 34 »wohlthätige Stiftungen« mit Kreditangeboten an das Landvolk, das bisher 35 nur auf die Juden angewiesen sei, zu gründen,85 zeigt Verwandtschaft mit spä- 36 teren berufsgenossenschaftlichen Vorstellungen. Wambolts »Angst vor der socia- 37 38 39 40 82 Loë an Pergen, Terporten 21.1.1878. HHSA, PP, II; vgl. Anm. 74. 83 Loë an Pergen, Terporten 25.4.1876, 26.5.1876. HHSA, PP, II. 41 84 Loë an Pergen, Terporten 15.11.1878. HHSA, PP, II. Vgl. Anm. 70. 42 85 An den katholischen Adel, S. 22f Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Eine katholische Adels-Internationale 27 listischen Regierung als Nachfolgerin der Liberalen«86 entsprach einer im 1 deutschen sozialen Katholizismus weit verbreiteten Vorstellung. Schließlich 2 vermittelte Wambolt 1888 im Auftrag Franz Graf von Kuefsteins unter Ein- 3 schaltung von Professor Franz Martin Schindler (1847–1922) die Freiburger 4 Thesen über das Kreditsystem an Pergen – ein Dienst, der bereits in die Auf- 5 bruchsituation einer neuen Partei, der österreichischen Christlichsozialen, um 6 1889 mündete.87 Diese den bisherigen katholischen Konservativismus Öster- 7 reichs ablösende sozialreformerische Volkspartei schaltete sich stärker in das 8 öffentliche und parlamentarische Leben ein als die nun zurücktretenden Kon- 9 servativen, die allerdings mit der Mobilisierung der antiliberalen, die Rechte 10 der Kirche verteidigenden Bewegung in Österreich begonnen hatten. 11 Isenburg und Wambolt wurden auch aktive Mitglieder der Freien Vereini- 12 gung katholischer Sozialpolitiker von 1885. Diesem Zusammenschluss waren 13 1883 die Konferenz in Haid, dem böhmischen Gut Löwensteins, sowie Lö- 14 wensteins Anregungen auf den deutschen Katholikentagen (1879, 1880, 1881), 15 die soziale Frage aufzugreifen, vorangegangen. Seit 1874 hatte der junge öster- 16 reichische Fürst Aloys Liechtenstein Pergen aus eigenem Antrieb auf die so- 17 ziale Frage hingewiesen. Er vermittelte das Mainzer soziale Programm des 18 Bischofs Ketteler an René Charles Humbert, Marquis de La Tour du Pin. Die 19 sozialpolitische Idee erweckte in ihm die Hoffnung, die »Massen in den großen 20 Städten« für eine katholische Partei zu gewinnen und dadurch eine den liberal- 21 freisinnigen Gegner in seine Schranken weisende »schwarz-rote Internationa- 22 le« zu schaffen.88 Die fruchtbaren Fühlungnahmen zwischen österreichischen 23 und französischen Sozialpolitikern bei den jährlichen Augusttreffen des Gen- 24 fer Komitees werden die Gründung der Union de Fribourg 1884 begünstigt 25 haben. Diese internationale Gruppierung vereinigte einen vatikanischen und 26 einen Schweizer sozialen Studienzirkel mit den Vorkämpfern der christlich- 27 sozialen Gesellschaftsreform in Österreich, Frankreich und Deutschland.89 28 29 30 86 Wambolt an Pergen, Miltenberg 1.5.1881. HHSA, PP, II. 31 87 Wambolt an Pergen, Groß-Umstadt 22.1.1888. HHSA, PP, II. Vgl. Harry SLAPNICKA, 32 Christlichsoziale in Oberösterreich. Vom Katholikenverein 1848 bis zum Ende der Christlich- 33 sozialen 1934, Linz 1984, S. 98f., 326f.; Reinhold KNOLL, Zur Tradition der Christlichsozialen Partei. Ihre Früh- und Entwicklungsgeschichte bis zu den Reichsratswahlen von 1907, Wien 34 1973; John W. BOYER, Culture and Political Crisis in Vienna. Christian Socialism in Power 35 1897–1918, University of Chicago Press 1995; Walter STÖGER, Das Verhältnis der Konser- 36 vativen zur christlichsozialen Partei, Phil. Diss. (Masch. schr.) Wien 1949. 88 Aloys Liechtenstein an Pergen, 12.7.1874, 24.2.1875. Nach E. WEINZIERL-FISCHER (wie 37 Anm. 9), S. 470f., 474. 38 89 K. BUCHHEIM (wie Anm. 1), S. 329–332; Gérard CHOLVY/Yves-Marie HILAIRE, Hi- 39 stoire religieuse de la France contemporaine, Bd. 2, 1880/1930, Toulouse 1986, S. 78f.; Josef 40 OELINGER, Vogelsang, in: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, hg. von der Görres- Gesellschaft, Bd. 5, 7Freiburg 1989, Sp. 765f.; Johann Christoph ALLMAYER-BECK, Vogelsang. 41 Vom Feudalismus zur Volksbewegung, Wien 1952. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Vogelsang und Löwenstein erstrebten eine familienähnliche berufsständische, 2 kooperative, genossenschaftliche Ordnung in Industrie, Handwerk und Bau- 3 ernstand. Das deutsche Zentrum schlug seit 1877 allerdings den Kurs einer 4 mehr pragmatischen, sich auf die gegebenen Verhältnisse stützenden Sozial- 5 gesetzgebung auf nationaler Ebene ein. 6 Wambolt und Loë haben indes die Idee einer genossenschaftlichen Orga- 7 nisation für die Bauern aufgegriffen und zu verwirklichen gesucht. Letzterer 8 wurde 1882 Gründer und (bis 1896) erster Vorsitzender des Rheinischen Bau- 9 ernvereins. Wambolt setzte Gräfin und Graf Pergen von den Statuten des ka- 10 tholischen hessischen Bauernvereins in Kenntnis und bestärkte beide darin, 11 neben diesem Bauernverein auch die Raiffeisen’schen Darlehenskassen in 12 Ober- und Niederösterreich einzuführen.90 13 14 Resümee 15 16 Ein zusammenfassendes Urteil wird festhalten können, dass die kleine deutsche 17 Gruppe zumeist adliger Genfer Korrespondenten in einer Umbruchsituation der 18 europäischen Staatenwelt ihre Anhänglichkeit an den des patrimonium Petri 19 beraubten Papst bezeugte und auch das katholische Volk zu ostentativen Kund- 20 gebungen und neuen Formen der defensio fidei zu bewegen suchte. Außer einer 21 Parteinahme für die letzte katholische Großmacht Österreich-Ungarn und der 22 in großdeutschen Kreisen schon vorher üblichen Reserve gegenüber »Neu- 23 Deutschland« sind Umrisse einer staatsgefährlichen Schwarzen Internationale 24 im Deutschen Reich nicht zu erkennen; abgesehen davon, dass Bismarck 1879 25 selbst den Zweibund einging. De facto praktizierte man im Viereck Pergen – 26 Wambolt – Loë – Isenburg nur eine österreichisch-deutsch-römische Interna- 27 tionale. Im Vordergrund standen die Bemühungen, gute Nachrichtenverbindun- 28 gen zum geistlichen Mittelpunkt der katholischen Kirche zu gewinnen, um der 29 publizistischen Selbstbehauptung der Katholiken im Kulturkampf zu dienen. 30 Die Organisationsleistung der deutschen konservativen Anhänger des Papst- 31 tums, die ihren ehrgeizigen Plan, eine dauerhafte internationale politisch- 32 kirchliche Korrespondenz oder Konferenz zu schaffen und Deutschland darin 33 einzubeziehen, nicht durchsetzen konnten, ist dennoch in einen größeren Zu- 34 sammenhang zu stellen. Sie verband sich über eine Schlüsselfigur wie Felix 35 von Loë mit den spezifisch deutschen Vereins-Aktivitäten, die z.B. in Öster- 36 reich und Italien als nachahmenswert galten, und war insofern auf einer an- 37 deren Ebene als der ursprünglich intendierten erfolgreich, nämlich in der deut- 38 schen Innenpolitik – soweit der Staat der Kulturkampfzeit dies zuließ. Den 39 etwa in Frankreich sehr scharfen Gegensatz zwischen liberalen und konser- 40 41 42 90 Wambolt an Pergen, Hopfenbach 24.7.1892. HHSA, PP, II. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Eine katholische Adels-Internationale 29 vativen Katholiken sucht man trotz mehrfacher verbaler Abgrenzungen der 1 deutschen Antirevolutionäre um Loë und Wambolt vom Liberalismus und von 2 dessen katholischen Anhängern vergebens. Die Internationalisten bedienten 3 sich selbst liberaler Methoden bei ihren vielen Versuchen, das gläubige Volk, 4 das eine zentrale Rolle in ihrer Ideologie spielte, zu beeinflussen und zu or- 5 ganisieren. Ihr Bemühen, ein nahe bei der Kurie angesiedeltes zentrales, in- 6 ternationales Komitee für die Katholiken Europas zu schaffen, blieb zwar er- 7 folglos, bezeugte aber ihre Vorbehalte gegenüber dem Anwachsen des Natio- 8 nalismus in einer zunehmend säkularisierten Staatenwelt. 9 In ihr Handeln sind auch standespolitische Überlegungen eingeflossen, wel- 10 che dem Adel eine neue Funktion der Mitte und Befriedung zwischen dem 11 Volk und der Krone zuwiesen. Die deutschen Partner Pergens arbeiteten darauf 12 hin, die in Österreich, Deutschland und Italien vorherrschende Verbindung 13 zwischen dem monarchischen Neo-Absolutismus und dem bürgerlichen Libe- 14 ralismus zu lockern. Im gemeinsamen Festhalten an der Religion und den die- 15 ser konzedierten Rechten schien eine neue Annäherung zwischen Adel und 16 Volk, Regierung (in Österreich) und Volk erreichbar zu sein. Insofern war es 17 kein rein religiöses Anliegen, für das bedrängte Papsttum einzutreten, dessen 18 Erhaltung und Stärkung die Katholiken aller Länder gegenüber den Bedro- 19 hungen der Zeit zusammenführen sollte. Die demokratische Komponente die- 20 ser Mobilisierung war um so unübersehbarer, je mehr der neo-absolutistische, 21 liberale und nationale Staat zur gesetzlichen Maßregelung und Unterdrückung 22 der ultramontanen Bewegungen überging. Deren Bestrebungen, verbunden mit 23 älteren Ansätzen einer katholischen Adelsreform, überschritten im Zeichen ei- 24 ner gemeinsamen Verteidigung der Glaubensgüter durchaus engere standes- 25 politische Schranken. Sie waren »reaktionär«, insofern sie sich dem herrschen- 26 den liberalen und nationalistischen Zeitgeist widersetzten. Als diese österrei- 27 chischen und deutschen Konservativen nach 1900 die vor allem von 28 Löwenstein vorangetriebene Antiduellbewegung91 in ihren Ländern unter- 29 stützten, gedachten sie dafür auch »das minder christliche Element heranzu- 30 ziehen« und fassten damit sogar einen nicht mehr konfessionell gebundenen 31 Anhang ins Auge,92 wie dies mutatis mutandis schon für ihre Sozialpolitik 32 galt. Wohl findet sich in den deutschen Korrespondenzen, etwa bei Loë, Ab- 33 lehnung der »Revolution«, aber keine ernsthafte Bekundung, das Papsttum und 34 eine »hierarchisch strukturierte Kirche« zum Vorbild der »Wiederherstellung 35 einer ständischen Gesellschaft« zu nehmen.93 Dafür schien ihm und seinen 36 37 38 91 P. SIEBERTZ (wie Anm. 2), S. 505–510. 39 92 Wambolt an Pergen, Mainz 18.12.1901, Wiesbaden 3.1.1902. HHSA, PP, II. 40 93 Das Gegenteil meint Reif für den Adel in Westfalen feststellen zu können: Heinz REIF, Westfälischer Adel 1770–1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite, Göttingen 1979, 41 S. 440. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Gesinnungsgenossen der Zwiespalt zwischen der ultramontanen Kirche und 2 der liberalen Gesellschaft zu groß geworden zu sein. Die religiösen, politischen 3 und sozialen Ziele, die diese deutschen konservativen Internationalisten prin- 4 zipiell im Einklang mit der katholischen Vereinsbewegung verfochten, setzten 5 vielmehr eine parteiliche oder vereinsmäßige, insofern gar nicht ständische, 6 Vertretung eigener Interessen voraus und mündeten damit in eine sich plura- 7 listisch entwickelnde Welt. Die (zeitweilige) Tätigkeit im diplomatischen 8 Dienst ihrer Staaten und ihre adlige Herkunft erleichterten ihnen wohl auch 9 die Praxis internationaler Zusammenarbeit zwischen führenden katholischen 10 Kreisen in Europa, die später vom zunehmenden Nationalismus des ausge- 11 henden 19. und frühen 20. Jahrhunderts beeinträchtigt worden ist. Pergen und 12 Löwenstein wirkten auch am Entstehen der christlichsozialen Bewegung mit. 13 Dies war nur eine Konsequenz ihrer ganzen Lebensleistung, die – zumal bei 14 dem österreichischen Graf Pergen – aus dem gewohnten Landesdienst der Fa- 15 milie und der Vorfahren auf das Feld der gesellschaftlichen Organisation ge- 16 führt hatte. Pergen äußerte sich indes auch kritisch gegenüber der jungen (»an- 17 tisemitischen«) christlichsozialen Bewegung in Österreich (1895): Wenn er 18 bei dieser die ihm selbstverständliche Achtung vor der Autorität der Bischöfe 19 und der Kurie vermissen zu müssen glaubte,94 wies er auf ein Problem hin, 20 mit dem zukünftig die christliche Demokratie allgemein zu ringen haben wür- 21 de. 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 94 E. WEINZIERL-FISCHER (wie Anm. 9), S. 485: Pergen warnte P. Albert Maria Weiß und 42 Kardinal Rampolla vor einer Unterstützung der Christlich-Sozialen. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

1 2 3 Die Christliche Demokratie im politischen Ideenspektrum 4 5 Von Rudolf Uertz 6 7 Das Ende des realen Sozialismus, die wirtschaftlichen und kulturellen Folgen 8 der Globalisierung sowie der Prestigeverlust des Staates erfordern in Politik- 9 und Geschichtswissenschaften eine Überprüfung und Revision des herkömm- 10 lichen politischen Ideenspektrums Konservatismus–Liberalismus–Sozialismus 11 und der ideologischen und ideengeschichtlichen Typologien. Wenn die eta- 12 blierten Parteien sich allesamt als Volksparteien und ihre Programmatik als 13 »Politik der Mitte« präsentieren und die Zivil- oder Bürgergesellschaft zur zen- 14 tralen Leitidee avanciert, wenn die Parteien gleichermaßen bei liberalen und 15 kommunitaristischen Konzepten Anleihen machen, wenn zentrale Leitbegriffe 16 wie »Soziale Marktwirtschaft« und »Subsidiarität«, die früher sichere Kenn- 17 zeichen der Programmatik des liberalen und christlich-demokratischen Ideen- 18 spektrums waren, nunmehr auch vom demokratischen Sozialismus beansprucht 19 werden, wenn die »Parteien der Mitte« unisono den Sozialstaat »umbauen«, 20 »modernisieren«, »liberalisieren« und die Administration deregulieren wollen, 21 dann wird es zunehmend schwieriger für die Parteien- und Ideologieforschung, 22 plausible Unterscheidungskriterien, Bewertungsmaßstäbe und Charaktereigen- 23 schaften der Parteien und ihrer Programmatik zu benennen. 24

1 25 Zum Ideenspektrum Konservatismus – Liberalismus – Sozialismus 26 27 Bei genauerem Hinsehen wird man feststellen müssen, dass die Probleme einer 28 systematischen Unterscheidung der Parteienprogrammatik angesichts einer 29 Entideologisierung der Politik schon geraume Zeit vorher eingesetzt haben. 30 Otto Kirchheimer hat den Wandel des westeuropäischen Parteiensystems (»die 31 bürgerliche Partei alten Stils«), die Umbildung seiner Strukturen und Funk- 32 tionen bereits für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg analysiert und den 33 neuen Parteientyp, die »Massenintegrationspartei«, auch »Volkspartei« oder 34 »Allerweltspartei« (catch-all party) genannt, eingehend beschrieben.2 Als 35 Merkmale des neuen Parteityps nennt er: »a) Radikales Beiseiteschieben der 36 ideologischen Komponenten einer Partei … b) weitere Stärkung der Politiker 37 38 39 1 Zu den klassischen Ideenkreisen und ihren Varianten vgl. Johann Baptist MÜLLER, Die 40 politischen Ideenkreise der Gegenwart, Berlin 1992. 2 Otto KIRCHHEIMER, Der Wandel des Westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische 41 Vierteljahresschrift 6 (1965), S. 20–41, hier S. 27. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 an der Parteispitze; was sie tun oder unterlassen wird jetzt mehr vom Stand- 2 punkt ihres Beitrages zur Wirksamkeit des ganzen gesellschaftlichen Systems 3 angesehen und nicht danach, ob sie mit den Zielen der jeweiligen Parteiorga- 4 nisation übereinstimmen; c) Entwertung der Rolle des einzelnen Parteimit- 5 glieds; diese Rolle wird als historisches Überbleibsel angesehen, das das Bild 6 der neu aufgebauten ›Allerweltspartei‹ in ein falsches Licht setzen kann; d) 7 Abkehr von der ›chasse gardée‹, einer Wählerschaft auf Klassen- oder Kon- 8 fessionsbasis, statt dessen Wahlpropaganda mit dem Ziel, die ganze Bevölke- 9 rung zu erfassen; d) Streben nach Verbindungen zu den verschiedensten In- 10 teressenverbänden.«3 11 Theo Stammen konzediert Schwierigkeiten, die »Parteiideologien« im Hin- 12 blick auf ein »mehr oder weniger systematisch ausgebautes Ideensystem« dar- 13 zustellen. Dabei gehe es keineswegs etwa um »die Frage nach Richtigkeit oder 14 Wahrheit dieser Ideen«, sondern lediglich darum, die sog. präskriptiven Aus- 15 sagen, d.h. die Forderungen, die eine Partei als Handlungsziele und Hand- 16 lungsorientierung aufstellt, systematisch zu handhaben.4 Näherhin verlange 17 dies Vergleich und Beschreibung »von Werten und der Realität«. Dabei gelte 18 es, die Diskrepanz zwischen Werten und Realität, zwischen Sein und Sollen 19 wahrzunehmen – eine Diskrepanz, die zugleich ein Kriterium zur Charakte- 20 risierung der Parteienprogrammatik beinhaltet: Denn »radikale Parteien stellen 21 eine größere Diskrepanz zwischen Werten und Realität fest und stellen wei- 22 tergehende Forderungen; konservative Parteien ermitteln eine geringere Dis- 23 krepanz zwischen Sein und Sollen, und erheben Forderungen geringerer 24 Reichweite«. Zum Kriterium der Unterscheidung zwischen Sein und Sollen 25 tritt demnach ein weiteres hinzu: das des größeren oder geringeren Abstands 26 zwischen beiden bzw. das der Sachbezogenheit der programmatischen Forde- 27 rungen. Anders formuliert: Bürgerliche Parteien sind realistischer; sie verspre- 28 chen ihren Wählern weniger Revolutionäres, was auch bedeuten kann, dass 29 sie mehr »Flickschusterei« oder – nach Karl Popper – »Stückwerkstechnolo- 30 gie« betreiben.5 31 Doch fragt man sich: Was bedeutet es, Sein und Sollen zu beschreiben an- 32 gesichts des Umstands, dass es sich bei beiden Größen um Variablen handelt? 33 Werte, Normen, Begriffe, Sprachformeln und Ideologien finden höchst unter- 34 schiedliche Verwendung. Die »Wörterwelt«, wie es Lichtenberg ausdrückt, 35 hat ihre eigene Geschichte. Wörter entspringen zumeist dem subjektiven Emp- 36 37 38 3 O. KIRCHHEIMER (wie Anm. 2), S. 20–41, hier S. 32. 39 4 Theo STAMMEN, Systematische Einleitung in: Rainer KUNZ/Herbert MAIER/Theo STAM- 40 MEN, Programme der politischen Parteien in der Bundesrepublik, München 1975, S. 31. 5 Vgl. Karl POPPER, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1, Der Zauber Platons, 41 Bern 21970, zieht dem Holismus bzw. der Revolution die Stückwerkstechnologie vor; niemand 42 könne Gesellschaften im Ganzen entwerfen. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Die Christliche Demokratie im politischen Ideenspektrum 33 finden, der »Interessenlage« oder auch – wenn sie einem missliebig sind oder 1 aus einer »Gegenwelt« zu kommen scheinen – »dem falschen Bewusstsein«, 2 wie es etwa der dialektische und historische Materialismus der bürgerlichen 3 Ideologie vorhielt. 4 Eberhard Puntsch möchte am liebsten ganz der herkömmlichen Ideologie- 5 raster entraten. Diese bezeichnet er als »Links-Mitte-Rechts-Unfug«. Die Po- 6 litik würde dadurch ungebührlich vereinfacht, die Handlungsmöglichkeiten ver- 7 kürzt, die kleineren Parteien zwischen den beiden Blöcken, »links« und 8 »rechts«, zerrieben; bei einer solchen Topologie kämen die liberalen Parteien 9 nicht recht zur Geltung. Schließlich gehe es in der Politik ums Ganze; das aber 10 bliebe beim Links-Mitte-Rechts-Schema außer Betracht.6 Auch Egon Tucht- 11 feldt hält die Dichotomie »rechts-links« oder »reaktionär-progressiv« für kaum 12 geeignet, um die verschiedenen Standorte des politischen Denkens und der 13 ihnen verpflichteten Gruppierungen zu kennzeichnen. Man konstruiere »damit 14 doch nur ein Feindbild …, das die eigene Position als allein richtig profiliert«. 15 Schließlich drängten alle Parteien in die »Mitte« und wollten »Volksparteien 16 sein, obwohl doch der Begriff ›Partei‹ schon vom Wortsinn her auf einen Teil 17 des Ganzen« hindeute. So plädiert Tuchtfeld für die klassische Trias Libera- 18 lismus, Konservatismus und Sozialismus. Diese seien innerlich zusammenhän- 19 gende »gesamtgesellschaftliche Ideensysteme … über das, was unter bestimm- 20 ten Grundannahmen für Mensch und Gesellschaft als wünschenswert angese- 21 hen wird. Als solche Ideensysteme müssten sie aber »von den historisch- 22 konkreten Ausprägungen parteilicher Art unterschieden werden«.7 Im An- 23 schluss an Friedrich August von Hayek möchte Tuchtfeldt die drei politischen 24 Ideenkreise in einem »einfachen« oder »differenzierten Wertedreieck« zusam- 25 mengestellt sehen, um so anzuzeigen, dass die Dreiteilung der Ideensysteme 26 bzw. deren Fraktionierung gedanklich stets auf das Ganze bezogen sein müss- 27 ten, zu dem sie sich je unterschiedlich verhielten.8 28 Andere Autoren verweisen gerade auf die anthropologischen Ursprünge der 29 politischen Links-Mitte-Rechts-Unterscheidung: Diese sei Ausdruck des dem 30 Menschen angeborenen Richtungs- und Ordnungssinns. Nicht so sehr die Ge- 31 schichte, sondern die Kulturanthropologie stelle den Schlüssel für die räum- 32 lich-begrifflichen Kriterien in der Politik bereit.9 33 34 35 6 Eberhard PUNTSCH, Der Links-Mitte-Rechts-Unfug. Die Welt der Parteien ist nicht zwei- 36 polig, Bonn 1994, S. 97ff. 7 Egon TUCHTFELDT, Ideensysteme als Bezugsrahmen der Politik, in: Ordo 30 (1979), S. 37 79f.; E. PUNTSCH (wie Anm. 6), S.109ff., hält Tuchtfeldts differenziertes Wertedreieck »für 38 das Gespräch mit dem Orientierung suchenden Bürger … zu unhandlich«. Tuchtfeldts diffe- 39 renziertes Wertedreieck sei überladen; zudem schleppe es mit den Ordnungsformen Ständestaat 40 (Konservatismus) und Rätestaat (Sozialismus) antiquierte Ordnungsformen mit. 8 Vgl. E. TUCHTFELDT (wie Anm. 7), S. 90. 41 9 Wolfgang KRISCHKE, Der Respekt vor der Mitte, in: FAZ v. 18. April 2001. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Die Etikettierung von Tradition und Fortschritt gemäß der – zunächst nur 2 kurz währenden – Sitzverteilung in der französischen Nationalversammlung 3 seit dem 23. Juli 1789 wäre demnach nicht die »Urszene der politisch-topo- 4 graphischen Metaphorik, sondern eher ihr zufälliges Nebenprodukt«. H. F. 5 Bienfait und W. E. A. van Beek halten die Sitzordnung der französischen Na- 6 tionalversammlung, auf die das Links-Rechts-Schema zurückgeht, für ein Pro- 7 dukt der Sprach- und Denkgewohnheit, die eben anthropologisch tief verwur- 8 zelt sei und sich auch ohne das Zutun der Zimmerleute, die nach dem Ende 9 der Generalstände den Sitzungssaal der Nationalversammlung neu gestalteten, 10 durchgesetzt hätte.10 11 Die Rechts-Links-Unterscheidung ist für die genannten Autoren ein multi- 12 funktional einsetzbares Klassifikationssystem zur Ordnung der Welt, das mit 13 einer Vielzahl grundsätzlicher Gegensatzpaare wie heilig-profan, männlich- 14 weiblich, stark-schwach Kriterien zur Beschreibung von Ordnung und Ord- 15 nungszielen anbietet, zu denen eben auch das fundamentale Gegensatzpaar 16 links-rechts als Sinnbild sozialer Gliederung gehört – ein urwüchsiges Schema, 17 das gewissermaßen automatisch auf die politischen Bewegungen des Parla- 18 mentarismus übertragen worden sei. Selbstredend ist zu berücksichtigen: 19 »links« und »rechts« gelten nicht ein für allemal definiert, sondern hängen 20 vom zeitgeschichtlichen Kontext, den jeweiligen sachlich-politischen Konstel- 21 lationen und eben den Bewertungsmustern ab. Und auch einen allseits geteilten 22 Wertekonsens gibt es hierbei nicht. 23 Die Rechts-Links-Relation im europäisch-amerikanischen Parteiensystem 24 impliziert auch das Verhältnis von Regierung zur Opposition. »Rechts« und 25 »links« sind entsprechend in der Sitzordnung des englischen Parlaments aus- 26 tauschbar, wo die jeweilige Regierungspartei rechts vom speaker sitzt. Eine 27 weitere Unterscheidung, etwa die zwischen Staatspartei und Volkspartei ent- 28 spricht der Spannung zwischen Herrschaft und Genossenschaft. Diese Span- 29 nung war mit entscheidend für den Gegensatz konservativ – liberal, der später 30 vom Kontinent auch in England übernommen wurden ist. »Dem Sozialismus 31 gegenüber, der dritten Partei, rückten die bürgerlichen Parteien zusammen. 32 Seit dem Ersten Weltkrieg bildete sich der Totalitarismus von rechts und links 33 heraus: aus einer radikalen Randgruppe der Konservativen bildete sich der Na- 34 tionalismus, aus dem konsequenten Klassenkampfideologen der sozialisti- 35 schen Front der Kommunismus.«11 Diese Abspaltungen und Radikalisierun- 36 gen an den Rändern bedeuten zugleich eine Modifizierung der Klassifika- 37 tionskriterien: Die Gegensätze von Konservatismus und Liberalismus als 38 39 40 10 H.F. BIENFAIT/W.E.A VAN BEEK, Right and Left as Political Categories, in: Anthropos 96 (2001), S. 169–178. 41 11 Otto Heinrich VON DER GABLENTZ, Einführung in die Politische Wissenschaft, Köln 42 1965, S. 147f. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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Ausweis des (breiteren) bürgerlichen Lagers verlieren an Schärfe, und selbst 1 der freiheitliche Sozialismus teilt mit diesen ein wichtiges Merkmal, auch 2 wenn dies »leider nicht immer rechtzeitig bewusst geworden« (Otto Heinrich 3 von der Gablentz) ist: Diese Parteien der Mitte teilen prinzipiell die verfas- 4 sungs- und rechtsstaatlich verankerten Grundwerte. Verfassungstreue und da- 5 mit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Gewaltenteilung, 6 Volkssouveränität u.a. sind Prinzipien, die einst den Konfliktstoff zwischen 7 liberal und konservativ ausmachten. Jetzt aber sind diese Ideen anerkannte 8 Grundbedingungen der Politik und Spielregeln des Parlaments. 9 Aber Parteiensystem und -programmatik wurden komplizierter durch das 10 Hinzutreten weiterer Parteitypen und parteipolitischer Merkmale: Nationale 11 und landsmannschaftliche Abstammung, Konfession und schließlich die spe- 12 zifische Interessenausrichtung spielen eine wichtige Rolle bei den Abspaltun- 13 gen, Flügelbildungen, Zusammenschlüssen oder bei Neugründungen von Par- 14 teien. Bei aller Unübersichtlichkeit, nicht zuletzt auch angesichts des Um- 15 stands, dass die bürgerlichen Parteien sich einander annähern, so dass sie nun 16 alle eine Mischung aus sozialen, liberalen und konservativen Ideen in ihrer 17 Programmatik verkörpern, lässt sich doch ein prägnantes Kriterium finden, 18 das durchgängig zu beobachten ist und auch für die aktuelle Erörterung Be- 19 stand haben sollte: Der alte Gegensatz »Staatspartei – Volkspartei«, aus dem 20 im 19. Jahrhundert die Links-Rechts-Topologie hervorgeht, markiert die Span- 21 nung zwischen etatistischen und bürgerlich-gesellschaftlichen sowie persona- 22 listischen Prinzipien.12 Dieses Merkmal kann auf allen Ebenen politisch-staat- 23 lichen Handelns (Bund, Länder, Gemeinden, Regionen, Europa) formale mit 24 inhaltlichen Bewertungsmaßstäben von Politik verbinden. 25 Politik und politische Parteien haben auf die zunehmende Differenzierung 26 des politisch-gesellschaftlichen Systems etwa seit den 70er Jahren mit einer 27 zunehmenden Verwissenschaftlichung der Programmsprache reagiert. Vor al- 28 lem die »sozialwissenschaftlichen Termini mit ihren zahllosen schwerverständ- 29 lichen Kunstwörtern haben Eingang in die Sprache der Parteiprogramme ge- 30 funden«. Damit taucht, so kommentiert Theo Stammen, »ein ambivalentes Prob- 31 lem auf, zu dem zweierlei zu sagen ist. Auf der einen Seite wird man diese 32 Verwissenschaftlichung der Programmsprache13 – speziell etwa im Zusammen- 33 hang mit den im Programm ja auch zu leistenden Realanalysen der gesellschaft- 34 lichen und politischen Gesamtsituation – als einen Zuwachs an Rationalität und 35 kritischer Genauigkeit in diesem Aussagebereich bewerten können. Auf der an- 36 deren Seite ist jedoch unverkennbar, dass sich mit dieser Verwissenschaftli- 37 38 39 12 EBD. S. 147. 40 13 Die Verwissenschaftlichung der Programmsprache setzt nach Stammen mit den Frei- burger Thesen der FDP (1972) und dem Ökonomisch-politischen Orientierungsrahmen für die 41 Jahre 1975–1985 der SPD ein. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 chung das Problem der Kommunikation stellt: »Welche Bürger oder Parteimit- 2 glieder ohne akademische oder gar spezielle sozialwissenschaftliche Ausbil- 3 dung sind noch in der Lage, einer derartigen rationalen und kritischen 4 Gesellschafts- und Politikanalyse zu folgen?« Die Parteien hätten darauf Acht 5 zu geben, dass »die (nicht zu verstehende) Rationalität« von Programmaussa- 6 gen nicht »in eine Irrationalität der Wirkung, in eine neue Mythologie um- 7 schlägt« und dass durch die Verwissenschaftlichung der Programmsprache 8 nicht grundlegende Funktionen eines Parteiprogramms gefährdet werden.14 9 Diese Entwicklung bringt also die Gefahr der Abkoppelung von der All- 10 tagswelt mit sich; die Verwissenschaftlichung hat aber auch Rückwirkungen 11 auf die politiktheoretische und ideengeschichtliche Analyse der Parteien. Die 12 fortwährenden Differenzierungen der Parteienanalyse verändern auch den 13 Blick zurück: Man entdeckt im politisch-geschichtlichen und ideologischen 14 Spektrum neue Facetten, die bisher nicht oder nicht so wahrgenommen wur- 15 den. So bemerkt Axel Schildt, dass die 1950er Jahre in der Zeitgeschichts- 16 forschung jetzt neu vermessen würden.15 Als Beispiel nennt er die wirtschaft- 17 lich-technischen Modernisierungstendenzen in der frühen Bundesrepublik 18 Deutschland, die unter den »konservativen Auspizien« früherer Forschungs- 19 richtungen nicht genügend wahrgenommen worden seien. So hatte sich in 20 einzelnen Bereichen der Politik- und der Geschichtswissenschaft die Vorstel- 21 lung der Restauration nach 1945 verbreitet – ein Bild, das es zu korrigieren 22 gilt. Allerdings werden die angekündigten »Neuvermessungen« (A. Schildt) 23 in wichtigen Punkten dann doch nur halbherzig vorgenommen. Ich habe an 24 anderer Stelle bereits gezeigt, dass z.B. die am Rande der Unionsparteien 25 angesiedelte Abendländische Akademie und die Gruppe um die Zeitschrift 26 Das Neue Abendland nur Segmente darstellten, die aber keineswegs reprä- 27 sentativ für die CDU und CSU waren.16 Das sieht wohl auch Axel Schildt; 28 doch bleibt bei ihm und anderen Autoren unberücksichtigt, auf welche Art 29 und Weise es zu den Fehlcharakterisierungen der frühen Bundesrepublik 30 Deutschland gekommen ist.17 Diese Fehlcharakterisierungen beruhen näm- 31 32 33 14 T. STAMMEN (wie Anm. 4), S. 32f. 15 Axel SCHILDT, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideen- 34 landschaft der 50er Jahre, München 1999, S. 4; Hans-Peter SCHWARZ, Geschichtsschreibung 35 und politisches Selbstverständnis. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – Heraus- 36 forderung für die Forschung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 36 (1982), S. 3ff., hier S. 6, hat schon früher die Modernisierungstendenzen der frühen Bundesrepublik hervorgehoben. 37 16 Vgl. Rudolf UERTZ, Konservative Kulturkritik in der frühen Bundesrepublik Deutsch- 38 land. Die Abendländische Akademie in Eichstätt (1952–1956), in: Historisch-Politische Mit- 39 teilungen 8 (2001), S. 45ff. 40 17 Dies gilt auch für Guido MÜLLER/Vanessa PLICHTA, Zwischen Rhein und Donau. Abendländisches Denken zwischen deutsch-französischen Verständigungsinitiativen und kon- 41 servativ-katholischen Integrationsmodellen 1924–1957, in: Zeitschrift für Geschichte der Eu- 42 ropäischen Integration 5 (1999), Nr. 1, S. 17ff. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Die Christliche Demokratie im politischen Ideenspektrum 37 lich auf ideologischen Verengungen, die schon Anfang der 1950er Jahre in 1 der Publizistik, seit Mitte der 1960er Jahre dann auch in Teilen der wissen- 2 schaftlichen Darstellungen Verbreitung fanden. Bemerkenswert ist, dass da- 3 bei ein Konservatismusbild gezeichnet wird, das sich vor allem aus einer Ver- 4 mischung von Konservatismus und Christentum, christlicher Partei und 5 religiös-kirchlicher Tradition zusammensetzt. Dieser spezifischen Konserva- 6 tismustheorie wird sich der folgende Abschnitt widmen. Es soll gezeigt wer- 7 den, dass entgegen der These der bisherigen Konservatismusforschung die 8 Verbindung von Christentum und Parteiprogrammatik der Union nicht so sehr 9 an traditionellen Ideen anknüpft, sondern vielmehr deren liberales Profil ge- 10 schärft hat. Weiterhin ist aufzuzeigen, welche Typologien und Kriterien die 11 Politik- und Geschichtswissenschaft zur Charakterisierung von Parteipro- 12 grammatik anzubieten hat. 13 14 Die christliche Demokratie im herkömmlichen politischen Ideenspektrum 15 16 Die Mitte-Links-Rechts-Topographie und die ideenpolitische Trias liberal- 17 konservativ-sozialistisch führen in Wissenschaft, Publizistik und Öffentlich- 18 keit ein zählebiges Dasein. Dieses beruht wohl nicht nur auf der Gewöhnung 19 an die historische Einteilung der politischen Bewegungen seit der Französi- 20 schen Revolution 1789 und der Parlamentarisierung seit dem 19. Jahrhundert; 21 vielmehr scheint das weitverbreitete Festhalten an dieser Typologie auf 22 anthropologischen Konstanten zu beruhen. Versuche von Politikwissenschaft- 23 lern, diese Typologie wissenschaftstheoretisch zu modifizieren, fanden große 24 Verbreitung. So wurde die von Wolf Dieter Narr entwickelte »Drei-Schulen- 25 Lehre« in mehr oder weniger großen Modifizierungen und Ergänzungen fast 26 von allen politikwissenschaftlichen Einführungswerken übernommen. Narr 27 unterscheidet die »drei Theorietypen«: 1. die normativ-ontologische oder 28 (ideengeschichtlich-)essentialistische Theorievariante, 2. die deduktiv-empiri- 29 schen Theorie und 3. die dialektisch-historische Theorie. In der Sache war 30 dieses Modell nur bedingt erfolgreich. Werner J. Patzelt bemerkt: »Bis zum 31 Zusammenbruch der sozialistischen Staaten galten Politikwissenschaftler, die 32 sich der historisch-dialektischen Schule zurechneten oder ihr zugeordnet wur- 33 den, nicht selten als die ›fortschrittlichen‹ Fachvertreter, während die als em- 34 pirisch-analytisch oder gar als normativ-ontologisch ... etikettierten Politik- 35 wissenschaftler als ›konservativ‹ und allenfalls bedingt fortschrittlichen Ideen 36 aufgeschlossen dargestellt wurden. Tatsächlich hatte die ›Drei-Schulen-Lehre‹ 37 ein Stück weit die Funktion, die politischen Lager in der gespaltenen deutschen 38 Politikwissenschaft zu markieren: Als ›links‹ und ›neomarxistisch‹ galten die 39 Vertreter des historisch-dialektischen Ansatzes, als ›liberal‹ und der ›Mitte‹ 40 zugehörend die Verfechter empirisch-analytischer Politikwissenschaft, als 41 ›konservativ‹ und ›rechts‹ die ›normativen Ontologen‹. Für eine gewisse Zeit 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 konnte diese Einteilung durchaus als nützlicher Kompass dienen, zumal nicht 2 wenige Politikwissenschaftler sie selbst zur Festlegung ihres persönlichen – 3 auch politischen – Standorts übernahmen. Eine nähere Betrachtung zeigt frei- 4 lich, dass die ›Drei-Schulen-Lehre‹ allenfalls dazu taugt, ein oder zwei Gene- 5 rationen von Politikwissenschaftlern zu klassifizieren, keineswegs aber geeig- 6 net ist, ein dem Fach angemessenes Selbstverständnis zu begründen. Inzwi- 7 schen hat sie ihre Orientierungsfunktion denn auch verloren, und zwar mit 8 gutem Grund.«18 9 Auffällig ist, dass der zur normativ-ontologischen Schule gerechnete poli- 10 tische Ideenkreis wie er in der »Drei-Schulen-Theorie« von Narr vorliegt, 11 weitgehend mit dem Konservatismusbild übereinstimmt, das der Autor bereits 12 anhand der CDU-Programmatik bis 1965 gezeichnet hat. Es scheint, dass auch 13 Narrs wissenschaftstheoretisches Ideensystem der ontologisch-normativen 14 bzw. essentialistischen Theorie an dem Material herausgebildet ist, das auch 15 seiner Studie »CDU – SPD« zugrunde lag. Helga Grebing und andere sind 16 ihm in seinen Charakterisierungen gefolgt. Nach der normativen Theorie hat 17 »der Begriff des Politischen einen durchgehend präskriptiven Charakter .... 18 Er findet in der öffentlichen Tugend, im guten Regieren, im standfesten Cha- 19 rakter von Herrschenden und Beherrschten sein definiens. Solcher Begriff 20 (fast ist man geneigt zu sagen, solche Ontologie des Politischen) lässt dann 21 Politikwissenschaft zu einem Zweig der Moralphilosophie, noch dazu anti- 22 quierten Musters, werden«.19 Beachtlich ist nun, dass diese Sichtweise einen 23 Großteil der Charakterisierungen der CDU- und CSU-Theorie und -Program- 24 matik geprägt hat. 25 Die christlich-demokratischen Ideen werden im Vergleich zum Liberalis- 26 mus und demokratischen Sozialismus in der historisch-politikwissenschaftli- 27 chen Forschung in systematischer und ideengeschichtlicher Hinsicht selten be- 28 handelt, was zur Folge hat, dass die Eigenständigkeit der Christlichen Demo- 29 kratie neben den herkömmlichen politischen Ideenkreisen und Bewegungen 30 zumeist verkannt wird. So sucht man in den meisten politischen Wörter- bzw. 31 Handbüchern das Stichwort Christliche Demokratie vergebens,20 selbst in sol- 32 chen Editionen, die differenziertere Artikel zur sozialen Demokratie oder zum 33 34 35 36 18 Werner J. PATZELT, Einführung in die Politikwissenschaft. Grundriss des Faches und studiumbegleitende Orientierung, Passau 2001, S. 207f.; zur Kritik an den drei metatheoreti- 37 schen Schulen vgl. auch Ulrich MATZ, Bemerkungen zur Lage der Deutschen Politikwissen- 38 schaft, in: Zeitschrift für Politik 32 (1985), S. 1–7, hier S. 3ff. 39 19 Wolf-Dieter NARR, Logik der Politikwissenschaft – eine propädeutische Skizze, in: Gi- 40 sela KRESS/Dieter SENGHAAS (Hg.): Politikwissenschaft. Eine Einführung in ihre Probleme, S. 13–36, hier S. 18. 41 20 Eine Ausnahme bildet der kurze Artikel »Christliche Demokratie« von Hans MAIER in: 42 Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim RITTER, Bd. 2, Basel 1972, Sp. 55f. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Die Christliche Demokratie im politischen Ideenspektrum 39 politischen Liberalismus enthalten.21 Man behilft sich dann seitens der Her- 1 ausgeber damit, dass man Artikel wie christliche Soziallehre oder katholische 2 und evangelische Sozialethik aufnimmt. Doch ist die christliche Sozialethik 3 oder Soziallehre, zumindest was die Christliche Demokratie nach 1945 betrifft, 4 nicht ohne weiteres als Politische Theorie der Unionsparteien anzusehen, auch 5 wenn – wie in der Frühzeit – gewisse Affinitäten festzustellen sind. Dass es 6 allerdings auch im Umfeld der Christlichen Demokratie diesbezüglich Verle- 7 genheiten gab und gibt, kann nicht bestritten werden.22 8 So enthält etwa auch der Band 1 der Handbücher der Politischen Akademie 9 Eichholz, »Politische Bewegungen in Deutschland. Entwicklungen – Aufbau 10 – Ziele« aus dem Jahre 1967 keinen Artikel zur »Christlichen Demokratie«, 11 obwohl die anderen politischen Bewegungen wie Sozialismus, Kommunis- 12 mus, demokratischer Sozialismus und politischer Liberalismus ausführlich be- 13 handelt werden. Als Alternative zu einem solchen Artikel hat der Herausgeber 14 zwei Aufsätze aufgenommen, die je aus katholischer und evangelischer Sicht 15 das Thema »Staat und Politik« traktieren.23 16 Zweifellos stellten katholische und evangelische Staatslehre nach 1945 17 wichtige Leitlinien für die Unionsparteien dar, aber dennoch können die kirch- 18 lich-konfessionellen Zugänge zu Staat und Politik nicht ohne weiteres als po- 19 litische Theorie einer interkonfessionellen politischen Partei wie der CDU an- 20 gesehen werden. Auch wenn die Unionsparteien in der Gründungs- und Kon- 21 solidierungsphase von der Katholischen und von Teilen der Evangelischen 22 Kirche beträchtliche Unterstützung fanden, taugt die Sozialethik der beiden 23 Kirchen nicht als unmittelbare Handlungsanleitung zur Ausgestaltung der ein- 24 zelnen Politikbereiche, zumal beide Kirchen in vielen Sachfragen der poli- 25 tisch-rechtlichen Grundordnung ausgesprochen defensiv argumentierten.24 26 Die Christliche Demokratie als in dieser Konstellation einzigartige Partei- 27 formation stellte und stellt nicht nur an Politiker, sondern auch für den wis- 28 senschaftlichen Betrachter erhöhte Anforderungen, nicht zuletzt aufgrund des 29 komplizierten Zusammenspiels von Religion und Politik, Kirchen und Staat, 30 Theologie und Ethik und Partei. Diese politisch-weltanschaulichen Eigenhei- 31 32 33 21 Eine umfassende Übersicht über die Theorie und Geschichte der Christlichen Demo- 34 kratie bietet neuerdings das Lexikon der Christlichen Demokratie in Deutschland, hg. v. Win- 35 fried BECKER u.a., Paderborn 2002. 36 22 Vgl. Rudolf UERTZ, Christliche Sozialethik und Christliche Demokratie. Zur Zukunfts- fähigkeit des sozialethischen Dialogs, in: Historisch-Politische Mitteilungen 8 (2001), S. 267ff. 37 23 Vgl. Politische Bewegungen in Deutschland. Entwicklungen – Aufbau – Ziele (Hand- 38 bücher der Politischen Akademie Eichholz, Bd. 1), Bonn 21967, S. 51–81, 83–116. 39 24 Auch der Artikel von Hermann Josef RUSSE, Gesellschaftspolitik aus christlicher Ver- 40 antwortung, EBD. S. 117–178, vermag kaum eine politische Theorie der Christlichen Demo- kratie zu skizzieren, zumal sich dieser Artikel weitgehend auf die Wirtschafts- und Sozialpro- 41 grammatik beschränkt. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 ten wurden schon früh und – vielfach vereinfachend – als die Frage nach dem 2 »C« bezeichnet. 25 3 In gewisser Weise stilbildend für die Untersuchungen über die Program- 4 matik und Theorie der Christlichen Demokratie war die Arbeit von Wolf-Die- 5 ter Narr: »CDU – SPD. Programm und Praxis seit 1945« aus dem Jahre 1966. 6 Rund zehn Jahre zuvor hat Gerhard Schulz in der ersten umfänglicheren wis- 7 senschaftlichen Untersuchung über die CDU die theoretischen, programmati- 8 schen, historischen und parteisoziologischen Linien und Befunde solide her- 9 ausgearbeitet und umsichtig bewertet. Für Schulz steht die Entscheidung zur 10 Gründung der Union und zum Christlichen als Ausweis im Parteinamen vor 11 allem unter dem Eindruck der nach 1945 wieder freigelegten Glaubensgrund- 12 lagen. »Eine fast allgemeine Beschäftigungslosigkeit des Geistes in der zer- 13 störten technisch-materiellen Welt und die seelischen Depressionen nach 14 Krieg, Tod, politischem Druck und jäher Entlastung mochten die massenhafte 15 Hinwendung zum Metaphysischen psychologisch begünstigen.« Die religiös- 16 sittliche Erneuerung und die verstärkte Hinwendung zum christlichen Glauben 17 münden zunächst noch nicht in konkret fassbare Programme; doch sind christ- 18 liche Ethik und christliche Weltanschauung insofern feste Orientierungslinien, 19 als sie der Ideologie des Nationalsozialismus, Materialismus, Agnostizismus 20 sowie dem Recht des »Führerstaats« schon vom Grundansatz her diametral 21 entgegenstehen.26 Die im Anfang vornehmlich mit kirchlichen und religiösen 22 Vorstellungen angefüllten Äußerungen zum politischen und parteipolitischen 23 Neuanfang, so formuliert Gerhard Schulz, vermochten der »Seele Halt« zu 24 geben, »solange die materielle Welt in der totalen Zerstörung und der Unge- 25 wissheit der Zukunftsaussichten beinahe nichtig geworden zu sein schien«. 26 Doch habe die Umorientierung nach Kriegsende keine »dauerhafte habitu- 27 elle Veränderung« bewirkt. Denn die Politik sei auch und gerade unter den 28 modernen Bedingungen eine Angelegenheit »des modernen säkularisierten 29 Menschen«. Was einzelne Theologen und Sozialethiker später mit einem Un- 30 31 32 25 Hans Maiers große Untersuchung, Revolution und Kirche. Zur Frühgeschichte der 3 33 Christlichen Demokratie, München 1973, behandelt lediglich die Anfänge der Christlichen Demokratie. 34 26 Im Kommentar des nationalsozialistischen Staatsrechts, dem »Verfassungsrecht des 35 Großdeutschen Reichs« von Ernst Rudolf Huber (1937, 21939), S. 230 heißt es: »Der Führer 36 vereinigt in sich alle hoheitliche Gewalt des Reiches; alle öffentliche Gewalt im Staat wie in der Bewegung leitet sich von der Führergewalt ab. … Die Führergewalt ist umfassend und 37 total ... (sie) ist nicht durch Sicherungen und Kontrollen, durch autonome Schutzbereiche und 38 wohlerworbene Einzelrechte gehemmt, sondern sie ist frei und unabhängig, ausschließlich und 39 unbeschränkt.« Auch wenn es katholischer- und evangelischerseits keine ausgefeilte Staats- 40 und Verfassungslehre gibt, so ist doch die von Huber zusammengefasste Rechtsauffassung des Nationalsozialismus genau umgekehrt zu den Grundanschauungen der christlichen Sozialethik, 41 der christlichen Auffassung vom Menschen, seinen Rechten und seinen Pflichten in Staat, 42 Rechtsordnung und Gesellschaft. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Die Christliche Demokratie im politischen Ideenspektrum 41 terton des Bedauerns bemerkt haben,27 ist für den Parteihistoriker ein Selbst- 1 verständnis moderner pluralistisch-gesellschaftlicher Bedingungen: dass auch 2 eine christliche Partei genötigt ist, sich den Sachfragen der Politik zu widmen. 3 Schulz sieht entsprechend im Programm der »Sozialen Marktwirtschaft«, den 4 Düsseldorfer Leitsätzen von 1949, und im Hamburger Programm von 1953, 5 dem Programm für die zweite Bundestagswahl, eine konsequente Hinwendung 6 zu konkreten politischen Sachbereichen und ordnungspolitischen Fragen. Die 7 »Politik und Propaganda der CDU« sieht Schulz als ebenso »erfolgreich wie 8 zielsicher« und psychologisch richtig angelegt »angesichts der latenten Er- 9 wartungen der Bevölkerung Westdeutschlands ... nach Wiederherstellung, He- 10 bung und Sicherung des Lebensstandards«.28 Das religiöse Bemühen und da- 11 mit der Charakter der CDU als »Weltanschauungspartei« seien dagegen 12 zwangsläufig verblasst. Die materiellen Forderungen seien eben stärkere Ge- 13 meinsamkeiten als die geistigen Forderungen; denn »die Begriffe ›Weltan- 14 schauung‹ und ›Integration‹ scheinen sich als definitorische Hauptmerkmale 15 auszuschließen«. Schulz spricht damit das Problem an, dass Katholiken und 16 Protestanten ihre gemeinsamen politischen Programmpunkte unterschiedlich 17 begründeten. Das aber hatte zur Konsequenz, dass eben religiöse Begründun- 18 gen in der Programmatik mehr und mehr zurücktreten mussten. 19 Rund ein Jahrzehnt später hat sich die Fragestellung in der Parteienanalyse 20 beträchtlich gewandelt. Auch Wolf-Dieter Narr konzediert, dass sich die Re- 21 ligion primär auf die Motive des Handelns beziehe; sie sei Sache des einzelnen 22 und habe im öffentlichen Raum nur in sehr eingeschränkter Weise Platz: »Die 23 Möglichkeit einer christlichen Politik als Politik christlicher Verantwortung 24 gilt personal; sie duldet nicht die Übertragung auf eine politische Gruppe im 25 ganzen.«29 Damit aber werde »auch schon die immanente Grenze der Inte- 26 grationskraft des Christlichen deutlich«. Wohl schlössen Individualethik und 27 Gruppenethik einander sicherlich nicht aus, doch sieht Narr – ähnlich wie 28 Schulz – diesbezüglich doch beträchtliche Unterschiede zwischen katholi- 29 schem und evangelischem Politik- und Sittlichkeitsverständnis, was eben auch 30 der christlichen Weltanschauung als Integrationsfaktor Grenzen setze. »Es fällt 31 auf, dass die Protestanten in der Union gewöhnlich mehr von christlicher Ver- 32 antwortung und christlichen Grundsätzen ohne jeweils zwingenden Zusam- 33 menhang zur politischen Aktion sprechen, die Katholiken mehr von christli- 34 cher Weltanschauung, gottgewollter Ordnung und christlichen Naturrechten, 35 36

27 Vgl. Wilhelm WEBER, Geschichte der katholischen Sozialbewegung in Deutschland, 37 in: Katholisches Soziallexikon, hg. v. Alfred KLOSE/Wolfgang MANTL/Valentin ZSIFKOVITS, 38 Innsbruck/Graz 21980, Sp. 442ff., hier S. 451f. 39 28 Gerhard SCHULZ, Die CDU – Merkmale ihres Aufbaus, in: Parteien in der Bundesre- 40 publik. Studien zur Entwicklung der deutschen Parteien bis zur Bundestagswahl 1953 (Schrif- ten des Instituts für Politische Wissenschaft, 6), Stuttgart 1955, S. 3–157, hier S. 146. 41 29 Wolf-Dieter NARR, CDU – SPD. Programm und Praxis seit 1945, Stuttgart 1966, S. 177. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Vorstellungen, die sich auch in partiellen Sachforderungen und Handlungen 2 Ausdruck verschaffen.«30 Darin tue sich »ein nicht unwesentlicher Unter- 3 schied kund, der in der Wirkung aber offenbar peripher« bleibe. Denn Grund- 4 sätze und Weltanschauung hätten nun einmal das Merkmal an sich, dass sie 5 keine unmittelbar hemmenden Vorschriften präjudizieren, sondern nur im Hin- 6 tergrund fungieren, als Werte und Kampfinstrumente brauchbar, nicht als po- 7 litische Leitlinien. Dazu bedürfe es der »Konkretisierung des C«, aber genau 8 dies vermeide man schon der erheblichen Unterschiede wegen. 9 Wohl seien die religiösen, aus der Bikonfessionalität resultierenden Unter- 10 schiede nicht so groß wie die »sozialen Differenzierungen«, so dass sie auch 11 kaum zu »Spannungen Anlass gegeben« hätten; außerdem habe man sie »mit- 12 tels der Parität ›in kluger Weise‹ entschärft« . Doch bedeute dies eben eine 13 »Entpolitisierung des Christlichen«, das damit »zum Bodensatz einer Partei« 14 abgesunken sei. Die Hinneigung zu einem gemeinsamen christlichen Grund- 15 verständnis sieht der Autor nicht zuletzt durch die beiden Kirchen verstellt, 16 deren theologisches Selbstverständnis der positiven Bezugnahme auf das 17 Christentum durch eine politische Partei feste Grenzen ziehe. 18 Angesichts dieser theologisch-kirchlichen Befunde sieht Narr einer eigen- 19 ständigen politischen Theorie der Christlichen Demokratie den Weg versperrt. 20 Das Selbstverständnis der CDU und ihrer Programmatik als einer auf dem 21 »Christentum« aufbauenden Partei, wie es etwa das Programm der CDU für 22 die britische Zone 1946 ausweist, wird von dem Politologen nicht näher in 23 Betracht gezogen. Ignoriert wird damit aber auch der Umstand, dass Konrad 24 Adenauer in den von ihm weithin selbst formulierten frühen Programmen und 25 Programmreden der CDU das Christentum aus konfessionell-kirchlichen Be- 26 zügen gelöst und als eine geistig-sittlich-kulturelle Kraft herausgestellt hat. 27 Dabei formuliert Adenauer eine personalistische Ethik, indem er die Gestal- 28 tung für die politische und soziale Ordnung der Verantwortung der Person 29 anheim stellt. Unverkennbar wird damit die Religion bzw. die »christliche 30 Weltanschauung« nicht etwa auf Kirche und theologische Dogmatik be- 31 schränkt, sondern vielmehr als ein europäisch-abendländisches, d.h. kultur- 32 christliches Phänomen gesehen. So heißt es im Programm von 1946 für die 33 britische Zone: »Die christliche Weltauffassung allein gewährleistet Recht, 34 Ordnung und Maß, Würde und Freiheit der Person und damit eine wahre und 35 echte Demokratie, die sich nicht auf die Form des Staates beschränken darf, 36 sondern das Leben des einzelnen wie das des Volkes und der Völker tragen 37 und durchdringen soll. Wir betrachten die hohe Auffassung des Christentums 38 von der Menschenwürde, vom Wert jedes einzelnen Menschen als Grundlage 39 und Richtschnur unserer Arbeit im politischen, wirtschaftlichen und kulturel- 40 41 42 30 EBD. S. 178. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Die Christliche Demokratie im politischen Ideenspektrum 43 len Leben unseres Volkes.«31 Eine weitere Unterscheidung vom kirchlich-dok- 1 trinären Verständnis unterstreicht Adenauer beim Naturrechtsgedanken. Wur- 2 de von der christlichen Sozialdoktrin her das Naturrecht als ein fester Nor- 3 menbestand angesehen, aus dem die katholische Kirche – zumindest noch bis 4 zum II. Vatikanum (1962–1965) – konkrete politische Forderungen abzuleiten 5 bestrebt war, so identifizierte Adenauer das Naturrecht mit den rechtlichen 6 und sittlichen »Grundlagen der christlich-abendländischen Kultur« und der 7 »christlichen Ethik«. Selbstbewusst entzog damit der CDU-Vorsitzende die 8 sittlichen Grundnormen des Christentums der theologisch-dogmatischen Deu- 9 tungshoheit, was einen wesentlichen Schritt hin zur Liberalisierung des christ- 10 lichen Politik- und Sozialverständnisses bedeutete. 11 Von Narr werden solche Emanzipationsbewegungen des Christlichen in der 12 CDU-Programmatik nicht wahrgenommen. Der Gedanke, dass das Christliche 13 als Ausweis der Programmatik auch und vor allem ein kulturchristliches Phä- 14 nomen darstellt, wird nicht ernstlich erwogen. Vielmehr scheint er das Christ- 15 liche eher als Reservat der Kirchen anzusehen – eine Vorstellung, die z.B. 16 auch in der Konzeption der bikonfessionell ausgerichteten Sozialethik des 17 Handbuchs der Politischen Akademie Eichholz zumindest durchscheint.32 18 Bei Narr heißt es: »Als ›gemeinchristliche‹ ist die Partei unmöglich und nur 19 durch die gemeinsamen Gegner zu rechtfertigen, als katholische Partei ist sie, 20 angesichts der mehr und mehr anerkannten pluralistischen Gesellschaft, ent- 21 weder dazu verdammt, bloße kirchliche Interessenpartei zu werden oder aber 22 der Demokratie vom Ansatz her zu widersprechen.« Bei seinem apodiktischen 23 Urteil stützt sich Narr auf theologisch-kirchenamtliche Deutungen christlichen 24 Naturrechts durch Oswald von Nell-Breuning,33 so dass man meinen könnte, 25 der wissenschaftliche Beobachter wolle das »C« im Parteinamen vor Verwäs- 26 serung schützen und es allein der Definitionshoheit der Kirchen vorbehalten. 27 So heißt es, dass »sich Strömungen innerhalb der katholischen Theologie und 28 Laienbewegung (gebildet hätten), die das amtskirchliche Verständnis personal 29 wesentlich anreichern wollen und somit zwar nicht zur gleichen, aber doch 30 ähnlich begründeten Konsequenz wie der Protestantismus gelangen« wollten.34 31 Was heißt dies in unserem Zusammenhang? Narr hat das Manuskript seiner 32 Publikation fast zeitgleich mit dem Abschluss des II. Vatikanischen Konzils 33 1965 beendet. In dessen Dekreten konnten sich genau die Strömungen inner- 34 35 36 31 Gedr. in Helmuth PÜTZ (Bearb.), Konrad Adenauer und die CDU der britischen Besat- zungszone 1946–1949, Bonn 1975, S. 131. 37 32 Vgl. die Artikel von Peter HEYDE und Gerhard SCHREEB (wie Anm. 23), S. 51–81, 83– 38 116. 39 33 Vgl. Oswald VON NELL-BREUNING, Zur Programmatik christlicher Parteien, Köln 40 1946, der einer positiven Bezugnahme auf Christentum oder christliche Ethik durch christliche Parteien kritisch gegenübersteht. 41 34 W.-D. NARR (wie Anm. 29), S. 178. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 halb der katholischen Theologie und Laienbewegung bestätigt sehen, die Narr 2 wegen ihrer Annäherung an den Protestantismus als nicht authentisch in 3 Zweifel zieht. In seinen politik- und gesellschaftsrelevanten Dokumenten hat 4 sich das II. Vatikanum35 mit dem christlichen Personalismus dem sozialethi- 5 schen Argumentationsstil angeschlossen, der der vom Protestantismus ge- 6 prägten Verantwortungsethik ähnelt. Dass dieser Argumentationsstil seit 7 1965 kirchenamtlich bestätigt wurde, heißt aber nicht, dass es ihn nicht schon 8 vorher gegeben hätte. Vielmehr hat der in den 30er Jahren von dem franzö- 9 sischen Philosoph Jacques Maritain in die christliche Sozialethik und die Pro- 10 grammatik der christlichen Parteien eingeführte christliche Personalismus, 11 der ein wichtiges Fundament für die Inkorporierung der Menschenrechte in 12 die christliche Sozialethik darstellte, auch ohne ausdrückliche Bezugnahme 13 auf den Autor im katholischen Nachkriegsdeutschland Verbreitung gefunden. 14 Das bedeutet, dass das Konzil eine liberalkatholische Richtung bestätigt 15 hat, die schon geraume Zeit vorher im politischen Katholizismus anzutreffen 16 war. 17 Bemerkenswert ist allerdings, wie durch die Art und Weise, in der Narr 18 einer christlich-ethischen und kirchlich-theologischen Legitimierung der 19 CDU-Programmatik den Weg versperrt, das christliche Politikverständnis zu 20 einer defensiven und antiquierten Größe mutiert. Denn obwohl die Union mit 21 der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft, die ja eine Entideologisierung 22 des frühen christlich-sozialistischen Anspruchs bedeutete, eine tiefgreifende 23 Modernisierung der Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik auf den 24 Weg gebracht hat, erhält das Christliche als Namensbestandteil der Partei und 25 ihrer Programmatik unverkennbar einen negativen Beigeschmack. So heißt es 26 zum »›C‹ im säkularisierten Staat«: »Einerseits wollte und will man als poli- 27 tische Partei erscheinen, die den pluralistischen, säkularen Staat akzeptiert, 28 gibt aber den grundsätzlichen Willen zur Verchristlichung nicht nur nicht auf, 29 sondern bewährt sich in hohem Maße als kirchliche Belang-Partei oder, anders 30 ausgedrückt, als Partei, die für kirchliche Interessen in besonderem Maße zu- 31 gänglich ist. Andererseits will man als christliche Partei erscheinen, insoweit 32 wenigstens, dass man eine ›Ordnung mit Gott‹ und ein ›christliches Deutsch- 33 land‹ intendiert, war und ist aber nichts anderes als eine konservative, den 34 gesellschaftlichen Zustand bewahrende politische Partei.« 35 Wohl unterscheide sich die CDU von der Zentrumspartei; ähnlich aber sei 36 sie dem Zentrum darin, »dass sie ebenso wie dieses annimmt, auf Grund der 37 Ewigkeitsgeltung christlicher Grundsätze keiner Programmatik zu bedürfen; 38 eine solche wird als Ideologie abgetan. Eine Realpolitik, d.h. eine Politik der 39 40 41 35 Vgl. Wolfgang OCKENFELS, Art. »Vatikanum II«, in: Lexikon der Christlichen Demo- 42 kratie in Deutschland (wie Anm. 21), S. 671f. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Die Christliche Demokratie im politischen Ideenspektrum 45 anfallenden Tagesaufgaben ohne greifbare Richtlinien, wurde (und wird) als 1 die neue Möglichkeit der christlichen Partei begriffen. Christlich insofern, als 2 irgendwo die Gesinnung mit einem christlichen Haken verankert ist. Das Pa- 3 radoxon entstand, dass die im ›Ewigen‹ gegründete politische Partei, da sie 4 keine ›middle axioms‹, keine politische Theorie ›of the middle range‹ besaß, 5 zur Partei der politischen Empirie schlechthin wurde und diese noch christlich 6 verabsolutierte. – So erscheint die CDU als eine politische Partei auf dem Bo- 7 den der Demokratie, christlich fermentiert, mit einer verborgenen, gar antide- 8 mokratischen Tendenz zum christlich-autoritären, zum christlich-exklusiven 9 Staat.«36 10 Bemerkenswert sind hierbei weniger die Bewertungen selbst als vielmehr 11 deren Herleitung: Das Bild der CDU als konservativer Partei resultiert bei Narr 12 fast ausschließlich aus ideologischen Überlegungen, so dass die Christliche 13 Demokratie in der Bundesrepublik gar in eine geistige Nähe zum alten Zen- 14 trum und ihren konfessionalistisch-kirchlichen Engführungen rückt. Zweifel- 15 los kann der Parteienanalytiker für seine Behauptungen gute Belege anzufüh- 16 ren. In der Tat wurde »das C-Element« von einzelnen Pfarrern und Politikern 17 in etwas vordergründiger Weise immer wieder als Wahlhilfe benutzt und das 18 Christentum in kirchennaher Version als Integrationsfaktor geschätzt, wobei 19 es mitunter in eine befremdliche Spannung zur pluralistischen Demokratie ge- 20 riet. So gab es durchaus auch sich christlich verstehende Politiker und einzelne 21 Kirchenvertreter, die die Religion integralistisch verstanden, der »Verchrist- 22 lichung« von Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur das Wort redeten37 23 und in den Unionsparteien verlängerte Arme der Kirchen zu erblicken glaub- 24 ten. Aber darf dies zwangsläufig zu einer solchen Gesamtbewertung führen? 25 Ist es redlich, Teile des christlich-demokratischen und -sozialen Spektrums 26 für das Ganze zu halten? 27 Das von Narr gezeichnete Bild der CDU als einer Partei, deren Konserva- 28 tismus sich vor allem ihrer christlichen und kirchlichen Prägungen verdanke, 29 finden sich in vier weiteren Arbeiten aus den Jahren 1971/72. Die wohl nach- 30 haltigsten Eindrücke hinterließen die Studien von Martin Greiffenhagen und 31 Helga Grebing, beide 1971, die sich in ihren Methoden und Ergebnissen äh- 32 neln. Für Greiffenhagen bietet vor allem der »katholische Konservatismus ... 33 reiches Anschauungsmaterial« für die These, dass die frühe Bundesrepublik 34 unter der Führung der christlichen Parteien CDU und CSU ein Restaurations- 35 programm verfolgt habe. Die katholische Naturrechtslehre mit ihrer Ontologie 36 37 38 39 36 W.-D. NARR (wie Anm. 29), S. 180f. 40 37 Eberhard WELTY, Die Entscheidung in die Zukunft. Grundsätze und Hinweise zur Neu- ordnung im deutschen Lebensraum, Köln 1946, spricht z.B. von der »christlichen Gesamtle- 41 bensordnung«. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 habe das theoretische Fundament für dieses Restaurationsprogramm gelie- 2 fert,38 wie es vor allem von Unionspolitikern vertreten worden sei. 3 Sicherlich ist die »Naturrechtsrenaissance« nach 1945 ein Faktum der Zeit- 4 und Parteiengeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Zur wissenschaftlichen 5 Verifizierung dieser These müsste man aber untersuchen, was denn die je- 6 weiligen Protagonisten eines (christlichen) Naturrechts genauer meinen, wo 7 und in welcher Weise sie mit ihren Ideen Spuren hinterlassen haben.39 Auch 8 das christliche Naturrecht konnte konservativ, genau so gut aber auch liberal 9 interpretiert werden;40 man konnte ins Zentrum den Gedanken des Gemein- 10 wohls und »staatlicher Verantwortung« für Recht und Ordnung rücken, man 11 konnte aber auch mit dem christlichen Naturrecht personalethische Normen 12 wie die Personwürde und die Verantwortung des einzelnen verbinden, wie es 13 Jacques Maritain – unter Bezugnahme auf Thomas von Aquin – getan hat.41 14 Immerhin konzedierte Narr ansatzweise ein liberalkatholisches Denken, auch 15 wenn er es nicht in seine Untersuchungen einbezogen hat. Greiffenhagen hin- 16 gegen zeichnet nur sehr schematische Züge des »christlichen Konservatismus 17 katholischer Provenienz« dessen Naturrechtsverständnis er dem gesamten Ka- 18 tholizismus unterstellt. Das anthropologische Grundverständnis und das 19 Staatsbild des Konservativen, so heißt es, seien von der »durchgängigen ›Ge- 20 fährlichkeit‹ des Menschen« geprägt. »Der Mensch ist primär kein Vernunft-, 21 sondern ein Sinnenwesen, das seinen Trieben lebt und deshalb in Zucht ge- 22 nommen werden muss.« Im übrigen führe »die pessimistische Anthropologie 23 des Konservatismus ... ihn zu einer radikalen Unterscheidung von Moral und 24 Politik«.42 Als weitere Charakteristika nennt er die »organische Staatstheo- 25 rie«43, die Grundoptionen wie »ständische Bindung und ›ewige Werte‹ « so- 26 wie »konstante Menschennatur«. Aber Greiffenhagen vertieft seine Thesen 27 28 29 38 Martin GREIFFENHAGEN, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, Frankfurt/M. 1986, S. 273, 309f. Die Gruppe um Das Neue Abendland wird – unter Verweis auf Helga Grebing 30 – als repräsentativ für den »katholischen Konservatismus« angeführt, der mit seiner »Ontologie 31 … der älteren Naturrechtslehre« die Grundlage für die »konservative Theorie« geliefert habe. 32 39 Für einzelne Bereiche ist der Einfluss des Naturrechts nach 1945 gut belegt; vgl. Anton 33 RAUSCHER (Hg.), Katholizismus, Rechtsethik und Demokratiediskussion 1945-1963, Paderborn 1981. Der Band enthält auch einen Beitrag zur evangelischen Rechtsethik nach 1945. Die kri- 34 tische Stellung weiter Kreise des Protestantismus zum Naturrecht kommt deutlich zum Vor- 35 schein bei , Präsident des Deutschen Bundestages. Ausgewählte Reden, Auf- 36 sätze und Briefe 1950–1954, hg. v. Karl Dietrich ERDMANN, Boppard 1991, S. 327. 40 Vgl. die Artikel »Christlicher Humanismus«, »Christliches Menschenbild« und »Na- 37 turrecht« von Peter WALTER, Alois BAUMGARTNER und Rudolf UERTZ in: Lexikon der Christ- 38 lichen Demokratie in Deutschland (wie Anm. 21), S. 475f., 478f., 601f. 39 41 Vgl. Jacques MARITAIN, Christlicher Humanismus. Politische und geistige Fragen einer 40 neuen Christenheit (Original: Humanisme intégral. Problèmes temporels et spirituels d’une nouvelle Chrétienté, Paris 1936), Heidelberg 1950. 41 42 M. GREIFFENHAGEN (wie Anm. 38), S. 270f. 42 43 EBD. S. 202. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Die Christliche Demokratie im politischen Ideenspektrum 47 nicht und verweist stattdessen auf die detailliertere Studie von Helga Grebing. 1 Jedenfalls betreffen seine theologisch-anthropologischen Befunde lediglich 2 den augustinisch orientierten Protestantismus, nicht aber das thomasisch ge- 3 färbte katholische Naturrechtsdenken, dessen Erkenntnislehre realistisch oder 4 gar optimistisch ist.44 5 Bei Grebing finden sich nun in der Tat zahlreiche Belege für eine aus der 6 katholischen Naturrechts- und Soziallehre abgeleitete Konservatismustheo- 7 rie mit starkem traditionalistischen Einschlag. Die Grundthese dieser Studie 8 schließt sich unmittelbar dem Urteil von Walter Dirks an. Es gehe um die 9 »Kontinuität der deutschen Geschichte. Tatsächlich ... ist diese Diskussion 10 nie unterbrochen worden. Der ›restaurative Charakter der Epoche‹, dessen 11 Kennzeichen das Wiederanknüpfen aller politischen Kräfte an die Zeit vor 12 Hitler und der Versuch der Wiederherstellung der aus dieser Zeit stammen- 13 den Positionen, Rechte und Besitzstände waren, begünstigte auch die Be- 14 mühungen um eine ›Rekonstruktion‹ konservativer Haltungen vor Hitler. 15 Das günstige Klima für solche Bemühungen wurde noch dadurch verbessert, 16 dass Widerstand gegen den Nationalsozialismus für identisch gehalten wurde 17 mit Option für Demokratie, und alsbald der Antikommunismus die Reflexion 18 über die Grundlagen einer postfaschistischen deutschen Demokratie ersetz- 19 te.« 45 20 Nach Helga Grebing sind letztlich alle gesellschaftlichen Kräfte nach 1945 21 konservativ eingestellt; denn die Behauptung, dass es sich um eine »Wieder- 22 herstellung der ... Positionen, Rechte und Besitzstände« aus der »Zeit vor Hit- 23 ler« gehandelt habe, lässt als gangbare Alternative nur den Schluss zu, dass 24 die »fortschrittliche Alternative« nur die Position gewesen wäre, die radikal 25 neu, bisher empirisch unerprobt gewesen wäre. Nachdem die nationalsoziali- 26 stische Revolution so furchtbar zusammengebrochen ist, kann die »versäumte 27 Reform« bzw. die ausgeschlagene Chance einer umfassenden Gesellschafts- 28 reform letztlich nur die sozialistische Position sein, die ja auch bei Walter 29 Dirks im Hintergrund wirkt.46 30 Die – wie immer im einzelnen motivierte – Modernisierung der Wirtschaft 31 und Gesellschaft der Bundesrepublik (vgl. A. Schildt, H.-P. Schwarz), die Aus- 32 dehnung und Sicherung liberaler und sozialer Grundrechte, der Ausbau sozi- 33 34 35 44 Zu den konfessionspezifischen Differenzen von Katholizismus und Protestantismus in 36 der CDU-Programmatik vgl. Rudolf UERTZ, Christentum und Sozialismus in der frühen CDU. Grundlagen und Wirkungen der christlich-sozialen Ideen in der Union 1945–1949, Stuttgart 37 1981, S. 50, 119. 38 45 Helga GREBING, Konservative gegen die Demokratie. Konservative Kritik an der De- 39 mokratie in der Bundesrepublik, Frankfurt 1971, S. 16; vgl. Walter DIRKS, Der restaurative 40 Charakter der Epoche, in: Frankfurter Hefte 5 (1950), S. 942ff. 46 Eine ähnliche These vertrat auch Otto Heinrich VON DER GABLENTZ in seiner Studie, 41 Die versäumte Reform. Zur Kritik der westdeutschen Politik, Köln 1960. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 alstaatlicher und sozialpolitischer Leistungen, an denen ja nicht zuletzt auch 2 die christliche Soziallehre, kirchliche Verbände und die Sozialausschüsse der 3 Union in hohem Maße beteiligt waren – Leistungen, wie sie kein sozialisti- 4 sches System je zu zeitigen vermocht hatte, werden von Grebing ebenso aus- 5 geklammert wie die Positionen des politischen Liberalismus, der nach 1945 6 praktisch von allen Parteien der Mitte vertreten wurde. 7 So unterscheiden sich für Grebing die dargestellten programmatischen Po- 8 sitionen letztlich nur durch ihren Grad an Rückwärtsgewandtheit. In einer 9 Art Stufenmodell werden kapitelweise die konservativen Ideenkreise der 10 christlichen Parteien dargestellt, die von einem Ultrakonservatismus und 11 Traditionalismus christlicher Kreise über »ontologisch-normative Ordnung« 12 bzw. Ordnungsideen, vor allem katholisch-kirchlicher Ideen (katholische So- 13 ziallehre) bis hin zu einem technisch-säkular geprägten Konservatismus rei- 14 chen. Die Vertreter des liberalen Wirtschaftsflügels der CDU und CSU z.B. 15 werden nicht als Ordo- oder Neoliberale tituliert; vielmehr spricht Grebing 16 vom »Ordo des Kapitalismus«. Der Kapitalismus aber lässt sich für Grebing 17 nicht erneuern, sondern entstammt vielmehr Positionen aus der Zeit vor 18 1933.47 19 Wesentlich für diese Parteiencharakterisierung ist die Synthese von Kon- 20 servatismus und Christentum. Obwohl die Autorin in anderen Untersuchungen 21 einräumt, dass das Christentum bzw. christliche Sozialideen keineswegs bloß 22 traditionalistisch orientiert sein müssen, sondern sehr wohl, etwa bei den so- 23 zialreformerischen Kräften innerhalb der Union zu linken Parteiprogrammen 24 geführt haben,48 ignoriert sie alle liberalkatholischen und christlich-sozialen 25 Grundsätze und Programme. Wohl kann die Autorin für alle Behauptungen 26 Belege anführen, aber man muss kritisch zurückfragen, wieweit Vorschläge 27 und Forderungen einzelner Personen und Gruppen für die CDU und CSU als 28 Ganzes gelten können. So hat etwa die Gruppe um das Neue Abendland nur 29 eine Randexistenz innerhalb der Unionsparteien geführt und schließlich nach 30 1956 in ihren öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen von traditionalisti- 31 32 33 34 47 Panajotis KONDYLIS, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stutt- 35 gart 1986, S. 37, bemerkt, dass für Grebing Konservatisvismus und Kapitalismus schon seit 36 Marwitz und Gentz ursprünglich miteinander verwachsen seien, »so dass der bis heute herr- schende bürgerliche Liberalismus nur konservativ bzw. reaktonär sein könne .... Die These 37 Grebings ist nichts anderes als die Projektion der erwähnten linken Interpretation des natio- 38 nalsozialistischen Phänomens bis in die ferne Vergangenheit hinein. Die historische Bildung 39 der Autorin lässt übrigens viel zu wünschen übrig.« Als Belegstellen vgl. Helga GREBING (wie 40 Anm. 45), S. 35, 38, 45, 47; DIES., Aktuelle Theorien über Faschismus und Konservatismus. Eine Kritik, Stuttgart 1974, S. 23ff., 32f. 41 48 Vgl. z.B. Helga GREBING, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Ein Überblick, 42 München 1966. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Die Christliche Demokratie im politischen Ideenspektrum 49 schen Vorstellungen Abstand genommen.49 Anders verhält es sich bezüglich 1 des Kapitels über die christliche Soziallehre. Selbstredend hat diese wesent- 2 liche Einflüsse auf die Programmatik und Politik der Unionsparteien, vor allem 3 der Gründungs- und Konsolidierungsphase genommen. Auch die Grundthese, 4 dass nach 1945 eine Naturrechtsrenaissance stattgefunden habe, ist nicht zu 5 beanstanden. Aber man wird die Naturrechtsexegese der führenden katholi- 6 schen Sozialethiker nicht ohne weiteres als programmatische Leitlinien der 7 Union ansehen können, deren Verfassungs-, Rechts- und Staatsideen unge- 8 achtet prinzipieller Übereinstimmungen in der Frage der Würde und Freiheit 9 der Person hinsichtlich der theoretischen Begründung wie auch inhaltlicher 10 Fragen abwichen. 11 Hinsichtlich der Bewertungen von Narr, Greiffenhagen und Grebing stellt 12 sich eine einfache Gegenfrage: Wie sind die Positionen etwa der Protestanten 13 innerhalb der Unionsparteien zu kennzeichnen? Folgten diese ohne weiteres 14 den vorgestellten »katholischen« Ideen? Die genannten Verlegenheiten finden 15 sich auch bei Volker Otto. In seiner Studie über das Staatsverständnis des Par- 16 lamentarischen Rats 1948/49 konzediert er wohl, dass seine Typisierung »nicht 17 eindeutig« sei und Einzeluntersuchungen noch ausstünden. Bemerkenswerter- 18 weise sieht der Autor das Naturrecht keineswegs in den spezifisch konfessio- 19 nellen Engführungen, wie sie oben vorgestellt wurden, vielmehr erkennt er in 20 diesem Begriff eine allgemeine Gegenposition zum Rechtspositivismus der 21 Weimarer Staatslehre, den zu überwinden ein Anliegen praktisch aller Mit- 22 glieder des Parlamentarischen Rats gewesen sei. Ja, das Naturrecht versteht 23 Otto durchaus in einem liberalen rechtsphilosophischen Sinn als »Betonung 24 individueller Freiheitsrechte«. 25 Zu näheren Charakterisierung der CDU/CSU-Mitglieder heißt es: »Die 26 christlich-konservativen Ratsmitglieder vertraten eine betont an der katholi- 27 schen Staatslehre ausgerichtete Staatsauffassung, die sich als Teil der katho- 28 lischen Soziallehre verstand: Subsidiarismus und Solidaritätsprinzip bestimm- 29 ten die vom christlich-neothomistischen Naturrecht her begründete Vorstel- 30 lung vom Staat als Organismus.«50 Was Otto an Differenzierungen bezüglich 31 des Naturrechts einführt, verliert er jedoch wieder mit seiner Charakterisierung 32 der Staatsvorstellungen der CDU/CSU-Fraktion. Zweifellos lassen sich bei 33 34 35 49 Konrad Adenauer und andere Mitglieder des Vorstands der CDU haben keinen Zweifel 36 daran gelassen, dass sie die Vorstellungen der »Abendländischen Akademie« ablehnten; vgl. Günter BUCHSTAB (Bearb.), Adenauer: »Wir haben wirklich etwas geschaffen«. Die Protokolle 37 des CDU-Bundesvorstands 1953–1957, S. 570f.; DERS. (Bearb.), Adenauer: »Um den Frieden 38 zu gewinnen«. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1957–1961, S. 25 (Forschungen und 39 Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 16, 24), Düsseldorf 1990, 1994. 40 50 Volker OTTO, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates. Ein Beitrag zur Ent- stehungsgeschichte des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1971, 41 S. 211. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 einzelnen Mitgliedern, wie etwa bei dem CSU-Abgeordneten Gerhard Kroll, 2 organisch-ständische oder gar ständestaatliche Vorstellungen nachweisen.51 3 Aber fragwürdig ist es, wenn man die sozialphilosophischen Begründungen 4 einzelner Abgeordneter oder Gruppierungen des Parlamentarischen Rates als 5 Gesamtbild der CDU und CSU heranzieht, auch wenn etwa Politiker wie Adolf 6 Süsterhenn, der wichtigste Vertreter der CDU im Parlamentarischen Rat neben 7 Konrad Adenauer, mit seinen Ausführungen genau das zu belegen scheint, 8 was Otto als Gesamtcharakteristikum zeichnet. So spricht etwa Süsterhenn 9 vom »gegliederten Organismus und der Fülle von Lebensgemeinschaften ei- 10 genen Rechts«, dem Staat als Wahrer des Gesamtwohls und dem subsidiären 11 Staatsaufbau und verweist wiederholt auf Thomas von Aquin und das neotho- 12 mistische Naturrechtsdenken, dem gemäß »das Volk der naturrechtliche Trä- 13 ger der Staatsgewalt ist« und diese »also wesenhaft beim Volke liegt«. 52 14 Das Problem, das dieser Art von Konservatismusdarstellung zugrunde liegt, 15 ist grundsätzlicher Art. Die Autoren interpretieren Texte von katholischen Uni- 16 onspolitikern sowie Verfassern von Parteiverlautbarungen, die gedanklich und 17 sprachlich an die katholische Staats- und Soziallehre angelehnt sind. Analy- 18 siert man diese Texte näher, so lassen sich ihre Ideen über die päpstlichen 19 Enzykliken zurückverfolgen bis zur mittelalterlichen Scholastik, der etwa der 20 bei Süsterhenn belegte Gedanke des Volkes als dem ursprünglichen Träger 21 der Gewalt entstammt.53 Demgegenüber ist die moderne, säkulare Demokra- 22 tietheorie und Volkssouveränitätslehre weniger philosophisch, sondern eher 23 pragmatisch begründet.54 Ein weiteres Problem kommt hinzu: Katholische und 24 evangelische Kirche waren lange Zeit defensiv eingestellt gegenüber dem li- 25 beralen Rechtsstaat, der Demokratie und der liberalen Grundrechtsordnung. 26 Man wird in der Tat darauf verweisen können, dass das Naturrecht von Teilen 27 des Katholizismus, näherhin der Amtskirche, als Bezugspunkt einer Kritik am 28 liberalen Verfassungsstaat aufgefasst wurde. 29 Ähnlich wie Helga Grebing stützt sich auch Gerhard Kraiker in seiner Arbeit 30 »Politischer Katholizismus in der BRD. Eine ideologiekritische Analyse« auf 31 32 33 51 EBD. S. 212, verweist u.a. auch auf die Kritik des Staats- und Völkerrechtlers von der Heydte, der den Parlamentarischen Rat beschuldigt hat, dieser habe »Christentum und Staat- 34 lichkeit der Länder« angegriffen; Friedrich August VON DER HEYDTE, Das Weiß-Blau-Buch 35 zur deutschen Bundesverfassung und zu den Angriffen auf Christentum und Staatlichkeit der 36 Länder, Regensburg 1948. 52 V. OTTO (wie Anm. 50), S. 199; vgl. Adolf SÜSTERHENN, Parlamentarischer Rat, 2. 37 Sitzung vom 8.9.1948, S. 18, 22. 38 53 Vgl. A. SÜSTERHENN (wie Anm. 52), S. 18, 22. 39 54 Vgl. Peter GRAF KIELMANSEGG, Volkssouveränität. Eine Untersuchung der Bedingun- 40 gen demokratischer Legitimität, Stuttgart 1994. Zur Entwicklung des Legitimitätsgedankens im katholischen Staatsdenken und in der Christlichen Demokratie vgl. Rudolf UERTZ, Vom 41 Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Fran- 42 zösischen Revolution bis zum II. Vatikanum, Paderborn (voraussichtlich 2003). Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Die Christliche Demokratie im politischen Ideenspektrum 51 den Umstand, dass Programmaussagen, Reden und Verlautbarungen der CDU 1 und CSU oft an die sozialethischen Dokumente der katholischen Kirche an- 2 gelehnt sind.55 Die Naturrechtsrenaissance nach 1945 wird damit zum ent- 3 scheidenden Beleg der angeblichen Restaurationspolitik der christlich-konser- 4 vativen Parteien nach 1945; dieser Programmatik, so heißt es, seien auch die 5 evangelischen Unionspolitiker gefolgt.56 6 Gegen solche Einseitigkeiten und Pauschalurteile hat Hartmut Jäckel schon 7 bei der Besprechung der Arbeit von Wolf-Dieter Narr »CDU – SPD« 57 Be- 8 denken angemeldet. Das »Bild der CDU dürfte um einiges zu grell, zu plakat- 9 haft ausgefallen sein .... Hier wird, fürchte ich, ein Teil für das Ganze gesetzt, 10 nämlich die katholische Provinz (im Doppelsinn des Wortes) für die Masse 11 einer Wohlstandsbürger- und -wählerschaft, die die Qualitäten des ›alten Fuch- 12 ses‹ wohl doch nüchterner einzuschätzen wusste. Sie hat ihm zeit seines Amtes 13 beifälligen Respekt gezollt, aber in ihm gewiss keinen Heiligen gesehen. Wäre 14 Adenauer wirklich ›innerhalb und teilweise auch außerhalb‹ der CDU die ›na- 15 hezu übermenschliche Feiergestalt‹ gewesen, als die Narr ihn referierend 16 zeichnet – wie hat man sich dann, beispielsweise, zu erklären, dass sich ein 17 solcher Gigant nicht einmal bei der Bestimmung seines unmittelbaren Nach- 18 folgers durchzusetzen vermochte, dass seine Kassandrarufe von der eigenen 19 Partei ungerührt in den Wind geschlagen wurden?«58 20 21 Kriterien zur Charakterisierung der Christlichen Demokratie 22 23 Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten: Alle vorgestellten Autoren haben 24 ihr Konservatismusbild der CDU und der Politik der frühen Bundesrepublik 25 26 27 55 Gerhard KRAIKER, Politischer Katholizismus in der BRD. Eine ideologiekritische Ana- 28 lyse, Stuttgart 1972, S. 78. 29 56 Immerhin bemerkt Gerhard KRAIKER, EBD. S. 77, »dass spezifisch autoritäre Elemente der katholischen Staatstheorie und eines von ihr geprägten autoritären Demokratiebegriffs nach 30 1945 zwar publizistische Verbreitung fanden, für die politisch-staatliche Neuordnungskonzep- 31 tion der CDU/CSU jedoch nicht maßgeblich waren«; in der Anm. 130, S. 163, konzediert Krai- 32 ker bei der Behandlung des Grundgesetzes, dem er wesentliche Einflüsse durch die CDU und 33 CSU zumisst, dass seine Grundthese, wonach das Naturrecht doch die Restauration der Bun- desrepublik eingeleitet habe, im Widerspruch steht zum personalen Naturrechtsverständnis des 34 Grundgesetzes. So heißt es: »Von dieser Feststellung (»spezifisch autoritäre Elemente der ka- 35 tholischen Staatstheorie und eines von ihr her geprägten autoritären Demokratiebegriffs nach 36 1945«) auszunehmen ist die – freilich nicht generelle, sondern jeweils bestimmte – Beschrän- kung der Volkssouveränität durch Verankerung von Naturrechten als Grundrechte im Grund- 37 gesetz und in Länderverfassungen.« 38 57 W.-D. NARR (wie Anm. 29), S. 169, der in diesem Zusammenhang auch das berühmte 39 Wort von im am 23.01.1958 zitiert: »Christus ist nicht gegen 40 Karl Marx, sondern für uns alle gestorben«; Sten. Ber. 3 WP, Bd. 39, S. 404. 58 Hartmut JÄCKEL, Konsens statt Konflikt. Schon vor der Großen Koalition wurden Pro- 41 gramme und Methoden einander ähnlich, in: Die Zeit v. 17. November 1967. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 vornehmlich an bestimmten Positionen der katholischen Soziallehre festge- 2 macht. Dabei konzentrierte man sich besonders auf die Positionen von Ver- 3 tretern der Abendländischen Akademie in München und Eichstätt sowie von 4 Repräsentanten der christlichen Staatslehre nach 1945. Zum entscheidenden 5 Beleg avancierte dabei der Naturrechtsbegriff. Dieser wurde einseitig im Sinne 6 kirchlich-theologischer Positionen interpretiert und den Unionsparteien in ih- 7 rer Ganzheit unterstellt. Dieser Interpretation ist entgegenzuhalten, dass Gu- 8 stav Gundlach, Oswald von Nell-Breuning und Johannes Messner, um nur die 9 wichtigsten zu nennen, als Theologen und Sozialethiker nun einmal keine Re- 10 präsentanten der Unionsparteien waren und auch nicht als deren Vordenker 11 anzusehen sind.59 Allein schon die Tatsache, dass sich die genannten Theo- 12 logen distanziert und gar betont kritisch zum »christlichen Menschenbild« 13 bzw. »christlichen Humanismus« als positivem Bezugspunkt christlich-demo- 14 kratischer Programmatik äußern, lässt eine deutliche Spannung von Christli- 15 cher Demokratie und christlicher Soziallehre nach 1945 erkennen, die sich im 16 Laufe der Zeit gar noch weiter auseinanderentwickelt haben. Die Vielfalt von 17 Interpretationen, die das Naturrecht – ungeachtet kirchenoffizieller Normen – 18 schon nach 1945 selbst innerhalb der katholischen Theologie und Sozialethik 19 fand, werden von den genannten Autoren ignoriert. 20 Hans-Peter Schwarz bemerkt: Es gibt »auch 1945 nicht die moderne katho- 21 lische Soziallehre, sondern mindestens zwei erkennbar verschiedene Ansätze. 22 Der erste, an dem sich auch die Dominikaner in Walberberg orientierten, geht 23 auf Thomas von Aquin zurück und stellt die Gemeinschaft über das Indivi- 24 duum. Die Theoretiker dieser Richtung sind davon überzeugt, dass sich aus 25 sozialphilosophischen Grundsätzen über das Gemeinwohl vergleichsweise 26 präzise ordnungspolitische Handlungsanweisungen ableiten lassen. Demge- 27 genüber zweifelt die eher liberale Denkschule, deren Vorstellungen in der En- 28 zyklika ›Quadragesimo Anno‹ 1931 stark durchgeschlagen haben, grundsätz- 29 lich daran, ob die Prinzipien der Gesellschaft mehr sein können als Regulative, 30 innerhalb derer die Politik über erheblichen Gestaltungsspielraum verfügt. Es 31 sind damals vor allem die Jesuiten, die sich stärker an dem personal-indivi- 32 dualistischen Staats- und Gesellschaftsverständnis orientieren. Dieser zweiten 33 Denkschule ist auch Adenauer zuzuordnen.«60 34 Diese Charakterisierung bedeutet nicht, dass Adenauer im theologisch- 35 schulmäßigen Sinne der Morallehre der Jesuiten gefolgt wäre. Vielmehr gibt 36 es neben dieser Doktrin auch eine weitere liberale, personal-individualistische 37 38 39 59 Anders verhält es sich mit dem Dominikaner Eberhard Welty, der aber sozialreforme- 40 rische Grundsätze vertrat und somit – zumindest für den gesellschaftspolitischen Bereich – nach der gängigen Charakterisierung mit seinem christlichen Sozialismus kaum als Konser- 41 vativer gelten kann. 42 60 Hans-Peter SCHWARZ, Adenauer. Der Aufstieg: 1876–1952, Stuttgart 1986, S. 495f. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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Staats- und Gesellschaftstheorie, wie sie vor allem von Laien vertreten wird. 1 So heißt es bei Schwarz: Dass Adenauers »theoretischer Ansatz philosophisch 2 reflektiert ist, mag bezweifelt werden. Aber er wurzelt in existentieller Erfah- 3 rung. Wie in allen christlich-demokratischen Programmen des Jahres 1945« 4 wirkt auch im Entwurf des Programms für die CDU der britischen Zone »noch 5 das Entsetzen über den totalitären Staat nach, der eben zusammengebrochen 6 ist. Daraus ergibt sich für den künftigen Staats- und Gesellschaftsaufbau als 7 zwingende Ausgangsidee der Primat der Grundrechte.«61 8 Eine christliche Sozialethik, die den Primat der Grundrechte zu ihrem Aus- 9 gangspunkt erhebt, hat die katholische Kirche erst mit der Soziallehre Johannes 10 XXIII.62 und des II. Vatikanischen Konzils anerkannt. Mit dieser sozialethi- 11 schen Neubesinnung seit 1961 wird der bis dahin dominierenden neuschola- 12 stischen Naturrechtslehre, dem sog. christlichen Solidarismus, der Grund ent- 13 zogen und einer personalistischen Ethik der Boden bereitet. Das bedeutet nun 14 aber keineswegs, dass nicht schon geraume Zeit zuvor Christen bzw. Katho- 15 liken einen christlichen Personalismus vertreten haben. Neben Frankreich 16 wurde der christliche Personalismus bzw. Humanismus – wenngleich weniger 17 intensiv – auch in Deutschland nach 1945 von verschiedenen Theologen und 18 Philosophen gepflegt, wobei auch der Existenzialismus eine personalistische 19 Ethik vertreten hat.63 Das christliche Menschenbild, so formuliert es Alexander 20 Schwan, enthält neben existentiellen Unterschieden »zugleich akzidentelle Be- 21 rührungspunkte zur humanistischen Anthropozentrik ... Doch ist auch das 22 christliche Menschenbild64 nicht bloße Theorie, sondern die Grundlage der 23 Selbstverständigung und des Weltverhaltens der Christen. Dieses Menschen- 24 bild und sein Verhältnis zum philosophischen Humanismus bestimmen daher 25 die Frage mit, welche Art der ›Unterscheidung des Christlichen‹ (Romano 26 Guardini), aber auch der Kooperation mit Menschen anderer Überzeugung den 27 Christen in der modernen Lebenswelt obliegt.«65 28 29 Christlicher Personalismus als Grundlage Christlicher Demokratie 30 31 Es also naheliegend, auch die programmatisch-theoretische Position der 32 Christlich-Demokratischen Union seit Konrad Adenauers Wiedereintritt in die 33 34 35 61 EBD. 36 62 Vgl. , »Mater et Magistra« und praktische Politik. Ein Diskussionsbei- trag aus dem politischen Alltag, Osnabrück1962. 37 63 Vgl. Max MÜLLER/Alois HALDER, Art. »Person« (I), in: Staatslexikon der Görres-Ge- 38 sellschaft, Bd. 6, Freiburg 61961, Sp. 197–206. 39 64 Vgl. Alois BAUMGARTNER, Art. »Christliches Menschenbild«, in: Lexikon der Christ- 40 lichen Demokratie in Deutschland (wie Anm. 21), S. 478f. 65 Alexander SCHWAN, Humanismen und Christentum, in: Christlicher Glaube in moder- 41 ner Gesellschaft, hg. von Franz BÖCKLE u.a., Bd. 19, S. 52. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Politik 1946 dem christlichen Personalismus zuzurechnen. Nur auf diesem ver- 2 antwortungsethischen Fundament war eine gemeinsame Programmatik und 3 Politik von Katholiken, Protestanten und Andersgläubigen möglich.66 Die 4 christliche Anthropologie und Ethik ist mit ihrer Wertordnung und ihren prin- 5 zipiellen Betrachtungen von Mensch, Familie, Arbeit, Gesellschaft, Macht, 6 Recht und Staat annehmbar auch für diejenigen, die die tieferen theologischen 7 Bezüge des Christentums für sich nicht anerkennen können. Hat die CDU als 8 politische Partei auch historisch und ideengeschichtlich selbstredend eine 9 Nähe zur katholischen und zur evangelischen Kirche, so ist sie weder ein Aus- 10 führungsorgan oder ein verlängerter Arm der Kirchen, noch ist ihre politische 11 Theorie und Programmatik unmittelbar abgeleitet aus theologisch-philosophi- 12 schen Prinzipien. Der Kern dieser personalen Ethik ist die – im Vergleich zur 13 herkömmlichen neuscholastisch-naturrechtlichen Ethik – wesentlich größere 14 Aufgeschlossenheit gegenüber der Person und dem subjektiven Ermessens- 15 spielraum des einzelnen (Grundvertrauen), seiner Handlungsdisposition (Frei- 16 heit) und seiner Entscheidung (Verantwortung) angesichts konkreter Umstän- 17 debedingungen (u.a. Interessen). Bezogen auf Moral und Recht bedeutet dies, 18 dass Grundwerte und Normen nie bis ins Einzelne Vorgaben oder Handlungs- 19 anleitungen sein können, sondern dass vielmehr Normen artifizielle Gebilde 20 sind, die es ermöglichen eine sozial verträgliche und befriedende Ordnung zu 21 konzipieren, die jedoch entsprechend den sich wandelnden Bedingungen an- 22 passungsfähig sein muss. Dies bedeutet keineswegs eine Beliebigkeit oder 23 Willkür, vielmehr bedeutet die Verantwortungsethik gemäß dem Grundsatz 24 der Epikie, dass z.B. in Fällen, in denen formale Gerechtigkeit gegen die Ver- 25 nunft steht, es widersinnig wäre, etwa einer Buchstabenerfüllung zu frönen.67 26 Dass die personalistische Grundhaltung der Christlichen Demokratie nach 27 1945 in der Geschichts- und Sozialwissenschaft wenig beleuchtet wurde, mag 28 mit zwei Umständen zusammenhängen. Zum einen ist darauf zu verweisen, 29 dass erst etwa seit Mitte der 1960er Jahre sich vor allem in der Politik- und 30 Rechtswissenschaft einzelne Wissenschaftler eingehend mit den politik- und 31 rechtstheoretischen Grundlagen christlichen Denkens befasst haben – Unter- 32 33 66 In Deutschland vertraten christlich-personalistische Ideen die Theologen und Philoso- 34 phen Romano Guardini, Albert und Alfons Auer, Werner Schöllgen, Theodor Steinbüchel und 35 Max Müller. Die wichtigsten Schriften von Jacques Maritain wurden wohl ins Deutsche über- 36 setzt; seine Rezeption aber verlief in Deutschland schleppend; vgl. Heinz HÜRTEN, Der Einfluss Jacques Maritains auf das politische Denken in Deutschland, in: Jahrbuch für Christliche So- 37 zialwissenschaften 26 (1985), S. 213ff.; DERS. Normative Orientierung christlicher Parteien. 38 Eine historische Betrachtung, in: Stimmen der Zeit 208 (1990), S. 407ff.; Sergio BELARDINELLI, 39 Die politische Philosophie des christlichen Personalismus, in: Karl GRAF BALLESTREM/Hen- 40 ning OTTMANN (Hg.) Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, München 1990, S. 243–262. 67 Zum Verhältnis von Verantwortungsethik, Gewissensfreiheit und Epikie vgl. Wilhelm 41 KORFF, Norm und Gewissensfreiheit, in: DERS. Wie kann der Mensch glücken? Perspektiven 42 der Ethik, München 1985, S. 84ff. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Die Christliche Demokratie im politischen Ideenspektrum 55 suchungen, die erst die Voraussetzung bilden, den christlich-demokratischen 1 und -sozialen Ideenkreis, der vom Konservatismus deutlich unterschieden wer- 2 den muss, eingehender zu analysieren. Zum anderen ist zu bedenken, dass die 3 Unionsparteien quantitativ relativ wenige programmatische Aussagen zu ihren 4 politiktheoretischen und staatstheoretischen Ausrichtung aufzuweisen haben. 5 Im wesentlichen sind dies die bereits vorgestellten Äußerungen Konrad Ade- 6 nauers, näherhin das Programm der CDU für die britische Zone 1946 und die 7 großen Programmreden des Vorsitzenden der Zonenpartei aus den Jahren 1946 8 bis 1949 sowie Äußerungen einzelner Persönlichkeiten wie etwa Ehlers und 9 Gerstenmaier zur Verhältnisbestimmung von Christentum und Politik. 10 Dass die CDU in der Gründungs- und Konsolidierungsphase noch kein aus- 11 gefeiltes Grundsatzprogramm ausgearbeitet hat, ist u.a. auch darin begründet, 12 dass eine detailliertere Bestimmung der grundsätzlichen sozialethisch-christ- 13 lichen Positionen – nicht zuletzt auch mit Rücksicht auf die Haltung der Kir- 14 chen – zum damaligen Zeitpunkt sachlich kaum zu bewältigen gewesen wäre. 15 Zum anderen konnten die CDU-Politiker der Früh- und Konsolidierungsphase 16 von einem christlich-demokratischen Selbstverständnis ausgehen, das auf den 17 programmatischen und politischen Erfahrungen beruhte, die die ehemaligen 18 Zentrumspolitiker mitbrachten – ein Umstand, der auch von den evangelischen 19 Unionsgründern immer wieder positiv vermerkt wurde.68 Zu diesen Erfahrun- 20 gen zählte selbstverständlich auch das Naturrecht, das schon in der Zentrums- 21 programmatik ein gutes Stück freier interpretiert wurde als in der kirchlichen 22 Sozialdoktrin. Aus den naturrechtlichen und sozialethischen Grundlagen des 23 Christentums schöpfen die frühen Programme der Unionsparteien und die 24 Grundsatzreden Konrad Adenauers. Freilich stellen die katholische und evan- 25 gelische Sozialethik keine unmittelbaren Programmvorlagen dar, die es nur 26 umzusetzen gelte; vielmehr enthalten sie ein religiös-ethisch fundiertes Grund- 27 wissen von Mensch, Gesellschaft, Staat, Recht und Politik, das Orientierungs- 28 und Handlungswissen für die konkrete Politik im pluralistisch-säkularen Um- 29 feld bietet. Die theoretischen Grundlagen der Christlichen Demokratie sind 30 demnach alles andere als eine bloße Synthese katholischer und evangelischer 31 Sozialethik, sowenig die Unionsparteien als ökumenisches Gebilde anzusehen 32 sind. Sie sind vielmehr Ausdruck einer durch die Erfahrungen des National- 33 sozialismus und des Weltkriegs beförderten ökumenischen Grundhaltung; das 34 theoretische Fundament der Christlichen Demokratie ist somit ein eigenstän- 35 36 37 68 Vgl. H. EHLERS (wie Anm. 39), S. 87; Gustav HEINEMANN, Demokratie und Christliche 38 Kirche. Ein Beitrag zu einer »deutschen Demokratie« (Schriftenreihe der CDU des Rheinlan- 39 des, Heft 9), Köln (1946), S. 7, betont »die reiche politische Tradition des katholischen Volks- 40 teiles«, die seit dem Kulturkampf erprobt sei, und eine »gute demokratische Schule«, der ge- genüber »der protestantische Volksteil ... in dieser Hinsicht« zurückstehe; vgl. zum ›C‹: Eugen 41 GERSTENMAIER, Warum sich die CDU christlich nennt, in: Eckart 28 (1959), S. 100ff. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 diges Gebilde, das nicht zuletzt auch auf kulturchristlichen Ideen und Erfah- 2 rungen aufruht. Die politische Theorie der Christlichen Demokratie ist ent- 3 sprechend ein eigenständiges Drittes neben der katholischen und protestanti- 4 schen Ethik, mit denen sie historisch und systematisch zwar verbunden ist, 5 zugleich aber als politisch-handlungsorientierte Bewegung autonom ist. Dies 6 findet seinen erkennbaren Niederschlag in dem Selbstverständnis, vom christ- 7 lichen Menschenbild und den Sozialprinzipien der christlichen Ethik her die 8 Menschenrechte zur Grundlage ihres Programms und der Verfassung der Bun- 9 desrepublik und der Länder zu machen. Mit dieser Entscheidung war der 10 christliche Personalismus der katholischen und evangelischen Sozialethik in 11 politik- und rechtsethischer Hinsicht ein Stück weit voraus.69 12 Die christlich-personalistischen Ideen sind die wesentlichen Grundlagen 13 für die Erfolge der Christlichen Demokratie nach 1945. Sie ermöglichten po- 14 litisch und parteisoziologisch die Integration der verschiedensten Richtungen 15 und Gruppierungen, die sich in der Union zusammenfanden. Die sozialethi- 16 schen Prinzipien der Personalität, Subsidiarität, Solidarität und Gerechtigkeit 17 ermöglichten es, in der Volkspartei soziale, liberale und konservative Kräfte 18 zusammenzuführen. Im Grundsatzprogramm von 1994 heißt es: »Die Christ- 19 lich Demokratische Union Deutschlands wurde von Menschen gegründet, die 20 nach dem Scheitern der Weimarer Republik, den Verbrechen des Nationalso- 21 zialismus und angesichts des kommunistischen Herrschaftsanspruchs nach 22 1945 die Zukunft Deutschlands mit einer christlich geprägten, überkonfessio- 23 nellen Volkspartei gestalten wollten.« In ihr haben sich »katholische und evan- 24 gelische Christen, Konservative, Liberale und Christlich-Soziale, Frauen und 25 Männer aus verschiedenen Regionen, aus allen sozialen Schichten und demo- 26 kratischen Traditionen« zusammengefunden. »Ihre geistigen und politischen 27 Wurzeln liegen im christlich motivierten Widerstand gegen das nationalsozia- 28 listische Terrorregime, in der Sozialethik der christlichen Kirchen und in der 29 liberalen Tradition der europäischen Aufklärung.«70 Im Grundsatzprogramm 30 von 1978 wurden die anthropologischen und sozialethischen Grundlagen und 31 Intentionen der Christlichen Demokratie erstmals in einem CDU-Programm 32 eingehend entfaltet; es sind die Sozialprinzipien der Personalität, der Subsi- 33 diarität und Solidarität, die durchgängig die Programmatik der Partei – von 34 ihrer Gründung 1945 an – bestimmen und angesichts der gesellschaftlich-po- 35 litischen Entwicklungen in der Bundesrepublik in einem veränderten Kontext 36 interpretiert werden. 37 Selbstredend gilt, dass kein Theoretiker der Christlichen Demokratie je ein 38 »allgemein anerkanntes und komplettes Ideengerüst« für alle Politikbereiche 39 40 69 Zur Evangelischen Sozialethik und ihrer Bedeutung für die Christliche Demokratie vgl. 41 Martin HONECKER, in: Historisch-Politische Mitteilungen 8 (2001), S. 33–34. 42 70 Grundsatzprogramm der CDU vom Februar 1994, Nr. 3. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Die Christliche Demokratie im politischen Ideenspektrum 57 vorgelegt hätte. Eine solche Vorstellung würde allzu leicht ein »Abgleiten in 1 einen unflexiblen Dogmatismus« bedeuten;71 es wäre daher eine Utopie zu 2 glauben, von einem festen archimedischen Punkt her die Zukunft in allen Ein- 3 zelheiten planen zu können. Grundsatzfestigkeit in der politischen Program- 4 matik kann entsprechend lediglich ein prinzipielles Ideenraster meinen. Pana- 5 jotis Kondylis bemerkt, dass die »großen Prinzipien … Ordnung, Hierarchie, 6 Tradition, Religion etc.« an sich schon stichhaltig seien, »also unabhängig von 7 ihrem Inhalt und ihrem Fehlschlag in der Vergangenheit betrachtet werden kön- 8 nen. Durch die bloße Tatsache seiner Durchsetzung hat ja der Liberalismus sehr 9 anschaulich bewiesen, dass das, was die Konservativen im Lichte der Anwen- 10 dung ihrer großen Prinzipien und Stichworte für unnatürlich schlechthin hielten, 11 doch funktionsfähig war.« Es müssten daher, so folgert Kondylis, »allgemeine 12 Prinzipien und konkrete historische Anwendung derselben voneinander ge- 13 trennt werden, damit man sich auf die ersteren in der Zeit der geistigen und 14 politischen Not berufen kann. Selbst in Bezug auf die christliche Religion, wo 15 man eine Stabilität der Auffassungen am ehesten vermuten dürfte, ist die Ak- 16 zentverschiebung unverkennbar und drastisch. Erschien dem historischen Kon- 17 servativismus das Christentum vornehmlich in der Gestalt der soziale Hierar- 18 chien sanktionierenden oder verkörpernden und die sündhaft-anarchische Indi- 19 vidualität disziplinierenden Kirche, so bleibt das Christentum der neoliberalen 20 ›Konservativen‹ individualitätsbezogen und personalistisch, es bildet den inne- 21 ren Glauben und Rückhalt des innerhalb einer freien Marktwirtschaft auf eigene 22 Verantwortung entscheidenden, handelnden und bestehenden Subjekts.«72 23 Für Kondylis hat der neoliberale Konservatismus mit seiner personalistischen 24 und verantwortungsethischen Ausrichtung und der daraus resultierenden Hin- 25 wendung zu den liberalen Menschenrechten und der Marktwirtschaftsidee eine 26 Abwendung vom herkömmlichen traditionalistischen Denken demonstriert. 27 Dem alten Konservatismus war eigen, dass er Recht und Stand für gewachsene, 28 nicht gesetzte Größen hielt, so dass neue, bewusst gesetzte Ordnungen nicht 29 möglich schienen. Der konservative Ideenkreis wurde mit Erhaltung, Sicherung 30 und Festigung des Bestehenden und Bewahrenswerten identifiziert. Mit der Hin- 31 wendung aber zum christlichen Personalismus wird eine radikale Neuorientie- 32 rung vollzogen, indem das Recht nicht mehr wie im alten Konservatismus als 33 Vorgabe, als aus der Natur oder dem Volksgeist gewachsene Ordnung gesehen 34 wird. Vielmehr bedeutet unter den prinzipiellen Neuorientierungen das Recht 35 – freilich unter Anerkennung intangibler Grundwerte – die durch willentliche 36 Setzung erfolgte Ordnung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. In dieser Hin- 37 wendung zum liberalen Verfassungs-, Rechts- und Demokratieverständnis hatte 38 39 40 71 Vgl. Hans-Peter FAGAGNINI, Christlichdemokratische Parteien, in: Katholisches Sozi- allexikon (wie Anm. 27), Sp. 369–388, hier Sp. 377. 41 72 P. KONDYLIS (wie Anm. 47), S. 37ff. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 sich am eindringlichsten die Neuformierung des Konservatismus gezeigt. »Vor 2 dem Gespenst des Kollektivismus«, so bemerkt Kondylis, »müssen sich perso- 3 nalistisches Christentum und ein mit christlich-›konservativem‹ Gedankengut 4 geimpfter und daher gemäßigter Liberalismus zusammenschließen.« Diese 5 Form von »Verbürgerlichung, d.h. Personalisierung und Individualisierung des 6 Christentums« stehe damit in einem unüberbrückbaren »Gegensatz zum histo- 7 rischen Konservativismus«. Kondylis erkennt wohl die Neigung christlich-re- 8 ligiöser Legitimitätsmuster, »etablierte Ordnungen als gottgegeben zu respek- 9 tieren«, verbunden mit »der Überzeugung, christliche Innerlichkeit sei mit einer 10 beliebigen Stellung in der sozialen Hierarchie zufrieden zu stellen, während der 11 extrovertierte ›seichte‹ Nichtchrist, der wurzellos sei, den Typ des rücksichtslos 12 nach oben Strebenden genauso wie den des verwöhnten Konsumenten abge- 13 be«;73 aber das liberale Christentums vermag eben zu unterscheiden zwischen 14 historisch-kontingenten sozialen Bedingungen und den Sozialprinzipien, die 15 zwangsläufig unter veränderten Bedingungen anders auszulegen sind. 16 Damit aber streift diese Art konservativen Denkens das Wesensmerkmal 17 des historischen Konservatismus ab und öffnet sich den neuen Gegebenheiten, 18 so dass dieser Konservatismus mit dem Altkonservatismus bzw. Traditiona- 19 lismus sachlich-inhaltlich und formal nichts mehr gemein hat, weswegen Kon- 20 dylis den neoliberalen »Konservatismus« stets in Anführungszeichen setzt. 21 Ähnlich wie Kondylis spricht Ernst Topitsch von einem »aufgeklärten Kon- 22 servatismus«; doch ignoriert Topitsch den liberal-katholischen bzw. liberal- 23 christlichen Ansatz.74 Für ihn ist die christliche Argumentation offenbar iden- 24 tisch mit Naturrecht, zu dessen entschiedenen Kritikern Topitsch zählt. Sicher 25 wird man nicht abstreiten können, dass einzelne christliche Politiker und Theo- 26 logen in den 1930er Jahren vom Naturrecht her eine Brücke zur nationalso- 27 zialistischen Weltanschauung konstruierten und nach 1945 »manche katholi- 28 schen Naturrechtslehrer den heiligen Thomas von Aquin als den eigentlichen 29 Ahnherren der westlichen und zumal amerikanischen Demokratie glaubhaft 30 zu machen« versuchten;75 doch übersieht Topitsch geflissentlich, dass mit der 31 32 33 73 EBD. S. 39. 74 Zum Spannungsfeld Konservatismus und Rationalismus vgl. Hans BUCHHEIM, Moder- 34 ner Konservatismus, in: Manfred MOLS u.a. (Hg.), Normative und institutionelle Ordnungs- 35 probleme des modernen Staates. Festschrift zum 65. Geburtstag von Manfred Hättich, Pader- 36 born 1990, S. 13–23; Nikolaus LOBKOWICZ, Ist der Christ verpflichtet, konservativ zu sein?, in: Die Krise des Westens und der geistige Auftrag Europas, hg. v. Studienzentrum Weikers- 37 heim, Stuttgart 1981, S. 83–103. 38 75 Ernst TOPITSCH, Aufgeklärter und unaufgeklärter Konservatismus, in: Criticón 39 39 (1977), S. 9–13, hier S. 12. – Die Bemühungen von Friedrich ROMIG, Das Wesen des Kon- 40 servatismus. Im Lichte der katholischen Soziallehre, in: Criticón 119 (1990), S. 135–139, den Konservatismus als Ausfluss der katholischen Soziallehre zu erklären, ignorieren, dass diese 41 in die verschiedensten Schulen aufgespalten ist und kirchenamtlicherseits mit der personali- 42 stischen Ethik seit dem II. Vatikanum (1962–65) eine liberale Theorie grundgelegt hat. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Die Christliche Demokratie im politischen Ideenspektrum 59 christlichen Sozialethik und der von ihr entfalteten personalistischen bzw. ver- 1 antwortungsethischen Position sehr wohl die liberale freiheitlich-demokrati- 2 sche und rechtsstaatlich-gewaltenteilige Verfassung begründet werden konnte 3 und in breiten Teilen der Christlichen Demokratie auch begründet wurde. 4 Was Topitsch und andere Kritiker des Naturrechts nicht bemerkt haben, 5 ist der Umstand, dass mittels der personalistischen Sichtweise die traditio- 6 nellen philosophischen und theologischen Lehrinhalte und Prinzipien neu 7 interpretiert wurden, so dass etwa der Bezug auf Aristoteles oder Thomas 8 von Aquin keineswegs von vornherein eine antiquierte rechts- und sozial- 9 ethische Position bedeuten musste. Die liberale Begründung der Ordnung 10 hat im übrigen in der Philosophie- und Theologiegeschichte eine längere 11 Tradition.76 Wilhelm Korff bemerkt: »Das vom Gedanken der Gerechtigkeit 12 bewegte, nach Rechtschaffenheit, Billigkeit und Angemessenheit verfahren- 13 de Gewissen stimuliert so eine ganz neue gesellschaftliche Handlungsdyna- 14 mik. Es wird zum Impulsgeber und Richtmaß aller an den ›öffentlichen Din- 15 gen‹ Beteiligten. Es bleibt nicht länger Privileg der normsetzenden und 16 -verwaltenden Instanzen, der auf je größere Gerechtigkeit zielenden Tätig- 17 keit des Gesetzgebers«, der Gerichte und der Administration, »sondern es 18 gewinnt darüber hinaus jetzt auch maßgebliche Bedeutung für die Norm- 19 adressaten selbst. Wahlrecht, Petitionsrecht, Streikrecht, Demonstrations- 20 recht sind ihrerseits bereits institutionalisierte und das heißt vom Recht selbst 21 her legitimierte Formen des am eigenen und am öffentlichen Wohl vital in- 22 teressierten, nach Billigkeit und Angemessenheit fragenden und verfahren- 23 den Einzelgewissens. Der einzelne Staatsbürger schaltet sich auf diese Weise 24 in den öffentlichen Prozess der sittlichen Urteilsfindung ein und übt so mit- 25 telbar, im Falle der Institution der Volksbefragung sogar unmittelbar Ge- 26 staltungsverantwortung für Normen aus.«77 Die christliche Sozialethik ist 27 ohne weiteres korrespondenzfähig mit den liberalen Staats-, Rechts- und Ge- 28 sellschaftsvorstellungen. 29 Was hat nun die politische Theorie an Typologien zur Darstellung der po- 30 litischen Ideenkreise anzubieten? Im Hinblick auf die wissenschaftliche Ana- 31 lyse ist die Nachricht für alle, die nach Vereinfachungen suchen, schlecht. Die 32 Drei-Schulen-Lehre wollte ja eine erhöhte Plausibilität durch Vereinfachung 33 und Systematisierung des Ansatzes erreichen. Sie hat damit zweifellos ein 34 Grundgerüst für die politikwissenschaftliche Propädeutik geliefert, das nicht 35 zuletzt auch der Selbstvergewisserung dieser Disziplin in den späten 1960er 36 und den 1970er Jahren diente. Aber damit hat man sich zugleich von den ide- 37 38 39 76 Vgl. Hermann KRINGS, Woher kommt die Moderne? Zur Vorgeschichte der neuzeitli- 40 chen Freiheitslehre bei Wilhelm von Ockham, in: Otl AICHER/Gabriele GREINDL/Wilhelm VOS- SENKUHL: Wilhelm von Ockham. Das Risiko modern zu denken, München 1987, S. 18ff. 41 77 Wilhelm KORFF, Norm und Gewissensfreiheit, in: DERS. (wie Anm. 66), S. 90. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 engeschichtlichen Quellen entfernt.78 Zutreffend bemerkt Patzelt, dass ein an- 2 gemessenes politikwissenschaftliches Selbstverständnis von den politisch- 3 sozialen Gegebenheiten auszugehen hat, d.h. »von vornherein multiperspek- 4 tivisch und theorienpluralistisch« sein muss und »keine Frage- und For- 5 schungstabus«, und keine Berührungsängste mit den verschiedensten For- 6 schungsmethoden kennen darf. Auf die konservativen und christlich-demo- 7 kratischen Ideenkreise bezogen bedeutet dies, dass die Interdisziplinarität 8 von theologischen, philosophischen und sozialwissenschaftlichen Methoden 9 grundgelegt werden muss.79 10 Für den politischen Tagesgebrauch aber gilt, dass kurze und prägnante Ty- 11 pologien gefragt sind. Die herkömmliche Links-Mitte-Rechts-Unterscheidung 12 ist wohl unausrottbar, weil sie anthropologisch-kulturell vermittelten Konstan- 13 ten folgt. Allerdings sollte diese eher formale Klassifizierung mit einem Mi- 14 nimum an inhaltlichen Aussagen einhergehen. Die Verbindung von »links« 15 mit Fortschritt und »rechts« mit Tradition entstammt historischen Moment- 16 aufnahmen, die obsolet geworden sind, seit alle politischen demokratischen 17 Bewegungen Menschenrechte und Grundrechte, Demokratie, Gewaltentei- 18 lung, Marktwirtschaft einerseits, soziale und sozialstaatliche Sicherungen an- 19 dererseits prinzipiell anerkennen. Ganz ähnlich kann man schon lange in den 20 etablierten Parteien beobachten, dass Arbeitnehmer, Mittelstand, Unternehmer 21 u.a. Interessengruppen parteiintern Arbeitsgemeinschaften bzw. Flügel gebil- 22 det haben. Ein Grundmuster, das zwar nicht allen, aber dem weitaus größten 23 Teil politischer Handlungen zugrunde liegt, folgt der einfachen Frage, ob die 24 politische Entscheidung individualistisch, kollektivistisch oder gruppenorien- 25 tiert intendiert ist. Der Liberalismus betont die Rolle des Individuums, der So- 26 zialismus die des Kollektivs, der Konservatismus die der Gruppe.80 Auf die 27 Grundwerte bezogen heißt dies: der Liberalismus steht für die Freiheit (in der 28 Französischen Revolution: liberté), der Sozialismus für die Gleichheit (égalité; 29 30 31 32 78 Paul NOACK, Was ist Politik? Eine Einführung in ihre Wissenschaft, München 1976, 33 S. 87ff., ergänzt die differenziert gesehene wissenschaftstheoretische Einteilung der politisch- theoretischen Schulen bzw. Methoden um die klassischen politischen Ideenkreise Konserva- 34 tivismus, Liberalismus, Sozialismus (S. 65ff.). 35 79 Vgl. W. J. PATZELT (wie Anm. 18), S. 211; Ernst-Wolfgang BÖCKENFÖRDE, Politische 36 Theorie und politische Theologie, in: Jakob TAUBES (Hg.) Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, München 1985, S. 16ff. 37 80 Es war eine besondere Leistung der christlichen Sozialbewegung und des Konservatis- 38 mus, die durch die Französische Revolution zerschlagenen intermediären Gebilde zwischen 39 Einzelmensch und Staat im Sinne neuer sozialer Formen wiederbelebt zu haben. Seinen Aus- 40 druck findet diese Entwicklung im Subsidiaritätsprinzip; vgl. die Sozialenzyklika Quadragesi- mo anno (1931), Nr. 78f., in: Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben 41 der Päpste und andere kirchliche Dokumente, mit einer Einführung von Oswald VON NELL- 42 BREUNING, Köln 1977, S. 120f. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Die Christliche Demokratie im politischen Ideenspektrum 61 modifiziert heute: Gerechtigkeit), der Konservatismus für die Brüderlichkeit 1 (fraternité; heute Solidarität).81 2 Diese Dreiteilung korrespondiert – ordnungspolitisch betrachtet – mit den 3 Präferenzen des Liberalismus für die Privatinitiative, des Sozialismus für die 4 staatlich-kollektive Steuerung, des Konservatismus für die verbandliche, ge- 5 nauer die subsidiäre Regulierungsidee (sog. intermediäre Gebilde zwischen 6 Individuum und Kollektiv). Diese Einteilung lässt hinreichend Spielraum für 7 die historischen Reminiszenzen der jeweiligen Ideenkreise, zugleich erlaubt 8 sie eine Weiterentwicklung der Parteienprogrammatik. Bemerkenswert ist da- 9 bei sicherlich, dass der Konservatismus – ganz, wie es die Geschichte des Par- 10 lamentarismus zeigt – die Mitte einnimmt. Diese vermittelnde Position des 11 Konservatismus bzw. des liberalen Konservatismus ist historisch belegbar. 12 Dieser Ideenkreis meidet eine Ausformung seiner Programmatik in detaillier- 13 tere, langfristige Staats- und Gesellschaftsideen; vielmehr reduziert er sein 14 Konzept auf einen normativen Grundbestand, ein Grundwissen von Politik, 15 das offen ist für weitere Entwicklungen. 16 17 Schluss 18 19 In der politik- und geschichtswissenschaftlichen Forschung wurde von einer 20 Anzahl von Autoren die christlich-demokratische Bewegung als konservativ 21 und restaurativ etikettiert und die Unionsprogrammatik teilweise in die Nähe 22 der Programmatik der alten Zentrumspartei als konfessioneller Partei gerückt. 23 Es konnte gezeigt werden, dass diese Charakterisierung lediglich auf Vertreter 24 der katholischen Soziallehre in den 50er Jahren sowie die konservativen Kri- 25 tiker im Umkreis einzelner Zirkel zutrifft. Diese »Ontologisierung« der christ- 26 lich-demokratischen Ideen in der Parteienforschung pflegt einen Mythos, 27 wenn die Christliche Demokratie bezichtigt wird, unkritisch der aristotelisch- 28 thomistischen Theorie zu folgen, die grundsätzlich für unfähig gehalten wird, 29 moderne Ordnungsideen begründen zu können.82 Das hier gezeichnete Kon- 30 servatismusbild bezieht seine fragwürdige Plausibilität aus der Gleichsetzung 31 von christlicher bzw. kirchenamtlicher Soziallehre und christlich-demokrati- 32 33 34 81 Vgl. E. TUCHTFELDT (wie Anm. 7), S. 86; E. PUNTSCH (wie Anm. 6), S. 98, ordnet 35 dem Liberalen den Grundwert Freiheit, dem Sozialisten die Gerechtigkeit, dem Konservativen 36 die Ordnung zu. 82 Vgl. dagegen die Kritik der jüngeren christlichen Sozialethik sowie der Politik- und 37 Rechtstheorie an der katholischen Naturrechtslehre der Neuscholastik: Franz BÖCKLE/Ernst- 38 Wolfgang BÖCKENFÖRDE (Hg.), Naturrecht in der Kritik, Mainz 1973; Franz BÖCKLE, Fun- 39 3 damentalmoral, München 1981, S. 87, bemerkt, dass Thomas von Aquin »nicht deduktiv, 40 sondern induktiv-reflexiv« verfährt. Damit können sich der christliche Personalismus und die personale Ethik hinsichtlich ihrer flexiblen Theorie (gegenüber neuen Gegebenheiten) auf den 41 Aquinaten berufen. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 scher Programmatik. Zugute halten muss man allerdings den behandelten Dar- 2 stellungen, dass es in der Gründungs- und Konsolidierungsphase durchaus eine 3 Reihe CDU- und CSU-Politiker gab, die – u.a. auch aus wahltaktischen Grün- 4 den – die Programmatik der CDU und CSU an die kirchenoffiziellen Sprach- 5 regelungen heranrückten und spezifisch kirchliche Naturrechtsforderungen als 6 Parteimeinung vertraten.83 Doch rechtfertigen es diese Umstände nicht, die 7 Vielgestaltigkeit und Flexibilität christlich-demokratischer Theorie und Pro- 8 grammatik zu ignorieren. Die Christliche Demokratie ist ein eigenständiger 9 politischer Ideenkreis – neben Konservatismus, Sozialismus und Liberalismus. 10 Das »C« erweist sich als kulturchristliches Phänomen, das der Synthese von 11 rechts- und wirtschaftsliberalen sowie konservativen und sozialen Grundsät- 12 zen in der CDU-Programmatik zugrunde liegt. 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 83 Vgl. Thomas ELLWEIN, Klerikalismus in der deutschen Politik, München 21955. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

1 2 3 Josef Kardinal Frings und Konrad Adenauer 4 5 Von Norbert Trippen 6 7 Für die Möglichkeiten kirchlicher Einflussnahme auf die politischen und ge- 8 sellschaftlichen Neuanfänge nach 1945 waren neben Prälat Böhler die persön- 9 lichen Beziehungen zwischen dem Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings 10 und der entscheidenden politischen Gestalt dieser Jahre, dem früheren Kölner 11 Oberbürgermeister und späteren ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer, von 1 12 besonderer Bedeutung. 13 14 Die gemeinsamen Kölner Jahre 1924–1933 und die Kriegsjahre bis 1945 15 16 Adenauer hatte in seiner Oberbürgermeisterzeit vor 1933, ohne zu Frings’ 17 Braunsfelder Pfarrei zu gehören, mit seiner Familie den Sonntagsgottesdienst 18 in St. Joseph besucht. Pfarrer Frings hatte zwei der jüngeren Kinder der Fa- 19 milie zur Erstkommunion geführt. Dadurch hatte sich ein wohlwollend-freund- 20 schaftliches, jedoch die beiderseitige Unabhängigkeit wahrendes persönliches 21 Verhältnis entwickelt. Den in seinem Rhöndorfer Haus ständig von der Ge- 22 stapo überwachten Adenauer hat es nach 1940 etwas verwundert, dass der im 23 benachbarten Honnef lebende Seminarregens Dr. Frings nicht einmal einen 24 Spaziergang nach Rhöndorf zu Adenauers Haus wagte. Der Grund dürfte in 25 der Sorge des Regens vor weiterer Gefährdung seines Seminars gelegen haben, 26 vielleicht auch in der von Kardinal Schulte dem Priesterseminar nahegelegten 27 politischen Abstinenz. Adenauer erhielt wie selbstverständlich eine Einladung 28 zur Bischofsweihe am 21. Juni 1942, musste aber aus verständlichen Gründen 29 absagen, an der Feier teilzunehmen, »die meine wärmsten Wünsche beglei- 30 ten«.2 Als Adenauer anlässlich der »Gewitteraktion« im August 1944 verhaftet 31 wurde, gehörte er zu den namentlich genannten Persönlichkeiten, für die 32 Frings seinen Freund Wienken am 31. August 1944 um Vorsprache im Reichs- 33 sicherheitshauptamt in Berlin bat.3 34 35 1 Dazu: Rudolf MORSEY, Adenauer und Kardinal Frings 1945–1949, in: Dieter AL- 36 BRECHT u.a. (Hg.), Politik und Konfession. Festschrift für Konrad Repgen zum 60. Geburtstag, Berlin 1983, S. 483–501; Josef Kardinal FRINGS, Erinnerungen an Konrad Adenauer, in: Dieter 37 BLUMENWITZ u.a. (Hg.), Konrad Adenauer und seine Zeit, Bd. 1, Stuttgart 1976, S. 149–155. 38 Einzelne Angaben Morseys wurden ergänzt durch persönliche Mitteilungen von Dr. Paul Ade- 39 nauer, Bergisch Gladbach. 40 2 Adenauer an Dompropst Paschen 13. Juni 1942 (hs. Original): Hist. Archiv des Erzbis- tums Köln (HAEK) – Metropolitankapitel (MK) Nr. 33. 41 3 Frings an Wienken 31. August 1944 (hs. Entwurf): HAEK – Gen II 23.23a, 4. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Die erste Nachkriegszeit 2 3 Die Beziehung zwischen beiden nahm eine neue Qualität an, als sie nach Rück- 4 kehr des Erzbischofs in seine Bischofsstadt im April 1945 und der Berufung 5 Adenauers zum Oberbürgermeister von Köln durch die Amerikaner für einige 6 Monate beide im St. Elisabeth-Krankenhaus in Köln-Hohenlind Wohnung fan- 7 den. Der Wertung von Rudolf Morsey ist zuzustimmen: »Aus dieser räumli- 8 chen Nähe erklärt sich, dass in diesen Monaten keine Korrespondenz zwischen 9 ihnen gewechselt – jedenfalls bisher keine bekannt geworden – ist. Für ihr 10 offensichtlich gutes Verhältnis spricht, dass der Erzbischof Anfang Juni 1945 11 dem Oberbürgermeister die Denkschrift eines Mitarbeiters (Paul Westhoff) 12 über die Notwendigkeit des Wiederaufbaus der Bekenntnisschule und des Pri- 13 vatschulwesens zuleitete.«4 14 Morsey hat bereits 1983 vor einer Überbewertung wie einer Fehlinterpre- 15 tation der Beziehung Adenauers zu Frings gewarnt: Der Name des Kölner Kar- 16 dinals taucht weder in Adenauers Memoiren (1965/68) noch in der autori- 17 sierten Biographie von Paul Weymar (1955) auf. Die von Journalisten aufge- 18 baute Legende, Adenauer habe den Kardinal mit »Herr Frings« angeredet, 19 erweist sich aus dem Schriftwechsel als unhaltbar. Die von Adenauer ge- 20 brauchte Briefanrede lautete »Sehr verehrte [oder: Hochverehrte] Eminenz«. 21 Frings seinerseits sprach in seinen Briefen Adenauer als »Herr Vorsitzender«, 22 »Herr Präsident« oder »Herr Oberbürgermeister« an, je nachdem, ob der Brief 23 sich an den CDU-Vorsitzenden, den Präsidenten des Parlamentarischen Rates 24 oder (1949) an den »Noch-nicht-Bundeskanzler« richtete.5 Die Korrespondenz 25 war stets sachlich und frei von Kumpanei. 26 Dennoch lag in dieser zwar sachlichen, von gegenseitigem Respekt getra- 27 genen Beziehung zwischen Adenauer und Frings eine kirchliche Chance für 28 die anstehenden politischen Neuregelungen, die von außen kritisch wahrge- 29 nommen wurde. Pastor Heinrich Albertz, 1949 SPD-Minister in Niedersach- 30 sen, schrieb für den »Schweizerischen evangelischen Pressedienst« im Sep- 31 tember 1949 über die Inaugurationsfeierlichkeiten der Bundesrepublik in Bonn 32 u.a., »der Purpur der Kardinäle« sei »die wichtigste Farbe gewesen, die Bonn 33 bei seiner Eröffnung zeigte. Es ist kein Geheimnis mehr, wer die politischen 34 Entscheidungen Westdeutschlands wesentlich beeinflusst. Die Villa des Bun- 35 deskanzlers liegt nur 30 km von der Residenz des Kardinals Frings entfernt, 36 und bereits die Verhandlungen im Parlamentarischen Rat zeigten deutlich ge- 37 nug, wie man eine provisorische und der deutschen Wirklichkeit nicht ent- 38 39 40 4 R. MORSEY (wie Anm. 1), S. 487. 5 Beleg dafür z.B.: Hans Peter MENSING (Bearb.), Adenauer. Briefe 1947–1949 (Rhöndor- 41 fer Ausgabe), Berlin 1984, S. 703 (Reg.) – Die Frings-Briefe an Adenauer werden nachfolgend 42 ausgewertet. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Josef Kardinal Frings und Konrad Adenauer 65 sprechende Mehrheitssituation auszunutzen versuchte, um kulturpolitische 1 Forderungen durchzusetzen«.6 2 Wenn Albertz auch den Einfluss des Kölner Kardinals überschätzte, so ist 3 doch das Kontaktgefüge Adenauer – Frings – Böhler für die politische Neu- 4 gestaltung in Deutschland nach 1945 und die Geltendmachung kirchlicher An- 5 sprüche nicht unwichtig gewesen. 6 7 Adenauers Bemühungen um eine eindeutige Haltung des Kardinals zur CDU 8 9 Noch im Sommer 1945 kam es in verschiedenen Städten des Rheinlandes und 10 Westfalens, aber auch im übrigen Deutschland, im Zuge der Wiederbegründung 11 von Parteien zu ersten Zusammenschlüssen christlicher Politiker auf interkon- 12 fessioneller Basis. Bei aller Unterschiedlichkeit früherer politischer Beheima- 13 tung der Teilnehmer und auch ihrer Einstellung zu manchen Gegenwartsfragen 14 kam man überall rasch zu der Überzeugung, dass nach den gemeinsam durch- 15 littenen Schreckensjahren des Nationalsozialismus die politisch zu aktivieren- 16 den Kräfte beider Konfessionen gemeinsam in einer Partei Einfluss auf die an- 17 stehende Neugestaltung der Staatsordnung nehmen sollten. Die an verschiede- 18 nen Gründungsorten zunächst unterschiedlich benannte Partei (CDP oder CDU) 19 organisierte sich bald auf regionalen Ebenen. Im Bereich der britischen Besat- 20 zungszone schloss man sich Anfang 1946 zusammen und wählte den am 6. 21 Oktober 1945 von General Barraclough wegen »Unfähigkeit« abgesetzten Köl- 22 ner Oberbürgermeister zum Vorsitzenden der CDU des Rheinlandes und dann 23 der britischen Zone, nachdem die Briten im Dezember das über Adenauer ver- 24 hängte Verbot der politischen Betätigung aufgehoben hatten.7 25 Daneben entschlossen sich im Herbst 1945 – in Westfalen mehr als im nörd- 26 lichen Rheinland – ehemalige Zentrumskreise zu einer Wiederbegründung die- 27 ser traditionsreichen Partei der Katholiken. Bei ihrem Parteitag in Essen am 28 10. März 1946 wählten die Delegierten den ehemaligen Generalsekretär, den 29 in Troisdorf lebenden Oberstudiendirektor Wilhelm Hamacher, zum Vorsit- 30 31 32 6 Norbert TRIPPEN, Interkonfessionelle Irritationen in den ersten Jahren der Bundesre- 33 publik Deutschland, in: Karl-Dietrich BRACHER u.a. (Hg.), Staat und Parteien. Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag, Berlin 1992, S. 345–377, hier: S. 354; zu Pastor Heinrich 34 Albertz: vgl. Jaques SCHUSTER, Heinrich Albertz. Der Mann, der mehrere Leben lebte, Berlin 35 1997. 36 7 Zur Frühgeschichte der CDU: Leo SCHWERING, Frühgeschichte der Christlich-Demo- kratischen Union, Recklinghausen 1963; Hans Georg WIECK, Die Entstehung der CDU und 37 die Wiederbegründung des Zentrums im Jahre 1945, Düsseldorf 1953; Hans-Otto KLEINMANN, 38 Geschichte der CDU 1945–1982, Stuttgart 1993, S. 15–130; Peter HÜTTENBERGER, Nordrhein- 39 Westfalen und die Entstehung seiner parlamentarischen Demokratie, Siegburg 1973, S. 47– 40 76; Horstwalter HEITZER, Die CDU in der britischen Zone 1945–1949. Gründung, Organisa- tion, Programm und Politik (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 12), Düsseldorf 41 1988. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 zenden, der allerdings schon im Herbst dieses Jahres aus Gesundheitsgründen 2 zurücktreten und sein Amt dem westfälischen Pädagogen Johannes Brock- 3 mann überlassen musste.8 4 Die Zentrumspartei blieb im Gegensatz zur CDU auf das Rheinland und 5 Westfalen beschränkt, konnte also von ihrer früheren Größe und ihrem Ein- 6 fluss in Zeiten der Weimarer Republik nur träumen. In manchen politischen 7 Themen agierte sie nicht eindeutig, öfter, zumal auf sozial- und wirtschafts- 8 politischem Gebiet, näher bei der SPD als beim bürgerlichen Lager. Doch in 9 der Vertretung kirchlicher Positionen stand sie eindeutig – manchmal ge- 10 schlossener als die heterogener zusammengesetzte CDU! – zu den Forderun- 11 gen der Bischöfe. 12 Schon früh wurde deutlich, dass diese Zersplitterung der christlich orien- 13 tierten Kräfte in der Politik ihrem Einfluss auf die Gestaltung der neuen Ord- 14 nung nicht förderlich war. Doch wie sollten sich die Bischöfe – und zumal 15 ihr Vorsitzender, Kardinal Frings – beiden Parteien gegenüber verhalten, an 16 deren festem Willen, eine politische Neuorientierung auf der Basis christlicher 17 Überzeugungen zu erreichen, nicht zu zweifeln war? Beide Parteien warfen 18 den Bischöfen und zumal Kardinal Frings vor, sich entweder nicht eindeutig 19 für ihre Partei zu entscheiden (Adenauer für die CDU) bzw. zu eindeutig auf 20 der Seite der anderen Partei zu stehen (Hamacher für das Zentrum). 21 Schon am 6. September 1945 hatte eine Düsseldorfer Zentrumsgruppe bei 22 Erzbischof Frings vorgesprochen und gefragt, welche Haltung die Kirche ge- 23 genüber den beiden christlichen Parteien einnehme. »Der Erzbischof hatte ent- 24 gegnet: die Fuldaer Bischofskonferenz habe dazu noch keine Position bezogen, 25 sie habe jedoch Zweifel geäußert, ob es ratsam sei, das Zentrum wieder unter 26 dem alten Namen entstehen zu lassen ... Die CDP sei aus der Erwägung heraus 27 gegründet worden, dem evangelischen Volksteil entgegenzukommen. Mit 28 manchem sei man noch nicht restlos zufrieden, vor allem die Stellung in der 29 Schulfrage sei schwierig. Von der Gründung des Zentrums in Düsseldorf und 30 an anderen Orten nehme er ohne Bedenken Kenntnis. Aber eine rein konfes- 31 sionelle Partei hielte er im Augenblick für nicht angebracht …«9 32 Es wurde sehr bald deutlich, dass die deutschen Katholiken einschließlich 33 der ehemaligen Zentrumspolitiker, mehrheitlich der CDU zuneigten, die trotz 34 gelegentlich weniger eindeutiger Vertretung katholischer Interessen auch bei 35 zahlreichen Bischöfen Sympathie fand. 36 Am 23. März 1946 – also während der von der britischen Militärverwaltung 37 angesetzten Elternabstimmung über die Bekenntnisschule in Nordrhein-West- 38 39 40 8 Zur Wiederbegründung des Zentrums vgl.: P. HÜTTENBERGER (wie Anm. 7), S. 77–96; Ute SCHMIDT, Zentrum oder CDU. Politischer Katholizismus zwischen Tradition und Anpas- 41 sung, Opladen 1987; H. G. WIECK (wie Anm. 7). 42 9 P. HÜTTENBERGER (wie Anm. 7), S. 80. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Josef Kardinal Frings und Konrad Adenauer 67 falen! – beschwerte sich Hamacher bei den in Werl versammelten westdeut- 1 schen Bischöfen10: »Wie dem Generalsekretariat der ... Deutschen Zentrums- 2 partei mitgeteilt wurde, haben die Hochwürdigsten Herren Erzbischöfe bzw. 3 Bischöfe von Trier, Hildesheim und Paderborn die ... Herren Geistlichen ihrer 4 Diözese offen angewiesen, sich für die Christlich-Demokratische Union ein- 5 zusetzen.« Die CDU ihrerseits habe sich darauf berufen, die letzte Fuldaer 6 Bischofskonferenz habe »sich inoffiziell für sie erklärt«. Katholische Arbei- 7 tervereine, die Katholische Jugend und das Kolpingwerk ließen ihre Sekretäre 8 parallel für die CDU tätig werden. Nach überzogenen Einschätzungen über 9 den Verbreitungsgrad der Zentrumsanhänger und die »Beunruhigung« des ka- 10 tholischen Bevölkerungsteils folgte der Hinweis, dass die Zentrumspartei »wie 11 von jeher, so auch jetzt, die kulturpolitischen Interessen der deutschen Katho- 12 liken mit unwandelbarer Klarheit und Entschiedenheit vertritt. So hat sich die 13 Zentrumspartei als einzige deutsche Partei schon gleich bei ihrer Wiederbe- 14 gründung die Forderung nach der konfessionellen Schule zueigen gemacht und 15 diese auch öffentlich vertreten ...« 16 Es scheint, dass Frings’ Antwort an Hamacher vom 29. März 1946 von den 17 westdeutschen Bischöfen abgesprochen (vielleicht von Böhler vorformuliert?) 18 wurde11: »Seien Sie überzeugt, dass keiner der Herren sich für die CDU aus- 19 gesprochen hat, weil er deren Programm grundsätzlich für richtiger und besser 20 hält.« Man müsse lediglich »der Welt das Schauspiel einer politischen Spal- 21 tung und gegenseitigen Befehdung des deutschen Katholizismus ersparen. Ihre 22 Partei hat den Nachteil, zu spät auf dem Plan erschienen zu sein, als die CDU 23 bereits an vielen Orten sich konstituiert hatte. Wir haben daher im Interesse 24 der guten Sache und weil der Feind links, d.h. im Lager der materialistischen 25 Weltanschauung steht, an Sie die Bitte, 26 1. überall da, wo die CDU bereits Fuß gefasst hat, vorderhand, d.h. vor den 27 bevorstehenden Wahlen in diesem Sommer oder Herbst, von der Gründung 28 ihrer Partei abzusehen, 29 2. in den Versammlungen keine Befehdung der CDU zu gestatten, 30 3. alles zu tun, um zu einer Einigung oder wenigstens zu einem festen Bünd- 31 nis mit der CDU zu gelangen.« 32 Solche gut gemeinten Bemühungen der Bischöfe hatten nur begrenzten Erfolg. 33 CDU und Zentrum blieben bis 1954 in Nordrhein-Westfalen Konkurrenten 34 um Stimmenanteile aus dem Lager kirchlich orientierter Katholiken. Rudolf 35 Morsey hat die immer wieder zwischen Adenauer und Frings verhandelte 36 Problematik der beiden sich im Wege stehenden christlichen Parteien bereits 37 38 39 40 10 Deutsche Zentrumspartei, Dr. Wilhelm Hamacher, an die Konferenz der Hochwürdig- sten Herren Bischöfe, Werl, 23. März 1946 (Original): HAEK – Gen II 23.23a, 8. 41 11 Frings an Hamacher 29. März 1946 (Abschrift): HAEK – Gen II 23.23a, 8. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 1983 dargestellt.12 Lediglich einige Kölner Aktenstücke seien zur ergänzenden 2 Illustration erwähnt. 3 Am 27. April 1947 – wenige Tage nach der ersten nordrhein-westfälischen 4 Landtagswahl mit 37,5 % Stimmen für die CDU und 9,8 % Stimmen für das 5 Zentrum schrieb Adenauer einen geharnischten Brief an Frings13: Er habe fest- 6 stellen müssen, »dass das Zentrum, namentlich in Westfalen, in einer geradezu 7 schamlosen Weise gegen uns gehetzt hat«. Ein Flugblatt des Zentrums in Coes- 8 feld trage die Unterschriften von drei Geistlichen und behaupte, »die CDU 9 wolle eine neue christliche Kirche gründen«. »Nach den übereinstimmenden 10 Mitteilungen durchaus zuverlässiger Mitglieder der CDU in Westfalen haben 11 sich Angehörige des katholischen Klerus in Westfalen an der Agitation für 12 das Zentrum und gegen die CDU in führender Weise beteiligt«. Düstere po- 13 litische Zukunftsvisionen Adenauers gipfelten in der fast drohenden Feststel- 14 lung: »Die Sozialdemokratie und die KPD sind in ihre Machtpositionen ge- 15 kommen durch das Zentrum. Das Zentrum verdankt seine Existenz und seinen 16 Zuwachs bei dieser Wahl sehr wesentlich der Tätigkeit katholischer Geistli- 17 cher. Für die politische Tätigkeit der katholischen Geistlichen sind wohl die 18 Bischöfe verantwortlich ... Wenn es den Bischöfen nunmehr nicht gelingt, der 19 drohenden Entwicklung, die durch ihre mehr oder weniger passive Haltung 20 in Lauf gekommen ist, Einhalt zu tun, so werden die Bischöfe sich auch die 21 Folgen in vollem Maße zuschreiben müssen.« 22 Der Kölner Kardinal stand – wie wahrscheinlich auch seine Mitbischöfe – 23 noch einige Jahre unter massivem Druck beider Parteien. Anfang 1948 z.B. 24 wollte Adenauer gehört haben, Generalvikar David neige zum Zentrum. Er 25 bat (und erhielt) einen Gesprächstermin in Köln unter Zuziehung von Prälat 26 Böhler.14 »In der Hauptsache«, so schrieb Adenauer an den Kardinal, »drängt 27 es mich, mit Ihnen das Verhältnis CDU/Zentrum zu besprechen. Es ist unbe- 28 dingt notwendig, dass eine dauerhafte Klärung und eine Zusammenarbeit – 29 wenn möglich mehr – herbeigeführt wird. Die Trennung der auf christlichem 30 Boden stehenden Wähler bedeutet – je länger, je mehr – eine Schädigung der 31 kirchlichen Interessen.« 32 33 34 35 12 R. MORSEY (wie Anm. 1), S. 489–493. 36 13 Adenauer an Frings 27. April 1947 (Original): HAEK – Gen 23.23a, 13. Der Zorn des CDU-Vorsitzenden erklärt sich daraus, dass die CDU im Landesdurchschnitt von 48,5 % 37 (Kommunalwahlen Oktober 1946) auf 37,5 % (Landtagswahl April 1947) zurückgefallen war, 38 während das Zentrum von 4,2 % auf 9,8 % angestiegen war. Die SPD hatte von 31,3 % auf 39 32 % zugelegt: Walter FÖRST, Geschichte Nordrhein-Westfalens, Bd.1: 1945–1949, Köln–Ber- 40 lin 1970, S.197–206 bzw. P. HÜTTENBERGER (wie Anm. 7), S. 241 u. S. 542f.; vgl. auch STAATSLEXIKON, Art. Nordrhein-Westfalen, Bd. 4, Freiburg 71988, S. 44 sowie H.-O. KLEIN- 41 MANN (wie Anm. 7), S. 507. 42 14 Adenauer an Frings 7. Januar 1948 (Original): HAEK – Gen II 23.23a, 18. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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Frings benutzte den im April 1948 fälligen Ad-Limina-Besuch in Rom, um 1 dort am 22. April mit Msgr. Ludwig Kaas, dem letzten Zentrumsvorsitzenden 2 bis 1933, zu sprechen.15 Er notierte sich darüber: »K[aas] bedauerte die Spal- 3 tung der christlichen Parteien in Deutschl[and]. Offensichtlich steht er auf Sei- 4 ten der CDU und schätzt Adenauer als den fähigsten [Politiker]. Von Spiecker 5 [damals Zentrum] rückt er ab als den Sozialisten auch innerlich zu naheste- 6 hend, er sei in puncto konfess[ioneller] Schule nicht zuverlässig«. 7 8 Kardinal Frings’ CDU-Beitritt am 2. November 1948 9 10 Die Uneinigkeit des christlichen Lagers erschien besonders gefährlich, als am 11 1. September 1948 in Bonn der Parlamentarische Rat zur Abfassung des 12 Grundgesetzes zusammentrat. Am 1. November 1948 beklagte sich Adenauer 13 bei Frings bitter darüber, dass Bischof Keller von Münster am 10. September 14 seinem Klerus »erneut und dringend die Innehaltung striktester parteipoliti- 15 scher Neutralität« auferlegt hatte16: »Es ist den Geistlichen untersagt, öffent- 16 lich für eine der christlichen Parteien derart einzutreten, dass darin eine Stel- 17 lungnahme gegen die andere erblickt werden muss.« Auch im Dekanat 18 Königswinter sei den Geistlichen »anempfohlen worden ..., keine Wahlver- 19 sammlungen zu besuchen. Ich habe es infolgedessen erleben müssen, dass, 20 als ich in Honnef als Redner auftrat, die katholische Geistlichkeit in auffälli- 21 gerweise fehlte«. Adenauer unterstellte dem Episkopat »den gleichen« – nicht 22 näher bezeichneten – »Fehler, den er 1933 begangen hat« und warnte vor dem 23 Ausgang der ersten Bundestagswahl in einigen Monaten: »Wenn es der CDU/ 24 CSU nicht gelingt, bei diesen Wahlen eine Mehrheit zu bekommen, ist für die 25 Vertretung der christlichen Interessen das Schlimmste zu befürchten, da die 26 Sozialdemokratie weit überwiegend marxistisch und unduldsam eingestellt 27 ist.« 28 In seinem Antwortschreiben vom 2. November 1948 gab Frings dem nun 29 bald dreijährigen Drängen Adenauers nach17: »Sie wissen, wie sehr ich den 30 Riss innerhalb des katholischen Volksteils bedaure und alles versuche, ihn zu 31 schließen ... Der in Düsseldorf geltend gemachte Standpunkt, dass eine große 32 führende christliche Partei vorhanden sein müsse, die den Oberbürgermeister 33 und entsprechend die höheren führenden Männer zu stellen berufen sei, scheint 34 mir berechtigt. Ich bitte, mich persönlich als Mitglied der CDU zu führen.« 35 Die erfreute Reaktion Adenauers hat Morsey beschrieben18: »Der CDU-Vor- 36 37 15 Hs. Gesprächsnotiz »Besprechung mit Msgr. Kaas am 22.4.48«: HAEK – CR II 2.18 d, 3. 38 16 Adenauer (»Der Präsident des Parlamentarischen Rates Bonn 1948«) an Frings 1. No- 39 vember 1948 (Original): HAEK – CR II 16.10,4; Vgl. auch: R. MORSEY (wie Anm. 1), S. 494f. 40 17 Frings an Adenauer 2. November 1948 (hs. Entwurf): HAEK – CR II 16.10,4. Morseys Bemerkung, Frings’ »Beitrittserklärung war bisher noch nicht zu ermitteln, auch nicht im Hi- 41 storischen Archiv des Erzbistums Köln« (S. 495 Anm. 59), ist damit überholt. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 sitzende und ... Präsident des Parlamentarischen Rates gab diesen Schritt des 2 Erzbischofs am 10. November in einer Sitzung der Unionsfraktion des Parla- 3 mentarischen Rates bekannt und dankte Frings noch am gleichen Tage ›herz- 4 lich‹ für seinen Entschluss, mit dem er ihm ›eine wirkliche Erleichterung von 5 den schweren Sorgen, die mich bedrücken‹ verschafft habe.« 6 Morsey stellt dann Vermutungen über die Motive des Kardinals für seinen 7 Schritt an: Wahrscheinlich ging es ihm angesichts der Verfassungsberatungen 8 in Bonn und Düsseldorf um eine Bündelung der christlichen Kräfte. Der Schritt 9 des Kardinals, der durch eine Pressekorrespondenz am 19. November 1948 in 10 die Öffentlichkeit gelangte, fand ein lebhaftes und zum Teil kritisches Echo.19 11 Man sprach hier und da vom »Kardinalfehler«. Unangenehmer als die Dis- 12 kussion in der Presse wurde die in der aktuellen Debatte des Parlamentarischen 13 Rates. Dort ging es in diesen Wochen u.a. um die Fortgeltung des Reichs- 14 konkordats von 1933, das nach einer emotionalen Äußerung des FDP-Abgeor- 15 dneten Höpker Aschoff kein Völkerrechtsvertrag, sondern den Vertrag des 16 Papstes mit einer »Verbrecherbande« darstelle. Der CDU-Beitritt von Kardinal 17 Frings wurde in dieser Debatte bewusst von SPD/FDP-Seite ausgeschlachtet. 18 Im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates wurde mit Verweis auf Art. 19 32 RK gesagt: »Kein Mitglied des Klerus darf einer politischen Partei ange- 20 hören. Wenn Herr Kardinal Frings der CDU beigetreten ist und auf der anderen 21 Seite betonen sollte, dass das Reichskonkordat noch in Kraft sei, so würde er 22 bereits durch seinen Eintritt in die CDU gegen diese Verpflichtung verstoßen 23 haben.«20 Auch der hessische Justizminister (und spätere Ministerpräsident) 24 Zinn (SPD) warf der Kirche am 20. Januar 1949 mangelnde Konkordatstreue 25 vor. 26 Wie sollte man den Schaden begrenzen? Ludwig Volk ermittelte21: »An- 27 gesichts der bedenklichen Entwicklung und auf Bitten Böhlers hin hatte in- 28 zwischen das päpstliche Staatssekretariat zu den Angriffen auf das Reichs- 29 konkordat Stellung bezogen. Laut P. Zeiger reagierte der Papst ›in der bekannt 30 sauren Form durch ein langes Telegramm, das wir in geeigneter Form wissen 31 lassen konnten‹.« Dieses Telegramm wurde Frings zugeleitet. 32 Volk kommt nach Darlegung der Einzelheiten zu dem Schluss: »Konkor- 33 datsrechtlich lagen die Verhältnisse keineswegs so eindeutig, wie sie ... er- 34 scheinen mochten. Gab es doch begründete Zweifel, ob der einschlägige Art. 35 36 18 R. MORSEY (wie Anm. 1), S. 495f.; vgl. auch: Ludwig VOLK, Der Heilige Stuhl und 37 Deutschland 1945–1949, in: Anton RAUSCHER u.a. (Hg.), Kirche und Katholizismus 1945– 38 1949, Paderborn 1977, S. 53–87, hier S. 78. 39 19 Der Schweizer Generalkonsul von Weiss berichtete darüber an seine Regierung in Bern 40 am 23. November 1948: Markus SCHMITZ/Bernd HAUNFELDER, Humanität und Diplomatie. Die Schweiz in Köln 1940–1949, Münster 2001, S. 293f. 41 20 L. VOLK (wie Anm. 18), S. 78 Anm. 81. 42 21 EBD. S. 78. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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32 des Reichskonkordats überhaupt Rechtskraft erlangt habe, da eine Vorbe- 1 dingung nicht erfüllt war. Entgegen ihrer Zusage im Schlussprotokoll hatte es 2 nämlich die Reichsregierung unterlassen, das Verbot parteipolitischer Betäti- 3 gung auch auf die nichtkatholische Geistlichkeit auszudehnen«, wohl im Hin- 4 blick auf die der NSDAP höchst erwünschten Aktivitäten des »Reichsbi- 5 schofs« Müller und seiner »Deutschen Christen«! 6 Doch solche juristischen und historischen Feinheiten fanden in der Hitze 7 der aktuellen politischen Debatte kaum Beachtung. So musste ein Ausweg aus 8 der misslichen Lage gesucht werden. Volk schildert22: »Um den Vorwurf man- 9 gelnder Vertragstreue zu entkräften ..., legte Pius XII. größten Wert auf strikte 10 Einhaltung von Art. 32. Er gab deshalb der Vatikanmission noch im Januar 11 1948 zu verstehen, dass die kaum drei Monate alte Parteibindung des Kölner 12 Kardinals mit dem Konkordat nicht vereinbar und darum rückgängig zu ma- 13 chen sei.« In einem Interview mit dem Muench-Biographen Barry soll Frings 14 1963 ausgesagt haben, »wegen seines CDU-Beitritts habe er von Rom ›einen 15 Rüffel‹ bekommen«. 16 Volk beschreibt den weiteren Verlauf der Dinge: »In Kronberg fürchtete 17 man nun nicht ohne Grund, dass ein derartiges Abrücken des Episkopatsvor- 18 sitzenden von der CDU auf dem Höhepunkt der Bonner Grundgesetzdebatte 19 katastrophale Folgen haben könne. Infolgedessen wurde die päpstliche Order 20 zunächst zurückgehalten, aber auch, nachdem sie im April nach Köln wei- 21 tergeleitet und der Parteiaustritt in aller Stille vollzogen war, bereitete die 22 Frage der Bekanntgabe dieses Schritts weiterhin Kopfzerbrechen. Adenauer 23 war gegen jede Unterrichtung der Öffentlichkeit, Frings hielt sich dazu für 24 verpflichtet. Strittig blieb die Wahl des richtigen Zeitpunkts, ob vor oder nach 25 der Annahme des Grundgesetzes, ob vor oder nach der Bundestagswahl. Nach 26 längerem Hin und Her erschien die Nachricht Anfang Juni 1949 im ›Kirch- 27 lichen Anzeiger für die Erzdiözese Köln‹.23 Die Fehldeutungen folgten auf 28 dem Fuß. Der Kardinal habe Dr. Adenauer seine Missbilligung über die CDU- 29 Politik ausgesprochen und werde sich deshalb dem Zentrum anschließen. 30 Demgegenüber erklärte das Ordinariat, der Schritt des Kardinals habe mit den 31 politischen Vorgängen und dem Bonner Grundgesetz nichts zu tun.« 32 Während Kardinal Frings schon in seinem Rundbrief an den Kölner Klerus 33 vom 14. Juni 1945 – allerdings nicht mit Verweis auf Art. 32 RK, sondern 34 auf c.139 § 2 CIC 1917 – jede Übernahme öffentlicher Ämter, etwa des Bür- 35 germeisteramtes, untersagt hatte, hatte es in Bayern nach 1945 eine begrenzte 36 Neuauflage des »politischen Prälaten« gegeben. Deshalb war Kardinal Faul- 37 haber 1949 nicht bereit, der Anweisung des Papstes an Kardinal Frings zur 38 39 40 22 EBD. S. 82 23 Trotz dieser exakten Angabe Volks: KA 89, 1949 enthält diese Nummer die Nachricht 41 über den Austritt des Kardinals aus der CDU nicht ! 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Befolgung von Art. 32 RK zu gehorchen. Volk berichtet24: »Jeder Urgierung 2 des Entpolitisierungsartikels widersetzte sich Faulhaber für den Bereich der 3 bayerischen Diözesen mit aller Entschiedenheit. Für ihn nämlich stand schon 4 nach der Unterredung mit Böhler fest: ›Um eine Erschütterung der gesamten 5 christlichen Politik zur Zeit zu verhüten‹, werde ›von einer sofortigen, be- 6 fehlsmäßigen Einhaltung des Art. 32 Abstand genommen‹«. Das darf wohl 7 als Beleg dafür gelten, dass in Bayern die Uhren immer schon etwas anders 8 liefen als im übrigen Deutschland und in der Weltkirche! 9 Eine besondere Bedeutung sollten diese gewachsenen Beziehungen zwi- 10 schen Kardinal Frings und Konrad Adenauer während der Verhandlungen des 11 Parlamentarischen Rates über das Grundgesetz haben. Für die anschließend 12 in Düsseldorf anstehenden abschließenden Verhandlungen über die Verfas- 13 sung des Landes Nordrhein-Westfalen hatten es Böhler und Frings mehr mit 14 Düsseldorfer CDU-Politikern zu tun. Nach Konstituierung der Bundesrepub- 15 lik, der Wahl des ersten Bundestages und der ersten Bundesregierung unter 16 Bundeskanzler Adenauer wurden die amtlichen Kontakte zwischen dem Köl- 17 ner Kardinal und Adenauer zur seltenen Ausnahme. 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 24 L. VOLK (wie Anm. 18), S. 83. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

1 2 3 Adenauers Verhältnis zu Polen und seiner Bevölkerung* 4 5 Von Krzysztof Ruchniewicz 6 7 In den Gesprächen Helmut Kohls mit Vertretern der neuen polnischen 8 Regierung, die im Sommer und Herbst 1989 in Bonn stattfanden, spielte wie- 9 derholt die Person des ersten Bundeskanzlers Dr. Konrad Adenauer und dessen 10 Politik gegenüber Polen eine Rolle. Kanzler Kohl bezeichnete sich als »Ver- 1 11 wirklicher« der Polenpolitik seines großen Vorgängers. Er berief sich dabei 12 auf die erste Regierungserklärung Adenauers vom 20. September 1949, in der 13 Adenauer – so zumindest Kohl – die Aussöhnung mit Israel sowie den ehe- 14 maligen Kriegsgegnern, insbesondere Frankreich und Polen ankündigte. Doch 15 wer die Regierungserklärung nachliest, dürfte ziemlich enttäuscht sein, be- 16 sonders wenn er mit der Entwicklung des deutsch-polnischen Dialogs im ver- 17 gangenen Jahrzehnt vertraut ist. Tatsächlich befasste sich Adenauer darin nur 18 am Rande mit deutsch-polnischen Themen: Er protestierte gegen die seiner 19 Meinung nach unrechtmäßige Annexion der Gebiete östlich von Oder und 20 Neiße sowie die »Austreibung« der deutschen Bevölkerung von dort; ab- 21 schließend stellte er fest, dass »wir durchaus bereit (sind), mit unseren östli- 22 chen Nachbarn, insbesondere Sowjet-Russland und mit Polen, in Frieden zu 2 23 leben«. Bereitschaft zu einer Verständigung mit Polen, das noch kurz zuvor 24 unter der Naziherrschaft gelitten hatte, war in diesen Worten nur schwer zu 25 erkennen. Das Problem der Verantwortung NS-Deutschlands und seiner Bür- 26 ger für die Verbrechen an Polen tauchte überhaupt nicht auf. Wenn wir also 27 der Überzeugung sind, dass die Bewältigung der Vergangenheit Grundvor- 28 aussetzung für den Aufbau von etwas Neuem ist, so müssen wir feststellen, 29 dass dieser Akzent im ersten offiziellen Auftritt Adenauers als Kanzler fehlte. 30 Dies konnte in der polnischen Gesellschaft nur eine feindliche oder zumindest 31 zutiefst skeptische Reaktion hervorzurufen, und zwar keineswegs nur bei dem 32 Teil, der der neuen, kommunistischen Regierung nahe stand. 33 34 * Ins Deutsche übersetzt von Thorsten Möllenbeck. 35 1 Gespräch des Bundeskanzlers mit dem Fraktionsvorsitzenden des Bürgerkomitees »So- 36 lidarnosc”, Geremek, Bonn, 7. Juli 1989, in: Hanns Jürgen KÜSTERS/Daniel HOFMANN (Be- arb.), Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzlers 1989/90, München 37 1989, S. 240; ferner: Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem Vorsitzenden der Gewerk- 38 schaft »Solidarität”, Walesa, Bonn, 7. September 1989, EBD. S. 399. 39 2 Regierungserklärung von Bundeskanzler K. Adenauer vor dem 1. Deutschen Bundestag, 40 Bonn, 20. September 1949 in: Hans-Adolf JACOBSEN/Mieczysław TOMALA (Hg.), Bonn–War- schau 1945–1991. Die deutsch-polnischen Beziehungen. Analyse und Dokumentation, Köln 41 1992, S. 68f. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Offensichtlich versuchte Kanzler Kohl, in einem Augenblick, der sowohl 2 für die deutsche Nachkriegsgeschichte, als auch für Mitteleuropa einen fun- 3 damentalen Wandel bedeutete, eine gewisse Kontinuität zwischen der Polen- 4 politik seiner Regierung und der Regierung Adenauers herzustellen. Dies ist 5 leicht nachvollziehbar: Adenauer war ein Politiker von Format, eine charis- 6 matische Persönlichkeit, er legte die Grundlagen für die heutige Stellung der 7 Bundesrepublik und ihre politische Westorientierung. Daher drängt sich die 8 Vermutung geradezu auf, dass seine Regierungszeit auch für die Ost- bzw. 9 Polenpolitik grundlegende Bedeutung gehabt haben muss – wenn auch nicht 10 so sehr in konkreten Schritten, denn hier fehlt es an messbaren Erfolgen, so 11 aber doch bei der Skizzierung von Grundsätzen und Perspektiven der Bezie- 12 hungen zu Polen. Um so mehr stellt sich die Frage, welche Einstellung Kanzler 13 Adenauer persönlich zu Polen und den Polen hatte, was seine Meinung zur 14 Problematik der Aufnahme von Beziehungen zu Polen war und welchen Platz 15 Polen in seinen Konzepten zu einem vereinigten Europas einnahm. Und 16 schließlich lässt sich darüber nachdenken, ob Adenauer tatsächlich als Pionier 17 der deutsch-polnischen Aussöhnung betrachtet werden kann – wie Kohl und 18 jüngst auch einige polnische Publizisten, die sich mit internationalen Bezie- 19 hungen beschäftigen, ihn zu beschreiben versuchten. Dieses Thema bildet – 20 neben dem Problem der so genannten Oder-Neiße-Linie – in historischen Stu- 21 dien zu Adenauer und seiner Zeit jedoch nur eine Marginalie. Es gibt zu diesem 22 Thema übrigens nicht viel Quellenmaterial, insbesondere nur wenige Äuße- 23 rungen von Adenauer selbst. Am umfassendsten hat es bisher Dieter Bingen 24 in seiner Arbeit über die bundesdeutsche Polenpolitik in den Jahren 1949 und 25 1991 behandelt.3 26 Über Adenauers Haltung zu Polen in seinen ersten Lebensjahrzehnten wis- 27 sen wir nicht viel. Er wurde 1876 in Köln geboren, stammte aus einer Familie 28 der Mittelschicht und wurde katholisch erzogen. Eventuell hat die Sympathie 29 30 31 3 Die Zahl der Studien ist so zahlreich, dass ich mich hier auf auf einige wenige Hinweise 32 beschränken muß. Über Adenauers Verhältnis zu Polen schrieben u.a. Dieter BINGEN, Polityka 33 Republiki Bońskiej wobec Polski. Od Adenauera do Kohla 1949–1991, Kraków 1997; Hans Peter SCHWARZ, Adenauer. Bd. 1, Der Aufstieg: 1876–1952, Bd. 2, Der Staatsmann: 1952– 34 1967, Stuttgart 1991; Hansjakob STEHLE, Nachbar Polen. Frankfurt 21968; Günter BUCHSTAB, 35 Adenauer und Polen (Manuskript eines Rundfunkbeitrags von 1988); Axel FROHN, Adenauer 36 und die deutschen Ostgebiete in den fünfziger Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1996, 4, S. 485–527; Engelbert HOMMEL, Polnisch-deutsche Beziehungen in der Ära Adenauer: 37 eine Tabula rasa?, in: Eichholz Brief. Zeitschrift zur politischen Bildung, 1996, Nr. 2, S. 32– 38 40; Christoph KLESSMANN, Adenauers Deutschland- und Ostpolitik 1955–1961, in: Adenauer 39 und die deutsche Frage, hg. von Josef FOSCHEPOTH, Göttingen 1988, S. 61–79; Hans Peter 40 SCHWARZ, Adenauer und Polen, in: Konrad Adenauer – Niemiec i Europejczyk, Warszawa 1996, S. 9–21; DERS., Vortasten nach Warschau, in: Politische Meinung 326 (1997), S. 87– 41 95; Hansjakob STEHLE, Adenauer, Polen und die Deutsche Frage, in: Adenauer und die deut- 42 sche Frage, S. 80–99. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Adenauers Verhältnis zu Polen und seiner Bevölkerung 75 der Bevölkerung Westdeutschlands, der rheinischen Provinzen, der Pfalz und 1 Badens für das Freiheitsstreben der Polen im 19. Jahrhundert einen gewissen 2 Einfluss auf ihn ausgeübt. Womöglich nahm er die Polen auch als überzeugte 3 Katholiken wahr, die während des Kulturkampfes immer wieder ihre Verbun- 4 denheit mit ihrer Konfession demonstrierten. Hier ist daran zu erinnern, dass 5 die Katholiken in Preußen eine konfessionelle Minderheit waren, was Ade- 6 nauers Sympathie für die Polen vielleicht noch verstärkte. 7 Adenauers Karriere in der öffentlichen Verwaltung begann in den ersten 8 Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Erfahrung der Schützengräben des Ersten 9 Weltkriegs blieb ihm aus gesundheitlichen Gründen erspart. In den zwanziger 10 Jahren führte er Gespräche mit Mitarbeitern des polnischen Konsulates in 11 Köln, u.a. über die Wirtschaftsbeziehungen mit Polen.4 Protokolle über eines 12 dieser Gespräche, das im Februar 1923 stattfand, sind erhalten geblieben: Es 13 ging darin um die damals angespannten deutsch-französischen Beziehungen, 14 die für die Stadt Köln aufgrund ihrer geographischen Lage besonders wichtig 15 waren, sowie um eine eventuelle polnische Vermittlung im Konflikt um das 16 Ruhrgebiet. Wir verfügen über zwei Berichte über dieses Gespräch; einer 17 stammt vom polnischen Konsul in Köln, Eugeniusz Rozwadowski5, der andere 18 von Adenauer selbst.6 Adenauer gab darin seinen Befürchtungen über die 19 20 21 4 Das Konsulat der Republik Polen, zunächst geleitet von Konsul Heliodor Sztark, wurde 22 im Dezember 1919 auf dem Grundstück der ehemaligen Polnischen Mission eingerichtet, die zuvor wahrscheinlich mit der Vertretung des polnischen Regentschaftsrates in Berlin zusam- 23 mengearbeitet hatte und nicht durch eine polnische Regierung autorisiert war. Das Konsulat 24 beschäftigte sich u.a. mit Staatsangehörigkeitsangelegenheiten, der Optionsfrage und auch mit 25 der Umsiedlung von Polen aus Reichsgebieten, die vorübergehend von den Entente-Staaten besetzt waren (Rheinland, Westfalen). Vom 1. November 1922 bis 1. April 1928 leitete Eu- 26 geniusz Rozwadowski das Konsulat, anschließend Sylwester Gruszka. Im April/Mai 1928 wur- 27 de die Einrichtung nach Frankfurt a.M. verlegt und in ein Generalkonsulat umgewandelt. Ein 28 Teil des Personals blieb jedoch in Köln, wo ab dem 1. April 1930 eine Außenstelle des Kon- 29 sulats arbeitete. Weitere Informationen finden sich in der Einführung zum Inventar der Akten polnischer Konsulate in Deutschland, Inwentarz akt konsulatów polskich w Niemczech 1918– 30 1939, opr. przez Edwarda Kołodzieja, Opole 1983 31 5 Es ist nur eine Abschrift dieses Dokuments in deutscher Sprache erhalten geblieben, 32 die im Archiv des DDR-Außenministeriums aufbewahrt wurde. Sie befindet sich jetzt im Po- 33 litischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn (Ministerium für Auswärtige Angelegenhei- ten der DDR, Botschaft Warschau, Politische Abteilung, Sign. A 3751). Das polnische Au- 34 ßenministerium hatte sie am 25. Juni 1957 auf Bitten der DDR-Botschaft in Warschau über- 35 sandt, da man im Zusammenhang mit den bevorstehenden Bundestagswahlen belastendes 36 Material über Adenauer suchte. Zu den näheren Umständen siehe Aktennotiz über die Unter- redung des Gen. Lungenheim mit Botschafter Katz-Suchy am 19. Juni 1957, MfAA der DDR, 37 Botschaft Warschau, Politische Abteilung, Sign. A 3751. Versuche, dieses Dokument im Ar- 38 chiv des polnischen Außenministeriums und im Warschauer Archiv Neuer Akten (Archiwum 39 Nowych Akt) aufzufinden, blieben erfolglos. 40 6 Ich danke an dieser Stelle Dr. H. P. Mensing, der mir eine Kopie des Berichts von Adenauer zur Verfügung stellte. Das Dokument befindet sich im Historischen Archiv der Stadt 41 Köln, Sign. 902/253/3. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Möglichkeit eines neuen Kriegs infolge der damaligen deutsch-französischen 2 Krise Ausdruck. Der Konflikt könne auf zwei Arten gelöst werden, so Ade- 3 nauer: Entweder durch eine Teilung Deutschlands, ähnlich der Teilung Polens 4 im 18. Jahrhundert, oder durch eine Verständigung mit Frankreich. Adenauer 5 hatte nichts gegen eine Beteiligung Frankreichs an der deutschen Industrie ein- 6 zuwenden; er war jedoch überzeugt, dass diese Industrie nicht den Wert besaß, 7 von dem die Franzosen ausgingen. In seinem Resümee zu diesem Gespräch 8 schrieb Rozwadowski: »Es erscheint, dass Herr Adenauer den Standpunkt Po- 9 lens in diesem Konflikt herausbekommen möchte, sowie auch die Möglichkeit 10 der polnischen Vermittlung. Ich nehme an, dass er in solchem Falle eine her- 11 vorragende Rolle spielen möchte.«7 In diesem Gespräch machte sich bereits 12 ein charakteristisches Element der späteren Außenpolitik Adenauers bemerk- 13 bar – das Suchen nach einer Verständigung mit Frankreich. Adenauer stellte 14 den Verlauf des Gesprächs etwas abweichend dar; er glaubte nicht an die Mög- 15 lichkeit einer deutsch-französischen Verständigung durch direkte Verhandlun- 16 gen. Adenauer informierte Reichskanzler Wilhelm Cuno über sein Treffen mit 17 Rozwadowski und den darauf folgenden Besuch des polnischen Diplomaten 18 in Paris. »Man habe diese Mitteilungen mit dem denkbar größten Interesse 19 entgegengenommen«, so Adenauer. Allerdings blieb der polnische Vermitt- 20 lungsversuch ergebnislos. »Zur Zeit sei die Lage in Frankreich so, daß selbst 21 nicht einmal Polen, das doch ein Freund Frankreichs sei, es wagen dürfe, zu 22 intervenieren.« Über weitere Kontakte Adenauers mit polnischen Diplomaten 23 gibt es keine Quellen. In seinen Erinnerungen erwähnt er sie nicht, sie waren 24 also sicher nicht allzu lebhaft und wesentlich. Da die Archivmaterialien des 25 polnischen Konsulates in Köln im Zweiten Weltkrieg vernichtet wurden, kön- 26 nen auch sie nicht herangezogen werden. Wir wissen nur, dass Adenauer 1928 27 wegen der Auflösung des polnischen Konsulates in Köln beim polnischen Au- 28 ßenministerium intervenierte.8 Möglicherweise ging es Adenauer darum, wei- 29 terhin eine gute konsularische Betreuung der polnischen Arbeitsemigranten 30 im Rheinland zu gewährleisten; sicherlich beeinträchtigte die Auflösung des 31 Konsulates aber auch das Prestige Kölns, um das Adenauer sich während sei- 32 ner Amtszeit so sehr bemühte. Wie sah Adenauer also die deutsch-polnischen 33 Beziehungen während der Weimarer Republik, die sich bekanntlich nicht allzu 34 gut entwickelten? Offensichtlich beurteilte sie der spätere Bundeskanzler kri- 35 tisch, allerdings aus einer gewissen Distanz – was angesichts seines Engage- 36 ments auf der lokalen Ebene auch einleuchtend war. Jahre später sollte er je- 37 doch feststellen, dass die schlechten deutsch-polnischen Beziehungen einer der 38 Fehler der deutschen Außenpolitik zwischen 1918 und 1933 waren.9 39 40 7 Oberbürgermeister von Köln Dr. Adenauer über deutsch-französische Verständigung, EBD. 41 8 Wie Anm. 4, Einführung. 42 9 Hanns Jürgen KÜSTERS (Bearb.), Adenauer. Teegespräche 1950–1954, Berlin 1984, S. 299. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1933 übernahmen die Nationalsozialisten die Macht und enthoben Adenauer 1 sämtlicher Ämter. Damit endete die erste Phase im öffentlichen Wirken Ade- 2 nauers, also v.a. als Kommunalpolitiker. Bis Kriegsausbruch lebte Adenauer 3 zurückgezogen als Privatmann, engagierte sich nicht politisch. Über den Ver- 4 lauf der Kriegshandlungen gegen Polen im September 1939 erfuhr er wahr- 5 scheinlich aus den Erzählungen seines zweiten Sohnes Max, der als Soldat 6 daran teilnahm. Er war jedoch weit davon entfernt, sich vom Kriegsenthusi- 7 asmus und von den raschen Erfolgen der deutschen Wehrmacht anstecken zu 8 lassen. Am 19. Oktober 1939 schrieb er in einem Brief an Professor Walter 9 Braunfels: »Es waren sorgenvolle Wochen, und eine sorgenvolle Zeit steht 10 noch vor uns. Wir merken allerhand vom Kriege, viel durchmarschierende 11 Truppen, Flugzeuge, deutsche und feindliche, Flakfeuer. Bei günstigem Wind 12 hören wir auch das Artilleriefeuer der Westfront.«10 Adenauers Korrespondenz 13 in der Kriegszeit enthielt – vermutlich aus Sicherheitsgründen – keinerlei Be- 14 merkungen zur NS-Politik gegenüber der Bevölkerung in den besetzten 15 Ländern, zu denen auch Polen gehörte. Adenauer wusste allerdings von den 16 Morden und Grausamkeiten, die seine Landsleute dort begingen. In den Nach- 17 kriegsjahren äußerte er sich mehrfach zu diesem Thema. Es lohnt sich, aus 18 einem Brief Adenauers an Pastor Bernhard Custodis vom 23. Februar 1946 19 zu zitieren, in dem er von der Verantwortung der Deutschen, auch des deut- 20 schen Klerus, für die Verbrechen der Kriegszeit schreibt. »Im übrigen hat man 21 aber auch gewusst – wenn man auch die Vorgänge in den Lagern nicht in 22 ihrem ganzen Ausmaße gekannt hat –, dass die persönliche Freiheit, alle 23 Rechtsgrundsätze, mit Füßen getreten wurden, dass in den Konzentrations- 24 lagern große Grausamkeiten verübt wurden, dass die Gestapo, unsere SS und 25 zum Teil auch unsere Truppen in Polen und Russland mit beispiellosen 26 Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung vorgingen. Die Judenpogrome 27 1933 und 1938 geschahen in aller Öffentlichkeit. Die Geiselmorde in Frank- 28 reich wurden von uns offiziell bekannt gegeben. Man kann also wirklich nicht 29 behaupten, dass die Öffentlichkeit nicht gewusst habe, dass die nationalso- 30 zialistische Regierung und Heeresleitung ständig aus Grundsatz gegen das 31 Naturrecht, gegen die Haager Konvention und gegen die einfachsten Gebote 32 der Menschlichkeit verstießen.«11 Die Wiedergutmachung für die vom Dritten 33 Reich unterdrückten Völker wurde in den folgenden Jahren zu einem der Ziele 34 von Adenauers Politik, obwohl wir hier eine gewisse, für die Polen schmerz- 35 liche Asymmetrie beobachten können: Während es bereits zu Anfang der fünf- 36 ziger Jahre zu Entschädigungszahlungen für die jüdische Bevölkerung kam, 37 blieben die polnischen Opfer des NS-Terrors lange Jahre ausgeschlossen. Dies 38 39 40 10 Hans Peter MENSING (Bearb.), Adenauer im Dritten Reich, Berlin 1991, S. 353f. 11 Hans Peter MENSING (Bearb.), Adenauer. Briefe 1945–1947 (Rhöndorfer Ausgabe), 41 Berlin 1983, S. 172. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 betraf auch die Polen, die nach dem Krieg in der Bundesrepublik blieben und 2 die während des Krieges Repressionen ausgesetzt gewesen waren. Vergeblich 3 bemühten sie sich in den fünfziger Jahren um eine Entschädigung. 4 Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 nahm die Ge- 5 stapo Adenauer fest und inhaftierte ihn in einem Arbeitslager in Köln-Deutz. 6 Adenauer, der selbst nicht aktiv an der deutschen Widerstandsbewegung teil- 7 nahm, aber Kontakte zu verschiedenen Beteiligten unterhielt,12 wurde im Zuge 8 der Aktion Gewitter – wie Hunderte andere ehemalige Abgeordnete der Wei- 9 marer Parteien oder Gewerkschaftsführer verhaftet.13 In diesem Lager be- 10 fanden sich auch Kriegsgefangene verschiedener Nationalität, u.a. Polen. Ade- 11 nauer lernte dort polnische Offiziere kennen, betete mit ihnen in heimlich or- 12 ganisierten Messen. Jahre später erinnerte er sich, dass »die inhaftierten 13 polnischen Offiziere sich mir gegenüber außerordentlich zuvorkommend 14 benahmen.«14 Der künftige Kanzler bewunderte ihre katholische Frömmigkeit, 15 ihre tadellose Haltung. Die polnischen Gefangenen wiederum notierten in 16 ihren Erinnerungen über diese Zeit, dass Adenauer ihre Delegation empfing 17 und allen polnischen Gefangenen wünschte, sie mögen in ihre Heimat zurück- 18 kehren können.15 Adenauer kam auch noch viele Jahre später immer wieder 19 auf seine damaligen Erlebnisse und Beobachtungen zurück.16 20 Sicherlich konnte Adenauer aus diesen zufälligen und sporadischen Gesprä- 21 chen nicht allzu viel über Polen erfahren. Dennoch müssen sie sein Polenbild 22 auf die eine oder andere Weise geprägt haben. Erinnern wir uns daran, dass 23 Adenauer auch mit Vertretern anderer Nationen vor 1945 keine intensiveren 24 Kontakte hatte. Er unternahm keine Auslandsreisen, allerdings fühlte er sich 25 als Rheinländer in »westeuropäischer« Atmosphäre wohler. Dabei muss je- 26 doch betont werden, dass seine Einstellung zu Polen nicht von nationalisti- 27 schen Überzeugungen geprägt war, wie sie für andere deutsche Politiker dieser 28 Zeit charakteristisch waren. In dieser Zeit waren die deutsch-polnischen Be- 29 30 12 Adenauer nahm nicht aktiv am Widerstand teil, beteiligte sich auch nicht an den Pla- 31 nungen zum Attentat auf Hitler. »Ich habe nur immer den einen Wunsch und die eine Hoffnung 32 gehabt«, sagte er 1962 im Gespräch mit D. Schorr, »daß die Welt erlöst würde vom National- 33 sozialismus.« Dass Adenauer nicht in der Opposition aktiv war, lässt sich einerseits mit seiner großen Vorsicht und Furcht um das Schicksal seiner engsten Angehörigen und anderseits mit 34 seinem Zweifel am Erfolg des Widerstands erklären. Dennoch bezogen verschiedene Wider- 35 standsgruppen Adenauer in ihre Pläne ein. Ein Beispiel ist eine Notiz Paul York von Warten- 36 burgs, eines Mitglieds des »Kreisauer Kreises«, vom 9. August 1943, laut der Adenauer, nach dem Sturz des Hitler-Regimes, als Landeshauptmann der Region Mittelrhein vorgesehen war. 37 H. P. MENSING (wie Anm. 10), S. 17, S. 384–386, 393. 38 13 Vgl. Günter BUCHSTAB/Brigitte KAFF/Hans-Otto KLEINMANN, Verfolgung und Wider- 39 stand 1933–1945. Christliche Demokraten gegen Hitler, Düsseldorf 21990, S. 259–268. 40 14 H. P. MENSING (wie Anm. 10), S. 414f. 15 Vgl. die Aussagen von Mirosław Wierzbicki und Mirosław Zawodny, EBD. S. 415. 41 16 Vgl. Adenauers Rundfunkansprache zum 20. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten 42 Weltkriegs; Konrad ADENAUER, Reden 1917–1967. Eine Auswahl, Stuttgart 1975, S. 406. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Adenauers Verhältnis zu Polen und seiner Bevölkerung 79 ziehungen für Adenauer nicht von erstrangiger Bedeutung, waren sie doch von 1 seiner Alltagsarbeit recht weit entfernt. Er war daher nicht gezwungen, in Be- 2 zug auf Polen ein Programm, eine ganzheitliche Vision auszubilden. Dies än- 3 derte sich freilich 1945. 4 5 Die Situation Nachkriegsdeutschland war fatal. In Besatzungszonen aufgeteilt, 6 hatten die Menschen mit zahlreichen Problemen im Alltagsleben zu kämpfen. 7 Die Lage verschlechterte sich noch durch den ununterbrochenen Zustrom von 8 vertriebenen Deutschen aus Mittelosteuropa, die infolge der Grenzverschie- 9 bungen der Nachkriegszeit gezwungen wurden, ihre Wohnorte zu verlassen. 10 Sie nahmen bald einen beträchtlichen Einfluss auf die deutsche Ostpolitik. An- 11 lass zur Besorgnis gab auch die Deutschlandpolitik der Sowjetunion, die be- 12 strebt war, ihre Einflusssphäre soweit wie möglich auszudehnen. Adenauer 13 registrierte diese Entwicklung sehr aufmerksam. Seiner Meinung nach hielt 14 die UdSSR kontinuierlich an ihrer Expansionspolitik fest. Im Ostteil Deutsch- 15 lands, in Polen, Ungarn, einem Teil Österreichs und auf dem Balkan hatte sie 16 ihren Einfluss bereits etabliert und sicherte ihn weiter ab, indem sie neue po- 17 litische und wirtschaftliche Verhältnisse schuf. Die Folge war die Entstehung 18 zweier »Europas«. Die Prognose in Bezug auf die Situation in Europa, die 19 Adenauer Ende 1945 formulierte, sollte sich bereits innerhalb weniger Jahre 20 bewahrheiten. Die einzige Chance für den Westteil Deutschlands, nicht in die 21 sowjetische Sphäre eingesogen zu werden, bestand für Adenauer in einer mög- 22 lichst engen Zusammenarbeit mit Westeuropa. 23 Adenauers Rückkehr in das Amt des Kölner Oberbürgermeisters 1945 blieb 24 infolge eines Konfliktes mit den Briten nur eine kurze Episode. Als Adenauer 25 das Rathaus verließ, bedeutete dies jedoch keineswegs das Ende seiner Kar- 26 riere, sondern vielmehr den Anfang einer phänomenalen Entwicklung. Ade- 27 nauer, der an der Gründung der CDU in der britischen Zone beteiligt war, 28 erhielt nun endlich Gelegenheit, sein tatsächliches politisches Format zu 29 demonstrieren und die lokale politische Szene zugunsten der nationalen und 30 bald auch internationalen Bühne zu verlassen. Eines der Probleme, mit denen 31 er sich vor 1949 befasste, war die Zukunft der Gebiete östlich von Oder und 32 Neiße. Zu den Faktoren, die die deutsch-polnischen Beziehungen bereits vor 33 1939 belastet hatten, kamen nun nicht nur die Kriegserfahrungen hinzu, 34 sondern auch die Entscheidungen der Großmächte über Deutschlands Grenzen. 35 Eine solche Ausgangslage, zu der noch der Antagonismus der politischen Sys- 36 teme in Polen und der Bundesrepublik hinzu kam, verhieß für die Zukunft 37 nichts Gutes. Adenauer formulierte seinen Standpunkt in dieser Frage in einem 38 Brief an Adolf Kaschny vom 7. Januar 1947: »Kein Angehöriger der CDU 39 werde m.E. einen Friedensvertrag unterschreiben, der die Oder-Neiße-Linie 40 enthalte. Was die fernere Zukunft bringen wird, das steht ganz dahin. Kein 41 Mensch kann es wissen. Uns bleibt nur eins übrig: alles zu tun, was in unseren 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Kräften steht, um die gesunden und wertvollen Eigenschaften unseres Volkes 2 zu erhalten und weiter zu entwickeln.«17 Das Programm schien also klar zu 3 sein – die Dauerhaftigkeit der polnischen Verwaltung in diesen Gebieten ab- 4 zulehnen und sich ansonsten auf die Stärkung der deutschen Gesellschaft zu 5 konzentrieren. Hier ist zu fragen, ob Adenauer die Bedeutung der Grenzver- 6 änderungen für Polen und deren vielfältige soziale Implikationen, die keines- 7 wegs geringer waren als im Falle der deutschen Gesellschaft, wirklich verstand. 8 9 Die sich verfestigende Teilung Deutschlands beschleunigte die Karriere Ade- 10 nauers. 1948 übernahm er den Vorsitz des Parlamentarischen Rates, der sich 11 mit der Ausarbeitung einer Verfassung beschäftigte. Nach den Parlaments- 12 wahlen am 14. August 1949, die CDU und CSU gewannen, wurde Adenauer 13 am 15. September jenes Jahres zum ersten Kanzler der Bundesrepublik ge- 14 wählt, jenes Staates, der aus dem Westteil des besetzten Deutschlands ent- 15 standen war. Als seine Karriere als Kanzler begann, war Adenauer 73 Jahre 16 alt. Er übte das Amt noch fast vier Wahlperioden lang aus – bis 1963. 17 Die Entstehung der Bundesrepublik, und darauf der DDR, besiegelte die 18 Teilung Europas und der Welt in zwei sich bekämpfende Blöcke: Den Westen 19 mit den Vereinigten Staaten und den Osten mit der Sowjetunion, zu dem auch 20 das kommunistisch beherrschte Polen gehörte. Wichtigste Ziele in der Außen- 21 politik der neuen westdeutschen Regierung waren die Revision des Besat- 22 zungsstatutes und die Wiedererlangung der Souveränität. Dies war – so Ade- 23 nauer – nur durch die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den 24 Staaten des Westens zu erreichen. Im Laufe der Zeit wurde die prowestliche 25 Politik Adenauers zur Priorität in der Außenpolitik der Bundesrepublik. Ade- 26 nauer folgte dieser Richtung konsequent, wobei er sogar das Ziel der deutschen 27 Einheit aufgegeben hätte, wie seine Kritiker meinten. Der Kalte Krieg, die 28 Bedrohung durch die UdSSR in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre kamen 29 dieser Politik sehr entgegen. Adenauer glaubte an die Kontinuität der Expan- 30 sionspolitik des Kreml, er war überzeugter Antikommunist und sah in den sow- 31 jetischen Vorschlägen lediglich taktische Manöver. Dies erklärt seine konse- 32 quente Ablehnung jeglicher Pläne einer Wiedervereinigung Deutschlands unt- 33 er der Bedingung der Neutralität, die die UdSSR zu Beginn der fünfziger Jahre 34 machte. »Das Ziel Sowjetrusslands sei die Neutralisierung Deutschlands«, 35 sagte Adenauer auf der Sitzung des CDU-Bundesvorstands in Bonn am 36 13. Juni 1952, »um auf diesem Wege ihre Herrschaft über ganz Europa aus- 37 zudehnen.«18 Nach Meinung Adenauers konnte nur ein starker Westblock, de- 38 39 40 17 H. P. MENSING (wie Anm. 11), S. 415. 18 Günter BUCHSTAB (Bearb.), Adenauer: »Es mußte alles neu gemacht werden«. Die Pro- 41 tokolle des CDU-Bundesvorstandes 1950–1953 (Quellen und Forschungen zur Zeitgeschichte, 42 Bd. 8), Stuttgart 21986, S. 114. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Adenauers Verhältnis zu Polen und seiner Bevölkerung 81 ren integraler Bestandteil die Bundesrepublik war, sich der Bedrohung seitens 1 der UdSSR entgegenstellen (»Politik der Stärke«). Auf Verständnis und Zu- 2 stimmung trafen diese Bestrebungen Adenauers bei den Staaten des Westens, 3 die nun mit Erfolg begannen, ihre Vorstellungen einer allmählichen Integration 4 Europas zu verwirklichen – freilich begrenzt auf den westlichen Teil des Kon- 5 tinents. Adenauer engagierte sich persönlich sehr stark in der Außenpolitik: 6 Nach Einrichtung des Auswärtigen Amts übernahm er anfangs – von 1951 7 bis 1955 – selbst den Aufgabenbereich des Außenministers. Auch später be- 8 hielt Adenauer sich in Fragen der Außenpolitik stets das entscheidende Wort 9 vor, was Ursache zahlreicher Missverständnisse zwischen Kanzleramt und 10 Auswärtigem Amt war. Wenn wir die Außenpolitik der Bundesrepublik in die- 11 ser Zeit bewerten, bewerten wir zwangsläufig zugleich das Vorgehen Ade- 12 nauers. 13 14 Trotz der erwähnten Prioritäten in der Außenpolitik in der ersten Hälfte der 15 fünfziger Jahre verlor der Kanzler das Thema Osteuropa, und damit auch das 16 Thema Polen, nicht völlig aus den Augen. Die bloße Existenz der DDR ließ 17 dies nicht zu. Für Adenauer lag der Zusammenhang zwischen Deutschland- 18 und Ostpolitik auf der Hand. Im Laufe der Zeit zeigte sich, dass polnische 19 Themen angesichts der Sachlage keinen eigenständigen Bereich der Außen- 20 politik bilden konnten. Die Ausstrahlung innenpolitischer Fragen auf die 21 Außenpolitik verkomplizierte die Situation zusätzlich. Die Millionen Vertrie- 22 benen, die im neuen Staat integriert werden mussten, ließen es nicht zu, die 23 Grenzfrage zu ignorieren. Rasch wurden erste Gesetze erlassen, die ihre Lage 24 verbessern sollten. Adenauer war sich bewusst, dass diese Gruppe eine ge- 25 waltige Gefahr für die Stabilität der neuen Demokratie darstellen konnte. 26 Neben den Gesetzen, die die Integration dieser Gruppe in die Gesellschaft er- 27 möglichen sollten, versuchte er, sie zu gewinnen, indem er die Vertreibung 28 verurteilte, das unveräußerliche Recht dieser Bevölkerung auf Heimat betonte 29 und ihnen die Rückkehr versprach. Adenauer war jedoch kein Träumer: Er 30 war sich bewusst, dass er diese Ziele nur auf friedlichem Wege durch Ver- 31 handlungen erreichen konnte, was er in seinen Äußerungen übrigens vielfach 32 wiederholte. Kaum vorstellbar übrigens, dass er an der Macht hätte bleiben 33 können, wenn er sich anders geäußert hätte. Eine der Bedingungen war, 34 größere Entscheidungsfreiheit zu erhalten, so dass diese Frage nicht nur in der 35 Macht der Großmächte lag. Während der Diskussion über den Deutschland- 36 vertrag stimmten die Großmächte der Formulierung in Artikel VII Absatz 1 37 zu, in dem die Regelung der Grenzfrage einem Friedensvertrag mit Deutsch- 38 land vorbehalten blieb. Diese Festlegungen, an denen Adenauer während sei- 39 ner gesamten Amtszeit festhielt und auf die er sich als Rechtsgrundlage bezog, 40 begrenzten im Ergebnis beträchtlich die Freiheit in der Diskussion mit Polen. 41 Adenauer war Realist – obwohl er die neue Westgrenze Polens ablehnte, 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 konnte er vor den Veränderungen, die sich im Laufe der Zeit in diesen Gebieten 2 abspielten, nicht die Augen verschließen. Bei den sogenannten »Teege- 3 sprächen« mit deutschen und ausländischen Journalisten, die er seit Anfang 4 der fünfziger Jahre regelmäßig abhielt, äußerte er mehrfach die Ansicht, dass 5 die Gebiete östlich von Oder und Lausitzer Neiße für Deutschland verloren 6 seien, und bezweifelte, dass die Vertriebenen jemals in ihre Heimat würden 7 zurückkehren können. »Ich meine auch, dass wir die Frage der Oder-Neiße- 8 Linie«, sagte er in einem Gespräch im Juli 1957, »mal beiseite legen sollten. 9 Das ist eine Frage, die bei dem großen Arrangement gelöst werden muss. Man 10 kann nicht alles wieder zurückdrehen, das halte ich für ausgeschlossen. Die 11 Russen haben die Polen nach Westen gebracht, die Deutschen weiter nach 12 dem Westen. Jetzt kann man nicht die Polen dahin zurückbringen.«19 Freilich 13 konnte Adenauer sich nicht dazu durchringen, seine private Meinung hierzu 14 in die Sprache politischer Schritte zu übersetzen. Sein »verbaler Revisionis- 15 mus« ermöglichte es Adenauer nicht nur, die Vertriebenen auf seine Seite zu 16 bringen; er konnte das Problem auch oftmals instrumentalisieren, um größere 17 Vorteile für die Bundesrepublik zu erzielen. Doch nicht nur die Grenzfrage 18 stand der Aufnahme von Beziehungen zu Polen im Wege. Adenauer bemühte 19 sich, zwischen der Wiedervereinigung Deutschlands, der Befreiung Mittelost- 20 europas vom Kommunismus und der Entspannungs- und Abrüstungspolitik 21 ein Junktim zu kreieren. Er war der Meinung, dass die UdSSR ihre Position 22 in Mitteleuropa nur im Rahmen einer globalen Neuordnung räumen würde; 23 gleichzeitig glaubte er nicht, dass die UdSSR ihr Imperium lange würde halten 24 können. Diese Haltung des Kanzlers war für die weitere Entwicklung der 25 deutsch-polnischen Beziehungen von außerordentlicher Bedeutung. Einerseits 26 lehnte Adenauer jegliche Vorschläge der UdSSR zur Lösung der sogenannten 27 deutschen Frage ab (etwa ein wiedervereinigtes, aber neutrales Deutschland), 28 solange die Sowjets auf ihrer Hegemonie über Mittelosteuropa beharrten. Da- 29 bei verwies er – zur Überraschung der Westmächte – auf den Zusammenhang 30 zwischen der Befreiung Ostdeutschlands und Polens. Andererseits war Ade- 31 nauer der Meinung, dass allein Moskau den Schlüssel zur Lösung der Pro- 32 bleme Mitteleuropas besäße. Daher lehnte er kategorisch den Versuch ab, die 33 Situation innerhalb des Ostblocks allmählich zu verändern, indem man Kon- 34 takte zu den Satellitenstaaten aufnahm. In der zweiten Hälfte der fünfziger 35 und zu Beginn der sechziger Jahre war er skeptisch angesichts der Möglichkeit, 36 die Satellitenstaaten von der Vorherrschaft des Kremls zu befreien. Damit lässt 37 sich auch seine Polenpolitik der Jahre 1956/57 – nach dem so genannten »Juni- 38 Aufstand« und dem »Polnischen Oktober« 1956 – erklären, die voller Vorbe- 39 halte war. Als er bei einem »Teegespräch« am 24. Oktober 1956 nach seiner 40 41 19 »Teegespräch« am 17. Juli 1957, in: Hanns Jürgen KÜSTERS (Bearb.), Adenauer. Tee- 42 gespräche 1955–1958, Berlin 1986, S. 201f. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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Einschätzung der Situation in Polen gefragt wurde, wollte Adenauer sich nicht 1 festlegen, weil »man noch zu wenig unterrichtet ist und weil man die weitere 2 Entwicklung gar nicht überschauen kann«.20 Hierzu ist freilich anzumerken, 3 dass eine solche abwartende Haltung, die jede aktive Politik blockiert, für alle 4 Krisensituationen typisch ist. Auf zwei Aspekte der neuen Lage in Polen wies 5 der Kanzler besonders hin: »Einmal, daß diese Vorfälle nicht einen akuten 6 Anlaß haben, sondern der Ausbruch einer allgemeinen Unzufriedenheit sind, 7 die doch die breitesten Volksmassen dort erfüllt, eine Unzufriedenheit mit dem 8 sowjetrussischen Vasallentum, das die Satellitenstaaten ja nun einmal zur Zeit 9 ertragen. Und das Zweite ist, daß eben deswegen Sowjetrußland, glaube ich, 10 sich mit dem Gedanken vertraut machen muß, daß es in den Vasallenvölkern 11 in den Satellitenstaaten nicht mehr absolut zuverlässige Werkzeuge hat.«21 Er 12 mahnte jedoch zur Vorsicht, um die Lage der neuen polnischen Regierung 13 nicht zu verkomplizieren. Seine Haltung gegenüber der neuen Warschauer 14 Regierung verdeutlicht ein Gespräch Adenauers mit Journalisten am 17. Juli 15 1957. Auf eine Frage des amerikanischen Journalisten Korry – »Warum haben 16 die Bundesrepublik und die Westeuropäische Union keine positiven 17 wirtschaftlichen Schritte unternommen, um in Polen eine größere Freiheit zu 18 fördern und zu unterstützen?« – antwortete Adenauer mit einer Gegenfrage: 19 »Warum hat die UNO nicht den Freiheitskampf der Ungarn mehr unterstützt? 20 Ich meine, der Widerhall, den der Freiheitskampf der Ungarn in der Welt ge- 21 funden hat, in der großen Welt, ist nicht sehr ermutigend für die Polen gewe- 22 sen. Und bei allem, was wir tun, leitet uns die Rücksichtsnahme ... auf Go- 23 mulka, damit Gomulka nicht Moskau verdächtig wird. Deswegen sind wir sehr 24 vorsichtig.«22 In einem anderen Gespräch Anfang August 1957 sagte er: »Wir 25 müssen da sehr vorsichtig sein. Wir dürfen Gomulka nicht gefährden. Es darf 26 nicht dazu kommen, daß in Polen etwas Ähnliches passiert wie in Ungarn. 27 Wir würden diplomatische Beziehungen mit Polen erst dann anknüpfen, wenn 28 die Polen, Gomulka selbst der Auffassung ist, es schade ihnen nicht.«23 Man 29 könnte weitere, ähnliche Äußerungen aus dieser Zeit aufzählen. Diese über- 30 trieben scheinende Vorsicht kann man nur als eine Art Rückversicherung in- 31 terpretieren. Zugleich belegen diese Äußerungen, dass Adenauer die Mecha- 32 nismen hinter der Entwicklung in Polen nicht verstand. 33 Mit Beginn der Entstalinisierung in der UdSSR und den Ländern Mittelost- 34 europas, darunter auch Polen, sowie den ersten Anzeichen des »Tauwetters« 35 in den Ost-West-Beziehungen wurde die Frage nach der Aufnahme von Bezie- 36 hungen zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR bzw. ihren Satelliten- 37 38 39 20 EBD. S. 153. 40 21 EBD. 22 EBD. S. 201. 41 23 EBD. S. 217. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 staaten erneut aktuell. Die passive Haltung beider Seiten, die sich unter den 2 Bedingungen des Kalten Krieges durchaus hatte begründen lassen, erwies sich 3 nun, unter den veränderten Umständen, immer mehr als unzureichend. Den 4 ersten Schritt in Richtung einer Aufnahme von Beziehungen unternahm frei- 5 lich die polnische Regierung, die bereits Anfang 1955 ihre Bereitschaft zur 6 Normalisierung der Beziehungen mit der Bundesrepublik erklärte.24 Die 7 Bundesregierung – d.h. Adenauer – ignorierten diesen Vorschlag, wobei der 8 stalinistische Hintergrund der polnischen Regierungsmannschaft als Begrün- 9 dung diente. In der zweiten Jahreshälfte 1955 entschloss sich der Kanzler, Be- 10 ziehungen zur UdSSR aufzunehmen, die im Gegenzug Zugeständnisse in Ein- 11 zelfragen machte, u.a. bei der Entlassung gefangener deutscher Zivilisten und 12 Soldaten. Dieser Schritt erwies sich als voller Erfolg für Adenauer, war jedoch 13 keineswegs Vorbote eines Umbruchs: Noch im selben Jahr wurde die so 14 genannte Hallstein-Doktrin formuliert, die die Aufnahme diplomatischer Be- 15 ziehungen zu sowjetischen Satellitenstaaten beträchtlich erschwerte. Diese 16 Doktrin war ein Symptom für die fehlende Bereitschaft Bonns, in den Bezie- 17 hungen mit dem Osten aus der Sackgasse auszubrechen.25 Die »Selbstfesse- 18 lung der Außenpolitik«, um eine Formulierung von Dieter Bingen zu ge- 19 brauchen, wurde immer sichtbarer. Auch stellt sich die Frage, ob es konkrete 20 Notwendigkeiten gab, die Bonn in Richtung einer Lösung der »polnischen 21 Frage« gedrängt hätten: Für die Aufnahme von Wirtschaftskontakten war eine 22 solche Lösung offensichtlich nicht erforderlich, ebenso wenig für eine Wieder- 23 aufnahme der Familienzusammenführung, d.h. der Ausreise von Deutschen 24 aus Polen. Doch die Folgen des 20. Parteitags der KPdSU, der Posener Ar- 25 beiteraufstand und der »Polnische Oktober«, sowie die beträchtliche Libera- 26 lisierung in Polen, die sich u.a. in einer Öffnung zum Westen äußerte, gaben 27 Anlass, über eine Regelung der (west-)deutsch-polnischen Beziehungen neu 28 nachzudenken. In der Bundesrepublik erfuhr man damals mehr über Polen, 29 die Handelsbeziehungen belebten sich, und nach Polen fuhren nicht mehr nur 30 deutsche Journalisten, sondern auch Privatpersonen. Einige dieser Reisenden 31 beschrieben dem Kanzler ihre Eindrücke in Briefen; es lohnt sich, aus einem 32 dieser Briefe zu zitieren: »Seit Wladyslaw Gomulkas Regierungsantritt in 33 Polen hat sich sehr viel gebessert. Die römisch-katholische Kirche und auch 34 die Bevölkerung haben weitestgehende Freiheit erhalten, man hofft jedoch, 35 daß es noch besser werden wird. Heute braucht in Polen keiner mehr zu hun- 36 37 24 Vgl. Beschluss des Staatsrates der Volksrepublik Polen über die Aufhebung des Kriegs- 38 zustandes zwischen Polen und Deutschland, Warschau, 18. 02. 1955, in: H.-A. JACOBSEN/M. 39 TOMALA (wie Anm. 2), S. 78–79. In diesem Beschluss war zu lesen, dass »die Volksrepublik 40 Polen bestrebt ist, friedliche und gutnachbarliche Beziehungen mit dem ganzen deutschen Volk auf der Grundlage der Friedensgrenze an Oder und der Lausitzer Neiße herzustellen«. 41 25 Werner KILIAN, Die Hallstein-Doktrin. Der diplomatische Krieg zwischen der BRD und 42 der DDR 1955-1973, Berlin 2001. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Adenauers Verhältnis zu Polen und seiner Bevölkerung 85 gern. Nur Textilien sind sehr knapp, nicht von besonderer Qualität und sehr 1 teuer.«26 Bereits Ende 1956 fanden erste Touristenfahrten nach Polen statt, an 2 denen v.a. »Vertriebene« aus den von Polen annektierten Gebieten teilnahmen. 3 In jenen Monaten wurde Polen in der Bundesrepublik beinahe schon zu einem 4 »Modeland«; in bundesdeutschen Zeitungen waren zahlreiche Reiseberichte 5 aus Polen zu finden. 1957 akkreditierten die größten bundesdeutschen Tages- 6 zeitungen Korrespondenten in Warschau, etwa Hansjakob Stehle für die 7 Frankfurter Allgemeine Zeitung und Joachim Steinmayr für die Süddeutsche 8 Zeitung. Sie wurden im Laufe der Zeit zu Vermittlern zwischen der polnischen 9 und der bundesdeutschen Regierung. Eine bisher noch brachliegende Quelle 10 sind die Protokolle von Gesprächen mit diesen Journalisten, die im Archiv 11 des Warschauer Außenministeriums lagern. 12 Ende 1956 begannen erste Sondierungsgespräche über eine Regelung der 13 deutsch-polnischen Beziehungen, wobei diesmal die Initiative von deutscher 14 Seite ausging. Erstmals spielte dabei das Thema Wirtschaftsbeziehungen eine 15 Rolle. Die Gespräche wurden teilweise in den Hauptstädten der Westmächte 16 (Washington, Paris, Belgrad) geführt, teilweise sandte die deutsche Seite 17 Emissäre nach Polen, meist Journalisten, die die polnische Regierung über den 18 deutschen Standpunkt unterrichteten. Auf eines dieser Gespräche, von dem 19 bekannt ist, dass es mit Wissen Adenauers stattfand, möchte ich ausführlicher 20 eingehen. Am 18. Dezember 1956 nahm ein Angehöriger der jugoslawischen 21 Botschaft in Washington, F. Promożicz, Kontakt mit dem polnischen Diplo- 22 maten H. Jaroszek auf und schlug ihm ein Treffen mit A. von Kessel vor, 23 einem Beauftragten der deutschen Botschaft, der ihn gebeten hatte, ein solches 24 Treffen zu arrangieren. Warschau signalisierte sein Einverständnis, einen 25 Monat später fand das Treffen im Hause Promożicz statt.27 Von Kessel ver- 26 sicherte, dass seine Regierung sich sehr für die Entwicklung in Polen interes- 27 siere, und betonte, er habe mit dem Kanzler über dieses Thema gesprochen. 28 Zwar nehme die Bundesrepublik lebhaft Anteil an den Veränderung in Polen 29 nach 1956, sie wolle jedoch keinesfalls Einfluss auf die Innenpolitik Polens 30 nehmen. Er betonte, im Namen der Regierung zu sprechen, und erklärte, dass 31 die Zeit für eine Verbesserung der Beziehungen und eine Annäherung zwi- 32 schen beiden Ländern nunmehr reif sei. In seiner Antwort erläuterte Jaroszek 33 die Haltung der polnischen Regierung zur Aufnahme politischer Beziehungen 34 zwischen der Bundesrepublik und der Volksrepublik Polen. Er betonte, die 35 36 37 26 Paul Kowalski berichtet von der Haltung der Deutschen in Polen und fordert Aufnahme 38 diplomatischer Beziehungen. Brief vom 24.09.1957, Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus, 39 Best. 10. 25–48. 40 27 Vgl. Notatka z rozmowy H. Jaroszka z ministrem do spraw politycznych ambasady RFN, Albrechtem von Kesselem. Waszyngton, 19.01.1957, A MSZ Departament IV Niemcy, 41 23/35/4. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 polnische Regierung habe wiederholt ihre Bereitschaft zur Lösung dieses Pro- 2 blems erklärt. Er sprach auch die Frage der Remilitarisierung der Bundesre- 3 publik an; von Kessel ging auf dieses Thema jedoch nicht ein. Stattdessen 4 schlug er eine Wirtschaftshilfe der Bundesrepublik an Polen vor. »Von Kessel 5 betonte«, so Jaroszek in seinem Bericht, »dass die Annahme des Vorschlags 6 durch die polnische Regierung die Bedingungen für eine Aufnahme diplo- 7 matischer Beziehungen schaffen würde, indem sie die öffentliche Meinung 8 darauf vorbereite. Sie würde auch zum Abbau antideutscher Vorurteile in 9 Polen beitragen und ein für die Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten 10 geeignetes Klima schaffen.«28 Von Kessel erwähnte eine Reihe von Schwie- 11 rigkeiten, die – trotz der grundsätzlich positiven Einstellung Adenauers und 12 seiner Regierung zur Aufnahme von Beziehungen zu Polen – eine sofortige 13 Aufnahme von Bemühungen in dieser Richtung verhinderten. Das größte 14 Problem sei der Bundestagswahlkampf: Die Aufnahme von Beziehungen noch 15 vor den Wahlen könne von der Opposition als Wahlkampfmanöver betrachtet 16 werden und der Regierung erhebliche Schwierigkeiten bereiten, v.a. von seiten 17 der Vertriebenen-Organisationen. Weiterhin stand die Hallstein-Doktrin im 18 Wege: Danach wurden mit Staaten, die die DDR anerkannten, grundsätzlich 19 keine Beziehungen aufgenommen – mit Ausnahme der UdSSR, die als Be- 20 satzungsmacht einen Sonderstatus hatte. Nach Meinung von Kessels würde 21 es nach den Wahlen leichter sein, von diesem Prinzip abzuweichen. Und 22 schließlich wolle die Bundesregierung auch nicht den Eindruck erwecken, sie 23 zeige eine übertriebene Kooperationsbereitschaft, um der neuen polnischen 24 Führung die Arbeit nicht zu erschweren: »Schon jetzt«, so von Kessel, »haben 25 wir Schwierigkeiten, Ihre Freunde [die UdSSR], von der Notwendigkeit 26 engerer Beziehungen zwischen uns und Polen zu überzeugen.«29 Nach den 27 Wahlen – so von Kessel – würde sich diese ungünstige Situation verändern; 28 er sei überzeugt, dass man in 12 bis 18 Monaten diplomatische Beziehungen 29 mit Polen aufnehmen könnte. Das Grenzproblem erwähnte von Kessel nicht. 30 Zusammenfassend schrieb Jaroszek in seinem Bericht über das Gespräch: »Der 31 Vorschlag soll Adenauer einerseits politische Vorteile in den Wahlen bringen, 32 andererseits ist er zweifellos mit weitreichenden deutsch-amerikanischen 33 Plänen und Kalkülen in Bezug auf uns verbunden. Es scheint, dass er unter 34 diesem Aspekt geprüft werden sollte.«30 Von Kessel seinerseits informierte 35 Außenminister von Brentano über das Ergebnis seiner Gespräche und bat um 36 weitere Anweisungen. Ob es zu weiteren Treffen kam und welchen Inhalt sie 37 hatten, wissen wir nicht. Allerdings wurde das Thema, diplomatische Bezie- 38 hungen zu Polen, während Adenauers USA-Besuch im Mai 1957 erörtert, was 39 40 28 EBD. 41 29 EBD. 42 30 EBD. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Adenauers Verhältnis zu Polen und seiner Bevölkerung 87 darauf hindeutet, dass weitere Gespräche stattgefunden hatten.31 Von Bren- 1 tano, der den Kanzler auf seiner USA-Reise begleitete, wies von Kessel an, 2 die polnische Botschaft zu informieren, dass die Bundesrepublik das Thema 3 diplomatische Beziehungen unmittelbar nach den Wahlen wieder aufgreifen 4 werde.32 Dass deutsche Regierungskreise zu Gesprächen mit Polen bereit 5 waren, belegt auch eine Empfehlung des Auswärtigen Amts, die Vertreter der 6 Bundesrepublik zu Gesprächen mit polnischen Politikern und Diplomaten er- 7 mutigte. Kurz nach seinem Wahlsieg bekundete Adenauer in einem Fernseh- 8 interview Interesse an einer deutsch-polnischen Annäherung durch eine Inten- 9 sivierung der Handelsbeziehungen. Zudem beauftragte er den Außenminister, 10 ein neues Konzept zur Ostpolitik zu erarbeiten und dem neuen Kabinett vor- 11 zulegen. »Dann ist auch die Frage zu entscheiden«, sagte Adenauer am 12 26. September 1957 vor Journalisten, »ob man ausschließlich mit Polen in ein 13 diplomatisches Verhältnis kommen soll oder auch mit den anderen Satelliten- 14 staaten.«33 Auf die Frage eines Journalisten, ob er die Frage der Oder-Neiße- 15 Grenze für nicht mehr aktuell halte, erwiderte Adenauer kurz: »Kann man ja 16 ausklammern.«34 17 Alles deutete also darauf hin, dass für die Aufnahme von Beziehungen zu 18 Polen reale Chancen bestanden – dennoch sollte es nicht dazu kommen. Wel- 19 che Ereignisse verhinderten eine Verwirklichung dieser Absichten? Bereits 20 Ende August 1957 wurde bekannt, dass Jugoslawien bereit sei, die DDR und 21 die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen. Eine entsprechende Vereinbarung soll- 22 te während des nächsten Besuchs einer polnischen Partei- und Regierungsde- 23 legation in Belgrad getroffen werden. Damit trat zum ersten Mal eine Situation 24 ein, in der sich die Bundesrepublik entscheiden musste, ob sie die Hallstein- 25 Doktrin anwendet oder ignoriert – womit sie signalisiert hätte, dass die bis- 26 herigen Grundlagen ihrer Außenpolitik einer grundsätzlichen Revision unter- 27 zogen würden. Auf eine solche Kehrtwende setzte u.a. der deutsche Botschaf- 28 ter in Jugoslawien, Karl Georg Pfleiderer, der eine Annäherung an Polen ener- 29 gisch unterstützte. Adenauer entschied sich jedoch dagegen: Am 19. Oktober 30 1957 brach die Bundesrepublik ihre diplomatischen Beziehungen zu Jugosla- 31 wien ab. Das Fundament der vermeintlichen neuen Ostpolitik hatte sich als 32 sehr fragil erwiesen. 33 Bedeutete dies, dass es aus Adenauers Sicht noch zu früh war für einen 34 Wandel? Auch die Opposition kritisierte übrigens die Entscheidung der 35 36 37 31 Vgl. Brief von Brentano an Adenauer vom 16. Mai 1957, in: Arnulf BARING, Sehr ver- 38 ehrter Herr Bundeskanzler! im Briefwechsel mit Konrad Adenauer 39 1949–1964, Hamburg 1974, S. 211. 40 32 EBD. S. 193f. 33 H.J. KÜSTERS (wie Anm. 19), S. 233. 41 34 EBD. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Regierung. »Nach Meinung westdeutscher Politiker und Journalisten«, be- 2 richtete der Presseattache der polnischen Militärmission in Berlin, Raczkows- 3 ki, am 11. Dezember 1957 nach einem Gespräch mit Hansjakob Stehle, »tragen 4 das Außenministerium, und insbesondere Leute wie Grewe und Hallstein 5 (auch Brentano, weil letzten Endes immer alles auf die Meinung dieser beiden 6 hinausläuft), die Hauptschuld am Abbruch der Beziehungen mit Jugoslawien 7 und das Fiasko der ganzen Ostpolitik der Bundesrepublik. Diese Leute wirken 8 bremsend und verzögernd auf die Aufnahme von Beziehungen mit Polen ein. 9 Stehle erwähnte ein Grundsatzgespräch, das Pfleiderer (kurz vor seinem Tode) 10 mit Hallstein führte. Pfleiderer verlangte vor dem Abbruch der Beziehungen 11 mit Jugoslawien die sofortige Aufnahme von Beziehungen mit Polen, worauf 12 Hallstein erwiderte: Ausgangspunkt unserer Gespräche mit Polen sind die 13 Grenzen von 1937.«35 Auch Adenauer muss dieser Meinung gewesen sein. 14 Freilich behauptete Stehle, dass Adenauer die Aufnahme von Beziehungen zu 15 Polen dennoch weiterhin befürworte. Ein weiteres Ereignis, das möglicher- 16 weise dazu beitrug, dass die Pläne zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen 17 mit Polen verworfen wurden, war der Plan einer atomwaffenfreien Zone, zu 18 der auch die Bundesrepublik gehören sollte, den der polnische Außenminister 19 Adam Rapacki Anfang Oktober 1957 in der UN-Vollversammlung vorstellte. 20 Adenauer betrachtete den Plan des polnischen Außenministers als einen wei- 21 teren Versuch der UdSSR, die Bundesrepublik zur Anerkennung der DDR zu 22 bewegen und Deutschland zu neutralisieren, was er bekanntlich vehement ab- 23 lehnte. Dennoch überrascht es, dass er diesem Vorschlag so wenig Aufmerk- 24 samkeit schenkte: Er hätte seinerzeit durchaus erkennen können, dass es sich 25 um einen Versuch Polens handelte, etwas mehr Handlungsfreiheit in der in- 26 ternationalen Arena zu erlangen. Dies bestätigen die späteren Versionen des 27 Rapacki-Plans, die die deutsch-deutsche Sonderproblematik berücksichtigten 28 und eine Plattform für Gespräche zwischen der Bundesrepublik und Polen of- 29 ferierten, ohne dass dazu die DDR hätte anerkannt werden müssen. Doch auch 30 diese Vorschläge lehnte der Kanzler ab. 31 Hier stellt sich eine Reihe von Fragen: Fühlte Adenauer sich womöglich in 32 gewisser Weise durch diese rasche Entwicklung der Lage überfordert? Ver- 33 bargen sich hinter den Erklärungen des Kanzlers gegenüber Polen tatsächliche 34 Schritte? Welchen Einfluss hatte die Unterstützung der oppositionellen SPD 35 für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Polen, die zur Einrichtung 36 eines Sonderausschusses zur Prüfung dieser Frage führte, sowie für den Ra- 37 packi-Plan auf die Entscheidungen des Kanzlers? Anfang Juni 1958 infor- 38 mierte Joachim Steinmayr J. Czyrek, Abteilungsleiter im polnischen Außen- 39 40 35 Vgl. Wyciąg z notatki z rozmowy attache prasowego Misji Wojskowej PRL w Berlinie 41 tow. Raczkowskiego z dr. Hansjakobem Stehle, redaktorem FAZ, Warszawa, 11 grudnia 1957, 42 A MSZ, Departament IV Niemcy, 10/106/13. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Adenauers Verhältnis zu Polen und seiner Bevölkerung 89 ministerium, dass »sich in Bonn ganz Adenauers These durchgesetzt hat, 1 wonach für die BRD nur ein Gesprächspartner im Osten existiert – die UdSSR. 2 Daher ist die Frage der Aufnahme von Beziehungen zu Polen und anderen 3 sozialistischen Ländern immer weniger aktuell und hört auf, Gegenstand des 4 Interesses der Regierungskreise der BRD zu sein«, so Steinmayr. »Zwar soll 5 der außenpolitische Ausschuss des Bundestags demnächst einen Antrag der 6 Opposition zur Normalisierung der Beziehungen mit Polen erörtern, aber 7 einem eventuellen Beschluss des Ausschusses wird keine größere Bedeutung 8 beigemessen.«36 Nachdem Adenauer also einem zaghaften Schritt in Richtung 9 Polen zugestimmt hatte, zog er sich schnell wieder zurück. Dahinter steckte 10 wahrscheinlich der Grundsatz, dass sämtliche bundesdeutschen Initiativen 11 ohnehin nur Sondierungscharakter hätten und allenfalls den wirtschaftlichen 12 Austausch fördern könnten. 13 Die ablehnende Haltung der Bundesrepublik angesichts des Rapacki-Planes 14 verstärkte in Polen die bereits seit einigen Monaten laufende intensive Propa- 15 ganda gegen Adenauer. Dabei lieferte die Annahme der Ehrenritterwürde des 16 Deutschen Ordens durch den Kanzler im März 1958 den polnischen Kommu- 17 nisten ein ausgezeichnetes Propagandaargument. Angesichts dessen kann man 18 durchaus die These aufstellen, dass Adenauer, obwohl er zeitweise Interesse 19 für polnische Fragen zeigte, die polnische Spezifik im Grunde nicht verstand. 20 Aufgrund der schlechten Quellenlage ist schwer zu beurteilen, ob den Kanzler 21 Informationen über das polnische Echo auf seine Annahme der Ehrenritter- 22 würde erreichten. Man darf jedoch davon ausgehen, dass die polnische Reak- 23 tion ihn auch nicht sonderlich interessierte, zumal das Projekt, offizielle Be- 24 ziehungen aufzunehmen, immer unrealistischer wurde. Davon überzeugte sich 25 Stanisław Stomma 1958 auf einer Reise durch die Bundesrepublik: Der 26 polnische Parlamentarier, ein unabhängiger Katholik, wäre geradezu ein 27 »Traumpartner« für inoffizielle Gespräche gewesen, falls Bonn solche ge- 28 wünscht hätte. Diese Hoffnung hatte übrigens nicht nur Stomma, sondern auch 29 die Warschauer Regierung. Das Interesse an dem Gast aus Polen war jedoch 30 gering. Immerhin kam es zu einer längeren Unterredung mit Bundesaußen- 31 minister Heinrich von Brentano und zu einem Gespräch mit Staatssekretär 32 Hans Globke im Kanzleramt.37 33 Der Ausbruch der zweiten Berlin-Krise begrub dann endgültig alle diesbe- 34 züglichen Hoffnungen – lieferte sie Adenauer doch einen weiteren Beweis, 35 dass die Politik der Satellitenstaaten vollkommen vom Kreml kontrolliert wur- 36 37 38 36 Vgl. Notatka z rozmowy z naczelnika wydziału MSZ J. Czyrka z korespondentem »Süd- 39 deutsche Zeitung” J. Steinmayrem (10 czerwca 1958), A MSZ, Departament IV Niemcy, 10/ 40 107/13. 37 Vgl. Wolfgang PAILER, Stanislaw Stomma. Nestor der polnisch-deutschen Aussöhnung, 41 Bonn 1995, S. 75–82. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 de. In dieser Phase begann auch Polen, seine Haltung zur Aufnahme diplo- 2 matischer Beziehungen mit der Bundesrepublik zu revidieren. Bisher war man 3 bereit gewesen, ohne jegliche Vorbedingungen Beziehungen aufzunehmen, 4 d.h. man akzeptierte den abweichenden Standpunkt der Bundesrepublik in der 5 Grenzfrage. Inzwischen jedoch konnte von einer Aufnahme von Beziehungen 6 ohne Vorbedingungen keine Rede mehr sein. Gomułkas antideutsche Über- 7 zeugung verfestigte sich durch Adenauers Passivität endgültig. 8 Ende der fünfziger Jahre tauchte in diesem komplexen internationalen Spiel 9 ein weiterer Faktor auf – die Haltung der Westmächte zur Oder-Neiße-Grenze 10 begann sich zu verändern. Im März 1959 wurde Adenauer unangenehm von 11 Charles de Gaulle überrascht, als dieser erklärte, er könne sich eine deutsche 12 Wiedervereinigung ohne vorherige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze 13 nicht vorstellen. Nach einer Intervention des Kanzlers verzichtete de Gaulle 14 auf eine weitere Erörterung des Themas, aber das Signal war eindeutig. Eine 15 ähnliche Haltung nahmen die Amerikaner in der Grenzfrage ein; sie ver- 16 sicherten den Polen, »auch in Zukunft« den polnischen Standpunkt in der 17 Grenzfrage zu unterstützen. Zwar waren dies nur verbale Anzeichen einer neu- 18 en Haltung, doch ihre Häufigkeit war kein Zufall. Gegen Ende der fünfziger 19 Jahre suchten die Westmächte, und v.a. die USA, immer öfter nach Möglich- 20 keiten zu einem Dialog mit der UdSSR und deren Satelliten, um ernsthafte 21 Konflikte zu vermeiden. Dieser neuen Politik des Westens musste sich, wenn 22 auch widerwillig, auch Adenauer unterordnen. Seit der zweiten Jahreshälfte 23 1959 ließen sich wieder vermehrt Bemühungen Adenauers um einen Dialog 24 mit Polen beobachten. Offensichtlich sollte die Rundfunkansprache des Kanz- 25 lers zum zwanzigsten Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs ein 26 Signal für den neuen Kurs sein. Erwähnenswert ist, dass Adenauer nicht den 27 vom Auswärtigen Amt vorbereiteten Text verlas, sondern die Ansprache selbst 28 verfasste. Doch statt des erhofften Effekts erntete der Kanzler in Polen nur 29 Kritik. Besonders scharf reagierte der polnische Premier Józef Cyrankiewicz 30 auf die Ansprache.38 Es musste so kommen – so hatte der Kanzler u.a. gesagt: 31 »Ein besonderes Wort aber muss heute dem Volke gelten, das durch den Ein- 32 fall der Truppen Hitler-Deutschlands und der Sowjetunion das erste Opfer des 33 Kriegs geworden ist.«39 Hinzugefügt sei, dass die Wochenzeitschrift Polityka 34 die Rede Adenauers wenige Tage später komplett abdruckte, einschließlich 35 der zitierten Passage.40 36 37 38 38 Aus der Rede des Ministerpräsidenten in Warschau, 1. September 1959, in: H.-A. JA- 39 COBSEN/M. TOMALA (wie Anm. 2), S. 95–97. 40 39 Rundfunkansprache von Bundeskanzler K. Adenauer zum 1.09.1939, Bonn am 31.08.1959, in: EBD. S. 94f.; Hervorhebung d. Autors. 41 40 Jak kanclerz RFN uczcił dwudziestą rocznicę Września, in: Polityka, Nr. 36 vom 42 05.10.1959, S. 10. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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Adenauer hatte damit ein Tabuthema angesprochen – die Mitverantwortung 1 der UdSSR für die Niederlage Polens im September 1939 – und dies musste 2 die Haltung der kommunistischen polnischen Regierung zwangsläufig ver- 3 härten. Auch der Botschafter der Bundesrepublik in der UdSSR, Hans Kroll, 4 war nicht mit Adenauers Ansprache zufrieden und äußerte dies im Gespräch 5 mit dem polnischen Botschaftsrat Korolczyk. Dieser notierte nach dem Ge- 6 spräch: »Kroll ist nicht mit der Passage in Adenauers Ansprache an das 7 polnische Volk vom 1. September einverstanden, in der er von der Rolle der 8 UdSSR im September 1939 spricht. Dieser Teil der Ansprache war völlig über- 9 flüssig, besonders jetzt, da ›das Eis schmilzt‹. Kroll informierte den Kanzler 10 umgehend über seine negative Beurteilung. Unglücklich war auch der Zeit- 11 punkt, zu dem Adenauers Rede gehalten wurde. Auf keinen Fall hätte man 12 dies aus Anlass des Jahrestages des September machen dürfen.«41 Kroll merkte 13 jedoch an, dass die Rede Cyrankiewiczs zu scharf gewesen sei und eine Neu- 14 auflage der deutsch-polnischen Gespräche verhindert habe. »Kroll unterstrich 15 nachdrücklich«, so Korolczyk weiter, »dass Adenauer den Polen die Hand rei- 16 chen will, aber in der Frage der Oder-Neiße-Grenze, die nicht die wichtigste 17 ist, muss Adenauer vorsichtig vorgehen, weil er viele Gegner hat, und die 18 öffentliche Meinung in der BRD in dieser Frage ebenfalls gespalten ist.«42 19 Anzumerken ist, dass sich Ende der fünfziger Jahre in der Einstellung der deut- 20 schen Gesellschaft zur Normalisierung der Beziehungen mit Polen eine 21 Veränderung beobachten lässt, wie Umfragen vom September 1959 belegen.43 22 Auf die Frage »Sind Sie der Meinung, dass wir uns stärker als bisher um 23 freundschaftliche Beziehungen zu Polen bemühen sollten?« antworteten 66 % 24 der Befragten mit Ja, nur 12 % waren dagegen und 22 % hatten keine Meinung. 25 Von den Personen, die wenigstens einmal in Polen waren, antworteten sogar 26 77 % mit Ja. Auf die Frage »Wären Sie dafür oder dagegen, wenn wir jetzt 27 diplomatische Beziehungen mit Polen aufnähmen?« antworteten 59 % der Be- 28 fragten mit »dafür«, 11 % »dagegen« und 30 % waren unentschlossen. Interes- 29 sant ist, dass über die Hälfte der Vertriebenen (57 %) bereit war, diplomatische 30 Beziehungen mit Polen aufzunehmen. Dies war ein deutliches Signal an die 31 Regierenden, die sich beim Thema Kontakte mit Polen nicht selten auf die 32 Sensibilität der Gesellschaft beriefen. Ob Adenauer diese Daten kannte? Es 33 ist bekannt, dass er alle Meinungsumfragen genau studierte. Vielleicht war 34 die Erklärung des Kanzlers vom 17. Oktober 1959, man müsse für den von 35 Hitler provozierten Krieg bezahlen, eine Folge dieser Studien. K. Kowalczyk, 36 der mit dem bundesdeutschen Botschaftsrat Knocke über diese Äußerung 37 38 39 41 Notatka z rozmowy ambasadorem RFN w Moskwie, Krollem, Moskwa, 6 października 40 1959 r., A MSZ, Departament IV Niemcy, 10/109/14. 42 EBD. 41 43 Pressearchiv des Herder-Instituts in Marburg. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 sprach, übermittelte die Meinung seines Gesprächspartners wie folgt: »Dies 2 bedeutet das Verlassen der geschlossenen Schützengräben des Kalten Krieges 3 und den ersten Schritt zu Zugeständnissen an Polen.«44 Dieses Zugeständnis 4 sollte – so Knocke – die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Ge- 5 sellschaft der Bundesrepublik sein. 6 Adenauers Bereitschaft zu Gesprächen mit Polen zeigte sich noch einmal 7 Ende 1960, als der Generalbevollmächtigte der Firma Krupp, Bertold Beitz, 8 mit seinem Wissen nach Polen reiste. Anfang Januar 1961 war Beitz erneut 9 in Polen zu Gast, um der polnischen Regierung konkrete Angebote zu machen. 10 Als Beitz’ Mission in der Bundesrepublik bekannt wurde, entstand jedoch be- 11 trächtlicher Aufruhr, nicht nur die Vertriebenen schlugen Alarm. Noch wäh- 12 rend sich Beitz in Polen aufhielt, gab ein Pressesprecher eine Erklärung ab, 13 wonach Beitz nicht von der Bundesregierung bevollmächtigt sei, über die Re- 14 gelung der deutsch-polnischen Beziehungen zu sprechen. Diese Erklärung 15 machte einen Erfolg der Mission bereits im Anfangsstadium zunichte. 16 Es vergingen weitere zwei Jahre, bis es zur Einrichtung von Handelsmis- 17 sionen in Warschau und Köln kam. Wenige Monate später musste Kanzler 18 Adenauer von seinem Amt zurücktreten. 19 20 Gegen Ende seiner Regierungszeit war sich Adenauer des Scheiterns seiner 21 Polenpolitik bewusst. Sehr zutreffend sagte er am 10. März 1962 im Interview 22 mit Le Monde: »Wenn es um Polen geht, so habe ich im Laufe der letzten 23 Jahre in vielen Fällen versucht, eine gewisse Annäherung herbeizuführen; 24 jedes Mal brachten diese Anstrengungen ein Fiasko, was – meiner Kenntnis 25 nach – auch in vielen polnischen Kreisen als bedauernswert betrachtet wurde. 26 Die polnische Nation erfreut sich in gewisser Hinsicht größerer Freiheit als 27 andere Satellitenländer. Dennoch bestimmt Gomułka nicht die (polnische) 28 Außenpolitik. Moskau hat Gomułka in der Hand und bestimmt die Außen- 29 politik«.45 Der Kanzler blieb also bei seiner Meinung, dass die polnische Au- 30 ßenpolitik vollständig dem Kreml untergeordnet sei, was eine Regelung 31 deutsch-polnischer Themen unmöglich mache. Diese Sichtweise war nicht ge- 32 eignet, ein neues, konstruktives Programm hervorzubringen. Die Ergebnisse 33 der Ostpolitik Adenauers waren minimal, selbst wenn man ihre innenpoliti- 34 schen und internationalen Bedingungen berücksichtigt. Sie standen völlig im 35 Schatten der großen Errungenschaften des Kanzlers in der westeuropäischen 36 Politik. Treffend gibt dies eine satirische Zeichnung von 1961 wieder: Wir 37 sehen ein prächtiges Ross, das die Westpolitik verbildlicht und verwundert 38 39 40 44 Notatka K. Kowalczyka z rozmowy z radcy ambasady RFN Knocke na przyjęciu w ambasadzie Iranu w dniu 26 października 1959, A MSZ, Departament IV Niemcy, 10/109/14. 41 45 Zit. nach: Polityka niemieckiej Republiki Federalnej wobec Polski w latach 1958–1966, 42 Warszawa 1966, S. 37f. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Adenauers Verhältnis zu Polen und seiner Bevölkerung 93 zusieht, wie in die Box nebenan ein hölzernes Spielzeugpferd gebracht wird 1 – das Symbol für Adenauers Ostpolitik. 2 Kann man Kanzler Adenauer angesichts dessen zum Schirmherren der heu- 3 tigen deutsch-polnischen Beziehungen stilisieren? Sicher war er nicht der »Po- 4 lenfresser« und Revanchist, als den man ihn in Polen darstellte. Er hatte ein 5 positives Bild vom polnischen Volk und wünschte ihm, dass es seine Freiheit 6 erlange; er wünschte, die Völker Europas mögen in Frieden leben. In seiner 7 letzten Rede, in der er über die europäische Integration sprach, sagte er, dass 8 diese ohne die Länder Osteuropas unvollständig bleibe. Sicherlich, und dies 9 gilt es festzuhalten, dachte er dabei vor allem an Polen. Doch in der Politik 10 erzielt man kaum Fortschritte, indem man auf dem Standpunkt »alles oder 11 nichts« verharrt. In der Realität der fünfziger und sechziger Jahre war Freiheit 12 für den Ostblock nur eine entfernte Vision, dessen war sich Adenauer bewusst. 13 War es richtig, die drängende Frage der Beziehungen zu Polen aufzuschieben, 14 bis sich dieser Traum erfüllen würde? Es war Adenauer nicht möglich, zu ei- 15 nem Ausgleich mit Polen und zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu 16 kommen. Immerhin wurde noch im letzten Amtsjahr seiner Kanzlerschaft ein 17 deutsch-polnisches Handelsabkommen abgeschlossen. 18 Dem alten Kanzler, der sich um die Entwicklung seines Landes ungewöhn- 19 lich verdient gemacht hat, gelang es nicht mehr, in den Beziehungen zum 20 Osten ein solcher Pionier zu werden, wie er es mit seiner pro-westlichen Politik 21 gewesen war. 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 Aus: Adenauer. Teegespräche 1959–1961, bearb. v. Hans Jür- 32 gen Küsters (Rhöndorfer Ausgabe), Berlin 1988. 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

1 2 3 Eugen Gerstenmaier und die Bundesversammlung in Berlin 4 1969 5 6 Von Franz Möller 7 8 Bundeskanzler hatte in seiner Regierungserklärung 9 zu Beginn der Großen Koalition am 13. Dezember 19661 neue Ansätze in 10 der Ost- und Deutschlandpolitik (»neue Ostpolitik«) verkündet. Sie zielten 11 auf mehr Öffnung nach Osten und auf Erleichterungen im Verhältnis der 12 beiden deutschen Staaten ab. Kiesinger erneuerte für die CDU/CSU- und 13 SPD-Koalition das Angebot für ein Gewaltverzichtsabkommen mit den 14 Staaten des Warschauer Paktes und erklärte sich gleichzeitig auch zur Zu- 15 sammenarbeit mit den »Behörden im anderen Teil Deutschlands« bereit.2 16 Er gab den Aspekten der Friedenserhaltung und der Entspannung3 eine be- 17 sondere Note. Zwar erwähnte er den Alleinvertretungsanspruch der Bun- 18 desregierung, zeigte sich aber zu mehr Annäherung an die Ostblockstaaten 19 bereit. Mit Rumänien wurden diplomatische Beziehungen aufgenommen. 20 Die Aufnahme »solcher Kontakte (zu DDR-Behörden) bedeute jedoch keine 21 Anerkennung eines zweiten deutschen Staates«.4 Dieser Versuch einer »ge- 22 schickten Isolierungspolitik Kiesingers gegenüber der DDR«5 stieß jedoch 23 rasch auf die entgegengesetzten Interessen der Sowjetunion, und auch der 24 amerikanische Außenminister Dean Rusk warnte vor einer zu starken und 25 zu schnellen Intensivierung der innerdeutschen Kontakte.6 Die Isolierung 26 27 28 1 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Sten. Ber. 5. WP, 13.12.1966, S. 3656– 29 3665. Vgl. Kiesingers Rede zum Tag der deutschen Einheit am 17. Juni 1967 in: Bulletin des Presse- u. Informationsamtes der Bundesregierung v. 20.6.1967, S. 541ff. 30 2 Rudolf MORSEY, Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 31 1969, München 31995, S. 98f. Zur Entwicklung der Deutschlandfrage in der Großen Koalition 32 vgl. , Erinnerungen und Erfahrungen, hg. von Kai VON JENA/Reinhard 33 SCHMOECKEL, Boppard 1993, S. 764ff. 3 Manfred GÖRTEMAKER, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – von der Grün- 34 dung bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 1999, S. 463. 35 4 Sten. Ber. (wie Anm. 1), S. 3664. Vgl. Daniela TASCHLER, Vor neuen Herausforderun- 36 gen. Die außen- und deutschlandpolitische Debatte in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wäh- rend der Großen Koalition 1966–1969 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und 37 der politischen Parteien, Bd. 132), Düsseldorf 2001, insbes. S. 117ff. 38 5 Dirk KROEGEL, Einen Anfang finden! Kurt Georg Kiesinger in der Außen- und Deutsch- 39 landpolitik der Großen Koalition (Studien zur Zeitgeschichte, Bd 52), München 1997, S. 225ff.; 40 Heinrich August WINKLER, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom Dritten Reich bis zur Wiedervereinigung, Bd. 2, München 2000, S. 258ff. 41 6 D. TASCHLER (wie Anm. 4), S. 119. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 der DDR schlug bald ins Gegenteil um: Moskau verschärfte erneut seine 2 Propaganda gegen die Bundesrepublik und seine Angriffe gegen West-Ber- 3 lin.7 Und die DDR schuf sich eine eigene Staatsbürgerschaft, grenzte sich 4 mehr und mehr gegenüber der Bundesrepublik ab und forderte, die »politi- 5 sche Einheit West-Berlin solle ihr Verhältnis zur DDR normalisieren«.8 Ein 6 Briefwechsel zwischen DDR-Ministerpräsident Willi Stoph und Bundes- 7 kanzler Kurt Georg Kiesinger brachte keinerlei Lockerung der Beziehungen 8 – vielmehr bestand die SED auf förmlicher Anerkennung der Zwei- bzw. 9 Drei-Staaten-Entwicklung, bevor sie über andere Fragen zu verhandeln ge- 10 denke.9 Auch innerhalb der Großen Koalition und besonders in der CDU/ 11 CSU-Fraktion kam es zu schweren Kontroversen um die Deutschlandpoli- 12 tik.10 Noch ehe sie richtig begonnen hatte, war die »neue Ostpolitik« der 13 Großen Koalition in einer Sackgasse gelandet, aus der sie bis 1969 nicht 14 mehr herauskam.11 Die Okkupation der Tschechoslowakei am 21. August 15 1968 durch sowjetische Truppen unter Beteiligung der DDR (Ende des Pra- 16 ger Frühlings) machte das Scheitern der Entspannungspolitik grausam deut- 17 lich.12 18 Das zeigte sich insbesondere im Vorfeld der Wahl eines neuen Bundesprä- 19 sidenten, die nach der Erklärung von Heinrich Lübke über den Zeitpunkt seines 20 vorzeitigen Rücktritts (30. Juni 1969) am 5. März 1969 stattfand. 21 22 Bundesversammlung 1969 wieder in Berlin? 23 24 Nach Artikel 54 Absatz 4 des Grundgesetzes wird die Bundesversammlung 25 vom Präsidenten des Bundestages einberufen. Bundestagspräsident Eugen 26 Gerstenmaier hat bei der Frage nach dem richtigen Tagungsort für die Wahl 27 des Bundespräsidenten nie einen Zweifel daran aufkommen lassen,13 dass er 28 die 5. Bundesversammlung wieder nach Berlin einberufen werde, obwohl ihm 29 30 31 32 7 Vgl. V. BOLDYRJEW, Völkerrechtliche Aspekte der Stellung Westberlins, in: Dokumen- 33 tation der Zeit (Ostberlin), 1969, Heft 1/2, S. 3–17; EBD. Heft 8/1969, »Die Bonner Westberlin- Provokation«, S. 11–22, ist die Tagung der Bundesversammlung noch einmal als »vorsätzlicher 34 ernster Anschlag auf den Status der selbständigen Einheit West-Berlin … und als Attacke gegen 35 den Frieden und die Sicherheit Europas« bezeichnet worden, S. 11. 36 8 D. KROEGEL (wie Anm. 5), S. 229 mit Hinweis auf die Karlsbader Deklaration v. 26.4.1967. 37 9 R. MORSEY (wie Anm. 2), S. 99. 38 10 Vgl. D. TASCHLER (wie Anm. 4), S. 119ff. u. 339ff.; Reinhard SCHMOECKEL, in: Rein- 39 hard SCHMOECKEL/Bruno KAISER: Die vergessene Regierung, Bonn 1991, S. 82ff. 40 11 M. GÖRTEMAKER (wie Anm. 3), S. 463. 12 Vgl. FAZ v. 22.8.1968. 41 13 In: ARD, Monitor v. 9.3.1968; Frankfurter Rundschau v. 9.3.1968 und Berliner Mor- 42 genpost v. 2.11.1968. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Eugen Gerstenmaier und die Bundesversammlung in Berlin 97 schon 195914 und 196415 von verschiedener Seite dringend abgeraten worden 1 war, Berlin zum Tagungsort der Bundesversammlung zu machen. Auch 1968 2 waren deutliche Zeichen erkennbar, dass mit Hinweis auf mögliche Bedenken 3 der alliierten Schutzmächte von Berlin abgeraten werde. Gerstenmaier wurde 4 das Recht bestritten, allein über den Sitzungsort zu entscheiden. Dabei wollte 5 er gar nicht selbstherrlich entscheiden, sondern genau wie 1964 wissen, welche 6 Meinung die Fraktionen und insbesondere die westlichen Verbündeten zu die- 7 ser außenpolitisch schwierigen Frage hatten. Deshalb führte er viele Gespräche 8 mit Diplomaten und wichtigen Vertretern der einzelnen Fraktionen. Das war 9 nötig, weil die SED und die staatlichen Organe der DDR – mit Unterstützung 10 des Kremls – bemüht waren, die Bundesversammlung in Berlin zu verhindern. 11 Sie wollten »das völkerrechtswidrige Vorhaben« einer Amtshandlung der 12 Bundesrepublik in Westberlin zu Fall bringen.16 Die Versuche der DDR wur- 13 den verstärkt als bekannt wurde, dass 22 Mitglieder der Bundesversammlung 14 der NPD angehörten. 15 16 Diplomatische Bemühungen, Gerstenmaier vom Tagungsort Berlin 17 abzubringen 18 19 Wie die inzwischen veröffentlichten »Akten zur Auswärtigen Politik der Bun- 20 desrepublik von 1968 und 1969« erweisen, gab es auf diplomatischer Ebene 21 in diesen Monaten auf Seiten der Bundesregierung und der westlichen Schutz- 22 mächte immer wieder Versuche, den Bundestagspräsidenten Gerstenmaier 23 doch zu einem Verzicht auf Berlin als Tagungsort der Bundesversammlung 24 zu bewegen. Das ging bis in den Februar 1969, als Gerstenmaier schon zu- 25 rückgetreten und Kai-Uwe von Hassel am 8. Februar zum neuen Bundestags- 26 präsidenten gewählt worden war. So befürchtete Ministerialdirektor Ruete 27 28 29 14 , Tagebücher, 1945–1961 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschich- te, Bd. 28), Düsseldorf 1995, S. 364 mit Hinweis auf Auseinandersetzungen in der CDU/CSU- 30 Fraktion und auf zögernde Haltung von Adenauer; »Westmächte gegen Wahl in Berlin« in: 31 Die Welt v. 4.6.1959; »Bedenken gegen Wahl « in: Neue Zürcher Zeitung v. 7.6.1959; 32 FAZ v. 12.6.1959; ferner Brief Adenauers an Außenminister von Brentano v. 15.6.1959 über 33 eine längere Aussprache zwischen Gerstenmaier, Krone und Adenauer, in: Konrad ADENAUER, Briefe 1957–1959 (Rhöndorfer Ausgabe), Paderborn 2000, S. 291. Gerstenmaier hielt 1959 34 (anscheinend) die Abhaltung der Bundesversammlung in Berlin für »politisch unrichtig«, we- 35 gen der Verunsicherung der Berliner bei Nichtabhaltung aber für gefährlich. Karl Carstens, 36 der damals Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt war und diesen Brief Brentano in Genf über- brachte, berichtet in seinen »Erinnerungen« dazu nichts. 37 15 »Protest gegen Präsidentenwahl in Westberlin« in: Stuttgarter Nachrichten v. 38 27.6.1964; »Brandt verwahrt sich gegen östliche Proteste« in: FAZ v. 29.6.1964; »Gelassene 39 Aufnahme der Sowjetnote in Bonn« in: Neue Zürcher Zeitung v. 29.6.1964: 40 16 Hubertus KNABE, Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen, Berlin 1999, S. 222, der auch über die Maßnahmen der DDR-Regierung berichtet. Vgl. Gerhard WETTIG, Ost-Berlin 41 im Schatten der Moskauer Deutschland-Politik, in: Außenpolitik 26 (1969), S. 261–272 (269). 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 vom Auswärtigen Amt in Bonn in einer Aufzeichnung vom 6. November 1968 2 über einen ungestörten Verlauf von Berlin-Veranstaltungen, »dass die Bun- 3 desversammlung in der östlichen Propaganda jetzt mehr und mehr in den Vor- 4 dergrund zu treten scheint«.17 Bei einem Treffen mit dem US-Außenminister 5 Dean Rusk während der NATO-Ministerratstagung in Brüssel erwähnte Bun- 6 desaußenminister am 13. November 196818 auch »die Frage der 7 Bundesversammlung. Wir wüssten noch nicht den endgültigen Standpunkt der 8 drei Schutzmächte. Die Franzosen19 und Briten20 hätten uns ihre Besorgnisse 9 bzw. ihren Ratschlag übermittelt, die Veranstaltung nicht in Berlin durchzu- 10 führen.« Außenminister Rusk stellte dazu fest: »Nachdem die drei letzten Bun- 11 desversammlungen in Berlin stattgefunden haben, sei die Verlegung der näch- 12 sten an einen anderen Ort problematisch. Gegenwärtig befänden wir uns in 13 einer besonders schwierigen Periode des Verhältnisses zur Sowjetunion. Die 14 Sowjets suchten überall nach Schwächemomenten des Westens. Von dort ver- 15 suchten sie ihren Druck weiter zu verstärken. Wir sollten daher gerade in dieser 16 Periode nicht nachgeben und Fehlkalkulationen auf sowjetischer Seite vor- 17 beugen.« 18 Auf einer gemeinsamen Konferenz der vier Außenminister von Großbritan- 19 nien, Frankreich, den USA und der Bundesrepublik am Tag darauf 20 (14.11.1968) kam das Thema Bundesversammlung wieder in die Diskussion.21 21 Der britische Außenminister Michael Stewart meinte, die Bundesversammlung 22 sei eine Angelegenheit, »in der wir [die Deutschen] selbst entscheiden müs- 23 sten. Falls man die britische Regierung frage, so halte sie es nicht für klug, 24 in der gegenwärtigen Lage die Bundesversammlung in Berlin abzuhalten.« Der 25 französische Außenminister Debré war besorgt, dass die NPD-Teilnahme als 26 Provokation aufgefasst würde. Dean Rusk blieb jedoch bei seiner Meinung 27 vom Vortag: »Was die Bundesversammlung angehe, so würden die USA über 28 eine Änderung der bisherigen Übung besorgt sein. ... Die Amerikaner wünsch- 29 ten zwar, dass Berlin, nicht aber dass die NPD verteidigt werde.« 30 Das hat wohl Eindruck bei den Beamten des Auswärtigen Amtes gemacht: 31 Einige Tage später22 hielt Ministerialdirektor Ruete fest: »Die Verbündeten 32 33 34 35 17 Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1968 (AAPD), hg. v. 36 Hans-Peter SCHWARZ, München 1999, Bd. II, Dok. 365, S. 1428; vgl. »Kampagne gegen die Bundespräsidentenwahl« – aus westdeutscher Sicht, in: Deutschland Archiv 2 (1969), S. 297– 37 316. 38 18 Aufzeichnung von Ruete, AAPD, 1968, Dok. 372 v. 13.11.1968, S. 1456. 39 19 AAPD, 1968, Dok. 350 und 354. 40 20 AAPD, 1968, Dok. 372, Anm. 9 mit Hinweis auf ein Gespräch mit dem britischen Bot- schafter v. 13.11.1968, der Sorge wegen der Teilnahme von NPD-Vertretern geäußert hatte. 41 21 AAPD, 1968, Dok. 377, Aufzeichnung v. Ruete v. 16.11.1968, S. 1468, 1470f. 42 22 AAPD, 1968, Dok. 394, Aufzeichnung v. Ruete v. 28.11.1968, S. 1525. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Eugen Gerstenmaier und die Bundesversammlung in Berlin 99 sind geneigt, die Abhaltung der Bundesversammlung in Berlin als eine poli- 1 tische Tradition und als Bestandteil des Status quo zu betrachten.« 2 Am 15. Dezember 1968 informierte aber der deutsche Gesandte Oncken in 3 Washington per Fernschreiben Bundesaußenminister Willy Brandt über »deut- 4 sche Versuche, auf die amerikanische Position zur Bundesversammlung in 5 Berlin Einfluss zu nehmen. ... Etwa am 5. Dezember 1968 hätten sich die Her- 6 ren Schulze-Gaevernitz (amerikanischer Staatsbürger, früher Mitarbeiter von 7 Allen Dulles) und Bundesrichter von Schlabrendorff von Tegernsee aus mit 8 Kissinger, ihm und McCloy fernmündlich in Verbindung gesetzt und Beden- 9 ken gegen die Bundesversammlung in Berlin zum Ausdruck gebracht. Kis- 10 singer und er hätten sich bei diesen Gesprächen rezeptiv verhalten. Über die 11 Reaktion von McCloy sei nichts bekannt. ... Die großzügige Geste eines Ver- 12 zichts auf Berlin als Ort der Bundesversammlung würde zur Entspannung bei- 13 tragen.«23 Es ist nicht aufzuklären, ob es eine solche Intervention aus Deutsch- 14 land mit Hinweis auf Bundestagspräsident Gerstenmaier von dem aus dem 15 Widerstand gegen die Nazis befreundeten ehemaligen Bundesverfassungsrich- 16 ter Fabian von Schlabrendorff gegeben hat. So wie ich damals Herrn von 17 Schlabrendorff kennen gelernt habe, hat er sicher nicht den Sowjets nachgeben 18 und die erklärte Absicht von Gerstenmaier unterlaufen wollen, die Bundes- 19 versammlung nach Berlin einzuberufen. Jedenfalls blieb auch die neue ame- 20 rikanische Regierung bei der festen Linie für Berlin. Kissinger soll intern den 21 Standpunkt vertreten haben, »dass man in Berlin in dieser Frage einer klaren 22 festen Linie folgen müsse«. 23 Aber Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger hatte offensichtlich immer noch 24 Bedenken wegen Berlin als Tagungsort der Bundesversammlung. Als Bun- 25 desvorsitzender der CDU hatte er schon – angesichts von Schikanen der DDR 26 auf den Transitstraßen – gezögert, den CDU-Bundesparteitag nach Berlin ein- 27 zuberufen und dort abzuhalten.24 Erst nach vorsichtigen und vertraulichen 28 Sondierungsgesprächen von Generalsekretär mit Vertretern der 29 alliierten Schutzmächte entschied er sich für Berlin als Tagungsort für den 30 Parteitag, der trotz Störung durch Kriegsflugzeuge der UdSSR abgehalten wer- 31 den konnte. Nach diesen Erfahrungen und um die Sowjetunion in der ange- 32 33 34 23 AAPD, 1968, Dok. 413 v. 15.12., S. 1599. 35 24 Vgl. D. KROEGEL (wie Anm. 5), S. 285f.; Ottfried HENNIG, Die Bundespräsenz in West- 36 berlin (Bibliothek Wissenschaft und Politik, Bd. 16), Köln 1975, S. 81. Schon im Sommer 1968 (17.7.1968) hatte der amerikanische Botschafter in Bonn, Henry Cabot Lodge, in vor- 37 sichtigen Wendungen die Frage gestellt, ob es »notwendig sei, in diesem Herbst zwei Bun- 38 destagswochen in Berlin abzuhalten«. Eugen Gerstenmaier verlegte jedenfalls die für den 23. 39 bis 27. September 1968 in Berlin vorgesehene Sitzungswoche nach Bonn (AAPD 1968, Dok. 40 222, Aufzeichnung Staatssekretär Duckwitz, S. 873, Anm. 5). – Eugen Gerstenmeier schildert zurückhaltend seinen Beitrag zur »Berlin-Frage« in seinem Lebensbericht: Streit und Frieden 41 hat seine Zeit, Frankfurt 1981, S. 392–395. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 spannten Lage nach den Prager Ereignissen nicht zu provozieren, wollte der 2 Bundeskanzler sich dafür einsetzen, die Bundesversammlung nicht in Berlin 3 stattfinden zu lassen. Man müsse sich eine elegante Begründung für eine Ver- 4 legung einfallen lassen.25 Über ein Gespräch mit Außenminister Rusk vom 2. 5 Dezember 1968 hat er festgehalten26: »Ich äußerte meine Sorgen und fragte 6 den Außenminister, ob die Amerikaner wirklich so nachdrücklich dazu rieten, 7 die Bundesversammlung in Berlin zu halten. Er sagte, so sei es auch wieder 8 nicht. Man könne es auf die Formel halb und halb bringen. Ich bat ihn, das 9 Problem noch einmal genau zu überdenken.« 10 Die Franzosen hielten sich erkennbar zurück: Am 10. Dezember 1968 no- 11 tierte Willy Brandt über ein Gespräch mit Außenminister Michel Debré: »Er 12 konnte nichts Endgültiges über den Tagungsort Berlin sagen, habe aber nicht 13 den Eindruck, dass die Sowjetunion in dieser Frage bei der französischen Re- 14 gierung besondere Schritte unternommen hätte.«27 15 In der westdeutschen Presse wurden ebenfalls Vorbehalte und Sorgen um 16 den Tagungsort Berlin fleißig geschürt. Von Herbst 1968 bis nach der Bun- 17 desversammlung am 5. März 1969 überschlugen sich verschiedene Organe mit 18 Meldungen und Schlagzeilen, die vor Berlin warnen wollten. Auch die in Op- 19 position befindliche FDP erklärte sich gegen Berlin als Tagungsort.28 20 Die sowjetische Regierung versuchte immer weiter, Bonn von der Bundes- 21 versammlung in Berlin abzubringen. Der damalige Ideengeber von Bundes- 22 außenminister Willy Brandt, Ministerialdirektor , hielt in einer Auf- 23 zeichnung über ein Gespräch mit dem sowjetischen Diplomaten Bondarenko 24 vom 16. Dezember 1968, die Brandt vorgelegt wurde, fest: »Das Gespräch 25 verschärfte und verhärtete sich als das Thema der Bundesversammlung in Ber- 26 lin erwähnt wurde, nachdem ich als persönliche Erwartung den Ort Berlin ge- 27 nannt hatte. Bondarenko betonte mehrfach, er habe keinen Auftrag, Vorstel- 28 lungen zu äußern, steigerte sich aber von Runde zu Runde. ... Die Bundes- 29 versammlung würde die ureigenen Interessen der Sowjetunion ebenso wie die 30 der Mitglieder des sozialistischen Lagers berühren. ... Dieser Gesprächsteil 31 hat fast eine dreiviertel Stunde gedauert. Ich habe mit wachsender Härte unsere 32 33 34 35 25 Vgl. D. TASCHLER (wie Anm. 4), S. 320. 36 26 AAPD, 1968, Dok. 399, Aufzeichnung Kiesingers. 27 AAPD, 1968, Dok. 405 v. 10.12., S. 1568. 37 28 »FDP befürchtet Reaktionen Moskaus« in: Süddeutsche Zeitung v. 6.11.1968. Einige 38 Tage später sahen die Freien Demokraten »keinen sachlichen Anlass, die Wahl des nächsten 39 Bundespräsidenten nicht in West-Berlin vorzunehmen«. , damals FDP-Bundes- 40 vorsitzender, in: FAZ v. 25.11.1968. Schlagzeilen der Presse vom 23.10.1968 bis 7.3.1969 sind aufgeführt in: Die Bundesversammlungen von 1949 bis 1979. Eine Dokumentation aus 41 Anlass der Wahl des Bundespräsidenten am 23. Mai 1984, hg. v. Deutschen Bundestag, 42 S. 171ff. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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Auffassung zu Berlin vertreten und davon gesprochen, dass eine derartige hef- 1 tige Reaktion ... für mich eine wirkliche Überraschung sei.« 29 2 Gerstenmaier wusste über diese diplomatischen Aktivitäten im Hintergrund 3 offensichtlich Bescheid, war aber nicht im einzelnen informiert. Er ahnte ins- 4 besondere die ambivalente Meinung von Bundeskanzler Kiesinger. Am 14. 5 November 1968 hatte er Bundespräsident Lübke auf dessen Wunsch aufge- 6 sucht und ihm »über die Gespräche und Anhörungen, insbesondere zum Ort 7 der Bundesversammlung« berichtet, die aber noch nicht abgeschlossen seien, 8 zumal er noch nicht mit dem Bundeskanzler habe sprechen können. Lübke 9 bat Gerstenmaier, den Termin so festzulegen, dass »die Bundesversammlung 10 nicht stattfände vor oder während der von ihm für Februar 1969 beabsichtigten 11 Afrika-Reise«.30 Gerstenmaier machte deutlich, dass es wohl auf einen Termin 12 in der ersten März-Hälfte hinauslaufe. 13 14 Parlamentsinterne Abstimmung am 5. Dezember 1968 15 16 Um Klarheit über die deutsche Haltung, insbesondere der Bundesregierung 17 zu bekommen, lud Gerstenmaier auf Bitten des Vorsitzenden des Ausschusses 18 für gesamtdeutsche und Berliner Fragen, (SPD), für den 5. De- 19 zember 1968 zu einem Gespräch ein, an dem ich teilgenommen und darüber 20 eine Aufzeichnung gemacht habe. Weil die Überlegungen der einzelnen Teil- 21 nehmer an dieser entscheidenden Beratung für die Zeitgeschichtsforschung 22 von Bedeutung sein können, soll der Text der Aufzeichnung hier wiederge- 23 geben werden, soweit er den Tagungsort betrifft:31 24 25 A u f z e i c h n u n g 26 über ein Gespräch, das der Herr Bundestagspräsident mit Vertretern der Fraktionen 27 und politischen Parteien am 5. Dezember in seinem Amtshaus führte 28 Thema: Ort und Zeitpunkt der Bundesversammlung 29 Der Herr Bundestagspräsident hatte zur Vorbereitung seiner Entscheidung über den 30 Ort und den Zeitpunkt der Bundesversammlung auf Bitten des Vorsitzenden des ge- 31 samtdeutschen Ausschusses verschiedene Vertreter des Gesamtdeutschen und des 32 Auswärtigen Ausschusses, die zuständigen Bundesminister und weitere Persönlich- 33 keiten zu einer Besprechung ins Amtshaus gebeten. Daran nahmen teil: 34 Bundestagspräsident D. Dr. Gerstenmaier, Bundesaußenminister Brandt, 35 Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen Wehner, MdB, 36 Bundestagsvizepräsident Dr. Jaeger, MdB, 37 38 39 29 AAPD, 1968, Dok. 417 v. 17.12. 40 30 Aufzeichnung Gerstenmaier v. 14.11.1968, in meinem Besitz. 31 NL Gerstenmaier im ACDP I-210-037. Die Aufzeichnung war von mir zunächst als 41 »geheim« eingestuft; sie ist später von Gerstenmaier freigegeben worden. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 der Regierende Bürgermeister von Berlin Schütz, 2 der Vorsitzende des Ausschusses für gesamtdeutsche und Berliner Fragen, Franke 3 (Hannover), MdB, 4 der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Dr. Kopf, MdB, 5 Bundesminister a.D. Dr. Gradl, MdB, der Vorsitzende der FDP-Fraktion Mischnick, MdB, 6 der stellv. Vorsitzende der CDU-Fraktion, Dr. Müller-Hermann, MdB, 7 Staatssekretär a.D. von Eckardt, MdB, 8 H. Bauer (Wasserburg) (CSU), MdB, 9 H. Mattick (SPD), MdB, 10 der Direktor des Deutschen Bundestages Trossmann, 11 Regierungsdirektor Dr. Möller. 12 13 I. Ort der Bundesversammlung 14 Zu Beginn des Gesprächs berichtet Bundestagspräsident Dr. Gerstenmaier über die stei- 15 gende Anzahl von Eingaben aus der Bevölkerung zum Ort der Bundesversammlung 16 und über die Berichte in der Presse zu diesem Thema. Der weitaus überwiegende Teil der Briefe, die im Präsidialbüro dazu eingingen, spreche sich gegen Berlin als Ort der 17 Bundesversammlung aus. Er habe sich bislang immer für Berlin ausgesprochen. Ein 18 ihm soeben vorgelegter Bericht des Bundesnachrichtendienstes bestärke ihn in dieser 19 Entscheidung. Die Entscheidung für Berlin werde aber erschwert, weil von Seiten 20 Großbritanniens inoffiziell Bedenken geäußert worden seien. Zwar habe sich die bis- 21 herige Administration der USA nicht gegen Berlin ausgesprochen, es müsse aber die 22 Haltung der neuen Administration abgewartet werden. Er habe Informationen erhalten, 23 nach denen die Nixon-Administration möglicherweise kritisch zu dieser Frage stehe. 24 Solange er eine verlässliche Information namhafter Vertreter der kommenden Admi- 25 nistration nicht erhalten habe, müsse er die Entscheidung zurückstellen, die er an sich 26 in der kommenden Woche im Bundestag habe verkünden wollen. 27 Bundesaußenminister Brandt 28 macht darauf aufmerksam, dass in den letzten Jahren stets eine Statusminderung Berlins 29 habe registriert werden müssen. Für die Bundesversammlung gälten aber besondere 30 Bestimmungen. Nach seiner Auffassung sei die Bundesversammlung das einzige Bun- 31 desorgan, in dem die Berliner Abgeordneten volles Stimmrecht hätten. Er habe sich 32 als Regierender Bürgermeister stets für Berlin als Sitz der Bundesversammlung aus- 33 gesprochen. Davon habe er jetzt nichts zurückzunehmen. Die sowjetische Führung sei 34 nicht an einer Verstärkung einer Krise interessiert. Jedoch könne er diese Aussage nur 35 unter Vorbehalt tun. In Brüssel hätten die westlichen Außenminister ernste Bedenken 36 erhoben insbesondere wegen der Teilnahme von NPD-Vertretern. Daraus sei aber kein 37 Veto entstanden. Rusk sei später den in Brüssel geäußerten Bedenken entgegengetreten und habe dabei auch für die Große Koalition in Washington gesprochen. Aber auch 38 Rusk habe gewisse Bedenken wegen der NPD nicht beiseite schieben können. Das 39 State Department habe dagegen später übermitteln lassen, die USA könnten nicht ver- 40 stehen, wenn man sich nicht für Berlin entscheiden würde. 41 Bundesaußenminister Brandt berichtet weiter von dem Besuch des Parlamentarischen 42 Staatssekretärs im BMVtdg. in den USA, dem gegenüber der amerikanische Verteidi- Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Eugen Gerstenmaier und die Bundesversammlung in Berlin 103 gungsminister Clifford die Hoffnung ausgedrückt habe, die allgemeine politische Si- 1 tuation lasse die Wahl in Berlin zu. Wenn der BND-Bericht zutreffe, den der Bundes- 2 tagspräsident verlesen habe, spreche alles dafür, die Entscheidung für Berlin vor dem 3 20. Januar 1969 bekannt zu geben. 4 Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen Wehner 5 macht pflichtgemäß auf Bedenken aufmerksam, weil durch die Teilnahme der NPD- 6 Vertreter der Vorwand für direkte Behinderungen seitens der Machthaber Pankows ge- 7 geben sei. Außerdem könne die Tagung in Berlin ein nachträglicher Berufungsgrund 8 für Maßnahmen gegen Berlin sein: Umkehrung der Berliner Blockade (Kontrolle der 9 Lieferungen aus Berlin), Verschärfung der Visum-Frage etc. 10 Abg. Dr. Müller-Hermann 11 betont, wenn jetzt auf eine Sitzung in Berlin verzichtet werde, müsse das faktische und 12 psychologische Rückwirkungen haben. Aber gewisse Risiken seien nicht übersehbar. 13 Deshalb müsse enge Verbindung mit den Schutzmächten gehalten werden. Er glaube 14 nicht, dass die UdSSR es soweit treiben werde, dass es zu Schwierigkeiten mit der 15 neuen Administration in den USA komme. Sein Vorschlag sei, die Bundesversamm- 16 lung nach der alphabetischen Reihenfolge der deutschen Landeshauptstädte einzube- rufen. Dann sei im nächsten Jahr zunächst Berlin an der Reihe. An Berlin müsse auf 17 jeden Fall festgehalten werden. 18 19 Dr. Gradl, MdB 20 ist der Auffassung, dass man einer Krise nicht deshalb entgehe, wenn man auf Berlin 21 verzichte. Je länger man jedoch mit der Entscheidung warten würde, desto unsicherer könnten die Alliierten werden. Es sei deshalb äußerst wesentlich, sich schnell für Berlin 22 zu entscheiden. Er glaube nicht daran, dass die Russen einen Gesichtsverlust erleiden 23 würden, wenn sie keine ›Maßnahmen‹ gegen Berlin ergreifen. Dr. Gradl gab den Rat: 24 ›Schnell entscheiden, Berlin wählen!‹ 25 26 Abg. Dr. Kopf 27 spricht sich gegen Berlin als Sitz der Bundesversammlung aus. Zwar sei kein großer Konflikt mit Russland zu erwarten, wohl auch kein durchgreifendes Veto der Alliierten. 28 Aber die Risiken, die in einer Entscheidung für Berlin lägen, müssten respektiert wer- 29 den: Dauernde Behinderung für Berlin-Verkehr mit dauernder Schädigung des Status 30 Berlin und der Lage der Bevölkerung. Der Riss mit Berlin würde unverkennbar größer 31 werden. Deshalb sein Rat: Wahl nicht in Berlin. 32 Abg. Mattick 33 stellt zunächst die Frage, was damals der aktuelle Anlass des Visumzwanges gewesen 34 sei. Er komme zu dem Ergebnis, dass kein gravierender Anlass vorgelegen habe. 35 Wenn die SBZ den Verkehr von und nach Berlin behindern wolle, tut sie es so oder 36 so – auch ohne Anlass. Wenn der Bundestagspräsident sich jetzt nicht für Berlin 37 entscheide, dann hätten die Berliner das Gefühl des Verlassenseins. Die große Mehr- 38 heit der Berliner würde Verständnis auch für evtl. Risiken aufbringen. Wenn jetzt 39 nachgegeben werde, würden die Russen unverkennbar nachstoßen. Er spricht sich 40 für Berlin aus. 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Abg. von Eckardt 2 äußert Zweifel, ob eine Entscheidung für Berlin richtig ist. Es müsse gefragt werden, 3 ob die USA eine Entscheidung für Berlin als eine Behinderung des Dialogs mit Moskau 4 betrachten könnten. Deshalb solle schnell mit den außenpolitischen Vertrauten des de- 5 signierten Präsidenten Nixon Kontakt aufgenommen werden. Er sei zwar grundsätzlich für Berlin als Ort der Bundesversammlung, könne aber die Bedenken nicht übersehen. 6 7 Abg. Mischnick, 8 der Vorsitzende der FDP-Fraktion, zeigt sich überrascht über die Mitteilung des Herrn 9 Bundestagspräsidenten über mögliche Bedenken der neuen amerikanischen Admini- 10 stration. Dennoch sollten auch Risiken in Kauf genommen werden. Pankow werde so oder so Behinderungen des Berlin-Verkehrs erfinden und durchsetzen können. Er 11 spricht sich eindeutig für Berlin aus. Eine schnelle Entscheidung über Zeit und Ort sei 12 leichter. 13 14 Abg. Bauer (Wasserburg) 15 schließt sich der Argumentation und dem Vorschlag von Abg. Mischnick völlig an. 16 Auch er ist der Meinung, dass eine Entscheidung für Berlin nur ein Anlass für Behin- derungen sei, die die Machthaber in Pankow auch so verhängen könnten. Er gibt den 17 Rat, die Entscheidung für Berlin noch im Dezember bekannt zu geben. 18 19 Bundestagspräsident Dr. Gerstenmaier 20 erwidert darauf, er habe ursprünglich die Entscheidung für Berlin im Plenum des Bun- 21 destages bekannt geben wollen in der kommenden Woche. Er hoffe trotz der Bedenken, über die er berichtet habe, den Termin noch einhalten zu können. 22 23 Bundestagsvizepräsident Dr. Jaeger 24 hält den Gedanken, abwechselnd in den Hauptstädten der deutschen Bundesländer reih- 25 um zu wählen, für recht gut. Aber das Volk werde dann skeptisch äußern, jetzt habe 26 sich der Bundestagspräsident ja eine schöne Lösung ausgedacht. Bei der bevorstehen- den Wahl des Bundespräsidenten komme man aber an Berlin nicht vorbei. Berlin sei 27 verfassungsrechtlich ein Teil der Bundesrepublik. Wenn jetzt nicht in Berlin gewählt 28 werde, sei das eine selbstverschuldete Statusminderung. Die Machthaber in Pankow 29 würden auch andere Anlässe für Behinderungen finden. Eine schnelle Entscheidung 30 sei zur Vermeidung weiterer Pressepolemiken dringend anzuraten. 31 Abg. Franke 32 bedauert, dass die Überlegungen über den Ort der Bundesversammlung so spät ange- 33 stellt worden seien. Wenn jetzt gegen Berlin entschieden werde, werde die Lage ka- 34 tastrophal. Der Status Berlins sei auch dadurch bestimmt, da es keine berechenbare 35 Reaktion der Russen gäbe. Je früher die Entscheidung für Berlin falle, desto besser. 36 37 Regierender Bürgermeister Schütz bestätigt, dass der Bundestagspräsident vor einer schwierigen Entscheidung stehe, aber 38 er könne gar nicht anders, als Berlin zu wählen. Für einen deutschen Bundestagsprä- 39 sidenten gebe es keine andere Entscheidung, Wer sich in den vergangenen Berlinkrisen 40 1948, 51 und auch 59 für Berlin entscheiden habe, könne nicht heute entgegengesetzt 41 votieren. Die Frage, ob heute neue oder andere Momente als 1959 gegeben seien, könne 42 er nur negativ beantworten. Er habe davon nichts gemerkt. Die Geschäftsgrundlage Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Eugen Gerstenmaier und die Bundesversammlung in Berlin 105 für Berlin habe sich nicht geändert. Deshalb sein Rat: Eine möglichst schnelle Ent- 1 scheidung für Berlin. 2 Bundestagspräsident Dr. Gerstenmaier 3 nimmt die Bemerkung vom Regierenden Bürgermeister Schütz auf und betont, dass 4 er sich gegen Berlin werde aussprechen müssen, wenn die Alliierten ernsthafte Beden- 5 ken vorbringen würden. Aus den Äußerungen der Gesprächsteilnehmer komme er jetzt 6 zu folgendem Resultat: 7 9 Stimmen für Berlin (ohne Bedingungen) 8 2 Stimmen für Berlin, aber mit Vorbehalten (Wehner und Eckardt) 9 1 Stimme gegen Berlin (Dr. Kopf). 10 11 12 Weitere Attacken gegen Berlin als Tagungsort nach der Entscheidung Ger- stenmaiers 13 14 Nach dieser Erörterung am 5. Dezember 1968 legte Gerstenmaier gegenüber 15 dem Bundestag und der Presse den Termin und den Tagungsort fest: 5. März 16 1969 in Berlin.32 In einem ergänzenden Interview33 mit der Deutschen Welle 17 erläuterte er am 10. Dezember 1968 die Entscheidung für Berlin: »Hier stand 18 die Glaubwürdigkeit der deutschen Politik zur Probe, und diese Probe musste 19 bestanden werden. Diese Entscheidung hat also einige Fehlentscheidungen und 20 falsche Kalkulationen beseitigt, und die Entscheidung hat anderen geholfen zu 21 erkennen, für wie wichtig es die deutsche Politik hält, dass die Bindungen Ber- 22 lins an das Rechts-, Wirtschafts- und Finanzsystem des freien Deutschland so 23 erhalten bleiben, wie wir sie über die Jahre hin entwickelt haben.« 24 Zum Hauptmotiv für die Wahl verwies er auf die bisherige Praxis der Bun- 25 desversammlung in Berlin in den Jahren 1954, 1959 und 1964: »Die Frage 26 für mich stellte sich also so: Warum nun eigentlich dieses Mal ausgerechnet 27 nicht? Und da fand ich kein hinreichendes und durchschlagendes Argument.« 28 Eugen Gerstenmaier betonte, die »Schutzmächte nicht konsultiert« zu haben, 29 weil »das Grundgesetz dem Bundestagspräsidenten die Verantwortung allein 30 auferlegt« habe. Die Schutzmächte hätten »Bedenken erheben können, Ein- 31 spruch geltend machen können, wenn sie das gewollt hätten. Sie haben es nicht 32 getan!« Einsprüche gab es nicht; hinter dem diplomatischen Vorhang wurden 33 34 35 36 32 Dokumente zur Deutschlandpolitik V/2, S. 1618. Bundesversammlung Berlin 1969 – 37 Eine Dokumentation, zusammengestellt von der Wissenschaftlichen Abteilung/Pressedoku- 38 mentation des Bundestages, enthält 82 Dokumente: Das US-State-Department erklärte am 39 14.12.1969 zur Bundesversammlung: »Die Wahl des Tagungsortes bleibt deutschen Stellen 40 überlassen.« 33 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Kommentarübersicht Nr. 212 v. 41 20.12.1968, Anhang. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 aber Vorbehalte gegen den Tagungsort Berlin aufrechterhalten: Die sowjeti- 2 sche Regierung versuchte in der Folgezeit weiterhin die Sitzung in Berlin zu 3 verhindern bzw. die Bundesregierung für die Folgen verantwortlich zu ma- 4 chen. Die britische Regierung hielt die Entscheidung Gerstenmaiers erneut für 5 »unglücklich«. 6 Am 24. Dezember 1968 unterrichteten sich die Botschafter der USA, Groß- 7 britanniens und Frankreichs, dass sie in Moskau am 23. Dezember 1968 »ein- 8 zeln in das sowjetische Außenministerium gebeten worden seien, um dort 9 eine mündliche Protesterklärung gegen die Abhaltung der Bundesversamm- 10 lung in Berlin entgegenzunehmen«.34 Zwar glaubte das Auswärtige Amt in 11 Bonn, dass »die Sowjetunion einen harten Kurs gegen die Bundesversamm- 12 lung vermeiden wolle«, es musste aber zur Kenntnis nehmen, dass die so- 13 wjetische Regierung die Bundesversammlung in Berlin »als illegale Aktivität 14 betrachtete, die die Sicherheit des Zugangs in Frage stelle«.35 Die Entschei- 15 dung von Gerstenmaier »sei für die sowjetische Seite von bemerkenswerter 16 Deutlichkeit, und die sich daraus ergebenden Folgen werde die Bundesregie- 17 rung allein zu tragen haben«, wie es der stellvertretende Außenminister der 18 UdSSR Semjonow dem deutschen Botschafter in Moskau am 3. Januar 1969 19 angekündigt hatte.36 Auch der britische Außenminister Michael Stewart »äu- 20 ßerte starke Besorgnisse über die Folgen der Abhaltung der Bundesversamm- 21 lung in Berlin. Er hielt den Entschluss des Bundestagspräsidenten für un- 22 glücklich. Hier sei ohne Not den Russen willkommener Sprengstoff geliefert 23 worden, über dessen Gefährlichkeit wir uns ... noch kein Bild machen könn- 24 ten.«37 25 Diese Äußerungen aus sowjetischer und britischer Sicht haben »dem Aus- 26 wärtigen Amt Veranlassung gegeben, den Beschluss des Bundestagspräsiden- 27 ten zu überdenken«. Obwohl die amerikanische Regierung sich schon öffent- 28 lich erklärt hatte,38 gab Staatssekretär Duckwitz in einem »streng geheimen 29 Fernschreiben« dem deutschen Botschafter in Washington die Weisung, mit 30 der neuen amerikanischen Regierung zu klären, ob die Amerikaner bereit sei- 31 en, den »Russen zu erklären, dass sie bereit seien, auf die Bundesregierung 32 einzuwirken, von der Abhaltung der Bundesversammlung in Berlin abzuse- 33 hen.« Als Ansprechpartner für diese Überlegungen wurde Prof. Kissinger emp- 34 fohlen, »von dem angenommen wird, dass er kein Befürworter der Abhaltung 35 36 37 38 34 AAPD, 1968, Dok. 427 v. 24.12., S. 1646. 39 35 AAPD, 1969, München 2000, Dok. 16, Anm. 8. 40 36 Fernschreiben der deutschen Botschaft in Moskau an Außenminister Brandt v. 5.1.1969, AAPD, 1969, Dok. 2, S. 69. 41 37 Aufzeichnung Staatssekretär Duckwitz v. 20.1.1969, AAPD, 1969, Dok. 25, S. 96f. 42 38 R. Morsey (wie Anm. 2) S. 99 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Eugen Gerstenmaier und die Bundesversammlung in Berlin 107 der Bundesversammlung in Berlin ist, wenn er sich auch öffentlich anders aus- 1 gesprochen hat.«39 2 Wie brisant die Frage des Tagungsortes inzwischen geworden war, kam 3 auch in einer Warnung des sowjetischen Botschafters in Ostberlin, Abrassi- 4 mow, in einem Gespräch am 31. Dezember 1969 mit dem Regierenden Bür- 5 germeister Klaus Schütz, der für Berlin votiert hatte,40 zum Ausdruck: »Die 6 UdSSR sei niemals damit einverstanden gewesen, dass die Bundesversamm- 7 lung in Berlin abgehalten würde. Ihre Langmut sei einmal zu Ende, und er 8 müsse auf die ernsten Folgen hinweisen, die sich für die Bevölkerung der Stadt 9 ergeben könnten, wenn jetzt die Bundesversammlung in Berlin abgehalten 10 würde.«41 11 Bei einem Besuch des sowjetischen Botschafters Zarapkin bei Bundesau- 12 ßenminister Brandt auf der Bühlerhöhe am 6. Februar 1969 konnte Willy 13 Brandt ihm »allerdings heute nicht in Aussicht stellen, dass die vom Bundes- 14 tagspräsidenten seinerzeit getroffene Entscheidung wegen der Präsidenten- 15 wahl geändert werde«.42 Diese Klarstellung war sicherlich realistisch. Eugen 16 Gerstenmaier war zu diesem Zeitpunkt zwar schon zurückgetreten, er hatte 17 aber – trotz seiner persönlichen Probleme wegen der Wiedergutmachung und 18 der dadurch öffentlich erzwungenen Rücktrittserklärung – die Entscheidung 19 für den 5. März 1969 mit Tagungsort Berlin so festgezurrt, dass eine Umkehr 20 für seinen Nachfolger nicht mehr möglich wurde. 21 22 Passierschein-Abkommen als Tausch für die Verlegung des Tagungsortes der 23 Bundesversammlung? 24 25 Nach der Entscheidung Gerstenmaiers für Berlin bot die DDR am 21. Februar 26 1969 in einem Brief an den SPD-Vorsitzenden Willy Brandt für Ostern 1969 27 Passierscheine für West-Berliner an, wenn im Gegenzug die Bundesversamm- 28 lung in eine andere Stadt verlegt werde.43 Bundeskanzler Kiesinger, der über 29 dieses Schreiben an Brandt von informiert wurde, lud den 30 sowjetischen Botschafter in Bonn Zarapkin zu einem Gespräch über dieses 31 Thema nach Stuttgart ein. Dabei machte Kiesinger deutlich, dass es mit der 32 einmaligen Ausgabe von Passierscheinen gegen den Verzicht auf Berlin als 33 34 35 39 Staatssekretär Duckwitz an Botschafter Pauls v. 23.1.1969, AAPD, 1969, Dok. 29, S. 36 109f. Am 5.11.1968 war Richard Nixon mit knapper Mehrheit zum US-Präsidenten gewählt worden. Er berief Prof. Henry Kissinger (am 2.12.1968) zu seinem Sicherheitsbeauftragten. 37 Vgl. Henry A. KISSINGER, Memoiren 1968–1979, München 1979, S. 47ff. 38 40 Aufzeichnung des Gesprächs v. 5. 12. 1968. 39 41 AAPD, 1969, v. 17.2., Dok. 46, Anm. 6. 40 42 Gespräch Brandt z.Zt. Bühlerhöhe mit Zarapkin, AAPD, 1969, v. 6.2., Dok. 46, S. 154. 43 Einzelheiten bei: D. KROEGEL (wie Anm. 5), S. 293ff. und D. TASCHLER (wie Anm. 4), 41 S. 321. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Tagungsort nicht getan sei, notwendig sei vielmehr eine langfristige Besuchs- 2 regelung für West-Berliner.44 Gerhard Wettig hat über dieses »Passierschein- 3 Intermezzo« zeitnah und ausführlich berichtet.45 Die Erwartung Kiesingers, 4 dass die Sowjets auf seine Forderung eingehen würden, wurde bald enttäuscht. 5 Es kam zu keinem Nachgeben des Kreml, obwohl die Drohungen aus Moskau 6 und die Attacken aus Ostberlin offensichtlich Eindruck bei wichtigen Politi- 7 kern der Bundesrepublik gemacht hatten. 8 9 Erneut Bedenken gegen Berlin 10 11 Am 20. Februar 1969 erklärte der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP- 12 Bundestagsfraktion Hans-Dietrich Genscher, »die Bereitschaft seiner Partei, 13 zusammen mit der Bundesregierung die ›endgültige Ortswahl‹ für die Bun- 14 desversammlung zu überprüfen: Der FDP-Abgeordnete sagte, die Freien De- 15 mokraten würden der Regierung nicht in den Rücken fallen, wenn der Bun- 16 deskanzler aufgrund neuer Informationen sein Votum für Berlin ändere. Berlin 17 sei für die FDP keine Prestigefrage und kein Gegenstand parteipolitischer Aus- 18 einandersetzungen.«46 19 Auch Egon Bahr bedauerte offensichtlich, »dass wir nicht einmal die Mög- 20 lichkeit des Wechsels von Gerstenmaier zu Hassel ausgenutzt haben«, eine 21 Änderung herbeizuführen. »Es kann sein, dass wir für die Bundesversammlung 22 sehr teuer bezahlen.«47 – so Bahr in diesem Brief an Brandt 23 – teile die Auffassung von Bahr, ebenso Herbert Wehner, der sich jedoch in 24 einer schwierigen Lage befinde, da er immer »gegen Berlin gewesen sei«. In 25 einem Schreiben vom 27. Februar 1969 an den Verbindungsmann zur DDR- 26 Regierung, Rechtsanwalt Wolfgang Vogel (Ostberlin), versuchte Wehner ei- 27 nen Weg zu einer Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik und der DDR 28 aufzuzeigen: »Die Bundesversammlung muss nicht in Berlin tagen«, anderer- 29 seits: »speziell Berliner Probleme, insbesondere die Möglichkeiten zur Auf- 30 hebung der Benachteiligung West-Berlins im Verkehr mit dem anderen Teil 31 Deutschlands sollten zu verhandeln sein.«48 Bei der interfraktionellen Bespre- 32 chung über den Tagungsort der Bundesversammlung beim Bundestagspräsi- 33 34 35 44 D. KROEGEL (wie Anm. 5), S. 295. 36 45 Gerhard WETTIG, Die Berlin-Krise 1969. Ein Musterfall des Zusammenspiels von Sow- jetdiplomatie und -propaganda, in: Osteuropa 19 (1969), S. 685–697. 37 46 AAPD, 1969, Bahr an Brandt v. 21.2., Dok. 72, S. 151. 38 47 AAPD, 1969, EBD. S.151. Auch Bundeskanzler Kiesinger äußerte am 21.1.1965 in der 39 CDU/CSU-Fraktion erneut Bedenken, aber auch die Hoffnung, »dass wir uns mit dieser einmal 40 eingenommenen und beschlossenen Haltung (Tagung in Berlin) so durchsetzen werden, dass keinerlei Störungen erfolgen«. (Protokoll der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ACDP VII-001- 41 1018/1, S. 30). 42 48 D. KROEGEL (wie Anm. 5), S. 298f. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Eugen Gerstenmaier und die Bundesversammlung in Berlin 109 denten am 5. Dezember 1968 hatte Wehner lediglich pflichtgemäß Bedenken 1 gegen Berlin vorgetragen.49 In einer Sondersitzung des CDU-Bundesvorstan- 2 des am 11. Februar 1969 erklärte Bundeskanzler Kiesinger deutlich: »Die Ent- 3 scheidung ist gefallen.«50 4 5 Kai-Uwe von Hassel übernimmt Gerstenmaiers Entscheidung für Berlin 6 7 Gerstenmaier hatte die alte Hauptstadt Berlin als Tagungsort51 der Bundes- 8 versammlung gegen vielfältige offene und verdeckte Bedenken durchgesetzt 9 und dadurch die Position dieser Stadt entscheidend gestärkt. Der neue Bun- 10 destagspräsident Kai-Uwe von Hassel übernahm die Entscheidung seines Vor- 11 gängers und berief die Bundesversammlung nach Berlin ein, nachdem er mit 12 dem Bundeskanzler, dem Außenminister, dem Regierenden Bürgermeister von 13 Berlin und den Fraktionsvorsitzenden beraten und festgestellt hatte, dass »kein 14 Anlass bestehe, die Bundesversammlung an einen anderen Ort zu verlegen«.52 15 Trotz der Ankündigungen des sowjetischen Vertreters in der damals für die 16 Luftsicherheit um Berlin verantwortlichen «Alliierten Luftsicherheitszentra- 17 le«, die Sowjetunion könne nicht mehr für die Sicherheit des Flugverkehrs 18 nach Berlin garantieren, verliefen die Flüge von und nach Berlin reibungslos.53 19 Am Tag der Präsidentenwahl sperrten die DDR-Behörden zwar für drei Stun- 20 den die drei Autobahnverbindungen nach Berlin, der Verkehr über die Bahn 21 und in der Luft verlief aber normal.54 22 Bei seiner Eröffnungsansprache vor der Bundesversammlung hat Kai-Uwe 23 von Hassel die Wahl Berlins als Sitz der Bundesversammlung noch einmal 24 deutlich unterstrichen: »Wir haben uns zum vierten Male in der Geschichte 25 der Bundesrepublik Deutschland hier in der alten deutschen Hauptstadt Berlin 26 zur Wahl des Bundespräsidenten versammelt. Die Sowjetunion und andere eu- 27 ropäische Staaten haben sich in diplomatischen Erklärungen gegen die Ein- 28 berufung nach Berlin ausgesprochen. Die Sowjetunion und die Behörden im 29 anderen Teil Deutschlands haben mit großen propagandistischen Anstrengun- 30 31 32 49 Siehe oben S. 103. 33 50 ACDP VII-001-017/4. In dieser Sitzung hat Gerstenmaier seine Entscheidung nur noch kurz angesprochen, dagegen aber ausführlich zur Friedenspolitik der CDU Stellung genommen. 34 Max Schulze-Vorberg äußerte Bedenken gegen die Bundesversammlung in Berlin. 35 51 Karl CARSTENS, damals Staatssekretär im Bundeskanzleramt, hat in seinen Erinnerun- 36 gen (wie Anm. 2), S. 766f. berichtet, dass sich die Bundesregierung mehrfach mit der Bun- desversammlung in Berlin befasst habe. Kiesinger sprach sich zunächst im Oktober 1968 in 37 internen Besprechungen dagegen aus. »Nachdem der Bundestagspräsident die Bundesver- 38 sammlung nach Berlin einberufen habe, sei eine Änderung dieser Entscheidung nicht mehr 39 möglich. Dem stimmten alle Mitglieder des Kabinetts zu.« 40 52 D. TASCHLER (wie Anm. 4), S. 321 und D. KROEGEL (wie Anm. 5), S. 290. 53 FAZ v. 4.3.1969. 41 54 FAZ v. 6.3.1969. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 gen, mit der Ankündigung neuer Verkehrsbeschränkungen, mit Pressionen und 2 einem verschärften Nervenkrieg versucht, unsere Anwesenheit hier in Berlin 3 zu verhindern. Die deutsche und die ausländische Öffentlichkeit hat sich mit 4 dem Für und Wider auseinandergesetzt. Ich habe selbst manchen Brief erhal- 5 ten, in dem die Sorge um Berlin und um den Frieden in oftmals bewegten 6 Worten ihren Ausdruck fand. Die 5. Bundesversammlung ist nicht zusammen- 7 getreten, um irgendjemanden zu provozieren. Wer uns dennoch Provokationen 8 vorwirft, übersieht oder verschweigt, dass wir nichts beanspruchen, was uns 9 nicht zusteht. Wir beeinträchtigen niemanden in seinen Rechten, wir können 10 deshalb auch niemanden provozieren. ... Im Namen der Bundesversammlung 11 danke ich den Regierungen von Großbritannien, Frankreich und den Verei- 12 nigten Staaten von Amerika dafür, dass sie die Sicherheit und die Freiheit 13 Westberlins solidarisch gewährleisten. … Diese 5. Bundesversammlung will 14 mit ihrer Anwesenheit im geteilten Berlin zum Ausdruck bringen, dass sie 15 sich zum Frieden, zur Freiheit und zum Recht für alle Menschen in der ganzen 16 Welt bekennt.«55 17 Gustav Heinemann (SPD)56 wurde im dritten Wahlgang gegen Gerhard 18 Schröder (CDU/CSU) mit 512 gegen 506 Stimmen bei 5 Enthaltungen zum 19 neuen Bundespräsidenten gewählt.57 Mit seiner Wahl trat »ein Stück Macht- 20 wechsel« in Deutschland ein, wie es Heinemann in einem Zeitungsinterview 21 mit der Stuttgarter Zeitung selbst interpretiert hat.58 So kam es denn auch. 22 Nach der anschließenden Bundestagswahl 1969 bildeten Brandt und Scheel 23 die erste sozial-liberale Bundesregierung. Die Koalition von SPD und FDP 24 hielt bis zum 1. Oktober 1982 als zum Bundeskanzler gewählt 25 wurde. 26 27 Die Entscheidung für Berlin war durchgesetzt – Gerstenmaier wurde zermürbt 28 29 Die Bemühungen der DDR, mit Hilfe der Machthaber in der UdSSR auf di- 30 plomatischer Ebene den Bundestagspräsidenten von der Einberufung der Bun- 31 desversammlung nach Berlin abzubringen, waren in den Monaten zuvor be- 32 gonnen, ständig verstärkt und mit perfiden Angriffen auf Eugen Gerstenmaier 33 wegen seiner Tätigkeit im Dritten Reich begleitet worden. Von westdeutschen 34 35 36 55 Sten. Ber. 5. WP, Bd. 69, Anhang S. 1-9; Die Bundesversammlung 1949–1979 (wie Anm. 28), S. 164ff. 37 56 Zur Persönlichkeit Heinemanns: Walter HENKELS, in: FAZ v. 6.3.1968 und Stuttgarter 38 Zeitung v. 27.9.1967. 39 57 Über die Rolle der FDP in dieser Bundesversammlung hat Klaus HILDEBRAND über- 40 zeugend berichtet: Von Erhard zur Großen Koalition 1963–1969 (Geschichte der Bundesre- publik Deutschland, Bd. 4), Mannheim 1984, S. 393ff. 41 58 Vgl. M. GÖRTEMAKER (wie Anm. 3), S. 496 und R. MORSEY (wie Anm. 2), S. 112; 42 insbes. Arnulf BARING, Machtwechsel, die Ära Brandt/Scheel, München 1984, S. 121f. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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Presseorganen wurden diese Verdächtigungen geflissentlich aufgenommen, 1 vorwurfsvoll aufbereitet und millionenfach verbreitet.59 Sie gipfelten in dem 2 Vorwurf, dass Gerstenmaier sein Todesurteil durch den Volksgerichtshof 3 durch Verrat an den Mitverschwörern des 20. Juli 1944 verhindert habe.60 Er 4 war immerhin zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt worden. In dieser Kam- 5 pagne gegen ihn wurde dann behauptet, er habe die Wiedergutmachung nach 6 dem Wiedergutmachungsgesetz zu Unrecht in Anspruch genommen und führe 7 den Professorentitel zu Unrecht. Diese Verdächtigungen verleiteten eine Reihe 8 von Bundesbürgern zu Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft wegen Betruges 9 und anderer strafrechtlicher Delikte. 10 11 Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen Gerstenmaier 12 13 Nach dem Rücktritt vom Amt des Bundestagspräsidenten mit Wirkung vom 14 1. Februar 1969 leitete die Bonner Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfah- 15 ren ein, das fast sechs Jahre dauerte: Am 25. Oktober 1974 stellte sie – unter 16 deutlicher Zurückweisung der Anzeigen – das Verfahren ein. Fast sechs Jahre 17 hat die Staatsanwaltschaft Bonn mehr als zwei Dutzend Anzeigen gegen Ger- 18 stenmaier geprüft – sehr sorgfältig, sehr gründlich, langsam und anfangs wohl 19 auch mit einem gewissen Anflug von Voreingenommenheit, aber immer kor- 20 rekt. 21 Gerstenmaier berichtet in seinem Lebensbericht61 relativ kurz über dieses 22 Verfahren. Man spürt, wie ihm durch diese Anzeigen Unrecht geschehen ist und 23 wie sehr er sich den Veröffentlichungen aus der DDR ausgeliefert fand, auf die 24 sich die Anzeigeerstatter fast ausschließlich beriefen. Er hat Recht mit seiner 25 Klage über »die bestürzende Ungleichheit der Waffen gegenüber den Massen- 26 medien, vor allem gegenüber Rundfunk und Fernsehen«. Selbst nach seinem 27 Tod fiel der Westdeutsche Rundfunk in seinem »Kritischen Tagebuch vom 28 27.12.1992«62 noch einmal mit Behauptungen, Vermutungen und Andeutungen 29 über ihn her, die aus der früheren Fälscherwerkstatt der Stasi stammten und 30 längst von der Staatsanwaltschaft Bonn widerlegt waren. Von der Einstellung 31 32 33 59 Die Seelenverwandtschaft und Kumpanei bekannter westdeutscher Journalisten und ihre »Affinität zu den kommunistischen Diktatoren«, insbesondere die Rolle des »Stern« legt offen: 34 Hubertus KNABE, Der diskrete Charme der DDR. Stasi und Westmedien, Berlin 2001, insbes. 35 S. 250ff. (»Die Gerstenmaier-Kampagne«). Ferner Roger ENGELMANN, Gefangener der Vor- 36 eingenommenheit, in: FAZ v. 27.7.2001; H. KNABE, Republik (wie Anm. 16). 60 H. KNABE, Stasi und Westmedien (wie Anm. 59), S. 257. 37 61 E. GERSTENMAIER (wie Anm. 24), S. 592f. 38 62 WDR 3, Sendemanuskript 921227 Otto Köhler; zu Köhler vgl. H. KNABE, Stasi und 39 Westmedien (wie Anm. 59), S. 468, Anm. 245; Helmut MÜLLER-ENBERGS (Hg.): Inoffizielle 40 Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, Berlin 1996, S. 228, Anm. 975. – Durch Urteil des Landgerichts Köln (Az: 28 0 188/93) wurden Otto Köhler einige falsche Behaup- 41 tungen über Eugen Gerstenmaier untersagt. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 des Verfahrens und den dabei getroffenen Feststellungen der Staatsanwaltschaft 2 wurde in diesem Tendenzbericht des WDR mit keinem Wort gesprochen. 3 Mit der definitiven Festlegung des Tagungsortes Berlin für die Bundesver- 4 sammlung hatten die Agitatoren der Stasi ihr Ziel zwar verfehlt, aber Gersten- 5 maier gestürzt. Ihm blieb nur der lange und deprimierende Weg eines Be- 6 schuldigten in dem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren. So sehr es 7 zu beklagen ist, dass das Verfahren von 1969 bis 1974 so lange gedauert hat, 8 so sehr ist anzuerkennen, dass der Erste Staatsanwalt Jürgen Zädow peinlichst 9 genau alle Vorwürfe, Vermutungen, Andeutungen und Anwürfe geprüft hat 10 und dann auch überzeugend zur Einstellung des Verfahrens gekommen ist, 11 durch die praktisch alle Anschuldigungen aus der DDR eindeutig widerlegt 12 wurden.63 13 Die Einstellungsverfügung der Bonner Staatsanwaltschaft ist 250 DIN A4- 14 Seiten64 lang und eine deutliche Rehabilitierung Gerstenmaiers. Sie kam nur 15 viel zu spät, als die Zeit über ihn hinweggegangen war. Historiker und die 16 politische Wissenschaft werden sich auf diese Arbeit der Bonner Staatsan- 17 waltschaft stützen können, weil der Lebensweg Gerstenmaiers durch den Na- 18 tionalsozialismus bis ins Detail nachgezeichnet und belegt worden ist. 19 Ich kann hier nur einige mir wegen ihrer politischen Bedeutung besonders 20 wichtig erscheinende Punkte herausgreifen, die Gegenstand der Anzeigen und 21 der Prüfung durch die Staatsanwaltschaft waren. 22 23 Gerstenmaier – Ziel brauner und roter Verfolgung! 24 25 Gerstenmaier ist Zeit seines Lebens brauner und roter Verfolgung ausgesetzt 26 gewesen. Am Tag des Attentats auf durch Oberst Klaus Graf 27 Schenck von Stauffenberg wurde er in der Bendlerstraße in Berlin verhaftet, 28 musste mit standrechtlicher Erschießung rechnen und wurde anschließend in 29 der Haft gefoltert und gequält. Im Januar 1945 verurteilte ihn der Volksge- 30 richtshof unter dem Vorsitz von zu sieben Jahren Zuchthaus, 31 die er im Zuchthaus in Bayreuth verbringen musste. Am 14. April 1945 wurde 32 er von den Amerikanern befreit. Er hat diese Zeit in seinem Lebensbericht 33 anschaulich geschildert.65 Über »Gerstenmaier im Dritten Reich« hat der Wi- 34 derstandskämpfer und spätere Bundesverfassungsrichter Fabian von Schlab- 35 rendorff 196566 überzeugend berichtet. Auf diese Dokumentation über das 36

37 63 E. GERSTENMAIER (wie Anm. 24), S. 592f. 38 64 Staatsanwaltschaft Bonn – 8 Js 544/69 v. 2.10.1974. 39 65 E. GERSTENMAIER (wie Anm. 61), S. 223ff. Brigitte GERSTENMAIER hat nach dem Tod 40 ihres Mannes Briefe und Berichte 1939–1969 unter dem Titel: Zwei können widerstehen, Bonn 1992, veröffentlicht, in dem Briefe aus dem Zuchthaus enthalten sind. 41 66 Fabian VON SCHLABRENDORFF, Eugen Gerstenmaier im Dritten Reich. Eine Dokumen- 42 tation, Stuttgart 1965. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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Verhalten Gerstenmaiers im Dritten Reich beziehen sich fast alle späteren Un- 1 tersuchungen.67 2 Gerstenmaier hatte nach seiner Promotion zum Lic. theol.68 in sich 3 1936/37 durch eine Arbeit »Die Kirche und die Schöpfung« habilitiert. Diese 4 Habilitationsschrift erschien 1938 im Furche-Verlag. Wegen seiner dezidierten 5 Ablehnung des Nationalsozialismus wurde Gerstenmaier aber die Ausübung 6 der Lehrbefugnis als Dozent und auch die Ernennung zum Professor verwei- 7 gert. Seine »politische Unzuverlässigkeit« im nationalsozialistischen Sinne 8 verhinderte den angestrebten akademischen Lebensweg. Er wurde Wissen- 9 schaftlicher Hilfsarbeiter und am 8. April 1941 Konsistorialrat im kirchlichen 10 Außenamt der Evangelischen Kirche Deutschlands. Nach Beendigung des 11 Krieges gründete er das »Evangelische Hilfswerk Deutschlands«, dessen Lei- 12 tung er bis zum 30. September 1951 inne hatte. Wegen seines Wechsels in 13 die Politik nach der Wahl in den Bundestag 1949 beendete er diese wichtige 14 Aufgabe. Mit Wirkung vom 25. Januar 1947 war ihm das Recht verliehen wor- 15 den, den Titel Oberkonsitorialrat zu führen. 16 Wegen seines Widerstandes gegen die Nazis, seiner Zugehörigkeit zum 17 Kreisauer Kreis und insbesondere wegen seiner akademischen Titel kam er 18 schon in den 50er Jahren in die Schusslinie sowohl von ehemaligen Aktivisten 19 aus der Nazizeit als auch der Propagandisten des DDR-Regimes unter Ulbricht. 20 In einer Rede vor dem Bundesparteitag der CDU in Stuttgart hatte Gersten- 21 maier das »Wiederlautwerden alter ungeläuterter Hitler-Anhänger« angepran- 22 gert und dabei u.a. die »Remers und die Ramkes« erwähnt. Das brachte den 23 ehemaligen General der Fallschirmjäger Ramke auf die Palme. Zusammen mit 24 dem Rechtsanwalt Dr. Wilhelm Maßmann, Kiel, verdächtigte Ramke zwi- 25 schen August 1957 und Dezember 1963 in verschiedenen Schreiben an die 26 Synode der Evangelischen Kirche Gerstenmaier wegen seiner politischen Hal- 27 tung während der Nazizeit. Gerstenmaier stellte Strafantrag gegen Dr. Maß- 28 mann und General Ramke, als sie ihm auch noch unterstellten, seine Freunde 29 30 31 32 67 Vgl. Ger VAN ROON, Neuordnung im Widerstand, München 1967, S. 187–194; Joachim 33 FEST, Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli, Berlin 41994, S. 314f. Albrecht VON MOLTKE, Die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen des Kreisauer Kreises innerhalb 34 der deutschen Widerstandsbewegung, Köln 1990, S. 42, Anm. 148; Ulrich KARPEN/Andreas 35 SCHOTT (Hg.): Der Kreisauer Kreis, Zu den verfassungspolitischen Vorstellungen von Män- 36 nern des Widerstandes um Helmut James Graf von Moltke, Heidelberg 1995; Günter BUCH- STAB/Brigitte KAFF/Hans-Otto KLEINMANN, Verfolgung und Widerstand 1933–1945. Christ- 37 liche Demokraten gegen Hitler, Düsseldorf 21990, S. 239–247; Hans MOMMSEN, Der Krei- 38 sauer Kreis und die künftige Neuordnung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 42 (1994), 39 S. 361–377; Klaus HORNUNG, Der Kreisauer Kreis und die deutsche Zukunft, in: Politik und 40 Zeitgeschichte 28 (1994), S. 22ff.; Roman BLEISTEIN (Hg.), Dossier: Kreisauer Kreis, Doku- mente aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1987. 41 68 Was einem Dr. theol. entsprach und später auch so umgestellt wurde. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 im Widerstand verraten zu haben, um dadurch »seinen Kopf zu retten«.69 Die 2 gerichtliche Voruntersuchung wurde beim Landgericht Kiel eröffnet und An- 3 klage gegen Dr. Maßmann und General Ramke wegen Beleidigung nach § 4 187a StGB erhoben. Zu einem Abschluss des Gerichtsverfahrens durch Urteil 5 ist es nicht gekommen. Auf nachhaltige Bitten des Verteidigers von Ramke 6 kam es zu einem »Vergleich«. Die beiden Angeklagten nahmen mit dem »Aus- 7 druck des Bedauerns die gegen Gerstenmaier erhobenen Vorwürfe zurück«. 8 General Ramke zahlte außerdem eine Geldbuße von 3.000 DM. Darauf nahm 9 Gerstenmaier den Strafantrag zurück. Das Verfahren wurde eingestellt, aber 10 mit dem Verfahren war ein Stein ins Wasser geworfen worden, der immer 11 weitere Kreise zog und auch die ostdeutsche Propaganda und Hetzkampagne 12 auf den Plan rief. Gerstenmaier hat später bekannt, »wie schwer ihm der Ver- 13 gleich gefallen ist«70. Mir gegenüber hat er wiederholt geäußert, »er hätte sich 14 nie und nimmer zu diesem Vergleich überreden lassen dürfen«. 15 Für die Machthaber in Pankow war Gerstenmaier inzwischen zu einem er- 16 klärten Gegner des Kommunismus geworden, den es zu bekämpfen galt. Mit 17 verleumderischen Andeutungen und Hinweisen auf Gerstenmaier als »Hitler- 18 Anhänger« und als »Neokolonialist« trat der damalige Staatssekretär im Au- 19 ßenministerium der DDR, Otto Winzer, am 4. November 1960 vor die Presse 20 in Ostberlin und legte ein Pamphlet vor: »Kreuzritter des Neokolonialismus«, 21 das Gerstenmaier in seinen außenpolitischen Ambitionen treffen sollte. Für 22 diese Pressekonferenz lag Winzer eine Anweisung vor, was mit dieser »Do- 23 kumentation« erreicht werden sollte: »Wir wollen heute dazu beitragen, dass 24 diese Afrika-Woche den gebührenden Ausklang und Abschluss findet, der kei- 25 ne Zweifel an den neokolonialistischen Absichten der Bonner Regierung und 26 ihrer monopolkapitalistischen Hintermänner lässt. ... In diesem Dokument tritt 27 uns Herr Gerstenmaier als frömmelnder Propagandareisender Hitlers und Rib- 28 bentrops entgegen. Im Talar eines eifernden evangelischen Christen war und 29 ist dieser Herr Gerstenmaier, damals Kirchliches Außenamt, heute Präsident 30 der Deutschen Afrika-Gesellschaft, stets ein Wegbereiter der Eroberungspo- 31 litik des aggressiven deutschen Imperialismus. Die Ämter haben gewechselt, 32 aber Ziel und politischer Inhalt der Tätigkeit des Herrn Gerstenmaier sind die 33 gleichen geblieben.«71 Ohne jeglichen Beweis und ohne stichhaltige Doku- 34 mente wird Gerstenmaier als »Vorreiter der Hitler-Aggression« und als 35 »Kriegshetzer in christlichem Gewande« dargestellt. 36 37 38 39 40 69 E. GERSTENMAIER (wie Anm. 24), S. 386. 70 EBD. S. 585. 41 71 Vgl. Otto WINZER, Kreuzritter des Neokolonialismus, Ostberlin 1961, S. 5, 14; dieser 42 Sprechzettel ist im NL Gerstenmaier ACDP I-210-24/2 enthalten. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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Das kommunistische »Neue Deutschland«72 und die ebenso hetzerische 1 »Deutsche Volkszeitung«73 legten noch einmal in dieser Verleumdungskam- 2 pagne nach. Man merkte: Die kommunistische Propaganda hatte sich beson- 3 ders auf Gerstenmaier eingeschossen. In der »Dokumentation der Zeit« wurde 4 Gerstenmaier 1965 als »Steigbügelhalter der Nazis«74 bezeichnet, seine Be- 5 teiligung am Widerstand und seine Verurteilung durch den Volksgerichtshof 6 1945 aber völlig verschwiegen. Im sogenannten Braunbuch von 1965, in dem 7 die östlichen Agitatoren gegen die Bundesrepublik ihre Angriffe fortsetzten, 8 war Gerstenmaier erneut Zielscheibe scharfer Attacken.75 9 Hubertus Knabe berichtet, dass die Stasi 1967 eine »belastende Dokumen- 10 tation erarbeitete mit dem Ziel, die Person Gerstenmaier zu einem geeigneten 11 Zeitpunkt zu entlarven«.76 Der an der Besprechung bei der Stasi teilnehmende 12 KGB-Oberst Kondraschow77 »meinte jedoch, dass er momentan (1967) keine 13 Notwendigkeit sehe, Gerstenmaier zu entlarven«. »Der passende Zeitpunkt« 14 schien dann 1968/69 mit der für das Jahr 1969 vorgesehenen Bundesversamm- 15 lung gekommen. Mit einer Broschüre: »Vom SD-Agenten P 38/546 zum Bun- 16 destagspräsidenten – Die Karriere des Eugen Gerstenmaier« erreichte die het- 17 zerische Propaganda der DDR-Regierung ihren Höhepunkt. Dieser sogenannte 18 »Dokumentarbericht« wurde zeitlich und zielgerichtet so gestaltet, dass er zur 19 Bundesversammlung 1969 die gewollte Stimmungsmache gegen den Tagungs- 20 ort Berlin verursachte und noch weiter verstärkte: Gerstenmaier sollte so dis- 21 kreditiert werden, dass er seine beabsichtigte Entscheidung für Berlin nicht 22 durchsetzen könnte. Der Tenor und die Überschriften in dieser Broschüre sind 23 von einem perfiden Verleumdungscharakter und zeigen das Ziel deutlich auf. 24 25 Forschungsergebnisse in der Gauck-Behörde im Jahr 2000 26 27 In der Gauck-Behörde (Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssi- 28 cherheitsdienstes) finden sich die Vorarbeiten für diese Broschüre mit Durch- 29 schlägen der Originalfassung.78 In einem Aktenvermerk vom 24. Januar 1969, 30 31 32 72 Neues Deutschland v. 11.5.1961. 33 73 Deutsche Volkszeitung v. 28.4.1961. 74 Dokumentation der Zeit (Ostberlin) 1965, Heft 334, S. 32f. 34 75 Braunbuch (1965), S. 324ff. 35 76 H. KNABE, Republik (wie Anm. 16), S. 130; vgl. DERS., Die West-Arbeit und ihre Wir- 36 kungen. Bericht des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, Ber- lin 1999. In seinem neuen Werk beschreibt Knabe die »Gerstenmaier-Kampagne« des Staats- 37 sicherheitsdienstes in den 50er und 60er Jahren: H. KNABE, Stasi und Westmedien (wie Anm. 38 59), insbesondere S. 250ff. Hubertus KNABE, Agitieren, diffamieren, destabilisieren, in: Der 39 Tagesspiegel v. 20.5.2001: 40 77 Kondraschow ist in dem Werk: George BAILEY/Sergey A. KONDRASCHOW/David E. MURPHY, Die unsichtbare Front, Berlin 1997, darauf nicht eingegangen. 41 78 BStU, Archiv der Zentralstelle MfS-HA IX/11 AV 14/87, Ordner 1–50. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 von dem »ein Exemplar an Gen. Wolf«79 ging, ist von »weiterer Sichtung des 2 Materials« gegen Gerstenmaier die Rede. »Ziel der Sichtung des Materials sei 3 u.a.: Auswertung sämtlicher erarbeiteten sowie der in Archiven der DDR la- 4 gernden Materialien über die Vergangenheit der Mitglieder des westdeutschen 5 Bundestages, den zur ›Bundesversammlung‹ gehörenden Mitgliedern der 6 westdeutschen Landtage mit dem Ziel der Nachweisführung, dass mit dem 7 geplanten Stattfinden der ›Bundesversammlung‹ in Westberlin die neonazisti- 8 sche und revanchistische Expansionspolitik der reaktionären Kräfte in West- 9 deutschland einen neuen Höhepunkt erreichen soll. Zur Unterstützung der im 10 Ergebnis dieser Feststellungen möglichen agitatorischen Auswertung (z.B. 11 Pressekonferenz, evtl. Erarbeitung einer Dokumentation als Zirkularmaterial 12 für die UNO) ist weiterhin vorgesehen ... Durch diese Maßnahmen wird an- 13 gestrebt, das Stattfinden der ›Bundesversammlung‹ zur Wahl des westdeut- 14 schen Bundespräsidenten am 5. März 1969 in Westberlin zu verhindern.«80 15 Mit der Öffnung der Akten des Staatssicherheitdienstes kommen diese diabo- 16 lischen Hintergründe und Absichten der kommunistischen Machthaber gegen 17 Repräsentanten und Organe der Bundesrepublik ans Tageslicht und damit auch 18 die Verhetzung von Bürgern, die zu solch unsäglichen Anzeigen führte, wie 19 sie im Fall Gerstenmaier mit den jahrelangen staatsanwaltlichen Ermittlungen 20 die Folge waren. 21 Die Staatsanwaltschaft Bonn konnte diese Machenschaften der Stasi nicht 22 erkennen und brauchte deshalb so lange Zeit, um trotzdem zu einer klaren 23 Einstellung des Verfahrens zu gelangen. Es mutet heute sicherlich naiv an, 24 dass die Staatsanwaltschaft im Januar 1973 den Generalstaatsanwalt der DDR 25 mit einem Rechtshilfeersuchen eingeschaltet und darum gebeten hat, »Doku- 26 mente zugänglich zu machen, die der vom Staatsverlag der DDR herausgege- 27 benen Broschüre zugrunde liegen«. Von dem kommunistisch-totalitären Sy- 28 stem der DDR Rechtshilfe erlangen zu wollen, ist schon arg vertrauensselig. 29 Der Generalstaatsanwalt der DDR hat dann auch 65 Blatt Ablichtungen von 30 im Besitz der DDR »befindlichen Schriftstücken übersandt«, aus denen sich 31 verständlicherweise keine neuen Erkenntnisse ergaben.81 Bei meinen Recher- 32 chen im Jahr 2000 zu den Angriffen der DDR-Organe gegen Gerstenmaier 33 habe ich etwa 60 Ordner einsehen können, in denen auch Konvolute enthalten 34 sind, »die eine gewisse Entlastung für G. darstellen« oder Faszikel mit der 35 36 79 Markus (Mischa) Wolf, Spionagechef im Ministerium für Staatssicherheit der DDR, 37 von 1952–1986 war er Leiter der Hauptabteilung Aufklärung, dem Auslandsnachrichtendienst 38 der Stasi. Vgl. Christoph ANDREW/Wassili MITROCHIN, Das Schwarzbuch des KGB, Berlin 39 1999, S. 535. 40 80 BStU (wie Anm. 78), Ordner 39; H. KNABE, Republik (wie Anm. 16), S. 221–226 be- richtet über weitere Aktionen der SED gegen die Bundesversammlung mit verschiedenen Be- 41 legen, u.a. BStU, ZA, SdM 1439. Hervorhebung des Verf. 42 81 Einstellungsverfügung S. 235f. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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Aufschrift: »Entlastung für G.«82. Dass diese Unterlagen der Bonner Staats- 1 anwaltschaft nicht zugeleitet worden sind, liegt auf der Hand und war kaum 2 zu erwarten. Um so höher ist zu bewerten, dass die Staatsanwaltschaft Bonn 3 nach langwierigen Untersuchungen doch zu einer deutlichen Rechtfertigung 4 von Gerstenmaier gekommen ist. 5 6 Wesentliche Ergebnisse der Staatsanwaltschaft Bonn: 7 Rehabilitierung Gerstenmaiers 8 9 Die Staatsanwaltschaft Bonn hatte aufgrund der Anzeigen, die von den Ver- 10 öffentlichungen in den Medien (insbesondere »Stern« und »Spiegel«) ausgin- 11 gen, Vorwürfe des Betruges zu prüfen. Darin wurde behauptet, »er habe sich 12 die vom Bundesministerium des Innern durch Bescheid vom 8. Dezember 13 1965 im Wege der Wiedergutmachung zugesprochenen Versorgungsbezüge 14 als emeritierter außerordentlicher Professor durch unrichtige Angaben ver- 15 schafft. Gerstenmaier wurde vorgehalten, er könne keine Habilitation nach- 16 weisen, ihm habe auch eine Lehrbefugnis nicht zugestanden, die ihm auch 17 nicht versagt worden sei.« Eine Wiedergutmachungsleistung habe ihm nicht 18 zugestanden, weil er – wie in der Stasi-Broschüre erwähnt – Mitglied der SA, 19 des NS-Studentenbundes und der NSDAP gewesen und er durch seine Tätig- 20 keit im Kirchlichen Außenamt den Nationalsozialismus gefördert habe.83 Es 21 wurde in den Anzeigen außerdem behauptet, der Wiedergutmachungsbescheid 22 des Bundesinnenministeriums sei nicht ordnungsgemäß zustande gekommen. 23 Dabei hatte der Präsident des Bundesrechnungshofes bereits am 26. September 24 1969 nach sorgfältiger Prüfung festgestellt: »Die Überprüfung der Wiedergut- 25 machungsangelegenheit des früheren Präsidenten des Deutschen Bundestages, 26 Herrn Prof. em. Dr. Gerstenmaier durch den Bundesrechnungshof hat keinen 27 Anlass zu Beanstandungen ergeben.«84 28 Zur Frage der Habilitation kommt die Staatsanwaltschaft in ihrer umfang- 29 reichen Einstellungsverfügung ganz deutlich zur Feststellung: »Dass sich Dr. 30 Gerstenmaier am 24. Juni 1938, wie er im Wiedergutmachungsverfahren an- 31 gegeben hatte, an der Universität Rostock habilitiert hatte, ist durch die Er- 32 mittlungen bestätigt worden. Diese Habilitation geht aus den im Laufe des 33 Verfahrens ermittelten Unterlagen hervor.«85 Zur Lehrbefugnis erklärt die 34 Staatsanwaltschaft klipp und klar: »Aufgrund dieser Erkenntnisse steht fest, 35 dass Dr. Gerstenmaier die Voraussetzungen für die Verleihung einer Lehrbe- 36 37 38 82 BStU, MfS-HA IX/11, AV 14/87, Ordner 8. 39 83 So Vernehmungsprotokoll vom 2.11.1971 – 8 Js 544/69, S. 1f. 40 84 Schreiben des BRH-Präsident an Bundestagspräsident von Hassel v. 26.9.1969 in: NL Gerstenmaier ACDP I-210-022/1. 41 85 Einstellungsverfügung StA Bonn – 8 Js 544/69 v. 25.10.1974, S. 49. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 fugnis erfüllt hatte.«86 »Es ist deshalb davon auszugehen, dass Dr. Gersten- 2 maier zum Dozenten hätte ernannt werden können, wenn diese Ernennung 3 nicht wegen seiner ›politischen Unzuverlässigkeit’ über den Mai 1940 hinaus 4 verzögert worden wäre.«87 Dass die »Voraussetzungen für die Habilitation« 5 Gerstenmaiers erfüllt sind, ergibt sich aus einem Schreiben des Reichs- und 6 Preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 17. 7 Februar 1938 an den Reichs- und Preußischen Minister für kirchliche Ange- 8 legenheiten, doch wird gerügt, dass Gerstenmaier »den Nationalsozialismus 9 als Weltanschauung im Grunde ablehnt«.88 10 Über Gerstenmaiers aktiven Kampf gegen den Nationalsozialismus kommt 11 die Staatsanwaltschaft nach langen und intensiven Prüfungen zu der un- 12 missverständlichen Feststellung: »Aufgrund der Tatsache, dass Dr. Gersten- 13 maier wegen seiner Verbindungen zur Widerstandsbewegung durch den so- 14 genannten Volksgerichtshof zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, ist 15 davon auszugehen, dass er den Nationalsozialismus aktiv bekämpft hat und 16 deswegen verfolgt worden ist.«89 Gerstenmaiers klare Ablehnung des natio- 17 nalsozialistischen Gedankengutes wird in vielen Schreiben und in anderen Un- 18 terlagen aus den Jahren 1938/39 deutlich, die in der Gauck-Behörde vorliegen, 19 aber der Bonner Staatsanwaltschaft bei ihren Ermittlungen vom Generalstaats- 20 anwalt in Ostberlin verständlicherweise vorenthalten wurden. Am deutlichsten 21 kommt dies in einer »Beurteilung des Lic. habil. Eugen Gerstenmaier vom 22 30.2.39« gegenüber der Reichsstudentenführung Berlin zum Ausdruck: »Ger- 23 stenmaier gilt als ein ungewöhnlich kluger und kritischer Kopf mit ausgespro- 24 chener wissenschaftlicher Begabung und hat in seinem studentischen Amt 25 sachlich sehr gute Arbeit geleistet. ... Es hat sich ... eindeutig gezeigt, dass G. 26 ein fanatischer Anhänger der Bekenntniskirche ist, der sich aus dieser Anhän- 27 gerschaft ganz klar gegen die nationalsozialistische Weltanschauung ... gestellt 28 hat. ... Lic. habil. Gerstenmaier ist aufgrund seiner buchstabenmäßigen kirch- 29 lichen Bindung Gegner des Nationalsozialismus als Weltanschauung.« Der 30 Reichsstudentenbund, Dienststelle Berlin, schließt sich dieser Stellungnahme 31 an: »Ich halte Herrn Gerstenmaier charakterlich für einen einwandfreien 32 33 86 Ebd. S. 93. 34 87 Ebd. S. 101. 35 88 BStU, MfS-HA IX/11, AV 14/87, Ordner 8, Blatt 47. In diesem Ordner ist eine Reihe 36 weiterer Unterlagen über Gerstenmaier enthalten, in denen er ab 1938 stets als »Dr. habil.« bzw. »Lic. habil. Dr. Gerstenmaier« bezeichnet wird und in denen seine wissenschaftliche An- 37 erkennung festgehalten ist. 38 89 Einstellungsverfügung, S. 122; im Haftbefehl des »Ermittlungsrichters des Volksge- 39 richtshofes vom 11. Oktober 1944« gegen Helmuth von Moltke, Eugen Gerstenmaier u.a. wur- 40 den sie beschuldigt, »zusammen mit anderen es unternommen zu haben, die nationalsozia- listische Regierung, nötigenfalls mit einer gegen den Führer gerichteten Gewalttat, zu stürzen, 41 um sich selbst oder ihre Gesinnungsgenossen in den Besitz der Macht zu bringen«. – Haftbefehl 42 und Urteil des VGH in: NL Gerstenmaier, ACDP I-210-005/2. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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Mann, der aber ein Kämpfer für politische Ziele ist, die der nationalsoziali- 1 stischen Bewegung absolut entgegen stehen.«90 2 Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, der for- 3 mell für die Genehmigung einer akademischen Lehrbefugnis zuständig, aber 4 seinerseits von der Zustimmung des »Stellvertreters des Führers« abhängig 5 war, unterrichtete am 22. November 1939 das Reichsministerium für kirchli- 6 che Angelegenheiten »betr. die Verleihung der Lehrbefugnis an Lic. theol. ha- 7 bil. Gerstenmaier«: Gerstenmaier »wird vorgeworfen, dass er der Exponent 8 stark kirchlich und konfessionell gebundener Kreise« sei. »Der Stellvertreter 9 des Führers hält es daher vorläufig für nicht angebracht, dass G[erstenmaier] 10 eine Dozentur erhält.91 Diese Mitteilung der zuständigen Behörde bestätigt die 11 wiederholte Erkenntnis von Eugen Gerstenmaier, dass von höchster Naziebene 12 [Stellvertreter des Führers – Rudolf Heß] ihm die venia legendi vorenthalten 13 worden ist, weil er ein »unversöhnlicher Gegner des Führers und der Bewe- 14 gung« gewesen ist.92 Der Leiter des Kirchlichen Außenamtes der Evangeli- 15 schen Kirche, Bischof Theodor Heckel, versuchte zwar noch einmal, die Vor- 16 behalte wegen Gerstenmaiers »politischer Unzuverlässigkeit« auszuräumen 17 und eine positive Entscheidung herbeizuführen.93 Das Reichsministerium für 18 Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, dem die Stellungnahme von Bi- 19 schof Heckel offensichtlich vorgelegt worden war, teilte aber am 5.9.1940 dem 20 Kirchenministerium definitiv mit, dass es »davon absehen muss, die Frage ei- 21 ner Dozentur an Lic. theol. habil. Gerstenmaier weiter zu verfolgen«.94 Die 22 Bonner Staatsanwaltschaft ist nach eingehender Prüfung gerade auch dieses 23 Komplexes zu dem Ergebnis gekommen, dass Gerstenmaier »zum Dozenten 24 hätte ernannt werden können, wenn nicht Bedenken gegen die politische Zu- 25 verlässigkeit« geäußert worden wären.95 26 Für die in der Stasi-Broschüre angegebene Karteinummer P 38/546 gilt das, 27 was Bohnsack/Brehmer – zwei langjährige Mitarbeiter des Ministeriums für 28 Staatssicherheit – über die Arbeit ihrer Abteilung IX/11 innerhalb der Stasi 29 30 31 32 90 Schreiben an den NS-Dozentenbundführer v. 22.2.1939, BstU (wie Anm. 89), Bl. 61– 33 63. In dem Ordner Nr. 26 ist ein »Dokumentenverzeichnis« mit 52 Dokumenten von 1938 bis 1945 (Bl. 3–12) enthalten, die gemäß einer Verfügung eines »Majors Reimann« nicht wegzu- 34 geben sind. Bei diesen Dokumenten sei »Einsichtnahme nur mit Genehmigung des Ref.-Ltrs. 35 1« möglich. Es ist als sicher anzunehmen, dass diese Unterlagen für eine Agitation gegen Ger- 36 stenmaier nicht geeignet und sogar kontraproduktiv waren. 91 BStU HA IX, Ordner 8. 37 92 E. GERSTENMAIER (wie Anm. 24), S. 106 und F. VON SCHLABRENDORFF (wie Anm. 38 66), S. 19. 39 93 Schreiben an den Reichsminister für kirchliche Angelegenheiten v. 5.6.1940, in: BStU 40 HA IX, Ordner 9. 94 Ebd. 41 95 Einstellungsverfügung S. 98f. und 101. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 im Jahre 1992 zugegeben haben:96 »Das Fälschen von Pässen und Unterschrif- 2 ten wurde zu einer der einfachsten und gebräuchlichsten Übungen. Personal- 3 akten aus der NS-Zeit wurden »vervollständigt durch Dokumente aus eigener 4 Fertigung. Also ergänzten wir das vorliegende Material, so dass es zweifelsfrei 5 bewies, was wir beweisen wollten. Fakten haben uns nie gestört.« Die Staats- 6 anwaltschaft Bonn hat dieser Karteikarte ohnehin keine große Bedeutung bei- 7 gemessen, aber doch auf zwei Fehler in der Schreibweise hingewiesen. Dabei 8 stellte sie fest, dass es keinerlei Anhaltspunkte dafür gebe, »dass es Agenten- 9 nummern der angegebenen Art gegeben hat«.97 10 Die besonders perfide Verleumdung gegen Gerstenmaier durch die Behaup- 11 tung in der Stasi-Broschüre, die dann von Gegnern und Anzeigeerstattern auf- 12 gegriffen wurde, nämlich die vermeintliche geringe Höhe der Zuchthausstrafe 13 sei ein Indiz dafür, dass er dem Nationalsozialismus nahegestanden haben 14 müsse, wird von der Staatsanwaltschaft überzeugend zurückgewiesen und als 15 abwegig bezeichnet: »Die in der Broschüre des Staatsverlags der DDR aus 16 der Höhe der von dem Volksgerichtshof gegen den Beschuldigten verhängten 17 Strafe gezogene Schlussfolgerung ist schon deshalb abwegig, weil nicht er- 18 sichtlich ist, weshalb es überhaupt einer Verurteilung des Beschuldigten be- 19 durft haben sollte, falls dieser ›in den Kreisauer-Kreis lanciert‹ worden sein 20 sollte, um ›Kronzeuge der Gestapo‹ zu werden. Im übrigen ist die unmittelbare 21 Beteiligung des Beschuldigten an den Ereignissen des 20.7.1944, ... in dem 22 Verfahren gegen Ramcke und Maßmann nach umfangreichen Erhebungen 23 festgestellt worden. Zweifel an diesen Feststellungen sind nicht begründet.«98 24 Die Staatsanwaltschaft Bonn kam nach ihren umfangreichen Ermittlungen und 25 Prüfungen am 24. Oktober 1974 zu der längst überfälligen und richtigen Er- 26 kenntnis: »Anhand der der Staatsanwaltschaft zur Verfügung stehenden Er- 27 kenntnisse sind Dr. Gerstenmaier unrichtige Behauptungen im Wiedergutma- 28 chungsverfahren nicht nachzuweisen, ... unrichtige Angaben sind nicht fest- 29 gestellt worden.« 30 Seine ordnungsgemäßen Rechte als Hochschullehrer mit Promotion und Ha- 31 bilitation waren eindeutig bestätigt und sein Widerstand gegen die Nazis be- 32 standskräftig festgestellt. Nur darum und um nichts anderes war es Gersten- 33 maier gegangen! Die angestrebte Karriere als Wissenschaftler war ihm ver- 34 wehrt worden.99 Gerstenmaiers langjähriger Vizepräsident hat 35 in einem Nachruf völlig zu Recht betont: »Ich bin davon überzeugt, dass für 36 37 38 96 Günter BOHNSACK/Herbert BREHMER, Auftrag: Irreführung. Wie die Stasi Politik im 39 Westen machte, Hamburg 1992, S. 28, 49, 56 u. 59. 40 97 EBD. S. 143. 98 EBD. S. 149f. 41 99 Matthias STICKLER, Eugen Gerstenmaier, in: Lexikon der Christlichen Demokratie, Pa- 42 derborn 2002, S. 247–249. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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Eugen Gerstenmaier das Wiedergutmachungsverfahren nur dem Zweck ge- 1 dient hat, die Kritiker und ihre Angriffe zu widerlegen.«100 Korrekt wie die 2 Staatsanwaltschaft ist, hat sie den Einstellungsbeschluss richtigerweise gerich- 3 tet an »Oberkonsistorialrat i.R. Prof. D. Dr. Eugen Gerstenmaier«. Das Er- 4 gebnis war zweifellos eine deutliche und wahre Rehabilitation Gerstenmaiers. 5 Die Presse berichtete – wie nicht anders zu erwarten war – gar nicht oder 6 nur in beleidigender Kürze über diese späte offizielle Rechtfertigung. Ledig- 7 lich Dr. Alois Rummel – ein heute noch bekannter Bonner Journalist und lang- 8 jähriger Chefredakteur des »Rheinischen Merkur« – nahm in der »Saarbrücker 9 Zeitung« am 13. November 1974 ausführlich Stellung: »Mit dieser bekannt 10 gewordenen Einstellung des gerichtlichen Verfahrens jedenfalls ist ein Mann 11 hochoffiziell rehabilitiert worden, ... dessen Würde auf unangemessen scha- 12 denfrohe und unwürdige Weise mit Füßen getreten worden ist.« 13 Die CDU Deutschlands ließ im Deutschland-Union-Dienst verlauten: 14 »Durch die Entscheidung der Staatsanwaltschaft ist nun vor aller Welt klar, 15 was in der CDU nie zweifelhaft war: Ein Ehrenmann, der dem Nationalsozia- 16 lismus bis zur Gefährdung seines Lebens widerstand, der die Narben der er- 17 fahrenen Misshandlungen noch heute trägt, wurde dem allzu willfährigen Zeit- 18 geist geopfert. Kaum versteht man 1974 noch die Mentalität von 1969. Die 19 CDU bekennt aus dem gegebenen Anlass noch einmal: Sie ist stolz auf Eugen 20 Gerstenmaier und auf das, was er vielfach für unser Land und unser Volk ge- 21 leistet hat.«101 22 Professor Klaus Hildebrand hat schon 1984 die Zusammenhänge zwischen 23 Einberufung der Bundesversammlung nach Berlin und den Angriffen gegen 24 Gerstenmaiers Antifaschismus und Antikommunismus erkannt: »Dass Ger- 25 stenmaier zum engeren Kreis der aktiven Widerstandskämpfer des 20. Juli 26 1944 gezählt hatte, galt auf einmal wenig. ... Der in seinen Motiven ethisch 27 begründete konservative Widerstand geriet mehr und mehr ins Zwielicht. ... 28 Eugen Gerstenmaiers entschiedener Antikommunismus war landauf, landab 29 sattsam bekannt und nicht dazu angetan, seine Beliebtheit in einer liberal und 30 entspannungsfreundlich gestimmten Öffentlichkeit zu steigern.« 31 Eugen Gerstenmaier hat in seinem Lebensbericht die späte öffentliche und 32 amtliche Rehabilitation durch die Staatsanwaltschaft in Bonn recht knapp und 33 34 35 100 Richard JAEGER, Eugen Gerstenmaier zum Gedenken, in: Veröffentlichung der Verei- 36 nigung ehemaliger Mitglieder des Bundestages, 1986, S. 7. 101 DUD v. 8.11.1974, S. 6f. Friedrich Karl FROMME, langjähriger Korrespondent der FAZ 37 hat in: Persönlichkeit und Politik in der Bundesrepublik Deutschland, hg. v. Walter L. BERN- 38 ECKER/Volker DOTTERWEICH, Göttingen 1982, Bd. 1, S. 155–167, das politische Wirken Gers- 39 tenmaiers fair gewürdigt; die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens lagen ihm nicht vor. Den 40 »Mann der Kirche, den Theologen Gerstenmaier«, schildert Jochen-Christoph KAISER, Eugen Gerstenmaier in Kirche und Gesellschaft nach 1945, in: Protestanten in der Demokratie, hg. 41 v. Wolfgang HUBER, München 1990, S. 69–91. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 mit wenig Genugtuung, aber auch mit einer spürbaren Verletzung durch das 2 Verfahren zurückhaltend so beschrieben: »Das Ermittlungsverfahren lief über 3 Jahre. Es missfiel mir, aber ich konnte mir nur die bündige Widerlegung der 4 Pankower Bezichtigungen davon versprechen. Das erwies sich als richtig. Der 5 Erste Staatsanwalt, Zädow, in Bonn, der die Sache bearbeitete, scheute weder 6 Zeit noch Mühe, um nach dreißig Jahren auch den letzten Einzelheiten nach- 7 zugehen. Er war ein höflicher und streng bemühter Mann. Er las, was immer 8 ich geschrieben hatte, einschließlich Dissertation und Habilitationsschrift. Er 9 vernahm jeden noch lebenden ehemaligen Angehörigen des Reichssicherheits- 10 hauptamts, der obersten Behörde des Himmlerschen SD. Es waren an die fünf- 11 hundert. Alles was der Ramcke-Prozess zutage gebracht hatte, wurde bestätigt 12 und noch mehr dazu. Als sich gar nichts mehr finden ließ, tat die Staatsan- 13 waltschaft ein übriges. Sie informierte den Generalstaatsanwalt der sogenann- 14 ten DDR von dem Ergebnis und fragte nach weiterem, nach anderem Bela- 15 stungsmaterial. Der Herr ließ sich Zeit, viel Zeit. Ergebnis gleich null. Die 16 Bonner Staatsanwälte, so schien es meinem Anwalt und mir, waren im Begriff, 17 die Pankower Böcke zu den Gärtnern, sprich zu den Herren des Verfahrens, 18 werden zu lassen. Wir protestierten. An dem redlichen Zädow lag es sicher 19 nicht. Ich wurde den Eindruck lange nicht los, dass das Justizministerium der 20 Regierung meines ehemaligen Bundestagskollegen Kühn, nunmehr sozialde- 21 mokratischer Ministerpräsident in Düsseldorf, keinen Gefallen daran finden 22 wollte, mich hochamtlich von den Bezichtigungen der Pankower Kommuni- 23 sten freizustellen.102 Aber schließlich fand sich doch ein anständiger Mann, 24 der das Unvermeidliche tat.«103 25 Nach seinem Tod am 13. März 1986 wurde Eugen Gerstenmaier mit einem 26 Staatsakt im Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Bonn am 22. März 1985 27 von den höchsten Vertretern unseres Staates geehrt. Bundestagspräsident Phil- 28 ipp Jenninger sagte u.a.: »Eugen Gerstenmaier hat sich um das Vaterland ver- 29 dient gemacht.« Bundeskanzler Helmut Kohl würdigte ihn so: »Auf seine Art 30 ist Eugen Gerstenmaier – wie Konrad Adenauer, und Kurt 31 Schumacher – ein Glücksfall für die deutsche Geschichte in der Mitte dieses 32 Jahrhunderts. Er hat die Zeit geprägt als Politiker, der Maßstäbe setzte.« Bun- 33 despräsident Richard von Weizsäcker stellte fest: »Eugen Gerstenmaier war 34 ein Wächter. Er war im Tiefsten ein Mann der Tat. Deshalb stieß er zum Wi- 35 36 37 38 102 Der damalige Bundesverfassungsrichter Fabian von Schlabrendorff berichtete am 39 17.7.1974 an einen Freund Gerstenmaiers über Informationen aus Düsseldorf, dass die Akte 40 der StA Bonn wieder zurückgegeben worden sei mit der »Auffassung, das Verfahren nicht einzustellen ›wegen erwiesener Unschuld‹, sondern ›wegen Mangels an Beweisen‹. Bonn ist 41 aber fest geblieben.« NL Gerstenmaier, ACDP I-210-064. 42 103 E. GERSTENMAIER (wie Anm. 24), S. 592. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Eugen Gerstenmaier und die Bundesversammlung in Berlin 123 derstand und war am Tage des Attentats am 20. Juli 1944 zusammen mit den 1 Verschwörern in der Bendlerstraße in Berlin.« 2 In seinen Erinnerungen und Erfahrungen hat Karl Carstens 1992 über Eugen 3 Gerstenmaier bekundet: »Er war als Widerstandskämpfer nach dem 20. Juli 4 1944 verhaftet worden, hatte aber die Namen von Mitverschworenen nicht 5 preisgegeben.104 Hätte er nicht dem Widerstand angehört, wäre er mit Sicher- 6 heit Professor geworden. Wenn es ein ehrenhaftes, ja bewundernswürdiges 7 Verhalten in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft gegeben hat, dann 8 war es das von Gerstenmaier.«105 Karl Carstens hat Recht – und den Mut ge- 9 habt, es auch zu sagen! 10 Seit Januar 1969, als die Anzeigen von besorgten Bürgern und von einseitig 11 informierten Presseorganen über Gerstenmaier hereinbrachen, bis Oktober 12 1974 waren fast sechs Jahre verstrichen. Ich hatte Gerstenmaier Mitte Januar 13 1969 von seiner Absicht zurückzutreten nicht abbringen können. Der Druck 14 von vielen Seiten – aus Presse, Politik, Bürgerschaft und Familie – war so 15 stark geworden, dass der kämpferische, immer streitbare Mann zu resignieren 16 begann. Leider ließ er sich in meiner Abwesenheit an dem Wochenende vom 17 11./12. Januar 1969 von seinem Pressereferenten zu einer Pressekonferenz ver- 18 leiten, auf der er durch einige Formulierungen (»Nazi hätte man sein müssen« 19 und »Staat des Berechtigungswesens«) die Entrüstung bei den Presseleuten 20 noch vertiefte.106 Auch durch ein Gespräch mit Gerhard Löwenthal und Rudolf 21 Woller im ZDF-Magazin107 am 15. Januar 1969 konnte die Stimmung gegen 22 ihn nicht wieder umgekehrt werden. Mein Versuch, durch eingehende Infor- 23 mationen den verantwortlichen Redakteur für Politik des Südwestfunks in Ba- 24 den-Baden, Günter Gauss,108 zu einer objektiven und offenen Berichterstat- 25 tung zu veranlassen, brachte ebenfalls keine Änderung. »Gerstenmaier war 26 27 28 104 Die Verteidigungsstrategie der Angeklagten in der mündlichen Verhandlung vor Frei- 29 slers Volksgerichtshof am 11.1.1945 hat E. GERSTENMAIER in seinem Lebensbericht (wie Anm. 24, S. 215ff.) geschildert. Siehe auch seinen »Bericht aus Tegel vom 13./14.1.1945«, abge- 30 druckt in: B. GERSTENMAIER (wie Anm. 65), S. 97–127. Ludwig Freiherr von Hammerstein- 31 Equord, ein Beteiligter am 20. Juli 1944, schreibt über das Verhalten bei den Vernehmungen 32 durch die Nazi-Schergen: »Natürlich haben die, die ausgesagt haben, nicht die Wahrheit gesagt. 33 Sie wollten sich retten. Und wenn ich z.B. die Vernehmungsakten meiner Kameraden ansehe, dann staune ich, wie gut und geschickt diese Herren gelogen haben.« In: U. KARPEN/A. SCHOTT 34 (wie Anm. 67), S. 23. 35 105 K. CARSTENS (wie Anm. 2), S. 377. 36 106 Rolf ZUNDEL, Dramaturgie eines Skandals. Der Fall Gerstenmaier, in: Die Zeit v. 31.1.1969. 37 107 Manuskript dieses Gesprächs: BPA, Abteilung Nachrichten, in meinem Besitz. 38 108 Beim Studium der Werke von H. KNABE, insbes. Stasi und die Westmedien (wie Anm. 39 59, S. 20, 32, 102 u. 253) sind mir Zweifel gekommen, ob Günter Gauss der Richtige war, 40 die Wahrheit zu verbreiten: »Günter Gauss entwickelte ein in hohem Maße affirmatives Ver- hältnis zur SED-Diktatur.« Und zeichnete sich später durch »beschönigende Beschreibungen 41 der DDR-Wirklichkeit« aus. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 reif zum Abschuss.« So war die Meinungsbildung in vielen Redaktionen.109 2 Die von der »DDR ausgestreuten Verdächtigungen« und nicht »zuletzt sein 3 dezidierter Antikommunismus« brachten ihn zu Fall.110 4 5 Gerstenmaiers Abschied 6 7 Am 23. Januar 1969 zog Gerstenmaier die Konsequenzen und teilte seinem 8 Vertreter im Amt, Bundestagsvizepräsident Erwin Schoettle, mit, dass er mit 9 Wirkung vom 31. Januar 1969 sein Amt als Bundestagspräsident niederlegen 10 werde. Auch die für ihn und über sein Verhalten während der Nazi-Zeit po- 11 sitiven Ergebnisse von Untersuchungen der CDU durch den ehemaligen Ge- 12 neralbundesanwalt Max Güde111 und der SPD-Fraktion durch Martin 13 Hirsch112, Fritz Sänger113 und Kurt Gscheidle114 konnten ihn nicht von seinem 14 Entschluss abbringen.115 15 Fritz Sänger, damals SPD-MdB und vorher Chefredakteur der Deutschen 16 Presseagentur, stellte am Tage der Rücktrittserklärung von Gerstenmaier fest: 17 »Alle Fraktionen des Deutschen Bundestages haben Gerstenmaier bestätigt, 18 dass er weder das Gesetz verletzt, noch versucht hat dies zu tun, dass er sich 19 nicht bereichert hat, sondern beantragt und entgegennahm, was das Gesetz ihm 20 zustand. Von rechtlicher Ausgangsbasis ist ihm kein Vorwurf gemacht wor- 21 den.«116 Helmut Schmidt (damals Fraktionsvorsitzender der SPD) hatte sich 22 zuvor »nobel und fair« hinter den Bundestagspräsidenten gestellt. Durch die 23 präzise begründete Einstellung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens 24 durch die Staatsanwaltschaft 1974 wurden die Erklärungen der Fraktionen von 25 Januar 1969 überzeugend bestätigt. 26 27 109 Insbes.: Der Spiegel v. 20. u. 27.1.1969. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages 28 (RegDir Helmut Brinkers) riet damals in einem Gutachten zu Recht von einem gerichtlichen 29 Vorgehen gegen den »Spiegel« ab. 110 M. STICKLER (wie Anm. 100), S. 248. 30 111 Güde, Max (1902–1984), Staatsanwalt und Richter, Bundesanwalt und von 1956–1961 31 Generalbundesanwalt, MdB 1961–1969. 32 112 Hirsch, Martin (1913–1992), Rechtsanwalt, MdL Bayern 1961–1969, MdB 1961–1971, 33 dann Bundesverfassungsrichter bis 1978. 113 Sänger, Fritz (1901–1984), Lehrer, Redakteur, zuletzt Chefredakteur der Deutschen 34 Presseagentur dpa, Mitglied des Kuratoriums »20. Juli 1944«, MdB 1961–1969. 35 114 Gscheidle, Kurt (geb. 1924), Feinmechaniker, Gewerkschaftler, MdB 1961–1969 u. 36 1976–1980, Staatssekretär, Bundesminister. 115 Der Bayernkurier v. 1.2.1969 (Heinz VIELAIN) brachte es damals schon auf den Punkt: 37 »Ein perfekter Rufmord!« Er zitiert Max Güde, der von »Lynchjustiz« gesprochen habe. 38 116 SPD-Pressedienst v. 24.1.1969. Siehe auch Martin HIRSCH, in: Abendzeitung v. 39 31.1.1969. Vgl. Andrea SCHNEIDER, Die Kunst des Kompromisses: Helmut Schmidt und die 40 Große Koalition, Paderborn 1999, S. 245. Sie lässt aber eine kritische Analyse der Hintergründe von Gerstenmaiers Rücktritt und eine Würdigung seines Widerstandes gegen Hitler leider ver- 41 missen und kommt zu leichtfertigen Schlussfolgerungen. Sie hat frei zugängliche Schriften 42 nicht ausgewertet. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Eugen Gerstenmaier und die Bundesversammlung in Berlin 125

Dass Eugen Gerstenmaier mit erneuten und weiteren Angriffen der kom- 1 munistischen Brunnen-Vergifter im Ministerium für Staatssicherheit in Ost- 2 berlin hätte rechnen müssen, habe ich belegt gefunden: Bei der Stasi waren 3 weitere Dokumente aus seiner Studentenzeit, über seine Habilitation, über sei- 4 ne Tätigkeit im Kirchlichen Außenamt der Evangelischen Kirche, über seine 5 politische Tätigkeit in der Bundesrepublik nach dem Krieg und vieles mehr 6 gesammelt worden, die für eine neue Kampagne aus Dichtung und Wahrheit 7 zusammengefälscht worden wären. Diese sogenannte »Dokumentation über 8 die Tätigkeit Gerstenmaiers bei der Verwirklichung der Kriegsziele Hitler- 9 Deutschlands und im Rahmen der neonazistischen und revanchistischen Ent- 10 wicklung in Westdeutschland« – so der beabsichtigte Titel – war fertig aus- 11 gearbeitet und umfasste 537 DIN A4-Schreibmaschinenseiten.117 Bei der 12 Durchsicht dieses Machwerks stellte ich bald fest, dass frühere Dokumente 13 mit anderen Worten, aber mit der gleichen verleumderischen Tendenz aufbe- 14 reitet worden waren. Allein die Gliederung für dieses Gemisch aus Fälschung, 15 Verfälschung und Unterstellungen ist fünf Seiten lang. Die Stasi hätte inner- 16 halb kürzester Frist erneut zuschlagen können. 17 Die »Fälscherwerkstatt« mit ihrem »Desinformationsapparat« und der »De- 18 struktionsarbeit« der Stasi118 war in der Lage Gerstenmaier weiter zu diskre- 19 ditieren, zu verleumden und schließlich politisch zu vernichten, wie es der 20 kommunistischen Agitation mit Hilfe willfähriger Presseorgane (insbesondere 21 in Nannens »Stern«) mit Heinrich Lübke gelungen war119 und wie sie es mit 22 anderen über Jahre versucht hat.120 Die Spionage- und Agitationszentrale von 23 Markus Wolf hat auch Willy Brandt zum Rücktritt als Bundeskanzler gezwun- 24 gen.121 25 Gerstenmaier ist durch seinen Rücktritt am 31. Januar 1969 vieles Weitere 26 erspart geblieben. Die Hetze aus Ostberlin wäre weitergegangen, Helfershelfer 27 im Westen hätten leichtfertig und gerne mitgemacht. Gerstenmaier, der zum 28 engeren Kreis der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 gegen den National- 29 30 31 117 BStU-MfS-HA IX/11, AV 14/87, Ordner 12. 32 118 Bezeichnungen von ehemaligen Stasi-Offizieren G. BOHNSACK/H. BREHMER (wie Anm. 33 97), S. 15, 28, 31 u. 46. 119 Hier ist besonders auf die Forschungsergebnisse von Rudolf MORSEY, Heinrich Lübke 34 – Eine politische Biographie, Paderborn 1996, S. 540ff., zu verweisen. 35 120 H. KNABE, Republik (wie Anm. 16), S. 153 u. 175 und Stasi und Westmedien (wie Anm. 36 59) passim; vgl. auch Heike AMOS, Die Westpolitik der SED 1948–61, Berlin 1999, S. 215ff. Über die gnadenlose Kampagne der DDR-Dienststellen gegen Prof. Dr. Dr. Theodor Oberlän- 37 der, Bundesminister für Vertriebene von 1953–60, berichtet Philipp-Christian WACHS, Der 38 Fall Theodor Oberländer (1905–1998). Ein Lehrstück deutscher Geschichte, Frankfurt 2000. 39 Darin wird im wesentlichen bestätigt, was schon Kurt ZIESEL, Der rote Rufmord, Tübingen 40 1961, über die Machenschaft der kommunistischen Machthaber in der DDR und ihre »publi- zistischen Handlanger« im Westen aufgedeckt hat. 41 121 C. ANDREW/W. MITROCHIN (wie Anm. 79), S. 545f. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 sozialismus gehörte, und der ein entschiedener Kämpfer gegen den Kommu- 2 nismus war, ist den kommunistischen Agitatoren und ihren Gehilfen im We- 3 sten zum Opfer gefallen«.122 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 122 Vgl. K. HILDEBRAND (wie Anm. 57), S. 387f.; M. STICKLER (wie Anm. 100), S. 249: 42 »War man (in der CDU) erleichtert, den Mahner loszuwerden?« Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

1 2 3 Die mediale »Konstruktion« der Politik und die »Wende« 4 von 1982/83 5 6 Von Andreas Wirsching 7 8 Darüber, dass die modernen Massenmedien die Kommunikationsformen der Po- 9 litik, die Struktur der Willensbildungsprozesse und möglicherweise auch die po- 10 litischen Inhalte selbst verändern, besteht weitgehende Einigkeit. Entsprechend 11 ergiebig ist das Arbeitsfeld, das sich die politik- und kommunikationswissen- 12 schaftliche Forschung im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte erschlossen hat.1 13 Die »Inszenierung« der Politik, ihre rechtlichen, technischen und ökonomischen 14 Grundlagen, ihre symbolische und sprachliche Form, schließlich ihre Wirkungen 15 auf die Rezipienten umreißen den gegenwärtig aktuellen Fragenkomplex.2 Ein- 16 gehend untersuchte Einzelaspekte betreffen darüber hinaus z.B. die Probleme 17 des »Agenda-Setting« unter dem Einfluss der Medien,3 die »Amerikanisierung« 18 von Wahlkämpfen,4 aber auch bestimmte politische Ereignisse wie die Rede 19 Philipp Jenningers zum 9. November 1988 oder die umstrittene Nachfolge Hans- 20 Dietrich Genschers im Amt des Außenministers 1992.5 21 22 23 1 Als Überblick mit weiterer Literatur siehe Jochen HOFFMANN/Ulrich SARCINELLI, Po- 24 litische Wirkungen der Medien, in: Jürgen WILKE (Hg.), Mediengeschichte der Bundesrepublik 25 Deutschland, Köln u.a. 1999, S. 720–748. Vorliegender-Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Autor am 18. Januar 2002 vor dem Krone-Ellwanger-Kreis in Eichholz bei Bonn gehalten 26 hat. Die Vortragsform wurde im wesentlichen beibehalten und um einige Nachweise ergänzt. 27 2 Vgl. aus der Fülle der Literatur insbesondere: Andreas JANSEN/Rosaia RUBERTO, Me- 28 diale Konstruktion politischer Realität. Politikvermittlung im Zeitalter der Fernsehdemokratie, 29 Wiesbaden 1997; Ulrich SARCINELLI (Hg.), Politikvermittlung und Demokratie in der Medi- engesellschaft. Beiträge zur politischen Kommunikationskultur, Bonn 1998; Thomas MEYER/ 30 Rüdiger ONTRUP/Christian SCHICHA, Die Inszenierung des Politischen. Zur Theatralität von 31 Mediendiskursen, Wiesbaden 2000; Peter SILLER/Gerhard PITZ (Hg.), Politik als Inszenierung. 32 Zur Ästhetik des Politischen im Medienzeitalter, Baden-Baden 2000. 33 3 Frank BRETTSCHNEIDER, Agenda-Setting. Forschungsstand und politische Konsequen- zen, in: Michael JÄCKEL/Peter WINTERHOFF-SPURK (Hg.), Politik und Medien. Analysen zur 34 Entwicklung der politischen Kommunikation, Berlin 1994, S. 211–229. 35 4 Barbara PFETSCH/Rüdiger SCHMITT-BECK, Amerikanisierung von Wahlkämpfen? Kom- 36 munikationsstrategien und Massenmedien im politischen Mobilisierungsprozess, in: EBD. S. 231–252. 37 5 Astrid LINN, »... noch heute ein Faszinosum ...« : zum 9. November 38 1938 und die Folgen, Münster 1991; Otfried JARREN/Klaus-Dieter ALTMEPPEN/Wolfgang 39 SCHULZ, Parteiintern – Medien und innerparteiliche Entscheidungsprozesse. Die Nachfolge 40 Genschers und die Kür Engholms zum SPD-Kanzlerkandidaten, in: Wolfgang DONSBACH u.a. (Hg.), Beziehungsspiele – Medien und Politik in der öffentlichen Diskussion. Fallstudien und 41 Analysen, Gütersloh 1993, S. 111–157. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Einigkeit besteht weiterhin darüber, dass in den 1980er Jahren entscheiden- 2 de Weichen für die Medienentwicklung in Deutschland gestellt wurden. Die 3 Einführung des »dualen« Rundfunksystems öffnete neben den fortbestehenden 4 öffentlich-rechtlichen Sendern auch privaten Anbietern den Markt. Dies er- 5 möglichte einerseits eine bis dahin nicht gekannte Programmvielfalt, führte 6 andererseits aber zur fortschreitenden Kommerzialisierung von Hörfunk und 7 Fernsehen.6 Über die Folgen dieser Öffnung wird bis heute kontrovers disku- 8 tiert. So mangelt es nicht an grundsätzlich kritischen Stimmen, die – eher kul- 9 turpessimistisch – die »Desinformation« der Gesellschaft oder – ideologiekri- 10 tisch – einen neuartigen reduktionistischen, kommerzialisierten und manipu- 11 lativen Charakter der öffentlichen Kommunikation über Politik beklagen.7 12 Unabhängig von normativen Wertungen dürfte indes kaum ein Zweifel be- 13 stehen, dass sich der »theatralische« Charakter von Politik in den 1980er Jah- 14 ren steigerte. Zumindest entsprach dies dem Eindruck, den eine Vielzahl von 15 Beobachtern gewann. Der folgende Beitrag geht von der daraus resultierenden 16 These aus, dass im Zeitalter verstärkt »inszenierter« Politik auch der diskursive 17 Aufwand steigt, der notwendig ist, um für politisch-programmatische Ziele zu 18 werben, sie mehrheitsfähig zu machen und sie schließlich in konkrete Gesetz- 19 gebung umzusetzen. Ob diesem nach außen gewendeten Aufwand dann ein 20 adäquates sachliches Ergebnis entspricht, steht auf einem anderen Blatt und 21 bedarf der jeweils konkreten empirischen Überprüfung. Im Hinblick auf die 22 »Wende« von 1982/1983 sind diesbezüglich jedenfalls Zweifel angebracht. 23 Einer gewaltigen Dramatisierung und »Theatralisierung« von »Wende«-Be- 24 fürwortern wie -Gegnern folgte zwar eine gewisse politisch-sachliche Kurs- 25 korrektur. Über deren Größenordnung und Reichweite kann aber trefflich ge- 26 stritten werden, und keinesfalls standen sie in einem vernünftigen Verhältnis 27 zum zuvor betriebenen diskursiven Aufwand. Im folgenden wird zunächst die- 28 se Auffassung eingehend begründet. Dabei geht es zunächst um die Frage, 29 welche Konzeption hinter dem Begriff der »Wende« lag und in welcher Weise 30 er das öffentliche Reden über Politik strukturierte – das öffentliche Reden, 31 von dem politisches Handeln in der Demokratie ja entscheidend abhängt. Ein 32 zweiter Gedankengang stellt einige allgemeinere Überlegungen an und fragt, 33 ob und inwieweit sich die Politik der achtziger Jahre von früheren Zeiten un- 34 terschied und welche Konsequenzen das für unser heutiges Bild politischen 35 Handelns haben könnte. 36 37 38 6 Siehe Rüdiger STEINMETZ, Initiativen und Durchsetzung privat-kommerziellen Rund- 39 funks, in: J. WILKE (Hg.), Mediengeschichte, S. 167–191, hier S. 179ff. 40 7 Karl STEINBUCH, Die desinformierte Gesellschaft. Für eine zweite Aufklärung, Herford 1989, S. 237ff.; Holger SPÄTH, Meinung und Partizipation. Über Entmündigung und Mei- 41 nungsmanipulation in kulturindustriellen Kommunikationsformen. Kritik und Handlungsper- 42 spektiven, Stuttgart 2000. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Die mediale „Konstruktion“ der Politik und die „Wende“ 129

Die »Konstruktion« der »Wende« 1 2 Die Regierung Kohl/Genscher hatte die »Wende« zum gewissermaßen exklu- 3 siven Markenzeichen ihres Neuanfangs erhoben. Bis Mitte, teils sogar bis zum 4 Ende der achtziger Jahre fand daher ein Heer von Journalisten und Kommen- 5 tatoren in der Analyse der »Wende« einen intellektuellen Lieblingssport. Da- 6 bei war es leicht, auf Defizite hinzuweisen. Denn tatsächlich hatte ja die Rede 7 von der »Wende« oder gar der »geistig-moralischen Wende« einen so hohen 8 Anspruch erhoben, dass sie zum wohlfeilen Bezugspunkt des politischen Dis- 9 kurses werden musste. Der öffentlich festgestellte Stand der »Wende« be- 10 stimmte also bis Mitte, Ende der achtziger Jahre stets auch über die Verteilung 11 von Deutungsmacht in der politisch-kulturellen Auseinandersetzung. 12 In ihren Ursprüngen ging das Konzept der »Wende« bis in die Mitte der 13 siebziger Jahre zurück, als die oppositionelle Union nach neuen Orientierun- 14 gen und Konzepten suchte, um wieder mehrheitsfähig zu werden. Die Strate- 15 gen der Union erkannten damals, dass die Rückkehr zur Macht nur über den 16 Gewinn der Meinungsführerschaft und damit auch über die schlagkräftige Be- 17 setzung politischer Schlüsselbegriffe führen würde. »Indem die SPD positiv 18 besetzte politische Begriffe (Freiheit, Friede, Reform, Solidarität, Mitbestim- 19 mung, Mündigkeit, Emanzipation) für sich beschlagnahmt«, so analysierte 20 1975 der damalige Generalsekretär der CDU, , die Situation, 21 »lässt sie den politischen Gegner nicht nur als bar jeder Konzeption erscheinen, 22 sie macht ihn im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos, d.h. er ist nicht mehr 23 in der Lage, ohne ständige Übernahme auch der geistigen Konzeption des po- 24 litischen Gegners sich auszudrücken und wird so als mögliche politische Al- 25 ternative gar nicht mehr wahrgenommen. Zu Frieden und Freiheit, zu Solida- 26 rität und Mitbestimmung gibt es nämlich keine mehrheitsfähige Alternative.«8 27 Seit Mitte der siebziger Jahre aber gelang es der Union, unter dem Ober- 28 begriff der geforderten »Wende« eine Krisendiagnose zu stellen, die im Kon- 29 text der sogenannten »Tendenzwende« im Kampf um die politische Meinungs- 30 führerschaft bestehen konnte. Vordergründig betrachtet, errichtete das Wen- 31 dekonzept eine starke Kampfstellung gegen die sozial-liberale Koalition. Denn 32 deren rechts- und innenpolitische Reformgesetzgebung wurde als der Quell 33 all jener Krisensymptome gedeutet, die eben eine grundlegende »Wende« er- 34 forderten: Die auf Emanzipation zielende sozial-liberale Politik hatte demzu- 35 folge entscheidend dazu beigetragen, gewachsene Bindungen aufzulösen, Au- 36 torität zu zerstören und die Familie zu diskriminieren. Der ausufernde Sozial- 37 und »Betreuungsstaat« tendierte dazu, den Leistungswillen des Einzelnen zu 38 39 40 41 8 Zit. nach Hans USKE, Die Sprache der Wende, Bonn 1986, S. 14f. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 lähmen, und die Abkehr von der Geschichte zog Orientierungslosigkeit und 2 Identitätsverlust nach sich. 3 Keinesfalls aber erschöpfte sich das Konzept der Wende in Regierungskritik 4 und Kulturpessimismus. Denn auf die umfassende Krise, die es in Politik und 5 Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft diagnostizierte, suchte es durch die Mo- 6 dernisierung überkommener, konservativer Positionen neue Antworten zu ge- 7 ben. Der strategische Kern des Konzepts bestand daher in dem Bestreben, ei- 8 nen neuen, auf »Modernität« verpflichteten Fortschrittsoptimismus hervorzu- 9 bringen unter gleichzeitiger Rückbesinnung auf traditionelle Lebensweisen 10 und wertkonservative Inhalte. Im einzelnen hieß das: den technischen Fort- 11 schritt zu akzeptieren und als Chance zu begreifen, zugleich aber an einem 12 christlichen Menschenbild festzuhalten; an die Eigeninitiative des Einzelnen 13 zu appellieren und zugleich gesellschaftliche Solidarität neu zu definieren; den 14 Kräften des Marktes, der Eigeninitiative und des Wettbewerbs wieder stärkere 15 Geltung zu verschaffen und zugleich die Familie zu fördern; die Geschichte 16 als Stifterin kollektiver Identität in Anspruch zu nehmen und zugleich die spe- 17 zifisch deutsche Verantwortung vor der Geschichte nicht zu leugnen; schließ- 18 lich an der Offenheit der deutschen Frage festzuhalten, zugleich aber die Re- 19 sultate der neuen Ostpolitik anzuerkennen. Indem also das Konzept der »gei- 20 stig-moralischen Wende« in eigentümlicher Weise konservative, liberale und 21 fortschrittsorientierte Elemente miteinander verknüpfte, stellte es ein gewis- 22 sermaßen »progressiv«-konservatives Gesellschaftskonzept zur Krisenbewäl- 23 tigung dar. Und als solches erwies es sich als effizientes Instrument zur Er- 24 ringung diskursiver Meinungsführerschaft und zur demokratischen Eroberung 25 der Macht. 26 Natürlich fällt es im Rückblick leicht, die unaufhebbaren Widersprüche des 27 Wendekonzepts zu diagnostizieren. Allein der Begriff »progressiv«-konser- 28 vatives Gesellschaftskonzept weist ja bereits auf den Grundwiderspruch hin. 29 Aber sein langanhaltender, in Helmut Kohl personifizierter Erfolg erklärte sich 30 eben dadurch, dass es ganz unterschiedliche Bedürfnisse bediente. In ihm 31 konnten sich zumindest kurzfristig diejenigen wiedererkennen, die die »Kul- 32 turrevolution« der sechziger und siebziger Jahre verdammten und auf ein um- 33 fassendes gesellschaftspolitisches »roll back« hofften; jene, für die die natio- 34 nale Frage von Bedeutung war, mochten glauben, der Regierungswechsel er- 35 öffne die Aussicht auf eine kräftigere Deutschlandpolitik und womöglich auf 36 eine Überwindung des deutschlandpolitischen Status quo. Die Familien konn- 37 ten sich von der sie hofierenden Sprache der Wende umhegt fühlen und moch- 38 ten dies positiv mit dem langen familienpolitischen Stillstand unter der sozial- 39 liberalen Koalition konstrastieren. Und wie das Ergebnis der Bundestagswahl 40 vom 6. März 1983 unterstrich, zog das Wendekonzept auch große Teile der 41 jungen Generation an, die nach vorn blickten und von der Zukunft ihre Le- 42 benschance erwarteten. So unterschiedliche Bedürfnisse die »Wende« also be- Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Die mediale „Konstruktion“ der Politik und die „Wende“ 131 diente, so vielfältige Funktionen erfüllte sie auch. In ihrer Rhetorik versöhnte 1 sie die wertkonservativen Schichten zumindest vorübergehend mit der unauf- 2 haltsamen Pluralisierung und Individualisierung der Gesellschaft und bereitete 3 sie damit auf den nächsten Modernisierungsschub vor. Der Wirtschaft ver- 4 sprach sie die Entfesselung der Marktkräfte und den Rückzug des (Sozial-) 5 Staates auf seine Kernaufgaben. Den technokratischen, aufstiegsorientierten 6 Eliten flößte sie neuen Optimismus ein und gab ihnen neue Ziele vor. Und 7 den verbreiteten Zukunftsängsten begegnete sie mit der Rede von Subsidiarität 8 und Solidarität, kleinen Räumen und einer Gesellschaft mit »menschlichem 9 Gesicht«.9 10 Mit solchen Wendungen suchte die Regierung Kohl/Genscher die Deu- 11 tungshoheit über den politisch-kulturellen Prozess zu bewahren. Unter den 12 oppositionellen Kräften verknüpfte sich die »Wende« freilich mit düsteren 13 Befürchtungen vor einer gesellschaftspolitischen Reaktion auf breiter Front, 14 einer Verschärfung der gesellschaftlichen Gegensätze und einer autoritären 15 Kulturpolitik. Was sich tatsächlich als »Wende« vollzog – oder nicht vollzog 16 – wurde somit zu einer eminent wertbehafteten Grundsatzfrage der politi- 17 schen Auseinandersetzung. Jenseits der eher nüchternen Alltagspragmatik 18 wurden die unterschiedlichen Wendemuster gleichsam diskursiv »konstru- 19 iert« und je nach Opportunität als rhetorische Waffe im politischen Mei- 20 nungskampf eingesetzt. So suchten Sozialdemokratie und Gewerkschaften, 21 die ihr nahestehenden Medien und Intellektuellen, aber auch weiteste Teile 22 des linksalternativen Spektrums ein öffentliches Bild von der »Wende« 23 durchzusetzen, das den Regierungswechsel in extremer Weise dramatisierte 24 und darüber hinaus als bloße soziale und kulturelle Reaktion perhorreszierte. 25 Die »Wende« war aus dieser Sicht ein Schritt in die »Ellbogengesellschaft«10 26 oder bestenfalls ein »Strohfeuer von drei Monaten«, gefolgt von einer »Rolle 27 rückwärts in die fünfziger Jahre«11. »Verteidigt die Republik«, so lautete z.B. 28 das Motto einer Großveranstaltung, die Anfang Februar 1983 in Essen zahl- 29 reiche prominente Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller, Gewerkschafter und 30 Politiker aus dem In- und Ausland versammelte, unter ihnen Heinrich Böll, 31 Lew Kopelew und Pavel Kohout. »Wieder einmal hat uns die Vergangenheit 32 eingeholt«, so gab der Veranstalter, der Heidelberger Grafiker und Karika- 33 turist Klaus Staeck, den Ton an. »Der Klassenkampf von oben ist in vollem 34 Gange. Die Wende rückwärts in die 50er Jahre ist schon schlimm genug. Wer 35 aber gibt uns die Garantie, dass es dabei bleibt und nicht noch weiter zurück- 36 37 38 9 Regierungserklärung Kohls vor dem Deutschen Bundestag am 13.10.1982, in: Helmut 39 KOHL, Reden 1982–1984, Bonn 1984, S. 35. 40 10 So das Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstands des DGB, in: Handelsblatt v.19.10.1982. 41 11 Der Spiegel v. 18.10.1982, S. 17, 19. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 geht?«12 Und der SPD-Politiker und frühere Erste Bürgermeister von Ham- 2 burg, Hans-Ulrich Klose, sekundierte: »Die geistig-politische Wende des 3 Kanzlers Kohl entpuppt sich nach wenigen Monaten als drastischer Schwenk 4 in eine steile Rechtskurve. Wir sind auf dem Wege in eine andere, eine christ- 5 demokratische Republik: einen Klassenstaat, der – wie gehabt – Klassen- 6 kampf von oben nach unten betreibt, der Güter und Freiheiten von unten nach 7 oben umverteilt.«13 8 Mit erheblichem diskursiven Aufwand suchten ungezählte Redner, Autoren 9 und Künstler dieses Bild der Wende als bloße Reaktion oder gar als spezifische 10 Form der kulturpolitischen Gegenrevolution im öffentlichen Raum durch- 11 zusetzen. Und in dem Maße, wie der »Wende« eine eigenständige politische 12 Substanz bestritten wurde, geriet ihre Sprache als primäres Angriffsobjekt ins 13 Visier. Die »Sprache der Wende« wurde zu einem beliebten Studienobjekt; 14 mit ihrem ausladenden Appell an Familie und Gemeinschaft, Mitmenschlich- 15 keit und Solidarität erschien sie nicht wenigen als ideologische Camouflage 16 einer interessengeleiteten Umverteilungspolitik: »Da die Politik der Wende so- 17 ziale Lasten auf die Bürger abwälzt, muss Kanzler Kohl die ›Familie‹ geistig- 18 moralisch runderneuern. Den niedrigen ›materiellen‹ Geldinstinkten wird der 19 Kampf angesagt. Wenn die Tochter keine Lehrstelle hat, Omas Rente nicht 20 mehr reicht und der Vater arbeitslos wird – dann brauchen die Familienmit- 21 glieder tatsächlich ›Mitmenschlichkeit‹, ›Partnerschaft‹ und ›Solidarität‹, um 22 nicht durchzudrehen. Auferzwungene Tugenden, zu denen wir mit Kanzler 23 Kohl ›Ja‹ sagen sollen: ›Wer Ja sagt zur Familie, der sagt Ja zu seinem Leben, 24 der glaubt an die Zukunft, der sagt Ja zur Mitmenschlichkeit, zur Partnerschaft 25 und Solidarität.‹ Ganz viele ›Jas‹ verbergen hier das ›Nein‹ zur staatlichen 26 sozialen Absicherung. Geld gibt es nicht, dafür aber spendiert uns Kohl ganz 27 viel Wertschätzung.«14 28 Den Bonner Machtwechsel begleitete also ein tosender Schwall der Worte, 29 durch den die »Wende«, je nach politischem Standpunkt, gefordert, gefürchtet 30 und bekämpft wurde. Aber wurde sie auch politisch exekutiert? Entsprach der 31 diskursiven Aufregung eine Substanz der politischen Entscheidungen? Schon 32 nicht wenige zeitgenössische Kommentatoren hegten ihre diesbezüglichen 33 Zweifel. »Kohl« so kommentierte die Zürcher »Weltwoche« unmittelbar nach 34 dem konstruktiven Misstrauensvotum, »ist letztlich ein konservativer Pragma- 35 tiker, der zwar große Worte liebt (›Ich werbe für die geistige Wende‹), sie 36 aber durch seine bisherige Tätigkeit relativiert.«15 Zwar forderte Strauß auf 37 38 39 12 Klaus STAECK (Hg.), Verteidigt die Republik, Göttingen 1983, S. 25. 40 13 EBD. S. 67. 14 H. USKE (wie Anm. 8), S. 200. Ähnlich Uwe WESEL, Die Sprache der Wende, in: Die 41 Zeit v. 3.6.1988. 42 15 Peter HARTMEIER, Kohls schwierige erste hundert Tage, in: Die Weltwoche v. 6.10.1982. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Die mediale „Konstruktion“ der Politik und die „Wende“ 133 dem Bundesparteitag der CDU, am 26. Mai 1983, die »Wende« dürfe nicht 1 auf die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik beschränkt bleiben, vielmehr 2 sei auch die »geistig-moralische Wende in Gesellschaft und Staat erforder- 3 lich«; und dabei verwies er auf den § 218 und das Ehescheidungsrecht.16 Aber 4 diejenigen, die sich von der Wende einen entsprechend tiefgreifenden gesell- 5 schaftlichen »Wertewandel«17 erhofften, sahen sich alsbald getäuscht. Und der 6 Blick auf einige Indikatoren ließ erkennen, warum eigentlich weder hüben 7 noch drüben zu übermäßiger Aufregung Grund bestand. Anders als es manche 8 Rhetorik wollte, trieben die sozialpolitischen Sparbeschlüsse niemanden in die 9 Verarmung. Die Gesamtsumme des Etats für 1983 stieg um 2,9 %, die Neu- 10 verschuldung auf 41 Mrd. DM im Vergleich zu 40 Mrd. im Vorjahr; und Ger- 11 hard Stoltenberg glaubte in seiner ersten Bewertung des Haushalts den Um- 12 stand hervorheben zu müssen, dass dessen Investitionsquote gegenüber dem 13 Entwurf der alten Regierung von 13 % auf 13,1 % gestiegen sei!18 14 Sehr schnell wurde also deutlich, dass sich die neue Regierung bei ihrem 15 Amtsantritt in einem unauflöslichen Dilemma befand zwischen der akuten 16 Haushalts- und Wirtschaftskrise einerseits und ihrem eigenen, medial insze- 17 nierten »Wende«-Profil andererseits. Das Ergebnis konnte nur widersprüchlich 18 sein: So musste die Koalition auch dort relativ tief in konsumtive Ausgaben 19 hineinschneiden, wo sie gerne mehr ausgegeben hätte: im Bereich der Fami- 20 lienpolitik, wo im Jahre 1983 1,3 Mrd. DM eingespart wurden. Umgekehrt 21 stießen sich die wirtschaftsliberalen Forderungen aus Union und F.D.P. an der 22 Macht der sozialen Tatsachen, die der ökonomische Strukturwandel bewirkte. 23 Das betraf insbesondere die Krisenbranchen Stahl, Kohle und den Schiffsbau, 24 aber auch die Landwirtschaft. Die neue Regierung stellte rasch fest, »dass es 25 in der Opposition bedeutend leichter ist, über die Kürzung von Subventionen 26 zu reden, als die dann de facto ... durchzuführen.«19 Das gleiche galt für die 27 Arbeitslosigkeit. Intern konzedierte man sehr bald, dass es hiergegen keine 28 einfachen Rezepte gab und dass sich der Arbeitsmarkt weitgehend unabhängig 29 vom politischen Willen entwickelte: »Die Situation ist doch dadurch gekenn- 30 zeichnet«, so resümierte etwa der CSU-Bundestagsabgeordnete Faltlhauser im 31 September 1983, »dass wir ... ein Niveau der Arbeitslosigkeit haben, das wir 32 nur schwer mit unseren Instrumenten herunterbringen. Und wir wissen alle – 33 Wissenschaftler, Gewerkschafter, Arbeitgeber, auch wir – nicht so recht, wie 34 wir das machen sollen. Wir sind also doch etwas ratlos.«20 35 36 16 Zit. n. Archiv der Gegenwart, 25.5.1983. 37 17 FAZ v. 8.3.1983 (»Die Wende«). 38 18 Süddeutsche Zeitung v. 29.10.1982. 39 19 So der parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen, Voss, in 40 der Fraktionssitzung der CDU/CSU am 28.10.1982, S. 3, Archiv für christlich-demokratische Politik, Sankt Augustin (ACDP), VIII-001-1070/1 und 1068/2. 41 20 ACDP VIII-001-1071/1, Fraktionssitzung am 6.9.1983, S. 45. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Es war daher nicht überraschend, dass die neue Regierung, in der ja Teile 2 der alten fortbestanden, sehr schnell von der Mühseligkeit der alltäglichen 3 Politik eingeholt wurde. Anfangs ließen sich nur einige wenige, zudem müh- 4 sam ausgehandelte wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Kurskorrekturen 5 durchsetzen. Ansonsten glich die »neue Ära« einem »Aufbruch ins Un- 6 verbindliche«.21 Vergeblich forderten Politiker der Union dazu auf, den 7 »Verkauf« der eigenen Politik zu verbessern und den Sachverhalt bewusst dra- 8 matisch darzustellen und zu »emotionalisieren«. Beklagt wurde in diesem 9 Zusammenhang, dass man immer in der »Defensive« sei, »als ob wir uns im- 10 mer entschuldigen müssten«. Demgegenüber gelte es die richtige Wortwahl 11 zu finden, »den Leuten das klarzumachen, den Leuten draußen zu vermitteln 12 über die Mattscheibe, dass wir es schaffen, weil wir eine geschlossene Truppe 13 sind.« Insbesondere Bundesfinanzminister Stoltenberg wurde – »wo wir ja 14 jetzt die Dreckarbeit leisten müssen« – zu mehr »Emotionalisierung« und dazu 15 aufgefordert, auch vor dem Bildschirm die Sachverhalte »etwas demagogisch« 16 darzustellen.22 17 Auch in die »Hochstimmung« des 6. März 1983 hielt rasch wieder die 18 »ernüchternde Realität des ökonomischen Alltags« Einzug.23 Die komplexen 19 und mit mannigfachen Sachzwängen behafteten politischen Materien blieben 20 bestehen. Sie harrten der Bearbeitung, während die »geistig-moralische« 21 Rhetorik, die den Regierungswechsel begleitet hatte, rasch entbehrlich wurde. 22 Am 11. Oktober 1983, rund ein Jahr nach dem Regierungswechsel, platzte 23 Bundesarbeitsminister Norbert Blüm der Kragen: »Ich bin es wirklich leid, 24 diese Party-Gespräche, mit dem Sektglas in der Hand zu sagen: Wo bleibt 25 denn die Wende? Was habt ihr denn eigentlich getan? Ich bin es wirklich satt! 26 Wenn einer gemeint hat: Wende wäre so, wie man die Heugabel dreht, dann 27 hat er sich allerdings in uns getäuscht, muss ich sagen. Solide muss das Ganze 28 sein. Und dieses ständige Miesmachen: Das hebt nicht nur nicht die Stimmung 29 in der Wirtschaft, es nimmt uns auch den Schwung.«24 30 Aber auch die Anhänger einer wirklichen »geistig-moralischen Wende«, 31 jene im engeren Sinne wertkonservativen Stimmen, die auf die gründliche Kor- 32 rektur der »Fehlentwicklungen« der siebziger Jahre hofften, sahen sich bald 33 in ihren Erwartungen getäuscht. Gerade in dieser Hinsicht trug die neue 34 Regierung lange an der Hypothek, die ihr die eigene Wenderhetorik aufgebür- 35 det hatte: »Dieser Begriff«, so kommentierte die »Süddeutsche Zeitung« mali- 36 ziös, »wurde von den Unionsleuten philosophisch so hoch befrachtet, dass sie 37 38 39 21 Gunter HOFMANN, Gemischte Gefühle, wohin man blickt, in: Die Zeit v. 7.1.1983. 40 22 ACDP VIII-001-1068/2, Fraktionssitzung v. 12.10.1982, S. 41–50 (u.a. Jagoda, Link, Stoltenberg). 41 23 Jürgen JESKE, Ungeduld mit der Wende, in: FAZ v. 26.7.1983. 42 24 ACDP VIII-001-1071/1, Fraktionssitzung v. 11. Oktober 1983, S. 38. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Die mediale „Konstruktion“ der Politik und die „Wende“ 135 nun Mühe haben, den weltanschaulichen Ballast wieder abzutragen. Nicht al- 1 lein von einer Richtungsänderung in der Wirtschaft- und Sozialpolitik sprachen 2 sie ja (dazu hatten sie ein plausibles Mandat!), sondern von einer ›Wende‹ im 3 geistig-moralischen Leben. ... Die wirtschafts- und sozialpolitische Kursände- 4 rung war gewiss notwendig, doch die weltanschauliche Überhöhung der 5 ›Wende‹ missriet ins Lächerliche – und dies zur Verwirrung derer, die daran 6 buchstäblich glaubten. Nun stehen sie da und reiben sich die Augen.«25 7 Tatsächlich erkannten jene, die den mangelnden geistig-moralischen Gehalt 8 der »Wende« empfanden, einen Hauptgrund hierfür in der Koalition der Union 9 mit der F.D.P. Im besonderen betraf dies die Innen-, Rechts- und Gesellschafts- 10 politik. »Hier gibt es keine Wende«, konstatierte die FAZ im Herbst 1984, 11 »und noch nicht einmal Bewegung.«26 Das gesamte Tableau sozialliberaler 12 Reformpolitik der siebziger Jahre, so lautete die Klage, sei so gut wie 13 unangetastet geblieben. Aus dieser Perspektive gingen die als Verfallserschei- 14 nung gewerteten gesellschaftlichen »Emanzipations«-Bewegungen und »Indi- 15 vidualisierungs«-Prozesse der jüngsten Vergangenheit ungebremst und zum 16 Schaden der Bundesrepublik weiter. Unter anderem betraf dies »bis zur Un- 17 kenntlichkeit entschärfte Strafnormen gegen Gewalt bei Demonstrationen, ein 18 bis auf einen fast komisch wirkenden Rest abgebautes Sexualstrafrecht; die 19 weitgehende Gestattung des Verkaufs von Pornographie; die Überantwortung 20 der Wehrpflicht ins Belieben des Einzelnen; eine nicht sachgerechte Ordnung 21 der Entscheidungsprozesse an der Universität; ein ungerechtes Scheidungsfol- 22 genrecht. ... Das hatten sich viele Bürger anders vorgestellt. Sie hatten erwartet, 23 die neue, von der Union geführte Regierung werde mit Elan darangehen, 24 wenigstens einige Resultate einer Rechtspolitik zu beseitigen, die den politi- 25 schen und moralischen Positionen der Union zum größten Teil grundsätzlich 26 widersprochen hatte und von deren führenden Politikern jahrelang angegriffen 27 worden war.«27 28 War also die »Wende« nur eine rhetorische Figur, eine Konstruktion für 29 die Öffentlichkeit ohne politische Substanz? Eine diskursive Waffe besten- 30 falls, geschmiedet für den Parteienkampf und für die Auseinandersetzung um 31 kulturelle Hegemonie? Obwohl vieles für eine solche Auffassung spricht, so 32 würde sie doch zu kurz greifen; zumindest wirft dies die Frage nach dem all- 33 gemeineren historischen Kontext auf, in den die damalige Rhetorik der »Wen- 34 de« einzuordnen ist. 35 36 37 38 39 40 25 Hans HEIGERT, Am Ende der Wende, in: Süddeutsche Zeitung v. 28.7.1983. 26 Johann Georg REISSMÜLLER, Wo alles beim Alten bleibt, in: FAZ v. 6.9.1984. 41 27 Ebd. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Die »Medialisierung« der Politik 2 3 Zunächst entsprach (und entspricht) es den besonderen institutionellen Bedin- 4 gungen der Bundesrepublik, dass politische Entscheidungen nur in kleinen, 5 meist unspektakulären Schritten erfolgen konnten (und können). Die Hand- 6 lungsspielräume der Politiker waren (und sind) begrenzt; umfassendere 7 »Wende«-Konzepte bzw. -Maßnahmen hätten sich rasch an den machtpoliti- 8 schen Gegebenheiten der föderalen Verfassung und den Veto-Positionen der 9 Verbände und Interessengruppen gestoßen. Die Logik der Bonner Politik 10 folgte nicht dem »Westminster«-Modell, in dem die Souveränität des Parla- 11 ments und die Macht der Zentralregierung den Ausschlag geben.28 12 Dies erklärt zum einen, dass in der Bundesrepublik der achtziger Jahre 13 »typischerweise weniger, später und langsamer ›gewendet‹ [wurde] als in den 14 anderen großen westlichen Industriestaaten«.29 Zum anderen verweist dieser 15 Befund aber auch auf die Tatsache, dass selbst geringfügige Kurskorrekturen 16 eines erheblichen diskursiven Aufwandes bedurften, um in der Öffentlichkeit 17 ausreichend legitimiert und in praktische Politik umgesetzt werden zu können. 18 Die pluralistische Verfasstheit der modernen Massendemokratie und ihre me- 19 diale Inszenierung verlangten (und verlangen) nach einer stetigen öffentlichen 20 und die öffentliche Zustimmung erheischenden Präsentation der Absichten wie 21 der konkreten Projekte von Regierung und Opposition. Zwischen der öffent- 22 lichen Präsentation von Politik einerseits und dem Gehalt, aber auch den 23 Zwängen konkreter Sachpolitik andererseits tat sich mithin eine Kluft auf. Die 24 Geschichte der »Wende« von 1982/83 ist mithin ein gutes Beispiel für die 25 Doppelstruktur demokratischer Politik im modernen Medienzeitalter: Auf der 26 einen Seite erfolgte in der Öffentlichkeit die »Konstruktion« und mediale Ver- 27 mittlung der Politik der »Wende«; das Handeln von Parteien und Politikern 28 wurde dabei in einem Maße als voluntaristisch und als von der Intention der 29 Akteure abhängig dargestellt, das zu den realen Möglichkeiten politischer Ge- 30 staltung in keinem vernünftigen Verhältnis stand. Denn die auf der anderen 31 Seite durchzuführende Sachpolitik stieß stets und unerbittlich auf die engen 32 Grenzen des Machbaren, des Finanzierbaren und des politisch Durchsetzbaren. 33 Nun wohnte eine solche Ambivalenz, eine Doppelstruktur, massenparti- 34 zipatorischen Politikformen schon immer inne; wurde sie aber durch die Domi- 35 nanz der modernen elektronischen Medien nicht in entscheidender Weise qua- 36

37 28 Vgl. Martin GREIFFENHAGEN/Sylvia GREIFFENHAGEN, Ein schwieriges Vaterland. Zur 38 politischen Kultur im vereinigten Deutschland, Neuaufl. München u. Leipzig 1993, S. 239f.; 39 Josef SCHMID, Der Machtwechsel und die Strategie des konservativen Bündnisses, in: Werner 40 SÜSS (Hg.), Die Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren. Innenpolitik, Politische Kultur, Außenpolitik, Opladen 1991, S. 19–34, hier S. 29ff. 41 29 Douglas WEBBER, Das Reformpaket: Anspruch und Wirklichkeit der christlich-liberalen 42 »Wende«, in: W. SÜSS (wie Anm. 28), S. 152–170, hier S. 166. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Die mediale „Konstruktion“ der Politik und die „Wende“ 137 litativ verstärkt? Politische Beobachter jedenfalls empfanden es Mitte der acht- 1 ziger Jahre als zumindest teilweise neues und zugleich beunruhigendes 2 Phänomen, in welch unverhüllter, ja »aufreizender« Weise die Spitzenpolitiker 3 aller Parteien sich selbst in den Medien darzustellen suchten: »wie sehr die 4 Frage des ›Erscheinungsbildes‹, des ›Images‹ selbst zum innenpolitischen 5 Thema wird. In unserem Medienzeitalter tritt die Wirksamkeit von Öffent- 6 lichkeitsarbeit, von ›Public Relations‹ mindestens gleichrangig neben andere 7 Instrumente öffentlicher Erfolgskontrolle.«30 Und viele sangen das Klagelied 8 über die Entleerung, die formelhafte Erstarrung und damit die Austausch- 9 barkeit öffentlich inszenierter Politik sowie über die Rückwirkungen, die dies 10 auf Rekrutierung und Verhalten des politischen Personals hatte. Man stellte 11 eine Tendenz zur »Hysterisierung« fest; allzuoft würden die politisch tiefer- 12 gehenden und eigentlich entscheidenden Fragen von der »Hektik des politi- 13 schen Betriebs, seiner Produktion von Worten und Widerworten« verdrängt.31 14 Und die Öffentlichkeit beschleiche »zunehmend der Eindruck, dass 15 Wortschwall und Eitelkeit der Medien-Selbstdarstellung die politische Kultur 16 kaum bereichern, sondern ständig aushöhlen. Das trifft zum einen gerade die, 17 die sich in der elektronisch vermittelten Öffentlichkeit herausgehoben fühlen. 18 Nicht nur die immer strapaziöseren Tagesgeschäfte, mindestens ebenso die 19 pausenlosen Auftritte in den Medien verschleißen die Politiker, die darüber 20 ihre Sprache verlieren. Die gestanzten, floskelhaften, abgepackten Statements 21 in Fernsehzeiten sind längst zur zweiten Sprache der Politik geworden. Posi- 22 tionen und Personen werden in dieser Praxis immer austauschbarer, der 23 Wunsch nach den großen politischen Persönlichkeiten scheint auch so immer 24 illusionärer. Die Folgen sind mittlerweile absehbar: das sich gegenseitig 25 möglichst übertönende Interview- und Erklärungsgetöse trägt Aggressionen 26 in eine Gesellschaft, die den ruhigen, sachlichen Dialog braucht. Eine ide- 27 alistisch besehen selbstbewusste, konsequente und kontinuierliche Politik 28 reagiert unter dem Beschuss der pausenlos veröffentlichten Meinung und 29 Selbstdarstellung immer kurzfristiger, lässt sich sogar nötigen.«32 30 Solcher Logik entsprach es, wenn auch für die Regierung Kohl und ihre 31 Repräsentanten die Frage, wie sie die eigene Position in der Öffentlichkeit 32 »verkauften«, phasenweise zum eigentlichen Inhalt der Politik wurde. Dass 33 der Kanzler selbst zu den Medien ein gespaltenes Verhältnis hatte und »kein 34 wirksamer Darsteller seiner Politik« war, leugneten auch diejenigen nicht, 35 die ihm nahestanden. Andererseits gehörten »Schauspielerei, Sprachartistik 36 ... nun einmal zum Kanzlergeschäft.«33 Ob er es wollte oder nicht: Der Kanz- 37 38 39 30 Jens WENDLAND, Die Selbstdarsteller, in: FAZ v. 20.12.1984. 40 31 Helmut HERLES, »Was der Bonner Politik fehlt«, in: FAZ v. 7.1.1984. 32 J. WENDLAND (wie Anm. 30). 41 33 Johann Georg REISSMÜLLER, Von unmetallischer Härte, in: FAZ v. 18.6.1986. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 ler selbst war ein entscheidendes »Medium« der Politik, in dem sich politische 2 Aussage und politische Kritik bündelten. Kohl selbst war sich dieser medialen 3 Rolle seiner Person bewusst. Das »Wesen des Fernseh-Zeitalters« sei es, 4 »dass Politik sich heutzutage mehr als in früheren Zeiten ... personalisiert. 5 Und ... es [ist] ganz klar, dass die Spitzen-Figuren und der Spitzen-Mann ... 6 eine ganz besondere Rolle spielen. Und jede Demontage des Spitzenmannes 7 hat natürlich Auswirkungen auf das Gesamte der Politik, die dargestellt 8 wird.«34 Insofern wirkte der schwere Stand, den Kohl zumindest in den ersten 9 Jahren seiner Kanzlerschaft bei einem Großteil der Medien hatte, auf den Ge- 10 samtzustand der Koalition zurück. Hinzu kamen die regelmäßigen Meinungs- 11 verschiedenheiten innerhalb der Koalition, die allzu häufig in der Öffent- 12 lichkeit ausgetragen wurden. Zusammen ergab dies ein Erscheinungsbild, mit 13 dem auch die Mitglieder des Regierungslagers notorisch unzufrieden waren. 14 Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU etwa diskutierte häufig die Frage, wie 15 die Politik der Regierung »verkauft«, wie sie »draußen« vertreten werden 16 könne und in welche »Semantik« sie für diesen Zweck gekleidet werden 17 müsse. 35 18 Solche vielfach diagnostizierte »Medialisierung«, »Visualisierung« und in- 19 haltliche Reduzierung der Politik bildeten während der achtziger Jahre einen 20 zunehmend wichtigen Gegenstand der politik- und kommunikationswissen- 21 schaftlichen Analyse. Auch Politikwissenschaftler erhoben die Klage, das 22 Fernsehen müsse komplexe Inhalte und Vorgänge extrem verkürzen und per- 23 sonalisieren. Der Zwang zur Visualisierung begünstige die »im Sinne des 24 Wortes im Rampenlicht Stehenden – bei Empfängen, Reisen, Konferenzen, 25 mit glamourösem Ambiente, Händeschütteln«, nicht aber die »politischen ›Ar- 26 beiter‹ in den Hinterzimmern des Parlaments und anderen Koordinationszen- 27 tren.« Das mache Politik scheinbar oberflächlich und kurzatmig – und zwar 28 ganz im Gegensatz zur komplexen Wirklichkeit, die immerzu mehr Sachver- 29 stand, Detailkenntnis, Rationalität und Entscheidungskompetenz abverlangt. 30 Der Widerspruch drohe auf die Politik selbst zurückzuschlagen, sie zum ›Thea- 31 ter‹ zu machen, zur bloßen Kunst der Darstellung, des ›Verkaufens‹.36 32 Tatsächlich war (und ist) es verführerisch, den häufig trüben Zustand der 33 alltäglichen Politik am Idealzustand »vernünftiger« Sachpolitik und eines »ra- 34 tionalen Diskurses« zu messen und infolgedessen zu verwerfen. Die »Fernseh- 35 demokratie« erschiene dann als eine weitere Etappe im »Strukturwandel« oder 36 37 34 ACDP VIII-001-1074/1, Fraktionssitzung v. 11.6.1985, S. 17f. 38 35 Siehe z.B. ACDP VIII-001-1068/2, 1070/2, 1070/1, 1071/1 und 1072/1; Fraktionssit- 39 zungen v. 12. u. 28.10.1982; 20.1.1983, S. 2; 23.3.1983; 6. u. 27.9.1983 und 25.5.1984. 40 36 Hans HEIGERT, Wer in der Demokratie den Ton angibt, in: Süddeutsche Zeitung v. 22./ 23.10.1988; vgl. Heinrich OBERREUTER, Mediatisierte Politik und politischer Wertewandel, 41 in: Frank E. BÖCKELMANN (Hg.), Medienmacht und Politik. Mediatisierte Politik und politi- 42 scher Wertewandel, Berlin 1989, S. 31–41. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Die mediale „Konstruktion“ der Politik und die „Wende“ 139 auch im Verfall »bürgerlicher Öffentlichkeit«.37 Ohne Schwierigkeiten lässt 1 sich daher die vielfach erhobene Klage über die »mediatisierte Politik« in die 2 Kategorien der Parlamentarismuskritik von Carl Schmitt bis zu Jürgen Haber- 3 mas einordnen. Die Politik der ursprünglich im Parlament deliberierenden Ver- 4 sammlung und des in der Öffentlichkeit vernünftig räsonierenden Publikums 5 wären im Fernsehzeitalter endgültig zur permanenten Show degeneriert. 6 Aber es ist fruchtlos und historisch inadäquat, als Quelle politischen Übels 7 »die Medien« verantwortlich zu machen. Angemessener dürfte es sein, die 8 beschriebenen Phänomene – deren politische Wirkung unstrittig ist – innerhalb 9 eines Modells zu begreifen, das die doppelte Struktur demokratischer Politik 10 ohnehin als gegeben annimmt. Demokratie und Meinungsfreiheit hängen his- 11 torisch ursächlich miteinander zusammen und lassen sich nicht trennen. In- 12 sofern war und ist das Reden über Politik, aber auch die Verkürzung und 13 »Theatralisierung« politischer Inhalte, dem demokratischen Prozess wohl un- 14 vermeidlich inhärent. Ein vor dem Publikum inszenierter, gleichsam agonaler 15 Zug demokratischer Politik ist die Folge. Und eine Vielzahl von historischen 16 Forschungen legt die Vermutung nahe, dass dieser »konstruktivistische« Cha- 17 rakter von Politik mit der Entstehung der Öffentlichkeit seit dem 17. Jahrhun- 18 dert wesenhaft verknüpft ist und seitdem fortdauert.38 Insofern wären auch 19 die neuen Erscheinungen der »Fernsehdemokratie« und der »Mediatisierung« 20 der Politik, wie sie in der Bundesrepublik der achtziger (und neunziger) Jahre 21 diskutiert wurden (und werden), in einen weiteren historischen Zusammen- 22 hang zu stellen. Und die Geschichte der »Wende« von 1982/83 wäre hieraus 23 nur ein kleiner Ausschnitt. 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 37 Vgl. Jürgen HABERMAS, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer 39 Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Darmstadt 1962, S. 211ff. 40 38 Vgl. zum historischen »Modellfall«, auf den sich auch Habermas bezog, Andreas WIR- SCHING, Parlament und Volkes Stimme. Unterhaus und Öffentlichkeit im England des frühen 41 19. Jahrhunderts, Göttingen 1990, S. 343ff. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

1 2 3 Mit Naturnotwendigkeit eintretende Veränderungen – 4 Oder: Was die Regierung Kohl zum Mauerfall beitrug* 5 6 Von Hanns Jürgen Küsters 7 8 Niemand glaubte in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre an eine unmittelbar 9 bevorstehende Wende in der Nachkriegsgeschichte. Konnten wir es wirklich 10 nicht ahnen? »Alle großen historischen Ereignisse«, meinte Konrad Adenauer 11 in seinen Erinnerungen, »treten fast nie in stürmischer Entwicklung von heute 12 auf morgen ein«. Die »auf Grund innerer Entwicklungen mit Naturnotwen- 13 digkeit eintretenden Veränderungen« seien zwar »langsamer, aber erfolgrei- 14 cher«.1 15 War vielleicht der Fall der Mauer in Wirklichkeit gar kein schlagartiger Um- 16 schwung, sondern lediglich der Endpunkt einer behäbigen Schritt-für-Schritt- 17 Politik, deren Erfolg kaum jemand mehr für möglich hielt? Wir können die 18 Frage auch anders stellen: Was hat die Bundesregierung unter Helmut Kohl 19 zum Fall der Mauer beigetragen? 20 Jene komplexen Entwicklungen, die zur Beseitigung der Teilung Deutsch- 21 lands und Europas 1989/90 führten, kann nur verstehen, wer drei grundsätz- 22 liche Aspekte in Betracht zieht. Erstens sind die deutschlandpolitischen Rah- 23 menbedingungen, unter denen die christdemokratisch-liberale Regierung 24 Kohl/Genscher im Oktober 1982 ihr Amt antrat, und ihre Zielsetzungen dar- 25 zulegen. Als Zweites ist zu fragen, inwieweit hat die Politik der Regierung 26 Kohl die Entwicklungen des Jahres 1989 beschleunigt. Und drittens bleibt zu 27 prüfen, welche kurzzeitig, konstellationsbedingt wirksamen Faktoren die Er- 28 eignisse des 9. November 1989 begünstigten. 29 30 Ausgangssituation 31 32 Der nach dem Regierungswechsel 1982 befürchtete radikale Kurswechsel in 33 den innerdeutschen Beziehungen als Folge des sich verschlechternden Ost- 34 West-Klimas nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan 1979/ 35 80 und der Verhängung des Kriegsrechts 1981 in Polen blieb aus. Vielmehr 36 knüpfte die Regierung Kohl an die Deutschlandpolitik Konrad Adenauers und 37 Willy Brandts an, indem sie Prinzipientreue in der Systemabgrenzung und 38 39 40 1* Erweiterte Fassung eines Vortrags am 23. Oktober 2001 in Berlin im Rahmen der von der Konrad-Adenauer-Stiftung veranstalteten Reihe »Deutschlandpolitik nach dem Mauerbau« 41 1 Konrad ADENAUER, Erinnerungen 1955–1959, Stuttgart 1967, S. 242. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 beim Offenhalten der deutschen Frage bewies.2 Durch ihre Pacta-sunt-servan- 2 da-Politik der Anerkennung des Grundlagenvertrages mit der DDR von 1972 3 und der Respektierung der Viermächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten 4 stellte sie Kontinuität her. Die neue Regierung in Bonn respektierte de facto 5 die DDR, weil diese nicht mehr zu ignorieren war und weil der bundesdeutsche 6 Wähler aus dem Geist der Zeit ein auf Entkrampfung ausgerichtetes Nachbar- 7 schaftsverhältnis mit der DDR mehr honorierte als ein unveränderter Parteien- 8 streit um die Entspannungspolitik. Das war keinesfalls selbstverständlich. Im- 9 merhin hatten CDU und CSU den Grundlagenvertrag im Deutschen Bundestag 10 abgelehnt, sich beim Moskauer Vertrag von 1970 der Stimme enthalten3 und 11 dem KSZE-Prozess äußerst skeptisch, ja teils ablehnend gegenübergestanden. 12 Unverändert aber bildeten der Auftrag des Grundgesetzes zur Vollendung 13 der Einheit und Freiheit Deutschlands und der Brief zur deutschen Einheit vom 14 12. August 1970 den rechtlichen Rahmen der Deutschlandpolitik. Die Bundes- 15 regierung folgte dem vereinbarten Modus vivendi mit der DDR,4 Felder ge- 16 meinsamer Zusammenarbeit zu suchen. Das wiederum implizierte auch: Beide 17 Seiten wussten, es gibt offene Fragen, die derzeit nicht lösbar waren. 18 Genau genommen stellten die Regierungserklärungen Helmut Kohls vom 19 Oktober 1982 und Mai 19835 einen Kompromiss dar aus Elementen der Kon- 20 tinuität zur Regierung Helmut Schmidt hinsichtlich der Prioritäten praktischer 21 Kooperation, was die Verbesserung des Reise- und Besucherverkehrs, vor al- 22 lem für Berlin, und den innerdeutschen Handel anbelangte, und einigen Ge- 23 genakzenten zum bisherigen deutschlandpolitischen Kurs. Kohl erwähnte den 24 Nationalstaat der Deutschen, der »zerbrochen« sei, doch betonte er zugleich 25 den Fortbestand der deutschen Nation. Damit setzte er den Kontrapunkt zur 26 Regierungserklärung Brandts von 1969, der erstmals »zwei Staaten in 27 Deutschland« anerkannte. Als Konzession an den Koalitionspartner bekräft- 28 igte Kohl den Satz Hans-Dietrich Genschers »Deutschlandpolitik ist euro- 29 päische Friedenspolitik«. In der Folgezeit benutzte der Kanzler die Formel 30 »Zusammenarbeit der deutschen Staaten« oder sprach von »beide Staaten in 31 Deutschland«. Das implizierte die Anerkennung der Realitäten und die Akzep- 32 tanz dessen, was schon Adenauer wusste, aber öffentlich nie zu sagen gewagt 33 hatte: Nämlich, dass sich die Wiedervereinigung nur zwischen den beiden 34 35 36 2 Regierungserklärung Kohls, 13. Oktober 1982, in: Verhandlungen des Deutschen Bun- destages, Sten.Ber., 9. WP, Bd. 122, S. 7213–7229, hier S. 7227f. 37 3 Peter GRAF KIELMANSEGG, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten 38 Deutschland, Berlin 2000, S. 210–212. 39 4 Zu diesbezüglichen Bemühungen der von SPD und FDP geführten Bundesregierung in 40 den siebziger Jahren: Helga HAFTENDORN, Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschrän- kung und Selbstbehauptung, 1945–2000, Stuttgart–München 2001, S. 177–209. 41 5 Regierungserklärung Kohls, 4. Mai 1983, in: Verhandlungen des Deutschen Bundesta- 42 ges, Sten.Ber. 10. WP, Bd. 124, S. 56–74, hier S. 73f. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Mit Naturnotwendigkeit eintretende Veränderungen 143 deutschen Staaten und Berlin abspielen werde.6 Doch auch Kohl hielt die Über- 1 windung der Teilung »nur in historischen Zeiträumen« für denkbar. 2 Aus dem fundamentalen Dissens zwischen Regierung und Opposition seit 3 1969 über die De-facto-Anerkennung der DDR war nunmehr Konsens ent- 4 standen. Allerdings existierten weiterhin Auffassungsunterschiede über die 5 Frage, ob nicht auch der Legitimitätsvorbehalt gegenüber dem SED-Regime 6 fallengelassen werden solle. Damit verband sich das Problem, ob die deutsche 7 Frage noch als offen zu bezeichnen sei. Kohl betonte den ideologischen Ge- 8 gensatz zur DDR und lehnte insbesondere Erich Honeckers Geraer Forderun- 9 gen nach endgültiger Anerkennung der innerdeutschen Grenze, eigener DDR- 10 Staatsbürgerschaft und Abschaffung der Erfassungsstelle in Salzgitter ange- 11 sichts von Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl7 ab. 12 Letztlich verfolgte die Regierung Kohl einen Mittelkurs zwischen Konfron- 13 tation gegenüber der DDR und dem Anspruch einer europäischen Friedens- 14 politik. Doch was erreichte sie mit der Fortsetzung der pragmatischen Deutsch- 15 landpolitik? 16 Erstens, im September 1983 wurde zunächst die erste, allerdings noch ziem- 17 lich schwache Rechtsgrundlage für Ausreiseanträge geschaffen, die ab 1984 18 zum Anstieg der Bewilligung von Übersiedlungsanträgen führte. Nachdem die 19 Zahl der Westreisen von Bürgern aus der DDR unterhalb des Rentenalters 20 1984 bei 61 000 und 1985 bei 66 000 gelegen hatte, schnellte 1986 die Be- 21 sucherzahl in die Höhe von knapp einer viertel Million (244 000) – ein Niveau, 22 das in den siebziger Jahren niemand für möglich gehalten hätte. 1987 und 1988 23 lag die Zahl bei jeweils mehr als 1,2 Millionen Besuchern,8 von denen nicht 24 einmal jeder Zweihundertste in der Bundesrepublik blieb. Immerhin konnten 25 sich zwischen 1986 und 1988 aufgrund »dringender Familienangelegenheiten« 26 knapp 3 Millionen Deutsche aus der DDR, also jeder Sechste, selbst einen 27 Eindruck von westlichen Lebensverhältnissen verschaffen. Durch diese schlei- 28 chende, aber qualitative Veränderung in den innerdeutschen Beziehungen be- 29 kam die Mauer weitere Risse und wurde poröser. 30 Zweitens, die ökonomische Abhängigkeit der DDR von der Bundesrepublik 31 wuchs in den achtziger Jahren zusehends.9 Bei den Auseinandersetzungen über 32 33 34 6 Vgl. Hanns Jürgen KÜSTERS, Der Integrationsfriede. Viermächte-Verhandlungen über 35 die Friedensregelung mit Deutschland 1945–1990, München 2000, S. 610–613. 36 7 Rede Honeckers zur Eröffnung des SED-Parteilehrjahres 1980/81 in Gera, 13. Oktober 1980, in: Texte zur Deutschlandpolitik, Reihe II/Bd. 8, 20. März 1980 – 1. Oktober 1982, hg. vom 37 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bonn 1983, S. 170–179, hier S. 177–179. 38 8 Angaben in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehung (Hg.), Jahresbericht 1985, 39 Bonn 1986, S. 19; Jahresbericht 1986, Bonn 1987, S. 20; Jahresbericht 1987, Bonn 1988, S. 25. 40 9 Siegfried KUPPER, Eine »schonungslose offene« Information. Der wirtschaftliche Leis- tungsvergleich der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik der DDR im Vorfeld des Ho- 41 necker-Besuchs in Bonn 1987, in: Deutschland Archiv 34 (2001), S. 759–768. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 die Bürgschaft für einen Milliardenkredit der DDR bei westdeutschen Banken 2 1983 handelte es sich vordergründig um einen Streit über unterschiedliche Hand- 3 lungsstrategien. Franz Josef Strauß bezweckte nach dem Prinzip Leistung und 4 Gegenleistung, die innerdeutschen Wirtschaftsbeziehungen als Hebel zu benut- 5 zen, um die SED-Führung zu humanitären Zugeständnissen zu veranlassen.10 6 Kohl und Genscher hingegen wollten nie so recht am innerdeutschen Handel 7 rühren, weil die Menschen in der DDR darunter zu leiden hätten. Jeder neue 8 Impuls in den deutsch-deutschen Beziehungen stärkte nach Meinung Genschers 9 aber zugleich den Zusammenhalt der Nation und diente der Stabilität in Europa.11 10 Mit Gewährung des Kredits, der Entscheidung über die Stationierung der 11 Mittelstreckenwaffen und neuen Integrationsanstrengungen nach der Dekla- 12 ration der Europäischen Union im Juni 1983 entbrannte in der Bundesrepublik 13 die Diskussion über drei zentrale Fragen: Erstens, soll langfristig gesehen die 14 europäische Einigung oder die Wiedervereinigung Priorität haben? Zweitens, 15 wie soll das Verhältnis von sicherheitspolitischer Westbindung zum Ziel der 16 Wiedervereinigung gestaltet werden? Und drittens, wie weit sollen Anstren- 17 gungen gehen, die Teilung durch innere Anerkennung und Legitimierung der 18 SED-Führung zu überwinden?12 Im Kern betraf es die strategische Grundsatz- 19 frage der Weiterführung oder tendenziellen Abkehr von dem von Egon Bahr 20 und Willy Brandt seit 1963 propagierten Konzept »Wandel durch Annähe- 21 rung«. Niemand konnte vorhersagen, ob die Bundesregierung mit dem Milli- 22 ardenkredit Systemstabilisierung im Sinne der SED betrieb oder ob die DDR- 23 Führung vielleicht flexibler reagieren würde, sobald wirtschaftliche Stabilität 24 geschaffen wäre, und sich dadurch die Voraussetzungen für die Überwindung 25 der Teilung Deutschlands verbesserten, wenn es zu weitergehender Koopera- 26 tion mit der DDR käme. 27 Vereinfacht gesehen, herrschten in den Unionsparteien zwei Denkschulen 28 vor: die Verteidiger der alten Rechtspositionen – allen voran Franz Josef 29 Strauß, , , und Herbert Czaja13 – 30 hielten am Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes und der Abgren- 31 zungsstrategie gegenüber der DDR fest. Sie konnten daher sehr gut mit dem 32 Sechs-Punkte-Forderungskatalog der CSU vom 25. April 198314 leben. Dieser 33 34 35 10 , Die Erinnerungen, Berlin 1989, S. 470–483. 36 11 Hans-Dietrich GENSCHER, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 489. 12 Wolfgang JÄGER, Die Deutschlandpolitik der Bundesregierungen der CDU/CSU-FPD- 37 Koalition (Kohl/Genscher), die Diskussion in den Parteien und in der Öffentlichkeit 1982– 38 1989, in: Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-Kommission Aufarbeitung von 39 Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland, 12. WP, Bd. V/2, Baden-Baden 40 1995, S. 1572–1611, hier S. 1595. 13 , Unterwegs zum kleinsten Deutschland? Mangel an Solidarität mit den 41 Vertriebenen. Marginalien zu 50 Jahren Ostpolitik, Frankfurt/Main 1996, S. 612–621. 42 14 »Die CSU legt Sechs-Punkte-Katalog zur Deutschlandpolitik vor«, in: FAZ v. 26.4.1983. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Mit Naturnotwendigkeit eintretende Veränderungen 145 verlangte den Abbau der Schikanen bei der Grenzabfertigung, Einhaltung des 1 Prinzips von Leistung und Gegenleistung, beharrte auf das Urteil des Bundes- 2 verfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag vom 31. Juli 197315 in der Ab- 3 sicht, das Bewusstsein der nationalen Einheit und das Ziel der Wiederverei- 4 nigung aufrechtzuerhalten und die einheitliche deutsche Staatsbürgerschaft 5 nicht in Frage zu stellen. 6 Dagegen sahen die mehr dem damaligen Entspannungsdenken Anhängen- 7 den, zu denen Volker Rühe, und zählten, die 8 damalige Rechtslage in Deutschland als weitgehend festgezurrt an. Sie setzten 9 zum Zwecke des Fortkommens in den innerdeutschen Beziehungen auf einen 10 pragmatischen Kurs. Der Streit drehte sich im Grunde darum, ob eher eine Of- 11 fensiv- oder mehr eine Defensivstrategie zum angestrebten Ziel führen werde.16 12 Die Strategie der Bundesregierung zielte zunächst darauf, praktische Ko- 13 operation und finanzielle Unterstützung der DDR von Fortschritten im Reise- 14 verkehr, humanitären Erleichterungen und der Senkung des Mindestumtauschs 15 abhängig zu machen. Die DDR dagegen setzte auf friedenspolitische Parolen 16 in der Hoffnung, den Druck der Straße, den die Friedensbewegung in der Bun- 17 desrepublik gegen die Regierung Kohl ausübte, auszunutzen und sich selbst 18 als Vorkämpferin der Rüstungskontrolle in der westlichen Öffentlichkeit zu 19 profilieren. 20 Kein Bonner Politiker brachte in jener Zeit den Milliardenkredit mit dem 21 in Verbindung, was er für die SED in Wirklichkeit bedeutete: eine Überle- 22 bensfrage der DDR. Insgeheim meinten viele, die SED-Führung versuche die 23 Bundesrepublik zu erpressen nach der Devise: Entweder erhalte Ost-Berlin 24 Hilfe, oder die innerdeutschen Beziehungen würden sich im Zuge der unnach- 25 giebigen sowjetischen Haltung in den Verhandlungen über die Stationierung 26 von Mittelstreckenwaffen abkühlen. 27 Kohl war sich – wie er später äußerte – anscheinend der mit der Kreditbürg- 28 schaft verbundenen Machtstabilisierung der SED sehr wohl bewusst,17 meinte 29 aber, dadurch könne die Grenze weiter geöffnet werden. Der Strategie der Bun- 30 desregierung lag die Annahme zugrunde, je mehr sie mit Ost-Berlin kooperiere, 31 desto stärker werde die DDR penetriert und unterminiert. Die bundesdeutsche 32 33 34 15 »Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prü- 35 fung des Gesetzes zum Vertrag vom 21. Dezember 1972 über die Grundlagen der Beziehungen 36 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. Juni 1973«, in: Texte zur Deutschlandpolitik, Reihe II/Bd. 1, 22. Juni 1973 – 18. Februar 37 1974, hg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bonn 1975, S. 79–110. 38 16 Darstellung der unterschiedlichen Auffassungen bei Matthias ZIMMER, Nationales In- 39 teresse und Staatsraison. Zur Deutschlandpolitik der Regierung Kohl 1982–1989 (Studien zur 40 Politik, Bd. 18), Paderborn 1992, S. 85–111. 17 Ausführungen Kohls in der 53. Sitzung der Enquete-Kommission, 4. November 1993, 41 in: Materialien der Enquete-Kommission (wie Anm. 12), Bd. V/1, S. 915–926, hier S. 919f. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Politik basierte auf der Philosophie, bessere Lebensumstände der Bevölkerung 2 in der DDR seien die Voraussetzung für jegliche politische Entspannung in Eu- 3 ropa. Angesichts der Entwicklungen in Polen befürchtete die Bundesregierung 4 den Ausbruch von Unruhen auch in der DDR mit unkontrollierbaren Folgen für 5 die Bundesrepublik und den gesamten mitteleuropäischen Raum. 6 Dem Kanzler kam das Milliardenkreditgeschäft durchaus gelegen, weil es 7 gleich mehrere politische Vorteile implizierte. Der Kredit signalisierte Koope- 8 rationsbereitschaft, setzte in der Raketenrüstungsdiskussion ein Zeichen, eine 9 Eiszeit in den Ost-West-Beziehungen zu vermeiden, und brachte Bewegung 10 auf innerdeutscher Schiene. Zudem war Kohl ein geschickter koalitionspoli- 11 tischer Schachzug gelungen, indem er die Streithähne Genscher und Strauß 12 eingebunden hatte. Allerdings bekam der Bundeskanzler ein Problem der 13 Glaubwürdigkeit seiner Politik in den eigenen Reihen, weil er vom Prinzip 14 Leistung und Gegenleistung abrückte. 15 Wegen der katastrophalen Wirtschaftslage war auch Honecker an einem 16 Sonderverhältnis und praktischen Lösungen interessiert. Die DDR hielt sich 17 daher bei der sowjetischen Sanktionspolitik als Reaktion auf die Umsetzung 18 des NATO-Nachrüstungsbeschlusses bei den Mittelstreckenwaffen merklich 19 zurück. Schließlich war es die deutsch-deutsche Entspannungspolitik, die Ho- 20 necker Möglichkeiten zur größeren außenpolitischen Selbständigkeit bot. Die 21 DDR-Führung lehnte zwar das Junktim Kredit gegen vertragliche Verpflich- 22 tungen zu humanitären oder sonstigen Leistungen ab, dennoch lenkte sie still- 23 schweigend in drei Punkten ein: beim Abbau der Selbstschussanlagen, später 24 auch der Minenstreifen, bei der Ermäßigung des Pflichtumtauschsatzes bei 25 Rentnern und Reisen von Jugendlichen bis 14 Jahren und hinsichtlich der Er- 26 leichterungen bei der Familienzusammenführung. 27 Im Grunde verfolgte die Bundesregierung eine Politik der Vorleistung in 28 der Erwartung, die Gegenseite besitze genügend Moral, diese zu honorieren. 29 Vertrauen gegen Vertrauen zu setzen – darin bestand der eigentliche Deal, auf 30 den sich Bonn und Ost-Berlin einließen. 31 32 Internationale Rahmenbedingungen 33 34 Welche internationalen Entscheidungen wirkten auf die Deutschlandpolitik 35 ein? Eine zentrale Rolle spielte erstens der Streit um den NATO-Doppelbe- 36 schluss. Das Vertrauen der Reagan-Administration in die Bundesregierung 37 beruhte ganz wesentlich darauf, dass Kohl die Stationierung der Pershing-Ra- 38 keten gegen den Druck großer Teile der öffentlichen Meinung in der Bundes- 39 republik durchgesetzt hatte.18 Er demonstrierte damit Bündnissolidarität auch 40 41 42 18 Ronald REAGAN, Erinnerungen. Ein amerikanisches Leben, Berlin 1990, S. 584f. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Mit Naturnotwendigkeit eintretende Veränderungen 147 auf die Gefahr möglicher sowjetischer Sanktionen in den bilateralen Bezie- 1 hungen oder im deutsch-deutschen Verhältnis hin. 2 Zweitens, den Generationswechsel in der Kremlführung von Leonid Bresh- 3 new über Jurij W. Andropow und Konstantin U. Tschernenko zu Michail Gor- 4 batschow und dessen Politik der Perestroika sah Kohl im Gegensatz zu Gen- 5 scher19 anfangs nicht als Chance für einen fundamentalen Wandel im deutsch- 6 sowjetischen Verhältnis. Kohls große Skepsis hinsichtlich sowjetischer Re- 7 formankündigungen zeigte sich in dem Interview mit »Newsweek« Mitte Ok- 8 tober 1986, als er Gorbatschow bescheinigte, das Public-Relations-Geschäft 9 zu verstehen wie einst Joseph Goebbels.20 Zwar distanzierte sich Kohl an- 10 schließend mit Entschiedenheit von dieser Äußerung,21 doch belastete sie un- 11 weigerlich das Verhältnis Bonns zu Moskau. Um so nachhaltiger wirkte Kohls 12 Entschluss im August 1987, auf die Modernisierung der Pershing-Ia-Raketen 13 zu verzichten.22 Damit kam die Bundesregierung der sowjetischen Forderung 14 entgegen, ebnete den Weg zum erfolgreichen Abschluss des INF-Abkommens 15 und entzog Honeckers Friedenskampagne endgültig den Boden. 16 In dieser Umbruchphase Mitte der achtziger Jahre erwies sich der Kanzler 17 einmal mehr als verlässlicher Partner der Vereinigten Staaten. Die Bundes- 18 regierung stellte mit dieser Vorleistung unter Beweis, dass sie es mit ihrer 19 Bereitschaft zu wirklicher Entspannung ernst meinte. Mit der gleichzeitigen 20 Unterstützung des von Ronald Reagan verkündeten SDI-Forschungspro- 21 gramms für ein weltraumgestütztes nichtnukleares Raketenabwehrsystem 22 signalisierte Bonn die unveränderte Gültigkeit der seit dem Harmel-Bericht23 23 befolgten NATO-Doktrin, die Sicherheit und Entspannung als zwei Seiten ei- 24 ner Medaille ansah. Demonstrativ testete Reagan den sowjetischen Reform- 25 willen, als er Gorbatschow in Berlin zum Abriss der Mauer aufforderte. 26 27 28 29 19 Vgl. seine Rede vor dem World Economic Forum in Davos, 1. Februar 1987, in: Hans- Dietrich GENSCHER, Unterwegs zur Einheit. Reden und Dokumente aus bewegter Zeit, Berlin 30 1991, S. 137–150, Text S. 139–150. H.-D. GENSCHER (wie Anm. 11), S. 292, 374f., 527f. 31 20 »I'm not a fool: I don't consider him [Gorbatschow] to be a liberal. He is a modern 32 communist leader who understands public relations«, sagte Kohl der englischen Übersetzung 33 zufolge (»Kohl to Reagan: ›Ron, Be Patient‹ «, in: Newsweek v. 27. Oktober 1986, S. 19f., hier S. 20) und fügte hinzu: »Goebbels, one of those responsible for the crimes of the Hitler 34 era, was an expert in public relations, too.« 35 21 Zur Übergabe des von Kohl autorisierten Textes der Richtigstellung an Gorbatschow: 36 H.-D. GENSCHER (wie Anm. 11), S. 517f. 22 Erklärung Kohls vor der Bundespressekonferenz zu Pershing I a am 26. August 1987, 37 in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin, Nr. 80, 27. August 1987, 38 S. 682. 39 23 Helga HAFTENDORN, The Adaption of the NATO Alliance to a Period of Détente: The 40 1967 Harmel Report, in: Wilfried LOTH (Hg.), Crises and Compromises: The European Project 1963–1969 (Veröffentlichungen der Historiker-Verbindungsgruppe bei der Kommission der 41 Europäischen Gemeinschaften, Bd. 8), Baden-Baden–Brüssel 2001, S. 285–322. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Wachsendes Selbstbewusstsein Honeckers gegenüber der jahrelang schwä- 2 chelnden Kremlführung und das Wissen der SED-Führung, den eigenen Sta- 3 tusvorbehalt seitens der Bundesregierung nur in direkten Beziehungen aus der 4 Welt schaffen zu können, waren wichtige Motive für den eigenständigeren 5 Kurs Ost-Berlins gegenüber Moskau. Nach zwölfjährigen Verhandlungen ge- 6 lang es dann auch, im Mai 1986, das Kulturabkommen unter Einschluss der 7 West-Berlin-Klausel abzuschließen. 8 Dass die innerdeutschen Zeichen auf Entspannungskurs standen, dazu trugen 9 maßgeblich die beiden persönlichen Begegnungen zwischen Kohl und Ho- 10 necker am Rande der Trauerfeierlichkeiten für Andropow am 13. Februar 1984 11 und für Tschernenko am 12. März 1985 in Moskau bei. Vor allem das zweite 12 Zusammentreffen empfanden Kohl und der damalige Chef des Bundeskanzler- 13 amtes, Wolfgang Schäuble, als Weichenstellung, bei dem ihnen ein gewisser 14 Durchbruch in Fragen des Besucher- und Reiseverkehrs gelang. Obwohl Ho- 15 necker zunächst nicht bereit war, auf die Forderung nach Senkung des Reise- 16 alters für Renterinnen einzugehen, signalisierte er doch Bereitschaft, über diese 17 Frage ebenso weitere Verhandlungen zu führen wie über Ausreisen in dringen- 18 den Familienangelegenheiten. Damit wurde die Grenze einen weiteren Spalt 19 durchlässiger. Die noch nicht im Rentenalter befindlichen Menschen erhielten 20 Gelegenheit, ihre Verwandten im westlichen Teil Deutschlands zu besuchen. 21 Schäuble spielte anschließend die Zugeständnisse der Bundesregierung her- 22 unter. Die von Horst Teltschik, Leiter der Außenpolitischen Abteilung des 23 Bundeskanzleramtes, und Frank-Joachim Herrmann, Leiter der Kanzlei des 24 Staatsratsvorsitzenden der DDR, ausgehandelte »Moskauer Erklärung«, die 25 von SED-Seite als förmliche Anerkennung der Souveränität der DDR durch 26 die Bundesregierung interpretiert wurde, deutete Schäuble lediglich als dekla- 27 ratorische Festlegung. Insofern hatte er recht, denn die Bundesregierung hatte 28 keiner Änderung der Rechtsgrundlagen zugestimmt, sondern nur dem, was 29 schon in der KSZE-Schlussakte von 1975 niedergelegt war. Die DDR-Führung 30 sprach fortan jedoch von einer neuen Qualität in den deutsch-deutschen Be- 31 ziehungen. Sie ließ keine Gelegenheit aus, auf die vereinbarte »Unverletzlich- 32 keit der Grenzen«, die »Achtung der territorialen Integrität und Souveränität 33 aller Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen« als »grundlegende 34 Bedingung für den Frieden« hinzuweisen und darauf, dass »von deutschem 35 Boden« nie wieder Krieg ausgehen dürfe, sondern nur Frieden.24 36 Obwohl Honecker verstärkt auf Zusammenarbeit eingestellt war, dauerte es 37 noch zweieinhalb Jahre, bis er im September 1987 mit Segen Gorbatschows 38 die 1981 von Bundeskanzler Schmidt ausgesprochene Einladung nach Bonn 39 40 24 Gemeinsame Erklärung über das Gespräch des Bundeskanzlers mit dem Staatsratsvor- 41 sitzenden der DDR in Moskau, 12. März 1985, in: Presse- und Informationsamt der Bundes- 42 regierung, Bulletin, Nr. 28, 14. März 1985, S. 230. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Mit Naturnotwendigkeit eintretende Veränderungen 149 wahrnehmen konnte. In Kenntnis der Vorgänge betrachtet, die 1989/90 zur 1 Wiedervereinigung führten, liegt natürlich die Frage nahe: Beging die Regie- 2 rung Kohl mit dem Empfang Honeckers in Bonn vergleichbar einem Staats- 3 oberhaupt mit Fahnen, Hymnen, Ehrenformationen und anderem Pomp nicht 4 einen gravierenden Fehler, weil sie zwei Jahre vor dem Zerfall die SED-Dik- 5 tatur unnötig aufwertete und der Besuch international ziemlich einhellig als 6 Quasi-Schritt zur völkerrechtlichen Anerkennung der DDR, will heißen: end- 7 gültiger Teilung Deutschlands, bewertet wurde? Oder handelte es sich damals 8 einfach nur um einen genialen Schachzug? 9 Der eigentliche Erfolg des Treffens25 lag in den verbesserten Beziehungen. 10 Honecker sah in dem Besuch eine Investition in die Zukunft, indem er glaubte, 11 nunmehr die Anerkennung durch die Bundesrepublik erreicht zu haben. Wich- 12 tiger als Äußerlichkeiten des Staatsempfangs waren der Bundesregierung hin- 13 gegen Dialogbereitschaft der DDR und das Aussetzen des Schießbefehls an 14 der innerdeutschen Grenze. Dem SED-Chef wurden für die ersehnte demon- 15 strative Anerkennung Konzessionen beim Reiseverkehr und Jugendaustausch, 16 bei Städtepartnerschaften und Einfuhrbestimmungen abverlangt, die ihn 17 schrittweise zwangen, die Mauer durchlässiger zu machen, um den erhöhten 18 Druck im Inneren seines Staatsgefüges nachzugeben, weil er steigende Be- 19 dürfnisse der Bevölkerung nach Reisefreiheit und Konsumgüter des Westens 20 nicht mehr befriedigen konnte. 21 Kohls Rede in der Godesberger Redoute26, auf alle Fallstricke hin von 22 Schäuble abgeklopft, bekräftigte die Politik pragmatischer Zusammenarbeit 23 und ließ – übrigens zum ersten Mal vor der gesamtdeutschen Fernsehöffent- 24 lichkeit in West und Ost – nicht das Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht 25 der Deutschen, zur Einheit der Nation und zum Wiedervereinigungsauftrag des 26 Grundgesetzes fehlen. Honecker musste nicht nur den erneuten prinzipiellen 27 Vorbehalt der Bundesrepublik gegenüber der De-jure-Anerkennung der DDR 28 gegenwärtigen. Er musste ebenso hinnehmen, dass die Bundesregierung un- 29 verändert auf keinen Fall den Status quo bejahte, sondern zu überwinden suchte. 30 Seit dem Besuch Honeckers verbesserte sich der Reise- und Besucherverkehr 31 spürbar. Abfertigungen durch die Behörden der DDR an den Grenzübergängen 32 liefen reibungsloser ab. Ähnlich positiv verlief die Kurve der Reisen von 33 Bundesbürgern in die DDR. Von 1986 hielt die Entwicklung mit 3,89 Millionen 34 Reisenden 1987 mit über 5 Millionen Personen an. Dagegen verzeichnete der 35 innerdeutsche Handel nach einer zwanzigjährigen Aufwärtsentwicklung in den 36 37 38 25 Gesprächsunterlagen und Vermerke über die Delegationsgespräche am 7./8. September 39 1987, in: Bundesarchiv (BArch), B 136/20572. 40 26 Rede Kohls bei einem Abendessen zu Ehren von Generalsekretär Honecker am 7. Sep- tember 1987 in der Redoute in Bonn-Bad Godesberg in: Presse- und Informationsamt der Bun- 41 desregierung, Bulletin, Nr. 83, 10. September 1987, S. 705–707. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Jahren 1986 und 1987 einen Rückgang um etwa 10 v.H. bzw. 5. v.H. Auch 2 1988 wurde ein leichter Rückgang registriert. Während die Lieferungen aus 3 der Bundesrepublik in die DDR um 14 v.H. sanken, stiegen die Bezüge aus 4 der DDR um 11 v.H. Von großer Bedeutung für die Führung in Ost-Berlin war 5 in diesem Zusammenhang der erfolgreiche Abschluss der Verhandlungen über 6 die Transitpauschale und die Pauschalabgeltung von Straßenbenutzungsge- 7 bühren für die neunziger Jahre am 5. Oktober 1988. Als Gegenleistung sagte 8 die DDR-Regierung die Öffnung eines dritten Grenzübergangs in Berlin sowie 9 die Grunderneuerung einer Teilstrecke des Berliner Rings und der Transitau- 10 tobahnen zwischen Berlin und Hof bzw. Berlin und Herleshausen zu.27 Es war 11 wieder einmal ein kleiner Schritt, mehr Freizügigkeit für die Menschen in der 12 DDR herzustellen, um Mauer, Grenze und Schießbefehl zu überwinden. 13 Gegenüber Ministerpräsidenten, die ihn im ersten Halbjahr 1989 aufsuchten, 14 erklärte Honecker wiederholt, es gebe keinen Schießbefehl. Im übrigen sei 15 das, was die bundesdeutsche Seite als Schießbefehl bezeichne, aufgehoben 16 worden.28 Gegenüber dem SPD-Parteivorsitzenden Hans-Jochen Vogel29 be- 17 hauptete er Ende Mai, generell werde an der Grenze nicht geschossen. Aus- 18 nahme seien Angriffe auf und Widerstand gegen Grenztruppen. Wenn diese 19 gezielt schießen würden, hätten sie tödliche Wirkung zu vermeiden; auf Frauen 20 und Kinder dürfe überhaupt nicht geschossen werden.30 Honeckers Signale 21 waren unmissverständlich: Über das Grenzregime wollte er nicht verhandeln. 22 Auch beim Besuch des neuen Kanzleramtschefs, , am 3./4. 23 Juli in Ost-Berlin31 bezeichnete der SED-Generalsekretär jede Politik der 24 Grenzveränderungen als illusionär. Vom Fortbestand des Deutschen Reiches 25 in den Grenzen von 1937 zu sprechen, erklärte Honecker für unhaltbar, weil 26 »das Deutsche Reich untergegangen sei«. Das Grenzregime sei geändert wor- 27 den, so »dass es keinen Schießbefehl mehr gebe«. Damit gab Honecker erst- 28 mals gegenüber einem Vertreter der Bundesregierung die frühere Existenz des 29 Schießbefehls zu. 30 31 32 27 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Vermerk: Stand der innerdeutschen 33 Beziehungen, 15. Juni 1989, in: BArch, B 136/20236, 221 De 1 NA 7 Bd. 2. 28 Vorlage Duisbergs an Kohl, Treffen von Ministerpräsident Späth und von Bürgermeister 34 Voscherau mit Generalsekretär Honecker in Berlin (Ost) [23. und 24. Februar 1989], 221- 35 35016-Ve 40 NA 1, 27. Februar 1989, in: BArch, B 136/21334. 36 29 Hans-Jochen VOGEL, Nachsichten. Meine Bonner und Berliner Jahre, München–Zürich 21996, S. 283f. 37 30 Vorlage Duisbergs an Kohl, Gespräch des Partei- und Fraktionsvorsitzenden der SPD, 38 Dr. Vogel, mit GS Honecker am 25.05.1989 in der DDR (Hubertusstock), 221-35016-Ve 40, 39 30. Mai 1989, in: BArch, B 136/21334. 40 31 Offizieller Besuch des Bundesministers Seiters in Berlin (Ost), 3./4. Juli 1989, in: Deut- sche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90 (Dokumente zur 41 Deutschlandpolitik), bearb. von Hanns Jürgen KÜSTERS/Daniel HOFMANN, München 1998, 42 S. 323–336, hier S. 333. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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Mit ihrer Deutschlandpolitik beschritt die Bundesregierung in den achtziger 1 Jahren im Grunde eine stete Gratwanderung zwischen unvermeidlicher Ko- 2 operation und völkerrechtlicher Nichtanerkennung. Diese wurde um so 3 schwieriger, weil zum einen Honecker an den Geraer Forderungen festhielt 4 und zum anderen die SPD mit der SED auf Parteiebene auf eigene Faust 5 Deutschlandpolitik betrieb. Die Sozialdemokraten schmerzte, CDU und CSU 6 in ihrem seit 1969 als ureigenem Kompetenzbereich betrachteten Politikfeld 7 agieren zu sehen. Deshalb handelten SPD und SED drei von den Parteigremien 8 im Juli 1988 förmlich unterzeichnete Vertragstexte über chemiewaffenfreie 9 Zonen und einen atomwaffenfreien Korridor in Mitteleuropa sowie eine Zone 10 des Vertrauens und der Sicherheit in Zentraleuropa aus.32 11 Damit übte die SPD nicht bloß politischen Druck auf die Regierung Kohl 12 aus; mehr noch, sie stellte ihre Loyalität zum Grundsatz der Nichtanerkennung 13 in Frage. Tonangebend waren jene Kräfte in der Sozialdemokratischen Partei, 14 die elementare Bindungen Westeuropas an die Vereinigten Staaten von Ameri- 15 ka in der NATO durch eine auf »Sicherheitspartnerschaft« mit dem Ostblock 16 gegründete europäische Sicherheitsordnung in Europa ersetzen wollten. Darin 17 erblickte die Bundesregierung die Gefahr der moralischen Kapitulation. Denn 18 vorbehaltlos wurden zwei Sicherheitskonzepte nebeneinandergestellt, die das 19 gemeinsame Papier der Grundwertekommission der SPD und der Akademie 20 für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED über den 21 »Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit«33 vom August 1988 22 ergänzte, das ebenfalls ohne Einschränkungen das Demokratiekonzept der 23 Bundesrepublik und das der DDR als gleichrangig anerkannte und die Unter- 24 schiede zwischen westlicher Demokratie und östlicher Parteidiktatur ver- 25 wischte. 26 Eigentlicher Streitpunkt von CDU/CSU und wesentlichen Teilen der SPD, 27 die diesen Einstellungswandel vollzogen hatten, war die Frage, ob um den 28 Erhalt des Friedens willen die Anerkennung der Legitimität der Diktatur in 29 der DDR unabdingbar sei oder hierin die Gefahr der Verharmlosung von Men- 30 schenrechten bestünde. Auch im Bewusstsein breiter Teile der westdeutschen 31 Bevölkerung wurde mit dem Friedenspostulat, aus der die Entspannungspolitik 32 ihre ideologische Rechtfertigung bezog und das die DDR-Propaganda ge- 33 schickt mit der Parole »Schwerter zu Flugscharen« untermauerte, der System- 34 gegensatz übertüncht. Nicht wenige Oppositionsbewegungen in Osteuropa 35 empfanden diese Entwicklung als kontraproduktiv. 36 37 38 32 Gemeinsames Kommuniqué SPD-SED: Vorschlag für eine »Zone des Vertrauens und 39 der Sicherheit in Zentraleuropa«, 7. Juli 1988, in: Texte zur Deutschlandpolitik, Reihe III/Bd. 6 40 – 1988, hg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bonn 1989, S. 262f. 33 Gemeinsames SPD-SED-Papier: Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicher- 41 heit, 27. August 1987, in: Politik, Informationsdienst der SPD, Nr. 3, August 1987. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Das änderte nichts an dem spürbaren Meinungstrend in der bundesdeutschen 2 Öffentlichkeit ab Mitte der achtziger Jahre, die Teilung als unumkehrbare Ent- 3 wicklung der Nachkriegsgeschichte hinzunehmen und durch Anerkennung der 4 DDR einen gewissen Schlussstrich zu ziehen.34 Gewöhnungseffekte, die Macht 5 des Faktischen, der Generationswechsel – weit mehr als die Hälfte der Bundes- 6 bürger war inzwischen nach 1945 geboren, kannte ein geeintes Deutschland 7 nicht mehr aus eigener Anschauung und fühlte sich von der Teilung nicht un- 8 mittelbar betroffen –, Zweifel an der Möglichkeit, diese zu beseitigen, die Wahr- 9 nehmung der DDR als gesellschaftliches Alternativmodell, das bewusste Hin- 10 nehmen des Stacheldrahts und das Nichtbeachten der Stasi-Aktivitäten, trugen 11 dazu bei. Brandt tat gar das Ziel der Wiedervereinigung als »Lebenslüge der 12 Bundesrepublik« ab35 und erntete dafür nicht geringe öffentliche Zustimmung. 13 An der CDU ging die Diskussion über das Wiedervereinigungsziel kei- 14 neswegs spurlos vorbei. Zwar blieben die Legitimationsvorbehalte gegen die 15 SED-Diktatur weiterhin unumstritten. Doch in dem Entwurf einer program- 16 matischen Entschließung zum Wiesbadener Parteitag 1988, erarbeitet von der 17 Kommission unter Leitung des damaligen Generalsekretärs, Heiner Geißler, 18 war mit keiner Silbe von Wiedervereinigung die Rede, sondern alles auf den 19 Fortgang der europäischen Einigung abgestellt. Das mobilisierte den Wider- 20 spruch derjenigen in der CDU, die eine Abkehr von dem seit Adenauers Zeiten 21 gültigen deutschlandpolitischen Ziel der Partei witterten und daher dessen er- 22 neute Bekräftigung forderten.36 Hinter dem Streit um den Begriff verbarg sich 23 in Wirklichkeit ein Kampf um zukünftige Prioritäten einer pragmatischen oder 24 doch stärker normativ ausgerichteten Deutschlandpolitik der CDU, in dem 25 viele zugleich ein weiteres Feld des Machtkampfs zwischen Generalsekretär 26 und Parteivorsitzendem sahen. Heftiger Protest auch aus verschiedenen Ecken 27 der Bundestagsfraktion führte schließlich dazu, dass das Wort Wiederverei- 28 nigung in den Leitantrag hineingeschrieben wurde.37 Nichtsdestotrotz: Die 29 Deutschlandpolitik stand allgemein in diesen Jahren in dem Geruch, unter das 30 Räderwerk der Bürokratie geraten zu sein. 31 32 33 34 Gerhard HERDEGEN, Perspektiven und Begrenzungen – Eine Bestandsaufnahme der öf- fentlichen Meinung zur deutschen Frage. Teil 1: Nation und deutsche Teilung, Teil 2: Kleine 34 Schritte und fundamentale Fragen, in: Deutschland Archiv 20 (1987), S. 1259–1273 und 21 35 (1988), S. 391–403. 36 35 Willy BRANDT, Erinnerungen, Frankfurt/Main 1989, S. 156f. 36 Zur Kritik an dem Diskussionsentwurf eines programmatischen Antrags der CDU zur 37 Deutschlandpolitik auf dem Bundesparteitag in Wiesbaden: Schreiben Barzels an Kohl mit 38 Anlage: Votum zum »Diskussionsentwurf« (Deutschlandpolitik), 20. Februar 1988, in: Rainer 39 BARZEL, So nicht! Für eine bessere Politik in Deutschland, Düsseldorf–Wien 1994, S. 63–70. 40 Antwortschreiben Kohls an Barzel, 22. März 1988, EBD. S. 75. 37 Darstellung der Kontroverse bei Karl-Rudolf KORTE, Deutschlandpolitik in Helmut 41 Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982–1989 (Geschichte der deut- 42 schen Einheit, 4 Bde.), Stuttgart 1998, Bd. 1, S. 398–409. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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Faktoren des Mauerfalls 1 2 Hat die Politik der Regierung Kohl, so bleibt zu fragen, wirklich zum Zusam- 3 menhalt der Deutschen beigetragen, oder war sie nur Verwalterin einer admi- 4 nistrativen Politik des Modus vivendi, die wie dereinst Adenauer auf den Wan- 5 del der politischen Lage eines fernen Tages hoffte, der ihr die Chance zu wirk- 6 lichen Verhandlungen über die Wiedervereinigung bescheren werde? 7 Genauer betrachtet, setzte die Bundesregierung auf die langdauernden Ef- 8 fekte ihrer Penetrationsstrategie. Je mehr Deutsche in der DDR Westfernsehen 9 sahen und selbst in die Bundesrepublik reisen durften, desto stärker trug dies 10 zur Erosion ihres ideologischen Bewusstseins bei, das die SED ihnen einzu- 11 pflanzen suchte. Der Widerspruch wurde täglich eklatanter, blieb in der Bun- 12 desrepublik jedoch weitgehend unbeachtet, weil für gesellschaftliche Verän- 13 derungsprozesse innerhalb der DDR kaum öffentliches Interesse bestand. 14 In Wirklichkeit vollzog sich kein Wandel durch Annäherung, auch keine 15 Liberalisierung durch Stabilisierung des SED-Systems. Vielmehr war es ein 16 Wandel durch innere wirtschaftliche Erosionsprozesse und die Unglaubwür- 17 digkeit des sozialistischen Systems, das sich als unfähig erwies, für modernen 18 Lebensstandard, soziale Gerechtigkeit, Prosperität und Sicherheit zu sorgen. 19 Hinzu kam, dass auch in der DDR eine neue Generation herangewachsen war, 20 die ihre eigenen Systemerfahrungen gemacht hatte, kaum mehr bereit war, die 21 SED-Autoritäten anzuerkennen, sich ein- bzw. unterzuordnen und über viel 22 Zivilcourage verfügte. Diese Faktoren bewirkten allmählich die Destabilisie- 23 rung. Der Mauerfall kam auf leisen Sohlen daher; vom Westen zwar erhofft, 24 aber nicht gezielt gesteuert. 25 Mithin waren es neben den langfristigen Wirkungen letztlich das Zusam- 26 mentreffen verschiedener kurzzeitiger internationaler und innerer Entwicklun- 27 gen im Laufe des Jahres 1989, die schließlich die Mauer zum Einsturz brachten. 28 Ein ausschlaggebendes Moment war zweifelsohne die seit 1986 andauernde 29 Reformpolitik Gorbatschows und der grundlegende Wandel deutsch-sowjeti- 30 scher Beziehungen. Wirtschaftliche Versorgungsschwierigkeiten zwangen den 31 KPdSU-Chef zur Reduzierung der Rüstungsausgaben und zu einer flexibleren 32 Haltung in rüstungskontrollpolitischen Fragen. Bei der Durchsetzung seiner 33 Perestroika setzte er zunehmend auf die Hilfe der Bundesrepublik und eine 34 verstärkte Kooperation.38 Erst 1988 testete Kohl nach heftigem Drängen Gen- 35 36 37 38 Michail S. GORBATSCHOW, Wie es war. Die deutsche Wiedervereinigung, Berlin 1999, 38 S. 58f.; Anatolij TSCHERNJAJEW, Die Deutschlandpolitik Gorbatschows aus russischer Sicht, 39 in: Boris MEISSNER/Alfred EISFELD (Hg.), 50 Jahre sowjetische und russische Deutschland- 40 politik sowie ihre Auswirkungen auf das gegenseitige Verhältnis (Studien zur Deutschlandfra- ge, Bd. 14), Berlin 1999, S. 189–191; Horst TELTSCHIK, Die Deutschlandpolitik Gorbatschows, 41 in: EBD. S. 179–187, hier S. 180–182. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 schers39, inwieweit Gorbatschows Politik für Bewegungen in der Deutschland- 2 politik von Nutzen sein könnte.40 Bei seinem Besuch im Oktober 1988 in 3 Moskau spürte Kohl den Wandel und gewann die Überzeugung, Gorbatschow 4 meine es mit seiner Reformpolitik ernst. Beide waren sich nach einer offenen 5 Aussprache einig, ihre unterschiedlichen Bewertungen in Grundsatzfragen 6 dürften nicht praktischer Kooperation im Wege stehen. Vor allem Gor- 7 batschow zeigte sich an einem deutsch-sowjetischen Rapprochement interess- 8 iert, weil er ohne die finanzielle Unterstützung der Bundesrepublik seine Re- 9 formziele nicht erreichen konnte.41 10 Ein weiteres Moment waren die Akzente, die der seit Januar 1989 amtie- 11 rende neue amerikanische Präsident George Bush in den Beziehungen zum 12 Ostblock setzte. Er wollte die Glaubwürdigkeit der NATO-Abschreckung bei 13 gleichzeitiger Entwicklung einer politischen Strategie für konventionelle 14 Abrüstungsschritte zur Senkung der Verteidigungskosten aufrechterhalten und 15 befürwortete die Unterstützung der Reformkräfte in Osteuropa.42 Washington 16 wies außerdem mit der Formel »partner in leadership« den deutsch-amerika- 17 nischen Beziehungen einen besonderen Stellenwert zu43; sehr zum Verdruss 18 der britischen Premierministerin Margaret Thatcher, die in dieser Akzentver- 19 schiebung zugunsten der Deutschen einen Angriff auf die besonderen anglo- 20 amerikanischen Beziehungen sah, was sie zutiefst verärgerte. Die britische 21 Regierung fühlte sich trotz der Beteuerungen Bushs, Großbritannien sei 22 »führender Partner«, verletzt.44 Argwöhnisch beobachteten Regierungskreise 23 in London die strategischen Überlegungen der Bush-Administration. Sie 24 wollte das Dilemma von Rüstungskontrolle und nuklearer Abschreckung über- 25 winden und zugleich Gorbatschows Philosophie der Perestroika am Beispiel 26 der Gewährung des Selbstbestimmungsrechts der osteuropäischen Staaten 27 testen. 28 Gradmesser für die Bereitschaft der sowjetischen Führung zu Dialog und 29 Kooperation waren vornehmlich die Fragen der Rüstungskontrolle und Abrüs- 30 31 32 39 H.-D. GENSCHER (wie Anm. 11), S. 507f. 33 40 Karl KAISER, The Federal Republic of Germany: The case of a Reluctant Latecomer, in: Gregory FLYNN/Richard E. GREENE (Hg.), The West and the Soviet Union. Politics and 34 Policy, London 1990, S. 80–108. 35 41 Anatolii CHERNIAEV, Gorbachev and the Reunification of Germany: Personal Recol- 36 lections, in: Gabriel GORODETSKY (Hg.), Soviet Foreign Policy 1917–1991. A Retrospective, London–Portland 1994, S. 158–169, hier S. 163. 37 42 Zum Strategiepapier des Nationalen Sicherheitsrates (NSR Strategic Review on the So- 38 viet Union), 14. März 1989: George BUSH/Brent SCOWCROFT, A World Transformed, New 39 York 1998, S. 40, 43f. 40 43 James A. BAKER/Thomas M. DEFRANK, The Politics of Diplomacy. Revolution, War and Peace 1989–1992, New York 1995, S. 159. 41 44 Margaret THATCHER, Downing Street No. 10. Die Erinnerungen, Düsseldorf u.a. 1993, 42 S. 1092f.; Geoffrey HOWE, Conflict of Loyalty, London 1994, S. 560. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Mit Naturnotwendigkeit eintretende Veränderungen 155 tung. Nach Ansicht Brent Scowcrofts, Sicherheitsberater von Präsident Bush, 1 musste eine Vision für die Zukunft Europas im Ansatz eine Lösung für die 2 deutsche Frage einschließen. Zwar wollte auch Scowcroft keine politische 3 Wiedervereinigung verheißen, die Vereinigten Staaten sollten aber einen Wan- 4 del versprechen.45 Am 20. März meinte der Nationale Sicherheitsrat allerdings, 5 es liege nicht im amerikanischen Interesse, die Initiative zu übernehmen. In 6 einem von Robert B. Zoellick, Berater im State Department, am 17. Mai 1989 7 unterbreiteten Positionspapier »Germany« zur Vorbereitung der NATO-Früh- 8 jahrskonferenz Ende Mai in Brüssel war allerdings erneut die Rede davon, 9 dass die Deutschlandfrage auf die Tagesordnung zurückkehre und der sowje- 10 tische Präsident sie möglicherweise aufgreifen werde.46 11 Bush äußerte in einem Schreiben an Kohl vom 12. Mai 198947 Zuversicht, 12 »dass sich uns eine historische Chance bietet«, die Ost-West-Beziehungen zu 13 verändern. Vierzig Jahre lang sei es mit der Strategie der Eindämmung ge- 14 lungen, sowjetischen Expansionsdrang in Schach zu halten und die Führung 15 in Moskau davon zu überzeugen, dass sich Konfrontationspolitik nicht durch- 16 setze. Ziel müsse es nun sein, tiefgreifende Änderungen und grundlegende 17 Umstrukturierungen der sowjetischen Institutionen und Streitkräfte einzulei- 18 ten. Bemühungen ihrer Führer um bessere Einhaltung der Menschenrechte im 19 eigenen Land und eine weniger konfrontative Haltung gegenüber dem Ausland 20 wertete Bush als deutliche Anzeichen des Interesses in Moskau an neuen in- 21 ternationalen Konstellationen. Bush wollte den ideologischen Kampf fortfüh- 22 ren und die Sowjetunion drängen, ihre Erblasten der Oktoberrevolution von 23 1917 endlich abzuschütteln. Sie sollte von ihrem Glauben an den Klassen- 24 kampf ablassen, den mittel- und osteuropäischen Staaten das Selbstbestim- 25 mungsrecht gewähren und von den Hypotheken enormer Aufrüstung und welt- 26 weit verschärfter Regionalkonflikte der sechziger und siebziger Jahre Abstand 27 nehmen. Letztlich ging es ihm um Systemveränderung: »Die Umwandlung 28 der Sowjetunion von einem Faktor der Instabilität in eine produktive Kraft 29 der Völkergemeinschaft ist ein langfristiges Ziel.« Dazu brauche der Westen 30 Geduld und Kreativität. Diesem schwierigen Prozess wollte er mit Verständnis 31 begegnen, wo sich die Sowjetunion veränderungsbereit zeige, und Unnach- 32 giebigkeit demonstrieren, wo sie an ihrer herkömmlichen Politik festhalte. 33 Bush verpackte die Grundzüge seines Ansatzes gemeinsam mit ganz 34 konkreten Verhandlungsangeboten in eine Rede, die er am gleichen Tag in 35 36 37 45 Robert L. HUTCHINGS, American Diplomacy and the End of the Cold War. An Insider’s 38 Account of U.S. Policy in Europe, 1989–1992, Washington (D. C.) 1997, S. 31. 39 46 Philip ZELIKOW/Condoleezza RICE, Germany Unified and Europe Transformed. A Study 40 in Statecraft, Cambridge (Massachusetts) 1995, S. 26–28. 47 Schreiben Bushs an Kohl, Vertraulich, ohne Datum, übergeben von der Amerikanischen 41 Botschaft in Bonn am 12. Mai 1989, in: BArch, B 136/29806, 212-30101 A 5 Am 4 Bd. 21. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 der Texas A&M Universität hielt.48 Im Juni sollten mit Moskau wieder Ge- 2 spräche über den Umfang strategischer Streitkräfte aufgenommen und den 3 Mitgliedern der NATO und des Warschauer Paktes – unabhängig von allen 4 laufenden Beratungen – vorgeschlagen werden, unbewaffnete Luftinspektio- 5 nen durchzuführen; ein Vorschlag, mit dem schon 1955 Präsident Dwight D. 6 Eisenhower das amerikanisch-sowjetische Verhältnis zu entkrampfen suchte. 7 Die Bundesregierung reagierte zunächst abwartend. Würde sie nämlich gesamt- 8 deutsche Sicherheitsinteressen hervorkehren, wie Honecker es dem Bundeskanzler 9 in einem Schreiben am 10. Februar 1989 nahegelegt hatte,49 konnte das eine Wie- 10 derbelebung der deutschen Frage in neuer Form zur Folge haben und Moskau pro- 11 vozieren. Kohl begrüßte zwar das Verhandlungsangebot Bushs für konventionelle 12 Streitkräfte auf dem Brüsseler NATO-Gipfel. Allerdings war der Kanzler ent- 13 schlossen, die Modernisierung der nuklearen Kurzstreckenwaffen zu verzögern, 14 um Gorbatschow zunächst nicht weiter in Bedrängnis zu bringen. Thatcher dage- 15 gen befürchtete, eine solche Entscheidung werde die NATO schwächen. 16 In jenen Tagen deuteten noch keine Anzeichen darauf hin, dass die sowje- 17 tische Regierung in der Deutschlandpolitik ihre orthodoxen Grundsatzpositio- 18 nen gegenüber der Bundesregierung ändern könnte; und das erst recht nicht in 19 Fragen der Einbeziehung West-Berlins in deutsch-sowjetische Vertragsverein- 20 barungen. Dessen ungeachtet hielt die Bundesregierung an ihren deutschland- 21 politischen Grundprinzipien fest. Sie erhob keinerlei Gebietsansprüche gegen 22 irgend jemanden. Die Grenzen aller Staaten in Europa und die territoriale In- 23 tegrität betrachtete sie als unverletzlich. Doch konnte dem deutschen Volk nicht 24 auf Dauer das Recht auf Selbstbestimmung vorenthalten werden. Die Über- 25 windung der Teilung stellte ein legitimes Interesse dar, das mit dem legitimen 26 Interesse der Nachbarstaaten, in sicheren Grenzen zu leben, in Einklang ge- 27 bracht werden musste. Faktisch blieb die Bundesregierung in den Beziehungen 28 zur DDR bis Januar 1990 unverändert bei ihrer Linie der schrittweisen Ver- 29 besserung der Kontakte und Zusammenarbeit in möglichst vielen Bereichen. 30 Insbesondere in zwei Punkten schienen im Frühjahr 1989 die Auffassungen 31 zwischen Bonn und Moskau unüberbrückbar zu sein. Die Sowjetunion strebte 32 nach wie vor eine uneingeschränkte Anerkennung des territorialen und poli- 33 tischen Status quo in Mitteleuropa seitens der Bundesregierung an. Und: Sie 34 enthielt den Deutschen das Recht auf Selbstbestimmung vor. Ein wichtiger 35 Durchbruch gelang mit der Unterzeichnung der gemeinsamen deutsch-sowje- 36 37 38 39 40 48 Rede Bushs vor der Texas Agriculture and Mechanical University in College Station (Texas), 12. Mai 1989, in: Public Papers of the Presidents of the . George Bush. 41 1989, Book I: January 20 to June 30 1989, Washington (D. C.) 1990, S. 540–543. 42 49 Schreiben Honeckers an Kohl, 10. Februar 1989, in: BArch, B 136/21328. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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tischen Erklärung vom 15. Juni 1989 beim Besuch Gorbatschows in Bonn,50 1 als zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg ein sowjetischer Führer das 2 Recht der Deutschen auf Selbstbestimmung formell bestätigte.51 3 Schließlich aber bedeutete der Abbau der Invasionsfähigkeit für beide Seiten 4 das entscheidende Element zukünftiger Beziehungen. Vor allem zeigte sich 5 die sowjetische Führung an der Problematik der Kurzstreckenwaffen interes- 6 siert, demonstrierte aber eine gewisse Gelassenheit, weil sie sich nicht wie im 7 Falle der Pershing II und der Cruise Missiles zentral bedroht fühlt. Gor- 8 batschow entging bei den Unterredungen mit Kohl keineswegs der Hinweis, 9 dass dieser eine Modernisierung der Lance-Raketen nicht vor 1992 ins Auge 10 fasste. Verhandlungen über nukleare Kurzstreckensysteme und die Nuklearar- 11 tillerie hielten beide für möglich, wenn es bei den Wiener Verhandlungen über 12 Konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE) entsprechende Fortschritte gä- 13 be. Selbst ein weltweites Verbot chemischer Waffen schien in Reichweite zu 14 sein. Kohl riet Gorbatschow, im Umgang mit Bush zu bedenken, dass dieser 15 zum »Geschäft« bereit sei. Die Vereinigten Staaten würden die gleichberech- 16 tigte Rolle der Sowjetunion respektieren.52 17 Stärker als damals von der Öffentlichkeit wahrgenommen, begriffen die 18 westlichen Staats- und Regierungschefs die Wahl der nichtkommunistischen 19 Regierung unter Tadeusz Mazowiecki und die Demokratieentwicklung in 20 Polen als Testfall für Gorbatschows Abkehr von der Breschnew-Doktrin und 21 dessen Bereitschaft, mehr politische Freiheit und Selbstbestimmung in Ost- 22 europa zuzulassen. Mit seiner wirtschaftlichen Unterstützungspolitik durch 23 abgestimmte Kredithilfen53 für Polen strebte Kohl zugleich einen politisch- 24 psychologischen Durchbruch in den bilateralen Beziehungen an,54 um zu einer 25 wirklichen deutsch-polnischen Aussöhnung zu kommen. 26 Bei den Menschen in der DDR verstärkte die offensichtliche Reform- 27 unwilligkeit der SED-Führung die Perspektivlosigkeit. Daran änderte auch 28 die leichte Abkehrbewegung Honeckers von der strikten Ablehnung jegli- 29 30 31 32 50 Aufzeichnung Teltschiks, Gespräch Kohl – Gorbatschow, Bonn, 13. Juni 1989, in: Deut- 33 sche Einheit (wie Anm. 31), S. 287–292; Aufzeichnung Kaestners, Delegationsgespräch Kohl – Gorbatschow, Bonn, 13. Juni 1989, in: EBD. S. 295–299; Horst TELTSCHIK, Die Reformpolitik 34 Gorbatschows und die Perspektiven der West-Ost-Beziehungen, in: Außenpolitik 40 (1989), 35 S. 211–225. 36 51 Gemeinsame Erklärung, 15. Juni 1989, in: Presse- und Informationsamt der Bundesre- gierung, Bulletin, Nr. 61, S. 542–544. 37 52 A. CHERNIAEV (wie Anm. 39), S. 163. Zur Verhandlungsbereitschaft des amerikani- 38 schen Präsidenten: Schreiben Bushs an Gorbatschow, 21. Juli 1989, in: George BUSH, All the 39 Best George Bush. My Life in Letters and other Writings, New York 2000, S. 435–437. 40 53 Schreiben Kohls an Bush, 28. Juni 1989, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 31), S. 320–323. 54 Horst TELTSCHIK, Die Bundesrepublik Deutschland und Polen. Eine schwierige Part- 41 nerschaft im Herzen Europas, in: Außenpolitik 41 (1990), S. 3–14. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 cher Reformpolitik55 im Gespräch mit Gorbatschow Ende Juni 1989 in 2 Moskau56 nichts. Die im August 1989 beginnende Fluchtbewegung nach 3 Ungarn und die Besetzung der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik 4 Deutschland bei der DDR in Ost-Berlin setzten Honecker zusätzlich unter 5 Druck. Die SED war unfähig, die Flüchtlingsbewegung in den Griff zu 6 bekommen. Ihr Dilemma vergrößerte sich durch den Beschluss der un- 7 garischen Regierung zur Öffnung der Grenze nach Österreich.57 Diese 8 Entscheidung basierte auf der Zusage des Bundeskanzlers von Kredithilfen 9 an Ministerpräsident Miklós Németh. Es war mehr ein politischer denn ein 10 humanitärer Akt.58 Doch beschleunigte die Freilassung der Botschafts- 11 flüchtlinge in Budapest59, Prag60 und Warschau die Demontage der SED- 12 Führung. 13 Je mehr sich die Lage in der DDR ab September 1989 destabilisierte, desto 14 mehr erkannte die Bundesregierung ihren wachsenden deutschlandpolitischen 15 Handlungsspielraum. Allerdings hatte sie kein Interesse, die Entwicklung au- 16 ßer Kontrolle geraten zu lassen. Letzten Endes waren es die neu gegründeten 17 Bürgerrechtsbewegungen und zunehmende Massendemonstrationen in der 18 DDR, die im Oktober das SED-Regime ins Wanken brachten. Der schon seit 19 einiger Zeit von DDR-Vertretern hinter vorgehaltener Hand avisierte Kollaps 20 der eigenen Wirtschaft verschlimmerte die Lage. 21 22 23 55 Daniel KÜCHENMEISTER, Wann begann das Zerwürfnis zwischen Honecker und Gor- 24 batschow? Erste Bemerkungen zu den Protokollen ihrer Vier-Augen-Gespräche, in: Deutsch- 25 land Archiv 26 (1993), S. 30–40. Zu den Hintergründen im Frühjahr 1989: Iwan KUSMIN, Die Verschwörung gegen Honecker, in: EBD. 28 (1995), S. 286–290; Walter SÜSS, Erich Mielke 26 (MfS) und Leonid Schebarschin (KGB) über den drohenden Untergang des Sozialistischen La- 27 gers. Protokoll eines Streitgesprächs vom 7. April 1989, in: EBD. 26 (1993), S. 1015–1034. 28 56 Niederschrift des Arbeitstreffens Honecker – Gorbatschow, 28.6.1989, in: SAPMO- 29 BArch, J IV 2/2A/3228. Abdruck in: Daniel KÜCHENMEISTER (Hg.), Honecker-Gorbatschow. Vieraugengespräche, Berlin 1993, S. 208–239, hier S. 221–223. 30 57 Zur Freiheit durch Ungarn. Die Öffnung der ungarischen Grenze in der Nacht vom 31 10. auf den 11. September 1989, Symposium der Konrad-Adenauer-Stiftung am 8. September 32 1994 in Berlin, Dokumentation, Sankt Augustin 1994. 33 58 Vermerk Genscher, Gespräch Kohl – Németh, Horn, 25. August 1989, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 31), S. 377–380; H.-D. GENSCHER (wie Anm. 11), S. 640; Gyula HORN, 34 Freiheit, die ich meine. Erinnerungen des ungarischen Außenministers, der den Eiseren Vor- 35 hang öffnete, Hamburg 1991, S. 314, 316f., 319f.; István HORVÁTH, Wie kam es zum 9. No- 36 vember 1989? Eine Sicht aus Ungarn, in: Heiner TIMMERMANN (Hg.), Die DDR – Erinnerung an einen untergegangenen Staat (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Ot- 37 zenhausen, Bd. 88), Berlin 1999, S. 59f. 38 59 Klaus-Hermann RINGSWALD, »Als alles begann – Budapest: 13 bis 19. August 1989«, 39 in: Auf Posten ... Berichte und Erinnerungen aus 50 Jahren deutscher Außenpolitik. Zum 40 125jährigen Jubiläum des Auswärtigen Amtes, bearb. von Reinhard BETTZUEGE, München– Landsberg/Lech 1996, S. 121–127. 41 60 Die Nacht von Prag – ein Augenzeugenbericht. Aus den Notizen von Frank Elbe, in: 42 EBD. S. 115–121. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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Nach Erkenntnissen des Bundesnachrichtendienstes schwankte in jenen 1 Herbst-Wochen bei der Bevölkerung in der DDR die Stimmungslage zwischen 2 Hoffnung auf Veränderungen und Ratlosigkeit über die weitere Entwicklung. 3 Einerseits war Schadenfreude zu hören, dass der SED-Führung die Menschen 4 weglaufen, andererseits wurden Selbstvorwürfe laut, bisher nicht den Mut zu 5 einem solchen Schritt aufgebracht zu haben. Im Umfeld des jeden Montag 6 stattfindenden »Friedensgebetes« in der Leipziger Nikolai-Kirche breitete sich 7 eine Protestszene mit neuer Aufbruchstimmung aus, wie sie niemand von der 8 anscheinend in Lethargie verfallenen Bevölkerung erwartet hatte. Die Men- 9 schen wollten gesellschaftliche Veränderungen und forderten Demokratie und 10 Freiheit. Doch Rufen »Wir-wollen-raus« schallten ebenso Sprechchöre »Wir- 11 bleiben-hier« entgegen. Viele der schon weit mehr als 200 000 Demonstranten 12 sahen darin die letzte Chance, vor Ort etwas zu bewegen.61 13 Die Strategie der Bundesregierung lief auf ein Junktim hinaus, umfang- 14 reiche Finanzhilfen für das marode Wirtschaftssystem der DDR von der 15 Gewährung der Freizügigkeit und politischer Reformen abhängig zu machen. 16 Insbesondere sollten das Machtmonopol der SED abgeschafft, Oppositions- 17 gruppen zugelassen und freie Wahlen abgehalten werden. Das hatte Seiters 18 Anfang November bei der Begegnung mit Alexander Schalck-Golodkowski 19 deutlich zu erkennen gegeben.62 Damit blieb die Bundesregierung ihrer seit 20 1950 offiziell vertretenen Linie treu, als erster Schritt zur Wiedervereinigung 21 müsse den Menschen in der DDR das Recht zur Selbstbestimmung gewährt 22 werden. 23 Die Bundesregierung sei bereit, die von der neuen SED-Führung angestrebte 24 grundlegende Sanierung der DDR-Wirtschaft zu unterstützen, so lautete jeden- 25 falls der am 6. November 1989 von den beamteten Staatssekretären gefasste 26 Beschluss. Forderungen der DDR-Regierung nach mittelfristiger Liquiditäts- 27 hilfe in Form von ungebundenen Finanzkrediten zur Absicherung der Refor- 28 men in den nächsten fünf Jahren in der Größenordnung von acht bis zehn Mil- 29 liarden DM hielten sie jedoch für unrealistisch. Im Falle ausbleibender Refor- 30 men käme die Gewährung eines solchen Finanzvolumens nämlich einer 31 »reinen Systemfinanzierung« gleich. Hauptinteresse der Bundesregierung war 32 zunächst die Generalbereinigung der aus der Fluchtbewegung entstandenen 33 Probleme, insbesondere die weitgehende Lockerung des Reiseverkehrs nach 34 Westen, eventuell auch mit der Konsequenz, dass Ausreisen aus der DDR 35 36 37 38 61 Vorlage Jungs an Kohl, 3. November 1989, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 31), S. 478f. 39 62 Alexander SCHALCK-GOLODKOWSKI, Deutsch-deutsche Erinnerungen, Reinbek/Ham- 40 burg 2000, S. 326f. Schreiben Schalck-Golodkowskis an Krenz, 7. November 1989, in: Peter PRZYBYLSKI, Tatort Politbüro, Bd. 2: Honecker, Mittag und Schalck-Golodkowski, Berlin 41 1992, S. 394f. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 wieder rückgängig gemacht würden.63 Angesichts dieser Lage sah sich die 2 SED-Führung unter dem neuen Generalsekretär Egon Krenz geradezu genö- 3 tigt, eine direkte Ausreiseregelung zu ermöglichen. Es war nur eine Frage des 4 Zeitpunktes. 5 Letztlich machte die Ankündigung, das Reisegesetz zu ändern und den Men- 6 schen mehr Freiheit zuzugestehen, die Mauer so löchrig, dass sie beim ersten 7 Ansturm sofort einstürzte. Dennoch hatte niemand damit gerechnet, selbst der 8 Kanzler nicht. Wenige Minuten vor der Pressekonferenz Günter Schabowskis, 9 damals Sekretär des Zentralkomitees der SED, am Abend des 9. November 10 1989 in Ost-Berlin warf Lech Walesa, damals Vorsitzender des Gewerk- 11 schaftsbundes »Solidarität«, in seinem Gespräch mit dem Bundeskanzler in 12 Warschau die Frage auf, was passiere, wenn in zwei Wochen die Mauer ver- 13 schwunden sei. Sachlich und nüchtern antwortete Kohl: »Wenn die Zahl der 14 Zufluchtsuchenden noch dramatischer anwachse, werde die DDR kollabie- 15 ren.«64 16 17 Fazit 18 19 Erstens, es waren innen- und außenpolitische Faktoren der Systemabgrenzung 20 und Entspannungsbereitschaft, die teils langfristig wirkten, teils ziemlich kurz- 21 fristig während des Jahres 1989 zusammenkamen und den Fall der Mauer her- 22 beiführten. 23 Zweitens, die Fortsetzung der Entspannungspolitik von Seiten der Regie- 24 rung Kohl/Genscher, Reagans SDI-Programm, das die Sowjetunion zu einer 25 Kursänderung zwang, die Koinzidenz von wirtschaftlichem Zerfallsprozess, 26 Misswirtschaft des sozialistischen Systems in der DDR, rüstungspolitische und 27 technologische Unterlegenheit, westliche Embargopolitik, ebenso wie der von 28 Gorbatschow eingeleitete Umdenkungsprozess, dem sich die SED-Führung in 29 Ost-Berlin nicht entziehen konnte und gegen den sie vergeblich kämpfte, ver- 30 ursachten den Kollaps. 31 Drittens, Zivilcourage der Bürgerrechtsbewegung und die Massendemon- 32 strationen, jedoch auch der pure Zufall, besser gesagt: die historische Fügung, 33 bescherten den Deutschen die Öffnung der Türe zur Wiederherstellung der 34 deutschen Einheit. 35 Wie hatte es Adenauer formuliert? – »Die auf Grund innerer Entwicklungen 36 mit Naturnotwendigkeit eintretenden Veränderungen« sind zwar »langsamer, 37 aber erfolgreicher«. 38 39 40 63 Besprechung der beamteten Staatssekretäre und Anlage 4: Vermerk Sterns, beide 6. November 1989, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 31), S. 482–489. 41 64 Gespräch Kohls mit Walesa, Warschau, 9. November 1989, in: EBD. S. 492–496, hier 42 S. 493. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

DIE ÄRA KOHL IM GESPRÄCH 1 2 3 4 Die Medienpolitik der 80er Jahre. 5 Einführung 6 7 Von Jürgen Wilke 8 9 Innerhalb einer Veranstaltungsreihe »Die Ära Kohl im Gespräch« über die 10 Medienpolitik der 80er Jahre zu handeln, verlangt einige Vorbemerkungen. 11 Denn es stellt sich zunächst einmal die Frage, welchen Stellenwert diese The- 12 matik auf der politischen Tagesordnung der Ära Kohl hatte und ob sie diese 13 in besonderer Weise geprägt hat. 14 Dass sich in den 1980er Jahren ein tiefgreifender Wandel in der deutschen 15 Medienlandschaft vollzog, wird gewiss niemand bestreiten. Er war der weit- 16 gehendste seit der Neugestaltung der Medienordnung noch unter maßgeblich 17 alliiertem Einfluss nach 1945. Der Umbruch betraf im wesentlichen zwei Be- 18 reiche des Mediensystems, was sich auch im Programm dieser Veranstaltung 19 niederschlägt. 20 Zum einen wurde das Tor aufgestoßen zur Zulassung privater Rundfunkan- 21 bieter. Damit kam es zur Entstehung des dualen Rundfunksystems, wie wir 22 es heute kennen. Zum zweiten waren im Zuge der deutschen Vereinigung auch 23 medienpolitische Entscheidungen gefordert. In beiderlei Hinsicht hat die Ära 24 Kohl nachhaltige Spuren hinterlassen. Allerdings waren dafür der damalige 25 Bundeskanzler und seine Regierung nicht allein verantwortlich. Als Helmut 26 Kohl am 1. Oktober 1982 in dieses Amt gewählt wurde, waren die Initiativen, 27 privatwirtschaftlich organisierten Rundfunk in der Bundesrepublik Deutsch- 28 land zu etablieren, längst im Gange. Da Helmut Kohl zu diesem Zeitpunkt 29 fast ein Jahrzehnt Bundesvorsitzender der CDU war (und seit 1976 Vorsit- 30 zender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion), waren diese Initiativen auf Par- 31 teiebene unter seiner Ägide vorbereitet. 32 33 Gegenstand 34 35 Wenn wir von Medienpolitik sprechen, meinen wir jenes politische Handeln, 36 das auf die Durchsetzung von Werten und Zielen in der öffentlichen Kommu- 37 nikation ausgerichtet ist und sich insbesondere auf die Massenmedien, also 38 Presse, Film, Rundfunk und neue Medien (einschließlich heute das Internet) 39 bezieht. Bei diesen Medien handelt es sich um technische Mittel, die zur mas- 40 senhaften Verbreitung von Informationen, Meinungen und Unterhaltung an 41 ein breites Publikum geeignet sind. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Der Begriff »Medienpolitik« ist in der alten Bundesrepublik allerdings erst 2 in den 1970er Jahren in Gebrauch gekommen. Wohl hat man schon im 3 19. Jahrhundert von »Pressepolitik« gesprochen. Politische Einwirkungen auf 4 die gesellschaftliche Kommunikation reichen insofern weiter zurück. Dennoch 5 indiziert die Karriere des Begriffs »Medienpolitik« im letzten Viertel des 6 20. Jahrhunderts, dass sich hier ein eigener, genuiner Politikbereich konstitu- 7 ierte und zu beträchtlicher Bedeutung aufstieg. Allerdings waren dessen Legi- 8 timation und Institutionalisierung prekär. 9 10 Kompetenzen 11 12 Wenn man die in der Bundesrepublik Deutschland betriebene Medienpolitik 13 diskutieren will, muss man sich erst noch einmal klar machen, wie diese le- 14 gitimiert und die einschlägigen Kompetenzen verteilt sind. Medienpolitik ist 15 in einer liberalen Demokratie im Prinzip eine problematische Angelegenheit. 16 Denn idealerweise soll sich die gesellschaftliche Kommunikation in einer sol- 17 chen politischen Ordnung unabhängig vom Staat vollziehen. So ist jedenfalls 18 auch das Grundgesetz zu verstehen, das in Art. 5 Meinungs- und Pressefreiheit 19 als Abwehrrechte statuiert. 20 Deshalb hatte Johannes Gross mit seinem oft zitierten Spruch nicht unrecht, 21 die beste Medienpolitik sei gar keine. Dennoch verkennt man mit einem der- 22 artigen altliberalen Credo, dass die (technische) Eigenart moderner Medien 23 politische Gestaltungsaufgaben auch für den Staat unausweichlich nach sich 24 zieht. Dies lässt sich auch durch die institutionelle Garantie der Presse- und 25 Rundfunkfreiheit im Art. 5 GG rechtfertigen. Allerdings ist die Sachlage in- 26 sofern paradox, als dem Staat selbst hier die Aufgabe zufällt, Staatsfreiheit zu 27 organisieren. Ob er dazu bereit ist, ist eine sich in der Medienpolitik permanent 28 stellende Frage. 29 Aus dem Grundgesetz lässt sich nicht nur ein – zumindest mittelbarer – 30 Auftrag zur Medienpolitik ableiten. Die Verfassung enthält vielmehr auch 31 Vorgaben, wer dafür überhaupt zuständig ist. Doch sind diese Vorgaben durch- 32 aus umstritten gewesen. Konrad Adenauer stützte seine Bemühungen zur Ein- 33 führung eines Bundesfernsehens Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre be- 34 kanntlich auf den Art. 73 Nr. 7 GG, welcher der Bundesregierung das aus- 35 schließliche Gesetzgebungsrecht für das Post- und Fernmeldewesen (heute 36 Telekommunikation) zuspricht. Seiner Auslegung hat das Bundesverfassungs- 37 gericht im Fernsehurteil 1961 widersprochen und die Kompetenzfrage hin- 38 sichtlich der Rundfunkorganisation gemäß Art. 70 Abs. 1 zugunsten der Bun- 39 desländer entschieden. 40 Grundsätzlich ergab sich daraus für die Folgezeit, dass die Bundesregierung 41 nur über einen begrenzten Spielraum verfügt, selbst Medienpolitik zu betrei- 42 ben. Das galt auch für die Regierung Kohl. Allerdings war dieser Spielraum Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Die Medienpolitik der 80er Jahre 163 auch nicht unerheblich, weil sich medienpolitische Entscheidungsmöglichkei- 1 ten in jüngerer Zeit erst auf der Grundlage technischer Vorentscheidungen rea- 2 lisieren ließen. Die Kompetenzfrage blieb im übrigen aktuell, weil durch die 3 neuen Techniken die Grenzen, was eigentlich Rundfunk sei (und damit den 4 Ländern zur Regelung zustehe), fließend wurden. 5 6 Akteure 7 8 Durch die medienpolitische Kompetenzverteilung sind auch schon die wesent- 9 lichen Akteure der Medienpolitik benannt. Wenn man Politik streng als Her- 10 stellung kollektiv bindender Entscheidungen definiert, fallen hier wie anders- 11 wo die Letztentscheidungen den Parlamenten zu, in erster Linie den Länder- 12 parlamenten, innerhalb des dem Bund verbleibenden Spielraums auch dem 13 Deutschen Bundestag. Die politische Gestaltungsfunktion erfüllten gleichwohl 14 die sich auf parlamentarische Mehrheiten stützenden Regierungen. Sie können 15 jedenfalls auch auf administrativem Wege medienpolitisch agieren. 16 Doch wäre es verkürzt, Medienpolitik auf solche Letztentscheidungen und 17 das Handeln der Administration zu reduzieren. Medienpolitik ist vielmehr ein 18 Diskussions- und Verhandlungszusammenhang, an dem auch andere politische 19 und gesellschaftliche Akteure beteiligt sind. Zunächst die Parteien, denen bei 20 der politischen Willensbildung eine maßgebende Rolle zufällt, ferner gesell- 21 schaftliche Gruppierungen wie Kirchen und Gewerkschaften, nicht zuletzt die 22 Medien und die sie tragenden Kräfte. Außer den organisierten Interessenver- 23 bänden der Verleger und der Journalisten können gerade die Letztgenannten 24 selbst durch Veröffentlichungen auf den medienpolitischen Diskurs in der Öf- 25 fentlichkeit einwirken. Dadurch sind die Betroffenen zugleich auch Akteure. 26 Wenn die Bundesregierung dann Ende der 80er Jahre im Zuge der deutschen 27 Vereinigung eine medienpolitische Kompetenz wahrnahm, so geschah dies im 28 Rahmen ihrer deutschlandpolitischen, ja quasi außenpolitischen Zuständigkeit. 29 Mit-Akteure waren hier bis zum Beitritt der DDR deren letzte, aber frei ge- 30 wählte Regierung bzw. die von ihr geschaffenen einschlägigen Gremien. Erst 31 mit der Gründung der neuen Bundesländer wurde das Prinzip des medienpo- 32 litischen Föderalismus auch in Ostdeutschland wirksam. 33 34 Ziele 35 36 Wie zu Beginn gesagt, geht es bei der Medienpolitik um die Durchsetzung 37 von Werten und Zielen im Bereich der öffentlichen Kommunikation. Jede Be- 38 schäftigung mit der Medienpolitik muss daher nach diesen Zielen fragen. Da- 39 bei lassen sich Ziele nach verschiedenen Ebenen und Dimensionen unterschei- 40 den. Sie können implizit bestimmten erstrebten Zuständen innewohnen, aber 41 auch explizit gemacht werden, beispielsweise in Parteiprogrammen oder so- 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 genannten Medienpapieren, wie die deutschen Parteien sie in den 1970er Jah- 2 ren entwarfen. 3 Unter den Zielen lassen sich damals insbesondere folgende ausmachen: Ord- 4 nungspolitische, die sich an der Verfassung und dem Leitbild einer pluralisti- 5 schen Demokratie orientieren. Das macht publizistische Vielfalt zu einem Leit- 6 ziel. Zu nennen sind ferner technologiepolitische und ökonomische Ziele, denn 7 Medien besitzen mittlerweile ein enormes Wirtschaftspotential. Aber es wäre 8 gewiss blauäugig, wenn man ausklammern wollte, dass Medienpolitik auch 9 ein Teil Machtpolitik ist. 10 Die Medienpolitik der CDU der 80er Jahre war auch motiviert durch nega- 11 tive Erfahrungen mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und der Überzeu- 12 gung, diesem sei in seiner monopolartigen Stellung ein übermäßiges Macht- 13 potential zugewachsen, das nicht immer normkonform eingesetzt werde (man- 14 gelnde Ausgewogenheit) und daher eines Gegengewichts bedürfe. Die 15 Interessenlage der SPD war hier eine merklich andere. 16 Ordnungspolitische Überlegungen bestimmten auch den medienpolitischen 17 Teil des deutschen Vereinigungsprozesses. Hier musste es darum gehen, das 18 unter der DDR-Diktatur herrschende gelenkte Mediensystem in ein gemäß den 19 Prinzipien der Bundesrepublik organisiertes zu überführen. Aber daneben 20 spielten wiederum auch wirtschafts- und sozialpolitische Überlegungen hinein, 21 die problematische Folgen hatten. 22 23 Vorstufen 24 25 Medienpolitik wurde in der Bundesrepublik Deutschland schon vor der Ära 26 Kohl betrieben. Prägende Grundentscheidungen – Lizenzierung großer Regio- 27 nalzeitungen und Gründung öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten – waren 28 durch die westlichen Besatzungsmächte getroffen worden. Diese Prägung ist 29 von der CDU, zumindest von ihrer Führung, anfangs als ungeliebte Hinter- 30 lassenschaft angesehen worden. So ergriffen die Adenauer-Regierungen schon 31 in den 1950er Jahren – wenn auch punktuell – medienpolitische Initiativen: 32 Einerseits zur Schaffung eines Bundespressegesetzes, andererseits zur Einfüh- 33 rung eines zweiten Fernsehprogramms unter maßgeblicher Beteiligung des 34 Bundes. Das Scheitern des Projekts der Deutschland Fernsehen GmbH vor 35 dem Bundesverfassungsgericht 1961 war gewiss eine der schmerzlichsten Nie- 36 derlagen Konrad Adenauers, des sonst so erfolgreichen ersten Bundeskanzlers. 37 In anderen heiß diskutierten medienpolitischen Fragen der 1960er Jahre – der 38 Pressekonzentration und der »inneren Pressefreiheit« – positionierten sich 39 Unionsparteien und Bundesregierung hingegen durch die Abwehr regulieren- 40 der Eingriffe. 41 Insgesamt, so zeigt sich im Rückblick, waren die medienpolitischen Initia- 42 tiven der Adenauerzeit formal noch stark fragmentiert und wenig koordiniert. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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Und inhaltlich zielten sie, zumindest auf Parteiebene der CDU, auf eine Stär- 1 kung von bundesstaatlichen Komponenten in der Medienordnung. Durch die 2 föderalistischen Vorentscheidungen der Alliierten sah man sich auf Seiten der 3 unionsgeführten Bundesregierung benachteiligt, was daher wettgemacht wer- 4 den sollte. Den Vorteil des medienpolitischen Föderalismus erkannte man erst, 5 als die Partei 1969 in Bonn von den Schalthebeln der Macht verdrängt wurde. 6 Denn jetzt blieb den CDU und CSU-regierten Bundesländern hier immerhin 7 eine Kompetenz erhalten, durch die sie die Entwicklung der Bundesrepublik 8 ordnungspolitisch beeinflussen konnten. 9 10 Ausgangslage 11 12 Welches war die Ausgangslage für die Medienpolitik der 80er Jahre? Ent- 13 scheidend für sie war, dass sich durch Kabel und Satelliten neue Übertra- 14 gungstechniken einstellten. Damit zeichnete sich ein Ende ab für den Mangel 15 an terrestrischen Frequenzen, der bis dahin die Entfaltung der elektronischen 16 Medien eingeschränkt hatte und auch der wesentliche Grund für die Legiti- 17 mation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch das Bundesverfassungsge- 18 richt gewesen war. Doch versprachen die hinzutretenden Techniken nicht nur 19 eine Erweiterung des bisherigen Rundfunkspektrums, sondern auch zusätzli- 20 che Angebote, die unter dem Begriff »Neue Medien« firmierten. Eines davon, 21 das vielversprechend schien, war Bildschirmtext. 22 Die damalige sozial-liberale Bundesregierung tat, was Exekutiven gerne 23 tun, wenn sie sich mit einer ungeordneten Gemengelage konfrontiert sehen, 24 also nicht entscheiden können, aber vielleicht auch nicht entscheiden wollen: 25 Man setzt eine Kommission oder einen Rat ein. Die am 2. November 1973 26 beschlossene Kommission für den Ausbau des technischen Kommunikations- 27 systems (KtK) sollte Vorschläge, wie es hieß, für ein wirtschaftlich vernünf- 28 tiges und gesellschaftlich wünschenswertes Kommunikationssystem der Zu- 29 kunft vorlegen. Am 27. Januar 1976 präsentierte sie ihren Bericht. Der Schwer- 30 punkt des sogenannten Telekommunikationsberichts lag auf dem Ausbau des 31 Fernsprechnetzes und seiner Nutzung für neue Kommunikationsformen. Zum 32 Ausbau der Breitbandkommunikation äußerte sich die Kommission zurück- 33 haltend. Sie sprach noch vom »Fehlen eines ausgeprägten drängenden Be- 34 darfs« und sah auch bei den neuen Inhalten noch nicht klar, so dass sie zunächst 35 Pilotprojekte (Modellversuche) empfahl. 36 Bis diese Empfehlung tatsächlich realisiert wurde, vergingen acht Jahre. 37 Am 11. Mai 1978, mehr als zwei Jahre nach Vorlage des KtK-Berichts, ei- 38 nigten sich die Bundesländer erst einmal auf vier solche Pilotprojekte, und 39 zwar in Dortmund, München, Berlin und Ludwigshafen/Mannheim. Aber 40 auch danach wurde deren Beginn weiter verzögert, wobei insbesondere die 41 hessische Landesregierung auf die Bremse trat. Ungeklärt blieb weiterhin län- 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 gere Zeit die Finanzierung. Die in der Öffentlichkeit verbreiteten Bedenken 2 schlugen sich in der Forderung nach »Rückholbarkeit« nieder. Und befürch- 3 teten negativen Folgen sollte durch eine breite Begleitforschung begegnet 4 werden. 5 Auch die SPD-geführte Bundesregierung beteiligte sich an der Verschlep- 6 pung medienpolitischer Weichenstellungen. Am 26. September 1979 verkün- 7 dete Bundespostminister Gscheidle den Beschluss, die Verkabelung von elf 8 deutschen Großstädten zu stoppen. Einen Tag später führte der Minister im 9 Bundestag gar aus, die Bundesregierung stelle Überlegungen an, wie die Emp- 10 fangsmöglichkeiten für Satellitenprogramme der westlichen und südlichen 11 Anrainer-Staaten unterbunden werden könnten – ein unerhörter Gedanke an- 12 gesichts der damals internationalen Diskussion um den freien Informations- 13 fluss. 14 Trotz dieser Hindernisse gingen die Vorbereitungen zu den Pilotprojekten 15 zumindest in den unionsgeführten Bundesländern weiter, auch nachdem Ba- 16 den-Württemberg von einer Beteiligung Abstand genommen hatte. Die Lan- 17 desregierung von Rheinland-Pfalz legte am 4. Dezember 1980 ihren Gesetz- 18 entwurf über einen Versuch mit Breitbandkabel vor, der erstmals auch privaten 19 Rundfunkanbietern die Möglichkeit eröffnete, unter der koordinierenden Auf- 20 sicht einer öffentlich-rechtlichen Instanz Programm zu veranstalten. Die or- 21 ganisatorischen Voraussetzungen dafür wurden durch die Anstalt für Kabel- 22 kommunikation (AKK) seit 1982 geschaffen. Ähnlich liefen die Dinge in Bay- 23 ern, wo der Ministerrat am 24. Juni 1980 eine Expertenkommission zur 24 Vorbereitung des Kabelpilotprojekts München berief. Dabei war die Situation 25 durch den Art. 111a der Bayerischen Verfassung, demzufolge dort Rundfunk 26 nur in ausschließlich öffentlich-rechtlicher Trägerschaft erlaubt ist, etwas an- 27 ders gelagert. 28 Derweilen musste sich die CDU auf Bundesebene mit Erklärungen und For- 29 derungen begnügen. Schon am 26. November 1979, zwei Monate nachdem 30 er in Kraft getreten war, hatte das Präsidium der Partei die Aufhebung des 31 Verkabelungsstopps verlangt und kritisiert, dass die Bundespost als »Blo- 32 ckadeinstrument des technischen Fortschritts« benutzt werde. Der Bund habe 33 technische Dienstleistungen zu erbringen, jedoch keine medienpolitischen Ent- 34 scheidungen zu treffen. 35 Die Chance, solche Forderungen auch in die Tat umzusetzen, eröffnete der 36 Regierungswechsel im Herbst 1982. Jetzt sollte auch ein medienpolitischer 37 Stillstand überwunden werden. Nicht ohne Grund hatte die Regierungserklä- 38 rung von Bundeskanzler Helmut Kohl, die er am 13. Oktober 1982 im Deut- 39 schen Bundestag abgab, einen medienpolitischen Teil: Der Weg zur Anwen- 40 dung moderner Techniken, so sagte er, sollte freigemacht werden. Die deut- 41 sche Bundespost sollte durch den Ausbau der Kabelnetze, die Einführung 42 neuer Dienste und die Einbeziehung der Satellitentechnik wirkungsvolle An- Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Die Medienpolitik der 80er Jahre 167 stöße für Investitionen geben. Der Bundeskanzler kündigte eine Beendigung 1 der politischen Blockade des Ausbaus moderner Kommunikationstechniken 2 an. Die Vielfalt der Meinungen, die durch eine Vielzahl von Organisations- 3 formen gewährleistet werde, sei Ingredienz einer freiheitlichen Ordnung. 4 Mit der Übernahme der Regierungsverantwortung und damit, dass sie den 5 Bundespostminister stellte, gewann die CDU 1982 auch bundesstaatlich eine 6 medienpolitische Gestaltungskompetenz wieder. Anders als in den 50er Jahren 7 machte sie davon aber nicht einseitig zugunsten einer Stärkung des bundes- 8 staatlichen Zentralismus Gebrauch, sondern nutzte diese Kompetenz unter Re- 9 spektierung der föderalen Elemente der deutschen Medienordnung, d. h. der 10 Zuständigkeit und Interessen der Bundesländer. 11 12 Fragen 13 14 Wenn wir uns heute mit der Medienpolitik der 80er Jahre beschäftigen, so 15 geschieht dies zunächst in der Absicht, sich eines wesentlichen Kapitels der 16 politischen Ära unter Helmut Kohl zu vergewissern. Wie kam die medienpo- 17 litische Weichenstellung zustande, welche Ziele hatte sie und welche Wider- 18 stände gab es dagegen? Wer waren die Akteure und welche Schritte leiteten 19 sie ein? Wie machten sie von ihren Kompetenzen Gebrauch, welchen Über- 20 zeugungen folgten sie oder welche Vorbehalte waren zu überwinden? Darüber 21 heute in einem Rückblick zu sprechen, liegt nicht nur nahe, um Legenden, die 22 sich leicht bilden, zu begegnen. Vielmehr auch um der nachwachsenden Ge- 23 neration, die nichts anderes mehr kennt als die duale Medienordnung, zu ver- 24 mitteln, unter welchen Geburtswehen es dazu gekommen ist. 25 Aber wir sollten es heute nicht bei einer bloßen historischen Rekonstruktion 26 bewenden lassen. Sondern nach zwei Jahrzehnten drängt sich selbstverständ- 27 lich auch die Frage auf, wie die Initiatoren von damals ihre medienpolitischen 28 Entscheidungen bewerten. Dass sie damit Erfolg hatten, ist kaum zu bestreiten. 29 Aber haben sich alle Erwartungen erfüllt – und zwar nicht nur die wirtschaft- 30 lichen, sondern auch die publizistischen? Und welche Ziele und Prognosen 31 haben sich vielleicht (zunächst) nicht erfüllt? Und hat es schließlich Versäum- 32 nisse oder von heute aus gesehen problematische Entscheidungen gegeben? 33 Eine solch kritische Prüfung braucht die Ära Kohl nicht zu scheuen. 34 35 36 37 38 39 40 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 2 3 Der Kampf um die neue Medienordnung. 4 Initiativen und Innovationen 5 6 Von Bernhard Vogel 7 8 Ich möchte die Initiative, die wichtigsten politischen Reformen der Ära Kohl 9 und ihre Hintergründe im Gespräch zu erörtern oder auszuleuchten, ausdrück- 10 lich begrüßen, und zwar weniger als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stif- 11 tung, sondern vor allem als handelnder Politiker – »Akteur« heißt das heute 12 –, der seine erste Ernennungsurkunde als Kultusminister noch aus der Hand 13 von Peter Altmeier entgegengenommen hat und leidenschaftlich daran inter- 14 essiert ist, dass die Geschichte so dargestellt wird, wie sie »wirklich gewesen« 15 ist, und dass sie nicht umgeschrieben wird. Dazu braucht man natürlich letzt- 16 lich den Fachmann, d.h. nicht den Politiker, sondern den Historiker, denn wir 17 Akteure – ich mache jedenfalls die Erfahrung – tun uns mitunter schwer, noch 18 genau zu wissen, wie es damals gewesen ist. Die Reihenfolge der Kabinette 19 der Weimarer Republik, die ich nicht miterlebt habe, lässt sich eher lernen 20 und sicher festhalten als die Abfolge der Bundeslandwirtschaftsminister bei- 21 spielsweise, die man miterlebt hat. Aber um den Historikern zu ermöglichen 22 zu erforschen, wie es wirklich gewesen ist, kann wohl von uns ein kleiner 23 Beitrag geleistet werden. Und das gilt natürlich auch für den Mediensektor, 24 einen, wie wir gerade von Herrn Professor Wilke gehört haben, besonders heiß 25 umstrittenen Reformbereich der Ära Kohl. 26 Ich freue mich, dass ich nicht allein dazu spreche, sondern dass Claus Detjen 27 dabei ist, der im Mittelpunkt des Geschehens gestanden hat, über das ich zu 28 reden habe, dass Christian Schwarz-Schilling dabei ist, der wohl medien- 29 freundlichste Bundesminister, den je eine Bundesregierung hatte, allerdings 30 fußend auf der schon zweimal zitierten Regierungserklärung von 1982, der 31 Weichenstellung, die Helmut Kohl damals vorgenommen hat. Und ich freue 32 mich, dass Klaus von Dohnanyi unter uns ist, wohl der Politiker, mit dem ich 33 zumindest zeitlich am längsten die Fragen beraten habe, um die es hier geht, 34 nirgendwo länger und intensiver als im Gästehaus des Hamburger Senats, in 35 dem man – während er im Morgengrauen mit dem Rad nach Hause fuhr – 36 auch noch Übernachtung finden konnte. 37 Im Zusammenhang mit der Neuordnung des Medienbereichs wird in der 38 Literatur und auch in Vorträgen gern von der »Einführung des privaten Rund- 39 funks« gesprochen. Einführung, das klingt so, als hätte irgend jemand eine 40 Idee gehabt, alle hätten ihr zugestimmt, es sei beschlossen und verkündet und 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

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1 dann eingeführt worden, und der private Rundfunk war da. Davon kann aber 2 keine Rede sein. Es bedurfte vielmehr eines jahrelangen, damals mit großer 3 Erbitterung geführten Kampfes, fast nach der Art eines Glaubenskrieges, bis 4 die Tür für private Veranstalter zunächst einen winzigen Spalt geöffnet war. 5 Im Landtag von Rheinland-Pfalz wurde mir von der verehrten Opposition vor- 6 geworfen, mit Hilfe eines privaten Rundfunks die öffentlich-rechtlichen Rund- 7 funkanstalten zerschlagen zu wollen, ganz zu schweigen vom absoluten kul- 8 turellen Niedergang, der allein schon mit dem Beginn der kleinen Versuchs- 9 programme einhergehen würde. Es gab auf beiden Seiten Schwarz-Weiß- 10 Malerei. Die einen zeichneten das düstere Bild eines platten Kommerzfunks 11 und sahen die Existenz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks massiv bedroht, 12 für die anderen war das öffentlich-rechtliche Rundfunkwesen über jeden Zwei- 13 fel erhaben und schien in jeder einzelnen seiner Sendeminuten nur Kultur- 14 und Informationsprogramm zu sein. Die Gewerkschaften sagten den neuen 15 Medien den Kampf an – »aus Sorge um die Arbeitsplätze«, man muss sich 16 das heute überlegen, »aus Sorge um die Arbeitsplätze«! Teile der Kirchen, 17 ihre offiziellen Mediensprecher zumal, schlossen sich dem an. Die Bundesre- 18 gierung stoppte aus Sorge um »die humane Demokratie« die Breitbandverka- 19 belung und der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt warb nachdrücklich 20 für einen fernsehfreien Tag. 21 Zur Erinnerung einige Daten: Im Februar 1974 setzte die Bundesregierung 22 eine unabhängige Kommission für den Ausbau des technischen Kommunika- 23 tionssystems ein. Ende 1975 schloss die sogenannte KtK (Kommission für den 24 Ausbau der technischen Kommunikationssysteme) ihre Arbeit mit einem um- 25 fassenden Telekommunikationsbericht ab. Ein wesentliches Ergebnis war, dass 26 in Zukunft eine schier unbegrenzte Anzahl von Rundfunkprogrammen tech- 27 nisch möglich sein würde. Dies war für mich persönlich und für andere ent- 28 scheidend: Die technischen Kapazitäten, die Übertragbarkeitskapazitäten, wa- 29 ren nicht mehr knapp und mussten folglich nicht mehr bewirtschaftet werden. 30 So wie ich es nach 1945 erlebt hatte, als anfangs das Papier knapp war, und 31 es deswegen nur eine überregionale Zeitung gab, die dreimal in der Woche 32 erschien und bei dem Zigarrenverkäufer abgeholt werden musste. Der Mangel 33 an technischen Kapazitäten, der zur Beschränkung auf zwei öffentlich-recht- 34 liche Programme geführt hatte, war jetzt nicht mehr gegeben. Am 11. Mai 1978 35 verständigten sich die Länder entsprechend den Empfehlungen dieser Kom- 36 mission auf vier Versuche mit neuen Medien in zwei Unions-geführten und 37 in zwei SPD-geführten Ländern, und zwar in Berlin, Bayern, Nordrhein-West- 38 falen und Rheinland-Pfalz, wobei aber nur eines dieser Projekte, nur das rhein- 39 land-pfälzische, ein privates Ordnungsmodell erproben sollte. Zunächst war 40 von Ludwigshafen/Mannheim die Rede gewesen, aber der bedächtige Filbinger 41 und der stürmische Kohl konnten sich auf die Federführung nicht einigen. Fil- 42 binger überließ die Sache damals dem in den Vorverhandlungen vor 1976 noch Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

Der Kampf um die neue Medienordnung 171 als Ministerpräsident amtierenden rheinland-pfälzischen Ministerpräsident 1 Kohl. Deswegen ist von dieser Zeit an nur noch von Ludwigshafen und nicht 2 mehr vom baden-württembergischen Mannheim die Rede. 3 Bei einem Treffen vom 12. bis 14. November 1980, zwei Jahre nach der 4 Einigung auf diese Pilotprojekte, kam es endlich zu dem sogenannten Kron- 5 berger Beschluss der Ministerpräsidenten, der die gemeinsame Finanzierung 6 der vier Pilotprojekte regeln sollte: Man verständigte sich auf den sogenannten 7 Kabelgroschen, auf 20 Pfennige Aufschlag auf die Gebühren zur Finanzierung 8 dieser vier Projekte. In Wahrheit verständigten sich die Ministerpräsidenten 9 nicht in ihrer offiziellen Sitzung am 12. November, sondern in Wahrheit kam 10 die Vereinbarung in der Bar des Schlosshotels Kronberg in der Nacht vom 11 12. auf 13. zustande, indem es gelang, den damaligen hessischen Ministerprä- 12 sidenten Börner davon zu überzeugen, dass seine Überzeugung allein die Über- 13 zeugung der anderen nicht majorisieren dürfe, und dass er zwar nicht seine 14 Bedenken, aber sein Veto zurückstellen müsse gegen eine gemeinsame Be- 15 schlussfassung. 16 Das Pilotprojekt Ludwigshafen war die Keimzelle des dualen Rundfunksy- 17 stems, auch wenn bei seinem Beginn zwischen den wirtschaftspolitischen Vor- 18 stellungen und den kulturpolitischen Vorstellungen noch weit unterschiedliche 19 Meinungen vorhanden waren. Der entscheidende Mann für die Verwirkli- 20 chung, für die Umsetzung dieses Pilotprojekte wurde Claus Detjen, zunächst 21 als Geschäftsführer des Zeitungsverlegerverbandes eigentlich mehr ein Be- 22 denkenträger, aber durch Hanns-Eberhard Schleyer bekehrt, dann der Ver- 23 wirklicher dieses Projektes, auf den ich mich auch bei den folgenden Ausfüh- 24 rungen beziehe. 25 Auf Seiten der SPD überwog die Ablehnung der privatwirtschaftlichen Öff- 26 nung der Märkte von Hörfunk und Fernsehen. Die Gewerkschaften unterstütz- 27 ten Kampagnen gegen den verkabelten Menschen; in der öffentlichen Meinung 28 konnten sich die Gegner des Kabel- und Satellitenfunks erheblich leichter Ge- 29 hör verschaffen als die Befürworter einer neuen Rundfunkordnung. Die Auf- 30 fassung der Gegner, dass es für mehr als zwei oder maximal drei Programme 31 bundesweit keinen Markt gäbe, fand viel leichter öffentliche Zustimmung als 32 die Gegenposition der Befürworter von Privatfunk. 33 Das Design des Pilotprojektes war weitsichtiger angelegt als die von Vor- 34 urteilen geprägte Haltung seiner Gegner. Es orientierte sich gemäß den poli- 35 tischen Vorgaben der Landespolitik. Hier muss ich anmerken, dass im De- 36 zember 1980 zum ersten Mal ein Landesgesetz über einen Versuch mit Breit- 37 bandkabel im rheinland-pfälzischen Landtag beschlossen wurde, ein Gesetz, 38 das die rechtlichen Grundlagen für private Programmanbieter geschaffen hat 39 und die Zustimmung des Landtages nur fand, weil es verbunden war mit der 40 Einrichtung einer unabhängigen Begleitkommission, die einige Jahre später 41 entscheiden sollte, ob der Versuch fortgesetzt werden könne oder nicht. Es 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

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1 sollte also nach der politischen Vorgabe der Landespolitik eine duale Ent- 2 wicklung öffentlich-rechtlicher und privater Veranstalter entstehen, und zwar 3 von vornherein unter Einbeziehung von bundesweiter Satellitenübertra- 4 gung. 5 Knapp drei Monate nach Beginn des Projektes in Ludwigshafen wurde der 6 ECS (European Communication Satellite) – der Arbeitsgemeinschaft ECS 1 7 Westbeam – der Zuschlag für das erste private deutsche Satelliten-TV-Pro- 8 gramm gegeben, und es begann am 1. Januar 1985 unter dem Namen SAT 1. 9 Es war der 1. Januar 1984, als endlich das erste Pilotprojekt mit privater Be- 10 teiligung in Ludwigshafen gestartet wurde, der oft zitierte Urknall, der eigent- 11 lich darin bestand, dass Herr Schwarz-Schilling und ich auf einen roten Knopf 12 gedrückt haben. Berichtet worden ist, dass eben nicht Köln, nicht München, 13 Berlin oder Düsseldorf, sondern Ludwigshafen der Medienfokus von Deutsch- 14 land wurde, wenn auch nur für kurze Zeit. 15 In einem Kellerstudio am Rande der Chemiestadt, zwischen einem Friedhof 16 und einem Schlachthof gelegen, startete diese erste Aktion eines Privatfern- 17 sehens pünktlich um 10.30 Uhr am Neujahrstag 1984. Unterlegt mit Klängen 18 von Bach begann die erste Sendung und ein Jahr später – wie gerade schon 19 ausgeführt – mit SAT 1 das erste deutsche kommerzielle Fernsehprogramm. 20 Es war also kein dröhnender Urknall, aber ein Urknall mit Wirkung. Ludwigs- 21 hafen stand am Beginn einer Entwicklung, die politisch wie wirtschaftlich ge- 22 wollt und von der rasant fortschreitenden Kabel- und Satellitentechnologie be- 23 schleunigt wurde. Das duale Rundfunksystem Deutschlands entstand mit den 24 Privatsendern als Gegenpol zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk. 25 Den Weg ebnete der Regierungswechsel 1982, nachdem jahrelang die vor- 26 hergehende Regierung den Privatfunk erfolgreich verhinderte, weil sie ihn 27 nicht wollte. Man fühlte sich von ARD und ZDF gut bedient, und noch 1979 28 stoppte Bundeskanzler Helmut Schmidt die Verkabelungspläne seines dama- 29 ligen Postministers . 30 Der »Urknall« war sicher ein entscheidendes Ereignis, das weitreichende 31 Entwicklungen ausgelöst hat. Allerdings darf dieses Wort nicht darüber hin- 32 wegtäuschen, dass die Tür tatsächlich nur unter vielen Mühen und nur einen 33 kleinen Spalt geöffnet werden konnte. Aber der Fuß war in der Tür, und die 34 Tür war nicht mehr zu schließen, wenngleich es noch harter Mühen und tage- 35 und nächtelanger Konferenzen bedurfte, bis endlich 1987 ein Staatsvertrag zu- 36 stande kam, der die Neuordnung der Medienlandschaft regelte und das duale 37 System, das ein Nebeneinander öffentlich-rechtlicher und privater Angebote 38 darstellt, ermöglichen sollte. Und dass es zu diesem Medienstaatsvertrag kam, 39 das möchte ich ausdrücklich sagen, ist nicht ohne Herrn von Dohnanyi zu er- 40 klären. 41 Vom Beginn des Pilotprojektes am 1. Januar 1984 an gab es neben den 42 neuen privaten TV- und Hörfunkprogrammen auch neue öffentlich-rechtliche Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

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Angebote, insgesamt 19 Fernseh- und 23 Hörfunkkanäle, etwas, was man sich 1 wenige Jahre vorher noch nicht vorstellen konnte. 2 Die Beiträge der öffentlich-rechtlichen Anstalten, deren verstärkte Anstren- 3 gungen, dienten nicht nur als Vielfaltsreserve unter rundfunkverfassungsrecht- 4 lichen Gesichtspunkten, sie gaben von vornherein den öffentlich-rechtlichen 5 Anstalten ihre eigenen Entwicklungschancen in neuen Programmbereichen 6 und bei der länderübergreifenden Verbreitung dritter Programme. Das rief na- 7 türlich seinerseits wieder unverzüglich die Kritik privater Veranstalter hervor. 8 Das Programmprojekt, das Programmangebot des Pilotprojektes Ludwigsha- 9 fen, entsprach der dualen Struktur, die heute für jedermann selbstverständlich 10 das Rundfunksystem bestimmt. 11 Die ersten Schritte für die länderübergreifende Verbreitung von dritten Pro- 12 grammen der öffentlich-rechtlichen Anstalten sind getan worden durch die 13 Einspeisung von Bayern 3 in das Kabelpilotprojekt Ludwigshafen schon von 14 Beginn am 1. Januar 1984 an. Das war damals alles andere als selbstverständ- 15 lich und gelang nur mit Hilfe eines Tricks, indem man nämlich nachweisen 16 konnte, dass Bayern 3 in einem kleinen Zipfel des Projektgebietes – ich glaube, 17 1.000 bis 2.000 Einwohner wohnten da –, tatsächlich bei Annahme günstiger 18 technischer und meteorologischer Bedingungen dieses Programm örtlich re- 19 gulär aus der Luft empfangen werden konnte. Und weil man das nachweisen 20 konnte, konnte man es auch bundesweit einspeisen, denn es war ein ortsübli- 21 ches Programm. Erst später folgte – gegen den Widerstand des Südwestfunks 22 selbstverständlich – die Einspeisung anderer dritter Programme. 23 Eine weitere Innovation war die erste Ausstrahlung von Satelliten-Hörfunk 24 in Europa, die »Voice of America« erhielt dafür in Ludwigshafen die Geneh- 25 migung und damit die Möglichkeit, neue Kooperationsformen mit privaten und 26 öffentlich-rechtlichen Hörfunkveranstaltern zu erproben, wie sie heute auch 27 für die »Deutsche Welle« selbstverständlich sind. Da sich in Deutschland nie- 28 mand bereit fand, einen Versuch für die Nutzung von Satellitenkapazitäten 29 für Bildungsangebote zu unternehmen und erst recht niemand bereit fand, das 30 auch noch zu finanzieren, richtete die Anstalt für Kabelkommunikation (AKK) 31 eine Zusammenarbeit mit der Boston University ein. Kurse der Bostoner Uni- 32 versität wurden von Heidelberg bzw. von der AKK-Zentrale in Ludwigshafen 33 aus zu ihren Ausbildungsstätten in Deutschland und anderen Ländern Europas 34 übertragen. In keiner anderen politischen und programmlichen Pilotkonzeption 35 war das Design des dualen Systems so angelegt wie eben in Ludwigshafen. 36 Der Begriff »Urknall« – das will ich noch ergänzen – stammt übrigens aus 37 dem anfänglichen Chaos und ist erstmals 1983 in einem Interview mit Herrn 38 Detjen in der »Süddeutschen Zeitung« verwendet worden. Die »Frankfurter 39 Rundschau« hat im Dezember 1983, also wenige Tage vor Sendebeginn, ge- 40 schrieben, ich zitiere: »Ein Meilenstein in der Mediengeschichte der Bundes- 41 republik Deutschland«. Dieser Meilenstein markiert nicht nur die Entstehung 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

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1 des privaten Rundfunks, sondern wie ich ausdrücklich deutlich machen möch- 2 te, auch die Öffnung neuer Programmentwicklungen für den öffentlich-recht- 3 lichen Bereich. 4 Das Nebeneinander von öffentlich-rechtlichem und privatem Angebot war 5 mein eigentliches Ziel, nachdem es keinen Zweifel mehr geben konnte, dass 6 mit dem Wegfall der Frequenzknappheit die sachliche, inhaltliche und verfas- 7 sungsrechtliche Begründung für ein ausschließlich öffentlich-rechtliches In- 8 formationszuteilungsmonopol fehlte. Weil die Knappheit der technischen 9 Möglichkeiten zu Ende ging, war es nach meiner Überzeugung an der Zeit, 10 die Strukturen zu ändern. Zu keinem Zeitpunkt war es Ziel, den öffentlich- 11 rechtlichen Rundfunk zu zerschlagen, wohl aber war es Ziel, ihn der Konkur- 12 renz und dem Wettbewerb auszusetzen, wie es unserer Verfassung, unserem 13 Ordnungssystem ganz generell entspricht. Meinungsvielfalt und Meinungs- 14 freiheit sind für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung schlechthin 15 konstituierend. 16 Die Zulassung freier Veranstalter, die in eigener Verantwortung Programme 17 anbieten, war für mich ein Gebot dieser Meinungs- und Informationsfreiheit. 18 Und darüber hinaus war klar, wenn private Anbieter in Deutschland dafür kei- 19 ne Chance bekämen, würden sie sie im benachbarten Ausland nützen. RTL 20 gab es auch damals schon, allerdings nur in Luxemburg. Pierre Werner, der 21 luxemburgische Ministerpräsident, war entschlossen, dieses Programm nach 22 Deutschland zu übertragen. Er hätte Bitten von Helmut Schmidt, darauf zu 23 verzichten, nie auf Dauer nachgegeben und entsprochen. 24 Es war ganz klar, würden wir nicht in Deutschland die Türe öffnen, würden 25 wir von der Schweiz, von Luxemburg, von Österreich dieselben Programme 26 empfangen können. Insofern gab es auch arbeitsmarkt- und wirtschaftspoli- 27 tische Argumente. Es war notwendig, gemeinsame Regelungen zu schaffen, 28 die privaten Veranstaltern den Aufbau und die Fortentwicklung eines privaten 29 Rundfunksystems ermöglichten, ihnen ausreichend Sendekapazität zur Ver- 30 fügung und angemessene Einnahmequellen in Aussicht stellten. Was meine 31 Überlegungen, privaten Rundfunk zu ermöglichen, mit Sicherheit nicht be- 32 stimmt hat, will ich auch sagen: Zu keinem Zeitpunkt hatte ich die Illusion, 33 die mir in der politischen Auseinandersetzung damals unterstellt worden ist, 34 die Illusion, mit dem privaten Angebot könne man dem angeblich »roten« 35 öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine »schwarze« Konkurrenz entgegenstel- 36 len. Das ist immer wieder behauptet worden, weil natürlich die Öffentlich- 37 Rechtlichen dagegen waren, und weil die Sozialdemokraten dagegen waren, 38 und weil wir dafür waren. Ich wollte Pluralität, die Risiken selbstverständlich 39 in sich trägt, ich wollte ein Mehr an Auswahlmöglichkeiten, auch mit den 40 Gefahren die damit verbunden sind, mehr Macht den Nachfragern, weniger 41 Macht den Anbietern. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

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Nun zur Bilanz. Was ist aus den Absichten geworden? Schneller und um- 1 fassender, als viele erwarteten oder auch befürchteten, haben sich die privaten 2 Anbieter und der private Rundfunk durchgesetzt. Die anfangs gehörten Ge- 3 genargumente, es fänden sich keine Veranstalter, verleiten heute zum Schmun- 4 zeln. Man mag fast nicht mehr glauben, dass es solche Argumente gab, aber 5 es hat sie gegeben. Der private Hörfunk schreibt seit langem fast überall, wo 6 er professionell arbeitet, schwarze Zahlen. Er ist zum respektablen Konkur- 7 renten der öffentlich-rechtlichen Anbieter geworden. Und ich füge ausdrück- 8 lich hinzu: Wenn es Aufgabe des Staates ist, Rahmenbedingungen zu setzen, 9 wenn es Aufgabe des Staates ist, Oligopole zu durchbrechen, dann war es da- 10 mals Aufgabe, den Privaten das Recht zu sichern, in die Konkurrenz einzu- 11 treten. Und dann ist es jetzt Aufgabe der öffentlichen Hand, die öffentlich- 12 rechtlichen Anstalten davor zu schützen, nicht mehr konkurrenzfähig zu sein. 13 Übrigens bin ich deswegen auch strikt gegen den Gedanken einer Privatisie- 14 rung des ZDF. 15 Das private Fernsehangebot ist heute nicht mehr wegzudenken. Der Wett- 16 bewerb hat sich ohne Frage für alle Beteiligten positiv ausgewirkt. Ich sage 17 das ausdrücklich auch im Bezug auf die öffentlich-rechtlichen Anstalten. Es 18 gibt genügend Beispiele, wo private Anbieter die Nase vorne hatten, wenn es 19 um Informationen für den Zuschauer ging. Und damit meine ich nicht nur den 20 Sport. Die ersten Bilder vom Fall der Berliner Mauer am 9. November habe 21 ich in Warschau im privaten Fernsehprogramm gesehen, und die ersten 22 Schreckensnachrichten über den 11. September haben wir alle über private 23 Sendeanstalten empfangen. Die privaten Anstalten haben sich, wie erwartet, 24 aber im übrigen vor allem den Unterhaltungsprogrammen zugewandt und an- 25 dere Sparten eher vernachlässigt. Leider haben die öffentlich-rechtlichen An- 26 stalten den Handlungsspielraum, den ihnen die Gebühreneinnahmen einräu- 27 men, nicht immer dahingehend genutzt, die Grundversorgung sicherzustellen. 28 Sie schielen meiner Ansicht nach allzu oft auf eine falsch verstandene Kon- 29 kurrenz zu den Privatanbietern. Die Frage der Einschaltquote droht den ihnen 30 ausdrücklich gegebenen Handlungsspielraum aus meiner Sicht zu oft einzu- 31 engen. Deshalb ist die Behandlung medienpolitischer Fragen in der Ära Kohl 32 sehr wohl auch der Anlass zu sagen, auch heute sollten medienpolitische Fra- 33 gen weit oben auf der Tagesordnung der aktuellen Debatten stehen. Es sind 34 ganz andere Fragen, die uns heute beschäftigen. Aber es bleibt richtig: Auch 35 heute ist ein freiheitlicher Staat in hohem Maße von der Leistungsfähigkeit 36 und von der Freiheitsfähigkeit seiner Medienordnung abhängig. Und vielleicht 37 führt die Beschäftigung mit der Vergangenheit auch dazu, über die Gegenwart 38 etwas intensiver nachzudenken. 39 40 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

1 2 3 Der Neuerer hat Gegner auf allen Seiten. 4 Eine Bilanz 5 6 Von Christian Schwarz-Schilling 7 8 Als ich die Einladung bekam, hier über die Medienpolitik der Ära Kohl zu 9 sprechen, hat mich das natürlich sehr gefreut, weil sich damit für mich ein 10 ganz wesentlicher Lebensabschnitt verbindet und ich mich lange mit diesem 11 Thema befasst habe. Ich will also gerne darstellen, wie es aus meiner Sicht 12 damals gewesen ist und meine Bilanz ziehen. 13 Als erstes möchte ich feststellen, dass das, was in den achtziger Jahren an 14 medienpolitischen und medientechnischen Entscheidungen gefällt wurde, sehr 15 sorgfältig in den siebziger Jahren vorbereitet worden war. Diese Entscheidun- 16 gen wurden nicht rasch aus der Hüfte geschossen, sondern beruhten auf einer 17 langfristig vorbereiteten Strategie, die damit begann, dass Helmut Kohl be- 18 stimmte personalpolitische Entscheidungen getroffen und bereits in den sieb- 19 ziger Jahren diesbezüglich programmatische Überlegungen zur Medienpolitik 20 und Informationstechnologie in Gang gesetzt hatte. 21 22 Monopol der Deutschen Bundespost 23 24 Ich möchte mich zunächst dem Monopol der Deutschen Bundespost zuwen- 25 den. Die Bundespost war ein am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahr- 26 hunderts von Heinrich von Stephan sehr weitsichtig geformtes Staatsunter- 27 nehmen mit einer relativ liberalen Handhabung. Das Fernmeldeanlagengesetz 28 aus dem Jahre 1928 erlaubte z.B., dass Nebenstellen des Telefons von Privaten 29 hergestellt, vertrieben und verkauft wurden. 30 Das hat dazu geführt, dass wir nach dem Zweiten Weltkrieg in diesem Be- 31 reich keinen Rückstand bekamen. Da konnten Siemens, Telefonbau & Nor- 32 malzeit oder Standard-Elektrik-Lorentz bei den Endkunden ihre Telefon-Ne- 33 benstellen ungehindert und im fairen Wettbewerb mit der Post anbieten. Das 34 Entscheidende dabei war, dass die Firmen ihre Innovationsmöglichkeiten so 35 mehr und mehr in den Nebenstellen ausprobieren konnten, weil dort durch 36 die Vermittlungstechnik der technische Fortschritt in der Kommunikations- 37 technologie praktisch angewandt werden konnte. Dies alles war möglich, weil 38 man 1928 ein sehr weitsichtiges, liberales Fernmeldeanlagegesetz geschaffen 39 hatte und neben dem Monopol fernmeldetechnische Regelungen erlaubt wa- 40 ren, die ein einigermaßen erträgliches Verhältnis zwischen dem privaten Wett- 41 bewerb und dem Monopol der Post eingeführt hatte. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Der liberale Geist, der mit den privaten Nebenstellen zu einem wettbewerbs- 2 orientierten Markt geführt hatte, fand in den siebziger Jahren in Deutschland 3 keine Fortsetzung mehr. Im Gegenteil: In den siebziger Jahren verstärkte sich 4 nicht nur die Monopolstellung, sondern gleichzeitig fand eine Monopolisie- 5 rung des Medienmarktes statt und die Anwendung neuer Innovationen geriet 6 damit in die Abhängigkeit staatlicher Genehmigungs- und Erlaubnisszenarien, 7 die den Wettbewerb immer mehr in enge Schranken verwies. Die Kombination 8 von technikfeindlichem Denken und ideologisch-missionarischem Eifern führ- 9 te zu einer unerhörten Machtfülle der staatlichen Monopole. Diese Kombina- 10 tion brachte das Post- und Fernmeldewesen Deutschlands gegenüber anderen 11 Ländern in den siebziger Jahren mehr und mehr ins Hintertreffen. 12 Man wollte aber nicht einsehen, dass die Rahmendaten und die notwendigen 13 Voraussetzungen für eine leistungs- und serviceorientierte Bewältigung der An- 14 forderungen mit dem dogmatischen Anspruch des Monopols und seiner rigiden 15 Auslegung einfach nicht mehr gegeben waren. Der Einzug der Mikroelektronik 16 im Geräte- wie im Netzbereich löste einen Innovationsschub aus, dessen Ge- 17 schwindigkeit alle Erwartungen übertroffen hat. Mit riesigen Schritten musste 18 die Netzkapazität für das Telefon, aber auch für Telefax, Datenverkehr und 19 weitere Dienstleistungen ausgebaut werden. Die notwendigen Investitionsmit- 20 tel konnten praktisch nur durch eine gewaltige Selbstfinanzierungsleistung, 21 welche durch weit überhöhte Tarife generiert worden war, beschafft werden. 22 Da sich die Telekommunikation aber immer mehr internationalisierte, war 23 eine autonome Festsetzung der Tarife immer weniger möglich. Lange glaubte 24 man, dass durch die überproportionale Höhe der Ferntarife noch sehr viel Ei- 25 genkapital und damit auch eine Selbstfinanzierung der Investitionen aus den 26 laufenden Einnahmen erwirtschaftet werden könnte. Aber es war absehbar, dass 27 diese Zeiten zu Ende gehen würden, sogar früher als auf dem lokalen und re- 28 gionalen Markt in Deutschland, da im internationalen Bereich der Wettbewerb 29 bereits unaufhaltsam die Szene beherrschte und immer mehr spürbar wurde. 30 Dennoch zogen die Politiker keinerlei Konsequenzen, um das Eigenkapital 31 aufzustocken, sei es durch Zuweisungen aus Haushaltsmitteln, sei es durch 32 Privatisierung oder sonstige Formen der Kapitalbeschaffung. Ganz im Gegen- 33 teil, der Staat hatte selbst seine finanziellen Nöte und betrachtete die Post wei- 34 terhin als staatliche Finanzierungsquelle. In den siebziger Jahren wurde die 35 Abgabe an den Staat noch einmal drastisch erhöht, von sechs auf zehn Prozent 36 des Umsatzes, völlig unabhängig von der Produktivität, der Gewinnlage oder 37 der Verlustlage des Unternehmens. Das war eine kameralistische Einstellung, 38 die mit einem im Wettbewerb befindlichen Unternehmen überhaupt nicht mehr 39 in Übereinstimmung zu bringen war. Wir erinnern uns, wie damals der Wett- 40 bewerb in den USA durch die Gerichtsentscheidung im Prozess mit der ame- 41 rikanischen AT&T und IBM vorangetrieben worden ist; wie die British Te- 42 lecom dann von Margret Thatcher als erste PTT in Europa in eine private Form Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Der Neuerer hat Gegner auf allen Seiten 179

überführt worden ist. Doch bei uns wurde nur ein vergeblicher Anlauf zu einer 1 Postreform Anfang der siebziger Jahre unternommen – nach seinem Scheitern 2 tat sich bei uns in dieser Frage nichts mehr. 3 4 Die Politisierung des »öffentlich-rechtlichen Rundfunks« 5 6 In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre spitzte sich die Gesamtsituation mehr 7 und mehr zu. Ich war damals Mitglied des Fernsehrates beim Zweiten Deutschen 8 Fernsehen und Vorsitzender des »Ausschusses für Politik und Zeitgeschehen«. 9 Von daher hatte ich die Aufgabe, die Programme besonders intensiv zu be- 10 obachten und Beanstandungen nachzugehen. Im ZDF, so glaube ich zumindest, 11 war damals eine relativ gute »Ausgewogenheit« feststellbar. Da gab es eben 12 noch das »Deutschland-Magazin« auf der einen und »Kennzeichen D« auf der 13 anderen Seite, außerdem »Direkt« oder andere Magazine, wo man sagen konnte, 14 das ist eben das Meinungsspektrum. Diese Feststellung konnte ich für die ARD 15 so nicht treffen. In der ARD war eine ganz klare Linkslastigkeit feststellbar, und 16 es war höchste Zeit, dass sich die Union mit dieser Tendenz auseinander setzte.1 17 Neben den personellen Seilschaften wurden immer selbstbewusstere Ideolo- 18 gien im Journalismus sichtbar, die wirklich erstaunliche gesellschaftspolitische 19 Doktrinen zum Vorschein brachten. Dazu ein typisches Beispiel: Dieter Stolte, 20 der spätere ZDF-Intendant, hatte 1976 bei der Formulierung von Zielvorstellun- 21 gen des Programms für das ZDF die Frage gestellt: »Wo nimmt unsereins das 22 Recht her, das Instrument Fernsehen zu benutzen, um die Gesellschaft nach den 23 eigenen Vorstellungen zu verändern?« Schon diese Fragestellung stieß bei der 24 linken Journalistenseilschaft auf völliges Unverständnis. Peter Christian Hall, da- 25 mals beim epd-Pressedienst tätig, hatte die Antwort parat: »Das nimmt man her 26 aus dem Bildungs- und Reflexionsvorsprung, den die Programm-Macher vor der 27 großen Mehrheit ihres Publikums haben und vor allem aus der Einsicht in den 28 prozesshaften Charakter eines freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens.«2 29 30 31 1 Währenddessen sich die Union mit den grundsätzlichen Fragen der Rundfunkpolitik und 32 mit der immer stärker ideologisierten Situation in der ersten Hälfte der 70er Jahre in Rundfunk 33 und Fernsehen wenig beschäftigt hat und die These »die beste Medienpolitik ist keine« als eine besonders kluge Aussage unterstützte, kam in der zweiten Hälfte der 70er Jahre eine immer kri- 34 tischere und teilweise sehr scharfe Auseinandersetzung zwischen den Parteien zustande. Beson- 35 ders hart wurde der Begriff »Ausgewogenheit« umkämpft, der bei einem großen Teil der immer 36 weiter nach links abdriftenden Journalisten als eine völlige Verfehlung der journalistischen Auf- gabe betrachtet wurde und dann auch zu entsprechenden Schlussfolgerungen geführt hat. 37 Vgl. »Rundfunk-Proporz als Notwehr« – Rundfunk-Interview mit Christian Schwarz-Schilling, 38 in: Rheinischer Merkur vom 25. März 1977. 39 2 Vgl. »Mit List und mit Leerstellen: respektable Programmkonzeption«, in: epd/Kirche 40 und Rundfunk Nr. 26, 3. April 1976 S. 1f.; »Schwarz-Schilling schneidet ein schwieriges Kern- problem an, der Bildungs- und Reflektionsvorsprung der Redakteure – und der mündige Bür- 41 ger«, in: epd/Kirche und Rundfunk Nr. 29, 14. April 1976, S. 18f. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Hier spiegelt sich in nuce die große Auseinandersetzung, die zwischen mis- 2 sionarischen Programm-Machern und dem Publikum in den siebziger Jahren 3 entstanden war. Mir war dabei klar geworden, dass man da, wo einigermaßen 4 »Ausgewogenheit« des Meinungsspektrums herrschte, Meinungsvielfalt her- 5 gestellt werden konnte; aber man musste immer höllisch aufpassen, um nicht 6 plötzlich einseitige Tendenzen einreißen zu lassen; da aber, wo redaktionelle 7 Seilschaften bereits etabliert waren, verbunden mit öffentlich-rechtlichem 8 Schutzcharakter für die Dauerbeschäftigung der Journalisten, da war nichts 9 mehr zu korrigieren. Deswegen wurde die Überlegung, es müsse zum öffent- 10 lich-rechtlichen System der Wettbewerb privater Programme hinzu kommen, 11 immer aktueller. Das habe ich mir dann, nachdem ich zum medienpolitischen 12 Sprecher der CDU ernannt worden bin, als eine der wichtigsten Zielsetzungen 13 fest vorgenommen. Ich nutzte eine medienpolitische Tagung zu Fragen der 14 Rundfunkfreiheit, um diese Zielsetzung zu verkünden. Diese Rede markierte 15 bis November den Wendepunkt der CDU-Medienpolitik.3 16 Ich erinnere mich noch, dass , der medienpolitische Experte der 17 SPD, nach meinem Referat hell empört gewesen ist über diese programmati- 18 sche Kehrtwendung der Union. Der Titel meiner Rede (»Ist das öffentlich- 19 rechtliche System noch zu retten?«) war zugegebenermaßen (mit Absicht) pro- 20 vokativ gewählt. Peter Glotz hat mir dann auch vorgeworfen, ich hätte mit 21 meinem Vortrag erstmals den medienpolitischen »Verfassungskonsens« zwi- 22 schen den beiden großen Parteien aufgehoben und beendet. Nun, so gesehen, 23 hatte er vielleicht sogar Recht. 24 25 Die neue Medienpolitik der Union 26 27 Ich richtete nach Übernahme dieses Amtes des medienpolitischen Sprechers 28 der Union gleich einen »Koordinierungsausschuss der CDU und CSU für Me- 29 dienpolitik« ein, weil mir natürlich klar war, dass eine Kontroverse zwischen 30 CDU und CSU in der Verfolgung dieses Zukunftsprojektes nicht entstehen 31 dürfe. Wir mussten die neuen Ziele von Anfang an zusammen angehen, viel- 32 leicht manchmal getrennt marschieren, aber vereint schlagen. Und deshalb war 33 34 3 Christian Schwarz-Schilling: »Ist das öffentlich-rechtliche System zu retten?«. Rede auf 35 der Medienpolitischen Tagung der Evangelischen Akademie Tutzingen vom 26.–28. November 36 1976. Manuskript. Die Rede wurde in leicht abgewandelter Form veröffentlicht: in Bertelsmann Briefe, Nr. 91, 1977, »Rundfunksystem in der Krise – Medienpolitische Anmerkungen zur Si- 37 tuation der öffentlich-rechtlichen Anstalten«, (S. 3–8). 38 Das Thema löste zwischen Parteien, Journalisten, Publizisten, Politikern und Wissenschaftlern 39 heftige Kontroversen aus. Günter EDERER: »Eine alltägliche Geschichte – Eine kritische Stel- 40 lungnahme zu Christian Schwarz-Schilling: Rundfunksystem in der Krise« Bertelsmann Briefe, Nr. 93, 1978, S. 27–32. 41 Stellungnahmen von: »Eine alltägliche Geschichte«, Ebd. (Nr. 94, 1978) S. 19; 42 Wolfgang FISCHER: »Parteieneinfluss auf Rundfunk- und Fernsehsender«, Ebd. S. 20f. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Der Neuerer hat Gegner auf allen Seiten 181 es auch notwendig, die gerade zwei Jahre vorher unter der Leitung von Fried- 1 rich Zimmermann aufgestellten medienpolitischen Leitsätze der beiden Par- 2 teien schnellstens zu überarbeiten, denn bei diesen Leitsätzen war die öffent- 3 lich-rechtliche Struktur auch von der Union als Dogma festgeschrieben wor- 4 den. Und das passte natürlich überhaupt nicht in das neue Konzept, von dem 5 ich hier spreche.4 6 Da ich Mitglied der Grundsatzprogramm-Kommission der CDU war, die 7 unter der Leitung von Richard von Weizsäcker stand, haben wir in unseren 8 Programm-Beratungen die Ziffer 123 eingefügt, welche die Wende in der Me- 9 dienpolitik deutlich signalisierte. In diesem neuen Grundsatzprogramm der 10 CDU, welches im Oktober 1978 beschlossen worden ist, lautet der Text des 11 Paragraphen 123 wie folgt: 12 »Einer freien Gesellschaft entspricht die Pluralität der Medien. Unabhän- 13 gigkeit und Vielfalt der freien Presse sind zu sichern. Öffentlich-rechtliche 14 Rundfunk- und Fernsehanstalten sind in besonderer Weise der Informations- 15 vermittlung und Meinungsvielfalt verpflichtet. Die Ausstrahlung weiterer Hör- 16 funk- und Fernsehprogramme durch andere Veranstalter – auch durch Ge- 17 sellschaften des privaten Rechts – soll möglich sein. Neue Technologien dürfen 18 nicht dazu benutzt werden, durch Beschränkung des Zugangs bestehende Me- 19 dienstrukturen zu bevorzugen. Durch Vermehrung des Angebots an Informa- 20 tion, Meinung, Bildung und Unterhaltung haben sie in erster Linie dem Bürger 21 zu dienen. Die freiheitliche Gestaltung der Medien und der Zugang zu allen 22 Informationen sind unentbehrlich für die Erhaltung des demokratischen Staa- 23 tes. Sie ermöglichen die Bildung einer öffentlichen Meinung und die wirksame 24 Kontrolle der staatlichen Macht.«5 25 Nur einen Monat später startete die Union am 07. und 08. November 1978 26 mit einem »Medientag« in Bonn die politische Kampagne für eine neue Me- 27 dienordnung. Der Koordinierungsausschuss für Medienpolitik der CDU/CSU 28 hatte 10 Thesen vorbereitet, die auf dem Medientag durch Reden von Heiner 29 30 31 4 Die Leitsätze wurden von der CDU/CSU-Medienkommission erarbeitet und etwa Mitte 32 1976 von den Präsidien und Vorständen der CDU und CSU verabschiedet und unter dem Titel 33 »Freiheitliche Medienpolitik« von der Bundesgeschäftsstelle veröffentlicht (August 1976). Zwar sind in diesen Leitsätzen auch bereits weiterführende Gedanken enthalten, etwa, »dass die Mo- 34 nopolstellung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten eine ständige Überprüfung der Ver- 35 einbarung mit Artikel 5 des Grundgesetzes notwendig machen«. Auch wird darauf hingewiesen, 36 dass neue technische Kommunikationsmittel eine »Neudefinition des Rundfunksbegriffes not- wendig machen«. Aber betreffend der öffentlich-rechtlichen Anstalten entscheidend war die 37 Aussage: »Die öffentlich-rechtliche Struktur soll Grundlage der Organisation von Hörfunk und 38 Fernsehen bleiben. Wenn die technische Entwicklung eine Vielzahl lokaler und regionaler Pro- 39 gramme ermöglicht, sind die Voraussetzungen für andere Organisationsformen zu prüfen.« Hier 40 war also dringend eine Überarbeitung der Grundsatzposition der Unionsparteien erforderlich. 5 Diese Ziffer wurde auf dem 26. Bundesparteitag in Ludwigshafen, 23.–25. Oktober 41 1978, im Rahmen der Verabschiedung des Grundsatzprogramms beschlossen. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Geißler, Helmut Kohl, Friederich Zimmermann und mir erläutert und beraten 2 bzw. beschlossen worden sind.6 Die politische Wirkung und das Presse-Echo 3 auf diesen Medientag waren überwältigend.7 So kam es, dass die Medienpoli- 4 tik zu einem heiß umkämpften Feld geworden ist, eigentlich in allen Bereichen 5 der Gesellschaft. Es gab hier auch innerhalb der unionsnahen Kreise sehr dif- 6 ferenzierte Stellungnahmen und Positionen. Insbesondere der Intendant des 7 Süddeutschen Rundfunks, Hans Bausch, bekämpfte die Unionspolitik nach 8 Kräften, konnte allerdings den Kurs der Union nicht mehr beeinflussen.8 Die 9 Parteiführungen von CDU und CSU, die Fachgremien für Medienpolitik und 10 die Fraktionen in den Ländern und im Bund hatten sich eine einheitliche Po- 11 sition erarbeitet und ihre Beschlüsse gefasst. Jetzt fehlte nur noch die Umset- 12 zung. Diese Umsetzung erfolgte dann mit Beginn der 80er Jahre während der 13 Regierungszeit von Helmut Kohl. 14 15 Der politische Kampf um neue Kommunikationstechnologien – 16 Kabel und Satellit, Kupfer und Glasfaser 17 18 Ich habe bereits am 4. Juli 1978 der Öffentlichkeit ein Memorandum überge- 19 ben, in welchem ich darauf hingewiesen habe, dass Kabel und Satellit die Me- 20 dienlandschaft der Zukunft von Grund auf ändern werden.9 21 Nach der Regierungsübernahme durch Helmut Kohl als Bundeskanzler und 22 meiner Ernennung zum Minister für Post- und Fernmeldewesen widmete ich 23 mich vor allen Dingen zunächst den technischen Aufgaben, da wir auf fast 24 allen Gebieten in der Gefahr waren, in einen unaufholsamen Rückstand zu 25 26 27 28 6 Der Paragraph 123 des Grundsatzprogramms konnte nur in kurzen Zügen die Wende 29 in der Medienpolitik der Union beschreiben. Auf diesem Medientag in Bonn am 7./8. November 1978 wurde zum ersten Mal durch die zehn Leitsätze, die vom Koordinierungsausschuss sorg- 30 fältig vorbereitet worden sind, die umfassende Konzeption der Öffentlichkeit vorgestellt. Durch 31 die Beteiligung des Bundesvorsitzenden Helmut Kohl und seines damaligen Generalsekretärs, 32 sowie von war sowohl die einheitliche Stoßrichtung beider Unions- 33 parteien deutlich geworden, als auch die Priorität, die die Medienpolitik künftig bei der Union einnehmen würde. 34 7 Vgl. die Berichte und Kommentare zum Medientag der CDU/CSU in Bonn, 7./8. No- 35 vember 1978, Presseausschnittsammlung der CDU-Bundesgeschäftsstelle. 36 8 Hans BAUSCH: »Rundfunk in Deutschland« schildert ausführlich in fünf Bänden die historische Entwicklung des Rundfunks in Deutschland. Hier beschreibt er auch die Position 37 als Intendant des öffentlich-rechtlichen Rundfunks; Band 4, Rundfunkpolitik nach 1945, Zwei- 38 ter Teil, München 1980, S. 879ff., S. 988ff. Die verschiedenen Positionen kamen auch sehr 39 gut in einem »Spiegel«-Gespräch zum Ausdruck: »Bonn blockiert 30 Fernseh-Programme«, 40 in: Der Spiegel, Nr. 7/1980, S. 35ff. 9 »Kabel und Satelliten werden die Medienlandschaft verändern: Eine pragmatische Ant- 41 wort auf eine herausfordernde Problemstellung« in: epd/Kirche und Rundfunk Nr. 51, 8. Juli 42 1978, S. 1ff. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Der Neuerer hat Gegner auf allen Seiten 183 geraten.10 Diese technischen Möglichkeiten waren auch eine Voraussetzung, 1 um die Ziele unserer Medienpolitik in die Tat umzusetzen. Es war geradezu 2 ein Glücksfall, dass wir in dieser Zeit über solche technischen Möglichkeiten 3 verfügten. Man musste sie nur ergreifen, um die verfassungsrechtliche Fest- 4 schreibung des öffentlich-rechtlichen Monopols aufzulockern und beenden 5 zu können. Denn die Knappheit der Frequenzen war ja der verfassungsrecht- 6 liche Grund, warum das Bundesverfassungsgericht in Deutschland Rundfunk 7 und Fernsehen in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft mit entsprechender 8 »Binnenpluralität« und mit dem Ausgewogenheitsgebot jeweils in einem Sen- 9 der festgelegt hat. Gibt es nun mehr Frequenzen, dann kann die Binnenplu- 10 ralität durch die sehr viel besser funktionierende »Außenpluralität« d.h. also 11 durch Wettbewerb ersetzt werden, und die Sonderstellung der elektronischen 12 Medien mit ihrem öffentlich-rechtlichen Charakter verliert ihre juristische 13 Grundlage. 14 Noch 1 1⁄2 Jahre vor der Regierungsübernahme kam es zu einer folgenschwe- 15 ren Entscheidung im Deutschen Bundestag: Weil die SPD unbedingt den Vor- 16 sitz der »Enquete-Kommission Energiepolitik« haben wollte, musste eine wei- 17 tere »Enquete-Kommission« im Deutschen Bundestag gebildet werden, auf 18 die dann die Union den Zugriff hatte. Diese Kommission hieß: »Enquete-Kom- 19 mission Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK-Technolo- 20 gien)«. Ich hatte mich gegen diese Kommission gewendet, weil sie mir nur 21 als ein Mittel erschien, um die überfälligen Entscheidungen für die Fortent- 22 wicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien in Deutschland 23 aufzuhalten. Aber es half nichts: die Enquete-Kommission wurde eingerichtet 24 und der damalige Hauptgeschäftsführer der CDU/CSU Bundestagsfraktion, 25 Philipp Jenninger, bat mich darum, den Vorsitz zu übernehmen. So wurde ich, 26 der diese Kommission bekämpft hatte, ihr Vorsitzender; ich überlegte natürlich 27 wie diese Kommission dennoch dem Fortschritt in der Entwicklung der IuK- 28 Technologien dienstbar gemacht werden könne. Es hatte ja auch den Vorteil, 29 dass ich zusammen mit den SPD-Kollegen des Bundestages in alle Welt reiste, 30 was uns nach Kanada, nach Japan, nach Australien und Neuseeland sowie an- 31 dere europäische Länder geführt hat, und wo wir dann gemeinsam Erfahrungen 32 sammeln konnten. So bekamen wir in großer Geschwindigkeit einen hervor- 33 ragenden Überblick über die Situation der IuK-Technologien, der Medien und 34 den jeweiligen Stand der Technik. 35 So gab es auch in dieser Enquete-Kommission einen Lernprozess, der sich 36 auf alle Fraktionen – mit Ausnahme der Grünen – erstreckte und der dann 37 38 39 40 10 Vgl. Christian SCHWARZ-SCHILLING, Eine überfällige Reform in der Bewährung, in: Post und Telekommunikation – eine Bilanz nach zehn Jahren Reform, hg. von Lutz Michael 41 BÜCHNER, Heidelberg 1999, S. 87–148, bes. S. 93ff. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 auch noch zu einem ganz brauchbaren »Zwischenbericht« geführt hat.11 Den 2 endgültigen Bericht musste ich nicht mehr zu Ende schreiben, denn im Ok- 3 tober 1982 kam der Regierungswechsel von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl. 4 Ich wurde Minister für Post- und Fernmeldewesen und konnte auf diese Weise 5 unsere neuesten Erkenntnisse als Zukunftsprogramm in die Maschinerie der 6 Bundespost einspeisen. Wie in einem Crash-Kurs war ich auf diese Aufgabe 7 durch die Enquete-Kommission vorbereitet worden. Ob man von sozialde- 8 mokratischer Seite die Enquete-Kommission, wenn man das vorausgeahnt 9 hätte, tatsächlich geschaffen hätte, weiß ich nicht. Aber so ist es nun einmal 10 gelaufen! 11 Und jetzt kam die Frage: Welche Entscheidungen treffen wir im Hinblick 12 auf die Bundespost?12 Die strategische Zielsetzung für eine Neuordnung des 13 Medienmarktes war klar, die Beschlüsse innerhalb der CDU/CSU waren alle 14 gefasst, die aktuellen Ergebnisse der Enquete-Kommission waren bekannt und 15 unser Koalitionspartner, die FDP machte keine Schwierigkeiten, sondern 16 schwenkte auf die neuen Zielvorstellungen der Union ein. Bereits im Dezem- 17 ber 1982 führte ich einen Beschluss des Verwaltungsrates der Deutschen Bun- 18 despost herbei, der das Volumen für die Verkabelung in der Bundesrepublik 19 Deutschland für das Jahr 1983 von 250 Millionen auf eine Milliarde D-Mark 20 erhöhte. Wir hatten gerade einmal knapp 2 Prozent verkabelte Haushalte in 21 der Bundesrepublik Deutschland, während unsere Nachbarländer Belgien, 22 Holland u.a. schon bei rund 60 bis 80 Prozent lagen. Es war eine riskante 23 technologische Wettlaufsituation: wir hatten noch keine Fernmeldesatelliten 24 zur Programmeinspeisung in Kabelnetze – wie etwa in den USA –, während- 25 dessen zwei Direktsatelliten bereits mit den Franzosen zusammen im Bau wa- 26 ren (TV-Sat und TDF 1), die als sogenannte »direkt strahlende« Satelliten nicht 27 gedacht waren zur Einspeisung in Kabelnetze; aber was die Programmhoheit 28 anging, standen sie als »direkt strahlende Rundfunksatelliten« unter der Ver- 29 antwortung der Länder. Uns war klar, dass, wenn wir nicht sehr schnell einen 30 großen Teil der Kabelinfrastruktur und die dazu notwendigen Fernmeldesatel- 31 liten zur Programmeinspeisung schaffen würden, diese Alternative einfach 32 verloren ginge. Hinzu kam, dass wir auch über die Direktsatelliten die Fre- 33 quenzknappheit beibehielten, da diese Direktsatelliten allenfalls 4–5 Fernseh- 34 programme abstrahlen konnten und diese in der Programmerlaubnis aus- 35 schließlich den Ländern unterstanden. Wenn wir uns auf diesen Weg begeben 36 37 11 Zwischenbericht der Enquete-Kommission »Neue Informations- und Kommunikations- 38 techniken«, Bundestagsdrucksache 9/2442 vom 28. März 1983. 39 12 Jeder – auch nur etwas – Eingeweihte wusste, dass die Bundespost auch für die Medi- 40 enentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland eine wichtige, wenn nicht überhaupt zum damaligen Zeitpunkt die wichtigste Rolle spielt. In einer Postpressekonferenz am 4. Juli 1978, 41 habe ich unter dem Thema »Neue Medientechnologien und Bundespost« dazu Stellung ge- 42 nommen. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Der Neuerer hat Gegner auf allen Seiten 185 hätten, dann hätten wir eine große Chance für die Infrastruktur und die Neu- 1 ordnung des Medienmarktes in der Bundesrepublik Deutschland vertan. Und 2 genau das war die Absicht der SPD: Durch Einführung des Rundfunksatelliten 3 mit seinen vier bis fünf Kanälen und der Behinderung der Verkabelung (ver- 4 gleiche »Kabelstopp durch Kabinettsbeschluss« im September 1979) sollte die 5 Frequenzknappheit und damit das öffentlich-rechtliche Monopol erhalten blei- 6 ben. So ist es im Übrigen dann auch in Frankreich gelaufen, wo man sich 7 ganz auf die Direktsatelliten verlassen hatte und in der Verkabelung – weil 8 man eine falsche Weichenstellung auf die Glasfasertechnik vorgenommen 9 hatte – gescheitert war. 10 In der damaligen politischen Diskussion war plötzlich die Frage »Kupfer 11 oder Glas« eine hoch sensible Auseinandersetzung, die der SPD als ein 12 zusätzliches Argument erschien, die Verkabelung zu torpedieren oder wenig- 13 stens zu verzögern. Als SPD-Politiker etwas über Glasfaser und Kupfer hörten, 14 hieß es plötzlich mit Emphase, es sei total falsch, die Bundesrepublik zu ver- 15 kabeln, denn zunächst müsste man erst einmal großflächig die Glasfaser ein- 16 führen, denn das sei die moderne Technik von morgen. Erst dann dürfe man 17 an die Verkabelung zum Aufbau der Netze für die Programmverteilung her- 18 angehen. 19 Auf ihrem Essener Parteitag hat die SPD dann folgendes beschlossen: 20 »Die SPD wird sich in der Zukunft genauso konsequent wie in der Vergan- 21 genheit gegen diese ausschließlich medienpolitisch motivierte Verkabelungs- 22 hysterie zur Wehr setzen und gegen die technologisch und sozial unverant- 23 wortliche Subventionspolitik für eine zusätzliche Kupferverkabelung, die 24 schon mittelfristig scheitern muss, in den Kommunen, in den Ländern und im 25 Bund angehen. Sozialdemokraten in landes- wie kommunalpolitischer Verant- 26 wortung werden alle ihnen zur Verfügung stehenden rechtlichen und politi- 27 schen Mittel einsetzen, um die derzeitige Verkabelungspolitik des Bundesmi- 28 nisteriums zu stoppen. Den »großzügigen« Angeboten gegenüber den Gemein- 29 den bzw. den »Lockpreisen« für die Bürger werden bei der zu erwartenden 30 geringen Anschlussdichte alsbald Forderungen an die Gemeinden nach einer 31 Beteiligung an den Subventionen und Gebührenerhöhungen gegenüber dem 32 Bürger folgen.«13 33 Das war nun eine ziemlich heftige Kampfansage, die wir allerdings nachher 34 ganz gut überstanden haben. Und auch die Auseinandersetzung zwischen Ka- 35 36 37 38 39 40 41 13 Siehe SPD-Parteitag 17.–21. Mai 1984, Antrag 769, Protokoll S. 835. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 bel und Kupfer haben wir am Ende gut überstanden und hatten hier auf das 2 richtige Pferd gesetzt.14 3 Ich möchte an dieser Stelle erinnern, dass wir noch heute in der sogenannten 4 vierten Netzebene, dort wo die Wohnungen verkabelt werden, normalerweise 5 nicht mit Glasfaser verkabeln. Damals wäre das pro Wohnung auf etwa 20.000 6 bis 25.000 D-Mark gekommen. Wir hätten mit einem so hohen Preis einen 7 Massenmarkt nie schaffen können. Bei der Kupferverteiltechnik kostete uns 8 die Verkabelung einer Wohnung zwischen 250,– und 800,– D-Mark und ich 9 habe oft genug meinen französischen Kollegen davor gewarnt, in der vierten 10 Netzebene auf die Glasfaser zu setzen. Aber er blieb dabei und so hatte er 11 zwar zwei sehr elegante Netze in Pilotprojekten errichtet, nämlich in Biarritz 12 und Paris mit je ein paar hundert Anschlüssen. Aber dabei ist es dann auch 13 geblieben, weil es einfach zu teuer war, in diesem Stil weiter auszubauen. Wir 14 hatten in Deutschland mit unserer Entscheidung sehr bald 4 Millionen, 8 Mil- 15 lionen, 9 Millionen Verkabelungsanschlüsse geschaffen und bis zu meinem 16 Ausscheiden aus dem Amt waren immerhin etwa 60 Prozent aller Haushalte 17 in der Lage, sich ans Kabel anzuschließen. 18 In der ersten Legislaturperiode der Regierung Helmut Kohl haben wir uns 19 zunächst einmal die technische Aufholjagd vorgenommen, denn für die Re- 20 form der Bundespost, die ja Voraussetzung auch für Vielfalt auf dem gesamten 21 Gebiet der Telekommunikation war, war die Zeit noch nicht reif gewesen. 22 Reformen müssen sehr gut vorbereitet sein und deshalb setzte ich im Jahr 23 1984 erst einmal eine Regierungskommission für die Reformierung unseres 24 Telekommunikationsmarktes und der Bundespost ein, die unter der sachkun- 25 digen und politisch geschickten Leitung von Prof. Eberhard Witte stand. Die 26 Vorschläge dieser Kommission legten den Grundstein für die spätere Post- 27 reform. 28 Die Union hatte am 27. und 28. Februar 1985 in Mainz einen weiteren gro- 29 ßen Medienkongress abgehalten, der die programmatische Position der Union 30 noch einmal unterstrich und die Entschlossenheit der Union zum Ausdruck 31 brachte, auf dem Weg, der in der zweiten Hälfte der 70er Jahre eingeschlagen 32 33 34 14 Obwohl die Deutsche Bundespost für 16 Städte der Bundesrepublik Deutschland alle 35 Planungen zum Ausbau von Kabelnetzen vorbereitet hatte, wurde ihr durch Kabinettsbeschluss 36 vom 26. September 1979 dieser Ausbau verboten. Die fadenscheinige Begründung lautete, dass Grundentscheidungen »gegenwärtig mit Rücksicht auf Komplexität und Schwierigkeit 37 der Problematik und ihre noch unzureichende politisch-geistige Durchdringung noch nicht ge- 38 troffen werden können«, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 39 Nr. 121/S.1125, 10. Oktober 1979. Ich als Vorsitzender des Koordinierungsausschusses »Me- 40 dienpolitik der CDU und CSU« habe im DUD Nr. 188, S. 1–3 die medienpolitischen Beschlüsse der Bundesregierung entsprechend kommentiert. Die Union hat sich von den Anwürfen und 41 auch den Unterstellungen, dass das Angebot der Verkabelung seitens der Deutschen Bundes- 42 post unseriös ist, nicht beirren lassen. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Der Neuerer hat Gegner auf allen Seiten 187 worden war, konsequent fortzufahren. Der Kongress mit Beiträgen von Bun- 1 deskanzler Helmut Kohl, Ministerpräsident Franz-Josef Strauß, Werner Rem- 2 mers, dem Vorsitzenden des Koordinierungsausschusses für Medienpolitik der 3 CDU und CSU, wie von Ministerpräsident Bernhard Vogel, von Staatssekretär 4 Edmund Stoiber und auch vom Bundesminister des Inneren Friedrich Zim- 5 mermann und dem Bundesminister für Post- und Telekommunikation, Chri- 6 stian Schwarz-Schilling fand ein noch größeres Medienecho als der Kongress 7 1978. Die Auseinandersetzung über die Medien war nun wirklich auch beim 8 Normalbürger angekommen und wurde zu einem Thema, was praktisch nicht 9 mehr aufgehalten werden konnte.15 10 11 Die technische Aufholjagd startete sofort 12 13 Die technische Aufholjagd musste sofort und auf sehr breiter Grundlage vor- 14 genommen werden, da wir auf vielen Gebieten im Rückstand waren und keine 15 Zeit zu verlieren war. Ein Generalthema war die Digitalisierung sowohl im 16 Bereich der Vermittlungstechnik, wie auch im Bereich der Endgeräte. Die Re- 17 volution der Mikroelektronik hatte eine ganz besondere Eigenart: Durch den 18 Übergang von der Analog- zur Digitaltechnik in den Vermittlungsstellen wur- 19 den die bereits getätigten Hardware-Investitionen der Netze plötzlich um ein 20 Vielfaches angereichert. Durch die gleichen Leitungen bis hin zum doppel- 21 gliedrigen Kupferdraht am Telefon flossen auf einmal zehnfache Geschwin- 22 digkeiten oder ein Vielfaches der bisherigen Qualitätsanforderungen. So eine 23 Erfindung gibt es in der Geschichte der Technologie selten: dass bereits ge- 24 tätigte Hardware-Investionen nicht obsolet, sondern im Gegenteil durch eine 25 quantitative und qualitative Volumensanreicherung sehr viel kostengünstiger 26 werden und in der Lage sind, ein weitaus höheres Verkehrsvolumen als bisher 27 zu bewältigen. Dadurch entstand mit einem Schlag auch eine völlig neue Lage 28 zur Entwicklung und Marktgängigkeit von Endgeräten, an die man bisher noch 29 gar nicht gedacht hatte. Diese mikroelektronische Revolution hat mehrere 30 Komponenten, die sich auf die einzelnen Dienstleistungen der Bundespost di- 31 rekt ausgewirkt haben. 32 Wir haben die Glasfaser natürlich sofort eingeführt – dort, wo sie technisch 33 sinnvoll war und auch preislich bereits Vorteile geboten hat. Obwohl gerade 34 auch von der SPD sehr viel von der Glasfaser geredet wurde: Bis Ende 1982 35 hatte die Bundespost noch nicht einen einzigen Meter verlegt, obwohl in Ame- 36 rika bereits die Glasfaserproduktion auf vollen Touren lief. Ich hatte dann 1983 37 sofort die ersten 100.000 Glasfaserkilometer bestellt und in den folgenden Jah- 38 ren wurde sie mehr und mehr eingesetzt, sowohl für die dritte Netzebene im 39 40 15 Medien von Morgen – verabschiedet vom Koordinierungsausschuss für Medienpolitik 41 der CDU/CSU am 5. Oktober 1984, hg. von der CDU-Bundesgeschäftsstelle (1985) 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Fernsehkabelnetz, wie im Telefonnetz bei größeren Kapazitätserweiterungen. 2 So gewannen wir rasch den Anschluss zurück. 3 Wir haben Btx eingeführt, den Vorläufer des heutigen T-Online, damals 4 mit erheblichen Kämpfen. Da wurden falsche Voraussagen gemacht, dass wir 5 innerhalb von zwei bis drei Jahren 800. 000 Teilnehmer bekommen würden. 6 Diese Studie, die uns die Firma Diebold angefertigt hatte, sprach in den näch- 7 sten zwei Jahren von 800.000 Teilnehmern. Die Ist-Zahlen waren dann kaum 8 bei 10–20 % dieser Zahlen und natürlich brach ein Sturm der Entrüstung aus, 9 als man die große Diskrepanz zwischen Voraussagen und Wirklichkeit fest- 10 gestellt hatte. Wir haben uns aber mit Erfolg dagegen gewehrt, den Dienst 11 einzustellen, obwohl manches großes Unternehmen damals seine Btx-Seiten 12 wieder zurückgezogen hatte. Ich habe mich gegen diesen Pessimismus gewehrt 13 und so blieb die Bundespost auch eisern bei der Einführung von Btx dabei. 14 Und nur dadurch, dass wir dabeigeblieben sind, ist heute T-Online das größte 15 Online-Netz, das es in Europa überhaupt gibt. 16 Wir haben das Fax eingeführt. Gott sei Dank ging das schneller, wenn auch 17 mit Hindernissen. Ich habe die deutschen Unternehmen damals darauf hinge- 18 wiesen, sie sollten schnell Faxgeräte bauen. Aber nein, wir mussten sie aus 19 Japan bestellen, weil man in Deutschland nicht rechtzeitig an das Fax geglaubt 20 hat. 21 Ähnlich verhielt es sich mit den schnurlosen Telefonen. Als ich fragte, wie 22 viel Strafgebühren jemand bezahlen muss, der ein sogenanntes »Hongkong«- 23 oder »Singapur«-Telefon in Deutschland betreibt, ja was er denn machen müs- 24 se, um sich legal zu verhalten, da sagte man mir: »Er darf das zwar kaufen, 25 aber er darf es nicht in Verkehr bringen in Deutschland.« Ja wozu sollte man 26 es denn dann in Deutschland kaufen? Für den Reexport nach Ostasien oder 27 warum? »Nein, der Betrieb hier ist verboten, das geht nicht.« Warum ist es 28 verboten? »Ja, weil wir technische Schwierigkeiten bekommen, wenn mehrere 29 Geräte nahe beieinander betrieben werden und die Telefonbenutzer sich ge- 30 genseitig Gespräche abhören können und auch, was die Berechnung der Ge- 31 spräche angeht, Fehler vorkommen, weil die Geräte eben nicht unseren Nor- 32 men entsprechen. Ich sagte, das sei ja alles furchtbar, aber dann möchte man 33 doch dafür sorgen, dass es auch in Deutschland ein Angebot gibt, wo das alles 34 nicht als Nachteil zu vermelden ist, so dass der, der sich legal verhält, auch 35 tatsächlich ein Angebot und einen Service bekommt. Es könnte ja sein, dass 36 auch in Deutschland jemand im Garten oder auf dem Balkon telefonieren 37 möchte. Dabei wurde mir dann noch ein großer Schrecken eingejagt, dass ein 38 solches in Deutschland konstruiertes und gefertigtes Gerät mehrere hundert 39 D-Mark kosten würde, während Geräte aus Asien nur 60 D-Mark kosteten. 40 Ich sagte: Dann fangen wir eben mit den paar hundert Mark an. Wir werden 41 sehen, wie der Markt reagiert. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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Es war dann eine relativ kleine mittelständische Firma, die Firma Hagenuk 1 aus Kiel, die ein solches Gerät auf Anforderung am schnellsten liefern konnte. 2 Schon nach drei, vier Jahren hatten wir rund vier bis fünf Millionen schnurlose 3 Telefone im Verkehr, die natürlich teurer waren als die Hongkong- oder Sin- 4 gapur-Geräte. Aber sie entsprachen den Serviceanforderungen und erfüllten 5 die fernmeldeanlagetechnischen Vorschriften, sodass auf diese Weise in 6 Deutschland ein »erlaubtes« Angebot gegeben war und man nunmehr auch in 7 Deutschland »schnurlos« telefonieren durfte. Natürlich sanken dann bei zu- 8 nehmenden Stückzahlen auch durch verschiedene Konkurrenzfirmen die Prei- 9 se. 10 Dann kam etwas ganz Wichtiges: die Mobiltelefontechnik. Sie war bei uns 11 genauso veraltet wie manche andere Dinge. Als ich das Ministerium über- 12 nahm, hatten wir noch das B-Netz. Wer ein Autotelefon gekauft hatte, der 13 hatte in seinem Auto, meistens im Kofferraum, einen großen Kasten und te- 14 lefonierte, wie man damals telefonieren konnte – technisch gar nicht schlecht. 15 Auf meine Frage, wie lange dieses Netz reichen würde – denn wir hatten 16 23.000 Teilnehmer – erhielt ich die Antwort: »Ja, das reicht bis 25.000 Teil- 17 nehmer.« Also war sofort plausibel, dass wir bald am Ende unserer Kapazität 18 waren. Darauf wurde mir gesagt: »Nein, wir müssen dann nur die Tarife ent- 19 sprechend erhöhen, dann zieht sich der Zeitraum, bis 25.000 Apparate erreicht 20 oder gar überschritten werden, ganz lange hinaus und dann können wir noch 21 drei, vier Jahre warten.« Das war so richtig die Mentalität des Monopolisten: 22 Hohe Preise machen, damit die Nachfrage abgebremst wird! Ich bemühte 23 mich, klar zu machen, dass dieses fortan nicht unsere Politik sein kann! 24 25 Wir haben das natürlich geändert, haben sehr schnell das C-Netz in Gang ge- 26 setzt und uns dann gleich auf die Digitaltechnik des D-Netzes gestürzt. Es 27 war nicht ganz einfach, die Franzosen davon zu überzeugen, und wir haben 28 eine Arbeitsgruppe beider Ministerien gebildet; sie erhielt den Namen »Groupe 29 speciale mobil« (GSM). GSM wurde dann später, nachdem wir die sehr 30 schwierigen Normungsfragen europaweit durchgestanden und durchgesetzt 31 hatten, zu »Global System Mobile«, so wie es eben heute verstanden wird. 32 Aber diese deutsch-französische Arbeitsgruppe war letztlich der Ursprung 33 auch zu dem Kürzel GSM. Und ich glaube, ich muss ihnen nicht erklären, 34 dass unsere digitale Mobilfunktechnologie vielleicht neben dem »Airbus« eine 35 der erfolgreichsten europäischen Technologien ist, die weltweit heute Hun- 36 derte von Millionen von Teilnehmern hat und die in rund 200 Ländern außer- 37 halb Europas praktiziert wird. 38 Nur zwei große Länder haben sich damals verschlossen, die USA und Japan, 39 die den Europäern das wohl nicht zugetraut haben. Man nennt das den soge- 40 nannten NIH-Faktor – »Not invented here«. Dass aus Europa etwas technisch 41 so Modernes kommen könnte, das glaubten weder die Japaner noch die Ame- 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 rikaner. Beide sind auf diese Weise weit ins Hintertreffen geraten und holen 2 jetzt erst durch die neue Generation (»UMTS«) wohl ihren Rückstand auf. 3 Dabei haben wir in Deutschland uns besonders ins Knie geschossen, weil wir 4 eine so riesige Lizenzlast auf diese neue Generation gewälzt haben, dass kaum 5 einer in der Lage ist, die Netzinvestitionen zu finanzieren oder gar rechtzeitig, 6 wie vereinbart, mit dem Service zu beginnen. 7 8 Die »Postreform« nimmt Gestalt an – die IuK-Technologien verändern unsere 9 Kommunikations- und Medienwelt 10 11 Wir haben also in der ersten Legislaturperiode die Entscheidungsschlachten 12 für die technischen Innovationen geführt und neue Technologien eingeführt. 13 In der zweiten Hälfte der 80er Jahre haben wir die Implementierung der stra- 14 tegischen Überlegungen für die Postreform in Gang gesetzt durch eine ganz 15 wichtige Entscheidung. Da war einmal die Regierungskommission unter Lei- 16 tung von Professor Eberhard Witte, der schon früher einmal der Leiter der 17 sogenannten »KtK« (Kommission für den Ausbau des technischen Kommu- 18 nikationssystems) gewesen ist. Dabei war gerade Eberhard Witte ein Glücks- 19 fall für uns alle: Witte ist einer der wenigen deutschen technisch und politisch 20 beschlagenen Professoren – Entschuldigung, wenn ich das so frei sage – , deren 21 Wettbewerbseinstellung nicht so pur war, dass seine Vorschläge gleich der 22 Ablehnung unter den aktiven Politikern verfallen wäre; sondern er machte 23 pragmatische Vorschläge, die tatsächlich auch politisch durchsetzbar waren. 24 Diese Art von Kompromissfähigkeit, ohne das Prinzip aufzugeben, gibt es sehr 25 selten. Er hat deshalb von Wirtschaftsminister Müller 2001 zu Recht die Hein- 26 rich von Stephan-Medaille bekommen. Ich habe mit voller Überzeugung dem 27 Wirtschaftsminister bei der Verleihungsrede gesagt, dass ich das für die beste 28 Entscheidung halte, die ich bisher von ihm gehört habe. 29 Kommen wir noch zu einem anderen wichtigen Punkt, nämlich der Zusam- 30 menarbeit mit den Ländern. Diese Zusammenarbeit wurde enorm behindert 31 durch die Auseinandersetzung zwischen den sogenannten »A-Ländern« (SPD- 32 gefärbt) und »B-Ländern« (christlich-demokratisch gefärbt). Jahrelange Ver- 33 zögerungen mit der Folge schlimmer Auswirkungen für die technische Wett- 34 bewerbsfähigkeit Deutschlands waren die Folge. Man denke nur an die Kämp- 35 fe um die Standorte von Programmanbietern, wenn sie terrestrische Frequen- 36 zen wollten oder man denke an die Satellitenkanäle für die Einführung des 37 Satellitenrundfunks, der letztlich aufgrund der Verzögerungen und der Unkal- 38 kulierbarkeit der Zukunft in Deutschland trotz technisch hervorragende Qua- 39 lität nicht Fuß fassen konnte. Da braucht man sich nicht wundern, wenn man 40 Tricks benutzt, um ein Stück voranzukommen. Da kann ich heute darüber 41 schmunzeln, wie ich mit Claus Detjen, dem Hauptgeschäftsführer des Bun- 42 desverbandes der Deutschen Zeitungsverleger und dann später Geschäftsfüh- Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Der Neuerer hat Gegner auf allen Seiten 191 rer des Pilotprojektes Ludwigshafen, eine Art Geheimbündnis geschlossen ha- 1 be, um die Satelliteneinspeisung auf den Weg zu bringen. Wir haben uns das 2 mit dem Pilotprojekt in Ludwigshafen/Mannheim genau überlegt und sind, so 3 glaube ich, auf eine sehr gute Idee gekommen: Durch die Ländergenehmigung 4 für das Pilotprojekt konnte nun endlich unser Fernmeldesatellit dazu benutzt 5 werden, die verschiedenen Programme, auch private Produktionen, die lega- 6 liter für das Pilotprojekt produziert worden sind, in die Kabelnetze einzuspei- 7 sen. Diese Programme waren zwar für das Pilotprojekt vorgesehen, konnten 8 aber technisch durch die Satellitenübertragung nicht auf das Pilotprojekt be- 9 grenzt werden; und so waren plötzlich die dritten Programme und auch private 10 Programme, wie sie für das Pilotprojekt produziert worden sind, bundesweit 11 empfangbar. So konnten auch Bundesländer, die die Verkabelung und Pro- 12 grammheranführung wollten, wie z. B. Niedersachsen, der Bundespost die Ge- 13 nehmigung geben, das Mehr an Angeboten auch in ihre Kabelnetze einzuspei- 14 sen, was sonst praktisch aufgrund der einheitlichen Länderbeschlüsse über- 15 haupt nicht möglich war. So ist mit einem Schlage etwas gelungen, was die 16 ablehnenden Länder dann nicht mehr aufhalten konnten. Dass wir nämlich 17 Länder hatten, die die Vielfalt wollten und neue Programme einspeisen ließen 18 und andere, die das unbedingt verhindern wollten, war nun einmal politische 19 Realität. Jetzt waren es die Länder selbst, die nur noch über ihre eigene Land- 20 schaft entscheiden konnten, aber keine Kollektivblockade mehr ausüben konn- 21 ten. Die Bundespost konnte, sagen wir, die Investitionen etwas abbremsen und 22 reduzieren dort, wo man die Programmeinspeisung nicht zuließ, zumal wir ja 23 keine Möglichkeit hatten, dann dem Endkunden ein entsprechendes Angebot 24 zu unterbreiten. Dadurch entstand ein Wettlauf der Länder, sich nun doch ans 25 Kabel anzuschließen und den Städten und Gemeinden entsprechende Geneh- 26 migungen zu geben. In diesem Kampf sind übrigens die Länder Bremen und 27 Saarland verbissen die Schlusslichter geblieben. Aber auch da half es nichts, 28 die Bevölkerung hatte es satt, zu ihren Verwandten oder Freunden in andere 29 Bundesländer zu fahren, um bestimmte Sendungen sehen zu können, z.B. Fuß- 30 ball. So kam die ganze Situation ins Rollen, und die Länder haben dann am 31 Ende unsere Politik unterstützt, weil die Bevölkerung die Blockadepolitik 32 nicht mehr wollte und ganz simpel mehr Programme forderte. 33 So haben wir immerhin eine ganze Menge erreicht und haben dann das duale 34 System eingeführt. Wir haben da nicht CDU-Sender geschaffen. Das war auch 35 in meinen Augen nie der Sinn der Sache. Aber wir haben die Entautorisierung 36 bestimmter öffentlich-rechtlicher Anstalten durchziehen können und die Au- 37 ßenpluralität wurde entschlossen in Gang gesetzt. Damit war zum ersten Mal 38 eine Wettbewerbssituation nach dem Ende des zweiten Weltkrieges wieder 39 geschaffen worden. 40 Es war von nun an nicht mehr so, dass man am nächsten Morgen im Betrieb 41 am Produktionsband nur über eine Sache sprach: was in der Tagesschau, an- 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 schließend in Kommentaren und dann in der entsprechenden Magazinsendung 2 wiederum in einseitiger Form dargestellt wurde. Die Meinungslage in 3 Deutschland war damals aus dem Gleichgewicht. Da wurden Dinge am Sams- 4 tag durch Vorab-Exemplare des »Spiegel«, am Montag flächendeckend über 5 dpa in die deutsche Zeitungslandschaft gebracht, am Mittwoch/Donnerstag 6 durch den »Stern« verstärkt und Freitag/Samstag spielte dann noch meistens 7 »Die Frankfurter Rundschau« oder die »Süddeutsche Zeitung« ihre eigene 8 Rolle dabei. Das war die Medienlage. Frau Noelle-Neumann hat alle Unter- 9 suchungen darüber gemacht. Wir hatten von zehn Leuten, die bei der Schalt- 10 konferenz der ARD waren, neun auf der einen und einen auf der anderen Seite. 11 Und wenn wir die Stellvertretenden Chefredakteure hinzunehmen, dann waren 12 es immer noch sieben zu vier. Und so ging das Woche für Woche, sodass wir 13 die Frage stellen mussten, wie Ausgewogenheit zustande kommen soll in den 14 öffentlich-rechtlichen Anstalten, wenn solche Konstellationen blieben und 15 nicht durch ein zweites System privater Anbieter ergänzt werden konnten. 16 Da war noch ein Problem. Ich weiß nicht, ob Bernhard Vogel sich daran 17 erinnert: Es gab sogenannte »Schutzzonen« zwischen ARD und ZDF, eine für 18 mich geradezu unvorstellbare Einrichtung. ARD und ZDF vereinbarten mit- 19 einander, bei welchen politischen Sendungen der andere keine Unterhaltungs- 20 sendung dagegen setzte, damit die deutsche Bevölkerung auch brav gezwun- 21 gen würde, die politischen Sendungen über sich ergehen zu lassen. Dahinter 22 steckte eine Vorstellung, die wirklich nicht unserer Idee von freiheitlicher Me- 23 dienvielfalt entsprach, sondern eher eine selbst ernannte, volksbelehrende Pä- 24 dagogik war, die dann auch abgeschafft wurde. Die sogenannten »Schutz- 25 zonenvereinbarungen« zwischen ARD und ZDF, gehörten nun wirklich nicht 26 mehr in unsere Zeit. 27 Dann kam als zweiter Punkt die Beseitigung der Monopole. Man hat mir 28 zunächst vorgeworfen, ich würde nur beim Fernsehen das öffentlich-rechtliche 29 Monopol beseitigen wollen. Nein, ich habe es auch bei der Bundespost getan, 30 wir haben bei der Bundespost die drei Unternehmen geschaffen. Ich will das 31 hier nicht im Einzelnen darstellen. Wir haben als erstes die Trennung zwischen 32 hoheitlichen Aufgaben und betrieblich-unternehmerischen Aufgaben einge- 33 führt und damit die Weichen gestellt für die Privatisierung. Wir haben eine 34 Regulierungsbehörde geschaffen, so wie in den USA die FCC (Federal Com- 35 munications Commission) oder in England, das Oftel (Office of Telecommu- 36 nication), die die Regulierung zwischen den früheren Monopolen und den 37 Wettbewerbern ausübt. Denn bei ehemaligen Monopolen mit Marktanteilen 38 von über 50, 60, ja bis 90 Prozent in den verschiedenen Marktsegmenten, brau- 39 chen wir eine entsprechende »asymmetrische« Regulierung, sonst können sich 40 die zarten Pflanzen des Wettbewerbs gegen die überstarken großen Unterneh- 41 men, die ihre Infrastruktur noch aus monopolistischer Zeit besitzen, nicht 42 durchsetzen. Wir haben die Endgeräte aus dem Monopol in den Wettbewerb Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Der Neuerer hat Gegner auf allen Seiten 193 geführt und haben eine Fülle von Dienstleistungen in Gang gesetzt. Die CEBIT 1 ist ein Ausdruck dafür. Wir haben die CEBIT damals zusammen mit der Mes- 2 seleitung Hannover und der Landesregierung in Niedersachsen ins Werk ge- 3 setzt. Heute ist sie die größte Ausstellung der Welt auf diesem Gebiet. Die 4 Produktivität unserer Volkswirtschaft wäre ohne diesen Anschub, der in der 5 IuK-Technik entstanden ist, kaum denkbar. 6 Es war ein schwerer Kampf, ich habe das bereits gesagt. Aber dieser Kampf 7 war erfreulich und ist zu einem guten Ende gekommen. Dennoch stellt man 8 sich die Frage, ob es denn immer so schwierig sein muss, wenn man in 9 Deutschland Reformen einführen will, und es ist ja auch mehr als einmal vor- 10 gekommen, dass aufgrund dieser Schwierigkeiten Reformen auf der Strecke 11 geblieben sind: Sei es, dass man auf zu harte Widerstände gestoßen ist oder 12 die Reform nicht genügend vorbereitet hat oder aber, dass einen selbst bei 13 dem Auftauchen der Widerstände der Mut verlassen hat. Offensichtlich ist hier 14 eine generelle Schwierigkeit. 15 Und so darf ich zum Schluss Machiavelli zitieren, der im Jahre 1530 in »Il 16 Principe« schrieb: »Man muss sich ... vor Augen halten, dass nichts von der 17 Vorbereitung her schwieriger, vom Erfolg her eher zweifelhaft und von der 18 Durchführung her gefährlicher ist, als der Wille sich zum Neuerer aufzu- 19 schwingen. Denn wer dies tut, hat die Nutznießer des alten Zustands zu Fein- 20 den, während er in den möglichen Nutznießern des neuen Zustands nur laxe 21 Verteidiger findet – eine Laxheit, die teils aus der Furcht vor den Gegnern 22 herrührt, die ja das Gesetz auf ihrer Seite haben, und teils aus dem Misstrauen 23 der Menschen stammt, die in Wirklichkeit an eine Neuerung erst glauben, wenn 24 sie diese mit eigenen Augen gesehen haben.« 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 2 3 Es geht darum, realistische Formen des Konsenses zu finden, 4 auch über Parteigrenzen hinweg 5 6 Von Klaus von Dohnanyi 7 8 Zunächst möchte ich mich bedanken, dass ich hier die Möglichkeit erhalte, 9 einige Worte zum Thema dieser Tagung zu sagen. Ob ich der Richtige bin, 10 um über den »Widerstand« der SPD gegen die Medienpolitik in den 80er Jah- 11 ren zu berichten, weiß ich nicht, weil ich mich ja eigentlich auf der anderen 12 Seite befunden habe damals in meinem Streit. 13 Ich bin schon immer der Meinung gewesen, dass man in erster Linie Bürger 14 und erst in zweiter Linie Parteimitglied ist. Und ich begrüße es daher, dass 15 hier die Möglichkeit gegeben ist, die Dinge von mehreren Seiten zu betrachten. 16 Ich will mich nicht einlassen in die historische Darstellung der einzelnen Ab- 17 läufe, denn dafür gibt es genug Unterlagen. Herr Professor Wilke hat ja hierzu 18 auch schon gesprochen, Herr Vogel und Herr Schwarz-Schilling haben das 19 aus vielfältiger Sicht beleuchtet und belegt. 20 Das Interessanteste vielleicht ist, wie viel Unsinn manchmal nur wenige Jahr- 21 zehnte zurück von verschiedenen Seiten gesprochen worden ist, in diesem Falle 22 in der Medienpolitik und zu einem nicht unerheblichen Teil auch von meiner 23 Partei. Man überlegt, wie konnte man eigentlich vor nur 20 Jahren solche Sachen 24 sagen. Das ist schon ein erstaunlicher Vorgang, aber ich komme darauf noch 25 mal zurück, weil ich das für einen wichtigen Punkt unserer Diskussion halte. 26 Die historischen Studien zeigen, dass es einerseits sehr unterschiedliche 27 Ausgangspositionen gab und andererseits auch eine kontinuierliche Annähe- 28 rung der Parteipositionen, und zwar seit Anfang der 70er Jahre und nicht erst 29 in den 80er Jahren. Immer wieder schrittweise Annäherung und Einver- 30 ständnis, aber es bleiben natürlich doch immer noch bis heute gewisse Unter- 31 schiede bestehen. 32 Sie betreffen zum Beispiel den zukünftigen Umgang mit dem Kabelfernse- 33 hen da, wo es jetzt Erwerber der Netzebene drei gibt, die auch auf die Netz- 34 ebene vier hinüberreichen usw. Da gibt es neue Probleme, die immer wieder 35 das alte Kleid und die alten Farben zeigen, nämlich: Wie verhält es sich mit 36 dem Interesse der Gesellschaft, dem Interesse der Bürgerinnen und Bürger, 37 dem Interesse der Information gegenüber dem Kommerz, also der wirtschaft- 38 lichen Fragestellung, die dahintersteht. 39 Ich will vier Punkte knapp erläutern und dabei kurz mit der Ausgangslage 40 beginnen, und dann eine paar Worte darüber sagen, was wir strategisch im 41 Auge hatten, was realisiert werden konnte, und was vielleicht zu lernen ist. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Ausgangslage 2 3 Zur Ausgangslage ist hier schon viel gesagt worden, insbesondere von Herrn 4 Schwarz-Schilling. Ich möchte einige ergänzende Bemerkungen machen. Das 5 Postmonopol war bestimmt ein Problem. Das lag natürlich an der gesamten 6 Einschätzung dessen, was die öffentlichen Versorger einem Lande schulden, 7 und das hatte damit nicht nur einen deutschen, sondern einen kontinentaleu- 8 ropäischen Aspekt. 9 Dann gab es eine Entwicklung der Pressekonzentration in den 70er Jahren, 10 die man nicht außer acht lassen darf, wenn man über das Problem Fernsehen 11 und neue Medien spricht. Es gab damals eine starke Konzentrationsbewegung 12 im Bereich der regionalen Presse, die durch das Zusammenfassen von größeren 13 Einheiten, die Entwicklung von sogenannten Kopfblättern, vorangetrieben 14 wurde. 15 Und was man nicht übersehen sollte, wenn man die Mitte der 60er Jahre 16 nimmt und das berühmte Stichjahr 1968, da lagen die Erfahrungen der Wei- 17 marer Republik so weit zurück, wie heute für uns das Jahr 68 zurückliegt. Das 18 war also gar nicht so weit weg. Man hatte die Hugenberg-Erfahrung im Kopf 19 und alles, was damit zusammenhängt. Man darf das nicht übersehen, das war 20 ein wichtiger Bestandteil der medienpolitischen Debatte in den 70er Jahren: 21 Was geschieht mit der Medienkonzentration aufgrund wirtschaftlicher Ge- 22 sichtspunkte, also der Zusammenfassung von Regionalzeitungen und der sich 23 daraus entwickelnden politischen Macht? 24 Dann gab es einen dritten Aspekt, nämlich die Politisierung des Fernsehens. 25 Ich stimme in dieser Beziehung mehr Schwarz-Schilling zu als Bernhard Vogel. 26 Ich glaube schon, dass es so was gab wie Seilschaften oder wie auch immer 27 das genannt wurde, bei uns im Norden hieß es dann »Rotfunk«. Es gab so was, 28 man muss es einfach ehrlich sagen. Und ich sage mal, das gibt es zum Teil 29 noch heute. Es gab dann Freundeskreise, die machten Vorabsprachen. Diese 30 sogenannten Rundfunkräte bestanden aus den merkwürdigsten Teilgruppierun- 31 gen, die sich vorher zusammentaten, und ich werde nie vergessen, wie ich im 32 Rundfunkrat des damaligen Deutschlandfunks war, und dort war auch der Kol- 33 lege Czaja von der CDU/CSU, ein lobenswerter, rechter Ritter. Er kritisierte 34 heftig irgendeine Sendung im Deutschlandfunk (SPD-lastig), und ich sagte 35 dann zu Herrn Czaja: »Warum machen wir nicht Folgendes: In Zukunft kriti- 36 sieren Sie immer nur, was Einseitiges auf der Seite von CDU/CSU-Leuten in 37 den Rundfunkanstalten verbreitet wird, und ich werde mich dann der SPD an- 38 nehmen, so dass wir nicht auch noch hier im Rundfunkrat Parteipolitik machen 39 müssen.« Das wurde aber natürlich nicht realisiert, sondern man stritt sich über 40 Kreuz, jeder mit seinem Entsendungsrecht gewissermaßen, eine dümmliche Si- 41 tuation. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Es geht darum, realistische Formen des Konsenses zu finden 197

Ich habe daraus in Hamburg – ich will kurz vorgreifen – eine Konsequenz 1 gezogen. Das Hamburger Mediengesetz verbietet die Entsendung von Mit- 2 gliedern durch die Parteien in den Rundfunkrat. Das hat mir großen Ärger 3 gemacht in Hamburg, unter den Freunden in der Fraktion und auch bei den 4 Freunden der Partei. Das Ergebnis war dann in Hamburg, als wir den ersten 5 Medienrat wählten, dass ein CDU-Mitglied der Vorsitzende wurde, das kam 6 bei der Wahl so zustande. Er war aber ein sehr tüchtiger Mann, und ich hatte 7 auch gar nichts dagegen. Wir hatten uns geeinigt, wir würden die Parteien 8 wenigstens versuchsweise heraushalten. 9 Es gab also eine Politisierung des Fernsehens, und bis heute empfinde ich 10 manchmal die eine oder andere Ansagerin in unseren Fernsehnachrichten oder 11 im Bereich der Nachrichten, nicht bei den Kommentaren, als parteipolitisch 12 ziemlich »frech«. Wenn gesagt und berichtet und gefragt wird, als wüsste man 13 schon vorher, was eigentlich das Ergebnis sein sollte, wünschte ich mir, dass 14 die Rundfunkanstalten und die entsprechenden Rundfunkräte sich solche Leute 15 mal vornehmen und sagen, das gehört sich nicht, jemanden so zu fragen, als 16 wisse man genau, dass derjenige in der Tagesschau, der dort sitzt, entweder 17 der einen oder der anderen Partei angehört. Ich finde das unglaublich. Ich nen- 18 ne die Tagesschau nur beispielhaft, man kann es auch woanders sehen. Also, 19 ich bin der Meinung, man muss schon eine gewisse Politisierung in Deutsch- 20 land erkennen, und vielleicht war die Privatisierung ein Instrument dagegen. 21 Ich komme darauf zurück. 22 Der vierte Punkt, der uns damals bewegte, war das Sichtbarwerden neuer 23 Kommunikationsmittel, insbesondere natürlich Satellit und Kabel, und der 24 fünfte Punkt war in der Tat die Internationalisierung der Medien in diesem 25 elektronischen Bereich, wobei es das im Rundfunk schon lange gab, wie wir 26 alle wissen. 27 Also, das waren die Gesichtspunkte, und die SPD hatte diese Debatte schon 28 in den 60er Jahren geführt und 1971 einen wichtigen Medienparteitag durch- 29 geführt. Auf diesem Medienparteitag gab es die Forderung nach mehr Mitbe- 30 stimmung in der Presse, um den Redakteuren mehr Chancen gegenüber den 31 Herausgebern und Eigentümern zu geben, ausgelöst von einer Debatte um die 32 Springer-Presse. 33 Es gab einen Beschluss gegen die Privatisierung der elektronischen Medien, 34 es gab einen eindeutigen Beschluss für die Aufrechterhaltung des öffentlich- 35 rechtlichen Hörfunks und des Fernsehens. Das Ganze sozusagen war eine 36 Richtungsbestimmung, die auf dem Hintergrund der genannten Aspekte zu se- 37 hen ist, Pressekonzentration, Bedeutung der Medien für die öffentliche Mei- 38 nung usw. Es war ein Versuch, auf jeden Fall bei denen, die das nicht in erster 39 Linie parteipolitisch gesehen haben, die öffentlich-rechtlichen Anstalten frei- 40 zuhalten von privaten, kommerziellen Interessen. Das war die Ausgangslage. 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Ziele 2 3 Unser strategisches Ziel war logischerweise, das zu sichern und zu bewahren, 4 was bedroht schien. Und bedroht schien einmal die Presse, vorangetrieben 5 durch die Konzentration und durch die technischen Veränderungen. Ein zwei- 6 tes strategisches Ziel war, das öffentlich-rechtliche System aufrechtzuerhalten, 7 um seine Unabhängigkeit zu bewahren. Am Ende, so scheint mir, wurde zwi- 8 schen den Parteien hier durch viele Gespräche – Herr Vogel hat darauf hin- 9 gewiesen, wie viele lange Gespräche wir geführt haben – ein ganz vernünftiger 10 Kompromiss gefunden, der sogar dazu führte, dass Herr Schwarz-Schilling 11 und ich uns heute als Aufsichtsratsvorsitzende in einem Unternehmen abgelöst 12 haben, das sich mit Kabelfernsehen befasst. Sie sehen, die Welt ist vielfältig, 13 und man kommt sich näher auch durch praktische Erfahrungen. 14 Die Frage, ob die Meinungsvielfalt durch das private Fernsehen erhöht wer- 15 den könnte, diese Frage war in der Tat sehr umstritten. Ich bin nicht der Mei- 16 nung, dass Herr Wilke und Herr Schwarz-Schilling dem Essener Parteitag der 17 SPD von 1984 ganz gerecht geworden sind. Da gab es zwar die Beschlüsse 18 gegen die Verkabelung, aber es gab zugleich auch Beschlüsse für die Öffnung 19 für privates Fernsehen. Die Verkabelung konnten wir sowieso nicht aufhalten, 20 da konnten wir auch sagen, wir sind dagegen. Aber das offene Fernsehen, das 21 private, das hätten wir aufhalten können, und das durften wir nicht aufhalten, 22 aus Gründen, auf die ich gleich eingehe. 23 Deshalb denke ich, der Essener Parteitag war eigentlich eher ein Durchbruch 24 und ein wichtiger Beitrag. Ich will einmal drei Absätze vorlesen aus einer Re- 25 de, die ich zu dieser Frage 1983 in Hamburg gehalten habe. Und die nach 26 meiner Meinung das alles enthalten hat, also den strategischen Wechsel in der 27 SPD. Ich habe damals gesagt: 28 »Ich sehe die Risiken der Anwendung neuer Kommunikationstechniken und 29 neuer Medien. Ich verstehe auch die ablehnende Debatte, aber ich sage offen: 30 Ich gebe dieser Debatte keine Chance für ein dauerhaftes Ausscheren der Bun- 31 desrepublik aus dieser umstürzenden technisch-wissenschaftlichen Entwick- 32 lung. Selbst wenn wir wollten, wir könnten diese Entwicklung nicht aufhalten. 33 Die einzig wirkliche Folge würde wohl sein, dass wir die neuen Systeme krie- 34 gen und andere deren Arbeitsplätze. Und so komme ich zu dem Ergebnis, nicht 35 Abwehr, sondern Gestaltung ist die Aufgabe, Gestaltung der Informations- 36 strukturen, Gestaltung der Arbeitsplatzfolgen und Gestaltung der Industrie- 37 und Unternehmensstrukturen und damit auch der Machtstruktur, die mit der 38 Einführung neuer Kommunikations- und Medientechnologien verbunden sein 39 werden. Im technischen Fortschritt, was immer das Wort beinhaltet, in einer 40 offenen Weltgesellschaft, von der wir leben und abhängen, hat kein Land die 41 Wahl zwischen Unschuld und Teilhabe, sondern nur zwischen Partnerschaft 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Es geht darum, realistische Formen des Konsenses zu finden 199 und Unterwerfung. Wir haben die Wahl zwischen Medien und Macht oder 1 Medien und Ohnmacht. Die neuen Medien kommen in jedem Falle.« 2 3 Umsetzung in Hamburg 4 5 Das war sozusagen die Ausgangsposition für uns in Hamburg. Dabei spielte 6 – das gebe ich ganz offen zu – natürlich eine erhebliche Rolle auch die wirt- 7 schaftliche Struktur der Stadt mit den sehr starken Zeitungsverlagen. Ich habe 8 sehr dafür geworben, dass gerade die Zeitungsverlage berechtigt sein würden, 9 sich auch im Fernsehen zu betätigen, ein sehr streitiger Punkt damals, weil 10 man eine »Doppelmacht« schaffen könnte. Mein Argument war: Wenn man 11 den Zeitungsverlagen nicht die Möglichkeit gibt, an dem Zuschaueraufkom- 12 men teilzuhaben, das ja zum Teil ein Ersatz für das Leseraufkommen ist, wer- 13 den diese Zeitschriften- und Zeitungsverlage in Zukunft Nachteile haben. Und 14 da das für Hamburg ein ganz wichtiger Wirtschaftsfaktor war, habe ich also 15 gefochten für dieses Zusammengehen. Aber es war alles sehr streitig in der 16 Partei, wurde aber dann schrittweise durchgesetzt. 17 Herr Schwarz-Schilling hat mir eben einen Streitartikel von mir gezeigt, in 18 dem ich mich mit dem Planungschef von Helmut Schmidt, Albrecht Müller, 19 über diese Frage sehr intensiv öffentlich gestritten habe. Aber Albrecht Müller 20 hat manches gesagt, über dass man heute lächelt. 21 Ich will also sagen, wir hatten auch ein Interesse am Wettbewerb, aber die 22 Frage war: Ist der Wettbewerb auf diesem Sektor wirklich nur produktiv? Und 23 wenn Sie, Herr Vogel, vorhin gesagt haben, die öffentlich-rechtlichen Anstal- 24 ten schielen in einem falsch verstandenen Konkurrenzbewusstsein auf die Pri- 25 vaten, sozusagen in der Konkurrenz um Reichweiten, dann halte ich das nicht 26 für eine ganz realistische Betrachtung. Die Öffentlich-Rechtlichen haben ja 27 ein Problem: Sie kriegen Gebühren und können diese Gebühren natürlich nur 28 solange bekommen, als sie für sich in Anspruch nehmen können, dass sie wirk- 29 lich eine breite Verbreitung ihrer Sendungen haben. Und wenn man gewis- 30 sermaßen den Öffentlich-Rechtlichen eine Konkurrenz entgegenstellt, die ih- 31 nen, ich sage einmal, neben Fußball und Entertainment usw. alles nehmen wür- 32 de, also wenn sie nicht hinschielen würden auf das, was im andern Angebot 33 ist, dann könnte wohl die Gefahr bestehen, dass eines Tages auch das Bun- 34 desverfassungsgericht sagt: Bei euren Reichweiten und der geringen Zustim- 35 mung, die ihr habt, wie wollt ihr eigentlich weiterhin rechtfertigen, dass ihr 36 diese Gebühren einnehmt? Und was würde aus dem Werbeaufkommen? 37 Diese Fragen werden, glaube ich, wenn ich richtig informiert bin – hier sit- 38 zen ja Fachleute aus den öffentlich-rechtlichen Anstalten – immer wieder dis- 39 kutiert, und sie sind ein wesentlicher Faktor in der Beurteilung dieses soge- 40 nannten Schielens auf den Wettbewerb. 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

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1 Unsere Ausgangslage war also ein Gefühl der Bedrohung der freien Infor- 2 mation durch einen zu starken wirtschaftlichen Einfluss. Die ideologische Ab- 3 wehr in der SPD wurde gebrochen mit Hilfe von Peter Glotz und auch mit 4 meiner Hilfe und meinen Initiativen aus Hamburg, und das führte dann am 5 Ende zu einem Kompromiss, von dem ich glaube, dass er noch heute vernünf- 6 tig ist, und ich sehe die Gesichtspunkte durchaus, die Herr Schwarz-Schilling 7 auch hier politisch eingebracht hat. Aber am Ende muss man ja fragen, wie 8 bewährt es sich. Ich denke, dass diese öffentlich-rechtlichen Anstalten heute 9 eine auch im Wettbewerb sehr beachtliche Position besitzen, allerdings mit 10 dem Vorteil der Gebühren, das gebe ich durchaus zu, der aber wiederum auch 11 mit der breiten Versorgung usw. und mit der Pflicht zur Versorgung und auch 12 mit dem öffentlichen Auftrag wohl zu rechtfertigen ist, solange man eben die 13 notwendigen Reichweiten auch nachweisen kann. 14 Es wird im übrigen neue Fragen geben, und wir werden diese Debatte nicht 15 verlassen können, denn wir kommen in neue technische Entwicklungen und 16 damit auch zum Teil in einer Wiederholung vergleichbarer Fragen, in diesem 17 Falle sogar durch erheblichen wirtschaftlichen Einfluss von außerhalb unseres 18 Landes. 19 20 Was ist zu lernen? 21 22 Ich komme also zum vierten Punkt: Was ist zu lernen? Ich denke, man muss 23 sich wirklich darüber im Klaren sein, dass es nicht möglich ist, im Wandel 24 einer freien Gesellschaft, also unter Gesichtspunkten der Evolution und nicht 25 der Vorgabe konstruktivistischer Ideen, wie die Welt aussehen sollte, Ent- 26 wicklungen umfassend zu steuern. Wir müssen hinnehmen, dass die Welt aus 27 einer für uns oft unergründlichen Kraft, menschlicher Neugier, menschlichen 28 Wettbewerbs in der Freiheit, sich aus eigener Kraft entwickelt, einer Kraft, 29 die wir nur sehr begrenzt oder vielleicht, was die wirkliche Kraft der Entwick- 30 lung angeht, gar nicht steuern können. Trotzdem dürfen wir uns dieser Ent- 31 wicklung nicht einfach ergeben. 32 Wir können uns ja nicht – und das war auch damals ein Teil unserer sozi- 33 aldemokratischen Debatte, auf jeden Fall auf meiner Seite – der Tatsache er- 34 geben, dass nun hier privates Fernsehen unter dem Gesichtspunkt des Kom- 35 merzes sozusagen die Dinge alleine vorantreiben soll. Man darf die Strömun- 36 gen der Zeit nicht bagatellisieren, man darf sie auch nicht verachten, denn die 37 Strömungen der Zeit kommen eben aus diesen evolutionären, menschheitli- 38 chen Entwicklungen. Aber man muss nachdenken, wie man mit ihnen ver- 39 nünftig umgeht. 40 Das kontinentaleuropäische Modell ist nicht das angelsächsische. Und bei 41 allem Respekt, den ich habe vor dem, was Amerikaner und Briten, insbeson- 42 dere Briten, uns kulturell gebracht haben, so denke ich doch, dass wir ein Mo- Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

Es geht darum, realistische Formen des Konsenses zu finden 201 dell haben in Europa, das vielleicht in Deutschland eine besondere und be- 1 sonders gute Ausformung gefunden hat, in dem beides miteinander verbunden 2 ist, das Soziale und die Wettbewerbskraft. Und es gilt, dieses Modell unter 3 veränderten Bedingungen immer wieder neu zu gestalten. Und wenn wir dann 4 über Strukturen nachdenken, über Institutionen im Medienbereich, so müssen 5 wir fragen: Wie kann man das machen, dass beides bleibt, dass wir auf der 6 einen Seite in der Lage sind, die Medien in ihrer Freiheit sich entwickeln zu 7 lassen, und auf der anderen Seite auch bestimmte Strukturen zu bewahren, die 8 es uns wert sind. 9 Die SPD hat sicher viele Dinge falsch gesehen damals, aber das ist uns allen 10 gegeben, dass wir Fehler machen und Dinge nicht richtig sehen. Wenn ich 11 mir die Mühe geben würde oder Sie sich die Mühe geben würden, mal nach- 12 zulesen, was die 68er nicht nur nach außen getan, sondern geschrieben und 13 geglaubt haben, dann würden wir uns wirklich alle ungeheuer wundern. Ich 14 habe dem nie folgen können. Es ist schon sehr komisch, was man da lesen 15 kann. Was erwachsene Leute damals geglaubt haben. Junge Leute haben na- 16 türlich das Recht auf Irrtum, aber die Älteren haben die Pflicht, sie auch durch 17 ihre Erfahrung vor Irrtümern zu bewahren. 18 Und so denke ich: Aus der Geschichte zu lernen, heißt in diesem Zusam- 19 menhang, dass man zwar unaufhaltsame Entwicklungen nicht aufhalten kann, 20 sprich technische Entwicklung, technologische Entwicklung, wissenschaftli- 21 che Entwicklung der Medien, dass man aber die eigenen Werte nicht ohne 22 weiteres aufgeben muss. Und dass der Kampf, den die SPD damals um die 23 öffentlich-rechtlichen Anstalten, um deren Strukturen usw. geführt hat, nicht 24 vergeblich war, sondern am Ende doch zu vernünftigen Kompromissen geführt 25 hat. Und dass es darum geht, realistische Formen des Konsenses am Ende im- 26 mer wieder zu finden, auch über die Parteigrenzen hinweg. Es ist vielleicht 27 zuviel verlangt zu erwarten, dass Erfahrung und Ungestüm oder Weisheit und 28 Ungestüm eine gemeinsame Kraft werden. Es ist aber die Hoffnung der 29 Menschheit immer gewesen, dass das eines Tages so sein könnte, und ich mei- 30 ne, wir sollten die Hoffnung auch bei den Medien nicht aufgeben. 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS

202 Klaus von Dohnanyi

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1 2 3 Aus der Defensive zum Erfolg. 4 Die öffentlich-rechtlichen Anstalten im Spiegel des 5 medienpolitischen Wandels 6 7 Von Peter Schiwy 8 9 Böse Kritiker werden meinen, dass sich die Kernbegriffe des Themas Wandel 10 und öffentlich-rechtlicher Rundfunk nicht miteinander vertragen. Das Gegen- 11 teil ist der Fall, insbesondere dann, wenn die Jahre der stürmischen Verände- 12 rungen auf dem elektronischen Markt in Deutschland in den Blick genommen 13 werden. Die durch die Wiedervereinigung bedingten Änderungen bleiben ge- 14 sonderter Erörterung vorbehalten. Verbunden mit dem Namen Christian 15 Schwarz-Schilling ist die Entwicklung ganz entscheidend. Die lobende Er- 16 wähnung gebührt dem erfolgreichsten Fachminister der verschiedenen Kabi- 17 nette Kohls. Als er 1983 daran ging, Deutschland zu verkabeln, um – wie es 18 damals hieß – »Milliarden in den Sand zu senken«, initiierte er eine industrielle 19 Innovation, deren Erfolg die einzige bisher unbeantwortete Frage nicht mehr 20 zu stellen erlaubt. Darf der Staat eigentlich so viel an Ordnungspolitik betrei- 21 ben? Darf er wirtschaftslenkend einen neuen Industriezweig per ordre de mufti 22 aus dem Boden stampfen? Heute ist die private Rundfunklandschaft in 23 Deutschland als Ergebnis dieser Politik – trotz aller gegenwärtigen Sorgen we- 24 gen des deutlichen Rückgangs der Werbeeinnahmen – ein blühender Indu- 25 striezweig mit Milliarden Umsätzen, vielen zehntausend neuen Arbeitsplätzen, 26 die noch dazu – sieht man einmal von unseren Hirnen ab – umweltverträglich 27 sind. Es ist Europas größter Fernsehmarkt und einer der größten der Welt. 28 Dass Schwarz-Schilling gleichwohl zu diesem Thema aus dem Kreuzfeuer 29 der Kritik geraten ist, mag zunächst einmal daran liegen, dass sich in seinem 30 Leben politische Veränderungen noch vor der Abwahl Kohls ergaben, viel- 31 leicht aber auch daran, dass seine gewichtigsten Kritiker mit der von ihm ein- 32 geleiteten Entwicklung auch nicht schlecht gefahren sind. Und dazu gehört 33 der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Er steht blühender da denn je. Seine Exi- 34 stenz ist bewahrt, Bestand und Entwicklung sind gewährleistet und – was in 35 diesen Tagen besonders gilt – gegen Insolvenz gesichert; mittlerweile selbst 36 auf europäischer Ebene. Die alten Kampflinien zu den Privaten sind längst 37 passierbar geworden. Man tauscht und »klaut« nicht nur Kassetten, sondern 38 auch Mitarbeiter, Sendeformate und Sportrechte. Die spannungsreichen zehn 39 Jahre von der Mitte der 80er bis zur Mitte der 90er Jahre haben diesen Wandel 40 bewirkt. Aus der Defensive zum Erfolg könnte man das Kapitel dieser histo- 41 rischen Betrachtung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks überschreiben. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

204 Peter Schiwy

1 Schauen wir zurück. Ende der 70er Jahre befand sich der öffentlich-recht- 2 liche Rundfunk – verkürzt formuliert – im Mittelpunkt der weitgehend Ideo- 3 logie behafteten Auseinandersetzung zwischen Rechts und Links in Deutsch- 4 land. Das hatte gleich mehrere Ursachen. Eigentlich ist der öffentlich-recht- 5 liche Rundfunk zutiefst bürgerlich in seinem Anspruch, dem Guten und dem 6 Hehren zu dienen, Informationen, Bildung und Unterhaltung qualitätsbewusst 7 zu mischen, die Kultur würdig im Auge zu behalten, schlechthin dem Ge- 8 meinwohl zu dienen, integrativ zu wirken. 9 Das alles entstammt der Begriffslyrik des Bundesverfassungsgerichts, das 10 seit über vierzig Jahren zum Schutzherrn des öffentlich-rechtlichen Rundfunks 11 geworden ist. Bis dahin war er ein Nachlass der damaligen westalliierten 12 Schutzherren, der sich schnell zu Deutschlands beliebtestem Besatzungskind 13 entwickelte. Insoweit ist auch für die Nichtjuristen in diesem Zusammenhang 14 auf die sehr nachlesenswerten Erläuterungen unserer Verfassungsväter und der 15 wenigen Verfassungsmütter des Parlamentarischen Rates im Jahrbuch des öf- 16 fentlichen Rechts (Band I Neue Folge) zu verweisen, das im Übrigen vor zwei 17 Jahren aus Anlass des fünfzigsten Geburtstages unseres Grundgesetzes neu 18 aufgelegt worden ist. Der Ernst und die Leidenschaft, mit der diese Damen 19 und Herren den Artikel 5 des Grundgesetzes erörterten, um seine Formulierung 20 rangen und bei aller – gegenüber heute doch viel deutlicheren – politischen 21 Unterschiedlichkeit die Grundlagen unserer Medienfreiheit beschrieben, ist 22 tief beeindruckend. 23 Er ist natürlich geprägt von den bitteren Erfahrungen der nationalsozialisti- 24 schen Diktatur. Nur nebenbei will ich bemerken, da uns ja nachher auch die 25 DDR interessieren wird, dass die 1949 längst installierte Meinungsdiktatur der 26 Sowjets und ihrer deutschen Quislinge bei der Erörterung des Artikels 5 im 27 Parlamentarischen Rat nur eine geringe Rolle spielte. Das verwundert und gibt 28 Betätigungsfeld für Historiker. 29 Das Verfassungsgerichtsurteil von 1961 unterfütterte die von den Alliierten 30 gegründeten öffentlich-rechtlichen Anstalten mit einem juristischen Begriffs- 31 gebäude, das von da an in fortdauernder Rechtsprechung die heutige Gestalt 32 des öffentlich-rechtlichen Rundfunks manifestierte. Bei allem guten Willen, 33 der dem Verfassungsgericht nicht abzusprechen ist, hat es ein Bild vom Rund- 34 funk beschrieben, das allenfalls noch Theoretikern demokratischer Grund- 35 strukturen zur Erbauung dient. Der Kampf um Einschaltquoten, der Einsatz 36 des Scheckbuches als journalistischer Investigationshilfe sind nur schwer unter 37 die Begriffsbilder Karlsruhes vom Forum des demokratischen Für und Wider 38 zu subsumieren. Wie weit die Richter in ihren roten Roben von der Medien- 39 wirklichkeit entfernt sind, zeigt ein Blick in ihre Zitate. Die Fülle kommuni- 40 kationswissenschaftlicher Erkenntnisse über Rezipientenverhalten, über das 41 Geschehen am Medienmarkt findet kaum ein Echo. Sie sind der Vorstellungs- 42 welt der Karlsruher Nurjuristen fremd. Darum haben sie sich allenfalls tech- Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

Aus der Defensive zum Erfolg 205 nischen Entwicklungen folgend nur zu geringfügiger Weiterentwicklung ihrer 1 Rechtsprechung veranlasst gesehen. Der Markt als treibendes Element in einer 2 freien Gesellschaft ist ihnen im Bereich des Medienrechts ein weitgehend un- 3 bekanntes Wesen, die Begriffe »Käufer« und »Nachfrage« gar Fremdworte. 4 Sicher ungewollt haben sie damit im öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch die 5 Positionen genährt, die die Bemühungen, Konkurrenz zu ermöglichen, Wett- 6 bewerb zu eröffnen, in den Intendanzen einst zu Protestgeheul, Klagen und 7 Jammern Anlass gaben. Uns sind die damaligen Frontstellungen weithin be- 8 kannt. Die Privaten waren des Teufels und man kam bei manch einem öffent- 9 lich-rechtlichen Rundfunk schon in Acht und Bann, wenn man das eigene Pro- 10 gramm »Produkt« nannte. 11 Der Wandel vollzog sich parallel zu den Geschicklichkeiten, mit denen die 12 meist christdemokratisch bestimmten Landesregierungen privaten Anbietern 13 Zutritt zum Markt verschafften. In Erinnerung ist der Kampf um den NDR, 14 den die Staatsvertragskündigung von und seine Unterstüt- 15 zung durch Ernst Albrecht erst in Bedrängnis und dann in eine mehr oder min- 16 der bis heute bewahrte Reform brachte. Diese medienpolitisch heftigen Front- 17 stellungen der späteren 70er Jahre haben dann in den 80er Jahren in Schleswig- 18 Holstein und Niedersachsen zu den medienrechtlichen Neuregelungen geführt, 19 die etwa anders als in den süddeutschen Bundesländern von Anbeginn zur Aus- 20 bildung einer kraftvollen und wettbewerbsintensiven privaten Rundfunkstruk- 21 tur geführt haben. Ganz im Gegensatz zu etwa Baden-Württemberg – sonst 22 ein Vorreiter technologischer Entwicklung – das spät, also nach Späth erst die 23 verkorkste private Rundfunkstruktur gesetzlich so umformulierte, dass jetzt 24 auch dort überall wirtschaftlich lebensfähige Gruppierungen tätig werden kön- 25 nen. Baden-Württemberg hat im Übrigen die den öffentlich-rechtlichen Rund- 26 funk begünstigenden Versäumnisse der Späthschen Gesetzgebung bis heute zu 27 bezahlen. Anders als etwa Nordrhein-Westfalen ist es diesem Land trotz seiner 28 Modernität und seines Bekenntnisses zu modernen Technologien nicht gelun- 29 gen, sich zu einem markanten Medienstandort Deutschlands zu entwickeln. 30 Schließlich folgte auch Hessen. Dass es dort so lange dauerte, hat etwas mit 31 dem Gegensatz zwischen CDU und SPD zu tun, wo jetzt erst Roland Kochs 32 Kabinett einen medienrechtlichen Gleichstand herbeigeführt hat. Im Übrigen 33 ist einer der größten politischen Verhinderer des Privatfunks in Hessen heute 34 Vertreter einer Privatfunkbeteiligungsgesellschaft. So ändern sich die Zeiten 35 und schwemmen die ideologischen Standpunkte gleich mit weg. 36 Die Entwicklungsgeschichte der Regelungen, die die privaten Anbieter be- 37 günstigen, zeigt, wie lange die Entwicklung in Deutschland gedauert hat und 38 welche Zeit die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten hatten, sich darauf 39 einzurichten. 40 Diejenigen, denen Konkurrenz in’s Haus stand, die waren am schnellsten. 41 Das war einmal mit SWF 3 der Südwestfunk, dem Radio Luxemburg über die 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

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1 Grenze entgegenschallte, und das waren zum anderen der NDR, wo Gerhard 2 Stoltenberg und mehr noch Ernst Albrecht Feuer unter dem Stuhl entfachten. 3 Schnell begriffen die Verantwortlichen, dass Widerstand zwecklos ist, wo 4 geballte politische Macht Veränderungsdruck erzwang. Sie nutzten die Chan- 5 ce, die die lange gesetzgeberische Zeit des Veränderungsprozesses bot. Sie 6 reformierten, sie passten Programme an und entdeckten einen Programmdi- 7 rektor, den die Statuten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nur beschreiben, 8 ihn aber nie beim Namen nennen, den Hörer und Zuschauer. Das kann leicht 9 an Beispielen verdeutlicht werden, die heute niemand mehr nervös machen, 10 die damals zu langen und leidenschaftlichen Debatten in den öffentlich-recht- 11 lichen Häusern führten. 12 Der NDR entdeckte sehr zum Erstaunen von Ernst Albrecht, dass er nicht 13 in Hamburg, wo die Zentrale saß, sondern gerade in Niedersachsen am be- 14 liebtesten war, dass dies in dieser Form erst nach dem Kriege entstandene Land 15 verschiedener Stämme im NDR u.a. auch etwas Identitätsstiftendes fand. Die 16 Marketingfolge war logisch. Dem Landesprogramm Niedersachsen verpasste 17 man folglich den im Übrigen bis heute mit einer kurzen Unterbrechung gut 18 bewahrten Beinamen »Ihr Heimatsender«. Das ist nur ein kleines Beispiel für 19 eine Fülle von Innovationen und Renovationen des öffentlich-rechtlichen 20 Rundfunks. Er hat die Jahre des Wandels – selbstverständlich ständig über 21 die Bedrängnis des Wettbewerbs klagend und insbesondere finanzielle Res- 22 sourcen einfordernd – genutzt. Selbst wenn man den durch die Wiederverei- 23 nigung bestimmten Zugewinn an Programmen herausrechnet, hat sich die Zahl 24 der Hörfunkprogramme, die von der ARD angeboten werden, um zweistellige 25 Prozentzahlen erhöht. Alle dritten Programme des Fernsehens sind mittler- 26 weile europaweit ausgestrahlte Satellitenkanäle. Von Phönix, Kinderkanal, 27 Bayern Alpha und ähnlichen soll gar nicht die Rede sein. Längst hat es der 28 öffentlich-rechtliche Rundfunk verstanden, die großflächige Verkabelung für 29 sich zu nutzen. Die dritten Fernsehprogramme profitieren vom Einspeisungs- 30 privileg. Phönix und Kinderkanal sind ohne diesen Verbreitungsweg nicht 31 denkbar. 32 33 Was ist versäumt worden? Viel. Die Politik hat den öffentlich-rechtlichen 34 Rundfunk auch an der Stelle im Stich gelassen, an der er als ihr Gewährsträger 35 demokratische Funktionen zu erfüllen hat. Das oben kritisierte Verfassungs- 36 gericht hat uns das Begriffskonstrukt der Grundversorgung zugeschrieben. Es 37 entstammt im Übrigen der DDR-Terminologie, hat dort freilich eine andere 38 Bedeutung und ist doch auch Beispiel für erfolgreiches Begriffsmarketing in 39 Deutschland. Soweit festzustellen ist, haben 1975 die Justiziare der ARD die- 40 ses Wort der DDR-Terminologie entlehnt und für den Rundfunk umgedeutet. 41 Durch Penetrierung der Wissenschaftsliteratur haben sie genau elf Jahre ge- 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

Aus der Defensive zum Erfolg 207 braucht, bis ihre rechtsschöpferische Wortdeutung durch Übernahme in die 1 höchstrichterliche Rechtsprechung Karlsruhes Heiligung erfuhr. 2 Längst hätten die Politiker diesen Begriff konkreter ausfüllen, ihn mit einer 3 Aufgabenbestimmung und -beschreibung für den öffentlich-rechtlichen Rund- 4 funk versehen müssen. Das ist keine Forderung nach einem Programmkorsett, 5 aber das Verlangen nach einer einleuchtenden Formulierung eines Auftrags 6 an und in der Gesellschaft. Darüber ist dringlich zu diskutieren. 7 Man soll aber nicht nur die Politik kritisieren, man soll bei sich anfangen. 8 Für einen Fehler, um auch hier mit einem Beispiel zu dienen, muss der Ver- 9 zicht auf die Region angesehen werden, umso mehr, seit Deutschland wieder 10 größer geworden ist. Seitdem wir uns anschicken, immer weniger Deutsche 11 und immer mehr Europäer zu sein, gewinnt unser unmittelbares Umfeld, die 12 Region, in der wir leben, immer größere Bedeutung für uns. Das sagen uns 13 nicht nur die Meinungsforscher; es zeigt sich auch am Engagement der Bürger. 14 Wer aber ist in der Region publizistisch so verankert wie die Landesrundfunk- 15 anstalten. Von Bad Bentheim bis Stralsund, von Flensburg bis Hannoversch- 16 Münden hat z.B. der NDR Studios, Korrespondenten, Redaktionsbüros, kurz- 17 um, er hat die Region publizistisch im Griff. Wir machen zu wenig daraus, 18 und das gilt für die anderen Länder genauso. 19 Damit sind wir thematisch im Detail und wer daran geht, ist sich seiner 20 Zukunft sicher. Niemand sollte bange sein um den öffentlich-rechtlichen 21 Rundfunk. Den Wandel hat er zuerst zu verhindern versucht; dann hat er ihn 22 schnell zu nutzen verstanden. Er hat seine Marktpositionen ausgebaut und sei- 23 ne Plätze gesichert. Längst ist er wieder gehätscheltes Lieblingskind auf dem 24 Schoß der Politik. Ob schwarz oder rot, man verwöhnt ihn, eröffnet ihm neue 25 Spielwiesen, sichert sein Taschengeld und lässt ihn immer wissen, wem er die 26 guten Gaben verdankt. Und wer verstößt schon seine eigene Brut. In Deutsch- 27 land hat seit dem alliierten Kontrollrat nur der Bundesminister 28 etwas Bestehendes abgeschafft, als er das Bundesgesundheitsamt auflöste – 29 und auch das bestärkt uns immer mehr in Zuversicht –, um es allerdings durch 30 gleich drei neue Behörden zu ersetzen. 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

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1 2 3 Das Schwanken der Zeitungsverleger: 4 Zwischen Ablehnung und Engagement 5 6 Von Claus Detjen 7 8 Die Keimzelle des heutigen dualen Rundfunksystems lag in Ludwigshafen/ 9 Rhein in einer kleinen Mietwohnung in der Taubenstraße. Dort nahm vor 10 zwanzig Jahren, im Juli 1982, die Anstalt für Kabelkommunikation des Lan- 11 des Rheinland-Pfalz ihre Arbeit auf. Ihr Auftrag war es, im eng umgrenzten 12 Kabelnetzgebiet des Pilotprojekts Ludwigshafen/Vorderpfalz neue, erst- 13 mals auch von privatwirtschaftlichen Anbietern erzeugte Hörfunk- und 14 Fernsehprogramme zu ermöglichen und zu erproben. Ministerpräsident Vo- 15 gel gehörte zu den wenigen, die das damals offen aussprachen: Es geht nicht 16 mehr darum, ob es private Rundfunkveranstaltungen geben wird, sondern 17 nur noch um das Wie. Das war auch für die Zeitungen die entscheidende 18 Frage. 19 Vorausgegangen waren viele Jahre medienpolitischer Blockade der in 20 den USA längst in der Praxis eingeführten sogenannten Neuen Medien. 21 Konkret betraf die Blockade die Verbreitung von Hörfunk- und Fernseh- 22 programmen in breitbandigen Kabelnetzen und via Satellit. SPD und öf- 23 fentlich-rechtliche Rundfunkanstalten waren die Protagonisten des Ver- 24 suchs, die medienrechtlichen und medienwirtschaftlichen Folgen von tech- 25 nischen Erfindungen und Entwicklungen in der Bundesrepublik 26 Deutschland aufzuhalten. Als in Luxemburg Ende der siebziger Jahre die 27 Ausstrahlung eines RTL-Satelliten-Fernsehprogramms reifte und bei deut- 28 schen Zeitungsverlagen konkrete Vorbereitungen getroffen wurden, sich 29 daran zu beteiligen, zielte politischer Erfindergeist im Schmidt’schen 30 Kanzleramt und im Gscheidle’schen Postministerium auf die technische 31 und politische Verhinderung des Empfangs in der Bundesrepublik durch 32 einen »Westwall im Äther«. 33 Auf einer Konferenz der internationalen Vereinigung für Kommunikati- 34 onsforschung »Münchner Kreis« wurde 1980 festgestellt: »Auch auf diesem 35 Gebiete zeigt sich, dass die Technik der Politik weit voraus ist. Sie hat die 36 nationalen Grenzen überwunden. Der Versuch, der 1977 von der internatio- 37 nalen Satellitenkonferenz unternommen wurde, die Abstrahlungsgebiete 38 möglichst eng auf die nationalen Grenzen zu konzentrieren, erweist sich be- 39 reits heute als nicht erfolgreich. Deshalb werden alle Überlegungen, Parti- 40 zipation zu realisieren, den nationalen Gegebenheiten Rechnung tragen, zu- 41 gleich jedoch die europäischen Dimensionen einschließen müssen. Die me- 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

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1 dienpolitischen, die rechtlichen und die ökonomischen Probleme überlagern 2 sich national und international.«1 3 Zeitungen und Union waren nicht naturgegebene Verbündete. Auch in der 4 CDU und der CSU gab es viele Jahre lang erhebliche Vorbehalte gegen die 5 Zulassung privater Rundfunkveranstalter. Im Rückblick erscheint es als ein 6 dialektischer Prozess, dass den Unionsparteien vor dem Regierungswechsel 7 vom Herbst 1982 in der Opposition die Rolle erleichtert wurde, die internen 8 Widerstände gegen die Aufhebung des öffentlich-rechtlichen Rundfunkmono- 9 pols zu überwinden und die Forderung nach Partizipation privatwirtschaftli- 10 cher Unternehmen an der Nutzung der neuen Kommunikationstechniken zu- 11 nächst politisch aufzugreifen und dann nach dem Amtsantritt des Kabinetts 12 Kohl zu erfüllen. Mit dem Regierungswechsel 1982 lösten sich die politisch- 13 administrativen Fesseln. Bundespostminister Schwarz-Schilling machte aus 14 dem Verhinderungsapparat Bundespost einen Motor technischer und wirt- 15 schaftlicher Innovation. 16 Populär waren solche Positionen damals in der allgemeinen Öffentlichkeit 17 nicht. In den öffentlich-rechtlichen Programmen und auch in den meisten Zei- 18 tungen dominierten die Gegner der technischen und medienwirtschaftlichen 19 Innovation das Meinungsbild. In der Mehrzahl der Zeitungsredaktionen und 20 in den Gremien des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger überwogen 21 eher die skeptischen Stimmen gegen eine grundsätzliche Aufhebung der ge- 22 wohnten Grenzen zwischen öffentlich-rechtlichem Rundfunk und privatwirt- 23 schaftlicher Presse. Das zunächst auf terrestrische Kabel beschränkte Pilot- 24 projekt Ludwigshafen erhielt, weil es Satellitenprogramme lizenzieren konnte, 25 nach dem Regierungswechsel 1982 eine neue Dimension: Unter Beteiligung 26 der Aktuell Pressefernsehen GmbH, einer Gründung des Bundesverbands 27 Deutscher Zeitungsverleger, namhafter Einzelverlage und der von Genossen- 28 schaftsorganisationen aus dem DG-Bank-Bereich getragenen Programmge- 29 sellschaft für Kabel- und Satellitenrundfunk (PKS), entstand im Ludwigsha- 30 fener Projekt das erste deutsche Satellitenfernsehprogramm, das später den Na- 31 men SAT 1 erhielt. Damit wird zugleich der Übergang der Aktivitäten bei der 32 Nutzung der neuen Kommunikationssysteme von der verbandlich organisier- 33 ten Gemeinschaft auf die Ebene der Unternehmen markiert. 34 Der Rückblick auf die Haltung der Zeitungsverlage zu den gesellschaftli- 35 chen und wirtschaftlichen Herausforderungen des technisch dynamisierten 36 Medienwandels der Ära Kohl muss auf die vorausgegangenen Erfahrungen, 37 zum Beispiel beim Streit um die Nutzung von Videotext und Bildschirmtext 38 in den siebziger Jahren, bei der Vorgeschichte des ZDF im sogenannten Ade- 39 nauer-Fernsehen oder weiter zurück bei der Einführung des Rundfunks in 40 41 1 Claus DETJEN, Modelle der Partizipation, in: Kommunikation über Satelliten, hg. von 42 Wolfgang KAISER/Ulrich LOHMAR, Berlin u.a. 1981. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

Zwischen Ablehnung und Engagement 211

Deutschland hinweisen, ohne dass hier im einzelnen darauf eingegangen wer- 1 den soll. Eine visionäre Funktion hatte dabei immer Axel Cäsar Springer, der 2 unablässig vor der Zurückdrängung der Marktspielräume der Zeitungen ange- 3 sichts der wachsenden Anziehungskraft der elektronischen Medien warnte. 4 Nicht weniger einflussreich war der Verleger Heinrich G. Merkel, der schon 5 1954 in seinem Blatt, den Nürnberger Nachrichten, schrieb: » Die Entwicklung 6 des Fernsehens und des Fernhörens hat die Bild und Nachrichtenübermittlung 7 derart revolutioniert, dass die Presse einer Auseinandersetzung mit der ent- 8 standenen Lage allmählich nicht mehr ausweichen kann.«2 9 Die Einsicht, dass nichts mehr bleibt, wie es ist, setzte sich durch. Aber die 10 Konsequenzen daraus gingen bei den Zeitungen auseinander. Die einen glaub- 11 ten eher an ein Modell der Eindämmung unerwünschter wirtschaftlicher Fol- 12 gen durch ein Bündnis mit den Blockadekräften und den öffentlich-rechtlichen 13 Rundfunkanstalten, die anderen drängten auf ungehinderte Öffnung des Rund- 14 funkmarkts für die Zeitungen. Die Ambivalenz im Lager der Zeitungsverlage 15 verlief in den gleichen Mustern wie die Diskussion in der Gesellschaft: Vor- 16 behalte aus Angst vor den unkalkulierbaren Folgen des Wandels auf der einen 17 Seite, Offenheit für technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Innova- 18 tion auf der anderen. Dieser Zwiespalt blieb ein zentrales Problem der Medi- 19 enentwicklung in der Ära des CDU-Vorsitzenden und des Bundeskanzlers Hel- 20 mut Kohl. 21 Der Wind des Fortschritts blies den Zeitungsverlagen in den Anfangsjahren 22 der Auseinandersetzung um Kabel und Satelliten auch noch aus anderer Rich- 23 tung ins Gesicht. Die Zeitungen in der Bundesrepublik Deutschland waren 24 noch ganz darauf konzentriert, sich von der gewohnten Technik Gutenbergs 25 zu verabschieden und in ihrer Arbeitsmethodik elektronische Medien zu wer- 26 den – ein Prozess, der von heftigen Tarifkämpfen einschließlich ungewohnter 27 Streikperioden begleitet war. Die Zeitungsverlage waren in der Auseinander- 28 setzung mit technischer Innovation immer Akteure und Getriebene in gleichen 29 Maßen. Ablehnung und Engagement führten zu internen und externen Span- 30 nungen – innerhalb der Zeitungsverlegerverbände in ihrer föderalen Struktur, 31 zwischen kleinen und großen Verlagen, in der publizistischen Haltung zwi- 32 schen dem Gebot unvoreingenommener journalistischer Pflicht und der Not- 33 wendigkeit, auch die eigenen Interessen öffentlich zu vertreten. 34 Damit hatte man Erfahrungen in einem Streit gesammelt, der heute wie eine 35 Polit-Comedy erscheint. Als 1977 die Zeitungen auf der Funkausstellung in 36 Berlin Videotext nutzen wollten, wurde ihnen das vom Senat zunächst unter- 37 sagt. Es bedurfte eines Beschlusses der Ministerpräsidenten, um die Ausnah- 38 megenehmigung für eine Rundfunkveranstaltung in einem geschlossenen 39 40 2 Heinrich G. MERKEL, Anmerkungen zum Rundfunkwesen – eine Auswahl aus 12 Jahren 41 1952 – 1964, Bd. I, Nürnberg 1965, S. 17. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

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1 Raum zu erteilen. Es dauerte dann bis in die ersten achtziger Jahre, bis ein 2 Staatsvertrag über Videotext zustande kam, mit einem Zugangsschlitz für Zei- 3 tungen. Die öffentlichen Aufregungen um diese heutige Nebensächlichkeit 4 wurden leidenschaftlicher geführt als Auseinandersetzungen um die Renten- 5 sicherheit.3 6 Die ersten breit angelegten Bemühungen der Zeitungen um eine Beteiligung 7 an einem neuen Massenmedium waren die Reaktion auf die Einführung der 8 Rundfunkwerbung. Sie führte 1958 in die Gründung der Pressevereinigung für 9 neue Publikationsmittel e. V. und der Freies Fernsehen GmbH; sie galt als aus- 10 sichtsreichster Bewerber für die Veranstaltung des zweiten deutschen Fernseh- 11 programms, scheiterte dann aber in der Auseinandersetzung um das sogenannte 12 Adenauer-Fernsehen. Auch die noch früheren Reaktionen, als zum ersten Mal 13 die gewohnte Position der Zeitung als wirtschaftlich und publizistisch tonan- 14 gebendes Medium Konkurrenz erhielt, waren defensiv. Dafür ist die Aussage 15 typisch: »Die Tagespresse wird sich jedenfalls mit aller Gewalt dagegen weh- 16 ren, dass auf ihrem Gebiet, für das sie allein zuständig und das sie auch allein 17 zu beherrschen imstande ist, sich mehr und mehr der Rundfunk einnistet.« 18 Das erklärte 1924 das Verbandsorgan der Zeitungsverleger. Die damalige 19 Einschätzung des unbekannten Autors, dass nämlich politische und wirtschaft- 20 liche Nachrichten im Rundfunk nur ein Notbehelf sein könnten, erwies sich 21 als ein folgenschwerer Irrtum, ebenso wie die Voraussage, man werde es 22 »wahrscheinlich schon in sehr kurzer Zeit miterleben, dass die Kaufmann- 23 schaft einsieht, dass die Reklamemöglichkeiten, die der Rundfunk bietet, äu- 24 ßerst beschränkt sind und bleiben müssen«. So kamen die Zeitungsverleger 25 damals zu der gravierendsten Fehleinschätzung: »Ein wirklicher Wettbewerb 26 zwischen Zeitungen und Rundfunk kann sich auf diesem Gebiete überhaupt 27 nicht entwickeln.« Diese Kurzsichtigkeit geriet in Erinnerung, als die Medi- 28 enpolitik der CDU das Ende des öffentlich-rechtlichen Rundfunkmonopols 29 einläutete. 30 Zeitungen geben sich publizistisch gerne fortschrittlich, scheuen aber, wenn 31 sie selbst davon erfasst werden, den Fortschritt oder das, was sich dafür aus- 32 gibt, wie gute Winzer die Plastikflasche. 33 Das führte in den siebziger Jahren bis in die achtziger zu ungewohnten poli- 34 tischen Konstellationen. Aus politischen Kontrahenten wurden potentielle Ver- 35 bündete, von Verbündeten ging Gefahr aus. Ersteres trifft für das Verhältnis 36 der Verlage zur SPD zu, die in presserechtlichen Auseinandersetzungen Geg- 37 ner, in der Abwehr unerwünschten Wettbewerbs potentieller Verbündeter war.4 38 39 40 3 Claus DETJEN, Die Auseinandersetzung um die Bildschirmzeitung, in: Publizistik aus Profession – Festschrift für Johannes Binkowski, Düsseldorf 1978. 41 4 Vgl. Karl H. PRUYS/Volker SCHULZE, Macht und Meinung – Aspekte der SPD-Medi- 42 enpolitik, Köln 1975. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

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Letzteres gilt für die CDU, die im Presserecht die Zeitungspositionen unter- 1 stützte, aber dann die Zeitungen ungewohntem, medienwirtschaftlichem Wett- 2 bewerb aussetzte. Vor dem Wechsel des Jahrzehnts waren gerade die heftigen 3 Auseinandersetzungen um die sogenannte innere Pressefreiheit beendet. Die 4 SPD wollte, assistiert von den Gewerkschaften, die publizistischen und wirt- 5 schaftlichen Bestimmungsrechte der Verleger beschränken und den Redakteu- 6 ren zu Lasten der Verleger weitgehende Selbstbestimmungsrechte in redaktio- 7 nellen Angelegenheiten einräumen. Die führenden Verleger und der Bundes- 8 verband Deutscher Zeitungsverleger stemmten sich mit ihrer Lobbyenergie und 9 mit Gutachten kraftvoll dagegen – und hatten damit Erfolg. Die Unionsparteien 10 und die unionsgeführten Länder standen auf der Verlegerseite – gegen einen 11 Trend, der gesellschaftspolitisch als fortschrittlich galt. 12 Im Rückblick aus heutiger Sicht wird noch deutlicher, als es schon damals 13 erkennbar war, dass neben der technischen Innovation durch Breitbandkabel 14 und Satelliten in der Ära Kohl die zweite tiefgreifende Veränderung in der 15 Medienindustrie nicht minder wichtig war: die schon oben erwähnte Einfüh- 16 rung der elektronischen Produktionssysteme in allen Printmedien – gegen den 17 heftigsten Widerstand der damaligen Industriegewerkschaft Medien. Ohne 18 diese Rationalisierung der Zeitungsherstellung durch Elektronik wären Zei- 19 tungen heute wirtschaftlich nicht mehr lebensfähig. Sie wären auch ohne Chan- 20 ce geblieben, sich in den heutigen Online-Medien des Internets wirtschaftlich 21 als Medienunternehmen zu betätigen. 22 In den USA hatten die Verantwortlichen der Zeitungsverlage in den siebziger 23 und frühen achtziger Jahren auf ihren Erkundungstouren von den Kollegen er- 24 fahren, welche Folgen die Expansion der elektronischen Medien vor allem in 25 den lokalen Märkten hatte: Rückgang der Auflagen, starke Einbrüche im An- 26 zeigengeschäft der Zeitungen, Zersplitterung der Zielgruppen, Kapitalbedarf für 27 Engagements in Radio und Fernsehen, Konzentrationsschübe in den Verlags- 28 strukturen. Die Verlage zogen daraus nach langen internen Diskussionen die 29 Konsequenz, die über ihre Verbände in der Forderung an die Politik umgesetzt 30 wurde: Wenn neue Techniken für neue Radio-, Fernseh- und Textangebote frei- 31 gegeben werden, dann müssen die Zeitungen daran teilnehmen können. 32 Offen blieb dabei zunächst, unter welchen rechtlichen Voraussetzungen. 33 Denn vor der Zustimmung der Verlegerverbände zur Einführung des privaten 34 Rundfunks stand die Versuchung, dass Wunschdenken in Erfüllung geht. Die 35 Verführung ging von der sozialdemokratischen Blockade der Nutzung von Ka- 36 bel- und Satellitentechniken aus. Eine Koalition mit dem Ziel, das Uner- 37 wünschte zu verhindern, bot sich an. Die SPD, die im Ringen um die soge- 38 nannte innere Pressefreiheit wenige Jahre zuvor noch Gegner war, hätte jetzt 39 ein Verbündeter im Versuch werden können, die bestehenden Märkte gegen 40 neue Konkurrenz abzuschotten. Insbesondere für die kleineren und mittleren 41 Verlage war das eine attraktive Verlockung; sie verband sich mit der Vorstel- 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

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1 lung, dass politische Protektion vor neuer elektronischer Konkurrenz indirekt 2 auch Schutz vor wirtschaftlicher Expansion der Großverlage einschließt. Die 3 Verschärfung des intramediären Wettbewerbs fürchteten die Kleinverlage 4 mehr als eine Ausweitung der Fernsehangebote. 5 Protektion offerierten auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. 6 Das war in besonderem Maße in den süddeutschen Ländern mit ihren zahl- 7 reichen kleinen und mittleren Zeitungen Anlass zu intensiven Kontakten, bei 8 denen Kooperationsmöglichkeiten ausgelotet wurden. Sie versprachen eine 9 Zurückhaltung der öffentlich-rechtlichen Anstalten in den lokalen und regio- 10 nalen Medienmärkten, Verzicht auf Ausdehnung der Werbezeiten und Betei- 11 ligung der Zeitungen bei neuen Programmen unter der rechtlichen Verantwor- 12 tung der Intendanten. Unter dem Intendantenhut erwarteten die Befürworter 13 der Kooperation Schutz vor dem wachsenden Druck von Wirtschaftsverbän- 14 den, Technikunternehmen und der immer deutlicher werdenden Absicht der 15 Unionsparteien, gegen den Widerstand der SPD und der Gewerkschaften die 16 neuen technischen Entwicklungen von der Kette zu lassen. 17 Diese Modelle mündeten in heftige Grundsatzdiskussionen in den Landes- 18 verbänden und im Bundesverband der Zeitungsverleger. Die Frage hieß: Kön- 19 nen es wirtschaftlich und publizistisch freie Zeitungsverlage mit ihrem Selbst- 20 verständnis und ihrem Verständnis des Artikels 5 des Grundgesetzes verein- 21 baren, ihren Anspruch auf unternehmerischen Zugang zu Hörfunk, Fernsehen 22 und anderen neuen elektronischen Betätigungsfeldern einem öffentlich-recht- 23 lichen Vorrang zu unterwerfen? Fast in jedem Land wurden Kooperationsmo- 24 delle zwischen Zeitungen und Rundfunkanstalten mehr oder weniger deutlich 25 ausgeformt, unbeschadet vom Anlaufen der Kabelpilotprojekte. Eine einheit- 26 liche Linie auf Bundesebene war für den Bundesverband kaum mehr möglich, 27 mit Ausnahme der Entscheidung für eine gemeinschaftliche Beteiligung der 28 Zeitungsverlage am Pilotprojekt Ludwigshafen. 29 Für dieses verbandsgestützte Engagement in Rheinland-Pfalz, das der 30 »Neue Medien GmbH« des Bundesverbands übertragen wurde, waren vier 31 Faktoren ausschlaggebend: 32 Erstens: Nur das Land Rheinland-Pfalz gab durch die Politik seines Minis- 33 terpräsidenten Dr. Bernhard Vogel den Zeitungen eine Möglichkeit, unter ei- 34 gener rechtlicher Verantwortung Hörfunk und Fernsehen sowie Kabeltextpro- 35 gramme zu veranstalten. Diese Möglichkeit wollte aus ordnungspolitischen 36 Gründen niemand im Verband ungenutzt verstreichen lassen. 37 Zweitens: Die Gespräche mit ARD und ZDF über ein Kooperationsmodell 38 für ein deutsches Satellitenfernsehprogramm waren an der Ablehnung der öf- 39 fentlich-rechtlichen Anstalten gescheitert. Das Modell sah vor, nach dem Vor- 40 bild der beim Südwestfunk von einem privatwirtschaftlichen Partner prakti- 41 zierten Werbeprogramme den Verlagen eigenverantwortete Programmplätze 42 einzuräumen. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

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Drittens: Die Verhandlungen mit RTL über eine gemeinsame Nutzung des 1 luxemburgischen Fernsehsatelliten platzten an einer politischen Intervention 2 der Regierung des Bundeskanzlers Helmut Schmidt beim französischen Prä- 3 sidenten Giscard d’Estaing. Über den französischen Einfluss bei den Gesell- 4 schaftern von RTL wurde das Projekt gestoppt. 5 Viertens: Die Erfahrungen in den USA, dem Vereinigten Königreich und 6 in den Verhandlungen mit RTL führten zu der Einsicht, dass die Nutzung der 7 Kabel- und Satellitentechnik sowie die Erschließung neuer terrestrischer Fre- 8 quenzen für Hörfunk und Fernsehen nicht zu verhindern ist, auch nicht durch 9 ein Abwehrbündnis mit der SPD und den öffentlich-rechtlichen Rundfunkan- 10 stalten. 11 Die Aufhebung der Technikblockade setzte die zuvor gebremsten Energien 12 der Großverlage frei. Sie hatten, mit Ausnahme des Axel-Springer-Verlags, 13 die Pilotprojekte mit herablassender Geringschätzung behandelt, legten dann 14 aber einen Schnellstart nach Ludwigshafen ein, als dort die erste deutsche Sa- 15 tellitenfrequenz ausgeschrieben wurde. Bertelsmann klagte gegen den Lizenz- 16 geber, als das größte deutsche Medienhaus nicht in das Ludwigshafener Sa- 17 telliten-Konsortium aufgenommen wurde. 18 Am Beispiel SAT 1 werden die Grenzen des Leistungsvermögens der Zei- 19 tungen deutlich. Medienpolitisch war eine starke Beteiligung der Zeitungen 20 am ersten privaten Satellitenprogramm der Bundesrepublik Deutschland er- 21 wünscht. Für ein konsequent Zuschauer orientiertes Programm fehlten ihnen 22 jedoch die finanziellen und die programmlichen Ressourcen. Sie konzentrier- 23 ten ihren Beitrag auf die Nachrichtensendungen der Aktuell Pressefernsehen 24 GmbH – konsequent und ehrenvoll teuer im Bestreben um publizistische Leis- 25 tung und Qualität, nicht entscheidend jedoch für die Herrschaft über den Erfolg 26 im Markt. Der verlangte nach Stoffen und medialen Erlebnissen, mit denen 27 Zeitungsverlage keine Erfahrungen hatten. Das Kirch-Angebot, den Zeitungen 28 in der Startphase sozusagen für einen symbolischen Preis Filme und Serien 29 zu liefern, war in den Verbandsgremien abgelehnt worden. 30 Mit den fließenden Übergängen der Pilotprojekte in eine – nach Länderge- 31 setzgebung unterschiedliche – Öffnung der Märkte von Hörfunk und Fernse- 32 hen für neue Programme von privaten und öffentlich-rechtlichen Veranstaltern 33 setzte sich Mitte der achtziger Jahre der unternehmerische Vorrang gegen den 34 verbandlich gesteuerten Einfluss durch. Dabei konzentrierten sich die Zei- 35 tungsverlage – die überregionalen Blätter eingeschlossen – auf ihre lokale und 36 regionale Kernkompetenz. Die meisten zogen sich aus den überregionalen Pro- 37 grammen zurück. Um so mehr engagierten sie sich, so weit es medienrechtlich 38 möglich war, auf lokale und regionale Hörfunk- und Fernsehsender. 39 Die Achtziger waren für die Zeitungen das Jahrzehnt der Transformation 40 vom Verlag, der in der Tradition der Gutenberg-Nachfolge steht, zum Medi- 41 enunternehmen in hypertrophen Märkten. Das Lehrgeld für die Erfahrung, dass 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

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1 ein erfolgreicher Wechsel von einem Medium ins andere unternehmerische, 2 wirtschaftliche und inhaltliche Kompetenzen verlangt, die nicht unbedingt die 3 gewohnten sind, war teuer. Wer heute als diversifiziertes Medienunternehmen, 4 das aus einem Zeitungsverlag hervorgegangen ist, Gewinne in den elektro- 5 nischen Medienmärkten macht, hat seinen Erfolg in der Regel auf den Humus 6 von Irrtümern und Fehlern anderer und eigener Herkunft gepflanzt. In den 7 achtziger Jahren konnten die Zeitungen lernen, dass sie viel mehr dem gesell- 8 schaftlichen Wandel unterliegen als dass sie ihn beeinflussen oder gar steuern 9 können. Es gab viel mehr Erfahrung mit Medienohnmacht als mit Medien- 10 macht. 11 Was Professor Elisabeth Noelle-Neumann im Abschlussbericht für das Pi- 12 lotprojekt Ludwigshafen festgestellt hatte, hat sich bis heute fortgesetzt: Immer 13 mehr Menschen glauben, ohne Zeitung auskommen zu können. Die Auflagen 14 sinken. Das spricht nicht gegen die Zeitungen. Denn die haben in der Regel 15 ihre Anstrengungen um Qualität in Inhalt und Form in den neunziger Jahren 16 verstärkt, ebenso ihr Marketing. 17 Vielleicht war ja doch etwas mehr als purer Gruppenegoismus in der Am- 18 bivalenz, mit der sich die Zeitungen dem Fortschritt der achtziger Jahre öff- 19 neten. In ihrem Wesen sind Zeitungen konservativ, weil sie nicht auf Neue- 20 rung, sondern auf der Erfahrung der Kulturtechnik Lesen beruhen. Sie wissen, 21 dass sie nie mehr werden, was sie einmal waren: Synonym für Neuigkeit. Die 22 Zukunft, in der sie vielleicht Synonym für Beständigkeit des Wertvollen sind, 23 liegt noch vor ihnen. 24 25 P.S: Ein Rückblick auf die Ära Kohl wäre unvollständig, wenn nicht auch ein 26 gravierendes medienpolitisches Defizit registriert würde. Es wurde offenkun- 27 dig, als 1989 die Revolution die SED stürzte und die Zeitungen der DDR zu- 28 nächst der ostdeutschen, dann der gesamtdeutschen Treuhandanstalt übereig- 29 net wurden. Ein Konzept für die Neuordnung der Printmedien in der DDR, 30 dann in den neuen Ländern, war nirgendwo vorbereitet. Die Treuhandanstalt 31 verkaufte Zeitungen wie andere Wirtschaftsgüter, zum Beispiel Möbelfabriken 32 oder Baustofflager. Die westdeutschen Käufer mussten sich verpflichten, das 33 Personal der ehemaligen SED-Bezirkszeitungen weiterzubeschäftigen. Zu 34 Recht wird heute kritisch nach den gesellschaftlichen und politischen Folgen 35 gefragt. Zur Antwort gehört auch: In der Politik hat dazu keine der demokra- 36 tischen Parteien eine Alternative rechtzeitig aufgezeigt und verwirklicht. 37 38 39 40 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

1 2 3 Die Wende auf dem Medienmarkt 4 5 Von Beate Schneider 6 7 Wenn Ironie gestattet ist, stellen sich der Fall der Mauer und seine Folgen für 8 die Medien als imponierende Erfolgsgeschichte dar. Dies gilt gleichermaßen 9 für den privaten und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk wie für die Presse, 10 obwohl diese Bereiche mit ganz unterschiedlichem medienpolitischem Elan 11 geregelt und geordnet wurden. 12 Deutlich wird das vor allem im öffentlich-rechtlichen Bereich. Auf kaum 13 einem anderen Gebiet ähneln sich die Systeme in Ost und West gleichermaßen. 14 Nahtlos und glatt geriet der Übergang in der Nacht zum 1. Januar 1992. Der 15 neu gegründete Mitteldeutsche Rundfunk ist ein moderner, leistungsstarker 16 Sender, der zwar wegen exzessiver marktwirtschaftlicher Experimente immer 17 mal ins Gerede kommt, andererseits mit seinem 3. Fernsehprogramm die höch- 18 ste Zuschauerbindung aller dritten Programme in Deutschland erreicht. Auch 19 Mecklenburg-Vorpommern hat sich mit dem Norddeutschen Rundfunk einen 20 starken Partner gesucht und ist kein Kostgänger im strapazierten System des 21 Finanzausgleichs geworden. Selbst die Neuordnung von ORB und SFB ist in- 22 zwischen auf den Weg gebracht. 23 Die neuen Bundesländer zeichnen sich auch durch eine reiche private Rund- 24 funklandschaft aus. Die gleichen Akteure wie im Westen betreiben unter ganz 25 ähnlichen Bedingungen die Radiostationen. Beim privaten Fernsehen aller- 26 dings sind die neuen Bundesländer nur ein erweitertes Sendegebiet. Bis auf 27 lokale Fenster wurde kein Sender lizenziert. Die privaten TV-Programme – 28 besonders RTL und Pro 7 – sind hier jedoch höchst erfolgreich und beliebt. 29 Der Pressemarkt kann mit eindrucksvollen Zahlen aufwarten: Geradezu als 30 Musterbeispiel verantwortungsvollen Investments haben sich nach dem Fall 31 der Mauer etwa 60 vorwiegend westdeutsche Verlage dort engagiert und mehr 32 als 80 meist lokale Zeitungen auf den Markt gebracht, Druckereien gebaut, 1 33 Arbeitsplätze geschaffen. Allein mit der Veräußerung der ehemaligen SED- 34 35 36 1 Überblicke über die Entwicklung auf dem Pressemarkt nach der Wende geben: Beate SCHNEIDER, Strukturen, Anpassungsprobleme und Entwicklungschancen der Presse auf dem 37 Gebiet der neuen Bundesländer (einschließlich des Gebiets des früheren Berlin-Ost), For- 38 schungsbericht im Auftrag des Bundesministers des Innern, 4 Bde. Hannover/Leipzig 1992; 39 Dieter STÜRZEBECHER, Publizistische Einheit? Marktstrukturen und Wettbewerbsverhältnisse 40 der Tagespresse in den neuen Ländern seit der Wende. Univ. Diss., Hannover 1997; Beate SCHNEIDER/Dieter STÜRZEBECHER, Wenn das Blatt sich wendet. Die Tagespresse in den neuen 41 Bundesländern, Baden-Baden 1998. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

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1 Zeitungen hat die Treuhand den Rekordbetrag von 1,2 Mrd. DM eingespielt. 2 Sie konnte unter einer Vielzahl von Bewerbern die neuen Eigentümer aussu- 3 chen. Dabei erhielten erstmals westdeutsche Zeitschriftenverleger die Mög- 4 lichkeit zu diversifizieren und sich als Zeitungsverlage zu etablieren. Gruner 5 + Jahr – bisher nur glückloser Herausgeber der »Hamburger Morgenpost« – 6 wurde durch den Erwerb in Berlin und in Dresden eines der größten deutschen 7 Zeitungshäuser, auch Burda und Bauer sind inzwischen respektable Zeitungs- 8 verleger. Auf dem Gebiet des Zeitungswesens haben sich die neuen Bundes- 9 länder hervorragend platziert: Unter den zehn auflagenstärksten Zeitungen 10 Deutschlands rangieren 6 Blätter der ehemaligen DDR.2 11 Zugegeben: Der Zeitschriftenmarkt in den neuen Bundesländern ist kein 12 Ruhmesblatt. Die wenigen ehemaligen DDR-Titel konnten auch erfolgsver- 13 wöhnte westdeutsche Verlage nur ausnahmsweise am Leben erhalten. Auf der 14 anderen Seite konnten die Neubürger mit den so zeitgeistnahen, verhältnis- 15 mäßig teuren, postmodernen Glanztiteln der alten BRD wenig anfangen. Im- 16 merhin, das Segment Heimwerker und Ratgeber läuft einigermaßen, und da 17 gibt es ja auch noch die »Superillu«.3 18 Richtet man schließlich den Blick weiter nach Osten, ist der Erfolg gar gren- 19 zenlos. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme und dem 20 Ende des Kalten Krieges haben deutsche Medienunternehmen neue Märkte 21 erschlossen und ihre Chance ergriffen: So wurde der Regionalverlag der »Pas- 22 sauer Neuen Presse« zum wahrscheinlich größten Zeitungsverleger in Polen, 23 der WAZ-Verlag dominiert den Pressemarkt in Bulgarien, vertreibt Zeitungen 24 und Zeitschriften auch in Ungarn, Rumänien, Kroatien. Bauer gibt mehr als 25 15 Zeitschriftentitel in Polen und eine Hand voll in Ungarn heraus. Holtzbrinck 26 ist in Slowenien und Tschechien aktiv, Springer in Rumänien, Polen, 27 Tschechien und in Ungarn mit acht regionalen Zeitungen und vielen 28 Zeitschriften auf dem Markt. Auch Gruner + Jahr betätigt sich erfolgreich in 29 Ungarn, Rumänien, Tschechien.4 Mit diesen Engagements konnten die Ver- 30 lage also dort expandieren, wo sie die deutsche Fusionskontrolle nicht behin- 31 dert und die Marktzutrittsbarrieren nicht unüberwindbar sind. 32 Ähnliches beobachten wir im Rundfunkbereich. Das internationale Beteili- 33 gungsunternehmen Eurocast ist z. B. an Radiostationen in Polen und Tsche- 34 35 36 2 Walter J. SCHÜTZ, Zur Entwicklung des Zeitungsmarktes in den neuen Ländern 1989– 37 1992, in: Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger e.V. (Hg.): Zeitungen ´92, Bonn 1992, 38 S. 270–296. 39 3 Siehe dazu die umfangreiche Dokumentation von Michael HALLER/Johannes LUDWIG/ 40 Hartmut WESSLER, Entwicklungschancen und strukturelle Probleme der Zeitschriftenpresse in den neuen Bundesländern, Forschungsbericht für den Bundesminister des Innern, Leipzig 1994. 41 4 Horst RÖPER, Formation deutscher Medienmultis 1999/2000. Entwicklungen und Strate- 42 gien der größten deutschen Medienunternehmen, in: Media Perspektiven, Nr. 1/2001, S. 2–30. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

Die Wende auf dem Medienmarkt 219 chien beteiligt, RTL mit Sendern und Beteiligungen überall in Osteuropa, wo 1 ausländische Unternehmen aktiv werden dürfen. 2 Und doch feiert niemand diese Erfolgsgeschichte der Medien nach der Wen- 3 de in der DDR. Ein in Deutschland schon damals eher zurückhaltendes Inter- 4 esse bestand noch in den ersten Nachwende-Jahren. Etwa ab Mitte der 90er 5 reißt es dann schlagartig ab. Selten ausdrücklich thematisiert und benannt, äu- 6 ßert sich – ganz gegen den Trend dieser Zahlen – ein eher diffuses Unbehagen, 7 vor allem dann, wenn die PDS wieder Wahlerfolge in den neuen Ländern fei- 8 ert. Dann wird – oft von gegensätzlichen Positionen aus – über die Medien 9 und deren Einfluss spekuliert. 10 Die Schriftstellerin Monika Maron hat zum 10. Jahrestag der Wiederverei- 11 nigung den Medien die Schuld dafür zugeschoben, dass die Mauer in den 12 Köpfen der Menschen fortbestehe: Die (westdeutsche) Presse zeichne ein dis- 13 kriminierendes Bild vom larmoyanten, dumpfen, rechtsradikalen und 14 Demokratie unfähigen Ossi.5 Die Schuld liege im Osten, konstatiert dagegen 15 Elisabeth Noelle-Neumann: Dass sich Ostdeutschland in zahlreichen Punkten 16 bis heute nicht aus der Indoktrination der DDR-Zeit gelöst habe, liege daran, 17 dass ein gesinnungsfestes Mediensystem auch nach der Wende zu einem 18 großen Teil erhalten geblieben sei.6 19 Wissenschaftliche Untersuchungen zur Medienberichterstattung7 in den 20 neuen Bundesländern liegen längst vor und können die Diskussion versachli- 21 chen. Die Ergebnisse der Presseanalysen bestätigen einen engen Zusammen- 22 hang von Berichterstattung und den Strukturen des ostdeutschen Mediensy- 23 stems, das durch medienpolitische Entscheidungen bzw. Enthaltsamkeit ge- 24 formt wurde und verantwortet werden muss. 25 Und tatsächlich ist das Mediensystem in den neuen Bundesländern bis heute 26 maßgeblich durch strukturelle Faktoren bei der Neuorganisation bestimmt. 27 Hierbei gaben – spätestens mit dem Tag der Wiedervereinigung – zwei durch 28 29

5 Monika MARON, Unüberwindlich? Die Mauer in den Köpfen. Rede anlässlich der Ver- 30 leihung des Journalistenpreises der deutschen Zeitungen – Theodor-Wolff-Preis – am 31 16.09.1999 in Leipzig. Unveröffentlichtes Redemanuskript. 32 6 Elisabeth NOELLE-NEUMANN, Die Deutschen haben die Probe als Nation bestanden. 33 Die Wiedervereinigung ist aber noch nicht abgeschlossen, in: FAZ vom 27.09.2000. 7 Untersuchungen zur Berichterstattung von Zeitungen in den neuen Bundesländern liegen 34 vor von: Winfried SCHULZ, Den roten Federn auf der Spur. Ein erster Bericht über eine ver- 35 gleichende Inhaltsanalyse ost- und westdeutscher Tageszeitungen, in: Beate SCHNEIDER/Kurt 36 REUMANN/Peter SCHIWY, Publizistik. Festschrift für Walter J. Schütz, Konstanz 1995, S. 287– 299. Helmut SCHERER/Lutz M. HAGEN/Theodor ZIPFEL/Harald BERENS, Die Darstellung von 37 Politik in ost- und westdeutschen Tageszeitungen, in: Publizistik, 42 (1997), S. 413–438; Beate 38 SCHNEIDER/Wiebke MÖHRING/Dieter STÜRZEBECHER, Lokalzeitungen in Ostdeutschland – 39 Strukturen, Publizistische Leistung und Leserschaft, in: Media Perspektiven, Nr. 7/1997, S. 378– 40 390; Beate SCHNEIDER/Dieter STÜRZEBECHER/Wiebke MÖHRING, Ortsbestimmung. Lokaljour- nalismus in den neuen Ländern, Konstanz 2000; Wiebke MÖHRING, Die Lokalberichterstattung 41 in den neuen Bundesländern. Orientierung im gesellschaftlichen Wandel, München 2001. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

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1 staatliche Akte berufene Institutionen den Ausschlag: Die Treuhandanstalt, zu- 2 ständig für die Privatisierung der vormals übermächtigen SED-Presse, und die 3 so genannte »Einrichtung« für die »Abwicklung« des ehemaligen DDR-Rund- 4 funks. Beiden Institutionen ist in der Folgezeit Fantasielosigkeit, mangelnde 5 Sensibilität, parteipolitische Schacherei und Versagen vorgeworfen worden. 6 Unerwünschte Nebenwirkungen durch den Rückgriff auf »medienrechtliche 7 Stereotypen« wurden befürchtet, langfristige »mentale Verwerfungen« vor- 8 hergesagt. Der Verzicht auf Innovationen bei der Medienentwicklung in den 9 neuen Ländern könne sich eines Tages als »historischer Fehler« erweisen.8 10 Eine Bestandsaufnahme bestätigt die negativen Folgen: Im Rundfunk kam 11 es zu einer strikten Angleichung der Systeme. Die »Einrichtung« unter ihrem 12 »Rundfunkbeauftragten« Rudolf Mühlfenzl agierte als Liquidationsgesell- 13 schaft zur Auflösung des DDR-Hörfunks und -Fernsehens und musste dabei 14 nach politischen Vorgaben der Länder handeln. Kennzeichnend dafür ist ei- 15 nerseits die »Abwicklung« des staatlich-zentralistischen Systems in seinen bis 16 dahin bestehenden Strukturen, Sendeanstalten und Programmangeboten und die 17 Strukturierung eines neuen Systems. Im öffentlich-rechtlichen als auch im pri- 18 vaten Sektor wurde dabei das bundesrepublikanische Modell übertragen. 19 Dieses duale System hatte sich zwar in den Grundzügen bewährt, galt jedoch 20 auch Anfang der 90er Jahre schon in wesentlichen Teilbereichen als nicht mehr 21 zeitgemäß und daher dringend reformbedürftig. Pläne für einen Nordostdeut- 22 schen Rundfunk (NORAG) als gemeinsame Anstalt für Mecklenburg-Vor- 23 pommern, Brandenburg und Berlin in der neuen Form einer öffentlich-rechtli- 24 chen Holding als schlanke Verwaltungseinheit ohne Programmproduktion 25 wurden zwar entwickelt, aber nicht verwirklicht. Dabei hätte gerade dieses 26 innovative Modell die Strukturschwächen des gesamten öffentlich-rechtlichen 27 Systems überwinden helfen können.9 Mecklenburg-Vorpommern aber ent- 28 schloss sich für den Verbund mit dem NDR, und Brandenburg verlor daraufhin 29 jedes Interesse an einer gemeinsamen Anstalt mit dem als dominant gefürch- 30 teten Berlin und einem schuldenbelasteten, subventionsbedürftigen SFB. Die 31 im Februar 1992 in einem Staatsvertrag in Aussicht genommene enge Zusam- 32 menarbeit im Bereich des Rundfunks wurde erst im Jahr 2002 Realität. 33 34 35 36 8 Peter SCHIWY, Versagt, versäumt, verpasst. Die Medienneuordnung in den neuen Bun- desländern, in: Bertelsmann Briefe, Nr. 127, 1992, S. 42–46; Beate SCHNEIDER, Die ostdeut- 37 sche Tagespresse – eine (traurige) Bilanz, in: Media Perspektiven, Nr. 7/1992, S. 428–441. 38 9 Vgl. ausführlich Walter J. SCHÜTZ, Der (gescheiterte) Regierungsentwurf für ein Rund- 39 funküberleitungsgesetz der DDR. Chronik und Dokumente, in: Arnulf KUTSCH/Christina 40 HOLTZ-BACHA/Franz R. STUKE (Hg.), Rundfunk im Wandel. Beiträge zur Medienforschung. Festschrift für Winfried B. Lerg, Berlin 1992, S. 263–303; Beate SCHNEIDER, Massenmedien 41 im Prozess der deutschen Vereinigung, in: Jürgen WILKE (Hg.), Mediengeschichte der Bun- 42 desrepublik Deutschland, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 602–629. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

Die Wende auf dem Medienmarkt 221

Langwierige Verhandlungen zwischen den Regierungschefs der Länder und 1 der Bundesregierung gingen der Gründung des »Deutschlandradios« voraus. 2 Verbrämt als Rettungsversuch für den »Deutschlandsender Kultur« aus der 3 DDR-Hinterlassenschaft ging es weit mehr um den Erhalt des »Deutschland- 4 funks« und die Integration des ersten Hörfunkprogramms von »RIAS Berlin«. 5 Beide Sender hatten in der Zeit vor der Wende die Aufgabe, mit ihren Pro- 6 grammen ganz Deutschland, also auch die Menschen in der DDR, mit Infor- 7 mationen zu versorgen und auf die Einheit hinzuwirken. Mit der Vollendung 8 dieser Einheit hatten sie eigentlich ihre Existenzberechtigung – gemessen am 9 Programmauftrag – verloren. Der politische Wille bescherte Deutschland statt- 10 dessen zwei nationale Hörfunkprogramme, und »DS Kultur« verdankt seine 11 Existenz politisch teuren Kompromissen, um den Bestand von eigentlich ob- 12 solet gewordenen westdeutschen Sendern im neuen Gewand zu legitimieren. 13 Auch die Gestaltung des privaten Rundfunks in ausschließlicher Kompetenz 14 der neuen Länder ist kaum mehr als eine bloße Kopie von West-Standards. 15 Das Ergebnis ist eindrucksvoll: An allen der im neuen Bundesgebiet zugelas- 16 senen Sendegesellschaften sind gerade die westdeutschen Unternehmen oder 17 Unternehmensgruppen maßgeblich beteiligt, die bereits über große Beteiligun- 18 gen in der Rundfunklandschaft der alten Bundesländer verfügen. Ebenso wie 19 in Westdeutschland hält man vorrangig Verlage für die geborenen Radio-Be- 20 treiber, obwohl ja gerade sie in den neuen Bundesländern fast ausschließlich 21 Monopolisten in ihrem Verbreitungsgebiet sind und die Konzentration so maß- 22 geblich beschleunigt wird. Auch wenn die elektronischen Medien der ehema- 23 ligen DDR grundlegend umstrukturiert wurden: Die Bezeichnung »Neu«-Ord- 24 nung haben diese Anstrengungen nur bedingt verdient: Die Chance zur Inno- 25 vation im wiedervereinigten Deutschland wurde versäumt. 26 War beim Rundfunk der politische Gestaltungswille groß, ist die Entwicklung 27 im Pressewesen vorwiegend durch medienpolitische Abstinenz gekennzeichnet. 28 Die Treuhandanstalt betrieb den spektakulärsten, umstrittensten und folgen- 29 reichsten Zeitungsverkauf der deutschen Geschichte. Immerhin ging es um die 30 »Filetstücke« der ostdeutschen Presse: 14 profitable Regionalzeitungen, we- 31 gen ihrer Rolle im SED-Staat zwar politisch diskreditiert, dafür aber mit enorm 32 hohen Auflagen von bis zu 660.000 Exemplaren und, pressewirtschaftlich 33 noch wichtiger, mit einem von den DDR-Machthabern beabsichtigten Mono- 34 pol in der Lokalberichterstattung. Eher widerwillig waren diese Blätter nach 35 dem Fall der Mauer von der SED/PDS in die Unabhängigkeit entlassen und 36 in Volkseigentum überführt worden. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundes- 37 republik lag es gemäß Einigungsvertrag an der Treuhandanstalt, sie »wettbe- 38 werblich zu strukturieren und zu privatisieren«.10 39 40 10 Beate SCHNEIDER/Dieter STÜRZEBECHER, Wenn das Blatt sich wendet. Die Tagespresse 41 in den neuen Bundesländern, Baden-Baden 1998, S. 31ff. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

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1 Die Kritik an der Treuhandanstalt konkretisiert sich bis heute auf die Vergabe- 2 und Auswahlkriterien beim Verkauf der ehemaligen SED-Zeitungen. Die aus- 3 schließliche Orientierung an hohen Erlösen und schnellem Verkauf, vor allem 4 das Ausblenden medienspezifischer Besonderheiten, haben letztlich dazu ge- 5 führt, dass ausnahmslos große westdeutsche Zeitungs- und Zeitschriftenver- 6 lage zum Zuge kamen. So hat sich nicht nur die Kluft zwischen großen und 7 mittleren bzw. kleineren Verlagen vertieft. 8 Am folgenreichsten war die Privilegierung leistungsstarker Konzerne durch 9 die Überlassung etablierter Traditionstitel mit großen Verbreitungsgebieten 10 und hohen Auflagen für die zahlreichen – wirtschaftlich unterlegenen – Neu- 11 gründungen in Ostdeutschland. Eine Entflechtung – wie in anderen Bereichen 12 der Wirtschaft üblich – wurde nicht einmal erwogen. Die auch in Pressefragen 13 völlig unerfahrenen Treuhandmanager erwiesen sich beratungsresistent. Die seit 14 jeher privilegierten ehemaligen SED-Zeitungen wurden mit ihren überdimen- 15 sionierten Verbreitungsgebieten, ihren gegenüber Westdeutschland unvergleich- 16 bar hohen Auflagen von teilweise über einer halben Million Exemplaren mit 17 allen Liegenschaften und ihren Druckerein verkauft. Damit hatten diese Blätter 18 gegenüber ihrer Konkurrenz einen Wettbewerbsvorspung auf dem in Deutsch- 19 land traditionell zur Konzentration neigenden Zeitungsmarkt.11 20 Damit allerdings war die Privatisierung der früheren SED-Presse noch lange 21 nicht abgeschlossen. Galt es doch, die Restitutionsansprüche der SPD abzu- 22 klären. In einigen der SED-Blätter sah die Partei unmittelbare Nachfolgeor- 23 gane von SPD-Zeitungen, die von den Nationalsozialisten enteignet und 1946 24 durch die Zwangsvereinigung von KPD und SPD an die SED übergegangen 25 sind. Der Streit endete mit einem Kompromiss: Die SPD erhielt eine stille 26 Beteiligung in Höhe von 40 Prozent an der »Sächsischen Zeitung« in Dresden 27 zur Abgeltung aller Ansprüche an anderen ehemaligen SED-Titeln. Dass die 28 SPD ihren ohnehin schon ansehnlichen Pressebesitz in Westdeutschland damit 29 noch einmal kräftig aufstocken konnte, hat die Kritik erst im vergangenen Jahr 30 aufgegriffen – mit einer Zeitverzögerung von knapp zehn Jahren. 31 Glücklos blieben die Verkaufspolitik der Treuhand und die Aufsicht der 32 Kartellbehörden auch auf anderen Feldern. Das Ziel, jedem Kaufinteressenten 33 nur eine einzige Zeitung zuzugestehen, wurde schnell unterlaufen. Waren die 34 Verträge erst einmal unterschrieben, kümmerte sich niemand mehr darum, 35 wenn in der Folgezeit Änderungen an den Eigentümerstrukturen erfolgten wie 36 bei den »Lübecker Nachrichten«, die schon bald 50 Prozent der Anteile an 37 ihrer Neuerwerbung »Ostsee-Zeitung« direkt an den Axel Springer Verlag 38 weiterreichten – ohne Murren des Bundeskartellamts.12 Ein beredtes Beispiel 39 40 11 EBD. 41 12 Beate SCHNEIDER/Dieter STÜRZEBECHER, Bilanz der Einheit, in: Journalist, Sonderaus- 42 gabe Dezember 1999, S. 42–44. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

Die Wende auf dem Medienmarkt 223 ist auch das trickreiche Agieren des WAZ-Konzerns zur Umgehung des Kar- 1 tellamts bei den Zeitungsbeteiligungen in Thüringen. Dem Verlag wurde zwar 2 eine Reduzierung der Anteile zugunsten der Mitarbeiter und eines anderen 3 Verlages abgerungen. Fünf Jahre allerdings hat das Kartellamt anschließend 4 gebraucht, um zu merken – und zu untersagen –, dass diese Zusagen schnell 5 wieder unterlaufen worden waren. 6 Manches Versäumnis rächte sich sogar noch später: Ziel der Treuhand war 7 es, beim Verkauf keine zusammenhängenden Verbreitungsgebiete von Zei- 8 tungen desselben Verlages in Ost- und Westdeutschland entstehen zu lassen. 9 Und doch erhielt die mehrheitlich zum Süddeutschen Verlag (München) 10 zählende »Neue Presse« in Coburg den Zuschlag für das unmittelbar im 11 Südthüringer Raum verbreitete »Freie Wort« in Suhl. Diese günstige Konstel- 12 lation hat der Verlag dankend angenommen und jüngst zur Rationalisierung 13 genutzt.13 14 Die »grenzüberschreitende« redaktionelle Zusammenarbeit dieser Blätter 15 sowie der ebenfalls dem Süddeutschen Verlag gehörenden Hofer »Franken- 16 post«, dem »Vogtland-Anzeiger« in Plauen und der »stz Südthüringer Zei- 17 tung« (Bad Salzungen) hat die kärgliche publizistische Vielfalt in dieser Re- 18 gion weiter verringert. 19 Die Zeitungslandschaft im Osten unterscheidet sich deshalb wesentlich von 20 der im Westen: 21 – Die Zahl der Ausgaben ist im Verhältnis deutlich geringer, 22 – die Konkurrenzdichte ist weitaus niedriger, 23 – das lokale Zeitungsmonopol ist die Regel und 24 – der Typ der verlegerisch selbstständigen Lokalzeitung ist nahezu unbe- 25 kannt. 26 27 Die Presse-Privatisierung der Treuhand hat überall in den neuen Ländern zu 28 einer Kombination von Marktmacht und Auflagenhöhe mit Know-How und 29 Finanzstärke aus Westdeutschland geführt. Unter diesen Vorzeichen waren na- 30 hezu alle der einst 80 nach der Wende neu gegründeten Zeitungen in Ostdeut- 31 schland zur Aufgabe gezwungen. Wer den erbitterten Kampf überlebt hat – 32 und das sind einige wenige – kooperiert inzwischen mit einer der großen ehe- 33 maligen SED-Bezirkszeitungen. Nur die »Altmark Zeitung« des Verlegers 34 Dirk Ippen hat es bisher geschafft: In ihrem kleinen Verbreitungsgebiet ist sie 35 unabhängiger Marktführer. Auf die ehemaligen SED-Parteizeitungen entfallen 36 nun fast 95 Prozent der Gesamtauflage der Abonnementpresse in den neuen 37 Ländern. Ihre Marktstellung ist heute unangefochtener denn je und wurde ge- 38 39 40 41 13 EBD. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

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1 genüber den Tagen der SED noch ausgebaut. Die Staatspartei hatte sich mit 2 einem Anteil von 86 Prozent zufrieden gegeben.14 3 Außerhalb Berlins herrschen deshalb heute Pressestrukturen vor, die denen 4 längst vergangener DDR-Zeiten weitaus mehr ähneln als denen in Westdeutsch- 5 land. Die überwiegend konkurrenzlosen Zeitungen sind zwar dicker, bunter und 6 zweifellos informativer als früher, weisen aber dennoch ein Ausmaß an – auch 7 personeller – Kontinuität auf, wie es wohl in keinem anderen Bereich des poli- 8 tischen und gesellschaftlichen Wandels in Ostdeutschland vorzufinden ist. Dass 9 ausgerechnet die alten SED-Organe mit ihrer einst besonderen Rolle im 10 Machtgefüge der DDR und ihrer herausragenden publizistischen Bedeutung 11 in heutiger Zeit fast drei Viertel ihrer früheren Redakteure auch nach der 12 Wende weiterbeschäftigt15 und die neuen (westdeutschen) Verleger auf eine 13 Stasi-Überprüfung weitgehend verzichtet haben,16 gab auch der Enquête-Kom- 14 mission zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit Anlass zur Kritik – und 15 sorgte in den Redaktionen selbst bis in jüngste Vergangenheit für einige un- 16 liebsame Enthüllungen »in eigener Sache«. Auch wenn solche Enthüllungen 17 heute gerne instrumentalisiert werden, fällt doch auf, dass bisher nur 35 Jour- 18 nalisten bei privaten Arbeitgebern von der Gauck-Behörde überprüft wurden.17 19 20 Das Zeitungsgeschäft ist für die großen Verlage allerdings keineswegs einfa- 21 cher geworden. Im Gegenteil: Seit der Wende haben die einstigen SED-Be- 22 zirksorgane im Durchschnitt mehr als zwei Fünftel ihrer Auflage eingebüßt; 23 allein seit Mitte der 90er Jahre beläuft sich das Minus auf rund 15 bis 20 Pro- 24 zent, und ein Ende des Leserschwunds ist nicht in Sicht. Diese Entwicklung 25 muss nicht nur eine Folge von Bevölkerungsabwanderungen und knapper Kas- 26 sen sein; vielleicht ist es auch eine Reaktion auf als unzureichend empfundene 27 redaktionelle Leistungen. 28 29 14 Vgl. B. SCHNEIDER/D. STÜRZEBECHER/W. MÖHRING, Ortsbestimmung (wie Anm. 7), 30 S. 90. 31 15 Beate SCHNEIDER/Klaus SCHÖNBACH/Dieter STÜRZEBECHER, Journalisten im vereinig- 32 ten Deutschland. Strukturen, Arbeitsweisen und Einstellungen im Ost-West-Vergleich, in: Pu- 33 blizistik, 38 (1993), S. 353–382, S. 358f.; Beate SCHNEIDER/Klaus SCHÖNBACH/Dieter STÜR- ZEBECHER, Ergebnisse einer Repräsentativbefragung zur Struktur, sozialen Lage und zu den 34 Einstellungen von Journalisten in den neuen Bundesländern, in: Frank BÖCKELMANN/Claudia 35 MAST/Beate SCHNEIDER (Hg.), Journalismus in den neuen Ländern. Ein Berufsstand zwischen 36 Aufbruch und Anpassung, Konstanz 1994. 16 Im Auftrag der »G+J Berliner Zeitung Verlag GmbH & Co.«, der »Märkischen Oder- 37 zeitung« und der »Sächsischen Zeitung« untersuchte Prof. Dr. Ulrich Kluge »die Absicherung 38 der Berichterstattung der Bezirksparteizeitungen der SED durch das Ministerium für Staatssi- 39 cherheit«; Ulrich KLUGE/Steffen BIRKEFELD/Silvia MÜLLER, Willfährige Propagandisten. MfS 40 und SED-Bezirkszeitungen: Berliner Zeitung, Sächsische Zeitung, Neuer Tag, Stuttgart 1997. 17 Renate OSCHLIES, Ein Bereich wurde ausgespart. Debatte über die Stasi-Aufarbeitung 41 in den Medien, in: Berliner Zeitung vom 12./13.5. 2001; Fast kein Zeitungsjournalist auf Stasi- 42 Mitarbeit überprüft, AP-Meldung vom 11.05.2001. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

Die Wende auf dem Medienmarkt 225

So werden publizistische Monopole auf lokalen Märkten für die Verlage 1 zum Fluch: Leser von Monopolzeitungen beurteilen »ihr« Blatt deutlich 2 schlechter als jene, die eine Auswahlmöglichkeit haben. Dies hat gute Gründe. 3 Denn tatsächlich sind die redaktionellen Leistungen von Zeitungen ohne örtli- 4 chen Wettbewerber – übrigens auch in Westdeutschland – gerade in den 5 Lokalteilen erheblich schwächer. Etliche Leser in den neuen Ländern halten 6 ihrer Zeitung nur der Not gehorchend (noch) die Treue – mangels Alternativen 7 zur lokalen Information.18 8 Zynisch wäre hier anzumerken, dass es bei aller Nachlässigkeit von Behör- 9 den und Managern doch tröstlich ist, wenn wenigstens die Leser wach bleiben 10 und reagieren. Und wen wundert es angesichts dieser Entwicklungen, dass auch 11 die Abschaffung der Pressefusionskontrolle ernsthaft im Gespräch ist. Das Pres- 12 sestatistikgesetz ist ja bereits vorsorglich in den 90er Jahren abgeschafft worden. 13 Alle diese Fehlentwicklungen lassen sich durch medienpolitisches Handeln, 14 vor allem aber auch durch medienpolitische Abstinenz erklären. Die anfangs 15 geschilderten großen Erfolge aber ebenso. Medienpolitik scheint – das lehren 16 die Ereignisse – immer mehr zum Spielball von Interessen nicht nur der Po- 17 litiker zu verkommen. Mit Medien, so hat es sich mehr denn je herumgespro- 18 chen, lassen sich vielleicht Wahlen gewinnen, mit Medienpolitik sicher nicht. 19 Die Materie ist kompliziert, der Gegenwind stark, die Akteure einflussreich. 20 Vor allem kurzfristige, wählerwirksame Effekte sind nicht zu erwarten, und 21 die langfristigen Folgen müssen andere verantworten. 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 18 B. SCHNEIDER/D. STÜRZEBECHER, Bilanz (wie Anm. 12), S. 42–44. 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK MG

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LITERATUR 1 2 3 Johannes Schauff 4 5 Zum 100. Geburtstag 6 7 von Günter Buchstab 8 9 Vor hundert Jahren, am 19. Dezember 1902, wurde Johannes Schauff in Stom- 10 meln bei Köln geboren. Er gehört zu jenen Persönlichkeiten der Zeitgeschich- 11 te, die nicht im Scheinwerferlicht standen und insofern heute nur noch wenigen 12 Zeitgenossen bekannt sind. Schauff machte keine Schlagzeilen, doch manch- 13 mal Geschichte aus dem Hintergrund. An ihn zu erinnern, ist das Verdienst 14 einer Arbeit, die sich vornehmlich auf den im Institut für Zeitgeschichte Mün- 1 15 chen (IfZ) verwahrten Nachlass stützt. 16 Der aus dem katholischen Rheinland stammende Schauff schloss sein Stu- 17 dium der Staatswissenschaften, Statistik und Geschichte in Berlin und Leip- 18 zig bereits 1925 mit der Promotion ab. Schon während des Studiums enga- 19 gierte er sich zusammen mit seiner späteren Frau Karin bei Carl Sonnenschein 20 in der praktischen Sozialarbeit. Daneben befasste er sich mit Wahlrechtsfragen 21 und dem Wahlverhalten der deutschen Katholiken seit Beginn des Kaiserreichs 22 (1928 veröffentlicht – neu aufgelegt 1975). Damit zählte er zu den Pionieren 23 der deutschen Wahlforschung. Beruflich betätigte er sich auf Anraten Heinrich 24 Brünings seit 1926 erfolgreich beim Aufbau des landwirtschaftlichen Sied- 25 lungswesens im deutschen Osten, was ihn bei protestantischen Deutschnatio- 26 nalen und Nationalsozialisten (»Agrarbolschewist«) missliebig machte. Bevor 27 er 1932 als jüngster Zentrumsabgeordneter in den Reichstag einzog, hatte er 28 erste politische Erfahrungen gesammelt in den Jugendorganisationen der Zen- 29 trumspartei. Am 23. März 1933 war er einer der wenigen, die fraktionsintern 30 das Ermächtigungsgesetz ablehnten. 31 Im Zuge der »Gleichschaltung« verließ er Berlin und die »Gesellschaft zur 32 Förderung der inneren Kolonisation«, emigrierte 1937 nach Rom und schließ- 33 lich 1939 nach Brasilien, wo er sich eine neue Existenz als Farmer aufbaute. 34 Sein großer Bekannten- und Freundeskreis aus seiner Weimarer Zeit und seine 35 guten Beziehungen zum Vatikan ermöglichten ihm, zahlreichen politisch und 36 rassisch Verfolgten ebenfalls zur Emigration zu verhelfen. 37 Unmittelbar nach Kriegsende übernahm er, ohne jedoch in die eigentliche 38 Politik zurückzukehren, wieder in Europa gestaltende Aufgaben. Dabei kamen 39 40 1 Dieter Marc SCHNEIDER: Johannes Schauff (1902–1990); Migration und »Stabilitas« 41 im Zeitalter der Totalitarismen. Oldenbourg, München 2001. 243 Seiten 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, NS, UH

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1 ihm seine alten Verbindungen und Freundschaften sehr zustatten. Er gründete 2 und leitete die »Internationale Katholische Auswanderungskommission« in 3 Genf, die sich im weltweiten Rahmen der Aussiedlung von Flüchtlingen aus 4 Europa annahm. Er baute in Südtirol ein Sozialwerk auf, das die Folgen der 5 Hitler-Mussolinischen Umsiedlungspolitik zu bewältigen suchte, und er küm- 6 merte sich um die Entschädigung der Südtiroler. Er ebnete den Weg von SPD- 7 Politikern wie Leber und Wehner in den Vatikan und trug zur Normalisierung 8 des Verhältnisses der SPD zur katholischen Kirche bei. Als Mitglied der päpst- 9 lichen Kommission »Justitia et Pax« vermittelte er in den 60er Jahren zwischen 10 dem deutschen und polnischen Episkopat. Seine Rolle bei der möglichen Neu- 11 ordnung der kirchlichen Verhältnisse in den damaligen deutschen Ostgebieten 12 trug ihm in Unionskreisen heftige Kritik ein (»Schattenbotschafter«). Schauff 13 diente der Bundesregierung auch als Ratgeber auf dem Feld auswärtiger Kul- 14 turpolitik. Und nicht zuletzt war er hinter den Kulissen an der Bildung der 15 Großen Koalition beteiligt, indem er seine Beziehungen zu dem ihm aus seiner 16 Leipziger Studienzeit bekannten Herbert Wehner nutzte. Vergeblich hoffte er 17 auf die Einführung des Mehrheitswahlrechts, zu dessen Verfechtern er schon 18 in der Weimarer Republik gehört hatte. 19 Nicht zu vergessen ist schließlich der Anteil Schauffs an der Emigrations- 20 forschung und an der Gründung der »Kommission für Zeitgeschichte« zur In- 21 stitutionalisierung der Katholizismusforschung. Er gehörte zu den ersten, die 22 Konzepte für eine deutsche Entwicklungshilfepolitik entwarfen. Als nach den 23 Bundestagswahlen 1961 dafür ein neues Ministerium, das Bundesministerium 24 für wirtschaftliche Zusammenarbeit, eingerichtet und Walter Scheel (FDP) zu 25 seinem ersten Minister berufen wurde, drängte er auf stärkere Kompetenz und 26 Repräsentanz der CDU und der ihr nahestehenden Stiftung in diesem neuen 27 Politikfeld. Seine Initiative führte im November 1961 zu einer Fachtagung der 28 Politischen Akademie Eichholz über das geplante entwicklungspolitische En- 29 gagement und schließlich zur Gründung des »Instituts für Internationale So- 30 lidarität« der Konrad-Adenauer-Stiftung, das 1962 seine Arbeit zur Förderung 31 gesellschaftspolitischer Maßnahmen und des demokratischen Gedankens in 32 den Entwicklungsländern aufnahm. Die Kontakte, die er zu den christlich-de- 33 mokratischen Parteien Lateinamerikas und zum Weltverband christlicher Ge- 34 werkschaften vermittelte, waren dafür sehr hilfreich. So war es nur folgerich- 35 tig, dass er in der konstituierenden Sitzung des Instituts am 8. Februar 1962 36 in dessen Vorstand gewählt wurde. Konrad Adenauer veranlasste noch vor 37 seinem Rücktritt als Bundeskanzler, dass Schauff zum Vorsitzenden des 1964 38 ins Leben gerufenen »Internationalen Solidaritätsfonds« in Rom bestellt und 39 in den Institutsvorstand kooptiert wurde. 40 41 Schauff war ein Wanderer zwischen Europa und Lateinamerika, der Völker- 42 verständigung zu seinem Anliegen machte, ein Anwalt von Verfolgten, Flücht- Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, NS, UH

Johannes Schauff: Zum 100. Geburtstag 229 lingen und Vertriebenen, ein Mittler zwischen Politik und Kirche und zwischen 1 den Parteien, ein Anreger zeithistorischer Forschung. Vieles im Leben von 2 Schauff verlief in der Stille. Wer weiß z.B., dass er es war, der in Brasilien 3 Programme für die Aufnahme der Angola-Flüchtlinge ausarbeitete oder dass 4 er die Seligsprechung von Pater Maximilian Kolbe als Symbol der Versöhnung 5 zwischen Polen und Deutschen betrieb? 6 Seine Persönlichkeit und Vielseitigkeit kann diese Biographie nicht in allen 7 Facetten ausleuchten. Schneider liefert aber über die biographischen Aspekte 8 hinaus eine Reihe interessanter Informationen über persönliche Beziehungen 9 und Kontinuitäten in der deutschen und internationalen Geschichte von mehr 10 als einem halben Jahrhundert. 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, NS, UH

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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, NS, UH

Abstracts 231

Abstracts* 1 2 Winfried Becker: A Convention of Catholic nobility. The German members 3 of the committee of beneva (pp. 1–30) 4 5 After the seizure of Rome in 1870 a committee of laymen was founded in Geneva which ga- 6 thered together the leaders of the most important Catholic organisation in Europe in order to 7 defend the rights of the Holy See. The newspaper »Correspondance de Genève«, which was published by the committee, tried to advocate the Catholic-ecclesiastical point of view amongst 8 the European states who were dominated by national, liberal and more often anti-clerical ideas. 9 The German members of the committee were mostly conservative-minded noblemen. They 10 were in close contact with the Austrian count Anton von Pergen, the head of the Geneva office. They were averse to liberal parliamentarianism by majority. By means of medial communi- 11 cation, the Catholic society movement and the organisation of international contacts, they tried 12 to preserve and spread the Christian-social Thought. They finally blended into political Ca- 13 tholicism, whom they had at first rejected as »liberal«. 14 15 Rudolf Uertz: The Christian Democracy in the spectre of political ideas (pp. 16 31–62) 17 18 The division of parties and their programmes into right, middle and left seems to arise from 19 an anthropological basic need. This can obstruct the political analysis, but can also provide a 20 certain amount of orientation. Research during the 1960s and 1970s characterised the CDU almost without exception as a conservative party. This thesis was made plausible by equating 21 Christian-democratic aims and objectives with certain positions of Christian social ethics and 22 church circles. The Christian democracy is as a matter of fact an independent concept – besides 23 conservatism, socialism and liberalism. The »C« proves to be a cultural Christian phenomenon 24 underlying the basic principle of the CDU manifesto, a composition made out of right-wing and economically liberal as well as conservative and social principles. 25 26 27 Norbert Trippen: Josef Cardinal Frings and Konrad Adenauer (pp. 63–72) 28 29 The personal contact between Cardinal Frings and Konrad Adenauer in the years before 1933 was of great importance to the church’s influence on the reorganisation of state and society 30 in Germany after 1945. Adenauer tried to win the archbishop’s –who also chaired the bishop’s 31 conference – support for his policy. Frings on the other hand took advantage of his contact to 32 Adenauer to ensure ecclesiastical interests within the Basic Law. The fact that Frings gave up 33 his equidistance to both CDU and Zentrum and became a member of the CDU in 1948, was noticed as a breach of the Reich Concordat’s article 32 and had to be cancelled directly ac- 34 cording to Rome’s instructions. 35 36 37 38 39 40 41 * Translated by Denise Lindsay 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, NS, UH

232 Abstracts

1 Krzysztof Ruchniewicz: Adenauer’s Attitude towards Poland and the Polish 2 People (pp. 73–94) 3 4 Konrad Adenauer, the first Chancellor of the Federal Republic of Germany, created the main 5 line of West German policy towards its West European neighbours. The author of the article deals with another important aspect of Adenauer’s foreign policy on the basis of three main 6 questions: 1. Adenauer’s attitude towards Poles and their country; 2. his ideas about the be- 7 ginning of political relations with the Polish People’s Republic; 3. the place of Poland in a 8 future united Europe. Although Adenauer had only few contacts with Poles, his views about the Polish nation were positive, even though the communist propaganda tried to show him in 9 quite a different light – as an enemy of Poland. The German Chancellor thought that the uni- 10 fication of Europe wouldn’t be complete without Poland and Eastern Europe. The author also 11 shows the conditions of Adenauer’s domestic policy (the Oder-Neisse policy, the faith of ex- 12 pelled Germans) and his foreign policy (the East-West conflict). Adenauer’s deep conviction of the full dependence of Poland on the Soviet Union, was accountable for his not recognizing 13 the positive signals of Warsaw towards Bonn and independent steps of Poland in its policy 14 during the era of the Gomulka regime. The Chancellor who created and strongly supported 15 the new German policy towards the West didn’t dare do such a step towards the East. The 16 trade missions created in 1963 were the only element of relations between Poland and up to 1970. 17 18 19 Franz Möller: Eugen Gerstenmaier and the Federal Assembly in Berlin 20 1969 (pp. 95–126) 21 22 The intention of Eugen Gerstenmaier, then president of the German parliament, to summon the Federal Assembly in 1969 again to Berlin was accompanied by strong diplomatic objec- 23 tions. Furthermore the GDR tried to put Gerstenmaier under pressure by means of a public 24 and a subversive campaign. The pamphlets put out by the State Security Service (MfS) in 25 1968 questioned his resistance against the Nazi regime by forging documents and tried to de- 26 nigrate him as a follower of Hitler. West German press organs took up the accusations deli- berately. The legal proceedings however instituted by the public prosecutor’s office in Bonn 27 ended after 5 1⁄2 years with the abandonment of the proceedings and Gerstenmaier’s full reha- 28 bilitation. 29 The author proves with the help of thorough researches made by the public prosecutor’s office and through newly found documents of the Gauck-Commission that Gerstenmaier was 30 an active fighter against National Socialism thus being denied a university lectureship; later 31 on he was arrested for his involvement in the attempt to assassinate Hitler and sentenced by 32 the People’s Court. 33 34 Andreas Wirsching: The media »construction« of politics and the Wende 35 (change) 1982/83 (pp. 127–139) 36 37 The article analyses the political and cultural idea underlying the Christian-democratic concept 38 of »change« which has been propagated since the 1970s. Its socio-political inconsistency could 39 not be abrogated by its being put on in public. The effort put across by the media of the events in 1982/83 stood in no relation to the politically matter of fact tenor of the following years. 40 This demonstrates a generally discernible double function of democratic politics – the exterior 41 construed by the media and the objective policy, a function which was historically essential 42 and from the beginning on inherent in mass participatory types of government. Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, NS, UH

Abstracts 233

Hanns Jürgen Küsters: The natural necessity of change – or: how the Kohl 1 government contributed to the downfall of the Berlin wall (pp. 141–160) 2 3 The Kohl government adhered during the 1980s to the treaties concluded with the GDR and 4 tried extend co-operation to different fields. It was intended to unmask the ideology propagated 5 by the SED as implausible by making it possible for more East Germans to get to know the West in person. The downfall of the GDR was neither brought about by the rapprochement 6 of systems nor through a liberalisation by stabilising the SED’s system. The fall of the Berlin 7 wall was the consequence of economic disintegration, the moral courage of a new generation 8 in the GDR not longer willing to accept the SED’s authority and the implausibility of the socialist system that proved to be incapable of providing a modern standard of living, social 9 justice, prosperity and security. 10 11 12 Jürgen Wilke: The media policy during the 1980s (pp. 161–168) 13 14 In his introduction Wilke outlines the changes that have taken place on the media market since the 70s. The constitutional, economic and socio-political problems the innovators had to face 15 are made clear. 16 17 Bernhard Vogel: The struggle for a new media system. Initiatives and in- 18 novation (pp. 169–176) 19 20 Bernhard Vogel, prime minister of Rhineland-Palatinate (1976–1988), describes the break- 21 through of the new transfer mode system with the help of the pilot scheme at Ludwigshafen 22 which – for the first time – made transmitting power available to private providers. As a result 23 of this initiative by Rhineland-Palatinate it became possible to feed local and private channels 24 via the communications satellite into the cable networks, so that they could be received na- tionwide. Because of the viewers’ positive reaction to this pilot scheme, the other Federal states 25 felt bound to give up their blockading strategy. The competition between private providers 26 and the public broadcasting companies had a positive effect on all those involved. The diversity 27 of opinion was increased and restricted the growing politicising of radio and television which had taken place during the 70s. 28 29 30 Christian Schwarz-Schilling: The innovator is surrounded by enemies – A 31 statement (pp. 177–194) 32 33 Christian Schwarz-Schilling, Federal minister of posts and telecommunications (1983-1992), 34 describes the Christian-democratic parties’ shift in thinking, who set their target as early as 1978 – contrary to the SPD – on using the new transfer mode systems, therefore extending 35 the diversity of opinion and information by means of competition. For the first time new tech- 36 nologies – digitalisation, satellite transmission and cable networks – made a quantitatively and 37 qualitatively enlargement of capacity possible with reducing costs at the same time. His assumption of office started the process of a technological catch-up, new technologies 38 (such as fibre glass, viewdata, fax, cordless phones and mobiles) were employed. The wiring 39 of homes rose from 2% (1983) up to 60% (1992), the frequency ranges of radio and television 40 programmes were extended. The state-owned mail’s monopoly was abolished. 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, NS, UH

234 Abstracts

1 Klaus von Dohnanyi: The issue of reaching realistic forms of consensus 2 despite party boundaries (pp. 195–202) 3 4 Looking back Klaus von Dohnanyi – governing mayor of Hamburg (1981–1988) – deals with 5 the SPD’s disapproving attitude, who during the 70s wanted to hold on to the public broad- casting system – being afraid that the introduction of new technologies would mean further 6 concentration on the media market and that the commercial influence of private providers 7 would threaten the freedom of opinion. 8 9 Peter Schiwy: Out of the defensive to success. The public broadcasting com- 10 panies reflected in the change of media policy (pp. 203–208) 11 12 Schiwy comments critically on the innovation pushed by the Federal minister of posts and 13 telecommunications, Christian Schwarz-Schilling, which – by investing billions – was on the 14 one hand an economic success, but on the other hand led to a kind of state controlled guidance 15 of economy. In his eyes the way the public broadcasting companies were seen by the judiciary was out of touch with reality as the real motives, television ratings, journalism by cheque- 16 book and the media’s ideological influence, were underestimated. Equating the private supp- 17 liers under the media legislation took nearly two decades. Taking successfully advantage of 18 this fact, the public broadcasting companies who had initially tried to prevent the change from 19 taking place improved in the meantime their programmes. 20 21 Claus Detjen: The newspaper publishers’ waver between denial and com- 22 mitment (pp. 209–216) 23 24 Detjen examines the newspaper publishers’ sceptical attitude who being afraid of incalculable 25 consequences took up the opportunities only hesitantly, especially as they had just introduced new technologies for the manufacturing of print products. 26 27 28 Beate Schneider: The change on the media market (pp. 217–226) 29 30 Beate Schneider paints a critical picture of the media landscape in the newly-formed German states. The opportunity to reorganise the media market in the course of the process of reuni- 31 fication was given away. The GDR’s electronic media were in fact restructured and the well- 32 tried dual broadcasting system transferred but more obvious reforms were not tackled. As the 33 Treuhand was more interested in making profits than in establishing a long-term diversity of 34 opinion while privatising the SED-owned press, monopoly and concentration are nowadays typical of the press in the newly-formed German states. 35 36 37 38 39 40 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, NS, MG

Résumés 235

Résumés* 1 2 Winfried Becker: Une internationale d’aristocrates catholiques. Les repré- 3 sentants allemands du comité genevois (pp. 1–30) 4 5 Après la prise de Rome, en 1870, un comité genevois composé de personnalités internationales 6 se forma pour défendre la papauté. Celui-ci fit paraître jusqu’à la fin de 1873 un journal, »La 7 Correspondance de Genève«, qui devait faire entendre les positions de l’Eglise catholique au milieu du concert des nations européennes désormais dominées par des idées nationales, li- 8 bérales et bien souvent anticléricales. Les représentants allemands dans le comité étaient pour 9 la plupart des nobles de tendance conservatrice. Ils entretenaient des liens étroits avec le Comte 10 autrichien Anton von Pergen, qui était à la tête du bureau de Genève. Ils abhorraient le par- lementarisme majoritaire libéral. Grâce à une communication médiatique, au mouvement des 11 associations catholiques et à l’organisation de contacts internationaux, ils cherchèrent à pré- 12 server et à répandre la pensée chrétienne-sociale. Ils correspondaient donc finalement à l’image, 13 un temps rejetée par eux car trop libérale, d’un catholicisme politique en Allemagne et en 14 Autriche. 15 16 Rudolf Uertz: La Démocratie chrétienne dans le paysage politico-idéolo- 17 gique (pp. 31–62) 18 19 La répartition des partis et de leurs programmes selon les critères droite-centre-gauche semble 20 avoir pour origine un besoin anthropologique fondamental. Elle peut être un obstacle à l’analyse politique, mais elle peut également proposer une orientation dans une certaine mesure. La re- 21 cherche dans les années soixante et soixante-dix a presque systématiquement classé la CDU 22 comme parti conservateur. Cette thèse était fondée sur l’assimilation du programme chrétien- 23 démocrate avec certaines positions de l’enseignement social chrétien et de cercles ecclésia- 24 stiques. En effet, la démocratie chrétienne représente une idéologie politique autonome – à côté du Conservatisme, du Socialisme et du Libéralisme. Le »C« du sigle de ce parti apparaît 25 ainsi comme un phénomène culturel-chrétien qui est à l’origine de la synthèse entre les fon- 26 dements de droite et de libéralisme économique, et les fondements sociaux; autant d’éléments 27 que l’on retrouve dans le programme de la CDU. 28 29 Norbert Trippen: Le Cardinal Josef Frings et Konrad Adenauer (pp. 63–72) 30 31 Le contact personnel entre le Cardinal Frings et Konrad Adenauer durant les années qui 32 précédèrent 1933 permit à l’Eglise catholique de jouer un rôle important dans la reconstruction de l’Etat et de la société en Allemagne après 1945. Adenauer chercha à obtenir le soutien de 33 l’archevêque et président de la conférence épiscopale allemande pour sa politique. Récipro- 34 quement, Frings mît à profit ses relations avec Adenauer pour s’assurer que les intérêts de 35 l’Eglise seraient bien représentés dans la loi fondamentale. Lorsque Frings renonça à garder 36 des distances convenables avec la CDU et le Zentrum et qu’il adhéra à la CDU 1948, son attitude fut enregistrée comme allant à l’encontre de l’Art. 32 du Concordat avec le Reich et 37 il dût faire marche arrière sur l’ordre du Saint-Siège. 38 39 40 41 * Traduit de l’allemand par Johanna Touzel 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, NS, MG

236 Résumés

1 Krzystof Ruchniewicz: La position d’ Adenauer concernant la Pologne et 2 sa population (pp. 73–94) 3 4 Konrad Adenauer, le premier Chancelier de la République fédérale, mit au point les lignes 5 directrices de la politique allemande vis à vis de ses voisins d’Europe de l’Ouest. L’auteur traite d’un autre aspect important de la politique étrangère d’Adenauer en posant trois questions: 6 1. La position d’Adenauer à l’égard des polonais et de leur pays; 2. La mise en place de relations 7 politiques avec la République populaire de Pologne; 3. La position de la Pologne face à une 8 Europe unie. Bien qu’Adenauer n’ait eu que peu de contacts avec la Pologne, ses vues sur la nation polonaise étaient positives, et ce en dépit de ce qu’avait voulu démontrer la propagande 9 communiste en le présentant comme un ennemi de la Pologne. Le Chancelier allemand était 10 persuadé que l’unification de l’Europe aurait été incomplète sans la Pologne. Il jugeait cepen- 11 dant que la Pologne était complètement dépendante de l’URSS, ce qui l’amena à ne pas re- 12 connaître les signaux positifs de Varsovie à l’adresse de Bonn, ni les démarches indépendantes de la Pologne durant l’ère Gomulka. Le chancelier, qui avait initié et développé énergiquement 13 la nouvelle politique de l’Allemagne en direction de l’Ouest, craignait de s’engager dans une 14 démarche semblable vis à vis de l’Est. Les missions commerciales qui furent fondées en 1963, 15 constituèrent jusqu’en 1970 les seules relations entre la Pologne et l’Allemagne de l’Ouest. 16 17 Franz Möller: Eugen Gerstenmaier et l’Assemblée fédérale à Berlin en 1969 18 (pp. 95–126) 19 20 L’intention du président du Bundestag Eugen Gerstenmaier, de rappeler l’assemblée fédérale 21 à Berlin à l’occasion de l’élection du président de la République fédérale en 1969 fut accueillie 22 avec d’importantes réserves dans les milieux diplomatiques. Bien plus, la RDA tenta, avec le soutien de l’URSS, d’exercer une pression sur Gerstenmaier au moyen d’une campagne pu- 23 blique subversive. Les pamphlets publiés par le Ministère de la Sécurité d’Etat (MfS) en 1968 24 mirent en doute sa résistance au régime nazi en produisant des documents falsifiés et le cal- 25 omniant comme étant un partisan d’Hitler. Des organes de presse ouest-allemands reprirent à 26 dessein ces accusations. Cependant, la procédure judiciaire engagée à son encontre par le par- quet de Bonn fut suspendue cinq ans plus tard et aboutit à la réhabilitation sans ambiguïté de 27 Gerstenmaier. 28 En s’appuyant sur les résultats de l’enquête méticuleuse menée par le parquet ainsi que sur 29 les nouveaux documents mis à jour par la commission Gauck, l’auteur démontre que Gersten- maier avait combattu activement le national-socialisme et que c’est pour cette raison qu’il 30 n’avait pas obtenu de chaire universitaire; il avait ensuite été arrêté puis condamné par le tri- 31 bunal populaire du régime pour sa participation à l’attentat contre Hitler. 32 33 Andreas Wirsching: La construction médiatique de la Politique et le 34 »tournant« de 1982/83 (pp. 127–139) 35 36 L’article analyse la fonction politico-culturelle qui fut à l’origine du concept démocrate-chré- 37 tien de »tournant« propagé depuis la fin des années soixante-dix. Sa contradiction socio-poli- 38 tique n’a pu être levée, en dépit de sa mise en scène publique. C’est pourquoi le déploiement 39 médiatique et discursif du changement de 1982/83 ne correspondait pas à la richesse de la pratique politique des années suivantes. Ceci met en lumière une double structure clairement 40 reconnaissable de la politique démocratique, constituée par une face extérieure construite de 41 façon médiatique d’une part, et par la politique concrète d’autre part, c’est à dire une structure 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, NS, MG

Résumés 237 qui est nécessairement et intrinsèquement au cœur des formes de gouvernement qui s’appuient 1 sur la participation des masses. 2 3 Hanns Jürgen Küsters: Des transformations inévitables - ou: La contribution 4 du gouvernement Kohl à la chute du mur (pp. 141–160) 5 6 Le Gouvernement Kohl s’en tint, durant les années quatre-vingt, aux traités conclus avec la 7 RDA et chercha à développer la coopération à différents niveaux. Il avait ainsi pour intention 8 de saper l’idéologie propagée par le SED en permettant au plus grand nombre d’allemands de l’est de découvrir personnellement l’Ouest. Mais ce n’est ni le processus de transformation 9 issu du rapprochement des deux systèmes, ni la libéralisation à travers la stabilisation du sy- 10 stème de la SED qui provoquèrent le démantèlement de la RDA. La chute du mur fut en réalité 11 la conséquence de processus internes d’érosion économique, ainsi que du civisme d’une nou- 12 velle génération en RDA, qui n’était plus disposée à reconnaître les autorités du régime, et enfin de l’absence de crédibilité du système socialiste, qui se révéla incapable d’assurer un 13 niveau de vie moderne, la justice sociale, la prospérité et la sécurité. 14 15 Jürgen Wilke: La politique audiovisuelle dans les années quatre-vingt (pp. 16 161–168) 17 18 Wilke commence par esquisser la transformation du paysage audiovisuel depuis le début des 19 années 70. Il met en évidence les difficultés d’ordre constitutionnel, économique et socio-po- 20 litique auxquelles furent confrontés les nouveaux-venus sur le marché. 21 22 Bernhard Vogel: Le combat pour le nouvel ordre médiatique. Initiatives et 23 innovations (pp. 169–176) 24 25 Bernhard Vogel, Ministre-président de Rhénanie-Palatinat de 1976 à 1988, décrit la percée 26 des nouvelles techniques de transmission audiovisuelle grâce au projet pilote de Ludwigshafen 27 en 1978, qui mît pour la première fois des capacités d’émission à la disposition d’opérateurs 28 privés. C’est grâce à l’initiative du Land de Rhénanie-Palatinat que les troisièmes chaînes et les chaînes privées ont pu être distribuées via le satellite dans le réseau câblé et ont ainsi pu 29 être reçues à travers toute l’Allemagne. Le projet pilote, qui reçut un accueil favorable des 30 téléspectateurs, incita d’autres Länder à abandonner leur politique de blocage. La mise en con- 31 currence des stations radio de droit public avec des opérateurs privés a eu des répercussions 32 positives de part et d’autre. Cela a permit de renforcer la pluralité d’opinion et a limité la politisation croissante dans les années 70 de la radio et de la télévision. 33 34 35 Christian Schwarz-Schilling: Le nouveau venu a des ennemis de tous côtés 36 – Un bilan (pp. 177-194) 37 38 Christian Schwarz-Schilling, Ministre de la Poste et des télécommunications de 1983 à 1992, décrit le changement du mode de penser dans la CDU-CSU qui chercha dès 1978, et contrai- 39 rement au SPD, à utiliser les nouvelles techniques d’émission afin d’augmenter la diversité 40 des opinions et de l’information par la mise en concurrence des systèmes publics et privés. 41 Les nouvelles technologies – digitalisation, transmission par satellite et réseau câblé – permirent 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, NS, MG

238 Résumés

1 pour la première fois d’élargir quantitativement et qualitativement les capacités d’émission 2 tout en diminuant les coûts. Il a engagé dès sa prise de fonction une course au rattrapage tech- nique; de nouvelles technologies et de nouveaux appareils furent mis en service (fibres op- 3 tiques, vidéotexte, fax, téléphone sans fil, téléphone mobile), la connexion au réseau câblé des 4 foyers passa de 2% en 1983 à 60% en 1992, les fréquences radiophoniques et audiovisuelles 5 furent élargies, le monopole de la Poste abrogé. 6 7 Klaus von Dohnanyi: Il s’agit de trouver les formes réalistes d’un consensus, 8 même au-delà des frontières des partis (pp. 195–202) 9 10 Klaus von Dohnanyi, maire de Hambourg entre 1981 et 1988, revient sur le refus sur lequel 11 avait campé le SPD en tentant, dans les années 70, de défendre le monopole des stations radio 12 de droit public. En effet, le SPD redoutait une concentration accrue du paysage médiatique du fait de l’avènement de nouvelles technologies et il voyait la liberté d’information menacée par 13 la puissance commerciale d’opérateurs privés. 14 15 16 Peter Schiwy: De la défensive au succès. Les stations radio de droit public 17 dans le miroir des transformations de la politique audiovisuelle (pp. 203–208) 18 Schiwy fait remarquer de façon critique que l’innovation suscitée à coup de milliards d’inve- 19 stissements par le ministre de la Poste M. Schwarz-Schilling avait été certes un succès éco- 20 nomique, mais que du point de vue du droit public, il s’agissait d’une forme de dirigisme 21 économique de l’Etat. Il juge irréaliste le statut dont bénéficiaient les stations radio de droit 22 public dans la jurisprudence de l’époque, laquelle avait ignoré les motifs réels, les quotas d’écoute, le journalisme corrompu ou l’influence idéologique des médias. Les opérateurs privés 23 durent attendre près de deux décennies avant de pouvoir être traité sur un pied d’égalité en 24 matière de droit des médias. Ce laps de temps fut mis à profit par les stations radio de droit 25 public, qui tentèrent d’abord avec succès d’empêcher le changement tout en élargissant leur 26 propre offre de programmes. 27 28 Claus Detjen: L’hésitation des éditeurs de presse: entre rejet et engagement 29 (pp. 209–216) 30 31 Detjen décrit le scepticisme des éditeurs de presse, qui, par peur de »conséquences incalcula- 32 bles« ne prirent qu’avec hésitation conscience des nouvelles chances qui s’offraient à eux, d’autant qu’ils avaient eux-mêmes introduit les nouvelles technologies dans le processus de 33 fabrication de la presse écrite. 34 35 Beate Schneider: 36 Les transformations sur le marché des médias (pp. 217– 37 226) 38 Beate Schneider brosse un tableau critique du paysage médiatique dans les nouveaux Laender: 39 les chances de mettre en place un nouvel ordre médiatique dans l’élan du processus de réuni- 40 fication ont été bâclées. Les médias électroniques de la RDA ont certes été restructurés et le 41 système radiophonique dual, qui avait fait ses preuves, a été conservé, mais on n’a pas su 42 s’atteler aux réformes en attente. La constitution de monopoles et la concentration caractérisent Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, NS, MG

Résumés 239 aujourd’hui la situation de la presse dans les nouveaux Laender. En effet, la privatisation de 1 la presse SED par la »Treuhand« (l’organisme chargée de la liquidation du patrimoine de la 2 RDA) avait davantage pour objectif le profit qu’une durable pluralité d’opinion. 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, NS, MG

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1 Zusammenfassungen 2 3 Winfried Becker: Eine katholische Adelsinternationale. Die deutschen Teil- 4 nehmer am Genfer Komitee (1871–1878) (S. 1–30) 5 6 Nach der Einnahme Roms 1870 bildete sich ein international besetztes Genfer Komitee zur 7 Verteidigung des Papsttums. Dieses gab bis Ende 1873 eine Zeitung, die »Genfer Correspon- 8 denz«, heraus, die den katholisch-kirchlichen Standpunkt inmitten der nun von nationalen und liberalen, oft antiklerikalen Ideen beherrschten europäischen Staatenwelt vertreten wollte. Die 9 deutschen Vertreter im Komitee waren meist konservativ gesinnte Adlige. Sie standen in engem 10 Kontakt mit dem österreichischen Grafen Anton von Pergen, dem Leiter der Genfer Büros. 11 Sie waren dem liberalen Mehrheitsparlamentarismus abgeneigt. Mittels medialer Kommuni- kation, der katholischen Vereinsbewegung und der Organisation internationaler Kontakte such- 12 ten sie christlich-soziales Gedankengut zu erhalten und zu verbreiten. Sie fügen sich so letztlich 13 dem Bild des von ihnen zunächst als »liberal« zurückgewiesenen politischen Katholizismus 14 in Deutschland und Österreich ein. 15 16 Rudolf Uertz: Die Christliche Demokratie im politischen Ideenspektrum 17 (S. 31–62) 18 19 Die Rechts-Mitte-Links-Einteilung von Parteien und Parteiprogrammen scheint einem anthro- 20 pologischen Grundbedürfnis zu entspringen. Sie kann die politische Analyse behindern, aber 21 in gewissem Umfang Orientierung bieten. In der Forschung der 1960er und 1970er Jahre wurde die CDU fast durchweg als konservative Partei charakterisiert. Ihre Plausibilität bezog diese 22 These aus einer weitgehenden Gleichsetzung von christlich-demokratischer Programmatik mit 23 bestimmten Positionen der christlichen Soziallehre und kirchlicher Kreise. Tatsächlich ist die 24 Christliche Demokratie ein eigenständiger politischer Ideenkreis – neben Konservatismus, So- 25 zialismus und Liberalismus. Das »C« erweist sich dabei als kulturchristliches Phänomen, das der Synthese von rechts- und wirtschaftsliberalen sowie konservativen und sozialen Grundsät- 26 zen in der CDU-Programmatik zugrunde liegt. 27 28 29 Norbert Trippen: Josef Kardinal Frings und Konrad Adenauer (S. 63–72) 30 Für den Einfluss der Kirche auf die Neugestaltung von Staat und Gesellschaft in Deutschland 31 nach 1945 war der persönliche Kontakt zwischen Kardinal Frings und Konrad Adenauer aus 32 den Jahren vor 1933 von großer Bedeutung. Adenauer suchte den Erzbischof und Vorsitzenden 33 der Deutschen Bischofskonferenz für die Unterstützung seiner Politik zu gewinnen. Frings 34 nutzte umgekehrt den Kontakt zu Adenauer zur Absicherung kirchlicher Interessen im Grund- gesetz. Als Frings die Äquidistanz zu CDU und Zentrum aufgab und 1948 der CDU beitrat, 35 wurde das allerdings als Verstoß gegen Art. 32 des Reichskonkordats registriert und musste 36 auf Weisung aus Rom alsbald rückgängig gemacht werden. 37 38 Krzystof Ruchniewicz: Adenauers Verhältnis zu Polen und seiner Bevöl- 39 kerung (S. 73–94) 40 41 Konrad Adenauer, der erste Kanzler der Bundesrepublik, entwickelte die Leitlinien der deut- 42 schen Politik gegenüber den westeuropäischen Nachbarn. Der Autor behandelt einen anderen Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, NS, MG

Zusammenfassung 241 wichtigen Aspekt der Adenauerschen Außenpolitik anhand von drei Fragen: 1. die Haltung 1 Adenauers gegenüber den Polen und ihrem Land; 2. die Aufnahme politischer Beziehungen 2 mit der Volksrepublik Polen; 3. die Stellung Polens in einem vereinigten Europa. Obwohl Adenauer nur wenige Kontakte zu Polen hatte, waren seine Ansichten über die pol- 3 nische Nation positiv, auch wenn die kommunistische Propaganda versuchte, ihn in einem ge- 4 genteiligen Licht – als einen Feind Polens – darzustellen. Der deutsche Kanzler war davon 5 überzeugt, daß die Vereinigung Europas ohne Polen und Osteuropa nicht vollständig wäre. Jedoch war seine Einschätzung einer völligen Abhängigkeit Polens von der Sowjetunion Grund 6 dafür, daß er die positiven Signale Warschaus an Bonn und die unabhängigen Schritte Polens 7 in der Ära Gomulka nicht erkannte. Der Kanzler, der die neue deutsche Politik gegenüber dem 8 Westen entwickelt und energisch vorangetrieben hatte, scheute vor ähnlichen Schritten gegen- 9 über dem Osten zurück. Die Handelsmissionen, die 1963 gegründet wurden, bildeten bis 1970 die einzige Beziehung zwischen Polen und Westdeutschland. 10 11 12 Franz Möller: Eugen Gerstenmaier und die Bundesversammlung in Berlin 13 1969 (S. 95–126) 14 15 Die Absicht von Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, die Bundesversammlung zur Wahl der Bundespräsidenten 1969 wieder nach Berlin einzuberufen, war von starken diplomatischen 16 Bedenken begleitet. Darüber hinaus versuchte die DDR mit Unterstützung der UdSSR durch 17 eine öffentliche und subversive Kampagne Druck auf Gerstenmaier auszuüben. Die 1968 vom 18 MfS lancierten Pamphlete zogen seinen Widerstand gegen die Nazis durch Verfälschung von 19 Unterlagen in Zweifel und sollten ihn als »Hitler-Anhänger« verunglimpfen. Westdeutsche Presseorgane nahmen diese Anschuldigungen geflissentlich auf. Jedoch führte das von der 20 Staatsanwaltschaft Bonn eingeleitete Verfahren nach fünfeinhalb Jahren zur Einstellung und 21 zur eindeutigen Rehabilitierung Gerstenmaiers. 22 Der Autor belegt an Hand der sorgfältigen Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft und 23 durch neu entdeckte Unterlagen der Gauck-Behörde, dass Gerstenmaier den Nationalsozialis- mus aktiv bekämpft und deshalb keine Dozentur erhalten hat; später wurde er als Beteiligter 24 am Attentat auf Hitler verhaftet und vom Volksgerichtshof verurteilt. 25 26 Andreas Wirsching: Die mediale »Konstruktion« der Politik und die »Wen- 27 de« von 1982/83 (S. 127–139) 28 29 Der Beitrag untersucht die politisch-kulturelle Funktion, die dem seit Ende der 1970er Jahre 30 propagierten christlich-demokratischen Konzept der »Wende« zugrunde lag. Dessen gesell- 31 schaftspolitische Widersprüchlichkeit konnte durch seine öffentliche Inszenierung nicht auf- 32 gehoben werden. Der medial vermittelte, diskursive Aufwand der »Wende« von 1982/83 ent- sprach daher nicht dem sachlich-politischen Gehalt der Folgejahre. Dies verweist auf eine 33 generell erkennbare Doppelstruktur demokratischer Politik zwischen medial »konstruierter« 34 Außenseite und »Sachpolitik«, eine Struktur, die massenpartizipatorischen Regierungsformen 35 historisch notwendig und von Beginn an innewohnte. 36 37 Hanns Jürgen Küsters: Mit Naturnotwendigkeit eintretende Veränderungen 38 – Oder: Was die Regierung Kohl zum Mauerfall beitrug (S. 141–160) 39 40 Die Regierung Kohl hielt sich in den achtziger Jahren an die mit der DDR abgeschlossenen 41 Verträge und suchte die Kooperation auf verschiedenen Feldern auszubauen. Eine Absicht war 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, NS, MG

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1 dabei, die von der SED propagierte Ideologie als unglaubwürdig zu entlarven, je mehr Men- 2 schen in der DDR die Möglichkeit erhielten, den Westen persönlich kennenzulernen. Aber nicht der Wandel durch Systemannäherung oder eine Liberalisierung durch Stabilisierung des 3 SED-Systems bewirkten den Zusammenbruch der DDR. Der Mauerfall war Folge innerer wirt- 4 schaftlicher Erosionsprozesse, der Zivilcourage einer neuen Generation in der DDR, die nicht 5 mehr bereit war, die SED-Autoritäten anzuerkennen, und der Unglaubwürdigkeit des soziali- stischen Systems, das sich als unfähig erwies, für modernen Lebensstandard, soziale Gerech- 6 tigkeit, Prosperität und Sicherheit zu sorgen. 7 8 9 Jürgen Wilke: Die Medienpolitik der 80er Jahre (S.161–168) 10 11 Wilke skizziert einleitend den Wandel auf dem Medienmarkt seit Mitte der 70er Jahre. Deutlich wurden die Schwierigkeiten verfassungsrechtlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftspoliti- 12 scher Art, mit denen die »Neuerer« zu kämpfen hatten. 13 14 15 Bernhard Vogel: Der Kampf um die neue Medienordnung. Initiativen und 16 Innovationen (S. 169–176) 17 Bernhard Vogel, 1976–1988 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, schildert den Durchbruch 18 der neuen Übertragungstechnik mit dem Pilotprojekt in Ludwigshafen 1978, das erstmals pri- 19 vaten Anbietern Sendekapazitäten zur Verfügung stellte. Aufgrund der Initiative von Rhein- 20 land-Pfalz konnten die dritten Programme und Privatprogramme über den Fernmeldesatellit 21 in die Kabelnetze eingespeist und damit bundesweit empfangen werden. Das Pilotprojekt, das von den Zuschauern gut angenommen wurde, veranlasste andere Bundesländer, ihre Blockade- 22 politik aufzugeben. Der Wettbewerb von privaten Anbietern und öffentlich-rechtlichen Rund- 23 funkanstalten hat sich für alle Beteiligten positiv ausgewirkt. Er stärkte die Meinungsvielfalt 24 und begrenzte die in den 70er Jahren zunehmende Politisierung von Rundfunk und Fernsehen. 25 26 Christian Schwarz-Schilling: Der Neuerer hat Feinde auf allen Seiten – Eine 27 Bilanz (S. 177–194) 28 29 Christian Schwarz-Schilling, 1983–1992 Bundesminister für Post und Fernmeldewesen bzw. 30 Telekommunikation, beschreibt das Umdenken in den Unionsparteien, die bereits 1978 im Ge- 31 gensatz zur SPD das Ziel verfolgten, die neuen Übertragungstechniken zu nutzen, um durch den Wettbewerb von öffentlich-rechtlichen Systemen und privaten Programm-Machern die In- 32 formations- und Meinungsvielfalt zu erweitern. Die neuen Technologien – Digitalisierung, Sa- 33 tellitenübertragung und Kabelnetze – ermöglichten erstmals eine quantitative und qualitative 34 Kapazitätserweiterung bei gleichzeitiger Kostensenkung. Mit seinem Amtsantritt begann die »technische Aufholjagd«, neue Technologien und Geräte 35 wurden eingesetzt (Glasfaser, Btx, Fax, schnurlose Telefone, Mobiltelefone), die Verkabelung 36 der Haushalte stieg von 2 % (1983) auf 60 % (1992), die Frequenzen für Hörfunk- und Fern- 37 sehprogramme wurden erweitert, das Post-Monopol beseitigt. 38 39 40 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, NS, MG

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Klaus von Dohnanyi: Es geht darum, realistische Formen des Konsenses 1 zu finden, auch über Parteigrenzen hinweg (S. 195–202) 2 3 Klaus von Dohnanyi, 1981–1988 Erster Bürgermeister in Hamburg, geht in seinem Rückblick 4 auf die ablehnende Haltung der SPD ein, die in den 70er Jahren das Monopol der öffentlich- 5 rechtlichen Rundfunkanstalten bewahren wollte, weil sie von der Einführung der neuen Tech- nologien eine weitere Konzentration auf dem Medienmarkt befürchtete und durch den kom- 6 merziellen Einfluß privater Anbieter die Informationsfreiheit bedroht sah. 7 8 Peter Schiwy: Aus der Defensive zum Erfolg. Die öffentlich-rechtlichen An- 9 stalten im Spiegel des medienpolitischen Wandels (S. 203–208) 10 11 Schiwy merkt kritisch an, daß die von Postminister Schwarz-Schilling mit Milliardeninvesti- 12 tionen vorangetriebene Innovation zwar wirtschaftlich ein Erfolg, aber ordnungspolitisch eine 13 Form staatlicher Wirtschaftslenkung war. Das Bild der öffentlich-rechtlichen Anstalten in der 14 damaligen Rechtssprechung beurteilt er als wirklichkeitsfremd, da sie die realen Motive, Ein- 15 schaltquoten, Scheckbuchjournalismus oder ideologischen Einfluß der Medien, verkannt habe. Die medienrechtliche Gleichstellung der privaten Anbieter dauerte fast zwei Jahrzehnte. Diese 16 Zeit nutzten die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die den Wandel zunächst zu ver- 17 hindern suchten, mit Erfolg, um ihr eigenes Angebot auszubauen. 18 19 Claus Detjen: Das Schwanken der Zeitungsverleger: Zwischen Ablehnung 20 und Engagement (S. 209–216) 21 22 Detjen beleuchtet die Skepsis der Zeitungsverleger, die aus Angst vor den »unkalkulierbaren 23 Folgen« die neuen Chancen nur zögerlich wahrnahmen, zumal sie gerade die neuen Techno- 24 logien bei der Herstellung der Printmedien eingeführt hatten. 25 26 Beate Schneider: Die Wende auf dem Medienmarkt (S. 217–226) 27 28 Beate Schneider zeichnet ein kritisches Bild der Medienlandschaft in den neuen Ländern: Die 29 Chance zur Neuordnung auf dem Medienmarkt im Zuge des Vereinigungsprozesses wurde 30 vertan. Die elektronischen Medien der DDR wurden zwar umstrukturiert und das bewährte duale Rundfunksystem übertragen, aber naheliegende Reformen nicht angegangen. Monopol- 31 bildung und Konzentration kennzeichnen heute das Pressewesen in den neuen Ländern, da die 32 Privatisierung der SED-Presse durch die Treuhand mehr am Gewinn orientiert als auf dauer- 33 hafte Meinungsvielfalt ausgerichtet war. 34 35 36 37 38 39 40 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, NS, MG

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1 Die Mitarbeiter dieses Bandes 2 3 Becker, Winfried, Dr. phil., Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Uni- 4 versität Passau 5 6 Buchstab, Günter, Dr. phil., Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche 7 Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer- 8 Stiftung e. V., Sankt Augustin 9 10 Detjen, Claus, Journalist, Verleger, Viadrina Verlag, Berlin 11 12 Dohnanyi, Klaus von, Dr. jur., Bundesminister a.D., ehem. regierender Bür- 13 germeister von Hamburg 14 15 Küsters, Hanns Jürgen, Dr. phil., Privatdozent, Bundesarchiv Sankt Augustin 16 17 Möller, Franz, Dr. jur., Landrat a. D., Bad Honnef 18 19 Ruchniewicz, Christoph, Dr. phil., Historisches Institut, Universität Wroclaw 20 21 Schiwy, Peter, Dr. jur., Rechtsanwalt, Intendant a.D., Honorarprofessor für Ge- 22 sundheitsrecht, Medienrecht und Medienpolitik, Deutsche Hochschule für 23 Verwaltungswissenschaft, Speyer 24 25 Schneider, Beate, Dr. phil., Professorin für Journalistik, Medienwissenschaft 26 und Medienmanagement, Hochschule für Musik und Theater, Hannover 27 28 Schwarz-Schilling, Christian, Dr. phil., Bundesminister a. D. 29 30 Trippen, Norbert, Prof. für Kirchengeschichte der neueren Zeit, Dr. theol., 31 Domkapitular, Bischöfliches Generalvikariat Köln 32 33 Uertz, Rudolf, Dr. phil., Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte 34 Universität Warschau, wiss. Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., 35 Sankt Augustin 36 37 Vogel, Bernhard, Dr. phil., Ministerpräsident von Thüringen, Vorsitzender der 38 Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Sankt Augustin 39 40 Wilke, Jürgen, Dr. phil., Professor für Publizistik, Universität Mainz 41 42 Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, NS, MG

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Wirsching, Andreas, Dr. phil., Professor für Neuere und Neueste Geschichte, 1 Universität Augsburg 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42