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MNO DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: Drogen, Boxer

a Durcheinander geht es in Deutschland und Europa nicht nur mit den Informationen über die Rausch- giftszene; kaum weniger widersprüchlich sind die Rezepte der Experten gegen das Elend mit den Dro- gen. Für den Titel dieses Hefts machten sich 17 Redakteure aus 5 Ressorts an die Arbeit, um der Sache auf den Grund zu kommen. Recherchiert wurde nicht nur in den deutschen Drogenzentren wie Ber- lin oder Frankfurt, sondern natürlich auch grenz- überschreitend: in Holland, wo der Umgang mit Dro- gen überaus freizügig ist, und bei den Schweden, die so restriktiv verfahren wie niemand sonst; in der Schweiz, die das Heil in einer Doppelstrategie vermutet, und in England, wo versuchsweise das He- roin von Staats wegen verteilt wird. Was Sucht aus den Opfern macht, wird unter anderem am Schicksal der Tanja D. beschrieben: Die junge Frau auf dem Titelbild hat in Hamburg alles erlitten, was eine Drogenkarriere so bietet – nun abzulesen in ihrem frühzeitig gealterten Gesicht.

a So knallhart sind die Senioren schon lange nicht mehr unterstützt worden: “Die Siege über Jüngere“, so erläutert im SPIEGEL-Gespräch Faustkämpfer George Foreman, der letzten November im boxeri- schen Greisenalter von 45 Jahren seinem Gegner Mi- chael Moorer, 26, schlagartig die Grenzen aufzeigte und so nach 20 Jahren noch einmal Weltmeister im Schwergewicht wur- de, “waren Siege für die Mensch- heit. Jetzt wissen wir, daß in die Foreman beim SPIEGEL-Gespräch Jahre zu kommen nicht die Todes- strafe bedeutet.“ Und daß “Erfolg nicht nur für die Jugend da ist“, will Foreman, der diese Woche auf Werbetournee durch die Bundesrepublik geht, demnächst auch seinem deutschen Kollegen Axel Schulz, 26, klarmachen: “Ich habe bewiesen, daß Alter keine Barriere ist.“ Zaghafte Zweifel der Redakteure Hans Hielscher und Helmut Schümann – mit 58 und 39 Lebensjahren auch schon eine Weile entfernt von ihrer sportlichen Blütezeit – beant- wortete der Meister aller Klassen mit der Auffor- derung, mal seinen Bizeps abzutasten: “Na los! Al- les hart, alles ganz fest!“ (Seite 160).

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TITEL INHALT Die erzwungene Wende in der Drogenpolitik .....50 Der Weg eines Mädchens auf den Junkie-Strich ...... 54 „Geistiger Zwergenstaat“ Seite 18 Rauschgiftbanden setzen den deutschen Markt unter Druck ...... 60 Führende Unionspo- Was aus den Kindern vom Bahnhof Zoo wurde ...62 litiker wollen mit Das verwirrte Leben eines massivem Druck Re- Dealers und Fixers ...... 68 formen des Ersten Programms und DEUTSCHLAND Wohlverhalten er- Panorama ...... 16 zwingen, vor allem Rundfunk: Kohls Attacke auf das Erste ...... 18 beim WDR. Nutznie- Interview mit dem SFB-Intendanten ßer wären private TV- Günther von Lojewski über Imperien. Es drohe die Reform der ARD ...... 21 nun ein „geistiger Koalition: Die FDP will durchhalten ...... 22 Zwergenstaat“, kriti- Grüne: Regieren mit der PDS ...... 24 siert WDR-Intendant PDS: Hartmut Palmer über Lothar Bisky Die Exorzisten tz, München Nowottny. und dessen doppelte Vergangenheit ...... 25 Der Kampf zwischen Reformern und Neostalinisten geht weiter ...... 28 Affären: Neue Verwirrung über „Bonn hat zu lange gezögert“ Seite 97 den Brandt-Vermerk ...... 32 Wie Wienand Stasi und Strauß Für private Anbieter gebe es in der Telekommunikation zu wenige gegen sich aufbrachte ...... 34 Möglichkeiten. Das Netzmonopol der Telekom, so BDI-Präsident Justiz: Proteste gegen Hamburger Hans-Olaf Henkel in einem SPIEGEL-Gespräch, sollte nicht erst Neonazi-Freispruch ...... 36 1998 beseitigt werden: „Bonn hat schon zu lange gezögert.“ Interview mit Strafrechtler Winfried Hassemer über den Mannheimer Schöffenstreik ...... 37 Hochwasser: Neue Kanäle und Schleusen für noch mehr Katastrophen ...... 38 Forum ...... 41 Verwundbare Kabel Seite 88 Zeitgeschichte: Das Bombeninferno von Dresden...... 44 Die Kabel der Daten- Energie: Bürger fürchten unterirdische netze entpuppen Erdgasspeicher ...... 72 sich als verwundbare Bürokratie: Beamte üben Freundlichkeit ...... 74 Stelle moderner Fir- Weltausstellung: Stümperei men: Letzte Woche bei der Expo-Planung ...... 76 lähmte ein Anschlag Fluchtgeld: Die seltsame Suche nach den Frankfurter Flug- den SED-Milliarden ...... 80 hafen. Nun folgen, Immobilien: Herr von Ribbeck kehrt heim so warnen Experten, nach Ribbeck im Havelland ...... 87 womöglich schon Anschläge: Die Verwundbarkeit bald ähnliche Attak- des deutschen Kabelnetzes ...... 88 ken, die ganze Wirt-

schaftszweige ge- T. HÄRTRICH / TRANSIT WIRTSCHAFT fährden könnten. Kabelschrank Trends ...... 92 Investitionen: Der Treck nach Osten stockt ...... 94 Arbeitsplätze: SPIEGEL-Gespräch mit BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel über Bonns Reformstau ...... 97 Symbol sinnloser Zerstörung Seite 44 Steuern: Weniger Arbeitslose durch mehr Dienstmädchen? ...... 102 Vor 50 Jahren zer- bombten Engländer Gewerkschaften: DGB-Chef Dieter Schulte und Amerikaner die macht sich unbeliebt ...... 104 Stadt Dresden. Der Umwelt: Asiens Wachstumsregionen massivste Luftangriff zahlen einen hohen Preis für den Wohlstand ...... 106 des Zweiten Welt- kriegs in Europa gilt als ein Symbol militä- GESELLSCHAFT risch sinnloser Zer- Medien ...... 113 störung. Nach neue- Sterben: Der Tod wird enttabuisiert ...... 114 sten Untersuchungen SPIEGEL-Gespräch mit dem Arzt starben rund 25 000 und Autor Sherwin B. Nuland über Menschen in dem

die Anarchie des Todes ...... 121 AKG Bombeninferno – vor Software-Spiegel ...... 128 Ruinenstadt Dresden (1945) allem Flüchtlinge. Psychologie: Im Fernsehen lügt sich’s leichter ...... 129

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AUSLAND Panorama Ausland ...... 130 Österreich: Zerbricht die Große Koalition? ..... 132 Seite 150 Interview mit Wiens Bürgermeister Abstieg der Weltraum-Macht Michael Häupl über die Angst vor Haider ...... 134 USA: Terroristenprozeß gegen Islam-Prediger ... 135 Mit Sputnik und dem Niederlande: Erich Wiedemann über ersten Mann im All die Zwangsevakuierung ...... 138 gelang es einst Polen: Interview mit Oppositionsführer der Sowjetunion, die Bronisław Geremek über den Machtkampf USAzu übertrumpfen. zwischen Präsident und Regierung ...... 141 Jetzt ist Rußlands Peru: Urwaldkrieg in den Anden ...... 142 Raumfahrt pleite, der Italien: Die Gewalt der Fußballfans ...... 144 Startplatz Baikonur Frankreich: Ende des Tabakmonopols ...... 146 verfällt, arbeitslose Raumfahrt: Christian Neef über den Verfall Techniker hoffen auf des russischen Weltraumbahnhofs Baikonur ..... 150 Dollarhilfe: Schon Terrorismus: Protokoll einer Befreiung: Der übt die US-Raumfäh- Sturm auf den gekaperten Airbus in Marseille .. 156 re „Discovery“ mit ei- SPORT P. KASSIN nem russischen Kos- Energija-Rakete in Baikonur monauten. Boxen: SPIEGEL-Gespräch mit Weltmeister George Foreman über seine Mission für Alte, Dicke und Jesus Christus ...... 160 Fußball: Computer ermittelt den Brasilianer Weltmacht am Hellespont? Seite 168 Dunga als besten Spieler der WM ...... 163

War Troja eine bronze- WISSENSCHAFT zeitliche Supermacht und Auslöser eines Wel- Prisma ...... 166 tenkriegs? Neue archäo- Archäologie: Troja – Supermacht in der logische Funde bewei- Bronzezeit? ...... 168 sen: Die Rätselstadt Aids: Virus-Ausbreitung im Körper aufgeklärt 176 wurde von zwei wahr- Zahnmedizin: Fruchtsaft-Hersteller haften für Kariesschäden bei Kindern ...... 177 scheinlich mit Wasser Pädagogik: Selbsthilfe gegen gefluteten Ringgräben Rechtschreibschwäche ...... 183 umgeben. Trojas Könige kontrollierten den Han- TECHNIK del mit Ostsee-Bern- stein, ukrainischen Pfer- Luftfahrt: Sprit sparen mit schlauen Flügeln ..... 178 Software: Programm für Computer- den und militärisch AKG wichtigen Metallen. Trojanisches Pferd Verweigerer ...... 180 Viehtransporte: Luxus-Laster für Zuchttiere ...... 182 Schußwaffen: Zulus feuern aus allen Rohren .. 185 „Ein Land, das Helden braucht“ Seite 190 KULTUR Das US-Kritikerlob für seinen Szene ...... 186 neuen Film „Quiz Show“ macht Filmfestspiele: Margarethe von Trottas den Hollywood-Schauspieler Mauer-Epos „Das Versprechen“ ...... 188 Robert Redford glücklich: End- SPIEGEL-Gespräch mit Robert Redford lich werde er nicht mehr als über seinen neuen Film „Quiz Show“ ...... 190 Glamour-Idol auf dem „Sockel“ Kulturgeschichte: Propaganda-Kunst gesehen, sondern als ernst zu aus der DDR ...... 193 nehmender Regisseur, Künst- Autoren: Susanna Tamaros lebenskluger ler und kritischer Moralist. Roman „Geh, wohin dein Herz dich trägt“ ...... 197 Bestseller ...... 200 Warum bislang der Star- Bücher: Taslima Nasrins „Scham“ – Charmeur Redford besser an- eine Bilanz religiösen Terrors ...... 202 kam, erklärt er selbst im SPIE- Kriminalität: Polizeioffensive gegen

J. M. KELLY / GLOBE PHOTOS GEL-Gespräch: „Wir sind ein Graffiti-Sprüher ...... 205 Redford Land, das Helden braucht.“ Pop: Die Rückkehr der Simple Minds ...... 208 Fernsehen: Der ZDF-Film „Freundinnen“ schildert das Kreuz mit der Liebe ...... 210 Legenden: Der Kult um „Star Trek“ und Raumschiff Enterprise ...... 212 Training bei Schreibschwäche Seite 183 Affären: Urheberstreit um Uschi Glas und „Anna Maria“ ...... 218 Legasthenie, die gefürchtete Rechtschreibschwäche, läßt sich Fernseh-Vorausschau ...... 226 mit einfachen Lernmethoden lindern: Ein Pädagoge aus Sach- Briefe ...... 7 sen-Anhalt entwickelte ein erfolgreiches Trainingsprogramm. Impressum ...... 14 Personalien ...... 222 Register ...... 224 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 230

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BRIEFE Stumm vor Entsetzen „Altneuland“ nur in einer sehr naiven Weise erwähnte. Augstein wird wohl (Nr. 4/1995, Titel: Auschwitz – Die letz- nicht bestreiten, daß der Staat Israel, ten Tage; über das immerhin die einzige Demokratie im Schandmal deutscher Geschichte) Nahen Osten, trotz aller Friedensbemü- Man kann nicht oft genug daran erinnert hungen stark gefährdet ist. werden, was vor über 50 Jahren auf deut- Karben (Hessen) MATTHIAS MARBURG schem Boden an Greueltaten geschehen Gedenkfeiern sind immer gut, wenn sie ist. etwas bewirken können. Was bewirken Ellwangen (Bad.-Württ.) TORSTEN FRÜH sie denn aber? Jeder weiß, daß das, was Auschwitz lebt! Während die Politiker in den KZ geschehen ist, nicht hätte ge- sich darüber streiten, wer an den offiziel- schehen dürfen. Aber wird deswegen len Feiern wieviel Redezeit zur Verfü- heute weniger gemordet oder gequält? gung hat, aber einhellig beschwören, daß Dreieich (Hessen) AXEL HOLTEN es so etwas niemals mehr geben darf, fin- Gegen die Formulierung „Auschwitz – det draußen in der Welt der real existie- kein Begriff symbolisiert stärker die rende Rassismus weiter statt. Schuld der Deutschen an diesem Jahr- Bremen THOMAS GRIEDER tausendverbrechen“ möchte ich mich Als studiertem Historiker fehlen mir im- verwahren. Auch hier sollten Sie kor- mer wieder die Worte, wenn ich Artikel rekt bleiben und besser von den deut- über den Holocaust lese. Ich bin stumm schen „Tätern“ schreiben. vor Entsetzen und schäme mich für dieje- Stuttgart DORIS LANGHAMMER nigen Deutschen, die das zu verantwor- In Anbetracht des Streits zwischen Ju- ten haben. den und Polen um die Gedenkfeiern in Wuppertal HILMAR SCHEPP Auschwitz erscheint mir ein Status für Der Katholik Hitler, der auch mit Hilfe das ehemalige Konzentrationslager an- des Vatikans, der ihn bis zuletzt stützte, gebracht, der dem der Exterritorialität an die Macht kam, hat weder praktisch entsprechen würde. Es sollte weder als noch ideologisch etwa Neues erfunden, das alleinige Eigentum Polens gelten sondern nur das imitiert, aktualisiert und noch dem einseitigen Einfluß einer Kon- technisiert, was ihm seine Kirche in ihrer fession überlassen sein. 2000jährigen Geschichte tausendfach, Paderborn ARAKDIUS CHROBOK nur in kleinem Maßstab, vorgemacht hat. Die Reduzierung der Endlösungsma- Neumünster (Schlesw.-Holst.) MARCEL ABRAMSOHN schinerie auf den Einzeltäter Hitler, der zudem als Psychopath eingestuft wird Ob Augstein nicht auf den Seitenhieb ge- („wölfisch“, „geistig-seelische Tollwut“, gen den heutigen Staat Israel hätte ver- „Hanswurst im Furchtbaren“), verkennt zichten können? Sicher entspricht dieser die vielen Mittäter, mit denen erst die in seiner heutigen Form nicht den Vor- Schoah möglich wurde. Diese Kategori- stellungen Herzls. Dies ist jedoch auch sierung verkennt auch die Interessen, unmöglich, da er in seinen „Judenstaat“ die hinter der Ausbeutung und der die Araber gar nicht einbezog und sie in Vernichtung von Millionen Menschen A. HERNANDEZ / GAMMA / STUDIO X Gedenkstätte in Auschwitz: Rassismus findet weiter statt

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BRIEFE standen, so zum Beispiel die Beteiligung Eine Milchbubenrechnung von Deutschen als Gestapo-Angehörige, (Nr. 4/1995, Ladenschluß: Die Front der SS-Männer und -Frauen, der Beschäftig- Gegner bröckelt) ten der Reichsbahn, die die Deportati- onszüge fuhren. Die Unterscheidung Sollen sich doch die 63 Prozent der deut- zwischen geistigen und tatsächlichen Tä- schen Befürworter dieser Lösung mit tern erscheint angesichts von sechs Mil- Rexrodt jeden Tag bis tief in die Nacht an lionen in KZ und Vernichtungslagern er- die Front stellen. mordeten Menschen grotesk. Leingarten (Bad.-Württ.) THILO KIESSNER Kümmersbruck (Bayern) NORBERT SCHARF NORBERT FLACH Bund der Antifaschisten, Vereinigung Müssen wir es denn unbedingt so wie die der Verfolgten des Naziregimes, LV Bayern Nachbarn machen? Göttingen DOROTHEE RICHTER Augsteins These greift alte Erklärungs- muster auf. Die Deutschen erscheinen als Die Argumente für die Freigabe der Öff- ein von einem Verrückten verführtes nungszeiten kommen einer Milchbuben- Volk. Die Vernichtung ist die Individual- rechnung gleich. Diplomaten kaufen sel- schuld Hitlers, der als der menschliche ten Ersatzteile für die Toilettenspülung. Wolf tanzt. Es ist immer am einfachsten, Und wenn in Paris kleine Geschäfte oft M. SCHRÖDER / ARGUS Verkaufsoffener Donnerstag: Bringt keine Mark mehr

Schuld zu entsorgen, indem man ein von Vietnamesen oder Nordafrikanern Monster schafft, das allein verantwort- betrieben werden, so sichert sich damit lich ist. Aber so nimmt Augstein weder eine vielfach ausgegrenzte Minderheit die Verantwortung aller Beteiligten noch notdürftig ihren Lebensunterhalt. die Leiden der Opfer ernst. Denzlingen (Bad.-Württ.) ANIELA SOPHIA SCHNEIDER Hannover WILFRIED KÖPKE Pax Christi Eine Verlängerung der Ladenschlußzei- Als SPIEGEL-Abonnent seit 1967 habe ten würde – wie der lange Donnerstag ich viele und lohnende Essays von Herrn bereits gezeigt hat – die Situation für die Augstein gelesen. Ich finde sie kenntnis- Klein- und Mittelbetriebe verschärfen. reich, interessant, oft sogar mutig. Folg- Dieser Verkaufsabend brachte lediglich lich war ich leicht entsetzt, in dem Essay eine Umsatzverlagerung in die Innen- „Oh!That Inhumanity!“ (sic!) auf ein un- zentren der Großstädte und auf die grü- richtiges Zitat zu stoßen, das in dieser ne Wiese zum Nachteil aller anderen Form auch keinen Sinn ergibt. Achtet Lagen, es wurde insgesamt keine Mark man nämlich bei sorgfältigem Abhören mehr Umsatz getätigt. der Platte vom „Hindenburg“-Desaster Bonn KARL KUNRATH auf die Worte des Reporters, hört man, Europaverband der Selbständigen Bundesverband Deutschland daß er wiederholt ausrief: „Oh, that hu- manity! All those people!“ Die korrekte Solange Beschäftigte im Einzelhandel Version ist viel sinnvoller und unter- Gehälter beziehen, die kaum den Le- streicht Herrn Augsteins Kernpunkt im bensunterhalt einer Durchschnittsfami- letzten Absatz viel besser. lie sichern können, ist der Widerstand La Jolla (USA) PROF. HAROLD SIMON berechtigt. Mit einer angemessenen Be-

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BRIEFE

zahlung des großenteils weiblichen Ein- schen um circa 25 Grad ver- zelhandelspersonals könnte man das Pro- schoben hat, stehen nun blem in den Griff bekommen. nicht mehr die gleichen Fix- Aschaffenburg KARIN FÄTH sternbilder hinter den ent- sprechenden Abschnitten der Wer Deutschland als Entwicklungsland Ekliptik. Das ändert aber imHandelbezeichnet, dem muß schonei- nichts an der richtigen astro- niges entgangen sein, so zum Beispiel, logischen Deutung des Tier- daß die Einzelhandelsverkaufspreise die kreises. niedrigsten in ganz Europa sind. Dies hat Zürich DR. ALOIS TREINDL sich bis zum Bundesgerichtshof herumge- Astrodienst sprochen, der mit diesem Argument bei Keine Juhus für Ophiuchus? einer Anhörung des Wirtschaftsaus- Das war vorauszusehen, es schusses des Deutschen Bundestages die weiß doch keiner mehr, wie Abschaffung des Rabattgesetzes ablehn- er denn nun ist als typischer te. Ophiuchiker. Gute Eigen- Regensburg DR. JOSEF MÜHLBAUER schaften, schlechte Eigen- Landesverband des Bayerischen Einzelhandels schaften, das Verhältnis zu anderen Sternzeichen, nichts.

Zum halben Preis AKG Köln SHIRIN REZAZADEH Historische Tierkreisdarstellung (Nr. 4/1995, Unternehmen: Fielmann at- Zwischen Jungfrau und Waage Das (Energie-)System der tackiert Betriebsräte) Astrologie ist in sich schlüs- Ich freue mich über jeden Kunden, der auch noch die Sternbilder mit den Tier- sig, funktioniert nachprüfbar und hat bei mir ein Nulltarif-Modell kauft. Mit kreiszeichen, den tropischen Tierkreis mit den weit entfernten Tierkreiszei- Betriebsräten und Gewerkschaften ha- mit dem siderischen Tierkreis. chen nur die Namen gemeinsam – das be ich auch keine Probleme. Der Null- Freiburg DR. PETER NIEHENKE war immer so, auch wenn eloquente tarif ist Eckpfeiler unseres Marketings. Deutscher Astrologen-Verband Kritiker das gern übersehen und lieber von Ophiuchus oder ägyptischen Prie- Jeder Fielmann-Kunde lernt dies her- Ein 13. Sternzeichen gab es schon vor stern schwafeln und großäugig neue ausragende Angebot kennen. Das stel- Jahrtausenden. Da die Babylonier Sternzeichen bestaunen. len wir sicher über unsere Grundregeln, Schaltmonate hatten, waren einige Jahre denen alle Mitarbeiter/innen verpflich- 13 Monate lang. Der 13. Monat stand im Karlsruhe UWE GRIMM tet sind. Sternbild des Raben zwischen Jungfrau Hamburg GÜNTHER FIELMANN und Waage. Dieses Sternzeichen galt als Unglückszeichen, was sich noch heute in Aachen ist nicht Bonn Es ist nicht damit getan, die Firma Fiel- dem „Unglücksraben“ ausdrückt. (Nr. 4/1995, Musik: Aachens Oper – ein mann zu verlassen. Auch nach dem Duisburg Asket unter lauter Verschwendern) Ausscheiden bleibt einem die Fürsorge HUBERT KRONENBERG des Unternehmens erhalten. So werden Bei der Namensgebung für die Tierkreis- So, wir – also die Intendanten – sitzen in Kollegen, die sich selbständig machen, der Goldgrube, und ich spiele dabei den anschließend überwacht. Für diesen abschnitte standen vor 2500 Jahren die Onkel Dagobert, zumindest im Szenario Zweck hat Fielmann Mitarbeiter be- Fixsternbilder Pate, die damals am Him- schäftigt, die mehrfach in der Woche mel hinter den entsprechenden Sonnen- Ihres Artikels. Dazu ließe sich vieles sa- die Schaufenster ehemaliger „Rhesusaf- bahnabschnitten standen. Da sich der gen, dies aber muß richtiggestellt wer- fen“ (O-Ton Fielmann) fotografieren. Punkt der Tagundnachtgleiche inzwi- den: Nein, Bonn hat meinem Amtsvor- Die dort präsentierte Ware wird dann zum halben Preis in der nächsten Fielmann-Niederlassung nachdekoriert. Dies wird gemacht, um die angebliche Preiswürdigkeit der Firma Fielmann dem Verbraucher darzustellen. Hamburg WILHELM BÖCKER Augenoptikermeister

Großäugiges Bestaunen (Nr. 4/1995, Astrologie: Neues Tierkreis- zeichen verwirrt die Sterndeuter) Alle paar Jahrzehnte kommt wieder derselbe Witz. Die Sternzeichen seien in Wirklichkeit woanders oder, wie jetzt, es seien 13 statt 12. Sie sprechen gar vom 13. Tierkreiszeichen. Dabei ist es eine seit Jahrtausenden bewährte Kon- vention, die Ekliptik, die Bahn der Son-

ne, in 12 gleiche Teile zu teilen: Die 12 D. HOPPE / NETZHAUT Tierkreiszeichen. Und Sie verwechseln Opernintendant del Monaco bei Proben: „Nicht einmal ich kann so inszenieren“

12 DER SPIEGEL 6/1995 gänger keine „,Abfindung‘ in sechsstel- liger Höhe“ überwiesen. Es sind bisher zwei vertraglich vereinbarte Wiederauf- nahmen von Riber-Inszenierungen we- gen Etatkürzung nicht zustande gekom- men und folglich ausgezahlt worden, aber mit einem geringeren Betrag. Nein, ich habe bei der Feststellung eines Defizits während meiner ersten Spielzeit (3,4 Millionen Mark), das wir ratenwei- se zurückzahlen müssen – denn Bonn ist nicht Berlin –, keine Solidaritätszuschlä- ge erteilt. Nein, die Neueinstudierung der „Carmen“ habe ich weder fern- mündlich noch telefonisch besorgt, auch nicht durch Rauchzeichen aus meiner Havanna: Nicht einmal ich kann so in- szenieren. Dafür hatten wir tatsächlich meinen zuverlässigen Assistenten von der Erstproduktion als „Freien“ enga- giert. Und der hat für seine Gage volle zwei Monate gearbeitet, nicht bloß zwei Proben lang. Nur zwei Proben hatte hin- gegen der Dirigent Shuja Okatsu, der seine „Carmen“-Dirigate nicht extra be- zahlt bekommt und auch keine Pannen in der Premiere verursacht hat. So gäbe es noch so manches Nein und vieles Jein zu diesem Artikel, doch auch ein Ja: Aachen ist nicht Bonn und Bonn nicht Berlin – eine Erkenntnis, die einen ge- radezu verblüffenden journalistischen Neuigkeitswert besitzt. Bonn GIAN-CARLO DEL MONACO Intendant der Oper der Stadt Bonn

Am Aufbau beteiligt (Nr. 3/1995, Beschäftigung: Wo entste- hen die Arbeitsplätze von morgen?) Der von Ihnen zitierte Christof Steinke hat zwar, wie Sie schreiben, am Aufbau der Firma Pixelpark mitgearbeitet, war aber nicht Gründungsmitglied. Die Fir- ma Pixelpark GmbH wurde 1991 zusam- men von zwei Personen gegründet, nämlich Diplom-Medien-Berater Paulus Neef und Diplom-Designer Eku Wand.

Berlin EKU WAND

Geimpfte Köder (Nr. 3/1995, Wildtiere: Feldhasen auf der Roten Liste) Die Hasenpopulation nimmt ab, sofort wird nach einer „Volkszählung“ geru- fen, da ein genauer Überblick nicht vor- zuliegen scheint. Davon unbeeindruckt bejagen die Jäger nun nicht nur deren Freßfeinde, die Füchse, sondern sicher- heitshalber auch die Hasen. Die ganze Posse spielt sich dazu in einem System ab, das als Räuber-Beute-Beziehung be- zeichnet wird, und dadurch charakteri- siert ist, daß es sich von selbst auf einen stabilen Zustand einpendeln könnte. Erftstadt (Nrdrh.-Westf.) DR. JÜRGEN MILDE

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BRIEFE MNO Endlich ein Bericht, der dem Jäger nicht 20457 Hamburg, Brandstwiete 19, Telefon (040) 3007-0, Telefax (040) 3007 2247, Telex 2 162 477 die Schuld am Rückzug des Feldhasen in CompuServe: 74431,736 . Internet: http://www.spiegel.de/spiegel die Schuhe schiebt. Hier wäre vor allem HERAUSGEBER: Rudolf Augstein (005521) 275 1204, Telefax 542 6583 . Rom: Valeska von die Landwirtschaft zu nennen, die die Roques, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (00396) 679 7522, Tele- CHEFREDAKTEUR: Stefan Aust fax 679 7768 . Stockholm: Hermann Orth, Scheelegatan 4, Biotope des Hasen verringert hat. 11 223 Stockholm, Tel. (00468) 650 82 41, Telefax 652 99 97 . Morgenland (Nieders.) LÜR KAEMENA STELLV. CHEFREDAKTEURE: Joachim Preuß, Dr. Dieter Wild Warschau: Andreas Lorenz, Ul. Polna 44/24, 00-635 Warschau, Tel. (004822) 25 49 96, Telefax 25 49 96 . Washington: Karl- REDAKTION: Karen Andresen, Ariane Barth, Dieter Bednarz, Wil- Heinz Büschemann, Siegesmund von Ilsemann, 1202 National Der größte Feind des Hasen wurde nicht helm Bittorf, Peter Bölke, Dr. Hermann Bott, Klaus Brinkbäumer, Press Building, Washington, D. C. 20 045, Tel. (001202) Werner Dähnhardt, Dr. Thomas Darnstädt, Hans-Dieter Degler, 347 5222, Telefax 347 3194 . Wien: Dr. Martin Pollack, Schön- erwähnt, nämlich der Jäger. Ist es nicht Dr. Martin Doerry, Adel S. Elias, Nikolaus von Festenberg, Uly brunner Straße 26/2, 1050 Wien, Tel. (00431) 587 4141, Telefax schon verwunderlich genug, daß Jäger Foerster, Klaus Franke, Gisela Friedrichsen, Angela Gatterburg, 587 4242 Henry Glass, Johann Grolle, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Dr. die Hasenpopulation an den von ihnen Hans Halter, Werner Harenberg, Dietmar Hawranek, Manfred W. ILLUSTRATION: Werner Bartels, Renata Biendarra, Martina Blu- Hentschel, Hans Hielscher, Wolfgang Höbel, Heinz Höfl, Cle- me, Barbara Bocian, Ludger Bollen, Katrin Bollmann, Thomas ermordeten Tieren messen? mens Höges, Joachim Hoelzgen, Dr. Jürgen Hohmeyer, Hans Bonnie, Regine Braun, Martin Brinker, Manuela Cramer, Josef Berlin MICHAELA HEMPEN Hoyng, Thomas Hüetlin, Rainer Hupe, Ulrich Jaeger, Hans-Jürgen Csallos, Volker Fensky, Ralf Geilhufe, Rüdiger Heinrich, Tiina Hur- Jakobs, Urs Jenny, Dr. Hellmuth Karasek, Sabine Kartte-Pfähler, me, Claudia Jeczawitz, Antje Klein, Ursula Morschhäuser, Corne- Klaus-Peter Kerbusk, Ralf Klassen, Petra Kleinau, Sebastian lia Pfauter, Monika Rick, Chris Riewerts, Julia Saur, Detlev Sie lassen außer acht, daß Mäuse die Knauer, Dr. Walter Knips, Susanne Koelbl, Christiane Kohl, Dr. Scheerbarth, Manfred Schniedenharn, Frank Schumann, Rainer Hauptbeute des Fuchses sind, nicht Ha- Joachim Kronsbein, Bernd Kühnl, Wulf Küster, Dr. Romain Leick, Sennewald, Dietmar Suchalla, Karin Weinberg, Matthias Welker, Heinz P. Lohfeldt, Udo Ludwig, Klaus Madzia, Armin Mahler, Dr. Monika Zucht sen. Wir begrüßen jedenfalls eine vor- Hans-Peter Martin, Georg Mascolo, Gerhard Mauz, Gerd Meißner, SCHLUSSREDAKTION: Rudolf Austenfeld, Horst Beckmann, Sa- Fritjof Meyer, Dr. Werner Meyer-Larsen, Michael Mönninger, Joa- bine Bodenhagen, Reinhold Bussmann, Dieter Gellrich, Hermann läufige Unterschutzstellung des Feldha- chim Mohr, Mathias Müller von Blumencron, Bettina Musall, Dr. Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Karl-Heinz Körner, Inga sen, dessen Jagdzeit auf den Herbst be- Jürgen Neffe, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hans-Joachim Noack, Lembcke, Christa Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Andreas Claudia Pai, Rainer Paul, Christoph Pauly, Jürgen Petermann, M. Peets, Gero Richter-Rethwisch, Thomas Schäfer, Ingrid Seelig, schränkt werden sollte. Dietmar Pieper, Norbert F. Pötzl, Detlef Pypke, Dr. Rolf Rietzler, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka, Ruth Tenhaef, Hans-Jürgen Göttingen RAINER BARTHEL Vogt, Kirsten Wiedner, Holger Wolters Dr. Fritz Rumler, Dr. Johannes Saltzwedel, Karl-H. Schaper, Ma- AG Naturnahe Jagd Norddeutschland rie-Luise Scherer, Heiner Schimmöller, Roland Schleicher, Mi- VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Pan- chael Schmidt-Klingenberg, Cordt Schnibben, Hans Joachim orama, Koalition, Grüne, PDS, Affären (S. 32), Katastrophen: Dr. Schöps, Dr. Mathias Schreiber, Bruno Schrep, Helmut Schü- Gerhard Spörl; für Rundfunk, Medien, Software-Spiegel, Soft- mann, Matthias Schulz, Birgit Schwarz, Ulrich Schwarz, Dr. Ste- ware, Kiosk: Uly Foerster; für Justiz, Forum, Zeitgeschichte, Titel- fan Simons, Mareike Spiess-Hohnholz, Dr. Gerhard Spörl, Olaf geschichte, Energie, Bürokratie, Weltausstellung, Immobilien, Stampf, Hans-Ulrich Stoldt, Peter Stolle, Barbara Supp, Dieter G. Anschläge: Clemens Höges; für Fluchtgeld, Trends, Investitionen, Uentzelmann, Klaus Umbach, Hans-Jörg Vehlewald, Dr. Manfred Arbeitsplätze, Steuern, Gewerkschaften, Umwelt: Armin Mahler; Weber, Susanne Weingarten, Alfred Weinzierl, Marianne Wellers- für Sterben, Kriminalität, Pop, Fernsehen, Legenden, Affären hoff, Peter Wensierski, Carlos Widmann, Erich Wiedemann, Chri- (S. 218), Fernseh-Vorausschau: Wolfgang Höbel; für Panorama stian Wüst, Peter Zobel, Dr. Peter Zolling, Helene Zuber Ausland, Österreich, USA, Polen, Peru, Frankreich, Terrorismus: Dr. Romain Leick; für Psychologie, Prisma, Archäologie, Aids, REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND: Berlin: Wolf- Zahnmedizin, Luftfahrt, Viehtransporte, Pädagogik, Schußwaf- gang Bayer, Petra Bornhöft, Markus Dettmer, Jan Fleischhauer, fen: Jürgen Petermann; für Boxen, Fußball: Heiner Schimmöller; Uwe Klußmann, Jürgen Leinemann, Claus Christian Malzahn, für Szene, Filmfestspiele, Kulturgeschichte, Bestseller, Bücher: Walter Mayr, Harald Schumann, Gabor Steingart, Kurfürstenstra- Dr. Martin Doerry; für namentlich gezeichnete Beiträge: die Ver- ße 72 – 74, 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91-0, Telefax fasser; für Briefe, Personalien, Register, Hohlspiegel, Rückspie- 25 40 91 10 . Bonn: Winfried Didzoleit, Manfred Ertel, Dr. Olaf gel: Ralf Klassen; für Titelbild: Thomas Bonnie; für Gestaltung: Ihlau, Dirk Koch, Ursula Kosser, Dr. Paul Lersch, Hans Leyen- Dietmar Suchalla; für Hausmitteilung: Hans Joachim Schöps; decker, Elisabeth Niejahr, Hartmut Palmer, Olaf Petersen, Rainer Chef vom Dienst: Horst Beckmann (sämtlich Brandstwiete 19, Pörtner, Hans-Jürgen Schlamp, Hajo Schumacher, Alexander 20457 Hamburg) Szandar, Klaus Wirtgen, Dahlmannstraße 20, 53113 Bonn, Tel. . DOKUMENTATION: Jörg-Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Ulrich (0228) 26 70 3-0, Telefax 21 51 10 Dresden: Sebastian Bor- Booms, Dr. Helmut Bott, Dr. Jürgen Bruhn, Lisa Busch, Heinz Egle- ger, Christian Habbe, Königsbrücker Str. 17, 01099 Dresden, . der, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Dr. Karen Eriksen, Ille Tel. (0351) 567 0271, Telefax 567 0275 Düsseldorf: Ulrich von Gerstenbergk-Helldorff, Dr. Dieter Gessner, Hartmut Heidler, Bieger, Georg Bönisch, Richard Rickelmann, Oststraße 10, . Wolfgang Henkel, Gesa Höppner, Jürgen Holm, Christa von Holtz- 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) 93 601-01, Telefax 35 83 44 apfel, Joachim Immisch, Hauke Janssen, Günter Johannes, Ange- Erfurt: Felix Kurz, Dalbergsweg 6, 99084 Erfurt, Tel. (0361) . la Köllisch, Sonny Krauspe, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot- M. DANEGGER / OKAPIA 642 2696, Telefax 566 7459 Frankfurt a. M.: Peter Adam, Langheim, Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig, Wolfgang Bittner, Annette Großbongardt, Rüdiger Jungblut, Ulrich Sigrid Lüttich, Roderich Maurer, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Ger- Europäischer Feldhase Manz, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) . hard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Christel Nath, Annelie- Sicherheitshalber mitgejagt 71 71 81, Telefax 72 17 02 Hannover: Ansbert Kneip, Rathe- se Neumann, Werner Nielsen, Paul Ostrop, Anna Petersen, Peter naustraße 16, 30159 Hannover, Tel. (0511) 32 69 39, Telefax Philipp, Axel Pult, Ulrich Rambow, Dr. Mechthild Ripke, Constanze 32 85 92 . Karlsruhe: Dr. Rolf Lamprecht, Amalienstraße 25, . Sanders, Petra Santos, Christof Schepers, Rolf G. Schierhorn, Ek- Ich halte es nicht für seriös, Dr. Kalch- 76133 Karlsruhe, Tel. (0721) 225 14, Telefax 276 12 Mainz: kehard Schmidt, Andrea Schumann, Claudia Siewert, Margret Wilfried Voigt, Weißliliengasse 10, 55116 Mainz, Tel. (06131) . Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Stefan Storz, Mo- reuter, selbst passionierter Jäger, als 23 24 40, Telefax 23 47 68 München: Dinah Deckstein, An- nika Tänzer, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Jutta Temme, nette Ramelsberger, Dr. Joachim Reimann, Stuntzstraße 16, unabhängigen Experten zu bezeichnen. . Dr. Iris Timpke-Hamel, Carsten Voigt, Horst Wachholz, Ursula 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Telefax 4180 0425 Wamser, Dieter Wessendorff, Andrea Wilkens, Karl-Henning Win- Es ist schließlich nur allzu logisch, daß Schwerin: Bert Gamerschlag, Spieltordamm 9, 19055 Schwe- delbandt . rin, Tel. (0385) 557 44 42, Telefax 56 99 19 Stuttgart: Dr. BÜRO DES HERAUSGEBERS: Irma Nelles ein leidenschaftlicher Hobbyjäger seine Hans-Ulrich Grimm, Sylvia Schreiber, Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 22 15 31, Telefax 29 77 65 NACHRICHTENDIENSTE: ADN, AP, dpa, Los Angeles Times/Wa- bevorzugte Freizeitbeschäftigung nicht shington Post, Newsweek, New York Times, Reuters, sid, Time als überflüssig darstellen wird, selbst REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND: Basel: Jürg Bürgi, Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 283 0474, Telefax SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG wenn sie dies gerade in bezug auf 283 0475 . Belgrad: Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, Abonnenten-Service: Tel. 0130-863006, Telefax (040) Füchse ist. 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 66 99 87, Telefax 66 01 60 . 30072898 Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg Brüssel: Heiko Martens, Marion Schreiber, Bd. Charlemagne Neuffen (Bad.-Württ.) DAG FROMMHOLD . Abonnementspreise: Normalpost Inland: sechs Monate DM 45, 1040 Brüssel, Tel. (00322) 230 61 08, Telefax 231 1436 130,00, zwölf Monate DM 260,00, für Studenten (nur Inland) DM Jerusalem: Jürgen Hogrefe, 29, Hatikva Street, Yemin Moshe, . 182,00. Normalpost Europa: sechs Monate DM 184,60, zwölf Jerusalem 94103, Tel. (009722) 24 57 55, Telefax 24 05 70 Monate DM 369,20; Seepost Übersee: sechs Monate DM Erst wird der Fuchs fast ausgerottet, Johannesburg: Almut Hielscher, Royal St. Mary’s, 4th Floor, 85 189,80, zwölf Monate DM 379,60; Luftpostpreise auf Anfrage. dann gibt man ihm geimpfte Köder, Eloff Street, Johannesburg 2000, Tel. (002711) 333 1864, Tele- Verlagsgeschäftsstellen: Berlin: Kurfürstenstraße 72 – 74, fax 336 4057 . Kairo: Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, damit er sich wieder vermehren kann. . 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91 25/26, Telefax 25 40 9130; Muhandisin, Kairo, Tel. (00202) 360 4944, Telefax 360 7655 Düsseldorf: Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) Kiew: Martina Helmerich, ul. Kostjolnaja 8, kw. 24, 252001 Jetzt sind es auf einmal zu viele, die . 936 01 02, Telefax 36 42 95; Frankfurt a. M.: Oberlindau 80, Kiew, Tel. (007044) 228 63 87 London: Bernd Dörler, 6 Hen- 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 72 03 91, Telefax 72 43 32; Schuld an der Ausrottung der Hasen rietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (004471) 379 8550, Tele- . Hamburg: Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Tel. (040) haben sollen. Aber es ist ja einfach, fax 379 8599 Moskau: Jörg R. Mettke, Dr. Christian Neef, Kru- 3007 2545, Telefax 3007 2797; München: Stuntzstraße 16, tizkij Wal 3, Korp. 2, kw. 36, 109 044 Moskau, Tel. (007502) . 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Telefax 4180 0425; den Fuchs zu beschuldigen, da er der 220 4624, Telefax 220 4818 Neu-Delhi: Dr. Tiziano Terzani, Stuttgart: Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) am leichtesten zu behebende Faktor 6-A Sujan Singh Park, New Delhi 110003, Tel. (009111) 226 30 35, Telefax 29 77 65 469 7273, Telefax 460 2775 . New York: Matthias Matussek, ist. 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N. Y. 10036, Tel. Verantwortlich für Anzeigen: Horst Görner (001212) 221 7583, Telefax 302 6258 . Paris: Lutz Krusche, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 49 vom 1. Januar 1995 Hattersheim am Main SABINE GRIMM Helmut Sorge, 17 Avenue Matignon, 75008 Paris, Tel. (00331) Postgiro-Konto Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 . 4256 1211, Telefax 4256 1972 Peking: Jürgen Kremb, Qi- Druck: Gruner Druck, Itzehoe; maul belser, Nürnberg jiayuan 7. 2. 31, Peking, Tel. (00861) 532 3541, Telefax VERLAGSLEITUNG: Fried von Bismarck Die Redaktion des SPIEGEL behält sich vor, 532 5453 . Prag: Jilska´ 8, 11 000 Prag, Tel. (00422) 24 22 Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. 0138, Telefax 24 22 0138 . Rio de Janeiro: Jens Glüsing, Ave- MÄRKTE UND ERLÖSE: Werner E. Klatten nida Sa˜o Sebastia˜o, 157 Urca, 22291 Rio de Janeiro (RJ), Tel. GESCHÄFTSFÜHRUNG: Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist ei- DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $290.00 per annum. ne Postkarte der Nordwestdeutschen Klassenlotte- Distributed by German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Second class rie, Hamburg, beigeklebt. postage is paid at Englewood, NJ 07631 and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: Eine Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ent- DER SPIEGEL, GERMAN LANGUAGE PUBLICATIONS, INC., P.O. Box 9868, Englewood, NJ 07631-1123. hält eine Beilage des Rentrop Verlages, Bonn, so- wie der Firma Music & More, Frankfurt am Main.

14 DER SPIEGEL 6/1995 Werbeseite

Werbeseite .

DEUTSCHLAND PANORAMA

Bundeswehr hätten nur solche Soldaten liche Nato-Aktion auf dem Anspruch, die tatsächlich Balkan zum Schutz des Uno- Weniger Geld ständig am „fliegerischen Abzugs angeboten hatte, Dienst“ teilnähmen; das sei freiwillig zum Kampfeinsatz für Gefangene bei Kriegsgefangenen aber gemeldet. Falls deutsche „Tornado“-Pi- nicht der Fall. Noch größe- loten bei einem Nato-Einsatz rer Verlust droht nach derlei Gentechnik in Bosnien oder Kroatien in bürokratischen Plänen den serbische Gefangenschaft ge- Familien von gefangenen Pi- Eingriff in raten, können sie nicht mit loten, die ihre Fluglizenz Milde des Dienstherren rech- weniger als fünf Jahre besit- Raps-Erbgut nen. Ihnen soll dann nach zen; ihnen wird im Fall Erstmals soll in ganz Euro- Plänen des Bundesverteidi- der Gefangennahme auch pa gentechnisch veränderter gungsministeriums das Ein- die sogenannte Stellenzulage Raps frei verkauft werden. kommen gekürzt werden. Ih- von 900 Mark im Monat ge- Die EU-Kommission will ei- re „Fliegerzulage“ – 600 strichen. Vor allem junge Pi- nem entsprechenden Antrag Mark im Monat – wird streng loten haben sich beim Jagd- des belgischen Saatguther- nach Vorschrift vom Tag der bomber-Geschwader 32 in stellers Plant Genetic Sy-

Gefangennahme an einbehal- Lechfeld, dessen Tornado- stems zustimmen. Die deut- G. BEER / VISUM ten. Groteske Begründung: Kampfjets die christlich-libe- sche Zulassungsbehörde, das Genversuchslabor in Deutschland Es gehe um eine „Aufwands- rale Bundesregierung vori- Berliner Robert-Koch-Insti- entschädigung“, und darauf gen Dezember für eine mög- tut, willigte am vorigen Mitt- Eine „Gefährdung der Um- woch bereits ein. Der Ein- welt“ sei nicht „auszuschlie- griff ins Erbgut schützt den ßen“, warnt deshalb das Um- Raps vor dem Totalherbizid weltbundesamt. „Basta“ von Hoechst, einem Unkrautvernichtungsmittel, Rüstungsexport das normalerweise auch die Nutzpflanze vernichten wür- Zuschuß de. Bislang durfte der genmanipulierte Raps nur aus Bonn auf wenigen abgeschirmten Die Bundesregierung will Versuchsfeldern angepflanzt rund 150 Millionen Mark für werden; abgeerntete Stauden den Bau zweier Fregatten wurden vollständig vernich- beisteuern, die vom türki- tet. Ob Hasen oder Rehe den schen Verteidigungsministe- Gen-Raps vertragen, wenn rium bei der Hamburger sie davon fressen, ist nicht Werft Blohm + Voss geor- untersucht worden. Ökolo- dert wurden. Einen entspre- gen fürchten zudem, daß die chenden Posten im nächsten neuen Pflanzen einen unge- Bundeshaushalt sollten vori-

IMO zügelten Einsatz von Un- ge Woche die zuständigen Bundeswehr-„Tornado“, Piloten krautvertilgern begünstigen. Parlamentarier im Haushalts-

Zwick-Affäre zeichnungen des jungen Zwick beschlagnahmt. Darin findet sich die Formulierung des Sohnes, es sei „desinteressant“, das Erbe mit den horrenden Steuerschulden anzunehmen. „Grober Eigennutz“ Er habe, wirft ihm die Staatsanwaltschaft vor, einen Ausweg Johannes Zwick, Sohn des vor dem Finanzamt in die gefunden: Mit ausdrücklicher Billigung seiner Eltern habe Schweiz geflohenen Bäderkönigs Eduard Zwick, soll am sich Zwick an eine großangelegte „planmäßige Vermögens- Steuerbetrug seines Vaters wissentlich und willentlich aus umschichtung“ gemacht. Die Anteile von Zwick senior an „grobem Eigennutz“ mitgewirkt haben. Das geht aus der der Johannesbad AG (Wert: rund 150 Millionen Mark) wur- Anklageschrift hervor, die von der Landshuter den tatsächlich unter Wert an fünf luxemburgi- Staatsanwaltschaft nach einjährigen Ermittlun- sche Holdings verkauft. Von dort kaufte sie gen vorgelegt worden ist. Danach habe Zwick der Sohn zurück – und entging so der Haftung junior jene Steuern sparen wollen, die er als für die Steuerschulden des Vaters. Nachfolger seines Vaters für die Kurklinik Jo- Gleichzeitig versuchte Zwick, die Steuerschuld hannesbad im niederbayerischen Bad Füssing niederschlagen zu lassen. Er erstellte, so die hätte zahlen müssen. Eduard Zwick schuldete Vorwürfe der Staatsanwaltschaft, eine Vermö- dem Freistaat Bayern 73 Millionen Mark. gensübersicht, die den Vater (geschätztes Ver- Der Sohn hingegen behauptet, er werde ver- mögen: rund 300 Millionen Mark) arm rechne- folgt, weil sein Vater für die Behörden im te. Vergessen wurde etwa der Wert von 4500 Schweizer Exil nicht zu fassen sei. Als „politi- Kühen auf der väterlichen Ranch in den USA, schen Gefangenen“ der bayerischen Regierung ein 15-Millionen-Dollar-Devisengeschäft oder bezeichnete er sich, als er vergangenes Jahr auch das noch ausstehende 200 000-Mark-Dar-

vier Monate in Untersuchungshaft saß. Die REUTER lehen an den ehemaligen bayerischen Finanz- Staatsanwälte haben handschriftliche Auf- Johannes Zwick minister Gerold Tandler (CSU).

16 DER SPIEGEL 6/1995 .

ausschuß genehmigen. Kein Abgeordneter mochte sich verweigern, auch die Vertre- ter der SPD setzten sich über anderslautende Beschlüsse ihrer Partei hinweg. Grund: Der Großauftrag der türki- schen Militärs könnte die krisengebeutelte Werft im sozialdemokratisch regierten Stadtstaat Hamburg fast ein Jahr auslasten. Umstritten ist nur noch, in welchem Mini- steriumsetat die Kosten für die Subventionierung auftau- chen sollen.

Solidaritätszuschlag Entlastung für Eltern Bereits einen Monat nach Einführung des Solidaritäts- zuschlags will Finanzminister KARWASZ K.-B. Waigel

Theo Waigel (CSU) die Bela- stung wenigstens für Famili- en mit Kindern mildern. Er empfiehlt dem Parlament, bereits 1995 einen „Kinder- abzugsbetrag“ einzuführen. 600 Mark pro Kind sollen von der Sonderabgabe be- freit werden. Familien wür- den für jedes Kind 45 Mark Steuern im Jahr sparen; Wai- gel muß Ausfälle von 550 Millionen Mark hinnehmen. Die Großzügigkeit kommt nicht ganz freiwillig. Eine Welle von Protestbriefen von Bürgern ans Kanzleramt, ans Finanzministerium und an die Fraktionen wegen der Last des Solidaritätszuschlags hat die Regierung mürbe ge- macht – rechtzeitig vor den Landtagswahlen in Hessen und Nordrhein-Westfalen.

DER SPIEGEL 6/1995 17 . VARIO-PRESS Medienpolitiker Kohl*: „Jedes Gespür für Anstand und Würde ist verlorengegangen“

Rundfunk „WIR BEISSEN JETZT ZU“ Unionspolitiker wollen mit einer Attacke auf die Rundfunkfreiheit das Erste Fernsehprogramm abschaffen, die SPD droht mit Kündigung der Staatsverträge für das Zweite: Die herkömmliche Ordnung der öffentlich-rechtlichen Sen- der, die an die Privaten Zuschauer und Werbegelder verlieren, gerät ins Rutschen.

anze zwei Zuschauer von insge- Kohls „Wutgeschoß“, wie es der soll unter Kuratel gestellt und drastisch ge- samt drei Millionen protestierten SPD-Medienpolitiker emp- schrumpft, wenn nicht in ihrer bisherigen Gbeim Westdeutschen Rundfunk fand, löste eine hektische Debatte über Form ganz aufgelöst werden. (WDR) gegen eine Fernsehsatire. die Rundfunkfreiheit und Zukunft des Es ist der bisher schwerste Anschlag auf und der Russe Boris Jel- öffentlich-rechtlichen Fernsehens aus. die öffentlich-rechtliche Rundfunkfrei- zin telefonierten im ARD-Magazin Eine „Gleichschaltung“ befürchtete heit seit Konrad Adenauer, der sich einen „Monitor“ miteinander („Hallo, Boris“) WDR-Intendant Friedrich Nowottny. Regierungssender zulegen wollte und – scheinbar. Denn daruntergelegt war Den „Fortbestand der ARD“, grollte 1961 am Bundesverfassungsgericht schei- die Stimme von Kohl-Imitator Thomas der Kanzler in einem offenen Brief an terte. Die Pläne sollen den Regierenden Freitag: „Ich rufe dich an wegen dieser den Münchner ARD-Vorsitzenden Al- mehr Einfluß auf die Programme sichern Sache da in Tadschinkistan oder wie das bert Scharf, Kopie an Nowottny, vermö- und den Privatfunkernden Wegineinneu- heißt . . . Müssen denn da eigentlich so ge er „dem Bürger, der gezwungen ist, es Fernsehzeitalter voller freier Kanäle viele Leichen herumliegen?“ für den Bestand der ARD Gebühren zu ebnen. Pay-TV oder Spartenprogramme Das dritte Echo war regierungsamt- zahlen, nicht zu vermitteln“. Scharf für spezielle Zielgruppen, von Hausfrau- lich: ein Wutausbruch des Bundeskanz- konterte, es „sei unangemessen und in en bis Senioren, von Golfspielern bis Rät- lers. hohem Maße ungerecht“, wegen einer selfreunden, verheißen gute Geschäfte. Kohl hatte die übliche Schlußsatire „solchen Ärgerlichkeit“ die Existenz der Bei dieser Expansion soll die ARD, von „Monitor“ selbst gar nicht gesehen. ARD in Frage zu stellen. geht es nach den Unionsstrategen, nicht Tags darauf wurde ihm in der Morgen- Ärger und Ärgernis paßten dem Me- mitmachen. Sie würde zum Nischensen- runde des Kanzleramts die Bild-Zeitung dienpolitiker Kohl ins Konzept. Mit der der für Kultur, Bildung und Information – mit einem Verriß („neuer Tiefpunkt des Schmähung, den TV-Verantwortlichen eine Aufgabe, die das Bundesverfassungs- öffentlich-rechtlichen TVs“) gereicht. sei „jedes Gespür für Anstand und Wür- gericht als „Grundversorgung“ definiert Der Kanzler geriet in Rage. de verlorengegangen“, heizte er eine hat. sorgsam geplante Kampagne gegen das Die Attacke der Union ist gut pla- * Auf einem TV-Monitor während des CDU-Partei- Erste Programm an. Die ARD, mitsamt ziert. Die ARD ist ohnehin geschwächt: tages in Hamburg 1994. dem Kohl verhaßten Großsender WDR, Werbeeinnahmen wandern, wie beim

18 DER SPIEGEL 6/1995 .

ZDF, zur kommerziellen Konkurrenz Das Radikalpapier bedeutet: weg mit weg (siehe Grafik). Kritik an aufgebläh- dem Ersten, weg mit „Tagesschau“, ten Verwaltungen und an der Gebüh- „Tatort“ und Magazinen wie „Monitor“, renverschwendung gehört zum Stan- „Report“ und „Panorama“. dardrepertoire aller Parteien. Nach diesem zweiten Rammstoß der Kohl hatte schon bei einem Treffen Unionsstrategen gegen die ARD kam die mit CDU/CSU-Ministerpräsidenten am dritte Kampfansage dann wieder vom 12. Januar in Bonn einen Vorstoß zur Chef persönlich. Als „grundsätzlich rich- Neuorganisation der ARD vereinbart. tig“ lobte der Kanzler die Reformideen „Ein so gutes Gespräch“ habe er lange von Stoiber und Biedenkopf. Es gehe nicht mehr gehabt, „auf hohem Niveau zwar nicht um die Abschaffung der ARD. und gut vorbereitet“, strahlte der Kanz- Doch die Stellungnahme der Intendan- ler. Die Federführung für das Projekt ten, die am vergangenen Dienstag die erhielten Bayern-Chef Edmund Stoiber Pläne geschlossen ablehnten, verkenne, und Sachsen-Kollege . „daß eine weitere Erhöhung der Rund- Am vorletzten Wochenende, kurz funk- und Fernsehgebühren“ und eine nach Kohls Schimpfbrief an ARD-Chef „Ausdehnung der Werbezeiten“ im öf- Scharf, wurde das Papier des Duos be- fentlich-rechtlichen Fernsehen nicht in kannt (SPIEGEL 5/1995). In 16 Thesen Frage kämen. formulierten Stoiber und Biedenkopf ih- Die Rechnung ging auf. Mit der ARD- re Anklage gegen die ARD, gefordertes Kampagne war es der Union gelungen, Strafmaß: der Tod. Kernpunkte: die Meinungsführerschaft zu überneh- i Die ARD erhalte zu viele Gebühren, men. das ZDF zu wenige (siehe Grafik Sei- „Die wollen uns ein Thema aufdrän- Auf Empfang te 20); gen“, erkannte der niedersächsische Mi- Erlöse der Sender i die ARD sei zu einem Konzern unter nisterpräsident Gerhard Schröder. Der Führung des größten Senders WDR SPD-Parteivorstand fand erst zum Wo- geworden, darunter leide die Vielfalt chenende eine gleichgewichtige des Angebots; Antwort: Er nahm sich kurzerhand rundfunkgebühren monatlich in Mark i das Angebot sei andererseits weit grö- des Kanzlers Lieblingskind, das ßer, als es der Gesetzgeber für die ZDF, als Geisel. Wenn die Union 1983 1988 1990 1992 1993 1994 1995 „Grundversorgung“ der Bevölkerung den Vormarsch auf die ARD nicht verlange, und damit auch zu teuer; stoppe, so die Drohung, werde die 16,2516,60 19,00 23,80 23,80 23,80 23,80 i kleine Sendeanstalten verursachten SPD den Staatsvertrag über das neue Bundesländer 19,0020,60 22,20 23,80 unnötige Kosten; ZDF kündigen. i Mißwirtschaft werde getrieben, des- Auch Unionspartner FDP nahm halb solle es keine höheren Gebühren sich das ZDF vor: Der Sender müs- geben und auch keine Erweiterung se „in den Wettbewerb entlassen“ wer- netto-werbeerlöse der RTL der Werbezeiten; den, forderte der FDP-Medienexperte großen fernsehsender 1900 i die „Vielfalt“ der sonst unbezahlba- Hans-Joachim Otto, und könne künftig in Millionen Mark ren Dritten TV-Programme müsse ge- sogar an der Börse notieren. Sogar FDP- rettet werden, deshalb sei „ein zwei- Generalsekretär Guido Westerwelle ging Sat 1 tes nationales Vollprogramm neben aufDistanzzurUnionundkritisierte „den 1400 dem des ZDF“ überflüssig. Versuch, die ARD zu disziplinieren“. Pro Sieben Die Initiatoren kön- 1000 nen dennoch zufrieden 935 sein. Die ARD sei nun ein „zerrütteter 679 Hühnerhaufen“, unkt ZDF 320 CDU-Mann Dieter 307 Weirich, Intendant der 294 ARD 300 Deutschen Welle. Bie- 15 denkopf, langjähriger 1989 1990 1991 1992 1993 1994* Beiratsvorsitzender *geschätzt der Bertelsmann-Stif- tung, und Kanzler Kohl, der den Münch- gebühreneinnahmen 7,0 7,1 ner Film- und Fernseh- in Milliarden Mark* 6,9 Tycoon Leo Kirch zu 4,3 seinen Freunden zählt, 3,6 haben das Undenkbare möglich gemacht: Das 1,8 ARD Ende der ARD scheint erreichbar, der Sieges- zug der Kommerzpro- 1983 1988 1990 1992 1993 1994 gramme abgesichert. 1,4 1,5 1,6 0,8 0,9 1,0 Beider drohenden Zer- ZDF

E. LAUE / ASPECT schlagung werde „die Medienpolitiker Stoiber, Biedenkopf Republik vermutlich *ab 1992 inklusive bundesweiter Hörfunk und Europäischer Kulturkanal „Hilfreiches Druckmittel“ zum geistigen Zwer- 19 DEUTSCHLAND genstaat mutieren“, kritisiert WDR- Voß, Intendant des Südwestfunks, kriti- trag zu kündigen und den Bayerischen Chef Nowottny, einst mit CDU-Stimmen sierte ebenfalls den „versuchten Verfas- Rundfunk sowie den Mitteldeutschen gewählt. sungsbruch“ seiner Parteifreunde. Und Rundfunk (MDR) 1998 aus der ARD Noch sind 69 Prozent der Deutschen, der Chef des Senders Freies Berlin abzumelden, verfängt nicht so leicht. wie TV Today in einer Umfrage ermittel- (SFB), der unionsnahe Günther von Lo- Der MDR ist eine Dreiländeranstalt für te, gegen die Abschaltung des Ersten. jewski, spricht von „einer Art Dolch- Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thürin- Doch das Fernsehen von morgen soll gro- stoß“ (siehe Interview Seite 21). gen, über die nicht in Dresden entschie- ßen Privatkonzernen gehören, die mit In einem ersten Schritt streben die den werden kann. Magdeburgs Mini- Unterhaltungsangeboten auch gegen in- Reform-Strategen wohl einen Kompro- sterpräsident Reinhard Höppner (SPD): ternationale Konkurrenz bestehen. Für miß an: Statt elf Anstalten, als Gebüh- „Alleingänge gibt’s da nicht.“ diese Aufgabe stehen in Deutschland nur renverschwender mit aufgeblähter Ver- Der ARD-Staatsvertrag schreibe den zwei bereit: der Medienriese Bertels- waltung geschmäht, wollen sie nur noch Ländern zudem das Erste Programm mann aus Gütersloh und Kirch. sechs Großsender. Dazu müßten Süd- vor, argumentiert der Hamburger Me- Die Zeit für „eine neue Rundfunkfrei- westfunk, Süddeutscher Rundfunk, dienrechtler Wolfgang Hoffmann-Riem. heit“seigekommen, freut sich Kirch-Ma- Saarländischer Rundfunk und Hessi- Wenn einzelne Ministerpräsidenten ihn nager Gottfried Zmeck. Verschlüsselte scher Rundfunk zu einem Block ver- kündigten, entstünde eine „rundfunkpo- Abo-Kanäle, für die sich der Zuschauer schmelzen. Radio Bremen käme zum litische Lücke“, die von ihnen selbst aktiv und selbständig entscheide, bräuch- NDR, der SFB ginge mit dem Ostdeut- wieder gefüllt werden müßte. ten keine „demokratiepolitischen Ord- schen Rundfunk Brandenburg (ORB) Doch Stoiber, berichten Vertraute, nungsmaßstäbe“. zusammen. Der Finanzausgleich von werde nicht lockerlassen. Auf der Mini- Nur das unionsnahe ZDF, wo Mini- sterpräsidenten wie ARD-Feind Stoiber im Verwaltungsrat sitzen, soll beim Zu- Cash im Funkhaus Geplante Etats für 1995 in Millionen Mark kunftsfernsehen im großen Stil mitma- chen dürfen. Dessen Intendant Dieter sender aufwendungenerträge differenz Stolte, der unter anderem mit Bertels- mann schon über den Start neuer TV-Ka- Westdeutscher Rundfunk 1938,0 1938,6 +0,6 näle verhandelt, ließ es jedenfalls an Soli- darität für seine ARD-Kollegen missen. Norddeutscher Rundfunk 1451,7 1386,0 – 65,7 Schwach erklärte er, die Medienrevoluti- Bayerischer Rundfunk 1300,4 1308,0 +7,6 on stelle erneut „die Frage nach der ge- Südwestfunk 940,0 898,0 –41,8 Ein unverhüllter Mitteldeutscher Rundfunk 839,7 915,5 +75,8 Verstoß gegen Hessischer Rundfunk 718,6 690,7 –27,9 die Verfassung Süddeutscher Rundfunk 714,0 720,0 +6,0 Sender Freies Berlin 393,1 393,7 +0,6 sellschaftlichen Funktion des gebühren- Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg 236,5 239,5 +3,0 finanzierten öffentlich-rechtlichen Fern- Saarländischer Rundfunk 217,7 208,6 – 9,0 sehens“. „Die Gebührenfrage ist ein hilfreiches Radio Bremen 170,8 158,1 –12,7 Druckmittel“, weiß Biedenkopf. Mit diesem Knüppel wollen die Konservati- ZDF 2253,6 2066,2 –187,3 ven verhindern, daß die ARD am kom- menden Boom privater Abo-Fernsehka- Deutschlandradio 320,5 330,6 +10,1 näle teilhat. Und die Rundfunkgebühr soll möglichst überhaupt nicht steigen, damit die Haushalte genügend Geld für jährlich 180 Millionen Mark, den die gro- sterpräsidentenkonferenz am 16. März privaten Pay-TV-Konsum haben. ßen an die kleinen Sender zahlen, würde wolle er seinen nächsten Auftritt hinle- Zwar muß der Kanzler seine Hand, so entfallen. gen und die Unions-Kollegen, die außer sind die Gesetze, aus den Werbe- und Erster Erfolg der Freistaat-Politiker Biedenkopf und ihm allesamt in Großen Gebührenkassen des Fernsehens her- immerhin: Kaum einIntendant oderLan- Koalitionen mit der SPD regieren, auf aushalten. Zwar ist der Rundfunk Län- despolitiker bestreitet noch, daß eine Re- Kurs bringen. Stoibers Staatskanzlei- dersache. Zwar hat das Verfassungsge- form der ARD vonnöten ist. Einsparun- chef Erwin Huber: „Wir sind keine richt vorgeschrieben, der Bestand und gen beim Personal, mehr Kooperation Gummilöwen, die sich erst aufblasen die Entwicklung der öffentlich-rechtli- und wenigerDoppelarbeit–dassinderste und denen dann die Luft ausgeht. Wir chen Sender müsse, wegen der Grund- Kompromißangebote, um den großen beißen zu.“ versorgung, durch regelmäßige Anpas- Schlag abzuwehren. Als Hort des Übels haben Kohl und sung der Gebühren gesichert werden. Daß diekleinen Sender gestrichen wer- seine Medienhelfer vor allem den WDR Doch das alles schert den Machtpoliti- den, ist freilich längst nicht klar: Landes- im SPD-regierten Nordrhein-Westfalen ker Kohl nicht. Er koordiniert die politiker wie der Sozialdemokrat Rein- ausgemacht. Ihn verdächtigt Kohl gera- Rundfunkpolitik seiner Ministerpräsi- hard Klimmt (Saarland), dessen Partei- dezu magischer Einflüsse auf die übri- denten – in seiner Eigenschaft als CDU- freund Klaus Wedemeier oder der CDU- gen Sender: „Rot sin se alle.“ Kanzler- Vorsitzender, wie Fraktionschef Wolf- Mann (beide Bremen) amtsminister beschuldig- gang Schäuble feinsinnig unterscheidet. weigern sich, den Weg für Fusionen frei te im hessischen Wahlkampf den WDR Der ehemalige Verfassungsrichter zu machen. Ohne die Zustimmung der gar, er sei „eine Fälscherwerkstatt“. Helmut Simon rügt, unverhüllt werde Landesparlamente aber läuft nichts. Klar, daß die Union es lieber hätte hier gegen verfassungsrechtliche Grund- Auch die Drohung der beiden Angrei- wie beim Bayerischen Rundfunk, wo die sätze verstoßen. Christdemokrat Peter fer, notfalls 1996 den Rundfunkstaatsver- Grünen letzten Herbst in einer Sende-

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woche nachzählten: 43 Beiträge über die CSU, 5 über die FDP, 3 über die SPD, 2 über die Grünen. Offen beklagt Huber das Privileg des „Eine Art Dolchstoß“ WDR, mit zwei Milliarden Mark Etat und 4500 Beschäftigten der größte SFB-Intendant Günther von Lojewski über die ARD-Reform ARD-Sender, über Parteitage sowie aus Bonn, Washington, Moskau und Brüs- sel zu berichten. Kohl ist besonders ver- Lojewski, 59, arbeitete bei der FAZ, Lojewski: Das ist die Meinung derer, ärgert, daß die Kölner auch noch die beim ZDF und war Leiter der „Report“- die uns unter Druck setzen wollen. Es Regierungsthemen in Berlin beanspru- Redaktion des Bayerischen Rund- geht ihnen in der Tat um die nächste chen. funks. Seit 1989 ist er Intendant des Gebührenerhöhung, diese Katze hat Zuflucht suchten Unionspolitiker bei- Sender Freies Berlin. der CDU-Vorsitzende aus dem Sack zeiten bei privaten Sendern – vor allem gelassen. Wir stehen am Anfang der beim konservativen Münchner Medien- SPIEGEL: Was machen die Deutschen in Verhandlungen um höhere Gebühren – multi Kirch, der mit seinem Sohn bei drei Jahren abends um 20 Uhr, wenn es eines Verfahrens, in dem die ARD- Sat 1, Pro Sieben, Kabel 1, Kabel plus, keine „Tagesschau“ im Fernsehen mehr Sender nach dem letzten Urteil des Premiere und dem Deutschen Sport- gibt? Bundesverfassungsgerichts gestärkte Fernsehen beteiligt ist. Lojewski: Sie sehen die „Tagesschau“ in Rechte haben. Wir werden uns nicht Kohl selbst kann sich über Entpoliti- der ARD, da bin ich ganz sicher. einschüchtern lassen. sierung des Fernsehens nicht beklagen. SPIEGEL: Möglicherweise will Über RTL bei Hans Meiser erreichte er die Union massiv den Privat- fünf Millionen Zuschauer. Und bei Sat 1 funk fördern –zum Beispiel den durfte CSU-Mitglied Heinz Klaus Mer- Unternehmer Leo Kirch und tes vor der Bundestagswahl die Werbe- seine Familie, die an sechs pri- sendung „Zur Sache, Kanzler“ moderie- vaten Fernsehsendern beteiligt ren. Nach der Wahl verschwand die sind. Sendung erst mal in der Versenkung. Lojewski: Das Nebeneinander Mitte des Jahres soll sie wiederkommen. von öffentlich-rechtlichem und Seit langem hat der Kanzler verge- kommerziellem Rundfunk muß bens versucht, die ARD politisch umzu- weiter funktionieren. Denn um wuchten, etwa auf die Linie des ihm oft Information und Kultur küm- gefügigen ZDF-Intendanten Stolte. So mern sich die Privaten kaum: In zog Kohl die Fäden bei der Gründung Berlin hat man einen privaten des unionsnahen MDR in Sachsen, Thü- Inforadiosender über Nacht zu- ringen und Sachsen-Anhalt unter Bie- gemacht, weil er kein Geld ab- denkopfs Regie. geworfen hat. Wer jetzt mit ei- Die neuen Kampfthesen gegen die ner Art Dolchstoß das Erste ab- ARD trug Biedenkopf am Freitag vori- schafft, möchte erkennbar den ger Woche in Windhagen bei Bad Hon- Privaten die Gasse freischla- nef dem CDU-Bundesvorstand vor. Er gen. Das ZDF allein verteidigt fand „sehr große Zustimmung“, wie er das duale System nicht. nach anderthalb Stunden resümierte. SPIEGEL: Sie verlieren ohnehin Einträchtig hockte der kleine Professor, an Terrain, weil immer mehr einst spinnefeind mit Kohl, tuschelnd Senderaufden Markt kommen, neben dem Kanzler. einige werden ihre Leistungen Triumphierend zückte er einen im nur im Abo anbieten und dafür Oktober gefaßten Beschluß des WDR- beim Verbraucher kassieren.

Rundfunkrats, der ihm vor der Sitzung B. BOSTELMANN / ARGUM Lojewski: Wir gehen in eine zugesteckt worden war. Sollte sich die Senderchef Lojewski dramatische Veränderung der ARD „als reformunfähig erweisen“, „Wir werden uns nicht einschüchtern lassen“ Medienlandschaft: Wenn die hieß es da, müsse der vom ARD-Fi- ARD kein Geld fürinteraktives nanzausgleich gebeutelte Sender an SPIEGEL: Bayern und Sachsen drohen, und digitales Fernsehen bekommt, sind „Austritt aus der ARD“ denken. Nun den ARD-Staatsvertrag zu kündigen. wir kein gleichwertiger Partner mehr. seien ihm „Nowottnys Ausfälle um so Sie fordern die Zerschlagung des Er- Ohne höhere Gebühren können wir die unverständlicher“, erklärte Biedenkopf. sten Programms. neuen Technologien nicht anschaffen. Zum Vorstandsbeschluß jedoch taug- Lojewski: Es ginge gegebenenfalls auch Bleiben aber nur die Kommerzfunker, te sein Thesenpapier dann doch nicht – ohne den Bayerischen Rundfunk und dann zieht in die Medien ein Manchester- die CDU-Spitzen „begrüßten“ es nur. das Sachsenradio weiter. Vieles, was Kapitalismus ein,dann kommt eine ande- Es gab Einwände, etwa von Helmut aus den beiden Freistaaten gefordert re Demokratie. Linssen, der im nordrhein-westfälischen wird, scheint mir nur vorgetäuscht. SPIEGEL: Warum sollten Politiker alsAn- Landtagswahlkampf eine Rotfunkde- Man kann nicht Vielfalt und Wettbe- walt der Gebührenzahler nicht eine bes- batte scheut. Die Vorständler wollen werb fordern und dann ein Programm sere ARD-Organisation fordern dürfen? erst mal die WDR-Macht durch mehr einstellen. Lojewski: Sie dürfen es. Und ich wäre der gleichgewichtige Sender in der ARD be- SPIEGEL: Sie selbst gelten als unions- letzte, der nicht zugäbe, daß es auch in kämpfen. naher Intendant. Können Sie erklären, der ARD – und im ZDF – einiges zu ver- Die SPD richtet sich nun auf einen warum Kanzler Helmut Kohl meint, bessern gibt. Wenn Politiker die Struktu- langen Kampf um ihre Besitzstände ein. die Gebühren sollten „aus einer Viel- ren der ARD dadurch ändernwollen,daß Medienpolitiker Glotz: „Das wird ein zahl von politischen Gründen“ nicht sie Rundfunkanstalten zusammenlegen, Longseller 1995.“ erhöht werden? dann müssen sie sich an die eigene Nase

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fassen. Fusionen von Ländern und tagswahlen verlieren, seien daher „unlo- ARD-Anstalten bringen nur Parlamen- Koalition gisch“. te und Regierungen auf den Weg. Vor Zur Logik, so scheint es, hat Schar- vier Jahren habe ich mir mit dem Vor- ping ein taktisches Verhältnis. Noch vor schlag, eine Dreiländeranstalt für den Wochen hat er Verwirrung gestiftet, deutschen Nordosten zu schaffen, den Keiner weil er nach dem chaotischen Parteitag Mund verbrannt. Damals haben die Po- der FDP in Gera der christliberalen Ko- litiker eine solche Lösung abgelehnt, alition keine Überlebenschancen mehr heute mahnen sie sie an. Wir nehmen traut sich gab. Er gefiel sich schon bei dem Ge- denen die Kärrnerarbeit nicht noch ein- danken, Außenminister Klaus Kinkel in mal ab. Auch wenn sie die nächsten Land- seinem Amt zu beerben (SPIEGEL SPIEGEL: Viel Vertrauen in die Reform- tagswahlen verliert – die FDP will in 1/1995). kraft der Politiker scheinen Sie nicht zu Wende-Stimmung, wie sie vor der haben. Bonn weiterregieren. Wahl nicht aufkommen wollte, machte Lojewski: Wie auch? Beim Deutsch- sich plötzlich in der Fraktion breit. Es landradio zum Beispiel fehlte ihnen der PD-Bundesgeschäftsführer Günter sei nur eine Zeitfrage, meinten viele, bis Mut. Diese Anstalt ist mit ihren zwei Verheugen bekam die Basis zu spü- es kracht: „Ein Besoffener – und die ha- Programmen im Vergleich zu einigen S ren: Das Gerede von einer Großen ben keine Mehrheit“, machte sich Ru- ARD-Sendern unvergleichlich komfor- Koalition in Bonn müsse endlich aufhö- dolf Dreßler, designierter SPD-Arbeits- tabel ausgestattet. Und auch im ZDF, ren, schimpften Parteifunktionäre aus minister, froh. Er träumte schon davon, wo einige Ministerpräsidenten im Ver- Ländern und Bezirken bei einem Strate- „die Koalition in die Luft zu jagen“. waltungsrat sitzen, sind die Sparmaß- gietreffen in der vergangenen Woche in Das deckte sich auffällig mit der Be- nahmen bemerkenswerterweise viel ge- Bingen. fürchtung des CDU/CSU-Fraktions- ringer als bei der ARD. Warum mahnen Die Parteispitze solle endlich sagen, chefs Wolfgang Schäuble, die FDP kön- die Länderchefs, die sich jetzt so laut wo es langgeht, verlangten die Genos- ne sich nach weiteren Wahl-Schlappen melden, dort keine Verschlankung an? sen von Verheugen. Vor den Wahlen in „in einem irrationalen Prozeß“ aus der SPIEGEL: Der SFB hat fast ein Jahr lang Hessen (19. Februar) und Nordrhein- Regierung verabschieden. Schäuble: Unternehmensberater in seinem Funk- Westfalen (14. Mai) seien Spekulatio- „Dann bleibt nur die Große Koalition.“ haus recherchieren lassen. Welche nen über eine gemeinsame Regierung Verheugen allerdings, der in Bingen Chancen zur Reform sehen Sie? von Helmut Kohl und Rudolf Scharping die Prügel einstecken mußte, hatte die Lojewski: Der SFB hat wie keine andere gefährlich. Lage von vornherein anders einge- Anstalt Modelle zur Kooperation ent- Als hätte er an der Tür gelauscht, schätzt. Der Ex-FDP-Mann teilte schon wickelt. Mit dem ORB und dem MDR kam der Vorsitzende Scharping, der damals seine Skepsis auch dem Vorsit- betreiben wir vom Rechenzentrum über überraschend in die Runde platzte, zenden mit. „Warum sollte sich die FDP Sendemasten bis zu ganzen Program- schnell auf den Punkt: „Die Große Ko- in Bonn nach verlorenen Landtagswah- men vieles gemeinsam. So hat der SFB alition ist was für extreme Notlagen, len auflösen?“ fragt Verheugen. „Die seit 1992 über 40 Millionen Mark einge- aber die haben wir nicht.“ regieren weiter.“ spart und 200 Planstellen abgebaut – das Die FDP könne als Bundespartei nur Verheugens Sicht ist nun die partei- sind 15 Prozent. Wir können uns auch in der Regierung überleben, klärte der amtliche. „Eins ist verläßlich“ , verbrei- ein Archiv vorstellen, das wir gemein- SPD-Chef die Genossen auf. Für die tet Fraktionsgeschäftsführer Peter sam mit anderen Anstalten auf eine bil- Union werde der kleine Koalitionspart- Struck über die Liberalen: „Die halten lige grüne Wiese hinstellen. Der ARD ner in seiner Bedrängnis besonders um jeden Preis an ihren Ministersesseln fällt noch vieles ein. Andernfalls wäre „handzahm“. Alle Spekulationen, die fest.“ absehbar, wann uns die Personalkosten Regierung falle in sich zusammen, wenn Solche Töne hören die SPD-Wahl- die Luft für das Programm nehmen. Y die Freidemokraten die beiden Land- kämpfer an Main und Rhein gern. Ihnen J. H. DARCHINGER Oppositionspolitiker Verheugen, Scharping: „Die Große Koalition ist was für extreme Notlagen, aber die haben wir nicht“

22 DER SPIEGEL 6/1995 fehlt das saubere Feindbild, wenn die Parteifreunde in Bonn die Union als künftigen Partner umschnurren. Scharpings Stellvertreterin, die süd- hessische Bezirksvorsitzende Heidema- rie Wieczorek-Zeul, hatte schon schar- fen Einspruch erhoben. Auch NRW- Monarch Johannes Rau war verärgert. Die Spekulationen über eine Elefanten- hochzeit verschafften der FDP unver- diente Aufmerksamkeit, warnten die beiden. Die Pünktchen-Partei könne sich den Wählern wieder als Bollwerk gegen Machtkonzentration anpreisen. Auch in der SPD-Fraktion nahmen die Mäkeleien zu: Scharping solle die Rolle als Oppositionsführer annehmen und sich nicht länger als Teilhaber in spe aufführen. Die Botschaft scheint angekommen. In jeder Sitzung setzt Scharping sich mittlerweile entschieden von der Gro- ßen Koalition ab, als sei das für ihn nie eine Perspektive gewesen. „Blödsinn“, sagt er immer wieder, „ich will die nicht.“ Struck gibt die Losung aus: „Wir müs- sen die Differenzen in der Koalition aus- nutzen und den Keil tiefer treiben.“ Eine Chance dazu bietet sich im Ver- mittlungsausschuß, wo die Regierenden Frankfurter Allgemeine keine Mehrheit mehr haben. Im Ver- mittlungsverfahren über Theo Waigels Für die Demoskopen sieht die liberale Lust, in die Opposition zu wechseln, in Steuerpaket mit Existenzminimum, Zukunft düster aus: Nirgendwo wird die Gera durchaus spürbar, ist der FDP der- Kindergeld, Unternehmensentlastung FDP sicher über fünf Prozent notiert. weil vergangen. und Ersatz für den Kohlepfennig könn- Zwar glauben 61 Prozent der Befragten Selbst die ärgsten Gegner wie Mölle- ten sich Union und SPD über den Kopf einer Emnid-Umfrage im Auftrag des mann rechnen nicht mit der Kapitulati- der Liberalen hinweg verständigen: eine SPIEGEL, daß die Liberalen in Bonn on Kinkels und dem Ausstieg aus der kleine Große Koalition, zum Nachteil die Legislaturperiode aussitzen werden. Koalition. Aber als Vorsitzenden möch- der FDP. Doch auch Emnid kommt bundesweit ten sie ihn schon loswerden. „Die kön- Scharping will nicht mehr darüber für die FDP nur auf gerade mal sechs nen sich in Bonn nicht nur kurz schüt- spekulieren, ob diese Koalition mit ihrer Prozent. teln“, findet Möllemann-Freund Achim schmalen Mehrheit durchhält: „Wenn es „Sie ist überall ganz schwach“, so Rohde, „und alles als Fehlschlag in der passiert, muß man darauf vorbereitet Dieter Roth von der Mannheimer For- Provinz abtun.“ sein.“ Kinkel sieht Gleichgesinnte auch in Auch bei den Liberalen hat sich seit der Union. Der CSU-Vorsitzende Theo dem Parteitag Ende letzten Jahres die Die Lust, in die Waigel hat bereits öffentlich allen Ge- Stimmung gewandelt. Nur mühsam hat- Opposition zu wechseln, dankenspielen mit einer Großen Koali- ten die Freunde den Parteichef Klaus tion eine Absage erteilt. Er fürchtet, in Kinkel in Gera davon abhalten können, ist der FDP vergangen einem Mammutunternehmen könnten Parteivorsitz und auch das Amt des Au- die Bayern allzu leicht entbehrlich wer- ßenministers hinzuschmeißen. schungsgruppe Wahlen, „sie hat kein den. Demütigende Vorwürfe der Delegier- Polster“, weder in Bremen und Berlin, Kohl selbst wisse zu genau, so Kinkels ten hatten den Oberliberalen in Gera in wo im Herbst gewählt wird, noch in Ba- Kalkül, daß die Sozialdemokraten über die Resignation getrieben. Immerhin den-Württemberg, Schleswig-Holstein ein Bündnis mit der Union nur ihren Be- galt als ausgemacht, daß Kinkel, nach und Rheinland-Pfalz, wo Wahlen im fähigungsnachweis erlangen wollen. vernichtenden Wahlniederlagen der nächsten Jahr bevorstehen. Roth: „Und Nach der Wahl 1998 drohe der Republik FDP, das parlamentarische Aus in es bröckelt weiter.“ dann eine rot-grüne Regierung. Wiesbaden und Düsseldorf nicht überle- Noch hoffen die Freidemokraten, der Demonstrativ beruhigte der Kanzler ben würde. Fünf-Prozent-Guillotine wenigstens in den kleinen Partner: „Sie können sich Von seinen Rundreisen in etliche Hessen zu entgehen – in Nordrhein- auf mich verlassen.“ Und gegen Kohl, Landesverbände hat der neue FDP-Ge- Westfalen sehen sie kaum noch eine meint Solms, „traut sich keiner, auch neralsekretär Guido Westerwelle nun- Chance. Da steht sogar der Schuldige Schäuble nicht“. mehr andere Eindrücke mitgebracht. schon fest: Jürgen Möllemann natürlich, Aber gerade die Schattenexistenz in Viele der versprengten Liberalen im der gestürzte Landeschef und Kinkel- der machtvollen Umarmung des Kanz- Lande setzen trotz aller Kritik auf ihren Kritiker. lers könnte der FDP gefährlich werden. Chef. Was bleibt ihnen auch anderes Kinkel, sagt Fraktionschef Hermann Als Regierungspartei, ahnt der Mei- übrig. „Die kollektive Vernunft“, glaubt Otto Solms, „muß stehen“. Die Partei nungsforscher Roth, seien die Liberalen Westerwelle, „setzt sich allmählich werde den Chef keinesfalls fallenlassen: bei den nächsten Wahlen „zum Tode durch.“ „Gera wird sich nicht wiederholen.“ Die verurteilt“. Y

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der Gysi-Truppe vermiesen. Am lieb- einig: keine Ausgrenzung der PDS in Grüne sten würde er ihr schon nach der Berli- Bonn. ner Wahl eine Koalitionsdebatte auf- Da machen auch die ostdeutschen zwingen: „Wer wie die PDS in Ost-Ber- Grünen mit. Der Parlamentarische Ge- lin stärkste Kraft ist, muß in die politi- schäftsführer („Die müs- Erben der sche Verantwortung.“ sen aus der Märtyrerrolle raus“) über- Intern versucht der Fraktionschef zeugte seinen Unionskollegen Joachim schon seit einiger Zeit, die Partei auf Hörster, der PDS einen Sitz im Gemein- Revolution neuen Kurs zu bringen. Denn die Kal- samen Ausschuß, dem sogenannten Kri- kulation der Realos, in Ostdeutschland senparlament in Notzeiten, einen Sitz zu kündigt den Burg- Terrain zu gewinnen, ist nicht aufgegan- gewähren. Doch die PDS provozierte in frieden mit den ostdeutschen Bürger- gen. Mit Ausnahme von Sachsen-An- der vorletzten Woche geradezu eine Ab- halt scheiterten die Bündnisgrünen 1994 lehnung; sie bestand darauf, ihren Stasi- rechtlern auf. Sein Plan: Gemeinsam in allen Ostländern kläglich an der Fünf- belasteten Vormann für die mit der PDS gegen Kohl. prozenthürde. Wahl zu nominieren. Die legitimen Erben der Revolution Fischer können die gesammelten Er- „müßten sich mal fragen, warum die kenntnisse über IM „Notar“ nicht er- oschkaFischerredetesichin Rage.Je- PDS die faktische Erbin der Revolution schüttern. Wegen der Kontakte Gysis de weitere Diskussion über eine Zu- geworden ist“, knurrt Fischer. Er ver- zur Staatssicherheit wird es deshalb Jsammenarbeit mit der PDS fördere mißt Selbstkritik. „Wir haben zu sehr auch in der bündnisgrünen Fraktion am nur „dieZerstörung der Grünen“. Ein für auf die prominenten Bürgerrechtler ge- Dienstag dieser Woche Ärger geben. allemal, ereiferte er sich öffentlich, müs- hört“, ärgert sich Schatzmeister Henry Die Abgeordneten müssen entscheiden, se „dasThema vomTisch“. Das war 1990. Selzer. ob die Fraktion eine erneute Überprü- „Was immer in den Ländern oder Daß die ostdeutschen Bürgerrechtler fung Gysis durch den Immunitätsaus- Kommunen möglich sein mag“, robbte vor allem die DDR-Vergangenheit be- schuß unterstützt. Fischer sich vier Jahre später vor – „beim wältigen wollen, mißfällt den West-Grü- Nach der ersten Akteneinsicht und ei- besten Willen“ könne er sich eine Koaliti- nen. In der Amnestie- und Versöh- nem bislang nicht veröffentlichten Be- on mit der PDS auf Bundesebene nicht nungsdebatte möchten sie nicht länger richt des Gremiums tauchten neue bela- vorstellen. „Das wäre Selbstmord für die CDU und SPD das Feld überlassen. stende Dokumente auf (SPIEGEL Grünen“, urteilte er apodiktisch. Das Themen, die nicht die „unmittelbare Le- 42/1994). Damit solle sich der Ausschuß war kurz vor der Bundestagswahl im benspraxis“ berühren, seien im Osten befassen, verlangte . Die Herbst 1994. ohnehin „zuviel für die meisten Men- frühere DDR-Oppositionelle und Man- Jetzt ist die Todesfurcht besiegt, der schen“, an die sich die Grünen wenden dantin des Anwaltes Gysi blitzte jedoch Bann gegen die PDS aufgehoben. Wäh- könnten, heißt es in einem internen Ar- beim Fraktionsvorstand ab. rend Fischer die PDS Der Fischer-Clan, so noch verschwiemelt in ein Berater, will sich „die den „Verfassungsbogen“ Normalisierungspolitik der Bundesrepublik ein- gegenüber der PDS nicht sortiert, ist seine Mit- kaputtmachen lassen“. Fraktionssprecherin Ker- Linke wie der frühere stin Müller schon weiter. Parteisprecher Ludger Vor einem Millionen- Volmer finden es schlicht publikum erklärte Mül- abwegig, daß „ein Parla- ler am vorletzten Sonn- ment in der Vergangen- tag im WDR-Fernseh- heit einzelner rum- magazin „Zak“ die PDS schnüffelt“. für nunmehr „prinzipiell Sollten die Grünen koalitionsfähig“. In Ber- sich gegen eine Überprü- lin, wo im Oktober ein fung Gysis entscheiden, neues Abgeordneten- wie es die Fraktionsspit- haus gewählt wird, und ze erhofft, käme das, so in Sachsen-Anhalt seien Lengsfeld, einem „Af- Koalitionen schon jetzt front gegen die Bürger- „vorstellbar“, drängte rechtler“ gleich. Genau

Müller. DPA das ist beabsichtigt. Kritikern hält die for- Realos Fischer, Müller: Regieren mit der PDS Die Partei, so Volmer, sche Grüne entgegen: müsse sich entscheiden, „Joschka Fischer denkt ähnlich wie beitspapier, auf das sich der Bundes- ob sie „länger Gefangene der Loyalität ich.“ Der nickt wahrheitsgetreu. vorstand vorige Woche einigte. mit den Bürgerrechtlern bleibt und Da die Postkommunisten sich im Fischer denkt mehr an den Westen. sich damit von einem objektiven Pro- deutschen Parteiensystem vermutlich Während einer Fraktionsklausur in zeß abkoppelt oder sich auf die Seite auf längere Zeit etabliert haben, wie Bad Neuenahr Mitte Januar beschwor der Geschichte schlägt“. In der Debat- Fischer glaubt, führt der Weg zur rot- er den rot-grünen Machtwechsel, den te um Versöhnung und die Amnestie grünen Bundesregierung möglicherwei- „die PDS bislang verbaut“. sollten die Grünen „endlich Farbe be- se nur über die PDS. Zumindest will Fischers Ziel, möglichst „in diesem kennen“ und den „Schlußstrich zie- sich der Stratege diese Option erschlie- Jahrzehnt“ an die Regierung in Bonn hen“. ßen. zu gelangen, stößt intern bei den Grü- Wofür Fischer, leicht verächtlich, Die Attitüde der PDS, sich als ein- nen zwar auf Skepsis. In einem aber eintritt, ist klar: „Was bringt noch zige wahre Oppositionspartei in sind sich der altlinke Parteisprecher diese ganze rückwärtsgewandte Den- Deutschland zu gebärden, will Fischer Jürgen Trittin und Oberrealo Fischer ke?“ Y

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PDS Immer auf allen Seiten SPIEGEL-Redakteur Hartmut Palmer über PDS-Chef Lothar Bisky und dessen doppelte Vergangenheit

e“, rief der Grenzer mit schon als unerlaubte Nöti- der Knarre, „wo willst gung, seinen Willen durchset- H du hin!“ Doch der junge zen zu müssen. Mann mit dem Campingbeu- Konflikte frißt der Profes- tel antwortete nicht. Er lief sor für Film- und Fernsehwis- schnurstracks auf den Sta- senschaft, dessen Arbeitsver- cheldraht zu, hörte noch, wie hältnis an der Babelsberger der Westwächter der deutsch- Filmhochschule „ruht“, so deutschen Grenze „Halt! Ste- lange in sich hinein, bis sie an henbleiben!“ schrie – und ihm zu fressen beginnen. dann ging alles ganz schnell. Als die Bundesrepublik „Ich bog den Stacheldraht über die DDR hereinbrach, auseinander, schlüpfte durch hat er eine rätselhafte Aller- und war drüben“, erzählt Lo- gie bekommen – Ausschlag thar Bisky so beiläufig, als sei auf der Haut, wann immer er seine Flucht in die 1959 noch etwas aß. Zone genannte DDR nur ein Beim Parteitag am vorletz- Sonntagsspaziergang gewe- ten Wochenende wehrte sich sen. „Nicht ,drüben‘“, korri- sein Körper mit rasenden giert er schnell, „sondern Zahnschmerzen gegen die dort, also hier.“ Zumutungen des Amtes. Drüben? Hüben? Dort? Dabei hat Bisky gerade als Hier? Im Leben des PDS- Rektor in Babelsberg, aber Vorsitzenden Bisky sind diese auch schon früher am Zen- deutschen Koordinaten schon tralinstitut für Jugendfor- Ende der fünfziger Jahre schung in Leipzig Konflikte gründlich durcheinandergera- durchgestanden – aber nicht ten. Mitten im Kalten Krieg mit lautem Protest, sondern hat Bisky – damals 18 Jahre meist durch stille Obstrukti- alt – die Seite gewechselt. on. Er ging, obwohl er viel lie- Spätestens im Winter 1989 ber geblieben wäre, unter sollte er – wie er heute aus dem Druck der Verhältnisse SED-Akten zu wissen glaubt in den anderen deutschen – wegen allzu liberaler Amts-

Staat, weil er für sich im frei- KARWASZ führung in Babelsberg ge-

en Westen keine Aufstiegs- K.-B. schaßt werden. chance sah. Ein richtiger Ossi PDS-Chef Bisky: „Abenteuerlichster Job in Europa“ Und am 4. November 1989 wurde er nicht. Obwohl er stand Bisky sogar am Redner- sich auch ideologisch für das kommuni- larisieren und Zuspitzen geht ihm gegen pult auf dem Berliner Alexanderplatz. stische Deutschland entschied, blieb sein Gemüt. Diesen Tag, als Hunderttausende gegen Bisky Grenzgänger aus Überzeugung. PDS-Chef zu sein sei der „abenteuer- die SED-Politbürokratie auf die Straße Nichts findet er bedrohlicher als lichste Job in Europa“, jammert er. An- gingen, bezeichnet er sentimental als „diese Digital-Kultur“, die er unaufhalt- statt der einen Partei, die früher immer sein „schönstes Erlebnis“. sam auf dem Vormarsch sieht: „Immer recht hatte, gebe es jetzt deren zehn, Daß er mit solchen Auffassungen nur Ja-Nein, Schwarz-Weiß, Null-Eins“, und die „haben auch recht“. Das ist Bis- heute nicht die Herzen der alten SED- das ist für ihn „das Ende des Diskurses“ ky pur: Der Mann wäre unglücklich, Mitglieder wärmt, versteht sich von und damit dann „tatsächlich auch das wenn er nicht zwischen mindestens drei selbst. Aber der Gegenvorwurf, daß er Ende einer Epoche“. oder vier Streithähnen schlichtend ver- die Brüche und Widersprüche der PDS Selbst im heftigsten Getümmel um mitteln dürfte. auch immer wieder zu verkleistern hilft, Kurs und Richtung seiner Partei scheint Natürlich hat er die Partei erpreßt, als leuchtet Bisky nicht ein. „Feindbilder“ dieser PDS-Vorsitzende immer auf allen er sie vor die Wahl stellte, entweder sei- hat dieser Weltmeister des Vermittelns Seiten zugleich zu stehen. ne Reformwünsche, niedergelegt in fünf nicht – und wenn, dann sind es andere, Auch der sonst so abgebrühte Gregor Punkten, anzunehmen und sich von den als die seiner PDS-Genossen. Gysi wäre auf dem PDS-Parteitag am stalinistischen Positionen abzugrenzen Nach dem Krieg ist Bisky mit seiner vorletzten Samstag beinahe ausgeflippt, oder auf ihn als Vorsitzenden zu ver- Mutter und dem fünf Jahre älteren Bru- als Bisky seine Kontrahentin, die beken- zichten – ein normaler Vorgang im poli- der Siegfried aus Pommern nach Schles- nende Stalinistin Sahra Wagenknecht, tischen Geschäft. wig-Holstein getreckt. In Brekendorf fast flehentlich um Verzeihung bat, weil Nicht für Bisky, die ehrliche Haut. bei Eckernförde blieb die Familie hän- er sie so hart habe angehen müssen. Po- Der PDS-Vorsitzende empfindet es fast gen. Der Vater kam bald aus der Gefan-

DER SPIEGEL 6/1995 25 Werbeseite

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genschaft zurück, doch die Ehe der El- nichts übrig. Ein einfühlsamer Lehrer hatte er Angst, das Pensum am Gymnasi- tern zerbrach alsbald. hatte zwar die Begabung des Schülers er- um nicht zu schaffen und sich dann schä- Lothar Bisky wuchs in dem Gefühl auf, kannt und ihn auf das ländliche Gymnasi- men zu müssen.“ Denn „ehrgeizig“ war als Flüchtlingskind „der letzte Dreck“ zu um geschickt, aber das Schulgeld mußte der Lothar immer: „Der wollte unbedingt sein. Daß seine Mutter einen neuen Le- sich der Junge als Filmvorführer in Wan- Abitur machen.“ bensgefährten fand, mit dem sie „in wil- derkinos nächtens selbst verdienen. Bisky wollte „raus aus den Verhältnis- der Ehe“ zusammenlebte, war für das Den Entschluß, in die DDR zu gehen, sen der Kränkung und gleichberechtigt Dorf hoch oben im Norden der Adenau- hielt er selbst vor seiner Familie und vor mit anderen sein. Ein Stück Abenteuer er-Republik ein Skandal. seinem besten Freund geheim. „Eines und ein bißchen Überzeugung“, sagt er, Von dem bißchen Geld, das die Mutter Tages war er weg“, erinnert sich Heinrich „waren auch dabei“. mit Putzen und als Köchin bei der Bun- Reimer, sein Schulfreund aus dem be- Und natürlich hielt er eine Bilderbuch- deswehr verdiente, blieb für Schulbücher nachbarten Owschlag. „Wahrscheinlich geschichte für den Arbeiter-und-Bauern-

fast ein Drittel der Delegierten vo- tiert. „Biskys Einheitsbrei“ Mit Veröffentlichungen in der Parteipresse und Vorträgen bei Ba- In der PDS geht der Kampf um Reformen weiter sisgruppen wollen die Neo-Stalini- sten die Vorstandspolitik konterka- rieren. Für Ende Februar ist eine othar Bisky verteilt nach allen ky abgestimmt. Der Textentwurf, der Bundeskonferenz der KPF in den Seiten Lob – an sich, die PDS- bislang 16 engbeschriebene Schreib- Redaktionsräumen des Neuen LFührung und an das Parteivolk. maschinenseiten umfaßt, ruft aufzum Deutschland geplant, auf der die Die „Handlungsfähigkeit der PDS“ Wandel zueiner „konsequent realisti- Nostalgiker-Truppe sich auf eine ge- sei nach ihrem Berliner Parteitag am schen Partei“, die mitregieren will. meinsame Gegenstrategie verständi- vorletzten Wochenende gestärkt. Um die Ideen durchzusetzen, wol- gen will. Tatsächlich ist die Führungsriege len Bisky, Gysi und Brie die Zentrale Widerstand gegen die Ost-Berli- im Berliner Karl-Liebknecht-Haus, stärken. Der von den Reformern be- ner Reformer kündigen auch die die mit aller Kraft die SED-Nachfol- herrschte Vorstand soll, ganz nach PDS-Verbände im Westen an. Dort gepartei auf Reformkurs trimmen dem Vorbild der Kaderpartei, in die sind ganze Landesorganisationen will, tief enttäuscht. Lage versetzt werden, ihm genehme mittlerweile fest in der Hand der Ve- Die erhofften Bekenntnisse zu Kandidaten „als künftige PDS-Abge- teranen aus diversen K-Gruppen. So Demokratie, Marktwirtschaft und ordnete aufzubau- haben Altkader aus Grundgesetz fielen lau aus. Die Sy- en“. Die bisher unab- der DKP den nieder- stemkritiker in der PDS und die lin- hängigen Westver- sächsischen Landes- ken Dogmatiker genossen ungebro- bände will die Partei- verband gekapert; chene Sympathie bei den Delegier- spitze über ein „Kor- der Bund Westdeut- ten. Applaus bekam, wer die Ver- respondenzbüro“ an- scher Kommunisten, staatlichung der Banken forderte und leiten. vor allem in Nord- nicht wahrhaben wollte, daß die Dem Theoretiker rhein-Westfalen ak- DDR ein Unrechtsstaat war. Brie schwebt ein mo- tiv, ruft zur „Front- Intern zeichnen führende PDS-Ge- dernes Wirtschafts- bildung gegen die nossen ein düsteres Bild. Parteivize konzept vor, „das Reaktion“ auf. Wolfgang Gehrcke sieht nun das gan- unternehmerisches Selbst im Berliner ze Vorhaben, die PDS langfristig ko- Handeln wertschätzt PDS-Landesverband alitionsfähig zu machen, in Gefahr: und erhält, ein- geben Hardliner den „Die Situation ist sehr, sehr drama- schließlich Markt- Ton an. Auf Basis- tisch.“ wirtschaft und Ge- treffen in Berlin- Aus Sicht des Chefdenkers Andre´ winn“. Die Mitglie- Kreuzberg schimpft Brie ist die Partei „nostalgischer und der sollten endlich Landesvorständler

politikunfähiger“ geworden. Ob sich den Parlamentaris- ARIS / THIRD EYE Dirk Schneider, Ex- auf Dauer die Reformer oder die mus als „unverzicht- PDS-Stratege Brie Bundestagsabgeord- Ideologen durchsetzten, „istvöllig of- bare und verteidi- neter der Alternati- fen“.Brie: „Es kannpassieren,wieei- gungswerte Errungenschaft“ begrei- ven Liste und IM der Hauptverwal- nige von der SPD heute sagen, daß die fen. tung Aufklärung der Stasi, über PDS auseinanderfällt.“ Doch etliche PDSler schätzen „abgewichste Typen wie Brie“, die An Brie hatten die Delegierten ih- eher die alten Klassenkampfparolen. aus der Partei „sofort rausfliegen“ ren Unmut über den Reformdrang Traditionspflege kommt bei vielen müßten. von Bisky und Gregor Gysi abrea- Genossen allemal besser an als Bis- Der Beifall der Basis ist Schneider giert. Er fiel als Bundesgeschäftsfüh- kys Modernisierungsprogramm. sicher, wenn er gegen den „liberali- rer durch. Den Rückhalt bei der Dop- Die Aktivisten der Kommunisti- stischen Einheitsbrei Biskys“ wet- pelspitze hat er deswegen nicht verlo- schen Plattform (KPF) sehen sich tert. Die Parteispitze, so der Vor- ren. durch die Vorstandswahl des Partei- wurf des Linksradikalen, wolle „sich Derzeit schreibt Brie ein neues tags sogar bestärkt; für ihre Wort- bei den Herrschenden anschlei- Strategiepapier. Auch das ist mit Bis- führerin Sahra Wagenknecht hatten men“.

28 DER SPIEGEL 6/1995 Das klingt schon ziemlich absurd aus dem Munde eines Mannes, dessen Genossen die Bergung ostdeutscher Biographien fast zum Programm erhoben ha- ben. Daß ausgerechnet er, der Chef der Ost-Partei PDS, direkt ein Wessi war, hat er zwar nicht di- rekt verheimlicht. Aber an die große Glocke hängte er es nie – ob- wohl sich die Geschichte vom armen B., dem der böse Kapitalismus keine Chance gelassen hatte, sogar schon zu SED- Zeiten hervorragend hätte vermarkten las- sen. Selbst politische Weggefährten sind ah- nungslos oder haben – wie etwa der Ehrenvor- sitzende – nur „irgendwo mal da- von gehört“. Die Berliner Kaba- rettistin Gisela Oechel- haeuser, die Bisky noch aus Studentenzeiten in Leipzig kannte, war Grenzgänger Bisky (r.)*: „Raus aus den Verhältnissen“ ziemlich verblüfft, als sie es 1989 erfuhr. Staat parat: Ein ehemaliger KZ-Häft- Sie war dabei, als Bisky – seinerzeit ling habe ihm von Marx und Engels Rektor in Babelsberg – von Studenten und davon erzählt, daß einer wie er nur einer Schauspielschule gefragt wurde, „drüben“ etwas werden könne. Diesen ob er gern „nach Hause“ in den Westen alten Kommunisten hat der Schul- zurückkehren würde und ob er oft an freund Reimer freilich nur als „notori- „zu Hause“ dächte. schen Trunkenbold“ in Erinnerung. Ja, er vermisse „den Wind von Hol- Siegfried Bisky, der ältere Bruder, stein“, antwortete Bisky, und er sei – als war entsetzt, als der Brief „von drü- er schon jahrelang in Sachsen lebte – im- ben“ kam. Denn mit Kommunisten hat mer noch „rausgerannt“, wenn Wind der Lkw-Fahrer nichts im Sinn. Aber aufkam, „mit einem Gefühl, als müsse daß der Bruder seine Chance in der ich mich befreien“. DDR gefunden hat, findet er im nach- Auch beim Parteitag am vorletzten hinein völlig in Ordnung: „Damals Wochenende ist Bisky irgendwann am mußte jeder sehen, wo er bleibt. Pro- Sonntag, mitten in der heftigsten Perso- fessor oder so was wäre der Lothar hier naldebatte, einfach rausgerannt. Nie- in Holstein bestimmt nie gewor- mand wußte, wo er geblieben war. Erst den.“ nach Stunden kam er wieder zurück. In dem kurzen Lebenslauf, den Bis- Er habe mit Ehefrau Almut und dem ky selbst verfaßt hat, sucht man Hin- elfjährigen Sohn Stephan zu Hause weise auf die biographische Zäsur aller- Kriegsrat gehalten. Ob er nicht doch, dings vergebens: „1941 am 17. August obwohl gerade mit 82,8 Prozent für zwei in Zollbrück, Kreis Rummelsburg Jahre gewählt, zurücktreten solle. Sohn (Pommern), geboren, Abitur, Studium Stephan habe ihn abgehalten: „Das der Kulturwissenschaften an der Karl- kannst du politisch nicht tun.“ Marx-Universität zu Leipzig, seit 1963 Ehefrau Almut hat ihm allerdings Mitglied der SED . . .“ Damit ließe er schon am Abend vorher auf den Kopf es am liebsten bewenden. zugesagt, daß und warum Lothar Bisky „Ich bin Zeit meines Lebens nie sehr gar nichts anderes übrigbleibt, als auf gern auf Biographien eingegangen“, re- dem ramponierten Tanker PDS auszu- det sich der PDS-Chef heraus, „also harren: „Natürlich könntest du aufhö- auch nicht auf mein Leben.“ ren, und es wäre auch besser für dich. Aber wenn du es machst, wirst du dir * Mit Mutter und Bruder Siegfried. das nie verzeihen.“ Y

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beteuerte, er habe Wienand nicht als Aus östlichen Quellen kamen jetzt Affären Agenten des KGB bezeichnet. Die Fra- neue Angaben: Moskaus KGB habe ge Brandts, ob der Genosse denn für die sich aus London Berichte über Brandts „andere Seite“ gearbeitet habe, sei von Zusammenspiel mit den US-Nachrich- ihm so beantwortet worden: „Das ist eu- tendienstlern beschafft, um so ein Gemeinsam re Sache, das müßt ihr klären.“ Falin Druckmittel gegen den späteren Bun- sagte jetzt vor dem Oberlandesgericht, deskanzler in der Hand zu haben. auch von einer Stasi-Mitarbeit Wie- Im Gespräch mit Falin hatte sich erwehren nands habe er nicht gesprochen. Am Brandt besorgt nach den Aktenbestän- Ende wurde der Zeuge vereidigt. den in Moskauer Archiven erkundigt. Was hat Walentin Falin tatsächlich Der Wienand-Fall bleibt rätselhaft. Er befürchtete offenkundig, die Unter- anvertraut? Und wo ist Mitte Januar sollte in Düsseldorf der lagen über seine Geheimdienstkontakte Spionageprozeß gegen Wienand begin- könnten gezielt zur Diskreditierung der der Brief, den Honecker 1974 an nen. Das Verfahren wurde auf unbe- SPD genutzt werden. Schmidt schrieb? stimmte Zeit vertagt, weil der Sozialde- Neues aus alten Zeiten sollen auch mokrat wegen Herzbeschwerden und drei ranghohe KGB-Überläufer mitge- sonstiger Malaisen derzeit verhand- bracht haben, die derzeit in Deutsch- er Zeuge gab als Beruf „Wissen- lungsunfähig ist. Auf der politischen land, Großbritannien und den USA aus- schaftler und Historiker“ an, in der Bühne aber wird das Stück schon in vol- packen. Könnte es aufgrund dieser In- DPolitik hat er Geschichte geschrie- ler Besetzung gespielt. CDU-Generalse- formationen auch für noch ben: Walentin Falin, 68, sieben lange kretär wittert einen „politi- eng werden? Jahre Botschafter der UdSSR in Bonn, schen Skandal“. Man wolle „keine poli- Unter dem Code „Operation West“ mußte vorigen Freitag vor dem Ober- tische Archäologie“ betreiben, versi- soll der sowjetische Staats- und Partei- landesgericht Düsseldorf erscheinen. cherte zwar CSU-Landesgruppenchef chef Leonid Breschnew über KGB- Der Vorsitzende Richter Klaus Wag- . Aber die Ausgräber der Agenten zu Bahr einen eigenen Kom- ner und die Karlsruher Bundesanwälte Union sind längst fleißig im Feld. munikationsstrang aufgebaut haben – wollten von Falin erfahren, ob der Dank ihrer Funde stellen sie süffisan- vorbei auch am eigenen Außenminister frühere SPD-Fraktionsgeschäftsführer te Fragen: Wie eng beispielsweise sei Andrej Gromyko. Karl Wienand tatsächlich für die Stasi Brandt mit dem US-Geheimdienst ver- Bahr hatte im SPIEGEL (5/1995) ein- gearbeitet hat. Ein jetzt aufgetauchter bandelt gewesen? Habe er sich deshalb geräumt, daß er bei seinen sowjetischen Vermerk Willy Brandts über ein Ge- durch die Sowjets erpreßbar gemacht? Gesprächspartnern „eine KGB-Connec- spräch mit dem Russen hatte den Ver- Bekannt war seit Ende der siebziger tion“ nicht ausgeschlossen habe. Dies dacht der Strafverfolger verstärkt. „Ab Jahre, daß Brandt während seiner Emi- hatte Brandt unter Punkt zwei in seinem ’75“, notierte Brandt über sein Ge- gration in Skandinavien das „Office of Vermerk angedeutet. Es habe sich um spräch mit Falin am 31. März 1992, sei Strategic Services“ (OSS) – Vorläufer einen in der Geheimdiplomatie üblichen „Karl W. eine Verpflichtung gegenüber der CIA – mit Informationen und Ana- „back channel“, eine nicht konspirative, dem dortigen Dienst eingegangen“. lysen über die Lage in Hitler-Deutsch- wohl aber „verdeckte, sehr vertrauens- Die dreieinhalbstündige Vernehmung land bedient und auch in seiner Berliner bildende Verbindung“ gehandelt, be- des Ex-Diplomaten war ein Exkurs über Zeit enge Verbindung zu US-Geheim- schwichtigt Bahr. west-östliche Geheimdiplomatie. Falin dienstlern unterhalten hatte. Die Kohl-Mitarbeiter im Kanzleramt tun zwar so, als wollten sie sich vornehm zurückhalten. Der Apparat aber rotiert. Denn da ist ja im Mai Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Und wie es der Zufall will, läßt sich dem absolut regierenden Johannes Rau wahlkampfwirksam vorhalten, daß er übermäßig diskret war. Denn auch er besaß den dreiseitigen Vermerk Brandts über das März-Gespräch – und schwieg beharrlich. „Für einen Ministerpräsi- denten ein politischer Tatbestand“, meint Unionsfraktionschef Wolfgang Schäuble. Natürlich, rechtfertigt sich Rau, habe er jetzt die Bundesanwälte über die Ge- schichte des Brandt-Vermerks infor- miert. Rau erklärte, daß er den Vermerk in schweren Stunden von Brandt – wenige Wochen vor dessen Tod im Oktober 1992 – erhalten habe, ein politisches Vermächtnis gewissermaßen. Dies sei, habe er gedacht, ein Stück für Histori- ker, nicht für Staatsanwälte. Persönlich schauten die Bundesan- wälte vorige Woche bei Egon Bahr, dem

DPA * Am Freitag vergangener Woche vor seiner Ver- Zeuge Falin*: „Das ist eure Sache, das müßt ihr klären“ nehmung im Düsseldorfer Oberlandesgericht.

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DEUTSCHLAND „Der macht sich wichtig“ Wie Karl Wienand Stasi und Strauß gegen sich aufbrachte

DR-Devisenbeschaffer Alex- cher Modell entworfen (SPIEGEL Die Stasi half bei der Lösung des ander Schalck-Golodkowski 12/1993). Problems auf traditionelle Weise. Dund CSU-Chef Franz Josef Unbemerkt von der Öffentlich- Der Posteingang von Wienand- Strauß waren in Verwirrung vereint. keit, so der damalige Plan, könnten Freund Nitz wurde kontrolliert, In der SED-Führung, berichtete beide deutsche Staaten in der dessen Reisen in die Bundesrepu- Schalck dem bayerischen Minister- Schweiz eine gemeinsame Finanzie- blik wurden überwacht. Die zur präsidenten am 2. November 1983 in rungsgesellschaft gründen. Über die- Kontrolle des Außenhandels ein- dessen Münchner Wohnung, gebe es ses Joint-venture sollte sich das geschaltete MfS-Hauptabteilung Zweifel, ob Strauß noch der richti- Schuldenland DDR diskret am inter- XVIII machte sich daran, Bahl zu ge Gesprächspartner für Kreditver- nationalen Finanzmarkt mit Kredi- beschatten. handlungen mit der DDR sei. Aus ten bis zu fünf Milliarden versorgen In einem am 8. Mai 1986 als Bonn habe man Signale empfangen, – die reiche Bundesrepublik wollte „Streng geheim!“ klassifizierten „daß Ihre Stellung und Ihre Voll- für Bonität bürgen. Dossier wurde Wienand-Helfer machten beeinträch- Bahl als DDR-Geg- tigt wurden, was zu ner eingestuft. Zwar gewissen Zweifeln auf versuche er eine unserer Seite führte“. „loyale Einstellung Der CSU-Mann gegenüber der DDR“ tobte. Dieses Hin und zu bekunden, in Her in der CDU-ge- Wahrheit aber ver- führten Regierung sei berge sich hinter der „ein Armutszeugnis „geheuchelten Maske für das Bundeskanz- eines Biedermannes“ leramt“. Strauß sei, ein Mann, der „mit notierte Schalck, dem Bundesnachrich- „sehr erregt gewe- tendienst zusammen- sen“. arbeitet und in dessen Grund für die Em- Auftrag handelt“. pörung war der So- Bahl bestreitet bei- zialdemokrat Karl des. Wienand. Der hatte Franz Josef Strauß sich hinter Straußens siegte am Ende. Der Rücken der DDR als Milliardenkredit wur- Kreditvermittler an- de abgeschlossen. gedient. Der angebli- Das Züricher Modell

che Stasi-Spion Wie- R. SCHULZE-VORBERG blieb nur eine Idee. nand, so die bizarre Sozialdemokrat Wienand (1983): „Es ging um meine Interessen“ Die große Ost-West- Aktenlage, hat bei Bank, für deren Ver- diesem geplanten Deal nicht nur Im Gegenzug sollte die SED die waltungsrat Wienand vorgesehen Strauß, sondern die Stasi gegen sich Mindestumtauschsätze für west- war, kam nie zustande. aufgebracht. deutsche DDR-Besucher senken. Lange nach der Wende, am 20. Der Vorstoß Wienands war The- Das Ausreisealter für Ost-Rentner April 1994, waren Nitz und Wienand ma in den obersten Etagen des grau- – 65 Jahre – hofften Wienand & als Zeugen vor dem Münchner en Molochs in der Ost-Berliner Nor- Co. um fünf Jahre zu senken. Schalck-Ausschuß geladen. Die Un- mannenstraße. Erich Mielke konfe- Neue Aktenfunde der Gauck-Be- terhändler von einst plauschten rierte über die Extratour des Rhein- hörde belegen jetzt, daß Wienand, friedlich miteinander. länders mit Markus Wolf, dem Spion sehr zum Ärger von Strauß und Sta- Beim gemeinsamen Abendessen der Spione. „Der macht sich nur si, ab 1982 mit der frischen Kohl- im Hotel Vier Jahreszeiten gingen wichtig“, sagte Mielke. Truppe im Kanzleramt kooperierte. die beiden vormaligen Emissäre vom Wienands Plan, der chronisch de- Die Wienand-Offerte lag im Sie aufs Du über. ------visenknappen DDR einen Milliar- Wettstreit mit dem Strauß-Ange------denkredit zu vermitteln, war schon bot, der DDR durch ein Banken------zu Helmut Schmidts Zeiten entstan- konsortium unter Führung der ------den. Gemeinsam mit dem Züricher Bayerischen Landesbank einen Mil------Banker Holger Bahl und dem DDR- liardenkredit einzuräumen. Über ----- Ökonomen Jürgen Nitz, bis zum En- „hochstaplerische Aktivitäten“ der ------de der DDR als Berater von Außen- Bonner Kredit-Konkurrenz beklag------handelsminister Gerhard Beil aktiv, te sich Strauß bei Schalck im Mai ------hatte Wienand das sogenannte Züri- 1983. ------

34 DER SPIEGEL 6/1995 langjährigen Weggefährten Brandts, vorbei. Sie hatten ihn schon am 4. März 1994 vernommen, aber Bahr hatte mit keinem Wort verraten, daß er einen Vermerk Brandts in Kopie besaß. Brandt hatte seinem Vertrauten unter Hinweis auf Falin eröffnet, Wienand ha- be Kontakte gehabt, die „über das Übli- che hinausgingen“. „Das ist ja aller- hand“, will Bahr damals betroffen rea- giert haben, und Brandt habe bestätigt, „das kann man wohl sagen“. Zu seiner eigenen Unterredung mit Falin im Herbst 1993 erklärte Bahr den Bundesanwälten nun, der Russe habe Wienand nicht ausdrücklich der Stasi zugeordnet, „aber was soll es sonst ge- wesen sein, vielleicht der polnische oder der tschechische Geheimdienst?“ Doch was weiß Falin wirklich über eine Geheimdienstverstrickung Wie- nands? Bei seiner Vernehmung sorgte er für neue Rätsel. Er erzählte Richter Wagner ein bis- lang ungeklärtes Stück deutscher Nach- kriegsgeschichte. Er habe Mitte der siebziger Jahre dem Brandt-Rivalen einen Geheimbrief des SED-Parteichefs Erich Honecker an gezeigt. Honecker ha- be geschrieben: „Wenn wir beide zu- Mit seinen Erzählungen sorgt Falin für neue Rätsel sammenstehen, können wir uns der Russen erwehren.“ Als der SPIEGEL vor zwei Wochen erstmals über den mysteriösen Brief be- richtete, hatte Altkanzler Helmut Schmidt glasklar dementiert: „Unfug.“ Weder habe er 1974 noch überhaupt je- mals einen solchen Brief bekommen. Nach Schilderung Falins haben die Russen vom Brief erfahren und Honek- ker zum Rapport nach Moskau bestellt. Der habe sich gesträubt und statt dessen den SED-Außenpolitiker Hermann Axen geschickt. Das Gespräch sei sehr frostig gewesen. Falin: „Die Russen wa- ren über die Geheimdiplomatie nicht er- freut.“ Nach Axens Rückkehr habe die DDR-Regierung mit Hilfe der Stasi ver- sucht herauszufinden, wer die Sowjets über die angeblichen deutsch-deutschen Geheimkontakte unterrichtet habe. Diese Erzählung, so Falin, habe Brandt elektrisiert. Der habe ihn im März 1992 gefragt, ob es Wienand gewe- sen sei, der die Sowjets aufgeklärt habe. Denn Wienand soll vom Brief Honek- kers gewußt haben. Falin: „Er war da- bei, als ich Wehner den Brief zeigte.“ Nach dem ominösen Brief dürften die Bundesanwälte nun suchen – in Bonn im Kanzleramt. Y

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Mit dem Schöffenstreik hat- Justiz te im Dezember der Laien- richter Stanislaus Stepien, 46, begonnen, der viele Angehö- rige in den Konzentrationsla- Besonders gern Auschwitz, Sobibor und Chelmno verloren hat. Ver- gangene Woche unterstützten perfide 50 weitere Schöffen des Ge- richts die streikenden Kolle- Ein Hamburger Gericht hat zwei Neo- gen mit einer Solidaritätser- klärung – ein Novum in der nazis freigesprochen und damit hef- deutschen Justizgeschichte. tige Proteste ausgelöst. Strafverteidiger und Rich- ter warnen allerdings davor, ur Sondermeldung des Nationalen im Hamburger Urteil einen Infotelefons in Hamburg ertönt zweiten Fall Orlet zu sehen. ZMarschmusik. Eine markige Stim- Anders als der Mannheimer me kündet vom neuesten Sieg an der Richter, der unverhohlen Rechtsfront: Der Freispruch zweier Sympathie mit rechten Posi- Neonazis vor dem Amtsgericht Ham- tionen gezeigt hat, gilt sein burg zeige, „daß es noch immer anstän- Hamburger Kollege Kob, 36,

dige Richter mit Zivilcourage“ gebe. M. SCHRÖDER / ARGUS-FOTOARCHIV auch in Kreisen linker Juristen Das zweifelhafte Lob der Rechtsradi- Neonazi-Agitator Goertz als unverdächtig. kalen gilt dem Hamburger Richter Al- Sieg an der Rechtsfront Kob sei „ein Mann mit aus- brecht Kob. Er hat am Mittwoch ver- geprägtem demokratischen gangener Woche die Neonazis Andre´ nate dem Vorwurf ausgesetzt, auf dem Bewußtsein“, lobt der Hamburger Straf- Goertz, 24, und Jens Siefert, 23, vom rechten Auge erblindet zu sein. Erst im verteidiger Otmar Kury. Für „blanken Vorwurf der Volksverhetzung freige- vergangenen Sommer hatte ein Urteil Unsinn“ hält es sein Kollege Wolf Röm- sprochen. In einer Ansage ihres Infote- des Landgerichts Mannheim für welt- mig, Kob Sympathien für Rechtsradika- lefons hatten die Angeklagten den Mas- weiten Protest gesorgt, weil die Richter le zu unterstellen. Der nehme nur den senmord an den Juden im Dritten Reich Günter Deckert, dem Chef der rechts- Grundsatz „in dubio pro reo“ – im als „Auschwitz-Mythos“ bezeichnet. extremen NPD, Charakterstärke und Zweifel für den Angeklagten – „sehr Während die rechte Szene jubilierte, Verantwortungsbewußtsein attestiert ernst“. erhob sich allerorten Protest: „Mit sol- hatten. Deckert stand vor Gericht, weil Diesmal aber hat Kob, erst seit vier chen Urteilen hat die Weimarer Justiz er ebenfalls die Gaskammermorde ge- Jahren im Amt, offenbar zu sehr ge- den Nazis zur Macht verholfen“, ereifer- leugnet hatte. zweifelt. Um juristische Korrektheit be- te sich der Hamburger CDU-Fraktions- Zehn Schöffen am Mannheimer müht, ließ er die Angeklagten trotz na- chef Ole von Beust. „Jetzt hat also auch Landgericht, die in diesem Jahr den hezu klarer Beweislage laufen. Hamburg seinen Neonazi-Justizskan- Skandalrichtern Wolfgang Müller und Goertz und Siefert hatten im März dal“, schimpfte der Schriftsteller Ralph Rainer Orlet zugeteilt worden sind, leh- letzten Jahres auf dem Anrufbeantwor- Giordano. Und für Ignatz Bubis, den nen es mittlerweile aus Gewissensgrün- ter eines Neonazi-Infotelefons einen Vorsitzenden des Zentralrates der Ju- den ab, in der umstrittenen Strafkam- eindeutigen Text installiert, der von den, war das Urteil schlicht verheerend, mer weiter Recht zu sprechen – für den Sympathisanten abgehört wurde: weil es den Neonazis Auftrieb gebe. Frankfurter Strafrechtsprofessor Win- Wie nicht anders zu erwarten war, ist Damit hat sich die deutsche Justiz fried Hassemer ein „legitimer“ Protest die Hollywood-Seifenoper des Juden zum zweitenmal innerhalb weniger Mo- (siehe Interview Seite 37). Steven Spielberg „Schindlers Liste“ mit Oscar-Auszeichnungen überhäuft wor- den. Ein Film von Spielberg erhält grundsätzlich einen Oscar. Richtet er sich gegen Nazi-Deutschland, kommen weitere dazu, und hält er den Ausch- witz-Mythos am Leben, wird er mit sie- ben Oscars zum Film des Jahres. In Deutschland haben trotz Medienpropa- ganda erst 300 000 Manipulierbare den Film gesehen. Vor allem viele Schulkinder wurden gezwungen, das Machwerk anzuschauen. Die Staatsanwaltschaft, die gegen das Urteil Berufung einlegte, hat keine Zweifel, daß die Angeklagten mit dem Wort „Auschwitz-Mythos“ die Gaskam- mermorde in Polen bestreiten. Die For-

GRAFFITI mulierung sei für Juden besonders ehr- verletzend, so Hamburgs Generalstaats-

J. RÖTTGERS / * Eine Schöffin hat sich vermummt, weil sie aus Streikender Schöffe Stepien (2. v. r.), Kollegen*: Legitimer Protest Angst vor Terroranrufen nicht erkannt werden will.

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anwalt Arno Weinert, weil sie so per- überhaupt nicht daran, den Judenmord die Schwächen der Justiz mittlerweile zu fide sei. Da die sogenannte Auschwitz- abzustreiten. Eine hundertprozentige nutzen versucht. Lüge inzwischen nahezu sicher zu Gewißheit, daß die Angeklagten lögen, Dabei wußte Kob durchaus, über wen Strafen führt, entwickeln Jungrechte gebe es nicht, argumentierte Richter er zu Gericht saß. Goertz, Student der immer neue Ideen, das Verbot zu um- Kob – und sprach sie frei. Betriebswirtschaft, gehört zu den füh- gehen. Die Auslegung zugunsten der Ange- renden Köpfen der Neonazi-Szene. Erst Kob dagegen hörte bei der Hauptver- klagten mag juristisch begründbar sein. im vergangenen Sommer hatte Richter handlung am vergangenen Mittwoch of- Tatsächlich aber zeigt der Sieg des Neo- Kob den Jungrechten verurteilt, weil fenbar auf die Aussagen der Angeklag- nazis Goertz und seines Kameraden, mit der mit einem abgewandelten Hitler- ten. Sie hatten behauptet, sie dächten welcher Dreistigkeit die rechte Szene Gruß erwischt worden war. Y

wissensgründen ihr Amt niederzule- gen, desto eher können sie Richter „Setzt euch durch“ auch mal unter Druck setzen, sich so zu verhalten, daß ihnen die Schöffen Winfried Hassemer über den Mannheimer Schöffenstreik nicht abhanden kommen. Dann ist es aus mit der Unabhängigkeit der Justiz. Und wir brauchen in dieser Hassemer, 54, ist Professor für Gesellschaft eine Justiz, die wirklich Strafrecht und Strafprozeßrecht in unabhängig ist und ohne Zwang sa- Frankfurt. gen kann, was sie für richtig hält. Diese Unabhängigkeit ist eines der SPIEGEL: Professor Hassemer, in höchsten Güter in einem demokrati- Mannheim weigern sich zehn Schöf- schen Rechtsstaat. fen, mit dem Skandalrichter Rainer SPIEGEL: Der Bundesgerichtshof hat Orlet gemeinsam in einer Kammer das umstrittene Urteil des Richters zu Gericht zu sitzen. Ist der Boykott Orlet im Dezember aufgehoben, der Laienrichter ein verbotener weil es gravierende Rechtsfehler Streik – oder eine legale Gewissens- enthielt. Orlet habe Deckerts Tat, entscheidung? die Leugnung der Gaskammermor- Hassemer: Ich kann die Schöffen gut de, verharmlost. Untergräbt es die verstehen. Daß sie nicht mit einem Unabhängigkeit, wenn die Justiz in Mann gemeinsam richten wollen, einem so krassen Fall den Schöffen der in seinem Urteil gegen den den Ausstieg erleichtert? NPD-Chef Günter Deckert unver- Hassemer: Auch ich bin empört hohlen Sympathie mit diesen über das Mannheimer Urteil. Diese Rechtsradikalen gezeigt hat, ist legi- Empörung sollte man aber argumen-

tim. Das gilt besonders, wenn sie S. HUSCH / TERZ tativ austragen – wie es ja auch ge- durch den Richterspruch persönlich Strafrechtler Hassemer schehen ist. Ich würde ganz anders getroffen wurden, wie einer der „In der Menschenwürde getroffen“ verfahren. Ich möchte den Schöffen Schöffen, dessen Angehörige im KZ sagen: Geht doch hin und versucht, ermordet wurden. Aber nach dem Hassemer: Wenn ein Richter wie euch durchzusetzen. Das ist eure Gesetz muß der Schöffe antreten. Er Herr Orlet ein Urteil gefällt hat, das Aufgabe und eure Chance. Ihr habt hat kein Recht, sein Amt aus Ge- einen Schöffen aufgrund seiner Fa- doch auch Rechtsmacht. wissensgründen niederzulegen, und miliengeschichte besonders verletzt, SPIEGEL: Die Macht eines Laien- kann nur in wenigen Ausnahmefäl- dann ist es unzumutbar, diesen in richters ist beschränkt. Im Hinter- len von seiner Pflicht befreit werden. den Gerichtssaal zu zwingen. Der zimmer, bei der Urteilsberatung, Etwa wenn er krank ist oder in sei- Schöffe würde nicht nur an der See- setzen sich doch meistens die Profis ner Firma dringend gebraucht wird. le, sondern auch in seinen Grund- durch. SPIEGEL: Einige der Schöffen wollen rechten getroffen werden, insbeson- Hassemer: Richtig, aber es än- selbst dann nicht zum Gerichtster- dere in seiner Menschenwürde. dert nichts am Grundsätzlichen. Der min kommen, wenn sie dafür ins Ge- Aber ich will betonen: Das muß eine Schöffe muß zumindest versuchen, fängnis gesteckt würden. Droht ih- extreme Ausnahme bleiben. Es der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen. nen Haft? reicht nicht aus, wenn der Schöffe Die Justiz verlangt manchmal sehr Hassemer: So weit muß es nicht mit einer Meinung oder einem Ur- viel. Zeugen müssen gegen Verbre- kommen. Im Gerichtsverfassungsge- teil irgendeines Richters nicht ein- cher aussagen, obwohl sie sich da- setz gibt es eine Vorschrift, die aus- verstanden ist. durch möglicherweise in Lebensge- nahmsweise in diesem Fall greifen SPIEGEL: Die meisten der streiken- fahr begeben. Und wenn sie sich aus könnte. Nach ihr können sich Schöf- den Schöffen haben keine derart tra- Angst vor Rache weigern, können fen beurlauben lassen, wenn ihnen gische Familiengeschichte. Plädieren sie mit Gewalt in den Gerichtssaal der Dienst nicht zuzumuten ist. Sie dafür, daß die zum Mitmachen gezerrt werden. Aber ohne diese SPIEGEL: Auch im Rahmen dieser gezwungen werden? Macht wäre die Unabhängigkeit der Vorschrift wurde das Gewissen bis- Hassemer: Ja, denn wir müssen auch Justiz nicht herstellbar. Das müssen her noch nie als Entschuldigung ak- die Kehrseite beachten: Je leichter auch die protestierenden Schöffen zeptiert. wir es den Schöffen machen, aus Ge- anerkennen.

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28 Wasser-Projekte identifizierte der Mit Hunderten von Millionen Mark Hochwasser Bund für Umwelt und Naturschutz im wurde der sagenumwobene deutsche schwer durchschaubaren Dickicht der Strom samt seiner Nebenflüsse, bis hin mittelfristigen Planung von Verkehrsmi- zu den entlegensten Bächen, schon seit nister (CDU). Ge- dem vorigen Jahrhundert begradigt und Alles samtkosten: beinahe acht Milliarden kanalisiert. Jetzt müssen die Steuerzah- Mark. Das Repertoire reicht vom „Aus- ler erneut Hunderte von Millionen bau einer Staustufe in der Saale“ bei Mark aufbringen , um künstliche Über- harmlos Klein Rosenburg über den „Ausbau der flutungsgebiete dort zu baggern, wo Donau“ zwischen Straubing und Vilsho- einst natürliche verbaut und verschüttet Der Kanzler lobt die Katastrophen- fen oder der Havel in Berlin bis zu „Ver- wurden. helfer – doch die Regierung läßt un- tiefung bzw. Ausbau“ von Unter- und Längst ist unstrittig, daß allein die Außenelbe, Außenweser, Peene und Staustufen am Oberlauf den durch- beeindruckt weiter Flüsse begradi- Hunte. Allein an und in der Elbe sollen schnittlichen Wasserspiegel des Rheines gen und Kanäle bauen. 500 Millionen Mark verbaut werden. um 50 bis 60 Zentimeter angehoben ha- Harmlos istdas alles für Verkehrsmini- ben. Unter den Folgen leiden heute die ster Matthias Wissmann. Der Umbau des Rheinländer und die Niederländer. as in der Vergangenheit im Was- Noch-Flusses Havel zum Quasi-Kanal er- Aber weitere Staustufen am Mittel- serbau geschehen ist“, erkannte scheint ihm ökologisch unbedenklich, rhein stehen in den Bonner Plänen – 110 WBundespräsident Roman Herzog Hochwassergefahren für die Berliner sei- Millionen Mark sind dafür veranschlagt. nach der Hochwasserkatastrophe, en nicht zu vermuten. Komplettiert wird die Bonner Was- „erweist sich heute als unrichtig.“ Nun So haben die Wasserstraßenbauer im- serstraßen-Gigantomanie durch die Vi- müsse „umgesteuert werden“. mer geredet. Die verheerenden Folgen sionen der Brüsseler Europa-Bürokra- Einige Bundesländer haben schon da- solcher Fehleinschätzungen sind inzwi- tie. Geplant sind 30 neue Großprojekte mit begonnen. Den in Jahrzehnten zu- schen selbst für Laien offenkundig. zu Wasser: Von Paris bis Budapest, von Belgien bis Tschechien sollen 100 oder gar 200 Meter lange Schiffe ihren Weg finden. Ökonomische Sachzwänge, so soll es scheinen, weisen den Weg. Die umweltfreundliche Binnenschiffahrt bleibe nur dann wettbewerbsfähig, wenn sie mit immer größeren Transportern über immer breitere Wasser- Highways schwimmen kann. Da- bei schrumpft der Anteil der Bin- nenschiffahrt am Güterverkehr ständig. Auch der für sechs Milliarden gebuddelte Rhein-Main-Donau- Kanal erwies sich als gigantische Fehlinvestition – zu Lasten der Steuerzahler und der Umwelt. Konsequenzen werden aus sol- chen Pleiten sowenig gezogen wie aus der Hochwasserkatastro- phe der letzten Tage. Im Kabi- nett begnügte sich Kanzler Hel- mut Kohl mit einem Dank an die „vielen ungenannten Helfer

DPA draußen im Lande“ und ihr Hochwasser in Bonn*: Warten aufs Umsteuern „beeindruckendes Zeichen der Solidarität“. Wirtschaftsminister betonierten Flüssen werden einst natürli- Die ungebändigten Wassermassen, Günter Rexrodt versprach ein paar Mil- che Überflutungsräume zurückgegeben. die regelmäßig, in immer kürzeren In- lionen aus der Steuerkasse für die übli- Über eine Milliarde Mark wollen die vier tervallen, Städte und Dörfer überflu- chen „unbürokratischen Sofortmaßnah- Rhein-Länder in den nächsten Jahren da- ten, sind nicht unabwendbare Naturer- men“. für ausgeben. eignisse, sondern auch Folgen verfehl- Nur Umweltministerin In Bonn aber denkt keiner ernsthaft ter Politik: das Ergebnis jahrzehntelan- will sich jetzt profilieren. Ein neues Bo- ansUmsteuern, imGegenteil. Die Regie- gen Umbaus einstiger Flüsse zu Wasser- denschutzgesetz werde die Planierung rung will in den kommenden Jahren im- Autobahnen, auf denen nicht nur die von Wiesen und Wäldern stoppen, kün- mer neue Schleusen und Kanäle bauen, Schiffe, sondern auch die Hochwasser- digte sie an, eine Reform des Bundesna- noch mehr Staustufen einrichten – und fluten immer größer und schneller wer- turschutzgesetzes verhindere künftig die noch etliche Flußufer begradigen lassen. den. allzu sorglose ökonomische Verwertung Und meistens ziehen die Wirtschafts- und Was Bonn jetzt im Osten plant, warnt der Flüsse. Der Text für diese Gesetze Verkehrsminister der Länder eifrig mit. der Naturschutzbund, führe dort unwei- liegt in ihrem Ministerium bereit: in der gerlich zu neuen Hochwassergefahren. Ablage. * Das flutbedrohte Parlamentsgebäude am Mitt- Dann könnte sich an der Elbe sehr bald Vorgänger Klaus Töpfer war damit im- woch vergangener Woche. die Rhein-Katastrophe wiederholen. mer wieder im Kabinett gescheitert. Y

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Rechtsradikale und sei „heillos zerstritten“. Der neue Landesvorsitzende Sozialdemokraten Politisches Alexander Hausmann be- schuldigt seinen Vorgänger, Kungelei um Platz zwei Koma innerparteilich ein „Chaos“ Der Niedergang der rechtsra- hinterlassen zu haben. Mit dikalen Republikaner (Rep) seiner Abspaltung, so Haus- setzt sich auch unter dem mann, führe Hüttl eine Nachfolger von Ex-Partei- „Handvoll politisch Geschei- chef Franz Schönhuber, Rolf terter“. Schlierer, fort. So hat die neue Rep-Spitze gerade das Naturschutz zentrale Parteiorgan Der Re- publikaner aus Geldmangel Kampf „vorübergehend“ eingestellt. Wolfgang Hüttl, der bisheri- um Stege

ge bayerische Rep-Landes- Anwohner, Hoteliers und PRESS vorsitzende, der Ende Januar Pensionsbesitzer an den auf einem Landesparteitag in Ufern der rund 300 Seen in

Ingolstadt auf Betreiben Schleswig-Holstein fürchten FOTOS: ACTION um ihren privaten Zugang Farthmann Kniola zum Wasser. Grund ist eine Entscheidung des Oberver- Heftiger Streit in den Kulissen seiner Partei schmälert waltungsgerichts Schleswig, die Hoffnungen von Ministerpräsident Johannes Rau, wonach private Stege an den die nordrhein-westfälische SPD bei der Landtagswahl im Gewässern des Landes auf Mai geschlossen zum vierten Mal zur absoluten Mehrheit Antrag der Gemeinden abge- führen zu können. Vor Vertrauten erhob jetzt der Düs- rissen werden müssen, falls seldorfer Verkehrsminister Franz-Josef Kniola Anspruch sie nicht mit besonderer Ge- auf den Job des langjährigen Fraktionsvorsitzenden nehmigung gebaut wurden. Friedhelm Farthmann. Der Plan der Kungelrunde aus Das 1993 novellierte Landes- dem mit Abstand mitgliederstärksten SPD-Bezirk West-

F. HELLER / ARGUM naturschutzgesetz gebietet liches Westfalen: Die Delegierten wollen Farthmann Hausmann, Hüttl den Abriß, um Pflanzen und Platz zwei auf der Landesliste verwehren, den Rau ihm Tiere in den Seen vor Ang- zugesichert hat. Bei der letzten Wahl führte nur der erste Schlierers gestürzt wurde, lern und Bootfahrern zu Platz auf der Liste zu einem Mandat, da die meisten hat die Partei verlassen und schützen. Landesweit sind SPD-Kandidaten ihre Wahlkreise direkt gewonnen hat- plant die Gründung einer damit schätzungsweise 40 000 ten. Der Fraktionschef, wegen seines unsicheren Wahl- rechten Konkurrenz. Hüttl Stege gefährdet, die teilweise kreises auf einen sicheren Listenplatz angewiesen, hat in- will am Dienstag kommender durch öffentliche Anleger er- tern bereits klargemacht, daß er Platz drei nicht akzep- Woche in Augsburg bundes- setzt werden sollen. Besitzer tieren würde; lieber wolle er auf eine Landtagskandida- weit Ex-Reps und parteilose von Hotels und Pensionen tur verzichten. Damit hätte Kniola freie Bahn, zumal er Rechte in einem „Freiheitli- mit eigenen Zugängen zum und seine westfälischen Genossen sich tatkräftiger Un- chen Freundeskreis“ sam- Wasser rechnen nun mit Ein- terstützung gewiß sein können: Auch die SPD-Frauen meln. In Augsburg hat sich bußen im Tourismus-Ge- fordern per Quote Platz zwei auf der Liste. die gesamte frühere Rep- schäft. Mehrere hundert See- Stadtratsfraktion Hüttl ange- anlieger gründeten eine schlossen. Der abtrünnige Schutzgemeinschaft; gegen Presse führt hatte, wurde Christian Ex-Rep-Landeschef wirft der das Landesnaturschutzgesetz Hobrock. Der Leser ahnte Schlierer-Partei vor, sie lie- läuft eine Klage beim Bun- Herz nichts von der Mogelpak- ge „im politischen Koma“ desverfassungsgericht. kung. Über einen Quellen- und Gemüt hinweis habe er sich, so der Ein früheres SED-Blatt hat verantwortliche Redakteur, nach altem DDR-Brauch „keine Gedanken gemacht“. Parteierklärungen als Jour- nalismus verkauft. Ein Inter- view mit dem sächsischen Zitat CDU-Fraktionschef Fritz Hähle, das die Lausitzer „Politik, gerade in Rundschau (Auflage: 200 000 Energiefragen, ist eine Exemplare) veröffentlichte, sehr schwierige war vorher wortwörtlich im Angelegenheit. Wenn es Landtag-Informationsdienst leichter wäre, könnte der CDU erschienen. Bei der es ja auch jemand Wiederaufarbeitung änderte anderes machen.“ die Redaktion den Titel Niedersachsens Ministerpräsident „Herz & Gemüt“ in „Politi- Gerhard Schröder (SPD) über sei- ker mit Herz und Gemüt“; ne Rolle bei den Gesprächen über einen Energiekonsens. D. STÖCK aus Hähle-Sprecher Christian Bootshaus am Plöner See Hoose, der das Gespräch ge-

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Zeitgeschichte Lähmendes Entsetzen Vor 50 Jahren zerstörten Bombenteppiche das historische Dresden. Der Untergang der Elbstadt, militärisch überflüs- sig, kündigte das Ende des NS-Regimes an. Auf Deutschland fiel durch die Luftangriffe der Engländer und Amerika- ner zurück, was Hitlers Armeen mit Terror und Vernichtung in Ost und West angerichtet hatten.

m Morgen nach der Reichspogrom- strahlbomben und 400 000 Stabbrand- fegt eine weitere Angriffswelle, diesmal nacht im November 1938 besich- bomben fallen binnen 23 Minuten auf von US-Bombern, die ausgeglühten Atigten Dresdner die rauchenden Dresden. Das Zentrum der Stadt geht in Ruinen um, danach sind 15 Quadratki- Trümmer der jüdischen Synagoge. In Flammen auf. lometer der Stadt nahezu dem Erdbo- der Menge stand neben dem Maler Otto Da ist eine zweite Angriffswelle, den gleich. Nie wird genau festzustellen Griebel ein stadtbekannter Sonderling ebenso stark wie die erste, bereits unter- sein, wie viele Menschen umgekommen („Diogenes von Dresden“), und ehe der wegs. Ein Pilot notiert später in seinem sind, da sich damals in Dresden zahlrei- kleine Bärtige davonhinkte, hörte Grie- Tagebuch: che Flüchtlinge und Zwangsarbeiter auf- bel ihn sagen: „Dieses Feuer kehrt zu- hielten. Lange Zeit war von rund 35 000 Der phantastische Schein aus 320 Ki- rück. Es wird einen großen Bogen ge- Toten die Rede. Neueste Untersuchun- lometer Entfernung wurde immer hel- hen und wieder zu uns kommen.“ gen kommen auf 25 000 Opfer. ler. Selbst in einer Höhe von 6700 Me- Die gruselige Weissagung erfüllt sich Dresdens Untergang gilt als Jahrhun- tern konnten wir bei dem gespensti- knapp sechseinhalb Jahre später. dertsymbol sinnloser Zerstörung. Stär- schen Licht der Flammen Einzelheiten ker noch als etwa bei der „Operation Vor nunmehr 50 Jahren, am Nachmit- erkennen, die wir nie zuvor gesehen Gomorrha“, die 1943 große Teile Ham- tag des 13. Februar 1945, einen Tag vor hatten: Zum ersten Mal seit vielen Ein- burgs in Schutt und Asche gelegt hatte, Aschermittwoch, starten 245 viermoto- sätzen fühlte ich Mitleid mit der Bevöl- verbreitete dieser wirkungsvollste kon- rige „Lancaster“-Maschinen der 5. briti- kerung dort unten. schen Bomberflotte von England aus ventionelle Luftschlag während des und nehmen Kurs auf die sächsische Die Treffer fachen die Brände weiter Zweiten Weltkriegs in Europa lähmen- Hauptstadt. Dort heulen um 21.39 Uhr an und entzünden neue. Über 1000 des Entsetzen unter der Bevölkerung. die Sirenen auf. Grad mißt die Hitze, so daß noch in den Zwar waren dem Bombenhagel in Wenig später hören die Menschen, Kellern der Apotheken die Glasflaschen Hamburg mindestens rund 15 000 Men- wie mit einem Geräusch „umfallender schmelzen. Ein Feuersturm in Orkan- schen mehr zum Opfer gefallen; auch Bäume“ und „heranrasender Züge“ ein stärke peitscht die Flammen durch die stand Dresden mit 40 Prozent völlig ver- bis dahin unvorstellbares Bombarde- Straßen. nichteter Wohnungen in der Reihe deut- ment herabkommt. Insgesamt 3000 Weniger als eine Stunde dauern die scher Ruinenstädte hinter Köln, Dort- schwere Sprengbomben, 250 Feuer- beiden Attacken insgesamt. Tags darauf mund und Pforzheim. SÄCHSISCHE LANDESBIBLIOTHEK Zerstörtes Dresden (1945), Dresden heute: „Dieses Feuer kehrt zurück, es wird einen großen Bogen gehen und wieder

44 DER SPIEGEL 6/1995 . DEUTSCHE FOTOTHEK DRESDEN Leichenverbrennung auf dem Dresdner Altmarkt: „Unterhöhlung des Kampfgeistes des deutschen Volkes“

Aber nie zuvor waren deutsche Zivili- kleineren Attacken ab- sten binnen weniger Stunden einem so gesehen, bis zum Fe- massiven und konzentrierten Angriff bruar 1945 nahezu ausgesetzt worden. Nun widerfuhr unversehrt. In den Adolf Hitlers „Drittem Reich“, was der Operationsplänen der großgermanische Eroberer den alliier- West-Alliierten tauch- ten Feindmächten angedroht hatte. Die te die sechstgrößte In- Deutschen selbst hatten der Welt bei dustriestadt des Deut- der Bombardierung des englischen Co- schen Reiches als mög- ventry 1940 gezeigt, daß Luftflotten liches Angriffsziel erst ganze Städte, wie Hitler sagte, „ausra- in der letzten Phase dieren“ konnten. des Krieges auf. Zum Schock mag auch beigetragen Flächenbombarde- haben, daß die Dresdner ihr Elbflorenz ments anstelle zielge- lange Zeit für sakrosankt hielten. Tat- nauer Schläge gegen sächlich blieb die Stadt, von einigen ausgewählte Objekte wie Treibstofflager, Bahnlinien und Ver- sorgungseinrichtungen

waren von den Briten SÜDD. VERLAG schon früh als strategi- Britischer Bomber: Stadt für Stadt auslöschen sche Alternative er- kannt worden. Weil es mit der Präzision Amerikaner ihr Ziel, durch kombinierte bei Bombenabwürfen oft haperte, muß- Bomberoffensiven die „Unterhöhlung ten großflächige Angriffe verlockend er- des Kampfgeistes des deutschen Vol- scheinen. Energischer Verfechter dieser kes“ fortzusetzen. Während die US- Ausweitung des Krieges auf die Zivilbe- Luftwaffe sich auf Punktziele am Tage völkerung war Sir Arthur Harris, seit beschränkte, setzte Harris, zum Teil ge- 1942 Oberbefehlshaber des Bomber- gen den Widerstand seiner Vorgesetz- kommandos der Royal Air Force. ten, weiter auf großflächige Bombarde- Unablässig drängte er darauf – ganz ments in der Nacht. im Sinne seines Mentors, des britischen 45 von 60 wichtigen Städten seien zer- Premiers Winston Churchill, der sich stört, freute sich der „Schlächter“, wie nur aus politischen Gründen zuweilen ihn nicht wenige nannten, im Herbst von „Bomber-Harris“ distanzierte –, 1944. Der Rest müsse nun auch noch er- hinter den Fronten Stadt für Stadt aus- ledigt werden, forderte er, darunter: zulöschen. Nur so sei es möglich, hielt Dresden. Harris 1942 in einem Memorandum fest, Kriegsentscheidend war das Bombar- „Rußland rechtzeitig zu unterstützen“ dement angesichts der drückenden ma- und Deutschland entsprechend „weit teriellen Überlegenheit der Alliierten physisch zu schwächen und nervlich zu längst nicht mehr, auch wenn die das erschöpfen, daß eine Invasion aussichts- deutsche Potential noch überschätzten. reich erscheinen könnte“. Ausschlaggebend für die Entschei-

ZB / DPA Auf der Konferenz von Casablanca, dung, Dresden auf die Liste anglo-ame- zu uns kommen“ Anfang 1943, bekräftigten Briten und rikanischer Angriffsziele zu setzen, wa-

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Hektisch kämpften Inferno bei Nacht A Ein Beobachtungsflugzeug kreist in 1000 Metern Rettungstrupps nach Höhe über Dresden und koordiniert den Angriff: dem Feuersturm zwi- Bombenangriff der Alliierten auf Dresden 1 Beleuchterflugzeuge setzen weiße Leucht- schen den Trümmern im Februar 1945 kaskaden („Christbäume“) der restlichen Stadt, 2 Markierungsflugzeuge werfen grüne und rote um Verschüttete zu Markierungsbomben genau nach Plan bergen. Hilflose Lösch- 3 Wenn die Sichtprüfer das Zielgebiet lokalisieren mannschaften versuch- können, gibt das Beobachtungsflugzeug den Befehl ten, mit Elbwasser, das 2 Zielmarkierer zum Angriff an den Bomberverband (4) sie mit Eimerketten 4 Bomber heranschleppten, die 3 Sicht- prüfer Brände einzudämmen. A Beobachter Über Trümmerhalden 1 und Leichenberge irr- Beleuchter ten Überlebende, ver- stört, blutend, manche noch in Karnevalskluft. Augenzeuge Otto Griebel sah, wie sich Leucht- Schwerverbrannte und kaskaden Halberblindete zu den Sanitätern tasteten: „Alte Mütterchen de- nen die Kleider buch- stäblich vom Leibe ge- sengt waren, wankten heran“, zwischen Pfer- ren in erster Linie bündnispolitische dekadavern und Stra- Überlegungen. Nach der deutschen Ar- ßenbahnwracks „griff dennenoffensive stockte der Vormarsch eine wächserne Hand der Westmächte Ende 1944, während die aus dem Schutt ins Rote Armee rasch an Boden gewann. Nichts“, aus einer mit- Um den Sowjets trotzdem Einsatz zu ten auf der Straße ste- zeigen, ließ Churchill im Januar 1945, henden Wanne „grin- kurz vor der Konferenz von Jalta, prüfen, ste uns der abgerissene „ob Berlin, und ohne Zweifel auch ande- Kopf eines Kindes ent- re große Städte in Ostdeutschland, jetzt gegen“. nicht als besonders lohnende Ziele ange- Über dem Grauen sehen werden sollten“. Durch Bomben- kreiste „in wunderba- angriffe auf das Hinterland der deutschen rer Ruhe“ ein Adler, Ostfront sollte der mißtrauische Bünd- der ebenso aus dem nispartner in Moskau beeindruckt wer- Zoo entkommen war den. wie ein Löwe, der Jahrelang hatte der sowjetische Dikta- durch die brennende

tor Josef Stalin von den Westmächten die DER SPIEGEL KINDERMANN Stadt irrte. Eröffnung einer zweiten Front verlangt. Bomber-Strategen Harris, Churchill Noch Tage später Als die „Großen Drei“, der amerikani- Aus politischen Gründen distanziert brachen bei geringster sche Präsident Franklin D. Roosevelt, Erschütterung Gebäu- Churchill und Stalin, Anfang Februar daß die Zerstörung Dresdens „seinerzeit de zusammen, deren verglühte Steine 1945 an der Schwarzmeerküste in Jalta von Leuten, die viel wichtiger waren als nicht mehr hielten. Am 14. Februar traf zusammenkamen, forderte der sowjeti- ich, für militärisch notwendig gehalten“ es das Stadtwahrzeichen, die zunächst sche Generalstabschef Alexej Antonow, worden sei. wundersam verschont gebliebene Frau- die Verkehrsknotenpunkte Berlin und Was allerdings nichts daran ändert, enkirche. Eine Augenzeugin erzählt, Leipzig zu zerschlagen, um deutsche daß an die militärische Notwendigkeit daß auf einmal „nach anfänglichem lei- Nachschublinien zu kappen. der Bombardierung, so Harris’ Stellver- sen Knistern die Kuppel langsam in sich Churchill befürchtete aber offenbar, treter Generalleutnant Sir Robert zusammensank und dann mit ungeheu- daß Hitler und sein Stab in diesem Fall Saundby, heute „nur noch wenige glau- rem Knall die Außenwände der Kirche nach Süden – etwa Dresden – flüchten ben“. barsten und eine nachtschwarze Staub- könnten. Wie Stalin darauf reagieren Die Dresdner waren von den wahren wolke die ganze Umgebung erfüllte“. würde, fragte er den sowjetischen Gene- Verantwortlichen, den Propagandisten Zwei Wochen lang äscherten die ralissimus. „Wir würden ihm folgen“, so und Statthaltern des NS-Regimes, bis Überlebenden am Altmarkt die Toten die lakonische Antwort. zuletzt mit Durchhalteparolen abge- der Bombennacht auf großen Scheiter- Damit war, möglicherweise um beides speist worden: „Unsere Mauern bre- haufen ein. Über die Berge aus Schutt zu verhindern, Dresdens Schicksal besie- chen – unsere Herzen nicht!“ Nicht ein zogen im Frühjahr 1945 die Schaf- gelt. Zu Recht hatte Bomber-Stratege einziger öffentlicher Bunker oder herden. Die deutsche Trümmerblu- Harris, der nach dem Krieg auch bei Schutzraum aber bot den Bewohnern me, die Goldrute, wucherte in ganzen Churchill in Ungnade fiel und erst vor der Elbstadt Zuflucht vor dem Bomben- Feldern. „Man geht hindurch“, so der knapp drei Jahren mit einem umstritte- hagel. Nur einer hatte, mit einem Pri- Schriftsteller Erich Kästner, „als lie- nen Denkmal in London geehrt wurde, in vatbunker, vorgesorgt: der sächsische fe man im Traum durch Sodom und seinen Memoiren Wert darauf gelegt, Gauleiter Martin Mutschmann. Gomorrha.“ Y

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TITEL

„ALLES, WAS KNALLT“ In der Drogenpolitik bahnt sich eine Wende an: Der rigide Kampf gegen die Sucht ist gescheitert, immer lockerer greifen die Deutschen zu verbotenem Stoff. Richter lassen Junkies laufen, Polizisten schauen weg. Immer mehr Süchtige bekommen Ersatzdrogen vom Staat, Experten fordern nun die kontrollierte Abgabe von Heroin.

er mintgrün gestrichene Raum gleicht einem Frisiersalon: eine Dlange Spiegelreihe, davor eine Ab- lage aus Edelstahl und bequeme Stühle. Bernd, 30, setzt sich eine frischgefüllte Heroinspritze an den Hals, kontrolliert die Einstichstelle im Spiegel und drückt den Stoff dann in die Blutbahn. Aus der Vene quillt ein dicker, dunkler Tropfen. Bernd tupft ihn ab und atmet durch. Die Arme des blassen Junkies sind voller Narben. „Das waren alles Abszes- se“, brummt Bernd, der seinen Stoff schon häufig mit Wasser aus Pfützen oder Kloschüsseln aufgekocht hat. Wenn es sein muß, wird er das auch wie- der tun. Doch lieber fährt Bernd regelmäßig vom Frankfurter Bahnhofsviertel zum Stahl- und Spiegelraum im Osten der Stadt. Betreut von Sozialarbeitern, ge- duldet von Polizei und Staatsanwalt- schaft, können Heroinsüchtige sich hier seit einigen Wochen hygienisch ein- wandfrei ihren Schuß setzen. Das Modell, jüngstes Experiment der liberalen Frankfurter Rauschgiftpolitik, bedeutet für Junkies wie Bernd etwas Schonung für den kaputten Körper und „weniger Streß wegen Polizei und so“. Von der Droge weg kommt er dadurch freilich nicht: „Ich hab’ keine Perspekti- ve“, sagt er lethargisch, „ich leb’ ein- fach, bis es nicht mehr geht.“ Solches Elend kommt für Julia, 17, nicht in Frage. Sie will „Party, Stim- mung, Abfeiern“, und die bunten, auf- putschenden Ecstasy-Tabletten gehören dazu. Regelmäßig zieht die Gymnasia- stin aus Hamburg-Langenhorn in den Techno-Klub „Opera House“. Julia schüttelt ihre blonden Haare im Licht- und Musikgewitter, ihre Zähne leuchten, sie tanzt, bis ihr der Schweiß von Stirn und Armen läuft. Ihr Gesicht zeigt, wie alle Gesichter um sie herum, einen Ausdruck von Glückseligkeit. Ein pulsierender Beat peitscht die Menge voran, die Droge Ecstasy ist ihr Treib- stoff beim Taumel durch die Nacht. „Ob das eine Droge ist, interessiert mich nicht so“, sagt Julia und lacht hell

J. SCHWARTZ auf: „Alle nehmen es, man wird locker, Drogenszene Frankfurter Bahnhofsviertel: „Ich hab’ keine Perspektive“ und das bringt Spaß.“ Sie beugt sich mit

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erhobenen Armen zurück, stampft im Rhythmus und skandiert: „Claro Mann, fun, fun, fun!“ Jörg Zuther, 33, und Rene´ Schacht, 28, denken beim Spaß auch ans Geld. In der Innenstadt von Lübeck betrei- ben die beiden ganz legal einen soge- nannten Headshop, ein Spezialgeschäft für Haschisch-Utensilien. Am liebsten würden Zuther und Schacht aber nicht nur Haschpfeifen („Chillums“) und Papierblättchen zum Bauen von Joints verkaufen, sondern auch die Droge selbst. Mit Hilfe eines Unternehmensberaters haben sie jetzt den Behörden einen Antrag vorgelegt. Sie wollen den Headshop zu einer le-

galen Cannabis-Verkaufsstelle ausbau- G. MENN / FOCUS en, nach dem Vorbild der sogenannten Drogenszene Techno-Disco: „Claro Mann, fun, fun, fun!“ Koffie-Shops in den Niederlanden. Die Lübecker Haschisch-Freunde berufen sich auf einen Vorschlag der zuständigen schleswig-holsteinischen Landesministerin Heide Moser (SPD), die Koffie-Shops in Deutschland ein- führen möchte. Zuther verspricht: „Wir werden niemanden zum Konsum ermuntern, aber wir wollen auch Vor- urteile abbauen und Konsumenten ge- sellschaftlich integrieren.“ Was noch vor wenigen Jahren als ge- fährliche Spinnerei gegolten hätte, er- scheint nicht mehr völlig abwegig. Zwar ist Cannabis laut Betäubungsmit- telgesetz (BtMG) ein verbotenes Rauschgift. Aber wenn sich Drogenpo- litik und juristische Praxis weiter so wandeln wie in den vergangenen Jah- ren, dann müssen Kiffer zum gepfleg- ten Haschisch-Einkauf bald nicht mehr nach Holland fahren. Der Frankfurter Oberstaatsanwalt Harald Hans Körner, Verfasser S. MÜLLER / WESTEND des einschlägigen BtMG-Kommentars, Frankfurter Fixerstube: Schonung für kaputte Körper deutet die neue Entwicklung bereits an: „Cannabis entwickelt sich zu einer Kulturdroge“ – wie Nikotin oder Alko- hol. Nach einer Schätzung, die das Bundesverfassungsgericht vergangenes Jahr in einem Drogen-Urteil angeführt hat, sind bis zu vier Millionen Bundes- bürger Gelegenheitskiffer. Fixen in staatlicher Obhut, Massen- rausch auf Disco-Partys, Haschisch halblegal – die deutsche Drogenszene ist bunter als jemals zuvor. Behörden und Politiker gehen nicht nur mit dem eher harmlosen Cannabis pragmatischer um, sondern auch mit den harten Stoffen, mit Heroin und Kokain. Denn Aufklärungskampagnen und zähe Bemühungen von Eltern und Pädagogen, den Konsum von Rausch- mitteln zu tabuisieren, haben ihr Ziel verfehlt. Verbote konnten den Sieges- zug der Drogen nicht verhindern. Während der Staat einen schier aus- sichtslosen Abwehrkampf gegen die

Dealer führt (siehe Kasten Seite 60), F. HOLLANDER / DIAGONAL werden Drogenverbraucher immer wei- Verkauf von Haschisch-Utensilien: „Cannabis wird zur Kulturdroge“

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Werbeseite TITEL „Schwitzende, stinkende Typen“ Der Weg eines Mädchens vom Schulhof zum Drogenstrich

as Kind sah so aus, als ob die Na- Dann ist sie wieder da, in der plötzlich Aus der Untersuchungshaft schrieb tur es zu einer schönen Frau ma- erträglich gewordenen Welt. „Die sie mit 15 Jahren an die Mutter: Dchen wollte. Dunkelblonde Lok- Droge sitzt mir im Kopf, da krieg’ ich „Warum nur, warum? Ich bin alleine, ken kringelten sich um ein feines, sie einfach nicht raus.“ ich brauche jemanden, der mich in apartes Gesicht. Mit großen, grünen Ganz sachte hat sie sich da festge- den Arm nimmt und sagt, ich hab’ Augen forderte es seine Welt heraus: setzt, als zwei kichernde Mädchen im Dich lieb. Mama, es ist so schrecklich Tanja mit 13 Jahren. Kinderzimmer Heroin rauchten. Lia- hier . . . Ich weine nur.“ Tanja mit 20 Jahren: Zottelig hän- ne, die Freundin, gab ihr was ab von Die Mutter, selbst abhängig vom gen ihr die Haare in die Stirn, die Zäh- dem Stoff, den sie von ihrem Lover, ei- Alkohol wie der längst verschwunde- ne sind von Karies zerfressen, die fahle nem Dealer, bekam. ne Familienvater, suchte die Toch- Haut ist grobporig und spannt sich Ein Spaß unter Freundinnen – auf ter nächtelang in der Hamburger über den eingefallenen Wangen – die einmal aber sollte Tanja dafür bezah- Szene, sie alarmierte die Sozialbüro- Droge hat ihr Gesicht verwüstet. Jeden Tag erscheint sie in ihrer Apo- theke und trinkt unter Aufsicht einen Becher mit zehn Millilitern Polami- don, Handelsname für den Heroin-Er- satz Methadon. Ihre Sucht wird staat- lich befriedigt und ärztlich überwacht. Das ist schon ein Fortschritt, ein Sieg über das schmutzige Heroin von der Straße: „Sie hätte sonst nicht mehr lan- ge gelebt“, sagt Tanjas Ärztin Ute Harte. Doch es ist ein bitterer Sieg. Die le- gale Droge reicht Tanja nicht. Da ist noch ein hungriger Rest im Hirn, sie braucht den „Kick“, die Euphorie, die sie hochreißt aus ihrer Lethargie, dem dumpfen Einerlei ihrer Tage. Deshalb spritzt sie Kokain, mehrmals täglich. Im Moment ist sie hellwach. Mit kindlichem Elan hüpft sie auf der Stra- ße herum. Ihre Augen wirken leben- dig, ihr Ausdruck ist konzentriert. Sie erzählt in ihrer freundlichen Art von einem erbärmlichen Stück Leben. Es dauert nicht lange, höchstens ein- Drogenopfer Tanja (1985, 1987, 1995): „Das Fleisch faulte am lebendigen Leib, einhalb Stunden, dann sitzt sie wieder da und schläft mit offenen Augen: „Ja, len. Unversehens hatte die Droge sie im kratie und flehte, „daß mir jemand ja, nein, nein, alles egal.“ Sie mag nun Griff. Sie war zu allem bereit, sie mußte hilft“. nicht einmal mehr reden. es sein. Es gab viele, die das versuchten. Be- Sie dämmert dahin bis zu dem Tanjas erster Freier auf dem Ham- wirkt haben ihre Mühen nichts. Punkt, an dem sie wieder zittrig-nervös burger Babystrich von St. Georg hieß „Die Lütte war nicht zu bremsen“, wird und nur noch eines im Sinn hat: Hans-Peter wie ihr Vater, und er war klagt ihre Mutter. „Hätte ich sie ein- den nächsten Schuß. fast so alt wie ihr Großvater, Ende 50. sperren sollen?“ Drogenexperten be- Wie eine Getriebene fährt sie zum Sie war 14. mühten sich um Tanja, aber sie hielt es Bahnhof, wo das „Gift“ offen gehan- Er wollte „nichts Besonderes“, nur nur 48 Stunden in der Entzugsklinik delt wird, 40 Mark die „Kugel“. „drauf und aus“. Siekonnte sich nie dar- aus. Ein Bekannter, ein „väterlicher Schnell, schnell auf die Toilette in ih- an gewöhnen: „Schlimm ist das, wenn Freund“, sagt sie, nahm sie mehrmals rem Stammcafe´. jeder über einen drübersteigt, diese in den Urlaub mit, Paris, Nizza, Starn- Bis auf den letzten Krümel drückt schwitzenden, stinkenden Typen.“ berger See, aber danach stand Tanja sie das weiße Pulver aus dem Zello- Die Sucht blieb stärker als der Ekel. wieder auf der Straße. phan, vermengt es auf einem Löffel Zwischen Szene und Stundenhotels Unter den Augen unzähliger Staats- mit Wasser und zieht die Mischung erlebte sie fast alles, was den Junkie- diener von Polizei und Fürsorge verfiel durch die Nadel hoch in die Spritze. mädchen im Drogendschungel droht: das junge Mädchen. Faustgroße Eiter- Den Stoff, der sie erlösen soll aus Sie wurde vergewaltigt, verprügelt, um abszesse fraßen sich nacheinander in dieser fiebrigen Unruhe und der häßli- ihren Hurenlohn betrogen und immer Arm, Schenkel und Po – typische Re- chen Welt, jagt sie sich in die Leiste. wieder von der Polizei aufgegriffen. aktion, wenn Fixer keine Venen mehr

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ter entkriminalisiert. In der Koalitions- vereinbarung vom vergangenen No- finden und mit schmutzigen Nadeln in Diese Anfälligkeit der substituierten vember haben die christliberalen Re- die Muskeln spritzen. „Das Fleisch Junkies wissen Dealer zu nutzen. Die gierungspartner erstmals, ohne großes faulte am lebendigen Leib“, sagt Tan- Drogenmafia im Hintergrund reagierte Aufsehen, ihre bisherige Forderung ja, „es stank grausam.“ blitzschnell auf die Veränderung des nach völliger Drogenenthaltsamkeit Eine Operation rettete ihr das Le- Marktes und bietet ihnen gezieltKokain aufgegeben. Statt dessen wollen sie le- ben und dazu noch ihr linkes Bein, das – das kleine gemeine Glück, das nur diglich die „Zahl der Drogeneinsteiger schon beinahe abgestorben war. kurz hochreißt. drastisch verringern“ – auch wenn ih- Untertassengroße Narben blieben zu- Ihre täglichen Kugeln Koks bekommt nen das im vergangenen Jahr nicht ge- rück. Tanja von Uwe, 36, finanziert. Er repa- lungen ist (siehe Grafik). Von „Nullto- Die Todesnähe bewog sie zu einem riert Radios und Fernseher und gibt sein leranz“ gegenüber illegalen Suchtmit- entscheidenden Schritt – zurück ins letztes Geld, um das kaputte Mädchen teln spricht nur noch die bayerische Leben: Sie erledigte die beträchtlichen an sich zu binden und in seinem Keller- CSU. Formalitäten für die Aufnahme ins domizil festzuhalten. Die Wende in der Rauschgiftpolitik Hamburger Methadon-Programm. Wann immer sie versucht auszubre- ist kaum noch aufzuhalten. Vorange- Seit sie 19 Jahre alt ist, wird ihr Dro- chen, kauft er sie mit der Droge zurück. trieben wird sie vor allem von Polizei- genhunger auf Rezept gestillt – einer- Er war einmal ein Stammfreier, jetzt ist führern und Juristen, die Elend und seits eine Kapitulation vor der Sucht. er abhängig von ihr wie sie von ihm. Absurditäten des harten Durchgreifens Andererseits bekam Tanja die Chance, Tanjas Leben –ihre Ärztin Ute Harte täglich vor Augen haben. Der Stuttgar- sich vom Straßenstrich zu lösen. sieht eswie „eine Achterbahn“.Es kann ter Polizeipräsident Volker Haas zieht aufwärtsgehen, vielleicht sogar irgendwann in eine fast bürgerliche Existenz 10000 führen. Ein Mädchen, das Erstkonsumenten so früh durch Sucht, Prosti- 9000 tution und Gewalt gebrand- harter Drogen 8000 markt wurde, braucht mit- 7700 unter viele Jahre, um seine 7296 Persönlichkeit zu entdek- 7000 ken. Harte: „Sie lebt ja 6000 noch nicht ihr eigenes Le- HeroinHeroin ben.“ 5000 Doch Tanja hat, nach An- sicht der Ärztin, Fähigkei- 4000 3800 ten, auf denen sie aufbauen 38003549 könnte: „Sie ist kreativ, sen- 3000 KokainKokain sibel und lernbegierig.“ Ihr Zustand hat sich wie- 2000 AmphetamineAmphetamine der gebessert, wenn sie mit 18001797 ihren 168 Zentimetern Kör- 1000 SonstigeSonstige** pergröße auch nur 47 Kilo- 540540 gramm wiegt. Aber sie sieht 0 heute nicht mehr aus wie ei- 1984 1986 1988 1990 1992 1994** ne lebende Tote. Quelle: BKA *inklusive LSD **Hochrechnung

C. THOELEN Zwar verletzt sie die Re- es stank grausam“ geln des Methadon-Pro- gramms, wenn sie täglich Kokain die ernüchternde Bilanz: „Die bisherige Der Tag wurde leer für sie. Tanja spritzt. Aber es gibt keine Alternative: Drogenpolitik ist gescheitert.“ Da es kann sich nun auf sich selbst besinnen. Bestrebungen, sogenannte Beikonsu- keine Gesellschaft ohne Rauschmittel Doch erstmals werden ihr auch ihre menten als hoffnungslose Fälle wieder gebe, meint Haas, „kann die Polizei Defizite bewußt: „Ich habe keine in die Heroinszene zurückzustoßen, auch keine drogenfreie Gesellschaft Freunde, ich habe kein Zuhause, ich wären für Tanja tödlich. Sie braucht durchsetzen“. habe nichts gelernt.“ Wenn sie ihr ge- noch auf Jahre den Schutz der staatli- Der hessische Generalstaatsanwalt zeichnetes Gesicht und ihren malträ- chen Substitution. Hans Christoph Schaefer kommt nach tierten Körper im Spiegel betrachtet, Die Achterbahn eines so kaputten langjähriger Erfahrung mit Drogende- wird sie depressiv: „Ich fühle mich wie Lebens bringt es jedoch mit sich, daß likten zu dem Ergebnis: „Die Strafdro- eine Vogelscheuche, mein Körper ist diejenigen, die es gut mit Tanja mei- hungen des Betäubungsmittelrechts ha- wie ein Brett mit Warzen.“ nen, immer wieder enttäuscht werden. ben noch keinen an Rauschgift Interes- Jetzt muß sie nicht mehr dreimal Über drei Monate hielt die Ärztin Har- sierten abhalten können.“ oder sechsmal am Tag den Ekel vor te einen Therapieplatz im sonnigen Wer aus den Erfahrungen Konse- den Freiern überwinden. Doch es fehlt Griechenland frei, aber Tanja trat ihn quenzen zieht, muß allerdings noch mit ihr auch der Thrill der Szene, das ruhe- nicht an. Widerstand rechnen. Bei Hessens Mini- lose Rennen im Laufrad, um dem Stoff Tanja will sich von ihrer Welt noch sterpräsident Hans Eichel (SPD) ging hinterherzujagen und mit Euphorie be- nicht verabschieden, denn eine andere nach Eröffnung der ersten Fixerstube in lohnt zu werden. Ein Sog zieht sie im- kann sie sich nicht vorstellen: „Wenn Frankfurt Ende vergangenen Jahres ein mer wieder zurück in das Milieu: „Ich ich aufhöre, ach ja, was mache ich scharfer Brief von Bundesgesundheits- bin zu labil, um zu widerstehen.“ dann?“ minister (CSU) ein. Seehofer fordert Eichel in dem Schreiben auf, „die Stadt Frankfurt von

DER SPIEGEL 6/1995 55 TITEL ihrem gesetzwidrigen Tun abzubrin- gen“. Da das Verschaffen einer Gele- Dröhnung für die Seele Geräusche, verliert Raum- und Zeitgefühl, fühlt genheit zum Drogenkonsum unter Stra- Wirkungen und Gefahren sich in eine Traumwelt versetzt. fe stehe, so der Christsoziale, müsse der In extremer Überdosierung kann LSD zum Tod Fixerraum geschlossen werden. illegaler Rauschmittel durch Krämpfe und Herzversagen führen, die Eichel denkt nicht daran zu parieren. Cannabis meisten LSD-Opfer sterben jedoch durch Unfälle, Inzwischen wurde am Main eine zweite die ihnen im Rausch passieren. Bei entsprechen- Fixerstube eröffnet, weitere sollen fol- Cannabis, das aus der weiblichen Hanfpflanze der Veranlagung können durch die Droge Gei- gen. steskrankheiten wie Schizophrenie zum Aus- So ging das in den vergangenen Jah- gewonnen wird, ist nach Alkohol die am weite- sten verbreitete Rauschdroge. Nach einer bruch kommen, depressive Stimmungen können ren immer wieder: Ob bei der Behand- verstärkt werden. Eine Beschleunigung des Herz- lung von Heroinabhängigen mit der Er- Schätzung der Weltgesundheitsorganisation WHO gibt es weltweit mehrere hundert Millio- schlags, Kältegefühl und Brechreiz sind möglich. satzdroge Methadon oder bei der Auf- Zu einer körperlichen Abhängigkeit führt der Psy- stellung von Spritzenautomaten – stets nen Konsumenten. Auf dem amerikanischen Kontinent werden zu- chowirkstoff nicht. Der Preis für einen Trip liegt gab es zuerst Modellprojekte und hefti- bei etwa zehn Mark. gen Widerstand dagegen, dann wurden meist Cannabis-Blüten und -Blätter (Marihua- die Experimente allmählich zur Norma- na) geraucht, in Afrika und Asien berauscht Kokain lität. man sich am Haschisch, dem fünfmal stärker wirkenden, aus den Blüten und Blattspitzen Als Konstante der Drogenpolitik Die Modedroge Kokain, gewonnen aus den Blät- gepreßten Harz der Pflanze. Cannabis dämpft bleibt die Konzeptlosigkeit der Politi- tern des Koka-Strauches, euphorisiert und ent- und entspannt, macht friedlich und zufrieden. ker. Selbst einer Vorgabe des Bundes- hemmt. Das weiße Pulver wird über die Nase ein- Marihuana und Haschisch (Grammpreis: um verfassungsgerichts mögen manche gesogen oder (seltener) in Wasser aufgelöst zehn Mark, ausreichend für vier Joints) machen nicht folgen. Die Richter haben im ver- und injiziert. Dem rund eine Stunde dauernden weder körperlich süchtig, noch zerstören sie gangenen Jahr entschieden, daß der Be- Rausch folgt häufig ein Kater. Dies führt dazu, (wie Alkohol) die Gehirnfunktionen und Intelli- sitz kleiner Cannabis-Mengen zum Ei- daß kokainabhängige Konsumenten ihre Ta- genz. Jedoch kann es zur psychischen Abhän- genverbrauch nicht mehr bestraft wer- gesration erhöhen. Von der Anfangsdosis gigkeit kommen. den soll. Was genau eine kleine Menge (0,1 Gramm) steigern Süchtige ihren Tagesver- sei, sollen die Länder bestimmen (SPIE- Amphetamine brauch auf vier bis zehn Gramm (Preis pro GEL 18/1994). Gramm: rund 200 Mark). Von dem Aufputschmittel Amphetamin, Kokain, das Ende des vorigen Jahrhunderts noch „Wir verzetteln uns, in der Drogenszene als „Speed“ gehandelt, exi- als Mittel gegen Durchfall, Husten und Katarrhe stieren inzwischen zahlreiche Abkömmlinge. in Apotheken frei erhältlich war, vermag Depres- wenn wir jeden Fast alle diese Muntermacher wirken ähnlich sionen und Verfolgungswahn hervorzurufen. Eine Junkie zerlegen“ wie das körpereigene Hormon Adrenalin, das Überdosierung führt zu Herzversagen. Vom jahre- bei Gefahr von den Nebennieren ausgeschüttet langen „Sniefen“ bilden sich in den Nasen der wird, um Kraftreserven zu mobilisieren. Kokser oft Geschwüre, die Schleimhaut ist zer- Doch die Landespolitiker sind heillos fressen. zerstritten. Was den Bayern schon zu Amphetamine dämpfen den Hunger, unterdrük- ken die Müdigkeit, das Schlafbedürfnis nimmt Mit Backpulver aufgekocht, verwandelt sich das weit geht, erscheint vor allem SPD-re- Kokain in die extrem süchtig machende Droge gierten Ländern nicht weitgehend ge- ab. In süße Fliegerschokoladen eingearbeitet, machte der Stoff Bomberpiloten des Zweiten Crack. Crack wird geraucht, nicht geschnüffelt. nug. Es wirkt nur kurze Zeit. Weil Crack noch stärker Zahlreiche Ministerpräsidenten ha- Weltkriegs Mut. Der am weitesten verbreitete Amphetamin-Ab- enthemmt als Kokain, kann der Konsum zu Ge- ben deshalb eigene Grenzwerte festge- walttätigkeiten führen. legt. Wer in Hessen, Hamburg oder kömmling ist die synthetisch hergestellte Desi- Schleswig-Holstein mit bis zu 30 Gramm gner-Droge MDMA, 1914 von dem Pharma- Haschisch erwischt wird, muß in der Re- unternehmen Merck entdeckt, in der Drogen- Opiate gel nicht mit einem Ermittlungsverfah- szene als Ecstasy (auch XTC) bezeichnet. Eine ren rechnen. In Bremen sind 10 Gramm Tablette, ausreichend für eine Techno-Disco- Daß der Schlafmohn in seinen Frucht- das Maximum, in Sachsen-Anhalt 6. In Nacht, kostet um 30 Mark. kapseln berauschende Säfte enthält, war schon einigen Bundesländern, zum Beispiel in Bei ständigem Gebrauch von Speed kommt es in der Antike bekannt. Aus dem getrockneten, ge- Hessen oder Niedersachsen, dürfen zu paranoiden Schüben, unkontrollierten Ge- kochten und eingedickten Saft der Fruchtkapseln Süchtige gar grammweise Heroin oder fühlsausbrüchen und Juckreiz (der Drogensüch- wird Rohopium gewonnen, aus dem Chemiker Kokain dabeihaben. tige glaubt, Würmer und Käfer würden unter sei- 1803 das Schmerz- und Narkosemittel Morphi- Auch die bayerische Linie bröckelt. ner Haut umherkriechen). Der Körper verträgt um isolierten. 1889 stellten Bayer-Forscher aus Vor rund zwei Jahren haben die Münch- die Nahrung immer schlechter und wird anfällig Opium die spätere Fixer-Droge Heroin her: ein ner Amtsrichter nach Beobachtung des für Infektionen aller Art. weißes, kristallines Pulver, geruchfrei, bitter im Rechtsanwalts Anselm Thorbecke auf- Geschmack und wasserlöslich. Anfangs verkauf- gehört, wegen geringer Cannabis-Men- Halluzinogene te die Chemiefirma Heroin als nicht suchterre- gen Hauptverhandlungen zu eröffnen. gendes Hustenmittel. Bis dahin, sagt Thorbecke, „wurden pro In der Hippie-Ära stieg der Psychowirkstoff Drogenabhängige lösen die Droge meist in Ascor- Tag 20 Fälle mit ein bis eineinhalb LSD-25, den der Schweizer Sandoz-Chemiker binsäure (Vitamin C), um sie sich zu spritzen. Gramm Haschisch verhandelt“. Albert Hoffmann 1938 gefunden hatte, zur Mo- Nach mehrfacher Einnahme tritt Sucht ein. Un- Bei Polizisten alter Schule führt die dedroge auf, die zu einem neuen, geläuterten mittelbar nach der Injektion kommt es zu einer sanfte Linie zu Irritationen. Ein bayeri- Bewußtsein führen sollte. Gefühlsaufwallung, die von Fixern als Orgasmus scher Kriminaldirektor, Spezialist für LSD (Lysergsäurediäthylamid) stört jene nor- des gesamten Körpers und Geistes („Flash“) be- Organisierte Kriminalität, macht es sich malerweise wie ein Sieb wirkenden Bereiche im schrieben wird. Ein Schuß (Preis: um 40 Mark) zur Berufsehre, „jeden, der im Besitz Stamm- und Zwischenhirn, in denen die Sinnes- hält höchstens vier Stunden lang vor. Dann quä- von Betäubungsmitteln ist“, anzuzei- reize aufgeschlüsselt und verarbeitet werden. len den Junkie körperliche Entzugserscheinungen gen. Jedoch, klagt der Beamte, klaffe Wer auf dem LSD-Trip ist, hört Farben und sieht wie Zittern, Krämpfe und Schmerzen. zwischen der Zahl der Anzeigen und der

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Zahl der Verurteilungen eine „dramati- sche Lücke“. Ein Kollege von der Grenzpolizei hat deshalb bereits resi- gniert: „Wir verzetteln uns doch, wenn wir jeden Junkie zerlegen.“ Vor allem in Heroin-Hochburgen wie Frankfurt, Hamburg und Berlin hängt kaum noch ein Fahnder dem Glauben an, er könne zu einer Lösung des Dro- genproblems beitragen. Einsätze in der Szene beschreiben Beamte zynisch als „Gänsetreiben“ oder „Junkie-Jogging“. „Wir können den Markt nicht trok- kenlegen“, sagt Jürgen Gustavus, Leiter der Operativen Gruppe City West der Berliner Polizei: In seinem Revier, der heißen Zone zwischen Bahnhof Zoo und Gedächtniskirche, gehe es nur noch

darum, die Szene zu „zersplittern“. Da- R. BOSSU / SYGMA bei, immerhin, habe er „sehr gute Erfol- Drogentoter (im Frankfurter Hauptbahnhof): „Kranke durch die Gegend jagen“ ge erzielt“. Schöner Erfolg: Viele Berliner Jun- drei Jahren rückläufig: Waren es 1991 me Polamidon) oder Codein. Zugelas- kies sind lediglich mit der U-Bahn-Li- noch 2125, so starben im vergangenen sen zur sogenannten Substitution wird, nie 1 ein paar Stationen weiter gefahren. Jahr nur noch 1554 Süchtige. wer heroinabhängig und schon krank Der neue Brennpunkt des Fixerelends Allerdings ist die amtliche Statistik ist, einige Therapien hinter sich hat und liegt im Stadtteil Kreuzberg. Georg Sa- von jeher voller Schwachstellen. Fach- regelmäßig zum Arzt geht. mulowski, Chef der Berliner Rausch- leute vermuten eine hohe Dunkelziffer. Anke, 32, aus Hamburg erfüllt diese giftfahnder, spricht offen vom „Aspekt Etliche Drogentote werden gar nicht als Bedingungen. Zusammen mit ihrem der Kosmetik“: Die Elenden werden solche erfaßt. Wer statt auf der Park- Freund Matthias holt sie sich jeden aus dem Renommierviertel der Haupt- bank oder auf dem Bahnhofsklo im Donnerstag ihre Wochenration Codein- stadt in den Hinterhof gejagt. häuslichen Sessel an einer Überdosis zu- Pillen bei einer Ärztin im Stadtteil Am U-Bahnhof Cottbusser Tor tref- grunde geht, gilt nach Erfahrung des Barmbek ab, 25 Tabletten für jeden fen sich nun, zwischen einer Moschee Berliner Rauschgiftfahnders Samu- Tag, Marke DHC-120. „Das nimmt die und einem Supermarkt, täglich Hunder- lowski zumeist als natürlicher Todesfall: Gier weg“, sagt sie, „es lindert die Sym- te magerer Gestalten in zerschlissenen „Der Hausarzt schreibt in den Toten- ptome des Entzugs“ – mehr nicht. Jacken und löchrigen Jeans. Einer von schein schlicht Kreislaufversagen, Lun- Die gebürtige Würzburgerin ist seit 15 ihnen ist der gelernte Schlosser Klaus, genembolie oder Nierenkollaps.“ Jahren „drauf“. Die Mutter war Alko- 27, der von 960 Mark Arbeitslosenhilfe Trotz der statistischen Unsicherheiten holikerin. Als Anke zehn Jahre alt wur- lebt und seit zehn Jahren süchtig ist. sind sich Drogenexperten in einem de, verließ der Vater das Haus, sie muß- Wählerisch kann Klaus bei der Suche Punkt einig: Entscheidend für den te den Haushalt allein führen. Vom 14. nach dem Stoff nicht sein, er nimmt, wie Rückgang der registrierten Rauschgift- Lebensjahr an jobbte sie noch nebenbei. die meisten harten Drogies, „alles, was toten sind die Ersatzdrogen-Program- „Ich habe gearbeitet, aber niemand hat knallt“. Die Wirkung winziger Heroin- me, die seit einigen Jahren stetig erwei- mir gesagt, ob ich es richtig mache. Das mengen verstärkt er, indem er das tert wurden. einzige was ich wußte: Mein Leben ver- Schlafmittel Rohypnol schluckt, Alko- Etwa 25 000 Junkies schlucken derzeit läuft nicht normal.“ hol kommt meistens noch dazu. Vor ei- in Deutschland unter Aufsicht Heroin- Mit 17 Jahren begann Anke, in Knei- nem Jahr starb sein Zwillingsbruder Ersatzmittel wie Methadon (Handelsna- pen zu kellnern, sie haschte, nahm LSD, Hans an einem Cocktail Speed, Kokain. Schließlich setzte sie aus Heroin und dem sich ihren ersten Schuß Heroin. Abitur Schmerzmittel Paraceta- und Studium schaffte sie trotz der Sucht mol. Ihm könnte es bald mit sehr guten Noten. ähnlich gehen – ob in Als Anke das erste Mal von der Poli- Kreuzberg oder am Ku’- zei festgenommen wurde, im Januar damm. 1988, war sie eine gepflegte junge Frau: Die Polizeiführung in Über zwei Jahre lang hatte sie als Ste- Frankfurt ist schon vor ei- wardess bei der Lufthansa gearbeitet, nigen Jahren davon abge- immer auf Drogen, morgens einen kommen, „Schwerstkranke Schuß, zwischendurch ein paar Pillen, durch die Gegend zu ja- abends noch mal die Spritze. gen“. Anke schaffte es, mit der Droge zu le- Die Zahl der Rauschgift- ben. Sogar Lobbriefe von Passagieren toten in Frankfurt geht der 1. Klasse habe sie bekommen. Erst seither deutlich zurück: nach der Verurteilung wegen Drogen- Nach dem Höchstwert von mißbrauchs und -handels ging es bergab 147 Drogentoten im Jahr mit ihr: Schulden, Entzug, Therapie,

1991 ist die Zahl der amt- ZENIT wieder Drogen, arbeitslos. lich registrierten Rausch- „Es gibt Phasen, manchmal fast ein

giftopfer auf 58 gesunken. D. GUST / Jahr, da bist du clean“, sagt Anke, Auch bundesweit ist die Spritzenautomat (in Berlin) „aber dann polt sich wieder was um in Zahl der Drogentoten seit „Zwei, drei Stunden aus dem Leben klauen“ dir, und du stürzt zurück“ – zurück in

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Werbeseite Werbeseite

Werbeseite TITEL „Unheimlicher Druck“ Dealerbanden schmuggeln Rauschgift in nie gekannten Mengen nach Deutschland

ie Dealer hatten es offenbar eilig, fahnder des Bundeskriminalamtes ha- i Im März hatten italienische Drogen- verhandeln wollten sie nicht. Mit ben einen „unheimlichen Zufuhr- fahnder nach einer Schießerei ein La- DgezückterPistoleeilten sieauf den druck“ ausgemacht. Mögliche Ursa- gerhaus in Turin gestürmt und fünf- ausgemergelten Junkie zu. Einer rißsei- che: In Westeuropa locken beim Ver- einhalb Tonnen Kokain sicherge- ne Waffe hoch und zielte direkt auf den kauf von Rauschgift, insbesondere von stellt, die größte in Europa entdeckte Kopf des Süchtigen. Der Überfallene Kokain, steigende Gewinne. Menge Koks –Handelswert: fast eine kapierte sofort: Er zog ein paar Geld- Fahnder in ganz Europa spürten im halbe Milliarde Mark. scheine hervor, die Händler ihre Ware. vergangenen Jahr Drogen in nie ge- Doch trotz der Fahndungserfolge Geld und Heroin wechselten die Besit- kannten Mengen auf. Die niederländi- läuft das Geschäft mit der Sucht, als sei zer. schen Zollbehörden allein stellten ins- nichts geschehen. Eine „nennenswerte Die Szene, heimlich gefilmt von ei- gesamt 188 Tonnen sicher, 58 Prozent Verknappung“ können BKA-Ermittler nem Drogenfahnder aus dem Ruhrge- mehr als 1993. Neu war vor allem die wieReinhard Peterson nicht feststellen. biet, zeigt, wie Rauschgifthändler ihren Größe der einzelnen Partien: Ein erfolgreiches Konzept, den inter- Stoff mit immer brutaleren Methoden i Auf einem Kai des Hamburger Ha- nationalen Drogenhandel zu unterbin- an den Mann bringen. Die Gewaltbe- fens entdeckten Zollfahnder Ende den, gibt es bis heute nicht: Rund 600 reitschaft im Kampf um das Geld der November 21 Tonnen Marihuana in Milliarden Mark, schätzen Strafverfol- Süchtigen, analysiert das Wiesbadener einem Container aus Kolumbien – ger, setzen die Drogensyndikate welt- Bundeskriminalamt (BKA) in einem die größte jemals in Deutschland si- weit pro Jahr um. vertraulichen Lagebericht, nehme chergestellte Menge Rauschgift. Wenig Chancen hat etwa ein jüngst „qualitativ wie quantitativ“ zu. i Im britischen Birkenhead fanden verkündeter Plan der kolumbianischen Kokainkartelle in Kolumbien oder Zöllner auf einem polnischen Frach- Regierung, alle Kokaplantagen im türkische Heroinspediteure pressen ih- ter 1300 Kilo Kokain in Bitumenfäs- Land mit der weltweit größten Kokain- ren Stoff mittlerweile gleich tonnenwei- sern. Die Ladung sollte über Polen produktion zu zerstören. In den vergan- se in den deutschen Markt. Drogen- nach Deutschland gelotst werden. genen Wochen legten Bauern, deren

Wichtige Transportrouten nieder- nach Deutschland für: lande Heroin polen Kokain Haschisch

türkei Herkunftsländer für china synthetische Drogen: afghani- marokko stan Niederlande, Polen pakistan

hong- thailand kong nigeria venezuela kolumbien

brasilien Lukrativer Handel Herkunft der in Deutschland 1993 sichergestellten Drogen bolivien Heroin Kokain Haschisch Insgesamt 1095,3 Kilogramm Insgesamt 1051,3 Kilogramm Insgesamt 4245,4 Kilogramm

23,0% 19,0% Panama Niederlande Türkei 3,2% Thailand 7,1 % Bolivien 30,9% 61,2% Kolumbien Türkei 3,0% Niederlande 36,3% 20,3% 4,5% Brasilien Rumänien 2,2% Ungarn, Polen, 4,2% Niederlande Tschechien 2,2% Pakistan/Indien 2,9% Argentinien 2,4% Marokko 1,7% andere Länder 26,4% 14,2% 11,8% andere Länder 20,4% 3,0% unbekannt unbekannt unbekannt andere Länder

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den „Drang, dir zwei, drei Stunden aus dem Leben zu klauen“. Das Codein, das Existenz oft am Drogengeschäft hängt, Kürzlich in Amsterdam ausgehobene sie nun bekommt, sieht sie als Chance, aus Protest Förderanlagen der staatli- Labors glichen professionellen Pharma- den Sturz immer weiter hinauszuzögern, chen Ölgesellschaft Ecopetrol still. Ein betrieben: Gelernte Chemiker über- vielleicht sogar für immer. Flugzeug, das Herbizide versprühte, wachten die Produktion an den Maschi- Methadon und Codein bieten jedoch durchsiebten sie mit Maschinengewehr- nen, die stündlich bis zu 40 000 Ecstasy- keinen Ersatz für das Glücksgefühl, den salven. Pillen ausspuckten. „Flash“, von dem die Junkies träumen. Noch immer stellen osttürkische Die Fahnder sind oft hilflos. Dealer- Entsprechend häufig schlucken, spritzen Clans in Istanbul, dem wichtigsten Um- banden, besonders ausAlbanien, gehen und schnupfen bis zu 50 Prozent der Pa- schlagplatz für Heroin aus Nahost, brutal gegen Verräter vor. „Die schie- tienten zusätzlich andere Drogen, Ko- Afghanistan und Pakistan, täglich neue ßen sofort“, hat der Münchner Krimi- kain vor allem, aber auch Beruhigungs- Lkw-Fracht zusammen. In geheimen naldirektor Ferdinand Schmid beob- mittel oder Aufputscher. Um die teil- Verstecken der Stadt lagern nach Er- achtet. Zeugen sagen vor Angst nicht weise scharfen Drogenkontrollen der kenntnissen des BKA Hunderte vonKi- aus, Dolmetscher weigern sich, zu über- Methadon-Ärzte zu umgehen, handeln logramm Heroin, neue Depots inosteu- setzen. Junkies, etwa in Hannover, mit rück- ropäischen Ländern werden gerade ein- Immer häufiger schicken die Händler standsfreiem Urin. gerichtet. auch Kinder zur Drecksarbeit auf die Erfahrungen in Bremen, Hamburg Nigerianische Banden haben mit Hil- Straße, weil die nach deutschem Recht und Frankfurt zeigen dennoch: Die Sub- fe korrupter Beamter und skrupelloser Gewalt die Hauptstadt Lagos zu einem weiteren Umschlagzentrum für den in- ternationalen Drogentransport ausge- baut. Per Luftfracht oder Schiff schaf- fen sie Heroin aus Ostasien und Kokain aus Südamerika heran und verschicken die Drogen weiter nach Europa und Nordamerika (siehe Grafik). Mit immer neuen Tricks versuchen die Drogenimporteure, ihre Fracht an den Fahndern vorbeizuschummeln. So klemmen sie torpedoähnliche Behälter unter der Wasserlinie an Schiffsrümpfe, aus denen Schmuggler im trüben Ha- fenwasser von Southampton oder Ham- burg dann die Drogenpakete ziehen. Irische Fahnder entdeckten vor eini- ger Zeit bei Kinsale ein riesiges unter- seeisches Depot. Auf dem Meeres- grund hatten Schmuggler rund eine Tonne Cannabis, vakuumverpackt in Plastikfolie, zwischengelagert. Die

Händler, so vermuten Ermittler, steu- T. RAUPACH / ARGUS erten dasVersteck per Satellitennaviga- Beschlagnahmtes Marihuana* tion an und schmuggelten den Stoff in Immer neue Tricks stitution holt viele Abhängige aus dem kleineren Partien an Land. Kreislauf von Sucht und Kriminalität. Ein wachsendes Heer von Kurieren nicht bestraft werden können. Ham- Der Hamburger Drogenberater Dieter (Szenejargon: „Bodypacker“) riskiert burger Beamte griffen vor wenigen Ameskamp weiß von seinen Klienten: im Auftrag der Drogenbarone für weni- Wochen zwei 13 Jahre alte Kurdenjun- „Die Leute kriegen den Stoff und sind ge tausend Dollar Lohn Freiheit und gen auf, die 100 Gramm Heroin verhö- froh, aus dem ewigen Beschaffungsstreß Leben. Am Münchner Flughafen ver- kern wollten. In ihrem Zimmer hatten raus zu sein.“ Mancher Ex-Junkie kann suchte im November eine Kolumbiane- die Kinder bereits 11 000 Mark Dro- so über Jahre hinweg ein nahezu bürger- rin, schwanger im fünften Monat, im gengeld gebunkert. liches Leben führen (siehe Seite 68). Darm 600 Gramm Kokain an den Zöll- Zuweilen profitieren die Dealer Da die meisten der rund 150 000 Ab- nern vorbeizuschmuggeln. Mit Hilfe von schlichter Behördenschlamperei. hängigen in Deutschland ihre Sucht vor von Abführmitteln kamen 73 daumen- Kürzlich machten italienische Fahnder allem mit Einbruch, Raub und Dieb- dicke Latexkapseln zum Vorschein, in ihre deutschen Kollegen auf einen stahl finanzieren, verursachen sie jähr- denen dasRauschgift verpackt war. Nur Kurden aufmerksam, der per Telefon lich einen Schaden in zweistelliger Milli- eine geplatzte Kapsel hätte den Tod für kiloweise Heroin kreuz und quer durch ardenhöhe. Frau und Kind bedeutet. Europa dirigiert haben soll. Die Anru- Wegen der flächendeckenden Substi- Steigende Gewinne bringen den fe kamen direkt von einem Kartentele- tutionsangebote ist jedoch die Beschaf- Rauschgifthändlern auch Kunstdrogen fon der Hamburger Haftanstalt Fuhls- fungskriminalität vielerorts rückläufig. wie Ecstasy. Die illegalen Labors in den büttel, getätigt hatte sie ein einsitzen- Vergangenes Jahr sank in Frankfurt der Niederlanden oder Polen verkaufen der Dealer. Den Apparat hatten die Anteil der Süchtigen an allen gefaßten den Stoff für drei bis sieben Mark pro Gefängniswärter nicht überwacht. Räubern und Dieben von mehr als 35 Pille, in der Hamburger Disco „Tunnel“ Prozent auf unter 10 Prozent. oder in Berlin zahlen die Techno-Kids * Am 24. November vergangenen Jahres im In Hamburg ging im Jahr 1994 die bis zu 50 Mark für die Rausch-Tablette. Hamburger Hafen. Zahl der Wohnungseinbrüche und Raubtaten um mehr als 20 Prozent zurück. Wolfgang Lüdtke, oberster

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TITEL Fixen, fernsehen und träumen Was aus den Kindern vom Bahnhof Zoo wurde

ie große Eigentumswohnung im men und fährt Behindertenbusse. Sogar Christiane, „das hat mir nach dem Le- Berliner Stadtteil Neukölln hält das Rauchen hat er aufgegeben. ben auf dem Land gutgetan.“ Dnicht, was der sauber gewischte Auch Frank, der sich als erster von Sie reist auf PR-Tour für den „Bahn- Hausflur verspricht: Zerwühlte Pull- Christianes Freunden einen Schuß setz- hof Zoo“-Film durch Amerika und over und T-Shirts liegen auf dem Fuß- te und den sie „Hühnchen“ nannten, nimmt dort einen Song auf, den sie boden herum, in den Regalen staubt weil er so dünn war, hörte mit dem später in Deutschland erneut einspielt: längst vergessener Nippes ein. Drücken auf, als der Stoff ihm nicht „Ick bin so süchtig“, singt sie, und es Immer wieder versucht Christiane, mehr das falsche Gefühl von Gelassen- trifft die Wahrheit: Ihre Sucht ist kein Ordnung zu schaffen. Doch ihre Mühe heit gab. Heute fährt er nachts in Berlin Zufall, sie ist ein Teil ihres Wesens. bleibt so vergebens wie ihre Versuche, Taxi, tagsüber macht er Musik mit sei- Wirklich aufgehört mit Drogen hat sie endlich ihr Leben in den Griff zu krie- ner Band. Der Bahnhof Zoo ist für ihn deshalb nie. Mal raucht sie Haschisch, gen. Denn das Heroin macht sie müde. nur noch ein Ort, an dem eilige Reisen- mal probiert sie Kokain, mal nimmt sie Oft liegt sie bis nachmittags im Bett. de in sein Taxi steigen. Codein als Ersatzdroge. In ihrem Gesicht, dessen Züge schön Christianes Freundin Stella hat die „Das hat alles keinen Sinn, wenn sind und dessen Ausdruck oft leer ist, Droge gewechselt. Sie fixt nicht mehr, man einmal erfahren hat, wie schön blieb nichts von dem früheren weichen aber sie trinkt. das Leben ist, wenn man clean ist und Charme. Tücher hat sie sich um den Hals gebunden, um die Einstiche zu verdecken. Ihre Geschichte hätte ein Märchen werden können oder ein modernes Hel- denepos über den Kampf gegen die Droge Heroin: Christiane war ganz un- ten, und sie kam nach ganz oben. Jedenfalls schien es so, als 1978 das Buch von Kai Hermann und Horst Rieck über das Mädchen mit den gro- ßen sanften Augen erschien. Christiane F. wurde sie damals genannt. Sie war 15 Jahre alt und ging auf den Babystrich, um ans Geld für den Stoff zu kommen; ihre erste große Liebe Detlef ließ sich von Freiern aushalten; Freunde starben

auf Bahnhof-Klos an Überdosen. E. KROTH / STERN WISCHMANN / FOCUS „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ hieß Drogen-Prominente Christiane F. (1978, 1993): Einsam und abgelehnt das Buch, und es hatte, nach alldem Dreck, dem tränenreichen Elend, ein Christiane jedoch schien alles ande- alles gut läuft“, sagt sie. Aber daß Happy-End: Christiane wurde zu ihrer re als ein hoffnungsloser Fall zu sein: nicht immer alles gut läuft, kann sie Tante aufs Dorf geschickt und schaffte Etwa 900 000 Mark bekam sie aus nicht ertragen. Alexander Hacke ver- esdort, ihre Sucht zu besiegen. Dreimil- Buchverkäufen, als sie volljährig wur- läßt sie 1985, „wegen einer hübschen lionenmal wurde das Buch verkauft. de. Vielleicht hat gerade das viele Wienerin“. Der gleichnamige Kinofilm, der 1981 Geld sie davon abgehalten, clean zu Sie trauert ihm nach und versucht, herauskam, war eine der erfolgreich- werden. Denn nichts stand mehr zwi- ihren Schmerz mit Heroin zu betäu- sten deutschen Produktionen und auch schen ihr und dem Heroin: Sie mußte ben. Die meisten Menschen stehen international ein Kassenschlager – nicht mehr anschaffen gehen, sie wieder auf, wenn sie niedergeschlagen Christiane F. stieg zum Star ihrer Gene- brauchte niemanden zu bestehlen. Der werden – oder sie versuchen es zumin- ration auf. Stoff war immer für sie da. dest. Christiane jedoch bleibt liegen Doch sie hat diese Chance nicht ge- Sicher, sie hat es versucht, in ihrer und wartet. nutzt. Ausgerechnet sie, die Prominen- zaudernden Art: Sie schließt die Schu- Wieder gibt es jemanden, der ihr ei- teste der Clique, ist nicht die Märchen- le ab und beginnt eine Buchhändler- ne Chance geben will: Anna Keel, die prinzessin geblieben, die sie eine Zeit- lehre in der Nähe von Hamburg, die Frau des Diogenes-Verlegers, holt sie lang war. sie dann aber ein halbes Jahr vor der nach Zürich, um ihr Perspektiven, Le- Freunde, die mit ihr am Bahnhof Zoo Abschlußprüfung wieder abbricht. bensziele zu zeigen. Das Junkie-Mäd- Heroin drückten, sind clean geworden: Sie lernt Alexander Hacke kennen, chen aus Berlin lernt den Dichter Der schmale Detlef, mit dem siezum er- den Gitarristen der „Einstürzenden Friedrich Dürrenmatt kennen und sten Mal schlief und der sich als Strich- Neubauten“, und bleibt eine Weile mit noch einige andere aus der intellektu- junge verkaufte, ist seit seiner Gefäng- ihm in einer Wohngemeinschaft in ellen Elite Europas. nisstrafe vor 15 Jahren runter vom He- Hamburg-St. Pauli. „Da haben wir in Doch diese feine Welt ist nicht die roin; er lebt mit seiner Freundin zusam- einem kleinen Zimmer gelebt“, erzählt ihre: „Da habe ich mich unheimlich ge-

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Rauschgiftfahnder im Hamburger Lan- i der Drogenmafia die Rendite schmä- deskriminalamt, sagt: „Das ist ein hun- lern. langweilt“, erzählt sie, „und die ha- dertprozentiger Effekt der Methadon- „Ohne die Beseitigung der hohen ben vielleicht auch gemerkt, daß ich Programme.“ Gewinnmöglichkeiten aus dem Rausch- woanders herkomme als sie.“ Nach Da die Substitution als Alternative giftgeschäft“, sagt der Hamburger den Abendessen stiehlt Christiane zum Fixen und als erster Schritt zum Rechtsprofessor Michael Adams, blei- sich davon und kauft sich Stoff in der Entzug inzwischen weithin anerkannt be der Kampf gegen die Drogenmafia Zürcher Drogenszene. ist, fordern immer mehr Drogenexper- „weitgehend wirkungslos“. Sie kehrt nach Berlin zurück und ten nun den nächsten Schritt: Anstelle Einen besonders weitgehenden Le- wird 1985 mit Heroin von der Polizei von Ersatzmitteln sollen Schwerstab- galisierungsansatz vertritt der Lü- erwischt. Zehn Monate sitzt sie dafür hängige den verbotenen Originalstoff becker Richter Wolfgang Nescovic. im Gefängnis. bekommen. Der Sozialdemokrat, der mit liberalen Als sie rauskommt, fährt sie zum Haschisch-Urteilen bundesweit Aufse- Urlaub auf eine griechische Insel. hen erregt hat, folgt der Maxime: „Der Dort lernt sie diesen großen, Bei Methadon und Rausch gehört, wie Essen, Trinken schwarzhaarigen Mann kennen: Pana- Codein spielt der Staat und Sex, zu den fundamentalen Be- giotis heißt er, und auch er ist ein dürfnissen des Menschen.“ Junkie. Sie hofft, daß nun er ihr ei- bereits den Dealer Nescovic plädiert für den Verkauf nen Sinn gibt. auch harter Rauschmittel in staatlich li- Sechs Jahre lang lebt sie jeden Die Vergabe von Heroin auf Rezept, zenzierten Fachgeschäften – der Han- Sommer mit ihm auf verschiedenen sagt der Frankfurter Oberstaatsanwalt del würde kaum stärker kontrolliert als griechischen Inseln zusammen. Dann Körner, sei die „logische Fortentwick- der mit Aspirin oder Schnupfenspray. raubt er eine Passantin aus und wird lung des Methadon-Programms“. Einen Die Drogerie a` la Nescovic wirft al- zu zwei Jahren Haft verurteilt. Als er Antrag der Stadt Frankfurt beim Bun- lerdings mehr neue Fragen auf, als sie herauskommt, ist auch die Beziehung desgesundheitsamt, langjährig Süchtige alte Probleme löst: Dürften Handel zu Ende. mit Heroin versorgen zu dürfen, hat die und Industrie mit dem Rauschgift Pro- Wenn Christiane wieder eingene- Behörde zwar abgelehnt. Doch die Ver- fit machen? Wäre es den Herstellern belt ist von der Droge, ruft sie schon waltungsklage dagegen läuft. erlaubt, durch neue Produktvarianten mal ihren Freund Horst Rieck an und Einen ähnlichen Plan verfolgt Ham- oder gar Werbung den Konsum anzu- sagt: „Rieckie, ich will auf dem Land burgs Bürgermeister Henning Vosche- heizen? Und vor allem: Wer würde da- leben und ein Pferd haben“, oder rau. Dem Bundesrat unterbreitete der für sorgen, daß nicht massenhaft Kin- „Rieckie, kann ich bei dir einzie- Sozialdemokrat im vergangenen No- der und Jugendliche mit legalem Stoff hen?“ Wenn er nein sagt oder viel- vember den Plan für ein Modellprojekt, koksen und fixen? leicht einen Scherz macht, fühlt sie bei dem 100 Schwerstabhängige mit He- Die Probleme, die sich bei einer von sich einsam und abgelehnt. roin versorgt werden sollen, um sie aus Ärzten und Behörden kontrollierten „Es kümmert sich keiner“, sagt sie, dem illegalen Drogenmarkt vor allem nicht ihre Familie, und sie herauszulösen. vertraut ihren Schmerz dem geliebten Bei den Opiaten Methadon Teddybären an. Wieder einmal hat und Codein spielt der Staat sich ihr Selbsthaß in Selbstmitleid bereits den Dealer, obwohl verdreht. beide Medikamente ebenso Manchmal besucht Christiane ihre süchtig machen wie Heroin. Schwester oder trifft sich mit ihrer Die Entwöhnung von Metha- Mutter. Oder sie geht zum Karstadt- don ist sogar noch schwieriger Schnäppchen-Markt, um ihren Kla- als der Heroinentzug. mottenberg um eine weitere Schicht Zudem ist Heroin kaum ge- zu erhöhen. Ansonsten bleibt ihr ne- sundheitsschädlich. Der Stoff ben dem Fixen nur der Fernseher. macht zwar abhängig, greift Dort sieht sie jeden Tag die Seifen- aber weder Nerven noch Or- opern, die sie selbst so gern leben gane an. Fixer könnten stein- würde. alt werden. Krank macht sie Dann träumt sie von dem Mann, nicht das Heroin, sondern die der sie endlich erlöst, der sie heraus- Umstände, unter denen sie holt aus dem Kreislauf von Selbstbe- spritzen: Durch unreine Na- trug und Selbstbetäubung. Sie will deln infizieren sie sich mit Kinder haben mit diesem Märchen- Hepatitis und HIV. Bei Stoff prinzen, der sie wieder zur Märchen- schwankender Qualität riskie- prinzessin machen soll. Diesen Mann ren sie Überdosierungen. Die würde sie sogar an „das Geld ranlas- hohen Preise nötigen sie in sen“, das sie mit ihrem Unglück ver- die Kriminalität. dient hat. Doch bis dahin kämpft sie Stoff vom Staat, so argu- mit der ewig eingeschmuddelten Kü- mentieren die Befürworter ei- che und übt, eine gute Hausfrau zu ner kontrollierten Abgabe sein. von Heroin, würde Doch meistens langweilt sie sich. i das gesundheitliche Risiko Und nur wenn sie drauf ist, merkt sie für die Süchtigen verrin- nicht, daß sie selbst es ist, mit der sie gern;

sich langweilt. i die Beschaffungskriminali- W. KRÜPER / WESTEND tät und so die gesellschaftli- Vergabe der Ersatzdroge Methadon chen Kosten mindern; „Raus aus dem ewigen Beschaffungsstreß“

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TITEL

Heroinvergabe an Süchtige stellen wür- Das europaweit älteste Projekt zur Gerichtsbeschluß für sechs Monate un- den, erscheinen dagegen lösbar. Heroinvergabe leitet der Liverpooler ter ärztlicher Aufsicht entwöhnt zu Um keinen Anreiz für Einsteiger zu Klinikchef John A. Marks, 48. Seit werden. schaffen, die vom Rausch auf Staatsko- knapp zehn Jahren verteilt der Medizi- Die „restriktive“ Gangart, so Stock- sten träumen, müßte in der Pilotphase ner Heroin auf Krankenschein, zur Zeit holms Bürgermeister Mats Hulth, wer- der Kreis der Teilnehmer auf Altfixer an rund 400 Patienten. Zusätzlich reicht de vom Erfolg gerechtfertigt. Zwar beschränkt werden. Bei einer späteren der Engländer, je nach Bedarf seiner stieg die Zahl der Junkies von 12 000 Ausweitung der Heroinvergabe, for- Kunden, wie er sie nennt, auch Kokain, (1979) auf 18 000 (1992), doch die dern Experten, müßten die Teilnahme- Amphetamine oder Methadon. Zahl jugendlicher Drogeneinsteiger kriterien dann bewußt weit gefaßt wer- Maureen Dougherty ist seit vier Jah- und -probierer sank von einst 200 000 den, um dem Schwarzmarkt schlagartig ren Kundin bei Marks. Jeden Tag zieht auf rund 70 000 im vergangenen Jahr – viele Kunden zu entziehen. sie in der Klinik 500 Milligramm Heroin die meisten davon Haschisch-Raucher. Die kontrollierte Heroinvergabe an durch die Nase ein. Ihren Drogenkon- Der Tribut, den die Schweden für Süchtige würde zudem die Polizei von sum hat sie früher durch Kaufhausdieb- ihre Law-and-order-Politik zahlen, ist frustrierenden Routinearbeiten entla- stähle finanziert, mehrmals war sie im freilich immens: 1,2 Milliarden Kronen sten, weil mit einem weiteren Rück- Knast, zuletzt für 15 Monate. (240 Millionen Mark) kosten die lan- gang der Beschaffungskriminalität zu Jetzt führt Dougherty, 37, „das glück- desweit 60 Entzugsanstalten, hinter de- rechnen wäre. Drogenfahnder Lüdtke: liche Leben einer Mutter und Haus- ren Gittern ein Heer von Therapeuten „Damit könnten wir uns stärker auf frau“. Zusammen mit ihrem ebenfalls und Medizinern Süchtige zum drogen- die Hintermänner im Rauschgifthandel abhängigen Mann und der vierjährigen freien Leben führen will. konzentrieren.“ Der Ermittlungstrend „Weg vom Konsumenten und Kleindealer, ran an die Strukturen der Drogenkartelle“ (Lüdtke) setzt sich nicht nur in Deutschland durch. Auch die Polizei- präsidenten von Amsterdam, Rotter- dam und Utrecht fordern eine legale Abgabe von Drogen, um alle Kräfte gegen die Mafia bündeln zu können. In den Niederlanden steht der Besitz von Rauschgiften zwar unter Strafe, doch selbst Süchtige, die Kilovorräte von Haschisch oder ganze Wochenra- tionen Heroin horten, werden nur sel- ten verurteilt. Zudem diskutiert Hollands sozial-li- berale Regierung die kontrollierte Ab- gabe von Heroin. Ein entsprechender Vorstoß der Ministerien für Gesund- heit und für Justiz wird vermutlich in wenigen Monaten vom Gesundheits- beirat der Regierung bewilligt.

Die Schweiz versorgt schon seit dem G. MENDEL / NETWORK vergangenen Jahr knapp 250 Drogen- Fixer-Ehepaar Dougherty: „Das glückliche Leben einer Mutter“ abhängige mit Heroin. Mancherorts er- halten die Junkies sogar zusätzlich Ko- Tochter lebt sie in einer Liverpooler Der Glaubenskrieg um den richtigen kainzigaretten, um das sogenannte Bei- Sozialwohnung. Ihre Sucht stört sie Umgang mit Drogen und Strategien ge- spritzen anderer Rauschgifte aus illega- auch nicht bei der Arbeit als Kinder- gen den Mißbrauch wird andauern, so- len Quellen einzudämmen. schwester. lange grundlegende Fragen der Medizin Die Eidgenossen setzen auf eine Trotz solcher Erfolge stehen die bri- und der Psychologie ungeklärt sind: Wie Doppelstrategie: Die Fixer werden von tischen Behörden ihrem unbequemen entsteht Sucht? Warum greifen Men- öffentlichen Treffs wie dem Bahnhof Kritiker Marks („Die Drogenpolitik ist schen überhaupt zu biochemischen Letten in Zürich verjagt, um den von Unfähigkeit und Ignoranz ge- Rauschmitteln? Gibt es so etwas wie Dealern das Leben schwerzumachen prägt“) reserviert gegenüber. Im April Suchtcharaktere? und Passanten vor der schmuddeligen soll er durch einen Kollegen abgelöst Klar ist inzwischen immerhin, wo die Rauschgiftszene zu schützen. Zugleich werden, der statt Heroin nur noch Me- Sucht sitzt: In einem Teil des Gehirns, gibt es in fast allen großen Städten thadon an die Süchtigen verteilen will. im limbischen System, orteten Hirnfor- „Gassenzimmer“ und „Fixerstübli“, in Denn der Besitz von Drogen ist in scher vor wenigen Jahren bestimmte die sich die Junkies zurückziehen kön- England offiziell strafbar, wird aber Nervenzellen, die für Drogenwirkstoffe nen. meist nur mit einer Verwarnung ge- empfänglich sind. Werden die Zellen Als Erfolg der Doppelstrategie gilt, ahndet. gereizt, entweder durch körpereigene daß die Zahl der Süchtigen seit Jahren Weit rigoroser gehen die Behörden oder körperfremde Stoffe, wird das als nicht mehr zunimmt. Auch Beschaf- in Schweden mit ihren Junkies um: Sie Glücksgefühl erlebt. fungsdelikte wie Raub und Hehlerei stecken jährlich mehrere tausend Süch- Erkannt ist auch der typische Weg in sind zurückgegangen. Die Schweizer tige ganz einfach zum Zwangsentzug die Sucht. Der Jugendforscher Klaus Regierung will ihr Drogenprogramm hinter Gitter. Hurrelmann von der Universität Biele- deshalb noch in diesem Jahr von Laut „Gesetz über die Pflege von feld ist bei einer Untersuchung zu dem 250 auf 800 Heroin-Empfänger hoch- Mißbrauchern in bestimmten Fällen“ Ergebnis gekommen: „Der Einstieg Ju- fahren. genügt der Genuß eines Joints, um per gendlicher in die Welt der Drogen be-

66 DER SPIEGEL 6/1995 ginnt ganz legal – mit den Substanzen Nikotin und Alkohol und den schmerz- stillenden, beruhigenden oder antrei- benden Substanzen der psychoaktiven Arzneimittel.“ Lange vor ihrem ersten Joint oder ih- rem ersten Trip greifen die Kids in der Regel zur Kippe oder zum Schnaps. Der Einstieg hat sich Hurrelmann zufolge im vergangenen Jahrzehnt „spürbar weiter nach vorn verlagert und beginnt schon bei den Neun- bis Zehnjährigen“. Der Ex-Junkie Peter Meredig war 14, als er so richtig mit dem Saufen anfing. Partyprofis testen schon neue Drogen und Vertriebswege

Das Kind, das sich nicht genug geliebt fühlte, wollte sich die Aufmerksamkeit des Vaters erkämpfen. „Ich hab’s ge- nossen, von der Polizei nach Hause ge- bracht zu werden“, erzählt Meredig, 29, der nach jahrelanger Fixer-Odyssee in München als Sozialbetreuer bei einer Drogenberatungsstelle arbeitet. Zur Sauferei kamen bald die Zigaret- ten, aber auch die brachten Meredig nicht den gewünschten Effekt: „Das Rauchen wurde zu Hause toleriert wie der Alkohol, praktisch war das nichts Besonderes.“ Irgendwann rauchte der Junge den er- sten Joint. Die Droge verschaffte ihm Zutritt zu den Straßencliquen in seiner Heimatstadt Hamm: „Da habe ich mei- ne Wünsche von Zusammenhalt und Fa- milie hineinprojiziert, das Hasch war zweitrangig.“ Erst als Meredig auf He- roin umgestiegen war, wurden Rausch und Sucht zum Lebensinhalt vieler Jah- re. Mit Blick auf solche Rauschgift-Kar- rieren beschreibt Jugendforscher Hur- relmann „die millionenschwere Pro- Drogen-Werbung“ der Zigaretten-, Al- kohol- und Pharmaindustrie als gravie- renden Risikofaktor. Um weitere Aufklärung in Kindergär- ten, Schulen und Jugendeinrichtungen finanzieren zu können, fordert er des- halb „10 Prozent vom Werbeetat für die legalen Drogen – Zigaretten und Alko- hol – und 5 Prozent vom Werbeetat für psychoaktiv wirkende Arzneimittel“. Die Grenzen zwischen legalem und il- legalem Stoff werden durch die soge- nannten Energy-Drinks noch weiter ver- wischt. Stark koffeinhaltige Getränke mit Markennamen wie Red Bull oder Flying Horse gehören zum Partykult. Die beste Reklame fürs aufputschen- de Gesöff war, daß Red Bull (Reklame- spruch: „verleiht Flügel“) in Deutsch- land aus lebensmittelrechtlichen Grün- den bis vor einem Jahr nicht gehandelt werden durfte. Seit April 1994 wird die

DER SPIEGEL 6/1995 67 TITEL zähflüssige Limonade mit Hilfe eines millionenschweren Werbeetats in die Regale gedrückt. Vor allem im Umreis der Diskothe- „Ein Zombie, ken schlagen die Ideale gängiger Werbe- spots durch: Spaß haben, sich was Gutes tun und auch dabei Leistung bringen. Zehntausende von „Ravern“ (Szene- ein Stück Dreck“ Jargon) folgen regelmäßig dieser Paro- le. Ecstasy erscheint da als idealer Stoff: SPIEGEL-Redakteurin Barbara Supp über die Karriere eines Junkies kein Dope, das betäubt, sondern Do- ping, das antreibt. Daß es durch Ecstasy inzwischen lles ist dicht und weich und rosarot, Ein kleiner Großkotz war das, ein mehrere Tote gegeben hat, ist Pisten- die ganze Welt besteht aus Watte. „infantiler Tropf“. Jan, der Überleben- gängern noch kaum ins Bewußtsein ge- ASie gibt Geborgenheit, polstert ge- de, sitzt jetzt häufig an seinem Schreib- drungen: In Hamburg beispielsweise gen alles, was von draußen kommt. Es tisch oder auf der Gartenliege, die als griff ein 24jähriger unter dem Einfluß gibt nichts Schreckliches mehr, und Sofa dient, und blickt auf diesen Jüng- der Droge zwei Freunde mit einem Mes- nichts mehr tut weh. ling zurück, der sich für so bedeutend ser an und rammte sich die Klinge an- Manche kotzen und ekeln sich nach hielt und zielsicher sein Leben ruinierte. schließend selbst in den Bauch. dem ersten richtigen Schuß, aber bei Jan Noch immer empfindet er Verwunde- Partyprofis testen indessen schon war es viel zu spät für so eine lebensret- rung, wenn er im Kopf diesen Film ab- neue Drogen und legale Vertriebswege. tende Reaktion. Er war 20, saß im laufen läßt: knapp 17 Jahre Knast, 22 So offeriert ein australischer Versand- Knast, sein Körper war Drogen längst Jahre Konsum harter Drogen, seit 11 handel weltweit Rauschmittel auf gewöhnt, und daß sein Unterbewußtsein Jahren HIV-infiziert, seit 7 Jahren auf pflanzlicher Basis, die ähnlich wie Ec- dieses Rauschgift als etwas Fremdes, Methadon. Kein Film für einen netten stasy wirken sollen. Der Anbieter, der Gefährliches betrachten würde, war Samstagnachmittag. seine Produkte unter Namen wie nicht mehr zu erwarten. Schließlich Erst war es eine Gangsterstory, die „Cloud 9“ oder „Nirvana Plus“ vor al- dealte er mit dem Stoff. viel Unterhaltung versprach: Da war der lem nach England liefert, erhält nach ei- Gedrückt hätte er wahrscheinlich Junge aus gutem Hause, Villa in Blan- genen Angaben pro Tag schon bis zu auch, wenn er damals nicht in Haft ge- kenese, Vater leitender Angestellter; 200 Bestellungen. sessen hätte, „nur ein bißchen später der Rabauke, unbarmherzig und voller Im internationalen Computernetz In- vielleicht“. Wenn Jan, 43, heute an die- Widersprüche, der es den Spießern zei- ternet können User inzwischen zudem ses Bürschchen denkt, das er selbst war, gen wollte. Mit 17 schmiß er dem Vater die Weltmarktpreise für LSD und dann ist er sicher, daß die Geschichte eine Schüssel Pudding vor die Füße und Ecstasy, Hasch und Heroin vergleichen. kaum ein gutes Ende nehmen konnte. verkündete, daß er nicht im Klassenzim- Unter der elektroni- mer versauern wolle. Er würde Geld schen Adresse „http:// verdienen, und zwar reichlich. www.paranoia.com/ Die Zeit, so schien es, war reif für ei- drugs“ führt ein te- nen wie ihn. Die Blumenkinder schluck- xanischer Computer- ten LSD und glaubten an Bewußtseins- freak Preislisten auch erweiterung, Haschisch galt als politisch für 13 deutsche Städ- korrekt. Jan lernte die richtigen Leute te. kennen und hatte viel Sinn fürs Ge- In Essen kostet da- schäft. Mit knapp 20 Jahren zog er in ei- nach ein LSD-Trip 10 ne stadt- und polizeibekannte Villa, wo bis 15 Mark, eine Ec- große Dealer verkehrten. Er legte Kun- stasy-Tablette 20 bis den, Lieferanten und Drogenfahnder 30 Mark und ein aufs Kreuz, hatte vier Autos vor der Tür Gramm Hasch mittle- und ein Nummernkonto in der Schweiz. rer Qualität 8 bis 10 „Haschprinz“ nannten sie ihn, das ging Mark. Verbrauchertip ihm runter wie warme Milch. für die Essener Szene: 1970 flog er zum erstenmal nach Zü- „Kauft nicht in der rich, um seine Drogengelder anzulegen. Bahnhofsgegend, der Da saß auf dem Rückflug plötzlich sein Stoff ist richtig mies.“ Vater im Flugzeug, in der zweiten Klas- Mit Versandhandel se. Jan sagte ein paar verlegene Worte und Computer-Infos und ging vor in die erste Klasse zu sei- zeigt der Drogenmarkt nem Platz. Er jubilierte, weil er vorne erneut, daß Dealer saß und der Vater nicht. Und er heulte und User der staatli- innerlich, weil er nicht in der Lage war, chen Gegenwehr im- nach hinten zu gehen und zu reden. Un- mer einen Schritt vor- möglich. Er war der Haschprinz, die aus sind. große Nummer, und so einer setzt sich „Die Gesellschaft“, nicht bei Papi auf den Schoß. folgert Hamburgs Bür- Doch dann kam der Knast, weil er germeister Voscherau, von Kunden verpfiffen worden war. „muß mit dem Phäno- Und mit der Nadel übernahm eine ande- men von Drogen und re Gier die Regie – die nach dem Gift. Sucht leben lernen“ – Tiefliegende Augen, dünne Gestalt: ob sie will oder nicht. Jugendlicher Jan (um 1965): Kind aus gutem Hause Jede Menge Spuren haben sich in Jans

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Körper gegraben, aber nach dieser Dro- den Affen verloren, und als eines Ta- Tochter aus einer kaputten Junkie-Ehe. genkarriere könnte er ebensogut tot sein. ges ein Kumpel vor ihm stand und da- Sie ist bei den Omas groß geworden, Er hat lange durchgehalten. Als „Dino- von faselte, man müsse jetzt Apothe- und er durfte sie lange nicht sehen, weil saurier“ sieht er sich, und er hat vor, das ken ausrauben, stimmte er zu. Das wa- er wie eine Gefahr für das Kind er- noch eine Weile zu bleiben. ren keine eleganten Gaunerstückchen, schien. Sein Vater ist seit ein paar Jah- Mit der Klarheit imKopf, die er der Er- sondern jämmerliche Unternehmen, ren tot. Als er starb, saß Jan im Knast; satzdroge Methadon verdankt, studiert schlotternd vor Entzug und Angst. Na- sie hätten ihn zur Beerdigung gehen las- er nun sein kaputtes Leben. Er, der inden türlich wurde er wieder gefaßt, und sen, aber nur mit Handschellen und vier Junkie-Jahren keine Gelegenheit fand, dann, 1983, geschah das, was seinem Mann Wache: „Da hab’ ich verzichtet.“ Vernunft zu entwickeln, betrachtet mit Leben die endgültige Wende verpaßte: Aus Selbstschutz hat er sich positives der Härte des Erwachsenen das dumme der todbringende Schuß im Knast. Denken verordnet. Er habe keine Angst Kind, das er war. Er sieht „einen postpu- Ein bißchen grübelnd sitzt er da, vor Infektionen, und er gucke auch bertären Haschjüngling“, der sich der leicht nach vorne gebeugt, und wenn er nicht jeden Tag in den Spiegel, „ob ich Welt nicht gewachsen fühlt und auf einen an diese Zeit denkt, dann redet er Kaposi-Flecken finden kann“. Er segelt Trip gerät, auf dem er sich „richtig wich- nicht mehr so forsch. Nein, sagt er, in jetzt häufig mit seinem Bruder auf des- tig“ vorkommt. Selbstmitleid sei er nicht verfallen. sen Schiff. Der ist Schiffbauer geworden Dummejungenstreiche seien das gewe- Wenn er von diesem Vorgang redet, und verkehrt mit ganz normalen Leu- sen, die Geschäfte mit dem Türken-Boß, damals, 1983 in der Haftanstalt Fuhls- ten, und durch ihn gerät auch Jan in mit den St.-Pauli-Luden, die LSD-Pro- büttel, dann hält er sich trocken an die Kreise, die Wörter wie „Druck“ oder duktion im Hinterhof. Als alles schief- einfachen Fakten: Sieben Süchtige in „Flash“ nur aus der Zeitung kennen. ging und es Zeit war, das Scheitern zu er- einer Zelle, eine Spritze, drei Gramm Er liest viel, weil er ja nicht mehr rich- kennen, hatte er sich für die Droge ent- Heroin, und einer war mit dem Aids- tig arbeiten kann und von Sozialhilfe schieden und nicht für die Wirklichkeit, die so weit hinter allem zurückbleibt, was sich ein Kind erträumt. Er hat zwar versucht, auf eine bürgerli- che Existenz umzuschulen, als Lkw-Fah- rer oder Handelsvertreter, aber das ging schief. Bald hatte sein Leben einen Rhythmus bekommen – rein in den Knast, raus aus dem Knast. Jedes Mal, wenn er freikam, fing das Leben draußen ein paar Stufen tiefer wieder an. Längst war der Stoff nicht mehr Lust, sondern Notwendigkeit. Das wohlige Gefühl von früher wiederholte sich nicht, und die schützende Watte verfärbte sich allmählich von Rosa in Grau. Manchmal sah er sich wie das Ver- suchstier im Rattenkäfig, von dem er ge- lesen hatte: Das Vieh konnte auf einen grünen Knopf drücken, dann kam Futter, oder einen roten, dann kam Kokain. Kein einziges Mal, so hieß es, habe das Tier nach Futter verlangt.

Es gab auch nicht mehr viele Gefühle, M. MEYBORG / SIGNUM außer der Angst vor dem Affen, den Ent- Ex-Junkie Jan (1995): Todbringender Schuß im Knast zugserscheinungen, und so etwas wie Freundschaft – nun ja. Junkies kriechen Virus infiziert: „Da hat es uns eben er- lebt, und er setzt sich oft an die beieinander unter, wenn das bißchen wischt.“ Schreibmaschine, um zu sehen, ob er in Geld vom Dealen oder von Diebstählen Auf vertrackte Weise kann es sein, seiner Geschichte einen Sinn finden nicht mehr für die Zimmer in billigen Ab- daß er diesem Virus sein Überleben ver- kann. Er hofft, daß noch ein bißchen steigen reicht. dankt. Ohne die HIV-Infektion wäre er Zeit bleibt bis zum Ende, er hat noch Nur manchmal erschrak Jan noch über wohl 1988 nie in das Methadon-Pro- was vor. Er will clean werden bis zum sich selbst. Da war dieses miese Ratten- gramm geraten, als einer der ersten Pa- Sommer, ganz runter vom Methadon, gefühl, als ihm die Drogenfahnder im tienten überhaupt. Er wäre nicht als ei- und dann will er in die Karibik segeln McDonald’s in der Osterstraße einen ner von diesen „Aids-Desperados“ be- und auf das Wasser blicken, morgens, Tausendmarkschein rüberschoben, weil trachtet worden, die niemand auf der wenn es still ist, und warten, daß die er einen Kumpel verraten hatte. Szene rumlaufen lassen will. Eine „hy- Sonne aufgeht. Aber einer wie er konnte sich keine gienische Maßnahme“, so formuliert er Jan ist stolz darauf, daß er die 43 Jah- Skrupel mehr leisten: „Mit dem Affen mit leichter Ironie. re geschafft hat, aber er weiß, was kom- verkauft sich jeder“, sagt er: „Wenn du Jetzt, nachträglich, sieht er sich sein men kann. Er hat Freunde unbeschwert Schmerzen in allen Gliedern hast und ei- Leben verschwenden als Junkie, „als mit dem Virus leben sehen, bis sie ne stählerne Faust dir die Wirbelsäule Kanalratte, als ein Zombie, ein Stück plötzlich doch in die Klinik mußten. zertrümmern will – dann ist nicht mehr Dreck“. Jetzt sucht er mühsam nach den Manch einer ist noch mit dem eigenen viel mit Solidarität.“ Wenn das Geld aus- Resten, die übriggeblieben sind aus der Wagen vorgefahren: „Musik abgestellt, ging, dann mußte die Freundin eben auf Zeit, in der er noch kein Zombie war: Taschen reingetragen, aufs Zimmer ge- den Strich. Sieht wieder seinen Bruder, der selbst gangen, Morgenrock an und in den Ta- Er war mager, bleich, er stank. Er war an der Nadel hing, aber länger schon gesraum, erst mal eine rauchen.“ Sechs 31 Jahre alt und hatte den Kampf gegen clean ist; trifft seine Mutter und seine Wochen später war er nicht mehr da. Y

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vor einer „Naturkata- Energie strophe“. Dann dürfe sich sogar niemand mehr mit einer Zigaret- te aufdieStraße wagen, Wilde fürchtet Peter Stocker, 35, Sprecher der Initia- tive und Chef des Ho- Visionen tels „Wassermann“ zu Seebruck. Bürger und Experten streiten sich Selbst wenn alle Ge- fahren unter Tage ge- über die Risiken von unterirdischen bannt werden könnten, Erdgasspeichern. bleibe, so die Initiative, immer noch der schäd- ie Bewohner des sogenannten Ma- liche Ausstoß der ober- lerwinkels am Chiemsee sind Idyl- irdischen Gasverdich- Dle pur gewöhnt: das beschauliche teranlage, der „Katar- Dorfleben, die ländliche Ruhe und den rhe, Infektionen und herrlichen Blick über das „bayerische Lungenödeme“ zur

Meer“, auf die Schloß-Insel Herren- Folge haben könne. W. WEBER chiemsee sowie die gezackte Kampen- Alles Unsinn, kon- Hotelier Stocker: „Begast uns nicht“ wand am Alpenrand. tern Experten. Erdgas- Verständlich, daß sich da im Dreieck speicher verursachten „keinerlei spezifi- Temperaturschwankungen geschützt. der Gemeinden Eggstätt, Seebruck und sche Gefahren mehr“, sagt der Inge- „Ich verstehe ja die Bauchschmerzen Breitbrunn viele gegen eine geplante nieur Claus Marx, 63, Professor am In- der betroffenen Bevölkerung“, sagt „gigantische Industrieanlage“ aufleh- stitut für Tiefbohrtechnik, Erdöl- und Marx, „aber die Leute müssen sich auch nen: Die Essener Ruhrgas AG will un- Erdgasgewinnung der Technischen Uni- aufklären lassen.“ Erdgas entzünde sich ter ihren Füßen einen Erdgasspeicher versität Clausthal – ein Fachmann mit nur durch Feuer oder Funken und bei bauen, der den Malerwinkel verschan- dem Ruf, neutral zu sein. Marx hatte einem ganz bestimmten Mischungsver- deln und den Seeblick der Anrainer trü- schon das Unbedenklichkeitszeugnis für hältnis von Gas und Luft. Weil aber bei- ben könnte. ein Gaslager unter dem Grunewald in des, Luft wie Feuer, unter Tage nicht Um das Projekt zu verhindern, ver- Berlin ausgestellt, das vor zwei Jahren vorkämen, bestehe Explosionsgefahr breitet eine regionale Bürgerinitiative in Betrieb genommen wurde: „Die „nicht einmal theoretisch“. mit dem Namen „Begast uns nicht den Technik hat ein Maß an Sicherheit er- Zwar hat es seit dem Bau des ersten Chiemgau“ wilde Visionen: Wenn der reicht, daß man wirklich sagen kann, da deutschen Untertagegasdepots, 1953 in Speicher in 2000 Metern Tiefe wie ge- passiert auch unter hohen Drücken über Engelbostel bei Hannover, immer wie- plant im April 1996 vollgepumpt werde, 300 bar nichts.“ der Störfälle gegeben. Die ereigneten säßen die Menschen im Umkreis „auf ei- Alle möglichen Schwachpunkte wie sich jedoch fast ausschließlich bei Bohr- nem Pulverfaß von Milliarden Kubik- Rohrleitungen, Druckventile und vor al- arbeiten für die Rohrschächte, durch die metern Gas“. lem die Bohrkopfabdichtungen würden, das Erdgas eingepreßt und bei Bedarf Es drohten, warnen die Projektgeg- so Marx, längst obligatorisch zwei- bis wieder entnommen wird. Mittlerweile ner, unterirdische Erdeinbrüche, Gelän- dreifach („redundant“) abgesichert. Un- werden in der Bundesrepublik jedoch 35 deabsenkungen und Überschwemmun- ter- wie oberirdische Leitungen seien Untertagespeicher mit insgesamt über gen. Trete Gas aus, stehe der Chiemsee selbst gegen Erdbeben und extreme 12 Milliarden Kubikmetern Volumen

Gasverdichter- Pulverfaß im Boden? Umstrittenes Erdgaslager in Bayern Feldleitungen anlage

Seebruck Eggstätt Importiertes Erdgas strömt über die München Verdichterstation Leitungssysteme in den Porenspeicher Erdgaslagerstätte

Steigrohre zum Ein- Breitbrunn pressen und zur Chiemsee Entnahme von Gas ca. 2000 Meter

undurchlässige Tonschicht von

Rosenheim Chiemsee gesteins- und sandschichten 50 Meter Dicke

Inn Erdgasspeicher in porösem 20 Kilometer Kapazität: 1,08 Milliarden Sandstein Kubikmeter Wasser

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betrieben, 9 weitere werden gebaut oder Bundesweit kommt deshalb Bewe- geplant. Bislang sind weder Mensch Bürokratie gung in den Apparat. Der Freiburger noch Umwelt ernsthaft in Gefahr gera- Regierungspräsident Conrad Schroeder ten. („Wir müssen uns mehr in die Lage der Bergwerkstechniker unterscheiden Betroffenen versetzen“) etwa lädt Bus- zwischen zwei Lagertypen: dem soge- Freundliche unternehmer, Radfahrer und den nannten Kavernenspeicher – Depots in ADAC zu regelmäßigen Mecker-Run- ausgespülten Salzstockschichten, die in den ins Straßenbauamt. Nordwestdeutschland überwiegen (et- Auskunft Sachsens Innenminister Heinz Eggert wa: Huntorf oder Nüttermoor) – und (CDU) hatte bereits im letzten Jahr den Porenspeichern, bei denen das Gas Deutsche Behörden üben sich in Bürgernähe zum Kriterium für Beför- in poröse Gesteinsschichten gepreßt Bürgernähe, um Zeit und Geld zu derungen erhoben. Bei der Beurteilung wird. Diese Variante wird vor allem im der Staatsdiener sollen Vorgesetzte die bayerischen Voralpenland genutzt. Ge- sparen. Frage beantworten: „Wie kommt der meinsam ist beiden Typen, daß sie nach Beamte bei seiner Kundschaft an?“ oben durch eine gasundurchlässige ehrmals wöchentlich bieten die Internationale Analysen, so eine Stu- Deckschicht, meist aus Mergel-Ton-Ge- Beamten eine Weinprobe an, für die der Bertelsmann-Stiftung in Güters- stein, abgedichtet sein müssen. MHausfrauen, Volkshochschüler loh, zeigen die Leistungslücke der deut- Gegen keinen der Untertagespeicher, oder Studenten. Der Park ihrer Behör- schen Verwaltung: Einen neuen Paß in denen die Gasunternehmen ihre Vor- de ist öffentlich, ein Häuschen kann ko- gibt es im niederländischen Tilburg räte lagern, bis sie gebraucht werden, stenlos für Feten benutzt werden. (161 000 Einwohner) schon binnen wurden Proteste erhoben, die mit dem Die Weinbauschule im württembergi- zehn Minuten, eine Baugenehmigung Getöse der Chiemgauer vergleichbar schen Weinsberg gilt als eine der besten in Phoenix/Arizona nach fünf Tagen – wären – weder im bayerischen Grün- Winzer-Adressen Deutschlands. Inzwi- unvorstellbar in Deutschland. thal-Bierwang, wo ein Speicher schon schen ist auch die von Leiter Gerhard Weil Konkurrenz offenbar das 1975 mit 1,3 Milliarden Kubikmetern Götz, 63, befohlene Bürgernähe der Be- Dienstgeschäft belebt, untersucht die ans Rohrnetz ging, noch im niedersäch- hörde amtlich anerkannt: Der baden- Stiftung regelmäßig acht mittelgroße sischen Rehden, wo 1996 der mit einer württembergische Rechnungshof zählt Kommunen in Deutschland, gibt vier- Kapazität von drei Milliarden Kubikme- die Staatswinzer zu den 13 Ämtern im teljährlich die Ergebnisse bekannt und tern größte deutsche Gasspeicher zuge- Lande, die sich höchster Kundennähe spornt damit den Eifer der Beamten schaltet werden soll. rühmen dürfen. an. Im hessischen Eiterfeld beispielswei- In der Hitliste der Kassenprüfer fin- Für ein bestimmtes Bündel an Stan- se, wo gegenwärtig ein Salzstock für 300 det sich, eher überraschend, auch ein Fi- dard-Leistungen, etwa Reisepässe aus- Millionen Kubikmeter Gas präpariert nanzamt: Schwäbisch Gmünd. Behör- stellen oder Lohnsteuerkarten ändern, wird, habe der Speicher „wirtschaftlich denchef Wilhelm Treier, 46, hat seinen brauchte zum Beispiel die Stadtverwal- eine große Bedeutung für unsere Zu- 400 Mitarbeitern die Order gegeben: tung Potsdam doppelt so lang wie die kunft“, sagt Bürgermeister Winfried „Der Kunde ist ein Mensch. Bevor in Castrop-Rauxel. Die Pforzheimer Plappert: „Hier hat keiner Angst, auf ei- scharf geschossen wird, rufen wir mal wiesen im zweiten Quartal 1993 mehr nem Pulverfaß zu sitzen.“ an.“ Für das Amt zahlt sich das aus, als dreimal so viele Bürger wegen Un- Die verängstigten Chiemgauer wer- meint Treier: „Weniger Widersprüche, zuständigkeit ab (17,6 Prozent) wie die den zudem noch über einem Porenspei- weniger Prozesse.“ Kollegen in Gütersloh (5,6 Prozent). cher leben, den Techniker für besonders Behörden haben ihre Liebe zum Kun- Der Vergleich hatte Heilkraft, denn sicher halten. Der „Untertagespeicher den entdeckt – unter Kostendruck. ein Jahr später wurde nur noch jeder Breitbrunn/Eggstätt“ war eine natürli- Denn in Zeiten knapper Kassen wird of- zehnte Bürger von Pforzheimer Beam- che Gaslagerstätte, die seit Mitte der fenbar, daß der Beamtenmensch eine ten als „fehlgeleiteter Besucher“ abge- siebziger Jahre ausgebeutet wurde. In ruhende Ressource bildet. wiesen. Y Millionen von Jahren hat das Gestein gezeigt, daß es dicht hält. Auch in den Jahren, als die natürliche Gasblase leer gepumpt wurde, hat es nie einen Störfall gegeben. Da liegt die Vermutung nahe, daß es den Projektgegnern vor allem um die Optik an der Erdoberfläche geht – bei der Pumpstation handelt es sich um ei- nen Komplex von beinahe Fußballfeld- größe mit zwei 25 Meter hohen Kami- nen. Das darf im Malerwinkel nicht sein, so etwas verschreckt viele Touri- sten. Bei der Hartnäckigkeit des Wider- stands kommen inzwischen jedoch sogar dem Fremdenverkehrsverband Chiem- gau Bedenken: Die „einseitige“ Argu- mentation der Bürgerinitiative und ihr

Horrorgemälde schädigten, so Ver- GRAFFITI bandsgeschäftsführer Hans Träg, das Urlaubsgeschäft womöglich mehr als

der geplante Erdgasspeicher. Träg: J. RÖTTGERS / „Zum Glück ist jetzt keine Saison.“ Y Bürgerfreundliche Weinbauschule, Leiter Götz: Lob vom Rechnungshof

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nur ein dünnes Konzept und ein Modell Ausbeute ist bis dato dünn: In dieser Weltausstellung im Maßstab 1 : 2000. Woche stellt Grosz eine sogenannte Verantwortlich ist seit August letzten Einladung zum Themenpark vor. In Jahres eine private Expo GmbH, an der dem Schreiben werden potentielle Ex- die Stadt Hannover, das Land Nieder- po-Aussteller aufgerufen, zukunftswei- Langsam sachsen, der Bund und die deutsche sende Entwürfe zu Schwerpunkten wie Wirtschaft beteiligt sind. Die Gesell- Gesundheit oder Spiritualität einzurei- schaft soll nach Vorgaben planen und chen. mulmig gestalten, die Experten des Bundes, des Die Idee ist nicht neu, schon 1991 hat- Landes und der Stadt in den vier Jahren ten Mitarbeiter Schröders den Themen- Im Jahr 2000 findet in Hannover die zuvor erarbeitet haben. park kreiert. Bis die Rückläufe vorlie- erste Weltausstellung auf deut- Ziel ist eine Expo neuen Typs, die gen, wird noch mindestens ein Jahr ver- den staunenden Besuchern High-Tech- gehen. schem Boden statt. Wird die Expo ei- Lösungen für die Probleme des nächsten Auch sonst lassen sich die Expo-Ma- ne Pleite? Jahrtausends vorführen soll. Expo-Pla- cher Zeit: Kanzler Helmut Kohl mußte nungschef Konrad Heede schwärmt von seine Einladung an die Völker der Welt, „innovativen Zukunftsstrategien“, die die eigentlich im Februar vorliegen soll- as Haus Nummer 2 in Hannovers „Ökonomie und Ökologie an der te, vertagen, weil die dazugehörige Thurnithistraße sieht mit seinen Schwelle des 21. Jahrhunderts in Ein- Werbebroschüre noch nicht fertig ist. Dgroßen Fenstern und seinem impo- klang bringen“. Manager Grosz predigt weiter „Gelas- santen Portal freundlich und einladend Wie diese Strategien aussehen könn- senheit“ und will sich vom „Druck, et- aus – drinnen aber herrscht eine Atmo- ten, darüber zerbricht sich in Hannover was vorzuzeigen, nicht fertigmachen“ sphäre wie im Bunker. bis heute niemand den Kopf – die Ideen lassen. Hinter mehrfach gesicherten Türen sollen die Aussteller haben. Die Expo- Dem Aufsichtsrat der Expo GmbH hat die Gesellschaft zur Vorbereitung Manager sind noch dabei, geeignetes wird es langsam mulmig. „1995 ist das NOVUM FOTOS: W. SCHMIDT / Expo-Planer Heede, Grosz mit Logo, Expo-Modell: Klecksartige Komposition

der Expo 2000 ihre Büros. Die Planer Personal zu finden. Seit ihrer Gründung Jahr, in dem die Expo auf die Füße der ersten Weltausstellung auf deut- vor einem halben Jahr hat die Gesell- kommen muß“, mahnte Aufsichtsrats- schem Boden haben Angst, Chaoten schaft bereits zwei Spitzenleute einge- vorsitzender Helmut Werner, im Zivil- könnten eindringen und die Einrichtung stellt und wieder gefeuert. beruf Vorstandschef bei Mercedes, sei- verwüsten. Verantwortlich für Planung und Ar- ne Geschäftsführer. Werner hat für Für Chaos sorgen die Expo-Bürokra- chitektur ist Geschäftsführer Andreas März eine Sondersitzung anberaumt, ten freilich bislang selbst. Die Weltaus- Grosz. Der Mann war früher Handels- auf der die Aufsichtsratsmitglieder Auf- stellung 2000, angekündigt als kulturel- lehrer an einem Braunschweiger Wirt- schluß über Ideen und Konzepte erwar- les Großereignis mit 40 Millionen Besu- schaftsgymnasium, leitete dann ein Mö- ten. Bisher hat sich das Gremium vor- chern aus aller Welt, droht eine trostlo- belgeschäft, organisierte später Kultur- nehmlich mit internen Querelen befaßt se Veranstaltung zu werden. veranstaltungen und gründete schließ- – etwa wie teuer der Dienstwagen eines Niedersachsens Ministerpräsident lich das Zeitgeistmagazin Living. Bei Abteilungsleiters sein darf (60 000 Gerhard Schröder warnte schon öffent- seiner Bewerbung gab Grosz an, er habe Mark) oder ob die Geschäftsführer samt lich, die Expo dürfe nicht zu einer besse- 1992 im Auftrag von VW ein Konzept Ehefrau erster Klasse fliegen dürfen (sie ren Hannover-Messe ohne kulturelles für das Kunstmuseum in Wolfsburg er- dürfen nicht). Beiprogramm verkommen. Der Sozial- stellt. Was er verschwieg: Realisiert Eine Entscheidung zur Sache immer- demokrat fürchtet, daß die Weltausstel- wurde sein Konzept nie. hin haben die Aufseher schon getroffen. lung „eine Pleite“ werden könnte. Grosz hat einen Stab freier Berater Sie bewilligten fünf Millionen Mark, um Schröders Pessimismus hat Gründe: angeheuert, die für ein Tageshonorar das Expo-Logo, eine klecksartige Kom- Bis zur Eröffnung sind es nur noch von 800 bis 2000 Mark kreativen Schub position aus Punkten und Wirbeln, welt- knapp fünf Jahre, doch bislang gibt es in die Expo-Planung bringen sollen. Die weit schützen zu lassen. Y

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Zahlreiche Tipgeber tischten ihnen in verschiedenen Variationen die gleiche Geschichte auf: Verteilt über diverse Banken in Österreich, Westdeutschland und den Niederlanden sollen DDR-Fin- sterlinge zu Wendezeiten riesige Bar- gelddepots angelegt haben. Für die Wie- dereinschleusung des Schwarzgeldes in den legalen Wirtschaftskreislauf böten die Depotinhaber jedem Helfer jetzt enorme Provisionen. Ein solches Angebot bekamen auch Horst-Jürgen Schultz und sein Ge- schäftspartner Lutz-Dietrich Huhn, 46, im Juli vergangenen Jahres. Als Mitbe- treiber der Liechtensteiner Briefkasten- firma Industfin sind sie „im Raum, wo man Geld etwas freier bewegen kann“

A. SCHOELZEL (Schultz), offenbar als kundige Helfer Fahndungshelfer Schultz, Huhn: Reich für eine Stunde für renditehungrige Steuerflüchtlinge bekannt. „Von Teppichen über Waren- punkt einer der ungewöhnlichsten Fahn- termingeschäfte bis zum grauen Devi- Fluchtgeld dungskampagnen der Republik: der Su- senhandel“ haben die beiden schon mit che nach dem verschwundenen Vermö- allem gehandelt, was schnellen Gewinn gen der ehemaligen DDR-Parteien. verspricht. Bis zu fünf Millionen Mark Beloh- Nun bot ihnen ein Zürcher Schieber Verrat der nung versprachen die Unabhängige per Fax in chaotischer Orthographie den Kommission zur Überprüfung der Par- Tausch von „Diskontierter DM“ gegen teivermögen und die Treuhandanstalt Schweizer Franken an. „Die Procedere Sesselpupser im Frühjahr vergangenen Jahres mit ei- für die Abwicklung“ sah eine Mindest- ner bundesweiten Anzeigenaktion je- umtauschmenge von 25 Millionen Mark Bei der Fahndung nach verstecktem dem, der „gezielte Hinweise“ auf „die pro Tag vor, zu kaufen für nur 64 Pro- DDR-Vermögen verirrten sich die vielen Millionen DM“ geben könnte, zent des nominellen Wertes in einer „die versteckt auf Konten oder in Fir- Innsbrucker Bank. Treuhand-Ermittler im Finanzschie- men liegen“. Bargeld gegen Bargeld, mit 56 Pro- bermilieu. Mehr als 400 Hinweise gingen seitdem zent Gewinn, das „mußte jenseits der in Berlin bei Daniel Noa, dem Leiter Legalität sein“, schwante es selbst den der Stabsstelle Recht der mittlerweile beiden Spekulanten, vor allem schien es m seine Bonität, gesteht Horst-Jür- aufgelösten Treuhand ein. Aber noch jenseits aller Geschäftslogik. Der Ver- gen Schultz, 49, ist es schon länger keine Mark floß bislang zurück an den such, Genaueres zu erfahren, führte sie Unicht mehr gut bestellt. „Ein Konto Staatshaushalt. Bei den Ermittlungen zunächst zu einem Mittelsmann nach bei der Deutschen Bank bekomme ich verloren Noa und seine Truppe im Mi- Kufstein, dann nach Halle, wieder ins wohl nicht mehr“, vermutet der quirlige lieu des grauen Finanzmarkts offenbar österreichische Linz und endete schließ- Finanzmakler, dem fragwürdige Ge- den Überblick und scheiterten an den lich bei einem falschen Doktor namens schäfte Ärger mit der deutschen Kripo Regeln der Polizeibürokratie. Berger in Köln. und den Wohnsitz in Bang Saen/Thai- Dieser sprach gar land einbrachten. von insgesamt 2,8 Mil- Doch am Vormittag des 19. August liarden Mark, die zu vergangenen Jahres war alles ganz an- tauschen seien, er ders. Souverän schritt Schultz da an den konnte freilich den un- Drucker für Kontoauszüge in der Düs- verständlichen Cha- seldorfer Filiale der Deutschen Bank rakter des phantasti- auf der vornehmen Königsallee. Auf schen Geschäfts nur seinen Namen, so gab der Bankcompu- mit dem Hinweis auf- ter Auskunft, standen unter Kontonum- hellen, es handele sich mer 025864000 stattliche 18 Millionen um DDR-Geld. Mark zu Buche, überwiesen von der Die Gefechtslage Berliner Treuhandanstalt. blieb unübersichtlich „Der Staat“, freut sich Schultz noch und stiftete so eine heute, „machte mich zum reichen ganz und gar unge- Mann“ – für eine Stunde. Dann mußte wöhnliche Allianz: Die er seine Kontokarte wieder hergeben. beiden „Verwaltungs- Denn Schultz war nur ein V-Mann der räte“ der Industfin Berliner Sonderermittler in Sachen Ver- spekulierten lieber auf einigungskriminalität. Mit der Vorlage die ausgelobte Beloh- des Kontoauszugs sollte er einem dubio- nung als auf die Dun- sen Mittelsmann seine Kapitalkraft be- kelmänner aus dem legen. Osten. Sie wurden

Die bizarre Vorzeigeaktion von T. SCHMIDT / BUSINESS PICTURE bei Treuhand-Justitiar Staatsgeld in Privathand war der Höhe- Bankfiliale in Düsseldorf: Bizarre Vorzeigeaktion Noa vorstellig, und

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lionen in Franken überwei- sen und dann ihr Geld ab- heben. Gemeinsam mit dem geheimnisvollen Ver- fügungsberechtigten über den Dollarbunker sollten sie dann die Depotbank aufsuchen und dort die Franken gegen Dollarno- ten tauschen. Doch nun bekamen Noa und seine Truppe Angst vor der eigenen Courage. Eine Transaktion der Treu- hand-Millionen ins Aus- land lehnten sie rigoros ab. Auch als es den beiden V- Leuten mit Liechtensteiner Visitenkarte gelang, Ber- ger zu einer Tauschaktion an einem Münchner Depot zu überreden, zogen die Berliner Ermittler nicht Vermittler Berger, Treuhand-Helfer Huhn* mit. Depotschein über 487 Millionen Dollar Mit einem einzigen Tauschgeschäft sei ja ohne- dieser spannte Berlins Zentrale Ermitt- hin nichts zu beweisen, rechtfertigt Noa lungsstelle Regierungs- und Vereini- sein Zögern, „dann wird nur das ganze gungskriminalität (ZERV) ein. Ge- Netz alarmiert“. Ungeklärt sei auch, ob meinsam beschlossen sie, dem Kontakt- man gegen Betrug ausreichend gesichert mann Berger mit dem falschen Doktor- sei. titel auf den Zahn zu fühlen. Wie er statt dessen das Geheimnis der Für den konspirativen Treff im Cafe´ DDR-Depots klären will, weiß Noa der Deutschen Bank in Düsseldorf aber wohl auch nicht. „Diese Sesselpup- ser trauen offenbar ihren eigenen Leu- ten nicht“, ärgert sich Schultz. „Unter „Die Ermittler Polizeiobservation wäre Betrug gar haben das Ding nicht möglich gewesen.“ Trotz der Vorbehalte, daß es „ver- versaubeutelt“ mutlich nur um Falschgeldverkauf oder simplen Betrug geht“ (Noa), und ob- machte Noa für einen Tag die Treu- wohl sich bislang nicht mal ein ermitt- hand-Millionen locker, die Schultz in ei- lungsbefugter Staatsanwalt der Sache nen glaubwürdigen und liquiden Käufer annahm, ließen die ZERV-Ermittler die verwandelten. Dieser führte einen Kri- beiden Helfer munter weiterarbeiten. minaloberrat der ZERV in den richtigen Mal ermunterten sie Huhn, seinen Kon- Jargon („Währungen swiften“) ein, taktmann Berger doch zu einem weite- brachte ihn dazu, seine Lederjacke ge- ren Treffen am Düsseldorfer Flughafen gen ein „quittegelbes Jackett“ zu tau- zu lotsen, mal in ein benachbartes Ho- schen und ernannte ihn per Visitenkarte tel. Diesen Monat schließlich, nachdem zum Generalbevollmächtigten der In- Berger untergetaucht war, sollten sie ei- dustfin. Das Landeskriminalamt Düssel- nen neuen Kontaktmann nach Berlin dorf schließlich stellte auf der Königsal- locken. lee „hinter jeden Baum einen Zivilfahn- Doch wie schon in den Monaten zu- der“ (Schultz), nichts konnte schiefge- vor, bekamen die beiden Hobby-Detek- hen. tive „wochenlang keinen Rückruf, keine Berger erwies sich als unbedeutendes Information, kein Einbinden in die ge- Würstchen. Zwar konnte er den Ver- plante Strategie“ (Huhn). Sie fühlten schwörern aus Berlin und Liechtenstein sich verraten und brachen die Zusam- einen Bankdepotschein über sagenhafte menarbeit verärgert ab. „So erfahren 487 Millionen US-Dollar vorlegen und die nie, ob es noch DDR-Geld gibt“, re- bestätigte die DDR-Herkunft der Sum- sümiert Schultz, „die haben das Ding me. Aber auf dem Dokument war der versaubeutelt.“ Name der Bank geschwärzt. Vergessen wird Noa oder sein Nach- Die eigentliche Offenbarung des of- folger die beiden Belohnungsjäger den- fensichtlich kriminellen Bankpartners noch nicht so bald. „Die haben sogar sollte erst später in Innsbruck stattfin- unsere Unkosten nur zur Hälfte be- den. Dorthin sollten die Käufer die Mil- zahlt“, empört sich Schultz. Die ausste- henden 2000 Mark will er sich noch ho- * Am Flughafen in Düsseldorf. len – notfalls vor Gericht. Y

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Immobilien Bei meinen Ahnen Ein brandenburgisches Dorf in Auf- ruhr: Herr von Ribbeck kehrt nach Ribbeck im Havelland zurück.

rudchen Wilke ist eine treue Unter- tanin. Wenn Friedrich-Carl von TRibbeck an ihre Pforte klopft, dann ist die alte Dame ganz aus dem Häus-

chen. „Ach Jottchen, der junge Herr“, FOTOS: D. KONNERTH / LICHTBLICK ruft Wilke, 83, „da will ick jleich ma Schloß Ribbeck im Havelland: „Ach Jottchen, der junge Herr“ Kaffee uffsetzen.“ Trudchen kennt ihren Besucher von Aber muß er auch noch Schloß, Stallun- macht nach 1945, sondern schon von Kindesbeinen an. Sie weiß noch, wie gen und Ländereien kassieren? „Die den Nazis enteignet worden war. Des- er als Knirps „mit Hosenträger über Leute fürchten, daß er ihnen alles weg- wegen kann der Erbe heute Rechtsan- Kreuz“ durchs Dorf tobte. Und wie nehmen will“, sagt Siegfried Böttcher, sprüche geltend machen. Jung-Friedrich plötzlich verschwand: Mitglied des Gemeinderats. Doch viele wollen es dem neuen alten Als er acht Jahre alt war, haben die Rus- Im Ribbecker Dorfparlament sind Herrn nicht so einfach machen. Der sen die Familie von Ribbeck aus dem keine Parteien mehr vertreten. Die Landrat in Nauen droht damit, die Ent- Havelland vertrieben. sechs Volksvertreter gehören allesamt scheidung des Landesamtes anzufech- Nun ist der Kommunisten-Spuk vor- dem Brandenburger Bauernverband an ten. Die Mehrheit der Ribbecker weiß bei, und der junge Herr, inzwischen – und alle sechs sind gegen den Junker. er hinter sich. Schließlich hat sich in den auch schon 55, hätte sein Land nach fast Sie werden sich an den Patron gewöh- vergangenen 50 Jahren allerhand verän- 50 Jahren westdeutschen Exils gern wie- nen müssen. In der vorvergangenen dert im Dorf. Im inzwischen völlig ma- der zurück. Über 1600 Hektar hat von Woche hat das Landesamt zur Rege- roden Schloß unterhält die Arbeiter- Ribbeck für sich und seine beiden Ge- lung offener Vermögensfragen Rib- wohlfahrt ein Altenheim. Über 170 schwister reklamiert, ein Areal so groß becks Rückübertragungsansprüchen Bauern haben nach dem Krieg auf Rib- wie 2177 Fußballfelder. grundsätzlich zugestimmt. Der Adlige beckschem Grund gesiedelt – will er sie „Man hat mir meine Heimat ge- konnte nachweisen, daß sein Großvater etwa alle vertreiben? raubt“, klagt von Ribbeck, dessen Sippe nicht von der sowjetischen Besatzungs- „Will ich nicht“, beteuert von Rib- durch Theodor Fontanes beck immer wieder. Das Schloß „inter- Gedicht über den segenbrin- essiert mich nicht, solange dort Senioren genden Birnen-Baron je- wohnen“. Auch das Land der Bauern dem Pennäler bekannt ist. „beanspruche ich nicht“. Der Schock über den Ver- Aber die Ribbecker glauben ihm lust des Ritterguts zerstreu- nicht. Zu viele Glücks- und Spesenritter te die Familie in alle Winde; sind nach der Wende durchs Havelland den Bruder nach Kapstadt, gezogen, haben Versprechungen ge- die Schwester nach Hong- macht und nicht gehalten. kong. Sie haben den Bauern die Kühe aus Friedrich-Carl, der seinen den Ställen geklaut und ihnen rostige Wohnort in Westdeutsch- Karren als Limousinen verscherbelt. land ein halbes dutzendmal Selbst die Rechnungen für die Montage wechselte, hofft nun auf ein von Satellitenschüsseln waren oft viel zu Ende des rastlosen Lebens: hoch; nun riechen die Ribbecker Betrug „Ich will hier alt werden, bei an jeder Ecke. Wer heute aus dem We- meinen Ahnen.“ Bis auf das sten kommt, dem traut man nicht, und Jahr 1237 läßt sich die Linie wenn er auch ein von Ribbeck ist. derer zu Ribbeck zurück- In der einzigen Gaststätte des Dorfes, verfolgen. Adel verpflich- gegenüber von Trudchens Heim, haben tet: „Wenn ich das Land die Dörfler für den Edelmann oft nicht nicht wiederbekomme, mal eine Tasse Kaffee übrig. „Der ist im dann habe ich vor der Ge- Dorf nicht beliebt“, murrt die Kellnerin, schichte versagt.“ die selbst ein Bauernfrühstück nur un- Den Wunsch des Erben, gern in Junkerhand geben würde. in das 30 Kilometer westlich Doch nicht alle 435 Ribbecker denken von Berlin gelegene Dorf und reden schlecht über den Adligen. zurückzukehren, können Eine Minderheit hält die Heimkehr von die Menschen in Ribbeck Herrn von Ribbeck sogar für eine glück- gerade noch verstehen. Heimkehrer von Ribbeck: Hosenträger über Kreuz liche Fügung des Schicksals. „Wenn der

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kommt, dann tut sich endlich was in die- hansa-Buchungscomputer in Kelster- sem Nest“, hofft der Elektromeister Jür- Anschläge bach mit dem benachbarten Airport gen Moritz. Mehr als 30 Jahre lebt er verbinden. schon in dem tristen Ort; nun, im Jahre „Ein einmaliger Anschlag“, stöhnte sechs nach der Wende, „muß doch mal Telekom-Sprecher Michael Hartmann; was passieren“. Stummer die Tat verrate Systemkenntnis und „Der hat Ideen und viele Kontakte“, „massive kriminelle Energie“. sagt Moritz bewundernd, „von Markt- In einem Schreiben an die Frankfur- wirtschaft versteht er was.“ Rebell ter Rundschau bekannte sich eine bis- Mangels Schloß und Pachtzins ver- lang unbekannte Gruppe namens dingt sich der Adelsmann zur Zeit in ei- Erstmals in Deutschland schlugen „Keine Verbindung e.V.“ zu der Un- nem bürgerlichen Beruf: als Innenein- in Frankfurt High-Tech-Terroristen tat. Mit der „Aktion“, so die vermut- richter ostdeutscher Friseurgeschäfte. lich linksterroristischen Bekenner, hät- Von Wiesenburg bei Potsdam aus be- gegen die Kommunikationsgesell- ten sie den Flughafen lahmlegen wol- aufsichtigt von Ribbeck acht Angestell- schaft zu. len. Denn der habe eine Funktion „im te, die Barbieren Spezialstühle, Spiegel Rahmen der imperialistischen Welt- und Trockenhauben anbieten. wirtschaftsordnung“. Ratsmitglied Böttcher ist davon nicht ie Täter kamen in der Nacht, ir- Mit dem Blackout im Airport trafen beeindruckt: „So schlau wie der von gendwann nach drei Uhr früh. An die Terroristen die High-Tech-Gesell- Ribbeck sind wir auch.“ Vor der Wende Ddrei Orten nördlich und östlich des schaft, wo sie am verwundbarsten ist: war Böttcher Vorsitzender der LPG, Frankfurter Flughafens, Kilometer von- Sie demolierten drei von insgesamt heute ist er der Chef der örtlichen Agrar einander entfernt, wuchteten sie zent- mehreren tausend Kabel-Knotenpunk- GmbH. Die Pacht für Wiesen, Weiden nerschwere Betondeckel hoch und klet- ten der Republik, deren exakte Lage und Stallungsgrund kassiert bislang terten in den Orkus der verkabelten Ge- und Bedeutung nur wenigen Experten noch die Treuhand. sellschaft. bekannt ist. Ein „Investitionshemmnis“ nennt Böttcher den Junker: Längst hätten neue Traktoren angeschafft werden müssen, „aber wovon denn?“ Wegen der Ribbeck-Ansprüche auf Rückgabe „gibt uns keine Bank Kredit“. Solche Klagelieder kann der emsige Protestant Moritz, der mit Freunden in der Freizeit die Dorfkirche renoviert, nicht mehr hören. Die Leninstraße hät- ten die Gemeindeväter nach der Wende in Theodor-Fontane-Straße umbenannt, „viel mehr ist nicht passiert“. Moritz träumt davon, daß die Rück- kehr derer von Ribbeck Touristen in den Ort bringt, der außer dem berühm- ten Namen nichts weiter zu bieten hat. Allerhand hat der Erbe schon vorge- schlagen, um das brandenburgische Nest auf Trab zu bringen, und auch, um den Dörflern zu gefallen. Eine „Ma- nagementschule für Ökologie“ möchte von Ribbeck in Ribbeck errichten, eine

Käserei, einen Reiterhof. Oder eine Piz- H. WESSEL zeria, ein Sägewerk, eine Rinderzucht- Buchungsschalter im Frankfurter Flughafen: Chaos durch Kabel-GAU farm. Neueste Idee aus der Ribbeck- schen Denkfabrik: eine Brennerei, für In den Gruben kreuzen sich Telekom- Fachkundige Attentäter, warnt der Birnenschnaps natürlich. Kabel für Computer- und Datenleitun- Darmstädter Staatsrechtler Alexander „Eine Schnapsidee“, kontert Bött- gen mit Kabeln für Telefon- und Fax- Roßnagel, könnten zentrale Informati- cher, „wir bekommen doch gar keine Verkehr wie Nervenstränge. ons- und Kommunikationssysteme läh- Brennrechte.“ „Vermutlich mit Sägen“, so die Poli- men sowie ganze Wirtschaftszweige ins Geld, räumt von Ribbeck ein, habe er zei, durchtrennten die kundigen Kabel- Chaos stürzen – und damit „Katastro- nicht, „aber es gibt doch Banken“. Und Killer Kupferstränge und Bündel arm- phen nationalen Ausmaßes“ auslösen. solange er in Deutschland keine Brenn- dicker Glasfaserleitungen. Insgesamt Kraftwerke und Chemiefabriken, Mi- rechte bekommt, will er den hofedlen schnitten sie 4,5 Meter Kabel heraus. litär, Polizei und Nachrichtendienste, Birnenschnaps derer von und zu Rib- Um fünf Uhr dann am vergangenen Banken und Versicherungen, Kranken- beck eben in Italien destillieren lassen, Mittwoch, als im Flughafen die Compu- häuser und Verwaltungen hängen am „mit ein paar Anstandsbirnen aus dem ter angeschaltet wurden, zeigte sich, was Computer. Tausende von Milliarden Havelland drin“. die Säger angerichtet hatten: Bildschir- Mark werden täglich via Datenelektro- Auf einem Acker an der Schnellstra- me flimmerten nur noch, 13 000 Telefo- nik umgeschlagen, lebenswichtige Infor- ße hat von Ribbeck bereits 1000 Birn- ne im Süden Frankfurts, darunter alle mationen per Kabel lichtschnell durch bäume pflanzen lassen. Doch auch das Leitungen der Universitätsklinik, waren die Republik und um die Welt ge- hat Bauer Böttcher nicht besänftigt. tot; stumm waren auch viele Außenlei- schickt. „Die jungen Bäume“, spottet er, „ste- tungen der Frankfurter Flughafen AG Die gigantischen Datenmengen der hen doch viel zu eng beieinander.“ Y und jene Glasfaseradern, die den Luft- Wirtschaft lassen sich nach Angaben der

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Telekom „nicht mehr durch Umschaltungen Stromausfälle in Zahlen fassen“. Sie Gefahr für das Datennetz vermieden werden. laufen in Deutschland Attentat auf Glasfaserkabel am Frankfurter Flughafen Auch Anschläge von Kernkraftgeg- durch insgesamt 1,86 nern auf die Bundesbahn sind mit dem Millionen Kilometer Frankfurter Anschlag nicht zu verglei- verbuddelte Stränge. Main chen. Zuletzt warfen Unbekannte am 26. Allein 80 000 Kabel- Januar bei Lüneburg einen Wurfanker Kilometer umfaßt das FRANKFURT auf die Oberleitungen, aus Protest gegen besonders leistungsfä- Zerstörte den geplanten Atommülltransport aus hige Glasfasernetz. Kabel dem baden-württembergischen Atom- Die Leitungen sind aus kraftwerk Philippsburg ins Zwischenla- Tausenden haardün- ger Gorleben. Doch der Zugverkehr ner Glasfäden gewo- Richtung Hamburg wurde nur für ein ben – und entspre- paar Stunden auf Nebenstrecken abge- chend mühsam zu re- drängt. parieren: Die Fasern Flughafen Frankfurter Was dagegen bei Anschlägen auf müssen unter einem Frankfurt/Main Kreuz Kommunikationsnetze passieren kann, Mikroskop aufge- erlebten erstmals die Japaner vor zehn spleißt und Ader für Jahren. Dort durchtrennten damals Ter- Ader wieder ver- roristen an verschiedenen Orten 30Com- schweißt werden. puterkabel der Staatsbahn, um gegen de- In den letzten Jah- 4 Kilometer ren Privatisierung zu protestieren. In To- ren hat die Telekom kio, Osaka und fünf weiteren Großstäd- ihre Sicherheitsvorkehrungen gegen Ka- die Abflüge lediglich um bis zu einer ten brach schlagartig der Bahnverkehr bel-Vandalen verstärkt. Eine spezielle Viertelstunde. zusammen. Zehn Millionen Pendler ka- Meldeleitung mit dem sinnreichen Titel Alarmiert sind die Behörden gleich- men verspätet oder gar nicht zur Arbeit. „Rebell“ zeigt den Technikern sofort je- wohl. Denn der Anschlag von Frankfurt Banken und Geschäfte waren ohne den Schaden in den Kommunikations- setzt neue kriminelle Maßstäbe: Erst- Personal, die Börse von Tokio war lahm- netzen an. mals schlugen in Deutschland High- gelegt. Die Regierung sprach von dem Doch in Frankfurt blieb „Rebell“ Tech-Terroristen zu. „bei weitem größten Schaden einer Gue- stumm: Die sachkundigen Täter hatten Gegen das Airport-Attentat muten rilla-Aktion seit vielen Jahren“. auch die Meldeleitung des Warnsystems Attacken der autonomen Szene aus den Vergrößert wird die Gefahr durch die durchtrennt. achtziger Jahren rührend hilflos an. rapide technische Entwicklung. Statt Sä- Dennoch blieb es beim Mini-GAU. Gruppen wie „Sägende Zellen“, „Akti- gen und Bolzenschneidern könnten Ter- Bei manchen Unternehmen wie der on Heimwerker“ oder „Hau weg den roristen schon bald weit wirksamere Software-Vertriebsfirma Bomico lief Scheiß“ hatten damals mehr als 200 An- Werkzeuge benutzen, warnt der US-Ex- nichts mehr: Telefon, Fax und elektro- schläge gegen Einrichtungen der Ener- perte Winn Schwartau. nischer Briefkasten hingen nutzlos am gieversorger verübt. Die Amerikaner haben, für militäri- toten Netz. Dutzende von Strommasten wur- sche Zwecke, Anlagen entwickelt, die Bei der Lufthansa und einigen von den mit Sprengstoff, Schneidbrennern elektromagnetische Impulse von verhee- der Lufthansa-Logistik abhängigen klei- oder Motorsägen gefällt. Bis zu 70 Me- render Macht erzeugen; die Impulse zer- nen Airlines war der Buchungscomputer ter hohe Stahlgerüste knickten ein, stören Programme und Daten ganzer blockiert. Verkauf von Flugtickets und 110 000-Volt-Leitungen rissen – doch EDV-Zentren in Bruchteilen von Sekun- Bordkartenausgabe erfolgten wie einst Verbraucher und Industrie merkten so den. „Die Technologie ist da“, warnte per Hand. Trotzdem verspäteten sich gut wie nichts: Fast immer konnten Schwartau, wehe, sie fällt in die falschen Hände. Es sei nur eine Frage der Zeit, glaubt die amerikanische Fachzeitschrift Com- puterworld, bis ein frustrierter Angestell- ter ein ungeschütztes Rechenzentrum mit einem solchen Impuls „fritiert, in- dem er Stromstöße in Megawattstärke durch eine Leitung schickt und so Daten zu Digitalbrei verkocht“. Bislang ist für die Amerikaner der Techno-GAU lediglich ein Öko-Pro- blem. In der Börse von New York etwa fiel 1988 für teure 82 Minuten das Com- putersystem NASDAQ aus, weil sich ein Eichhörnchen ins Hauptstromkabel ver- bissen hatte. 1990 legte ein Biber mit einem Kabel- Biß den Flughafen von Kansas City für vier Stunden lahm. Und in der Haupt- stadt Washington kappte ein Jahr später ein anderer Breitschwanz sämtliche Telefonverbindungen in den Süden der USA. Das Tier hatte sich in das

H. SCHWARZBACH / ARGUS Glasfaserkabel der Telekomfirma MCI Kabelarbeiten der Telekom (in Güstrow): „Daten zu Digitalbrei“ genagt. Y

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WIRTSCHAFT TRENDS

Handel AG (KHD) ein Ermittlungs- nischen Tricks Mil- verfahren gegen Unbekannt lionen abzweigten. Anklage eingeleitet. Der Computer- Gleichzeitig stoppte handel mit KHD-Aktien war die Telekom ihre gegen Schlecker ? am vorvergangenen Freitag Zahlungen an die Der schwäbische Drogist An- ausgesetzt worden, nachdem Netzbetreiber in der ton Schlecker gerät wegen der Kurs in 45 Minuten um Karibik. Sie kassieren seiner Geschäftspraktiken 20 Prozent gefallen war. Erst bis zu 70 Prozent der immer stärker in Bedrängnis. am darauffolgenden Montag in Deutschland fälli- Bereits seit Herbst vergan- informierte der Kölner Mo- gen Telefongebühren genen Jahres ermittelt die toren- und Anlagenbauer die als sogenannte Ac- Stuttgarter Staatsanwalt- Öffentlichkeit über hohe Mil- counting Rates und schaft gegen den größten lionenverluste und geplante geben einen Teil ihrer Sanierungsmaßnahmen. Ob Einnahmen an die Be- die frühzeitige Verkaufswelle treiber der Party- durch unzulässige Insidertips Lines weiter. Nach zä- ausgelöst wurde, untersucht hen Verhandlungen das neugeschaffene Bundes- sind einige karibische aufsichtsamt für den Wertpa- Telefongesellschaften pierhandel. Die Frankfurter nun bereit, ihre Ac- Behörde, deren Präsident counting Rates dra- Georg Wittich am Freitag stisch zu reduzieren. von Bundesfinanzminister Werbung für Telefon-Sex Im Gegenzug will die ins Amt einge- Telekom die betroffe- führt wurde, hatte KHD von Ansagedienste nen Länder wieder auf Di- der Verpflichtung zur soforti- rektwahl schalten. Dann gen Bekanntgabe der kursre- Sex-Nummern können zwar auch die Gano- levanten Tatsachen befreit, ven wieder zulangen. Doch um die Gespräche mit bald wieder frei bei den stark gekürzten Ein- dem Großaktionär Deutsche Die Telekom will die umstrit- nahmen, so das Kalkül der

KRÄMER / STERN Bank und anderen Kreditge- tenen Sex-Dienste im Aus- Telekom-Manager, verlieren Schlecker bern nicht zu gefährden. In- land schon bald wieder frei die ausländischen Telefonge- zwischen hat die Behörde zugänglich machen. Erst Mit- sellschaften das Interesse, ih- deutschen Drogeriediscoun- von der Börse eine Liste der te Januar hatte die Telekom re Einnahmen mit dubiosen ter (sechs Milliarden Mark an dem verdächtigen Aktien- die vor allem in der Karibik Ansagediensten zu teilen. Umsatz, 25 000 Beschäftigte) deal Beteiligten angefordert. eingerichteten Sex-Nummern wegen des Verdachts auf Die börseneigene Handels- auf Handvermittlung umge- Wohnungen Steuerhinterziehung. Nun überwachung verfolgt derzeit stellt, weil Ganoven und droht dem Unternehmer drei Spuren. kriminelle Hacker mit tech- Sachsen wollen auch eine Anklage wegen Betrugs. Am vergangenen billiger bauen Mittwoch durchsuchte die Telekom Sachsen will vorführen, wie Polizei zum zweitenmal günstig Wohnungsbau sein innerhalb weniger Monate kann: Maximal 1800 Mark die Ehinger Konzernzentrale Pfeffermann soll gehen soll der Quadratmeter ko- und Ladengeschäfte. Schlek- Die massive Kritik der Wirtschaftsverbände an Gerhard sten, und zwar schlüsselfer- ker soll einen Großteil seiner Pfeffermann, Staatssekretär im Bundespostministerium, tig. Deutsche Fertighaus-An- Mitarbeiter unter Tarif be- zeigt Wirkung. Intern kündigte Bundespostminister bieter konnten mit dieser zahlt haben. In den Arbeits- Wolfgang Bötsch (CSU) vergangene Woche an, daß er Vorgabe des sächsischen In- verträgen wurde den Ange- nicht in jedem Falle an Pfeffermann als Telekom-Auf- nenministeriums nichts an- stellten vorgegaukelt, sie er- sichtsrat festhalten wer- fangen. Doch ein renom- hielten den vollen tariflichen de. Die Verbände hat- miertes norwegisches Unter- Lohn. Bestätigt sich der Ver- ten den Rückzug des nehmen will noch in diesem dacht, muß Schlecker mögli- Staatssekretärs aus dem Jahr in zwei oder drei Ge- cherweise mit Haft rechnen Aufsichtsrat gefordert. meinden, die als Bauherr die und den Beschäftigten rund Er könne nicht als Mini- Grundstücke einbringen, mit 150 Millionen Mark pro Jahr sterialbeamter die Spiel- dem Bau von insgesamt rund nachzahlen. regeln für den Wettbe- 400 Wohnungen beginnen; werb festlegen und dreigeschossig und „garan- Insider gleichzeitig die Interes- tiert keine häßlichen Plat- sen des Teilnehmers Te- ten“, wie der zuständige Krumme lekom vertreten. Pfef- Staatssekretär Albrecht But- fermann gilt als langjäh- tolo versichert. Nicht billige Geschäfte bei KHD riger Weggefährte Hel- Firmen aus dem Ausland, Die Frankfurter Staatsan- mut Kohls und war auf sondern einheimische Unter- waltschaft hat wegen des Drängen des Kanzler- nehmen sollen die Bauten

Verdachts auf verbotene In- amts in den Aufsichtsrat BAUMGARTEN / VARIO-PRESS ausführen; die Norweger sidergeschäfte mit Aktien der gelangt. Pfeffermann wollen nur das Management Klöckner-Humboldt-Deutz und die Planer stellen.

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WIRTSCHAFT

Investitionen NUR WENIGE FLIEHEN Billige Arbeitskräfte locken deutsche Investoren nach Osteuropa. Doch der große Exodus findet nicht statt. Nur unter bestimmten Bedingungen rechnet sich eine Verlagerung der Produktion nach Osten. Kurzfristig sind solche Fälle zwar schmerzhaft, langfristig aber schadet der Strukturwandel dem Standort Deutschland nicht, er stärkt ihn.

Run nach Osten? Ausländische Direktinvestitionen in osteuropäischen Ländern 1993 Gesamt pro Kopf der Bevöl- (in Millionen Dollar) kerung (in Dollar)

Ungarn 2339 231

Polen 580 15

Tschechien 517 50

Estland 160 104

Slowenien 112 56

Bulgarien 55 6

zum Vergleich: Durchschnitts- wert für weniger entwickelte 95 Länder Westeuropas:* *1991 AUDI-AG Audi-Motorenwerk in Ungarn: Die Unternehmen wollen auf expandierenden Märkten nah am Kunden sein

s steht schlecht um die Zukunft des den tschechischen Autokonzern Sˇkoda derung der deutschen Industrie kurz be- Standorts Deutschland. „Schritt für übernommen, Audi baut Motoren in vor? ESchritt“, unkt Daimler-Chef Ed- Ungarn, Siemens produziert Elektro- „Alles Kokolores“, sagt Hubert Gab- zard Reuter, verschwänden die Unter- motoren in Tschechien. risch, beim Institut für Wirtschaftsfor- nehmen aus diesem Land. Auch kleinere Unternehmen wollen schung in Halle für die mittel- und ost- Ihr Ziel scheint klar: Osteuropa. Vom die Vorteile nutzen. Der Hamburger europäischen Staaten zuständig. Rüdi- „Hongkong vor der Haustür“ schwärmt Gabelstapler-Hersteller Jungheinrich ger Pohl, der Präsident dieses Instituts der Präsident des Deutschen Industrie- verlagert 400 Arbeitsplätze nach und früher Mitglied des Sachverständi- und Handelstages, Hans Peter Stihl. Brünn. Michael Turban aus Weiden in genrats, spricht gar von „Unternehmer- Prag sei von Berlin aus in nur drei Tagen der Oberpfalz läßt bei Bor jenseits der propaganda“. mit dem Fahrrad zu erreichen, staunte tschechischen Grenze Zinndeckel auf Beide stützen ihr Urteil auf die Stati- Bundeskanzler Helmut Kohl. Dort blü- bayerische Bierseidel montieren. Mö- stik. Bei großzügiger Rechnung, hat he die Konkurrenz mit Folgen für „die belhersteller schwärmen von ihren Pro- Gabrisch ermittelt, seien 1993 zwischen Standortbestimmung“ daheim. Denn duktionsstätten in Polen. Gesamttextil 5,2 und 8,8 Milliarden US-Dollar an jenseits des ehemaligen Eisernen Vor- faßt zusammen: „Exodus nach Osten ausländischen Direktinvestitionen in die hangs locken niedrige Löhne und willige bringt Geld und kostet Jobs.“ Reformstaaten überwiesen worden, vor Arbeiter. Schon sprechen Wirtschaftsblätter allem nach Ungarn, Polen und Tsche- Der Treck nach Osten hat sich schon von einer „Flucht nach Osten“ (Mana- chien. 1994 seien keine großen Steige- in Bewegung gesetzt. Volkswagen hat ger Magazin). Steht also die Auswan- rungsraten mehr zu erkennen.

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Um die Bedeutung dieser Summen zu Uhren, die Gießereiindustrie, die Gum- publik verlagerten Arbeitsplätzen wird relativieren, setzt Gabrisch sie in Bezie- miverarbeitung, die Holzverarbeitung in den Reformstaaten das Geld ver- hung zu den deutschen Bruttoinlandin- oder Wirtschaftszweige wie der Musik- dient, von dem Ungarn und Balten die vestitionen von 702 Milliarden Mark im instrumenten- und Spielwarenbau, ha- Maschinen bezahlen können, die sie in Jahre 1993. „Würde Deutschland alle ben langfristig am Hochlohnstandort Deutschland kaufen. Das wiederum si- Direktinvestitionen des Westens in die Deutschland ohnehin keine Chance. chert hochwertige Arbeitsplätze an Reformländer stellen (tatsächlich sind Insgesamt sind in diesen Sektoren nur Rhein und Elbe. es nur ungefähr ein Drittel), dann wären 600 000 Menschen beschäftigt. Das sind Die Handelsströme zwischen den Re- dies 1993 in etwa 1,2 Prozent seiner ge- acht Prozent aller im Bergbau und ver- formstaaten und der Europäischen Uni- samten Investitionen gewesen.“ Ein solcher Anteil kann keine nen- nenswerten Arbeitsplatzwirkungen im Westen haben. Daran wird sich nach Meinung des Wissenschaftlers auch in Zu- kunft wenig ändern. Bisher liegen die Direktinvestitionen pro Kopf der Bevölkerung mit 52 Dollar in den Reformstaaten 1993 deutlich unter dem Niveau der weniger ent- wickelten europäischen Staaten, die etwa 95 Dollar erreichten. Nur Ungarn (231 Dollar) lockte bereits deutlich mehr Kapital an. Normal sind für industrielle Schwellenländer etwa 100 Dollar pro Kopf. Wenn die Reformländer dieses Niveau über einen längeren Zeitraum hinweg erreichen, wür- den sie Jahr für Jahr etwa 6,8 Milli-

arden Dollar an Direktinvestitio- K. HAMANN / DIAGONAL nen anziehen. Der Anteil der Re- Lohnarbeit in Tschechien*: Die Deutschen werden wettbewerbsfähiger formländer an den Weltdirektinve- stitionen würde dann von 2,9 auf 100 3,8 Prozent steigen; auf Deutsch- Lockende Löhne Produktivität und Lohnniveau in Osteuropa 1993 land bezogen wären dies nur 1,7 Index: Deutschland = 100 Prozent der Bruttoinlandinvestitio- 80 nen von 1993. Gabrisch zieht daraus den logi- PRODUKTIVITÄT schen Schluß: Der Einfluß der Ost- 60 LOHNSTÜCKKOSTEN Investitionen auf die westlichen Arbeitsplätze wird auch weiterhin gering sein. 40 Die Zurückhaltung der Investo- ren ist verständlich. Moderne Pro- 20 duktionsanlagen, ob für Autos oder für Werkzeugmaschinen, sind sehr teuer, die Lohnkosten spielen 0 da eine untergeordnete Rolle – sie Deutschland Slowenien Tschechien Slowakei Ungarn Polen Bulgarien Rumänien machen nur 15 bis 20 Prozent der Gesamtkosten aus. Viele Manager in der Autoindustrie haben deshalb arbeitenden Gewerbe der Bundesrepu- on zeigen, in welchem Maß die westli- auch wenig Verständnis für das Audi- blik Beschäftigten. chen Industriestaaten mit der teuren Ar- Engagement in Ungarn. Gefahr für solche arbeitsintensiven beit profitieren. Das Defizit im Handel Für Investitionen im Osten sprechen Betriebe droht nicht nur durch Produk- der EU mit den mittel- und osteuropäi- ganz andere, vor allem strategische tionsverlagerungen, sondern auch durch schen Ländern von etwa zwei Milliarden Gründe: Die Unternehmen wollen auf sogenannte Lohnveredelung. Die findet Mark aus dem Jahre 1990 verwandelte neuen, expandierenden Märkten nah statt, wenn ein Unternehmen beispiels- sich bis 1993 in einen Überschuß von am Kunden sein. Solche Auslandsinve- weise hochwertige Stoffe und Knöpfe fast elf Milliarden Mark. stitionen haben wenig Einfluß auf den nach Polen liefert, die dort im Lohnauf- Direktinvestitionen und Lohnverede- Arbeitsmarkt im Mutterland. trag zu Anzügen und Kleidern geschnei- lung zusammen ergeben „noch keine Das sieht in lohnintensiven Branchen dert und nach Deutschland reimportiert Größe, wo man umfallen müßte“, räumt anders aus. Selbstverständlich gibt es werden. auch Jürgen Möllering ein, Repräsen- Betriebe, die ihre Fertigung aus dem Solche Verlagerungen sehen Ökono- tant der deutsch-tschechischen Indu- Hochlohnland Deutschland zu den men durchaus positiv, sie stärken lang- strie- und Handelskammer in Prag. Nachbarn verlegen, selbstverständlich fristig den Standort Deutschland. Mit Selbst die bescheidenen Zahlen müs- werden bei diesem Strukturwandel auch den aus dem Hochlohnland Bundesre- sen noch relativiert werden. Viel deut- Arbeitsplätze vernichtet. sches Geld fließt in Verkaufsorganisa- Doch diese Branchen, dazu zählen * Näharbeiten für den deutschen Bekleidungs- tionen, Lagerbetriebe, Vertriebsbüros; Stahl- und Leichtmetallbau, Optik und hersteller Bogner. solche sogenannten absatzbegleitenden

DER SPIEGEL 6/1995 95 Investitionen sichern Jobs im Mutter- land. Andere Investitionen verlagern nicht Arbeitsplätze von Deutschland nach Osteuropa – sondern vom Fernen in den Nahen Osten. So erwarb der Elektro- konzern Siemens in Tschechien Fabri- ken zur Fertigung einfacher Elektromo- toren – keineswegs zu Lasten des Stand- orts Deutschland. Bislang kaufte der Konzern die Motoren nämlich billig in Fernost. Als Ost-Flüchtlinge präsentieren sich besonders gern die Hersteller von Klei- dern und Pullovern. Die Branche ist ar- beitsintensiv und zahlt nur wenig Lohn, sie ist also tatsächlich gefährdet. Im er- sten Halbjahr 1994 seien Aufträge für 2,5 Milliarden Mark nach Osteuropa vergeben worden, verkündet Gesamt- textil. Das koste rund 25 000 Arbeits- plätze. Fragt sich nur, wo. Ein Großteil der Aufträge wandert nicht aus Deutschland ab, sondern aus Portugal oder dem frü- heren Jugoslawien in die neuen Billig- oasen. Beim Massengeschäft, bestätigt Monika Lützow vom Ostausschuß der Deutschen Wirtschaft, gebe es inzwi- In den Tigerstaaten des Ostens werden auch die Löhne steigen

schen einen „Wanderzirkus“ der Lohn- veredler. Gabrisch: „Irgendwo ist es im- mer billiger.“ Daß die Importe aus dem asiatischen Raum durch Einfuhren aus Osteuropa ersetzt werden, kommt nach Meinung des Regensburger Volkswirts Joachim Möller sogar dem deutschen Arbeits- markt zugute. „Die Stoffe, Knöpfe und Garne, die im lohngünstigen Ausland zusammengenäht werden, stammen aus heimischer Produktion“, sagt der Öko- nom. Fernost-Mäntel dagegen kämen ohne deutschen Knopf in die Warenhäu- ser. Am Ende werden beide Seiten von dem Strukturwandel profitieren: die westlichen Industrieländer wie die neu- en Tigerstaaten im Osten. Und dann werden auch dort die Löhne steigen. Erfolg, rät Gabrisch den Reformstaa- ten, werde auf Dauer nicht eine Niedrig- lohnstrategie, sondern nur der Wettbe- werb mit anderen, besseren Produkten bringen. Dafür aber würden die Arbeit- nehmer auch andere Löhne fordern, als sie jetzt noch üblich seien. Es gebe Leute, sagt der Wissenschaft- ler, die träumten von einer Welt, in der hohes technisches Niveau der Produkti- on, hohe Qualifikation der Arbeitneh- mer und niedrige Löhne zusammenfie- len. Gabrisch: „Das ist die Alice-im- Wunderland-Ökonomie.“ Y

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WIRTSCHAFT

SPIEGEL-Gespräch „Es passiert zuwenig“ BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel über den Reformwillen der Politik und die Forderungen der Industrie

SPIEGEL: Herr Henkel, lebt ein Arbeits- loser in Deutschland zu gut? Henkel: Er lebt schlecht, wenn er, wie die überwältigende Mehrheit, arbeiten will. Wenn nicht, lebt er sicherlich besser als in vielen anderen Ländern. Das hängt auch von seiner persönlichen Situation ab: Wenn er verheiratet ist und Kinder hat, erhält er unter Umständen soviel Geld vom Staat, daß sich das Arbeiten für ihn nicht lohnt. Wenn die Arbeitslo- senunterstützung oder die Sozialhilfe fast soviel bringt wie ein niedriges Gehalt nach Steuern und Sozialabgaben, fehlt der Anreiz, wieder in den Beruf einzu- steigen. SPIEGEL: Die Schweden haben die Un- terstützung für Arbeitslose um mehr als zehn Prozent gesenkt. Sollen die Deut- schen dem nacheifern? Henkel: Bei uns sind die Verhältnisse an- ders. Aber die Richtung stimmt. Schwe- den und auch Holland sind gute Beispie- le dafür, wie schnell Gesellschaften auf veränderte Rahmenbedingungen reagie-

ren können. Sie haben schnell gehandelt F. DARCHINGER und sind wegen ihrer gesunkenen Lohn- kosten, Lohnzusatzkosten und Steuern Hans-Olaf Henkel heute wesentlich konkurrenzfähiger. SPIEGEL: Am liebsten würden Sie gab eigens einen respektablen Posten in Paris auf, um Präsident des Bundesver- offenbar das Adjektiv aus dem Be- bandes der Deutschen Industrie (BDI) zu werden: Henkel, 54, war bis Ende 1994 griff „soziale Marktwirtschaft“ strei- Europa-Chef des Computerherstellers IBM. Der gebürtige Hamburger hatte 1962 chen. bei IBM Deutschland begonnen und im Laufe seiner Karriere reichlich Auslands- Henkel: Wir haben die soziale Markt- erfahrungen gesammelt. Er wurde 1987 Chef der deutschen IBM. Henkel ist einer wirtschaft im Sinne Ludwig Erhards ver- der wenigen deutschen Spitzenmanager, die problemlos mit einem Computer lottern lassen. Wir müssen uns darauf be- umgehen können. sinnen, daß die soziale Marktwirtschaft, wenn sie sich an die Regeln hält, an sich schon moralisch ist. Ihr moralischer mehr Beschäftigung sehen. Es gibt ei- zwei Millionen Menschen Tele-Arbeits- Wert muß nicht dadurch bewiesen wer- nen Bedarf an Arbeitskräften, die einfa- plätze – in Deutschland nur wenige hun- den, daß wir immer neue Sozialleistun- che, gering bezahlte Jobs erledigen – dert. Wir müssen den Wandel zur Infor- gen einführen. Daran sollten wir den- sonst gäbe es in Deutschland weniger mationsgesellschaft noch schaffen. ken, wenn bei den Tarifverhandlungen Schwarzarbeit. Aber wir sollten uns auf SPIEGEL: Was verstehen Sie darunter? wieder von der sozialen Komponente die die anspruchsvolleren Arbeitsplätze in Henkel: In der Industrie des 20. Jahr- Rede ist – wenn also Extra-Zulagen für der Industrie und im Dienstleistungsbe- hunderts war es bislang entscheidend, Geringverdienende gefordert werden. reich konzentrieren. über die Produktionsfaktoren Arbeit, Die überzogene soziale Komponente ko- SPIEGEL: Wo könnten denn in Zukunft Kapital und Boden zu verfügen. Für die stet Arbeitsplätze. neue Jobs entstehen? Zukunft müssen wir lernen, die Infor- SPIEGEL: Wollen Sie die Massenarbeits- Henkel: Gemessen an den amerikani- mation als vierten Produktionsfaktor zu losigkeit in Deutschland vorwiegend schen oder englischen Erfahrungen – wo benutzen. Künftig wird im Wettbewerb durch Sozialabbau bekämpfen? die Arbeitslosigkeit seit Jahren sinkt –, zunehmend derjenige vorn liegen, der Henkel: Dumm Tüch*. Die Arbeitsplät- könnten in Deutschland Millionen zu- sich am schnellsten Informationen ver- ze der Zukunft werden natürlich nicht sätzliche Arbeitsplätze allein im Dienst- schaffen und diese intelligent weiterlei- nur Niedriglohnjobs sein, und wir sollten leistungsbereich entstehen. Viele davon ten und nutzen kann. Dafür sind die dort auch nicht die größten Chancen für entstehen nur im Windschatten der In- Rahmenbedingungen in Deutschland dustrie. Ungenutzte Chancen liegen noch zu schlecht. SPIEGEL: Wo klemmt es? Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteure auch im Multimedia-Bereich und in der Peter Bölke und Elisabeth Niejahr. besseren Nutzung der Telekommunika- Henkel: Für private Anbieter im Tele- * Plattdeutsch für: Dummes Zeug. tion. In den USA haben heute schon kommunikationsbereich gibt es zuwenig

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Möglichkeiten, sich zu engagieren. Es Standort-Wettbewerb nach den gleichen entstehen zwar neue Freiräume, wenn Regeln abläuft wie die Konkurrenz zwi- 1998 das Netzmonopol der schen Unternehmen. Wenn wir uns Telekom fällt. Doch es gibt keinen nicht verbessern und gleichzeitig die an- Grund, so lange zu warten. Bonn hat deren weiter aufholen, dann fallen wir – mit der Liberalisierung dieser Märkte relativ gesehen – zurück. schon zu lange gezögert. Und jetzt SPIEGEL: Sind die Unternehmen an der hat die Bundesregierung in den Auf- Erstarrung der Gesellschaft nicht mit sichtsrat der Telekom nicht nur etli- schuld? che Politiker geschickt, sondern auch Henkel: Die deutsche Industrie ist nicht noch einen Regulierungsrat etabliert, erstarrt, im Gegenteil. Sie hat in den der mit 32 Vertretern aus Bundestag vergangenen 18 Monaten Hervorragen- und Bundesländern nicht von vorn- des geleistet und in vielen Bereichen herein für schnelle Entscheidungen den Anschluß an die internationale bürgt. Konkurrenz wiedergefunden. Teilweise SPIEGEL: Meinen Sie solche Entschei- ist das nur durch dramatisches Abspek- dungen mit Ihren Klagen über den ken gelungen. Auch der BDI hat heute „Friedhof der gescheiterten Reformpro- 20 Prozent weniger Personal als noch jekte“, der in Deutschland angeblich im- vor drei Jahren. mer größer wird? SPIEGEL: Sparen allein reicht nicht. Die Henkel: Was heißt hier angeblich? Da deutsche Industrie verdient einen Groß- ruhen in Frieden auch noch einige ande- teil ihres Geldes mit klassischen Produk- re Reformen. Ich erinnere an das La- ten, auf vielen Zukunftsmärkten ist sie denschlußgesetz, dessen Reform in die- nicht vertreten. C. SCHULZ / PAPARAZZI Telekom-Angestellter in Berlin „Bonn hat mit der Liberalisierung der Märkte schon zu lange gezögert“

se Legislaturperiode verschoben wurde, Henkel: In der Tendenz haben Sie recht. und an das Rabattgesetz. Wir warten Nur 14 Prozent unserer Exporte sind noch auf die versprochene große Unter- High-Tech-Produkte. Aber auch das nehmensteuerreform und eine vernünf- liegt letztlich an den Standortbedingun- tige Gegenfinanzierung zur Pflegeversi- gen. Die Deutschen haben ja nicht cherung, ganz zu schweigen von der plötzlich das Erfinden vergessen. Wenn Neuorganisation der Hochschulen und ein deutscher Ingenieur pro Jahr drei dem Versprechen von weniger Bürokra- Monate weniger arbeitet als sein japani- tie. Wir schieben das alles seit Jahren scher Kollege, dann dürfen wir uns doch vor uns her. nicht wundern, daß es bei uns länger SPIEGEL: Ist die deutsche Gesellschaft dauert, ein neues Produkt zu entwik- zur Reform unfähig? keln. Henkel: Ich glaube, Sie ist sich der Ge- SPIEGEL: Soll der Staat die deutsche In- fahr, die von anderen Industrie-Stand- dustrie bei Auslandsgeschäften und in- orten ausgeht, nicht richtig bewußt. Es ternationalen Ausschreibungen stärker herrscht überall noch das Gefühl vor, unterstützen ? daß es uns eigentlich gutgeht. Das mag Henkel: Die deutschen Botschaften und für den einzelnen auch stimmen. Aber Konsulate könnten sicher stärker hel- dabei wird häufig übersehen, daß der fen, deutschen Mittelständlern im Aus-

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WIRTSCHAFT

land die Türen zu öffnen. Da ist im ver- gangenen Jahr schon einiges geschehen. Ich bin allerdings gegen eine generelle finanzielle Exportförderung – auch wenn das von anderen Industrieländern noch praktiziert wird und uns Schwierig- keiten macht. Das würde den internatio- nalen Subventionswettlauf nur be- schleunigen. SPIEGEL: Was erwarten Sie von der Po- litik, damit Deutschlands Industrie im internationalen Wettbewerb mithalten kann? Henkel: Zunächst einmal das, was sie versprochen hat. Dazu gehört die Re- form der Gewerbesteuer, also die Ab- schaffung der Gewerbekapitalsteuer und die Halbierung der Gewerbeertrag- steuer, was vor allem für den Mittel-

stand wichtig ist. Und wir wollen eine D. KONNERTH / LICHTBLICK Senkung der Staatsquote und echte Ein- Arbeitslose in Leipzig sparungen. Das Ziel, die Personalausga- ben des Bundes um ein Prozent pro Jahr „Wir müssen aufhören, immer nur an den zu senken, ist jedenfalls lächerlich. Hät- Symptomen herumzudoktern“ te die deutsche Industrie so reagiert, wä- re sie heute pleite. SPIEGEL: Mit solchen Forderungen ma- Geld hätte ja auch für Steuersenkungen überschritten. Neue Belastungen kom- chen Sie sich nicht besonders beliebt bei verwendet werden können. Wir haben men grundsätzlich für uns nicht in Fra- den Politikern. diese Entscheidung aber mitgetragen. ge. Etwas völlig anderes wären echte Henkel: Die Damen und Herren, die ich SPIEGEL: Das ist alles? ökologische Akzente im Steuersystem. in der Politik kenne, schätzen ein offe- Henkel: Viele Unternehmer haben in SPIEGEL: Da sperren Sie sich nicht? nes Wort. der Vergangenheit Arbeitsplätze ins Henkel: Den Grundgedanken halte ich SPIEGEL: Dazu gehört offenbar auch Ausland verlagert, weil die Produkti- für richtig. Es müssen aber zwei Bedin- SPD-Chef Rudolf Scharping, der Sie onskosten in Deutschland zu hoch sind. gungen erfüllt sein: Reformen dürfen gern für seinen neuen Wirtschaftsrat ge- Wenn bei uns die Steuerlast sinkt, die nicht dazu benutzt werden, einfach neue winnen möchte. Machen Sie mit? Arbeitskosten stabil bleiben und wir Steuern zu kassieren. Und wir müssen Henkel: Herr Scharping hat mich darauf endlich Freiräume durch Deregulierung die Steuern im Gleichschritt mit ande- nicht angesprochen. Aber wir kennen schaffen, dann werden die Unterneh- ren Industrieländern einführen. Sonst uns schon länger und sind ohnehin im men auch wieder mehr neue Arbeits- exportieren die Deutschen nicht nur Gespräch. plätze schaffen können. noch mehr Arbeitsplätze, sondern das SPIEGEL: Sie haben gerade an einer grö- SPIEGEL: Bei der Kanzlerrunde wurde Ausland produziert auch mehr CO2. ßeren Runde mit dem Kanzler, Gewerk- vereinbart, daß Bundeswirtschaftsmini- SPIEGEL: Sie könnten ja bei der Interna- schaftern und anderen Wirtschaftsver- ster Rexrodt Branchen-Dialoge mode- tionalen Klimakonferenz Ende März in tretern teilgenommen. Hat Sie das opti- rieren soll. Brauchen wir eine staatliche Berlin dafür werben, daß der globale mistisch gestimmt? Industriepolitik? Umweltschutz vorankommt. Henkel: Ich bin mir da, ehrlich gesagt, Henkel: Wir brauchen keine Industrie- Henkel: Genau das habe ich vor. Ich noch nicht ganz sicher. Wir waren uns politik, sondern eine Politik für Arbeits- werde dort gemeinsam mit Umweltmini- einig über das Ziel, daß zusätzliche Ar- plätze in der Industrie. Die Branchen- sterin Merkel auftreten und dabei unter beitsplätze entstehen müssen. Das Ge- dialoge sind trotzdem einen Versuch anderem das Thema Energiesteuer an- spräch fand in einer überraschend offe- wert. Nur sollten die Teilnehmer dabei sprechen, allerdings immer unter der nen Atmosphäre statt, und wir haben nicht um Subventionen rangeln, son- Überschrift „Kein nationaler Allein- uns ja über ein Programm für Langzeit- dern darüber sprechen, wie wir mit bes- gang“. arbeitslose verständigt. Das ist schon seren Rahmenbedingungen neue Ar- SPIEGEL: Die deutsche Industrie leistet mal was. Aber wir müssen aufhören, im- beitsplätze schaffen können. Dafür sich außer dem BDI noch zwei andere mer nur an den Symptomen herumzu- brauchen wir im übrigen auch branchen- große Dachverbände, den Deutschen doktern. Wir müssen endlich Vorausset- übergreifende Dialoge, in denen über Industrie- und Handelstag und die Bun- zungen für neue rentable, nicht vom Themen wie die Zukunft der Informati- desvereinigung der Deutschen Arbeit- Staat finanzierte Arbeitsplätze schaffen. onsgesellschaft oder über Umweltschutz geberverbände. Alle drei haben ähnli- SPIEGEL: Der Beschäftigungspakt kann gesprochen wird. che Ziele. Wozu brauchen wir den BDI? nur funktionieren, wenn alle Beteiligten SPIEGEL: Sie interessieren sich schon Henkel: Die Industrie ist so wichtig für Zugeständnisse machen. Was bringt die länger für Umweltfragen, 1992 wurden Deutschland, daß ein Verband aus- Industrie ein? Sie zum Ökomanager des Jahres gekürt. schließlich deren Sicht vertreten sollte. Henkel: Schon in der ersten Runde ha- Trotzdem sind Sie strikt dagegen, Das tut nur der BDI. Meine persönliche ben wir ja dem Programm für Langzeit- den verfassungswidrigen Kohlepfennig Aufgabe sehe ich darin, die Reformbe- arbeitslose zugestimmt . . . durch eine Energiesteuer zu ersetzen. reitschaft in Deutschland in Gang zu SPIEGEL: . . . das der Staat finanzieren Kommt Ihre Forderung durch, wird bringen. Wir reden schon zu lange von soll. Strom künftig billiger – ein schlechtes Reformen – und es passiert viel zuwe- Henkel: Wer ist denn der Staat? Die Signal für die Umwelt. nig. höchste Steuerlast in Deutschland tra- Henkel: Wir haben bei der Steuer- und SPIEGEL: Herr Henkel, wir danken Ih- gen nun mal die Unternehmen. Das Abgabenlast die Schmerzgrenze längst nen für dieses Gespräch. Y

DER SPIEGEL 6/1995 99 Werbeseite

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am Ende dürfte wohl wieder das Verfas- Die Hamburger Anwältin Gisela Wild Steuern sungsgericht bemüht werden. focht diesen Streit bis zum Verfassungs- Schon 1990 erlaubte die Koalition, gericht aus. Sie unterlag. Die Karlsruher das Gehalt für eine Haushaltshilfe bis zu Richter befanden, die Kinderbetreuung 12 000 Mark pro Jahr steuerlich abzuzie- sei reine Privatsache, die Kosten seien Reine hen. Die Begünstigung war begrenzt auf deshalb nicht absetzungsfähig. Ehepaare mit zwei Kindern unter zehn Diese Rechtsprechung per Gesetz zu Jahren oder Alleinerziehende mit einem korrigieren, um Frauen die Berufsarbeit Privatsache Sprößling. Ziel war es, mit steuerrechtli- zu ermöglichen, hätte Sinn gemacht. chen Mitteln Arbeitsplätze zu schaffen. Dann hätten allerdings nicht nur die Ge- Haushaltshilfen sollen künftig steu- Von 100 000 neuen Jobs sprach voll- hälter von Haushaltshilfen, sondern erlich absetzbar sein – ein rechtlich mundig FDP-Fraktionschef Hermann auch die Kosten für stundenweise Be- Otto Solms. treuung in Kindergärten und Kinderhor- fragwürdiges Vorhaben. Die Bundesanstalt für Arbeit meldete ten beim Fiskus zählen müssen – solange 1992 allerdings nur wenig mehr „haus- sie eine Erwerbstätigkeit beider Ehe- er Kölner Steuerrechtler Joachim wirtschaftlich tätige Arbeitnehmer“ als partner ermöglichten. Lang wagte eine Prognose über 1990. Wie viele davon in Privathaushal- Den steuerrechtlich begründbaren Dden Gesetzgebungsjahrgang 1995. ten arbeiten, weiß niemand. Weg aber vermied die Koalition sorgfäl- „Einiges deutet darauf hin“, mokierte Der Mißerfolg war zu erwarten, der tig, er wäre zu teuer geworden. Nach- sich der Experte, „daß die Zukunft den Betrag war zu niedrig. Für den hauswirt- dem sich der erste Versuch, Haushalts- kreativen Chaoten gehört.“ schaftlichen Arbeitgeber rechnete sich hilfen ins Steuerrecht einzuführen, als Das Jahr war gerade fünf Wochen alt, das legale Arbeitsverhältnis erst bei Ein- nahezu wirkungslos erwiesen hatte, will da erfüllte sich die Prophezeiung des kommen von über 80 000 Mark im Jahr, es Finanzminister Theo Waigel nun mit Professors. „Kindermädchen, Köche für den Arbeitnehmer, der bislang einer großzügigeren Regelung versu- und Gärtner“ müßten steuerlich geltend schwarz verdient hatte, brachte die neue chen – wenn auch nicht ganz so hem- mungslos wie Blüm. Der Abzugsbetrag wird auf 18 000 Mark erhöht, als Vor- Der Staat hilft mit aussetzung genügt ein Kind unter 18 Auswirkungen des Dienstmädchenprivilegs; in Mark pro Jahr Jahren. 10 000 neue Stellen muß Waigel unter diesen Bedingungen mit 50 Millio- ARBEITGEBER ARBEITNEHMER (Haushaltshilfe) nen Mark Steuerausfall bezahlen, eine Million Jobs würden danach fünf Milli- Arbeitslohn für Haushaltshilfe 15 050 Arbeitslohn 15 050 arden kosten. Die Fachleute des Finanzministeri- Sozialversicherungsbeiträge 2935 Sozialversicherungsbeiträge 2935 ums schätzen die jobschöpfende Kraft des erweiterten Dienstmädchenprivilegs Lohnsteuer 2668 realistischer ein. Sie rechnen mit nur 280 (Steuerklasse V) Gesamtkosten 17 985 Millionen Mark Steuerausfall, also gera- von der Steuer absetzbar de mal 56 000 neuen Stellen. (Maximum 18 000) Mit der Erwerbstätigkeit hat die neue Steuerersparnis 8460 Steuervergünstigung nichts mehr zu tun. bei steuerpflichtigem Einkommen Sie ist steuerrechtlich eine neue Subven- des Arbeitgebers von 120 000 tion und – nach dem Urteil des Experten (verheiratet, Doppelverdiener, ein Kind) Lang – eine verfassungswidrige oben- drein. Der Abzug vom zu versteuernden Nettoaufwendung 9525 Nettolohn 9447 des Arbeitgebers Einkommen wirke so, daß der Subventi- onsempfänger mit dem höchsten Ein- kommen mehr profitiere als der mit ei- gemacht werden dürfen, forderte Sozial- Regelung auf den ersten Blick ohnehin nem geringeren Salär. Es werde nach minister Norbert Blüm den Vollzug ei- nur Nachteile. dem Motto gehandelt: Wer die staatli- ner entsprechenden Koalitionsvereinba- Schon dieses eingegrenzte Steuerpri- che Hilfe am wenigsten braucht, kriegt rung. vileg war rechtlich umstritten. Das deut- besonders viel. Lang sieht darin einen „Ich sehe nicht ein, wieso jemand, der sche Steuerrecht unterscheidet zwischen „Verstoß gegen das Gleichheitsgebot in der Küche einer Kantine arbeitet, an- Privatsphäre und Erwerbssphäre. Alle des Grundgesetzes“. ders behandelt werden soll als jemand, Ausgaben, die dazu dienen, ein Ein- Und warum sollte sich der Chef vom der in einer Küche eines Haushalts ar- kommen zu erwirtschaften, können eigenen Fahrer am Feierabend steuer- beitet“, begründet Blüm die teure Ge- steuerlich als Werbungskosten oder Be- sparend vom Luxusrestaurant zur Edel- setzesnovelle. triebsausgaben geltend gemacht wer- diskothek kutschieren lassen dürfen, FDP-Generalsekretär Guido Wester- den, privater Konsum bis auf wenige wenn der Hilfsarbeiter die Taxifahrt von welle prognostiziert 700 000 bis eine Ausnahmen jedoch nicht. der Kneipe nach Haus aus versteuertem Million neue Arbeitsplätze. Von einem Eine Hilfe für die Hausarbeit zählte Stundenlohn bezahlen muß? Das wäre „Dienstmädchenprivileg“ zu sprechen, bis 1990 für den Fiskus zum privaten juristisch kaum haltbar. kanzelt der Liberale Kritiker des Vorha- Konsum. Eine Chance, diese Ausgaben Beschränken die Koalitionäre aber bens ab, „sei eine Milchmädchenrech- von der Steuer abzusetzen, ließ sich die Steuervorteile auf Vollzeitjobs in nung“. höchstens damit begründen, daß ohne gutsituierten Haushalten, werden sich Ob allerdings Westerwelles Rechnung die Kinderbetreuung durch eine Ange- die Benachteiligten wohl beim Verfas- aufgeht, ist fraglich. Sicher ist nur: Die stellte die Berufstätigkeit beider Ehe- sungsgericht wehren. „Jede ungerechte Finanzämter müssen sich auf neue kom- partner unmöglich wäre. Dann müßte Subvention“, prophezeit Lang, „provo- plizierte Paragraphen einstellen – und der Lohn als Werbungskosten gelten. ziert Verfassungsbeschwerden.“ Y

102 DER SPIEGEL 6/1995 Werbeseite

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fristete Arbeitsverträge zu unter- schreiben, Politik der Gewerk- schaften sei. Da hat sie recht: Befristete Ar- beitsverträge waren tabu – in der Theorie jedenfalls, in der Praxis aber längst nicht mehr. Kaum ein Betriebsrat würde seine Unter- schrift verweigern, wenn – statt zu- sätzlicher Überstunden – befristet neue Leute eingestellt würden. Laufen die Geschäfte weiter gut, werden die Verträge aller Erfah- rung nach in unbefristete umge- wandelt, sackt die Konjunktur wie- der, ersparen sich auch die Be- triebsräte die Entlassungen. Das ist seit Jahren so, und Schul- te, der Gesamtbetriebsratsvorsit- zender beim Stahlkonzern Thyssen war, kennt die Praxis. Er weiß ge- nau, wie wenig sich die gewerk- schaftliche Theorie mit der betrieb- lichen Praxis noch deckt. Das will und soll der DGB-Chef ändern. Schulte rüttelt mit Bedacht

DPA an Tabus wie Arbeitszeitverkür- DGB-Chef Schulte, Stellvertreterin Engelen-Kefer: Dissens an der Spitze zung ohne Lohnausgleich, Sams- tagsarbeit oder Zeitverträge. Der mit den Arbeitgebern auch über die neue Mann ist angetreten, um verkru- Gewerkschaften Viertagewoche ohne vollen Lohnaus- stete Positionen aufzuweichen. Die Spit- gleich und den arbeitsfreien Samstag zu zen der großen Gewerkschaften hat er verhandeln. Der Ärger war gerade ver- hinter sich. raucht, da präsentierte der DGB-Chef Hans Terbrack, IG-Chemie-Vor- Rütteln eine neue Idee: Am vergangenen Don- stand, unterstützte den geschlagenen nerstag forderte er die Unternehmer DGB-Chef demonstrativ: „Wir müssen auf, mehr Menschen mit befristeten Ar- neue Wege gehen und alte Strukturen an Tabus beitsverträgen Jobs zu verschaffen. Wie- aufgeben.“ Intern lobte auch IG-Metall- der bezog er Prügel. Chef Klaus Zwickel den ehemaligen Kaum präsentiert DGB-Chef Dieter „Der DGB-Vorsitzende trägt mit die- Vorstandskollegen. Warum, fragte er Schulte eine neue Idee, fallen die ser Position dazu bei, daß die Hire-and- die eigenen Leute, solle Schulte nicht fire-Mentalität der Amerikaner hoffähig seine Meinung sagen? eigenen Leute über ihn her. wird“, schimpfte der norddeutsche IG- Endlich, so frohlocken die heimlichen Metall-Bezirksleiter Frank Teichmüller Neuerer, sei da einer, der sich öffne und enn sich früher ein führender in einer prompt verschickten Mitteilung etwas in Bewegung bringe, endlich spie- Gewerkschafter öffentlich zu an die Presse. le einer in der öffentlichen Diskussion WWort meldete, hielten Funktio- Der stellvertretende IG-Metall-Chef eine Rolle. näre aus dem Unternehmerlager dage- Walter Riester distanzierte sich im Mor- Doch der Grat, auf dem sich Schulte gen – so war es immer, so war die Welt genradio von Schultes jüngstem Vor- bewegt, ist schmal. Öffentlichkeit ist in Ordnung. schlag; DGB-Vize-Chefin und Sozialex- sein einziges Instrument, Macht hat der Wenn sich Dieter Schulte, seit ver- pertin Ursula Engelen-Kefer fuhr ihrem Chef des Dachverbandes der 16 Einzel- gangenem Juni Chef des Deutschen Ge- Vorsitzenden in einem Gegen-Interview gewerkschaften nicht. Veraltete Positio- werkschaftsbundes (DGB), zu Wort in die Parade: „Befristete Einstellungen nen soll er einreißen, aber die Mitglie- meldet, halten die Funk- machen keinen arbeits- der in den einzelnen Gewerkschaften tionäre aus den eigenen marktpolitischen Sinn.“ nicht verärgern. Neue, pragmatische Reihen öffentlich dage- So haben sich die stets Wege soll er öffnen, aber die laufende gen. Das ist neu. auf Geschlossenheit be- und komplizierte Tarifrunde in der Me- Ob Viertagewoche dachten Gewerkschafter tallbranche nicht stören. ohne vollen Lohnaus- öffentlich noch nie über- Offen können sich deshalb die IG- gleich, Samstagsarbeit einander hergemacht. Metall-Führer nicht neben ihren Ex- oder – der neueste Vor- Immer nur Ärger mit Kollegen stellen. Schulte möge sich, bat schlag – befristete Ar- Schulte? die Gewerkschaftsführung, doch tun- beitsverträge: Was auch „Mir geht es darum, lichst von der sensiblen Tarifpolitik immer Schulte zur Dis- daß wir nicht ins Schleu- fernhalten. kussion stellt, wird von dern geraten“, verteidigt „Was wollen wir denn nun“, formu- seinen eigenen Leuten Engelen-Kefer ihre Kri- liert ein IG-Metall-Mann das Dilemma, zerfetzt. tik. Ihr sei nicht be- „einen Kasper, der nur die Entschlüsse „Windei“ nannten kannt, sagt sie, daß der Einzelgewerkschaften nachbetet,

führende Gewerkschaf- J. EIS Schultes Appell an die oder einen DGB-Chef, der nach- ter Schultes Vorschlag, IG-Metall-Chef Zwickel Unternehmen, mehr be- denkt?“ Y

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Umwelt „Wir leben im Schweinestall“ In Korea wird das trinkbare Wasser knapp, in Taiwan erschwert die verdreckte Luft das Atmen: Für ein dramatisches wirtschaftliches Wachstum zahlen die alten und jungen Tigerstaaten Asiens einen hohen Preis. Eine rücksichtslose Industriepolitik hat Wohlstand geschaffen, aber die Lebensqualität dramatisch verändert.

tumsfetisch Sturm. Es mag zu spät sein. Das vielgepriesene ökonomische Wunder in Fernost hat ein ökologisches Desaster und deformierte Sozialord- nungen von bisher nicht gekannten Ausmaßen hinterlassen. „Jetzt müssen unsere Politiker erkennen, daß wir uns mit dem vielen Geld nur noch teure Särge kaufen können“, sagt Bauer Chian Jen-yuan. An der Katastrophe trägt auch der Westen Mitschuld. Westliche Unter- nehmer nutzen seit Jahrzehnten die billigen Löhne in Fernost, um ihre Fa- briken wegen der strengen Umwelt-

BRADSHAW / SABA gesetzgebung im eigenen Land auszu- lagern.

FOTOS: A. Westeuropäische und amerikanische Luftverpestung in Südkorea: „Wir wollten Freiheit . . . Wissenschaftler schwärmten von den Leistungen der asiatischen Staaten, Po- ie Attacke auf das Gesellschaftssy- Kuo-long, Vorsitzender der Union für litiker bewunderten die stramme Füh- stem lief über den einstigen Regie- Umweltschutz in Taiwan. „Umwelt- rung. Die frühere britische Premiermi- Drungssender. „Herr Minister, war- schutz wurde gleichgestellt mit Propa- nisterin Margaret Thatcher, als Gast- um machen Sie unser Land kaputt?“ ganda für den Feind.“ rednerin von Banken und Regierungen brüllte Bauer Chian zur besten Sende- Doch jetzt dürfen sich die Bürger rüh- unterwegs, lobte in Taiwan unlängst: zeit dem taiwanischen Minister für Er- ren. Immer mehr Umweltgruppen, neu- „Hier ist wirklicher Thatcherismus.“ ziehung und Sport entgegen. „Essen Sie gegründete Parteien und selbst reumüti- In Asien scheint der Kapitalismus zu vielleicht keinen Reis mehr, verprassen ge Politiker in den fernöstlichen Schwel- zeigen, was er wirklich leisten kann. Sie Ihr vieles Geld nur noch beim lenländern laufen gegen den Wachs- Die Mehrzahl der Tigerländer kämpfte Golf?“ Dem Bauersmann aus der Stadt Hsin- chu im Nordwesten Taiwans perlten vor laufenden Kameras Tränen über die braungegerbten Backen. Verlegen stammelte der Amtschef hinter seiner Goldrandbrille hervor: „Mir bleibt doch keine Wahl, die Gesellschaft verlangt nach Fortschritt.“ Immer öfter müssen Politiker in den allmählich zu Demokratien gewandelten ostasiatischen Ländern auf ähnliche Art Abbitte für schwere Vergehen gegen die Umwelt leisten. Rasches Wirtschafts- wachstum ist nicht mehr das einzige Kri- terium für gesellschaftlichen Fortschritt. Steigender Wohlstand im brutalen Kapitalismus von Südkorea, Taiwan, Singapur und der britischen Kronkolo- nie Hongkong – den sogenannten Tiger- staaten – reicht nicht mehr als einziger Ausgleich für den Verlust an menschli- chen Lebensbedingungen. „Politische Unterdrückung sollte Sta- bilität garantieren, um Investoren abzu- sichern“, sagt Physikprofessor Chang . . . statt dessen bekamen wir Autos“: Müllhalde in Seoul

106 DER SPIEGEL 6/1995 gegen einen kommunistischen „Gegner“ und schlug ihn wirtschaftlich um Längen. Da der wirtschaftliche Erfolg den Patent- rezepten aus Seoul, Taipeh und Singapur recht zu geben schien, ziehen andere Staaten nach. Doch ist das Modell, das Taiwans Tschiang Kai-schek und der südkoreani- sche Diktator Park Chung Hee als erste erprobten, wirklich ein Vorbild für die Region? Selbst in den Vereinten Nationen wer- den Zweifel angesichts der Folgen laut. Die Weltorganisation, ansonsten nicht zimperlich, wenn es darum geht, Länder der Dritten Welt mit fragwürdigen Groß- projekten zu vermeintlichem Fortschritt zuführen, warnte vor dem „Umweltdesa- ster am Pazifik“. Das rücksichtslose Streben nach schnellem wirtschaftlichem Erfolg habe asiatische Städte zu einer Todesfalle ge- macht, warnte eine Studie der Weltge- sundheitsorganisation (WHO). Die sie- ben am meisten von Umweltverschmut- zung heimgesuchten Städte sind in den neuen und alten Schwellenländern Asiens zu finden. Im Jahre 2020, schätzt die Uno, wird die Hälfte der Bevölkerung Asiens in so- genannten Mega-Citys wohnen. Indone- siens Hauptstadt Jakarta, fürchtet der Minister für Bevölkerungsfragen und Umwelt, Emil Salim, „wird in einem Jahrhundert unbewohnbar sein“. In Thailands Hauptstadt Bangkok, einst für lotusbewachsene Kanäle und goldene Tempeldächer berühmt, ist der Autoverkehr zum Alptraum geworden. Umweltverschmutzung in Bangkok: Bleibende Gehirnschäden bei Kindern Die Durchschnittsgeschwindigkeit in der Rush-hour liegt im Zentrum bei vier ten, ging 1993 erstmals zurück. Die Schulkinder können beim Unterricht Stundenkilometern. Krebsrate stieg rapide an. die Fenster nicht mehr öffnen, weil ein Fahrer lassen sich Toiletten ins Auto „Wollen die Länder der Region se- gewissenloser Magistrat gleich 60 lär- einbauen, Kinder müssen um vier Uhr hen, wie es ihnen in 20 Jahren ergeht“, menden Steinbrüchen eine Abraumge- zur Schule aufbrechen, und Leben in der sagt der Bauer Chian Jen-yuan in der nehmigung erteilt hat. Soldaten in den Stadt wird zum Gesundheitsrisiko. Blei- Chemiestadt Hsinchu an Taiwans Nord- nahe liegenden Bergen tragen Gasmas- werte im Blut, die viermal höher als die westküste, „dann müssen sie nach Tai- ken, weil eine Chemiefirma hochgiftige US-Grenzwerte liegen, hinterlassen wan schauen.“ Abgase in die Umwelt abläßt. schon jetzt bleibende Ge- Ausgerechnet der Lu- hirnschäden bei vielen xussport Golf hat den Kindern. Reisbauern Chian in den „Ilha Formosa“ (wun- Märkte der Zukunft Ruin getrieben. Von ins- derschöne Insel) sollen gesamt 104 Golfplätzen Durchschnittliches Bruttoinlands- portugiesische Seefahrer jährliches Wirt- produkt der Wirtschaftswunderin- ausgerufen haben, als sie schaftswachstum pro Kopf sel entstehen 22 in Chians im 16. Jahrhundert Tai- von 1991 bis 1997* in Mark** Umgebung. Daß nur 4 wan entdeckten. Doch Süd- Plätze landesweit eine Ge- nach 40 Jahren ständigen china 10% 468 China korea nehmigung des zuständi- Wirtschaftswachstums (im gen Erziehungsministers Schnitt neun Prozent) südkorea 6,2% 10 592 Taiwan haben, stört die Investo- gleicht die Insel auf weiten ren nicht. Strecken eher einer Müll- taiwan 6,2% 15 463 Hongkong Wütend stapft der un- halde. tersetzte Mann durch die Die Lebenserwartung singapur 5,6% 24 537 Mondlandschaft, wo einst der 21 Millionen Taiwa- seine Felder waren. In ner, die mit mehr als hongkong 4,8% 23 960 Sichtweite seiner Bauern- 10 000 US-Dollar Brutto- Singapur kate reißen gewaltige Bag- sozialprodukt pro Kopf deutschland 2,5% 35 925 ger dröhnend Bäume aus, zum Vergleich schon mehr als manche *Prognose **Stand 1992 tragen Hügel ab und schla- EU-Länder erwirtschaf- gen tiefe Schneisen in den

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fruchtbaren Boden – alles ohne Bauge- Spiralen im Rückgrat, doppeltem Maul darauf, bis sie aufs Festland zurückkeh- nehmigung. und Buckel gingen Umweltgruppen vor ren können, um China zu verdrecken.“ „Das ist die Insel der Raffgier“, sagt den Abflußrohren von Atomanlagen ins Doch dort haben die kommunisti- Liu Wen-chao, 45. Der stämmige Tai- Netz. „Bei der jährlichen Inspektion“, schen Wirtschaftsplaner selbst schon waner lebte 15 Jahre in Regensburg. sagt der Physiker, „fangen wir beson- längst die Drecksarbeit geleistet. Vier Er demonstrierte in Wackersdorf und ders viel. Da ist das Meer nämlich voll Städte in China, dem neuen Super-Ti- Bonn für eine saubere Umwelt. Doch mit toten Fischen.“ ger, gehören zu den Top ten der am zu Hause hat den grünen Aktivisten Mindestens 400 Milliarden US-Dol- meisten verschmutzten Metropolen der die Verzweiflung gepackt: „Hier geht lar, schätzen Taiwans Umweltbehörden, Welt. Die Hauptstadt Peking gilt im in- es nur noch ums Überleben.“ würde die Beseitigung der Umweltschä- ternationalen Vergleich hinter Mexiko- Anfang 1994 rief Taiwan den Was- den kosten. Das wäre fast das Fünffache Stadt als Metropole mit der höchsten sernotstand aus. „Etwa 70 Prozent der des Devisenschatzes, auf den Taiwans Belastung an Schwefeldioxid und Wasservorräte sind ausgetrocknet“, be- Regierung immer mit Stolz verweist, Schwebestoffen. In der Hafenstadt richtet der Wissenschaftler Chang Kuo- wenn sie mit dem Erfolg des Wirt- Tianjin, Chinas drittgrößter Stadt, über- long von Taipehs Elite-Universität Tai- schaftswunders prahlt. trifft die Luftbelastung die Richtwerte tah. Das ist lebensbedrohend für eine Das wollen die Bürger inzwischen der WHO um mehr als das 100fache. Insel von der Größe Baden-Württem- auch in Asien nicht mehr hinnehmen. Das Wirtschaftswachstum des vergan- bergs, die nach Bangladesch das am Wenn früher Fabrikbesitzer Umweltauf- genen Jahrzehnts ging auch in China voll zu Lasten der Umwelt. Einem deutschen Wasch- mittelproduzenten, der in Tianjin mit einem Staatsbe- trieb ein Gemeinschaftsun- ternehmen errichtete, be- deuteten die Umweltbehör- den, daß die Wasserver- schmutzung des Betriebes den behördlich erlaubten Rahmen um das 800fache überschritten hatte. Doch Chinas ungeregel- tes Wachstum bedroht nicht nur die eigenen Bürger. Die Treibhausgifte aus Indu- strie- und Autoabgasen wir- ken bei einem Milliarden- volk weltweit. „Wenn China weiter wächst“, sagt der amerikanische Umwelt- experte Amory Lovins, „dann bedeutet das nicht

A. BRADSHAW / SABA nur eine Katastrophe für Chemiefabrik Taiwan: Die Insel in ein urbanes Inferno verwandelt das Land, sondern ein De- saster für die ganze Welt.“ dichtesten besiedelte Land der Erde lagen umgehen wollten, genügte es, lo- Die asiatische Öko-Katastrophe ha- ist. kale Beamte und Politiker zu bestechen. ben linke wie rechte Diktaturen zu ver- Der jahrzehntelange Raubbau schlägt Doch eine gut ausgebildete Mittel- antworten. In Südkorea etwa hat ein jetzt nicht nur auf Menschen zurück. schicht, die sich seit 1986 eine Demokra- Vierteljahrhundert Militärherrschaft ei- Was die staatlichen Wasserwerke aus tie erkämpfte, klagt ihr Recht auf saube- nen Kriegsschauplatz der Industriege- den Leitungen liefern, hat unlängst re Umwelt ein. schichte hinterlassen. selbst die Industrie beanstandet: Das „Modell Taiwan?“ Die Frage bringt „In den vergangenen drei Dekaden Trinkwasser ruiniere ihre Maschinen. Lin Jun-yi, den Vater der taiwanischen wurde hier Krieg gegen die Umwelt ge- Für Menschen sind 58 Prozent des aus Umweltschutzbewegung, immer noch in führt“, schrieb selbstkritisch die eng- den Wasserrohren sprudelnden Trink- Rage. „Wir leben hier in einem Schwei- lischsprachige Tageszeitung Korea He- wassers längst nicht mehr genießbar – es nestall“, sagt der Biologe. rald, in den Tagen der Diktatur eine ist mit Keimen, Pestiziden und Phospha- Der geborene Taiwaner macht für das Stimme der Herrschenden. ten verpestet. Rund 90 Prozent der Flüs- Umweltdesaster die „koloniale Politik Anlaß der späten Selbsterkenntnis: se sind mit Schwermetallen vergiftet. von Generalissimus Tschiang Kai- Im Januar vergangenen Jahres blieb ei- Auch ein Drittel der landwirtschaftli- schek“ und seiner Kuomintang verant- nem Viertel der 44 Millionen Südkorea- chen Nutzfläche der subtropischen Insel wortlich. Sie besetzten 1949 nach ihrer ner das Trinkwasser aus. „Hausfrauen ist zerstört. Abraum aus Giftküchen und Niederlage im chinesischen Bürgerkrieg drehten die Wasserhähne auf, und Phe- Dreckschleudern sowie Kunstdünger die damals noch grüne Insel. nolbrühe kam raus“, erzählt der Um- haben die Erde ruiniert. Die krude Mischung aus „konzepti- weltschützer Choi Yul. „Fabriken muß- Schlimmeres droht von den drei onsloser Wachstumseuphorie gepaart ten ihre Anlagen stillegen, weil das Atomkraftwerken, die Taiwan betreibt, mit weitverbreiteter Korruption“ habe Brauchwasser schlechtere Qualität hatte um seinen unersättlichen Hunger nach die Insel in ein „urbanes Inferno“ ver- als das Abwasser.“ Energie zu stillen. wandelt. Das sei „nie mehr rückgängig Südkoreas längster Fluß, der Nak- Als wären die Fotos selbst verstrahlt, zu machen“. tong, wurde vorübergehend als klinisch zieht Chang mit spitzen Fingern Rönt- „Die waren nie mit dem Herzen in tote Kloake abgeschrieben. Tiefschwarz genbilder aus einem Ordner. Fische mit Taiwan“, flucht Lin. „Sie warten nur und stinkend windet er sich in das Japa-

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WIRTSCHAFT H. KUBOTA / MAGNUM / FOCUS Ölindustrie in China: „Wenn China weiter wächst, bedeutet das ein Desaster für die ganze Welt“

nische Meer. Obwohl Tausende Betriebe ten. Wer öffentlich Zweifel an der Re- „Die blinde Übernahme eines westli- Abwasser ungeklärt in den Fluß geleitet gierungslosung „Wachstum an erster chen Kapitalismus“, sagt Gewerk- hatten, wurde daraus stets das Trinkwas- Stelle“ äußerte, konnte als Agent Nord- schaftsaktivist Rhee Suh-jo, ein ehema- ser für die Städte Kumi, Taegu und Pusan koreas bezichtigt werden und für Jahre liger Lehrer, „hat den Konfuzianismus entnommen. ins Gefängnis wandern. zur bloßen Ideologie der Arbeit und „Die Beamten sind korrupt, die herr- Das Militär plante mit den 30 führen- des gesellschaftlichen Egoismus degra- schende Klasse ist mit der Oligarchie ver- den Chaebols, den großen Mischkonzer- diert.“ Die Folge seien deformierte Fa- schwägert und verflochten“, sagt Choi nen, jeden Schritt der Wirtschaftsent- milien, verkorkste Kinder und eine Yul. „Und die Regierung hat stets dem wicklung. „Es war die erste funktionie- selbstsüchtige Konsumgesellschaft, die Wirtschaftswachstum die erste Priorität rende Planwirtschaft“, sagt Choi Peong- ihre kulturellen Besitzstände für Ver- eingeräumt.“ Ryo, Ökonom an der Nationalen Uni- brauchsgüter geopfert habe. Zweifellos bescherte das schnelle Er- versität in Seoul. „Das schuf riesige Po- „Wir wollten Freiheit“, sagt der Ge- folge. Vier Fünftel aller Südkoreaner tentiale für Korruption und Vetternwirt- werkschafter, „statt dessen bekamen sind der Armut entkommen undverfügen schaft.“ wir Autos.“ über einen fast europäischen Lebensstan- Die Familien der vier größten Chae- Freiheit? Da sind die industriell er- dard – doch mit absurden Folgen. bols, Hyundai, Samsung, Lucky Gold- folgreichen Asiaten kein Vorbild. Süd- Jedes Wochenende pilgern jetzt die korea und Taiwan sind unter Diktatu- Bürger einer der modernsten Wirt- ren groß geworden. In der britischen schaftsnationen Asiens in die Berge. In Aus den Wasserhähnen Kronkolonie Hongkong gibt es bis heu- Plastikflaschen schleppen sie Trinkwas- kam nur noch te kein vollständig frei gewähltes Parla- ser aus den letzten sauberen Bächen und ment. Brunnen nach Hause. eine Phenolbrühe Singapur wird seit der Staatsgrün- Gut 72 Prozent der Abwässer der 44 dung nur von einem Mann regiert. Ex- Millionen Einwohner, die auf einer Flä- star und Daewoo, erwirtschaften rund Ministerpräsident Lee Kuan Yew zieht che sogroß wieRheinland-Pfalz und Bay- die Hälfte des Bruttosozialprodukts von als „Senior-Minister“ auch 30 Jahre ern zusammengepfercht sind, fließen un- Südkorea. „Das Wirtschaftswunder ist nach der Staatsgründung noch alle Fä- geklärt in Flüsse und Meere. „Nur die der Prozeß der Konzentration des den. Den Untertanen geht es gut, die Umweltverschmutzung ging hier noch Reichtums in wenigen Händen“, meint meisten (80 Prozent) besitzen ein Haus schneller voran als das wirtschaftliche Choi. oder eine Eigentumswohnung. Wachstum“, resigniert Umweltschützer Von der Tradition Koreas ist nur noch Der Lebensstandard Singapurs ran- Choi. wenig erhalten. Die Hauptstadt Seoul giert in Asien an dritter Stelle hinter Nach drei Dekaden Industrialisierung, ist ein wüstes Betonmonster ohne Cha- Japan und Brunei. Doch unter den 81 hat sein Forschungsinstitut berechnet, rakter und Charme. Rund 40 Prozent Parlamentariern duldet Lee nur 4 Op- würde man bis zu 200 Jahren brauchen, der Bevölkerung Südkoreas leben auf positionelle – obwohl die Opposition um das Öko-Desaster zu beseitigen. einer Fläche so groß wie Hamburg. beim letzten Urnengang 41 Prozent al- Doch daran denkt noch kein Politiker. Acht Quadratmeter stehen jedem Bür- ler Stimmen errang. Das Modell Korea hatte einfache ger an Wohnfläche zur Verfügung. Ausbeutung der Menschen und Zer- Grundlagen. Ohne nennenswerte Roh- In den wenigen Parks beginnen die störung ihrer Umwelt sind die Folge stoffe, nur mit billigen Arbeitskräften Kiefern an saurem Regen zu verenden. des maßlosen Wachstums in den asiati- versorgt, lebte das Land von der Weiter- Radwege gibt es nicht, Straßenbäume schen Industriestaaten, die als Tiger verarbeitung. sind eine Ausnahme. Hochstraßen und vom Westen bestaunt werden. Und oh- Rohstoffe mußten eingeführt werden. Überführungen halten die verbliebenen ne massive politische Unterdrückung ist Umweltauflagen gab es keine, oder sie Altstadtviertel und Holzpaläste mit ih- das Wirtschaftswunder in Ostasien konnten mit Schmiergeldern umgangen ren geschwungenen Dächern wie in ei- nicht erklärbar. Die Tiger sind alle im werden. Gewerkschaften waren verbo- nem Spinnennetz gefangen. Käfig aufgewachsen. Y

112 DER SPIEGEL 6/1995 . MEDIEN

Fernsehen Pro Sieben auch bei der ame- Werbung rikanischen Zeichentrickse- Fred für rie „Tom & Jerry“ Unter- Bonner brecherwerbung. Nach An- die Familie gaben des Senders vergnügen Klimapflege Der Steinzeit-Kinderliebling sich deutlich mehr Erwachse- Die Berliner Morgenpost des Fred Feuerstein verhelfe dem ne als Kinder im Alter von 6 Axel Springer Verlags nutzte Film- und Serienkanal Pro bis 13 Jahren an den Car- bei der Suche nach Anzei- Sieben zu verbotenen Ein- toons. Die Marktanteile da- genkunden regierungsamtli- nahmen, monieren die deut- gegen zeigen ein anderes che Unterstützung. Die Zei- schen Medienwächter. Der Bild: Danach schaltet fast je- tung legte bei einer Rund- Sender unterbricht die Zei- des zweite Kind von 6 bis 13 sendung an Umwelttechnik- chentrickserie mit einem Jahren, das am späten Nach- Firmen ein Empfehlungs- Werbeblock. Das aber ist mittag vor dem Fernseher schreiben von Manfred H. laut Gesetz bei Kindersen- sitzt, „Tom & Jerry“ ein, bei Obländer, Vize-Abteilungs- dungen verboten. Der Ar- den Erwachsenen ist es hin- leiter im Bundespresseamt, beitskreis Werbung der Lan- gegen nicht einmal jeder bei. Der pries darin eine desmedienanstalten empfahl zehnte Zuschauer. Beilage des Blatts, die Ende daher, „gegen Pro Sieben tä- März vor der Berliner Uno-

tig zu werden“. Doch die zu- Presse BONN-SEQUENZ Klimakonferenz erscheint. ständige Unabhängige Lan- Seebacher-Brandt Das Amt würde eine „eige- desanstalt für das Rundfunk- Kontakt zum ne, ereignisbezogene Anzei- wesen in Schleswig-Holstein be Seebacher-Brandt im Auf- ge“ begrüßen, schrieb akzeptiert den Einwand des Landsmann sichtsrat als Vize-Chefredak- Obländer den Unternehmen, Senders, bei Fred Feuerstein Ende 1994 hatte Herausge- teurin der Welt empfohlen, ein solches Inserat könne handele es sich um eine Fa- ber Frank Schirrmacher die damit aber den Widerspruch „der im gemeinsamen Inter- milien- und nicht um eine Publizistin Brigitte Seeba- von Vorstandschef Jürgen esse liegenden Informations- Kindersendung. Mit dem cher-Brandt bei der Frank- Richter provoziert, verbrei- arbeit anläßlich des Klima- gleichen Argument schaltet furter Allgemeinen herausge- ten Springer-Mitarbeiter. Als gipfels zum Erfolg verhel- drängt, nun soll die Ausgleich solle sie nun Ko- fen“. Obländer hat seine Brandt-Witwe, 48, lumnistin werden. Theye will Hilfe den drei größten Berli- womöglich wieder ei- zu den „internen Vorgängen“ ner Abo-Zeitungen angebo- nen Autoren-Vertrag nichts sagen, Richter demen- ten (zum Beispiel nicht der erhalten: beim Axel tiert. Der Manager will die taz), doch die Berliner Zei- Springer Verlag, für Welt unter dem designierten tung etwa will nun nicht in die Zeitung Die Welt. Chefredakteur Thomas Löf- Staatsnähe gerückt werden. Die in Bremen aufge- felholz, 62, der noch Chef Geschädigt fühlt sich Andre- wachsene promovier- der liberalen Stuttgarter Zei- as Mietzsch, Geschäftsführer te Historikerin ist in tung ist, zur Mitte hin öffnen. der Zeitschrift Umwelttech- Kontakt mit Springer- In einem Richtungsstreit der nik Forum. Die „einseitige Aufsichtsrat Joachim Welt-Redaktion hatte Seeba- Werbeaktion“ des Presse- Theye, einem „Bre- cher-Brandt ihren Histori- amts sei, angesichts des mer Landsmann“, wie ker-Kollegen Rainer Zitel- scharfen Wettbewerbs auf sie sagt. Der Anwalt mann unterstützt, der als ei- dem Anzeigenmarkt, ein

PRO SIEBEN des Springer-Großak- ner der Vordenker der Neu- „beispielloser Mißbrauch“ Fred Feuerstein tionärs Leo Kirch ha- en Rechten gilt. einer öffentlichen Stellung.

HINTERGRUND Durchschnittliche Anzahl der Brutto-Werbeumsatz in Millionen Mark; Tägliche Dröhnung Zuhörer pro Tag; in Tausend, 1994 Januar bis Dezember 1994 Radioboom und Marktführer WDR 4 5132 Radio NRW 113,56 Sie spielen die Hitparaden-Titel, sagen monotone Radio Antenne Bayern 98,65 Nachrichten auf, lassen klassische Geigen schluch- NRW 4799 zen, oder sie quasseln, wie demnächst in Berlin, rund um die Uhr: Rund 180 Radiostationen ver- MDR 1 4544 SWF 3 85,32 breiten in Deutschland 230 Programme – fünfmal NDR 2 3601 Radio FFH 80,02 mehr als noch Mitte der achtziger Jahre. Damit erlösten die Sender 1994 netto über WDR 2 3551 NDR 2 76,94 1,1 Milliarden Mark – mit dem privaten Radio NRW aus Oberhausen, einem Zulieferbetrieb für Bayern 1 3396 WDR 2 71,14 44 Lokalradios, als Spitzenreiter. SWF 3 3373 Radio FFN 66,79 Die meisten Zuhörer bevorzugen noch öffentlich- Antenne rechtliche Programme, sie decken 60 Prozent des 3246 Bayern 3 57,41 Marktes ab. Im Schnitt hören die Deutschen täglich Bayern 162 Minuten Hörfunk, gerade bei Jugendlichen ist Bayern 3 2995 MDR life 55,08 das Medium populär. MDR life 2501 Quelle: Media-Analyse 1994, RSH 53,45 Nielsen S+P, Radio Media

DER SPIEGEL 6/1995 113 . LICHTBLICK S. SAUER / HIV-Infizierter Seyfarth, Freunde Marschner, de Bar: „Ich bin noch gesund genug, um ein Weilchen probezuliegen“

Sterben SAG LÄCHELND GOOD BYE Wartet am Lebensende der große Horror oder „die wichtigste aller menschlichen Erfahrungen“? Die offensive Selbst- darstellung der Aids-Kranken und die Kritik an der Apparatemedizin haben die Diskussion um einen Tod in Würde neu entfacht. Der US-Autor Sherwin B. Nuland behauptet, die Debatte sei „das große Thema der neunziger Jahre“.

um Weihnachtsfest bekam Napole- mungen für Urnen abgekommen: barocker Planungslust zu. „Ich verliere on Seyfarth ein enzianblaues Mö- „Urnen müssen in Berlin wie eine Erek- mein Leben“, sagt er, „aber ich will Zbelstück geschenkt, das er als deko- tion sein“, sagt Seyfarth, „stabil, doch nicht meine Gelassenheit verlieren.“ ratives Element in seiner Alt-Berliner leicht vergänglich.“ Seyfarths ebenso provokative wie lie- Vorderhauswohnung schon länger ein- Vor sechs Jahren hat der ehemalige benswerte Selbstdarstellung und seine geplant hatte. Postbeamte erfahren, daß er HIV-posi- Autobiographie „Schweine müssen Sein Domizil hat Seyfarth, 41, dem tiv ist, und seither geht er auf Sterben nackt sein“ haben ihn zum TV-Promi- die Lust an Leben und Lachen ins Ge- und Tod nicht bloß gefaßt, sondern mit nenten gemacht. „Ich muß aufpassen“, sicht geschrieben steht, ausstaffiert wie eine Gruft: schwarze Fußböden, Trau- Aufbahrung zu Hause: Der Tod gehört zum Leben erschleifen an den Wänden, es riecht nach Katzenklo und kaltem Rauch. Den Blick nach draußen versperrt eine dun- kelgraue Schmutzschicht auf den Fen- sterscheiben. Im Schlafzimmer, einst Zentrum der Lust, baumelt neben der Vinylmatratze eine Faustfick-Schaukel von der Decke. Hier steht das farbstarke neue Möbel, das Bestattungsunternehmerin Claudia Marschner ihrem aidskranken Freund geschenkt hat. Seyfarths Freude ist groß: „Ich bin noch gesund genug, um ein Weilchen probezuliegen.“ Von der Feuerbestattung ist der Le- derschwule wegen der Verfallsbestim- T. RAUPACH / ARGUS

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sagt er, „daß ich nicht zur Bundesleiche werde.“ Aidskranke wie Seyfarth, die über Jahre mit dem eigenen Sterben und dem Tod von Freunden leben, haben das Schweigen um den Tod durchbrochen; die Angst vor jenem Skandal, von dem der Schriftsteller Elias Canetti sagte, daß ihm von allem Schlechten in der Welt unser ganzer Haß gelten sollte. Versuche, der zeittypischen Verdrän-

gungssucht zu begegnen, hat es zwar NETZHAUT auch in den letzten Jahrzehnten immer mal wieder gegeben. Die beiden krebs- kranken Autoren Maxie Wander und

Peter Noll trugen durch sehr persönliche FOTOS: D. HOPPE / Schilderungen ihrer letzten Lebensmo- PR-Kampagne „Tod – find’ ich gut“: Lieber zum Empfang statt zur Beerdigung nate dazu bei, Empfindungen von Ster- benden besser zu verstehen. Meist jedoch nutzen Geschäftema- cher und Scharlatane das diffuse Inter- esse am Thema. Mit seinem Plädoyer für Euthanasie löste der australische Philosoph Peter Singer 1989 heftige Dis- kussionen und Proteste aus. Im vorver- gangenen Jahr entlarvte ein SPIEGEL- Artikel (8/1993) den Sterbehelfer Hans- Henning Atrott und seine Mitstreiter für den Zyankali-Tod als kriminelle Verei- nigung gewissenloser Giftboten. Mit den Hoffnungen auf ein beglük- kendes Jenseits machte Elisabeth Küb- ler-Ross Schlagzeilen und Millionen. Die Schweizer Ärztin, die 1969 mit In- terviews von Sterbenden begonnen hat- te, entwickelte sich zur Urmutter aller Grufties, die das Sterben als „Auftakt einer wunderbaren Reise“ feiert. Nun aber scheint es, als zwinge eine neue Krankheit die Menschen zu einer offensiveren Auseinandersetzung mit den letzten Dingen. Mit Aids hat der gen dort, räumt die Bundesärztekam- Der Tod wird nicht mehr hingenom- Tod eine andere Generation erreicht: mer ein, seien zumeist „menschenun- men, sondern mit aller Gewalt, mit allen Nie zuvor sind in neuerer Zeit so viele würdig“. technischen und medikamentösen Mit- Menschen so jung an einer Krankheit Noch Anfang dieses Jahrhunderts wa- teln bekämpft – im Krankenhaus. gestorben. Ihr massenhaftes Leiden ren Tod und Sterben nahezu selbstver- Fehlerhafte, nichtfunktionierende zeigt die Grenzen der Medizin und be- ständlicher Teil des Alltags. Gestorben Menschen kann die Leistungsgesell- schäftigt seit Jahren auch all jene, die wurde zu Hause, Familienmitglieder schaft nicht gebrauchen. In ihrem Le- nicht zu Risikogruppen gehören. wuschen die Leiche, kleideten sie und benskonzept, in dem der Erfolgreiche Den Tod vor Augen, ohne Hoffnung bahrten sie auf. Schon Kinder gewöhn- dynamisch, gesund und möglichst schön auf Heilung, schließen sich Aidskranke ten sich an den Anblick und lernten, daß sein soll, ist der Tod ein Störfaktor. in Sterbegruppen zusammen. Und ihr der Tod zum Leben gehört. „Ausgerechnet jetzt muß Tante Erna mitunter amüsanter, zuweilen skurriler Doch je zuverlässiger die medizini- den Löffel abgeben. Ich würde lieber zu Kult um Bestattungsriten, frei nach der sche Wissenschaft Krankheiten zu hei- dem Empfang gehen statt zur Beerdi- Devise „Sag lächelnd good bye“, ist len vermochte, desto stärker wuchs der gung.“ Mit solchen Lästersprüchen will mehr als eine Modeerscheinung. Er of- Glaube an die Allmacht von Ärzten. der Düsseldorfer Werbedesigner Ans- fenbart zugleich einen Wandel im gesell- gar Werrelmann zum Nachdenken dar- schaftlichen Bewußtsein; einen neuen, über provozieren, welche Gefühle der angstfreien Umgang mit Sterben und Ich würde einen sterbenden Tod wirklich auslöst, seien es Abwehr, Tod. Freund oder Angehörigen... Überforderung, Verzweiflung oder Es wurde auch Zeit. Denn so, wie sich Wut. Für sein Examen hat der gelernte die Menschen ihr Ende wünschen, tre- ...zu Hause bis Modefotograf eine PR-Kampagne ent- ten in Wirklichkeit die wenigsten ab. zum Tode begleiten 76% worfen, Motto: „Tod – find’ ich gut“. 90 Prozent der Deutschen geben in Um- Eine normierte Pietät, die „in stiller fragen an, daß sie ihre letzte Lebenspha- ...einem Hospiz oder Trauer“ Millionen Menschen gleich und se am liebsten zu Hause verbringen wür- Krankenhaus übergeben 20% unpersönlich ins Jenseits schickt, er- den. Aber von den 900 000 Bundesbür- schwere den individuellen Abschied. gern, die jährlich sterben, siechen 70 An 100 fehlende Prozent: keine Angabe; Wie der aussehen könnte, zeigt der Prozent in Krankenhäusern dem Jen- Emnid-Umfrage für den SPIEGEL homosexuelle Matthew in der Filmko- seits entgegen. Die äußeren Bedingun- mödie „Vier Hochzeiten und ein Todes-

DER SPIEGEL 6/1995 115 Werbeseite

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fall“. In der Trauerrede für seinen Bestsellerlisten und die Das Museum ist Freund schimpft er, daß der begabte Popindustrie erreicht. Wie wollen Sie sterben? modern, lichtdurch- Hobbykoch das Rezept für seine „Ente Der Tod ist ein Mordsge- flutet, links im Ein- a` la Banana“ mit ins Grab genommen schäft. plötzlich, schnell, gang ein metallic- hat. Aber er rührt die Anwesenden auch In den USA setzen unvorbereitet 75% blauer Bestattungs- mit einem Liebesgedicht: „Er war mein TV-Prediger, Videopro- Chevrolet, wie aus Norden, mein Süden, mein Osten und duzenten und Heilsbrin- ganz bewußt, um dem Film „Harold Westen, mein Mittag und meine Mitter- ger aller Art mit der neu- Abschied nehmen und Maude“, rechts nacht. Ich dachte, diese Liebe dauert belebten Faszination an zu können 18% eine schwarzgold ewig – ich habe mich geirrt.“ Sterben, Tod und ewi- verzierte Beerdi- Auch die unterhaltsamste Nekroman- gem Leben Milliarden gungskutsche. Ein- tie hilft nicht darüber hinweg, daß Ster- Dollar um. Im New Yorker New Mu- trag ins Besucherbuch: „Ich fand es hier ben nun mal todtraurig ist. Selbst wer seum of Contemporary Art stellt der wirklich total geil.“ sich noch höchst lebendig mit dem Tod Performance-Künstler Bob Flanagan Der aktuelle Kult um Sterben und auseinandersetzt, verliert nicht unbe- seine tödliche Stoffwechselkrankheit Tod ist nicht nur eine morbide Marotte, dingt den Schrecken vor dem Ende. öffentlich zur Schau. „Der Prozeß wie sie Nekromantiker noch zu jedem Schwer zu sagen also, warum die Propa- des Sterbens“, sagt der 41jährige, „ist Jahrhundertende aufleben ließen; er gandisten einer neuen Sterbekultur so das endgültige dekonstruktive Kunst- wirkt sich auch da aus, wo wirklich ge- sicher sind, daß die Menschen besser le- werk.“ storben wird. Sterbende auszugrenzen ben (und sterben) können, wenn sie sich Auch in Europa beschäftigt sich ein und in Kliniken abzuschieben, wie es in ihrer Endlichkeit stets gewahr sind. breites Publikum, mal spielerisch, mal Deutschland in den vergangenen 50 Jah- Ist das Sinnieren über den großen ernst, mit dem Tod. Seit Monaten be- ren üblich war, wird zunehmend als in- schwarzen Block, der das Ende mar- wegt die Franzosen, mit welchem Mut human empfunden. Immerhin können kiert, nicht Energieverschwendung, sich ihr krebskranker Präsident Franc¸ois sich drei von vier SPIEGEL-Befragten raubt er nicht Leichtigkeit und Lebens- Mitterrand, der alle Chemotherapien vorstellen, einen schwerstkranken An- kraft? Ist der Tod, das „unentfliehbare abgebrochen hat, seinem nahen Lebens- gehörigen zu Hause bis zum Ende zu be- Geschick“ (Schiller), vielleicht mit ende stellt. In England können Bastler treuen. Fraglich ist, was von dieser Be- Recht eine Sperrzo- in Do-it-yourself-Kursen lernen, Särge reitschaft im Ernstfall übrigbleibt. ne? zu schreinern. Das Siechtum eines Kranken verlangt Möchten Sie als „Ich führe einen In Deutschland amüsieren sich Hun- den Angehörigen in einer seelisch bela- Sterbenskranker Kreuzzug, um den derttausende Kinobesucher über Doris stenden Situation viel ab. Wer traut es solange wie mög- Menschen zu sagen, Dörries Komödie „Keiner liebt mich“, sich zu, einem Schwerstkranken das be- lich am Leben sie werden leichter in der sich die lebensängstliche Fanny nötigte Medikament in die Bauchdecke gehalten werden? sterben, wenn sie ihr Fink in ein Skelett verliebt. Und bei Al- zu spritzen? Wer kann es sich leisten, Lebensende einkal- fred Biolek und anderen plaudern Talk- sein Haus rollstuhlgerecht umzubauen? JA 8% kulieren“, sagt der gäste locker über die finalen Dinge. Nicht jeder kann seine Arbeit mit dem Mediziner Sherwin Um mehr über Tod und Sterben zu Zeitaufwand vereinbaren, den eine in- B. Nuland. In seinem erfahren, gehen hessische Schüler auf tensive Pflege erfordert. Nicht jeder hält NEIN 92% Buch „Wie wir ster- eigenen Wunsch ins Kasseler Museum den Anblick eines nahestehenden Men- ben“, das den Na- für Sepulkralkultur. „Kinder und Ju- schen aus, der beispielsweise durch tional Book Award gendliche sind noch unbefangen und un- Krebstumore äußerlich entstellt ist. gewann, schildert der Amerikaner prä- sentimental“, sagt Schulpfarrerin Birgit Oftmals ziehen Kranke selbst die Si- zise den Tod durch Herzinfarkt, Krebs, Fiedler. „Sie sind froh, einen Ort zu ha- cherheit vor, die ihnen ein routinierter Aids und andere „apokalyptische Rei- ben, an dem sie ihre Neugier befriedi- Krankenhausbetrieb zu versprechen ter“ (siehe Gespräch Seite 121). gen können, ohne zu erschrecken.“ scheint. Dort werden sie wenigstens Seine kühle Darstellung rundum versorgt, hat sich in zehn Monaten wenn auch in kalter, einviertelmillionenmal ver- unpersönlicher At- kauft. Auch der überra- mosphäre. Zu Hau- schende Erfolg dieses Bu- se sind viele auf sich ches zeigt, wie viele Men- selbst angewiesen, schen inzwischen die Rou- womöglich nur von tine, mit der Tod und einem völlig überla- Trauer als lästige Unterbre- steten Zivildienstlei- chung hektischer Alltagsge- stenden unterstützt. schäfte abgewickelt wer- Damit der würdi- den, alskalt und falsch emp- ge Tod zu Hause finden. kein Vorrecht Rei- In einer Emnid-Umfrage cher bleibt, fördert für den SPIEGEL geben 75 Nordrhein-Westfa- Prozent der Befragten an, len ambulante Be- daß sie Tod und Sterben treuungsdienste; die nicht verdrängen wollen. Zahl von Hospizein- Schon von den 25- bis richtungen hat sich 29jährigen behaupten mehr dort in den letzten als die Hälfte, regelmäßig beiden Jahren von INTERNATIONAL über den eigenen Tod nach- 40 auf 119 fast ver- zudenken. dreifacht. „Eine Ge-

Das Thema hat, nicht nur BUENA VISTA sellschaft, die eine inDeutschland, Talkshows, Dörrie-Film „Keiner liebt mich“: „Ist der Tod mit Recht eine Sperrzone?“ solidarische Gesell-

118 DER SPIEGEL 6/1995 Werbeseite

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chisch aufbauen oder deren Leiden mit der richtigen Morphiumdosis erfolgreich bekämpfen können. Die abseitige Sor- ge, Menschen kurz vor dem Exitus wo- möglich drogenabhängig zu machen, hat dazu geführt, daß Deutschland im euro- päischen Vergleich der Schmerzthera- pien schlecht abschneidet. „70 bis 80 Prozent aller schmerzkranken Patien- ten“, sagt der hannoversche Sozialmedi- ziner und Sterbeforscher Johann-Chri- stoph Student, „werden hierzulande un- zureichend behandelt.“ Immerhin gibt es Anzeichen dafür, daß der Druck der Aids- und Krebs- kranken, unterstützt von den Medien, auch den Krankenhausbetrieb verän-

EINBERGER / ARGUM dert. So hat das Bonner Gesundheitsmi- Pfarrer Fürstenberger: „Im Tod darf man niemanden allein lassen“ nisterium in den vergangenen drei Jah- ren 18 sogenannte Palliativstationen ge- schaft sein will“, sagt der Düsseldorfer ge Leute“, sagt der Berliner Bestat- fördert, die ausschließlich für die Be- Gesundheitsminister Franz Müntefering tungsunternehmer Rolf-Peter Lange, dürfnisse von Schwerstkranken und (SPD), „muß sich dem Thema Sterbebe- „regeln bei uns inzwischen alles ganz ge- Sterbenden eingerichtet sind. Dort wer- gleitung stellen.“ nau, bis hin zur Verfügung ,Tante Mien- den ihre Schmerzen gelindert. Wenn es Stationäre Hospize, anfangs von Kir- chen soll nicht kommen‘.“ vertretbar ist, werden die Patienten me- chen und Gesundheitspolitikern als Nur da, wo am häufigsten gestorben dikamentös so versorgt, daß sie ihre „Stätten des organisierten Sterbens“ be- wird, in den Krankenhäusern, hat sich letzten Tage zu Hause erleben können. kämpft, werden inzwischen von der Be- die Tabuisierung von Sterben und Tod Auf der Palliativstation des Hambur- völkerung angenommen. 32 dieser Ein- am hartnäckigsten gehalten. Ärzte, die ger Allgemeinen Krankenhauses Barm- richtungen gibt es in Deutschland, vier- mit ihrer medizinischen Kunst am Ende bek kennen Ärzte und Pfleger detailge- mal mehr als noch 1990. Die Hälfte aller sind, fühlen sich als Versager und wer- treu die Lebensgeschichten ihrer jeweils SPIEGEL-Befragten können sich vor- ten den Tod als Betriebsunfall. acht Patienten. „Das wichtigste ist, daß stellen, in einem solchen Haus, von pro- In ihrem Studium lernen Mediziner wir jedem nach Möglichkeit auch unge- fessionellen Sterbebegleitern unter- nicht, wie sie hoffnungslos Kranke psy- wöhnliche Wünsche erfüllen“, sagt Sta- stützt, ihre letzten Wochen zu verbrin- tionschefin Sabine Willer, 35. gen. Eine alte Dame machten Mitarbeiter Im Münchner Christophorus-Hospiz glücklich, indem sie ihr kurz vor ihrem beispielsweise sind 95 Helfer ausschließ- Tod Dutzende von Liebesromanen vor- lich damit beschäftigt, Angehörigen bei- lasen. Im Garten der Klinik feierte ein zustehen, Pflegedienste und Hausärzte Angehöriger seine Hochzeit, damit sein bei der Schmerztherapie zu beraten und krebskranker Bruder Trauzeuge sein Seminare über Tod und Sterben auszu- konnte. Ein Brauereibesitzer wollte ein- richten. Wie die meisten Hospize finan- mal noch, nach 30 Jahren, seine Jugend- ziert sich auch der Münchner Dienst aus liebe sehen. Die Helfer der Station Spenden, Beiträgen der Kirchen und machten es möglich. Stiftungsgeldern. Für die Patienten ist Integriert in die Rundumbetreuung die Betreuung kostenlos. werden Freunde, Partner, Familienmit- Hausärzte jedoch, die sich, wie der glieder. Hiltrud Hielscher, 56, begleite- Münchner Allgemeinmediziner Thomas te das Siechtum ihres Mannes durch alle Rieger, 30, ausgiebig um ihre moribun- Stadien. Sie schlief in seinem Kranken- den Patienten kümmern, können diese zimmer und brachte ihm täglich selbst- Arbeit bei den Krankenkassen nicht gel- gekochtes Essen. Die Eheleute fanden tend machen. Rieger: „Der Tod hat kei- zu einer Nähe zurück, die sie in den letz- ne Abrechnungsziffer.“ ten Jahren ihres Zusammenlebens so Zeit und Zuwendung aber brauchen nicht mehr gekannt hatten. „Ich bin Sterbende und ihre Angehörigen am nö- froh, daß wir in Frieden Abschied neh- tigsten. Im bayerischen Schäftlarn und men konnten“, sagt Hiltrud Hielscher, in ähnlich kleinen Gemeinden leisten „am Ende wußte ich, warum ich ihn mal noch die Kirchen diesen Service. Anton geheiratet hatte.“ Fürstenberger, 52, lebensfroh und men- In Krankenhäusern, den Symbolorten schenfreundlich, wie katholische Pfarrer anonymen Sterbens, wurden Kranke sein sollten, kennt viele Dorfbewohner noch vor gar nicht langer Zeit kurz vor seit der Taufe, weiß von ihren Geldsor- ihrem Tod in Zinkwannen gelegt, damit gen und Ehekrisen. Wenn ein Gemein- sie nicht im letzten Augenblick das Bett demitglied stirbt, steht der Theologe der beschmutzten. Mit diesem würdelosen Familie bei: „Im Tod darf man nieman- Abgang hat der Medizinbetrieb Schluß den allein lassen.“ gemacht. Daß es zu ihren Aufgaben ge-

Nicht nur Alte, Krebs- und Aids- Y. DIETRICH hört, Menschen bis zum Ende auch see- kranke sorgen schon zu Lebzeiten für Dietrich-Plakat lisch zu unterstützen, zeigen Ärzte erst- ihre Beerdigung vor. „Immer mehr jun- „Haben Sie einen Bestatter?“ mals auf den Palliativstationen.

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Ein guter Anfang, aber auch nicht oh- ne Tücken. „Wir müssen aufpassen, daß SPIEGEL-Gespräch jetzt keine Ghettos entstehen“, sagt On- kologin Willer, „daß andere Stationen nicht anfangen, uns ihre Moribunden zuzuschieben, um das Sterben loszuwer- „Auf Ärzte kein Verlaß“ den.“ Manchmal fürchtet die junge Ärz- tin, die seit zwei Jahren in Barmbek ar- Arzt und Bestsellerautor Sherwin B. Nuland über die Anarchie des Todes beitet, den Kontakt zum Leben zu ver- lieren. „Wenn man täglich sieht, wie so vieles, woran jemand hing, durch den Tod nebensächlich wird, kann man All- tagsfreuden und -probleme nicht mehr ernst nehmen. Das kann lähmend sein. Da muß ich mich zwingen, eine Party oder einen Kinobesuch richtig zu genie- ßen.“ Zu balancieren zwischen der Illusion Möchten Sie als unbegrenzter Ju- Sterbenskranker gendlichkeit und der über Ihren bevor- Schwermut eines Le- stehenden Tod bens zum Tode hin – belogen werden? darin besteht die Kunst einer bewuß- JA 7% ten Existenz. Yasmin Dietrich NEIN 92% de Bar, 39, weiß seit zehn Jahren, daß sie chronische Leu- kämie hat, Diagnose: „Unheilbar, Sie haben noch drei bis sechs Monate“. Die Japanologie-Stu- dentin begriff gar nicht, was das bedeu- tete. „Du kommst nach Hause, der An-

rufbeantworter ist voll, die Sonne N. FEANNY / SABA scheint, und du fühlst dich gesund.“ Nuland beim SPIEGEL-Gespräch*: „Ich bin voyeuristisch und schwatzhaft“ Im Krankenhaus fragt die Schwester: „Haben Sie einen Bestatter?“ Nach der SPIEGEL: Professor Nuland, Ihr Buch scheidungentreffen. SolleineChemothe- ersten Chemotherapie schickt sie Freun- heißt „Wie wir sterben“. Wir haben es rapie begonnen werden? Macht eine de und Besucher nach Hause: „Ich gelesen, aber wie wir sterben werden, Operation noch Sinn? Ist es überhaupt konnte ihre Traurigkeit nicht mehr er- wissen wir immer noch nicht. Wissen Sie human, das Leben weiter künstlich zu tragen. Ihre Tagesordnung war nicht wenigstens, wie Sie sterben? verlängern? Ich teile den Leuten nur mit, mehr meine.“ Fünf Jahre später geben Nuland: Das ist natürlich nicht vorher- was ihnen bevorsteht. ihr die Ärzte noch ein halbes Jahr, und sagbar. Aber mit Blick auf meine Fami- SPIEGEL: Bücher über Tod und Sterben dann noch eins und noch eins. Zu den liengeschichte ist es sehr wahrscheinlich, stehen derzeit weltweit auf den Bestsel- Labortests, einmal im Monat, geht sie daß ich an Krebs sterben und eine ganze lerlisten . . . inzwischen wie zum Friseur. Reihe der Qualen durchleiden muß, die Nuland: . . . ja, ja, und die erzählen mir Seit zwei Jahren, das Studium hat sie ich in dem Buch beschrieben habe. dann ausführlich, wie das Leben im Him- aufgegeben, fotografiert die zerbrech- SPIEGEL: Sie beschreiben, wie bei der mel ist, daß ein ewiges Licht leuchtet und lich wirkende, dunkelhaarige Frau Be- ersten Massage am offenen Herzen der ich im Jenseits eine nette Unterhaltung gräbnisse: Sie gestaltet Urnen, entwirft Muskel Ihrer pressenden Hand immer mit meiner toten Mutter haben werde. Werbeplakate für Bestattungsinstitute. weniger Widerstand entgegensetzt. Das SPIEGEL: Der Mythos Tod fasziniert die „Wenn es mir schlechtgeht“, sagt Yas- Herz füllt sich nicht mit Blut, und plötz- Menschenvonjeher.BedienenSiemitIh- min, „bin ich wütend, weil mein kranker lich wirft der tote McCarty noch einmal rem Buch nicht die Angst, die Neugier Körper mich an der Arbeit hindert.“ den Kopf nach hinten, die glasigen toten und den Voyeurismus der Leute? Vor vier Monaten hat sie alle Augen mit stierem Blick an die Decke Nuland: Natürlich. Ich bin voyeuristisch Schmerzbehandlungen abgebrochen. und schickt einen keuchenden Laut zum und schwatzhaft. Der Voyeurismus spielt Nachrichten über Umweltskandale, Himmel. Ganz schön drastisch – muß unterbewußt bestimmt eine Rolle bei der Menschenrechtsverletzungen, Bosnien das sein? Entscheidung, Arzt zu werden. Ich bin interessieren sie nicht mehr. Die mei- Nuland: Nur sehr wenige Menschen wis- Chirurg geworden, weil ich neugierig auf sten Freundschaften hat sie aufgegeben. sen genau, was im einzelnen abläuft, das Innenleben der Menschen bin. Und „Die Verantwortung, die mit Liebe ver- wenn jemand an Krebs, an Herzinfarkt, mein Buch ist so ein Erfolg, weil auch in bunden ist, kann ich nicht mehr gebrau- Alzheimer, Schlaganfall, Aids, Arterio- jedem Leser ein Voyeur steckt. Die mei- chen. Ich bin gefühlskapitalistisch.“ sklerose oder Fettleibigkeit stirbt. sten Menschen schlagen die Hände vors Seit zehn Wochen verspürt sie Läh- Gleichzeitig müssen wir viel mehr Ent- Gesicht, um den Tod nicht zu sehen, aber mungserscheinungen in den Beinen, dabei spreizen sie ihre Finger, weil die Schwindelgefühle, Knochenschmerzen. Neugier doch zu groß ist. * Mit Redakteurinnen Bettina Musall und Claudia „Ich gehöre“, sagt Yasmin, „ nicht mehr Pai in seinem Arbeitszimmer in der Yale-Universi- SPIEGEL: Wollen sie wirklich etwas über dazu.“ tät in New Haven im US-Bundesstaat Connecticut. das Sterben erfahren, oder sind sie süch-

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sel Krankheit. Der Kranke will vielleicht nur noch in Ruhe sterben, der Arzt aber will noch eine neue Chemotherapie aus- probieren, die den Patienten extrem be- lastet und sein friedliches Ende unmög- lich macht. SPIEGEL: Also verstehen nicht einmal Ärzte, für die der Tod zum alltäglichen Geschäft gehört, die Bedürfnisse von Sterbenden? Nuland: Ich spreche aus Erfahrung. All mein Wissen als Arzt hat mir nicht gehol- fen, als mein Bruder Harvey starb. Ich wußte, daß es keine Therapie mehr gab, die seinen Darmkrebs hätte besiegen können. Gleichzeitig habe ich ihm und mir diese unverantwortliche Hoffnung gemacht, mit Hilfe einer unerprobten hochgiftigen Chemotherapie sei noch et- was zu retten. Ich konnte ihm einfach nicht insGesicht sagen: „Es istvorbei, wir können nichts mehr tun.“

T. RAUPACH / ARGUS SPIEGEL: Nach der Lektüre Ihres Buches Massage eines Todkranken: „In Ruhe sterben“ sehen wir unserem Ende mit Schrecken entgegen . . . Nuland: Das wundert mich. In meiner 30jährigen Praxis habe ich gelernt, daß Patienten weitaus weniger ängstlich sind, wenn sie wissen, was auf sie zukommt. Der Tod an sich ist anarchistisch, aber das schlimmste ist die Ungewißheit. Wenn der Arzt den Kranken nicht informiert, welche Schmerzen auftreten werden, wird der Patient doppelt leiden, weil er das Gefühl hat, alles ist außer Kontrolle geraten. SPIEGEL: Der Verleger und Buchdrucker William Caxton definierte im 15. Jahr- hundert die sogenannte Ars moriendi als Kunst, so zu sterben, daß die Seele kei- nen Schaden nimmt. Sie legen die Latte noch höher: Ein Sterben in Würde, sagen Sie, ist nur nach einem Leben in Würde möglich.

R. JANKE / ARGUS Nuland: Die Krankheiten, an denen min- Intensivstation: „Alles ist außer Kontrolle“ destens85Prozent vonunssterben, schei- nen uns unserer Würde völlig zu berau- tig nach Trost, Sensationen und schönen nasie erlauben? Mein Buch soll den Men- ben. Was ist würdig an Fieberanfällen, Versprechungen? schen die Angst vor dem Sterben neh- am Verlust von geistigen Fähigkeiten und Nuland: Ich hätte nicht gedacht, daß die men. Gefühlen, der den Krebs- oder Aidstod Menschen reif sind, sich realistisch mit SPIEGEL: Und das auf die harte Tour? begleitet? Nichts. Wenn in einer ameri- dem Sterben auseinanderzusetzen. Der Nuland: Nur so. Die Leute haben jede kanischen Seifenoper ein 35jähriger an Tod ist das große Thema der letzten De- Menge Filme gesehen, in denen Men- Krebs im Endstadium leidet, kann das kade dieses Jahrhunderts. Ich habe fest- schen friedlich einschlafen, ohne Eiter, der Zuschauer daran erkennen, daß der gestellt, daß viele Zeitgenossen mitten der aus Wunden herausläuft, ohne Ago- Schauspielerauf der Stirn ein Pflaster kle- in ihrer Sehnsucht nach Traumwelten nie und Elend. Und wenn dann Mutter benhat. Daszeigt uns Hollywood: schöne die Wirklichkeit verstehen wollen. oder Schwester qualvoll zugrunde gehen, gesunde Sterbende. SPIEGEL: Warum? denken sie: „O Gott, ich muß etwas SPIEGEL: In Wirklichkeit ist der Tod Nuland: Viele haben ihren christlichen falsch gemacht haben.“ Sie haben sich fürchterlich, in Film und Fernsehen ver- Glauben verloren, der sie über die End- womöglich einen liebevollen Abschied kitscht – und würdevoll ist er nie? lichkeit des Daseins getröstet hat. Die vorgestellt, und dann war alles be- Nuland: Die einzige Würde, die zählt, ist neuen religiösen Erwecker, die Geist- herrscht von Schmerzen und Betäu- die, die wir im Leben erlangt haben, in- heiler und Vertreter des Übersinnlichen bungsmitteln. dem wir unsere Talente entwickeln, Ver- helfen auch nicht weiter. Und die gewal- SPIEGEL: Das zu erklären ist doch Sache antwortungsgefühlund Liebe fürunseren tige Entwicklung medizinischer For- des Arztes. Nächsten beweisen. Diese Würde brin- schung und Technik, vor 20 Jahren eu- Nuland: Auf die Ärzte ist da leider kein gen wirzum Sterbebett mit, und sie bleibt phorisch begrüßt, ist an Grenzen ge- Verlaß. Die haben die Angewohnheit, uns auch im schrecklichsten Todes- stoßen. Es entstand das Bedürfnis nach dem Patienten die Dinge zu rosig darzu- kampf. Ars moriendi, die Kunst zu ster- einer medizinischen Ethik. Wie weit stellen. Ihr Interesse gilt nicht in erster ben, heißt also Ars vivendi, die Kunst zu darf Therapie gehen? Sollten wir Eutha- Linie dem Menschen, sondern dem Rät- leben.

124 DER SPIEGEL 6/1995 Werbeseite

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SPIEGEL: Gut gelebt heißt gut gestor- Frauenbewegung. Meine beiden jünge- Sterbeforschern zeigen, daß dem Kran- ben? ren Kinder, in den Achtzigern geboren, ken das Sterben leichter fällt, wenn diese Nuland: Das schafft bloß nicht jeder: Je- wurden von einer Hebamme geholt. Hürde genommen ist. der stirbt anders. Unsere Art zu sterben Und wissen Sie, wer ihr Assistent war? SPIEGEL: Und wie steht es mit der Angst ist für uns so charakteristisch wie unsere SPIEGEL: Sie. des Arztes, wenn er die Qualen eines Gesichtszüge. Meine Nase ist länger als Nuland: Ja, mit der Hebamme war ich Todkranken mit medizinischen Mitteln Ihre, auch mein Sterben könnte länger der erste, der den Kopf herauskommen beenden könnte? dauern als Ihres. sah. Ich habe meiner Frau im Schmerz Nuland: Als um 450 vor Christus der hip- SPIEGEL: Ist der Begriff „würdevolles beigestanden. Nur so sollten Geburten pokratische Eid verfaßt wurde, war es für Sterben“ nicht vor allem eine Erfin- ablaufen. Wissen Sie, ich habe all diese Mediziner selbstverständlich, Patienten dung, um Angehörige zu trösten? Geburtsvorbereitungskurse besucht und in einer ausweglosen Lage beim Sterben Nuland: Das ganz gewiß auch. Wer dachte, das ist doch wirklich albern. zu helfen. 2500 Jahre später berufen wir überlebt, sucht einen Sinn im Tod selbst Und dann stand ich da und habe hem- uns auf diesen Eid und sagen, unsere al- und in der Art, wie sein Angehöriger ge- mungslos geheult. Ich fand es wunder- leinige Aufgabe ist es, Krankheiten zu storben ist. Darum haben die Fami- bar. Für mich waren es die beiden groß- heilen. Wenn das nicht möglich ist, lassen lien von Mordopfern solche Schwierig- artigsten Erfahrungen meines Lebens, viele High-Tech-Ärzte ihre Patienten im keiten, sich mit dem Verlust abzufin- großartiger als mein Abschluß im Medi- Stich. den. In einem solchen Tod liegt kein zinstudium und als die Nacht, in der ich SPIEGEL: Und was tun Sie? Sinn. den National Book Award gewann. Nuland: Mit dieser Hand habe ich zwei Patienten eine Überdosis Betäubungs- mittel gespritzt, die ihr Leben beendet hat. Ich halte das nicht nur für mein moralisches Recht, sondern für meine Pflicht, Menschen, denen nicht mehr zu helfen ist, von sinnlosen Schmerzen zu befreien. SPIEGEL: Der französische Historiker Philippe Arie`s hat 1978 vorausgesagt, daß sich die Öffentlichkeit ähnlich leiden- schaftlich auf das Thema Sterben stürzen wird wie in den sechziger Jahren auf die Sexualität. Sind wir jetzt soweit? Nuland: Einige Kritiker haben mich schon den Kinseydes Todesgenannt. Das finde ich gar nicht abwegig. Kinsey hat den Sex wissenschaftlich seriös erforscht und mitgeholfen, die sexuelle Revolution einzuleiten. Und ich möchte dazu beitra- gen, daß Tod und Sterben genauso offen diskutiert werden. SPIEGEL: Fürchten Sie nicht, daß Tod und Sterben genauso wie die Sexualität in Talkshows und bei ähnlich tiefschürfen-

R. JANKE / ARGUS den Bemühungen zerredet und banali- Sargverbrennung im Krematorium: „Der Tod ist anarchistisch“ siert werden? Nuland: Das passiert doch schon längst. SPIEGEL: In den letzten Wochen waren SPIEGEL: Und doch gibt es da einen Un- Tagtäglich werden uns im Fernsehen die wir selbst in Palliativstationen und Hos- terschied. Selbst knieweiche Männer Leichen von Kriegsopfern präsentiert, in pizen. Es ist schwer, dem Sterben zuzu- werden sich im Kreißsaal wohler fühlen Spielfilmen wird der Tod massenhaft tri- sehen. Wir können verstehen, daß sich als im Sterbezimmer. vialisiert. Gegen diese Oberflächlichkeit viele das nicht zutrauen. Wie wollen Sie Nuland: Ganz sicher. Aber ich habe kann man nichts machen. Selbst wenn Menschen in einer Gesellschaft, die mit auch erfahren, daß es noch belastender sich Menschen jetzt auf neue, aus meiner dem Tod als Naturereignis nicht mehr sein kann, sich über den Tod zu belü- Sicht oft bizarre Weise, mit dem Thema fertig wird, dazu bringen, ihn sich ins ei- gen, als sich ihm auszusetzen. Meine beschäftigen, zeigt das doch, daß sie ei- gene Haus zu holen? Tante Rose starb einsam und allein, ob- nen Sinn in all dem suchen. Nuland: Der Tod ist ebensowenig eine wohl wir alle am Sterbebett standen. SPIEGEL: Sie sagen, das Alter soll eine Krankheit wie die Geburt, beides gehört Die Familie erzählte ihr nichts von dem Vorbereitung auf den Tod sein. Sie sind zu unserem Lebenszyklus. Die Geburt niederschmetternden Befund, daß sie an nun 64. Wenn Sie die Wahl hätten, wie hatten wir bis vor 15 Jahren genauso ihrem Lymphdrüsenkrebs nun bald ster- würden Sie gern sterben? hospitalisiert wie das Sterben. Meine ben würde. Ich bin mir sicher, auch Nuland: Ich würde gern noch 30 Jahre le- beiden ersten Kinder wurden in den Rose wußte, daß ihr Tod bevorstand, ben, aber wenn ich morgen erführe, daß Sechzigern geboren, die Mutter wurde aber sie sprach nicht darüber, um uns zu ich unheilbar erkrankt wäre, hoffe ich, in den Kreißsaal geschafft, ihr Scham- schonen. So konnten wir nicht vonein- daß ich nicht im letzten Moment nach ei- haar abrasiert, die Operateure zogen ander Abschied nehmen. nem High-Tech-Mediziner schreie. Doch Masken und Gummihandschuhe über. SPIEGEL: Aber vielleicht wäre es für sicher bin ich mir nicht. Am liebsten wür- Der Vater stand im Wartezimmer, kau- Rose noch unerträglicher gewesen, über de ich hier in der Yale-Bibliothek in mei- te Fingernägel, wurde fast wahnsinnig, ihren eigenen Tod zu sprechen? nem alten Ledersessel über einem guten und schließlich kam jemand und sagte: Nuland: Nein, es ist die Angst der Ange- Buch einschlafen. „Sie haben ein kleines Mädchen oder ei- hörigen, offen darüber zu reden. Aber SPIEGEL: Herr Professor Nuland, wir nen kleinen Jungen.“ Dann kam die alle Erfahrungen von Psychologen und danken Ihnen für dieses Gespräch. Y

126 DER SPIEGEL 6/1995 Werbeseite

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Belebtes Kunstwerk Farbiger Crashkurs Der amerikanische Bestsellerautor Ho- „Kunst als intelligentes ward Rheingold spricht über die „Virtuelle Spiel“ lautet das Motto der Gemeinschaft“, so der Titel seines jüngsten Künstlergruppe „Die Vetera- Werkes, und kommentiert den Verlust von nen“ aus Leipzig. Für Aufse- realen Marktplätzen oder freundlichen hen sorgte bei der Frankfur- Einzelhändlern. Musik erklingt, und aus ter Buchmesse im Oktober dem Off berichtet ein Erzähler über die 1994 eine Vorabversion ihrer Bauarbeiten am Information Highway, op- interaktiven Compact Disc tisch präsentiert mit Farbbildern und Vi- (CD-Rom) „Die Vetera- deos. Grafiken geben Auskunft über die nen“, die vorletzte Woche er- weltweiten Geschäfte, die damit schon ge- schienen ist. Stephan Eich- macht werden. Und Werbung ist auch da- horn, Tjark Ihmels, Ludwig bei: Zwischendrin läßt ein Infomercial den John und Michael Touma ha- neuen Dodge geräuschvoll über den Com- Grafik aus „Open Roads“ ben die Speicherscheibe als putermonitor flitzen. Das amerikanische „elektronisches Bilderbuch Nachrichtenmagazin Newsweek hat auf ei- schlägige Artikel aus Washington Post und der unendlichen Möglichkei- ner Sonderausgabe seiner CD-Rom-Reihe Newsweek. Bisher haben manche Herstel- ten“ angelegt. Dabei vermi- „Newsweek Interactive“, die seit einem ler, im CD-Boom, viel Infoschrott auf die schen sich Musik, Videoclips Jahr in loser Folge erscheint, alle Multime- Glitzer-Discs gepreßt. Newsweek zeigt, wie und animierte Farbgrafiken dia-Möglichkeiten ausgeschöpft – Titelthe- Multimedia sinnvoll eingesetzt werden mit Elementen von Compu- ma der silbrigen Scheibe: „Fahren auf dem kann. Nachteil der Scheibe: Sie frißt gigan- terspielen. Den Ablauf des Datenhighway“. Unterhaltsam und farbig tische 23 Megabyte Speicher auf der Fest- Programms bestimmt der Be- bringt der populäre Zukunfts-Crashkurs platte. nutzer selbst, wie beim schon dem englischkundigen Laien alles bei, was legendären Multimedia-Spiel er über die neue Kommunikation, über TITEL: „Open Roads – Driving the Data Highway“ (CD-Rom „Myst“ gibt es kein Hand- Datennetze oder interaktives Fernsehen für PC/Windows und Apple). buch. Jede Szene bietet wissen will. In einer Datenbank mit einfa- VERLAG: Newsweek Inc., New York; cher Suchfunktion findet er zudem ein- PREIS: 24,95 Dollar.

Computermonitor holen – Film in Sphären, die bisher Cannes-Rolle oder die fünf Filme von Pep- dem Computer vorbehalten auf dem PC si-Cola. waren. Beim amerikanischen Krimi „Under a Killing Wer sich professionell mit TITEL: „Lions 94 – die interaktive Moon“, der auf computerles- Werbung befaßt oder einfach Cannes-Rolle“. VERTRIEB: Up To Date, bare Compact Disc gebannt nur mal TV-Spots pur be- Hamburg; PREIS: 149 Mark. wurde, findet sich der Spieler trachten will, der kann sich unversehens im Kreis von jetzt 105 Minuten lang auf Schauspielern wie Brian dem PC zu Hause die besten Schlapphut Keith („Richter Hardcastle“) Reklamevideos am Stück im Speicher oder Margot Kidder wieder, Szene aus „Die Veteranen“ ansehen. Die legendäre die sich auf seinem PC-Moni- Cannes-Rolle von der welt- Kinoliebhaber mußten sich tor tummeln. Der Computer- Überraschungen, etwa ein weit führenden Informations- daran gewöhnen: In Spielfil- spieler selbst schlüpft vier vol- Stilleben, das sich auf Maus- börse für Fernsehwerbung, men wie „Die Maske“ oder le CD-Roms lang in die Rolle klick als belebt erweist: Glä- die bis zu 300 000 Besucher in „Jurassic Park“ übernimmt des Detektivs und tapst als ser zerspringen, Schachpfer- die Programmkinos lockte, der Computer die Regie, ver- eine Art Philip Marlowe de wiehern, eine Uhr auf gibt es für Apple und Wind- formt die Gesichter der des Elektronik-Zeitalters dem Tisch beginnt zu ticken. ows-PC auf CD-Rom. Die Schauspieler oder animiert schlapphütig durchs San Fran- Die Autoren präsentieren ihr Karlsruher Firma Cinetic hat Dinos aus der Kreidezeit. Im cisco einer fernen Zukunft. veränderbares Kunstwerk die 130 mit dem Löwen von Gegenzug drängt jetzt der Immer mit dabei ist der virtu- auch im globalen Computer- Cannes prämierten elle Kameramann: Mit verbund Internet (Netzadres- Werbespots und dazu jeder Bewegung der se: http://www.uni-leipzig. eine Kurzliste von über Computermaus verän- de/veteranen/). Dort kann 500 weiteren Reklame- dert sich der Blickwin- auch nach dem Sinn der filmen unter dem Titel kel auf dem Bildschirm kryptischen und grammatisch „Lions 94“ zu einem – sogar beim Treppen- falschen Bildschirmbotschaft multimedialen Informa- steigen wandert die un- vom Anfang der CD ge- tions- und Nachschlage- sichtbare Kamera mit. forscht werden: „Harry lebt werk aufgepeppt. Per noch. Such ihm.“ Mausklick kann der Be- TITEL: „Under a Killing Moon“ nutzer zum Beispiel die (für PC). TITEL: „Die Veteranen“ (CD-Rom, für drei in Cannes prämier- VERLAG: Access Software, Salt PC/Windows und Apple). ten, in Deutschland Lake City, US-Bundesstaat VERLAG: Systhema, München; aber nie gezeigten Co- Utah; PREIS: 98 Mark. ca-Cola-Spots auf den Szene aus „Under a Killing Moon“ PREIS: 160 Mark.

128 DER SPIEGEL 6/1995 .

GESELLSCHAFT

Psychologie Augenschein trügt Ein britischer Psychologe fand her- aus: Einem, der lügt, glaubt man am ehesten im Fernsehen.

ügen, meint der Volksmund, haben kurze Beine – dennoch sind sie Lweit verbreitet. Das fand der briti- sche Psychologe Richard Wiseman von der University of Hertfordshire bei ei- ner Umfrage bestätigt. Nur zwölf Pro- zent der Befragten gaben (wahrheits-

widrig?) an, niemals zu lügen. Jeder M. SCHRÖDER / ARGUS vierte dagegen räumte ein, er hätte am Barschels Ehrenwort-Pressekonferenz*: „Wer täuschen will . . . vorausgegangenen Tag mindestens ein- mal die Unwahrheit gesagt. von Printmedien ein Aufruf zur Wach- „Besorgniserregend“ findet es Wise- samkeit und für die Fernsehkonsumen- man unter diesen Umständen, daß es ten desaströs. den meisten Individuen so überaus Wiseman hatte Sir Robin Day, einen schwerfällt herauszufinden, ob und in Großbritannien bekannten politi- wann ihr Gegenüber lügt. schen Kommentator, zu Interviews Hinweise auf Lügenhaftigkeit, so hat über dessen Lieblingsfilm antreten las- die Wissenschaft herausgefunden, emp- sen – in zwei Versionen. Die eine fängt der skeptische Mensch auf drei („Vom Winde verweht“) war von A Wahrnehmungskanälen. Die Forscher bis Z erlogen, in der anderen („Man- unterscheiden verbale Verdachtsmo- che mögen’s heiß“) gab sich Interview- mente (zum Beispiel Versprecher, aus- partner Day wahrhaftig. flüchtiges Stottersprechen, fadenschei- Beide Versionen wurden sodann in niges Vokabular auf seiten des Lügen- drei verschiedenen Medien verbreitet, boldes), ferner verräterische Stimmfüh- gedruckt im Daily Telegraph, als Wort- rung (Sprechpausen, Tonschwankun- beitrag im ersten Radioprogramm der gen, zögerliches Intonieren) sowie die BBC und als TV-Dialog in der BBC- große Gruppe der über den Sehnerv Reihe „Tomorrow’s World“. Leser, vermittelten Mißtrauensauslöser: von Hörer und Zuschauer wurden aufge- der Körpersprache über den Gesichts- fordert, sich telefonisch zu melden und ausdruck bis hin zum unkontrollierten mitzuteilen, welche Version nach ih-

Flackern in den Augen. rem Eindruck die lügenhafte war. D. BEAUMONT Wie das alles zusammenhängt, war Mit der unerwartet hohen Anzahl Psychologe Wiseman bisher nur an kleinen Gruppen von von 41 471 Telefonantworten kann . . . ahnt, wie seine Opfer denken“ Versuchspersonen, zumeist Universi- Wiseman die Ergebnisse seines Tests tätsstudenten, erkundet worden. Die als statistisch signifikant einstufen. Er- zeigt“, notierte die Süddeutsche, „daß Testpersonen mußten Wahrsprechende gebnis: 73,4 Prozent der Radiohörer, Zuschauer am besten durchs Fernse- und Lügner einmal im Film betrachten, 64,2 Prozent der Zeitungsleser, aber hen belogen werden.“ ein andermal nur auf Tonband hören nur 51,8 Prozent der Fernsehzuschauer „Wer täuschen will“, bemerkt der oder, dritte Variante, lediglich die Nie- konnten den Wahrheitsgehalt der Dar- britische Psychologe, „ahnt, wie seine derschrift des Textes lesen. Dabei zeig- bietungen richtig einschätzen. potentiellen Opfer denken.“ Jeder ge- te sich: Der Augenschein trügt, er ist Trotz gewisser methodischer Schwä- wiefte Lügner wisse beispielsweise, daß keineswegs das sicherste Instrument, chen – die Interviews waren kurz, die er, wenn er Erfolg haben will, seinem einen Lügner zu entlarven. Anrufer waren nicht nach statistischem Gegenüber unverwandt ins Auge blik- Inzwischen hat Psychologie-Professor Zufallsprinzip ausgewürfelt – hält ken muß. Wiseman die Befunde im Großversuch Wiseman, was die Rangfolge der Me- „Fälschlich“, so Wisemans Konklusi- überprüft. Die Ergebnisse seines dien anlangt, seine Untersuchung für on, hielten die Menschen visuelle Ein- „Megalab Truth Test“-Unternehmens, aussagekräftig. Nach seiner Ansicht drücke für besonders zwingend und veröffentlicht in der jüngsten Ausgabe bestätigt der Großtest, daß Gedrucktes zum Beispiel Augenkontakt für einen von Nature, sind nicht nur für die Wis- und Gesprochenes offenbar bessere der sichersten Täuschungsindikatoren. senschaft, sondern auch für die Welt Wahrheitsindikatoren liefern als ein Wiseman: „Sie wären besser beraten, des gedruckten und gesendeten Wortes vor laufenden Kameras produziertes wenn sie die Augen einfach zumachen von Bedeutung: Für die Benutzer von Barschel-Ehrenwort. „Die Studie und nur auf die Worte achten statt auf Dampfradios, so läßt sich resümieren, die Show, die drum herum gemacht sind sie ermutigend, für die Bezieher * Am 18. September 1987. wird.“ Y

DER SPIEGEL 6/1995 129 .

AUSLAND PANORAMA

Südafrika Der Grund: Die Ministerin ist vorbestraft. 1991 war die ein- Einreise stige Heldin des Anti-Apart- SAUDI-ARABIEN Truppen- heid-Kampfes wegen Kindes- aufmarsch verweigert entführung und Beihilfe zur Asir Nadschran Körperverletzung zu sechs vom Jemen Scharura Jahren Gefängnis verurteilt beansprucht worden. Winnies Leibwäch- Dschisan Wadia ter hatten – vermutlich mit 250 km Wissen der Freiheitskämpfe- Saada von Saudi- Arabien rin – einen 14jährigen angeb- R o beansprucht t lichen Spitzel zu Tode gefol- e s IRAK IRAN tert. Der Richterspruch wur- M Sanaa e de später zur Bewährung aus- e KUWEIT gesetzt. Eine Ausnahmerege- r JEMEN Riad lung, mit der Kanadas Regie- ERITREA SAUDI- rung Vorbestraften die Ein- ARABIEN reise gewährt, wollte die stol- JEMEN ze Winnie Mandela („eine Aden Indischer Beleidigung“) nicht in An- ÄTHIOPIEN Golf von Ozean spruch nehmen. Es sei eine DSCHIBUTI Aden Schande, so ihr Sprecher Alan Reynolds, daß Kanada nicht, daß Ihre Residenz in sche Oberhoheit gestellt wor-

T. J. LEMON / SELECT Urteile aus der Apartheid- Sanaa verschont würde.“ Seit den. Zweimal wurde der Winnie Mandela Zeit anerkenne. Tagen läßt Saudi-Arabien Vertrag von Taı¨f verlängert; trotz intensiver diplomati- 1992 lehnte der Jemen eine Winnie Mandela, 60, wird Jemen/Saudi-Arabien scher Bemühungen Syriens, weitere Bestätigung des Ab- einmal mehr von ihrer Ver- Ägyptens und der USA kommens ab, nachdem gangenheit eingeholt: Süd- Des Präsidenten Truppen im Grenzgebiet auf- umfangreiche Erdöl- und afrikas stellvertretende Mini- marschieren. Anlaß der jüng- Erdgasvorkommen entdeckt sterin für Kultur, Wissen- Palast im Visier sten Spannungen ist ein vom worden waren. schaft und Technik sollte ver- Saudi-Arabiens Verteidi- saudischen König Fahd aus- gangene Woche an einem gungsminister Prinz Sultan gearbeitetes Papier, mit dem Frankreich Kongreß über Entwicklungs- droht mit Luftangriffen bis die jemenitische Regierung hilfe in der ostkanadischen tief in jemenitisches Gebiet ihren endgültigen Verzicht Minister Stadt Toronto teilnehmen. hinein. In einem Telefonge- auf die Provinzen Asir, Nad- Doch die kanadischen Be- spräch warnte der Prinz den schran und Dschisan erklären im Zwielicht hörden verweigerten der Ex- Präsidenten des Nachbar- soll. Die Gebiete waren 1934 Weniger als drei Monate vor Frau von Präsident Nelson staats Jemen, Ali Abdallah für zunächst 20 islamische den Präsidentschaftswahlen Mandela das Einreisevisum. Salih: „Glauben Sie nur Mondjahre unter saudiarabi- muß der gaullistische Premier und Elyse´e-Kandidat Edou- ard Balladur fürchten, zwei Iran Buschehr fertigstellen sollen, setzt Atom- weitere Kabinettsmitglieder minister Wiktor Michailow auch Militär- zu verlieren: Untersuchungs- spezialisten ein. Die russischen Experten richter ermitteln gegen Ver- Weg zur Bombe? stammen aus dem jahrzehntelang herme- teidigungsminister Franc¸ois Der Verdacht, der Mullah-Staat bastle in- tisch abgeschotteten Atomzentrum Arsa- Le´otard und Unternehmens- tensiv an einer Atomwaffe, erhärtet sich: mas-16, in dem einst Andrej Sacharow die minister Alain Madelin. Die Im Rahmen des jüngsten Abkommens zwi- erste sowjetische Wasserstoffbombe baute, beiden sollen sich an illegalen schen Teheran und Moskau, wonach russi- sowie aus der Moskauer Dserschinski-Mili- Überweisungen von rund 30 sche Firmen zwei zivile Kernreaktoren in tärakademie, die sich vor allem mit dem Millionen Francs an die Repu- Raketenbau beschäftigt. Einen wichtigen blikanische Partei (PR) betei- Teil der iranischen Anlagen hatte in den ligt haben. Die Parteispen- siebziger Jahren die zu Siemens gehörende denaffäre bringt den als Sau- KWU errichtet. 1979, nachdem die Ajatol- bermann angetretenen Regie- lahs die Macht übernommen hatten, zogen rungschef in Verlegenheit. sich die Deutschen aus dem Projekt zurück. Der PR ist mit 106 Abgeord- Die Mitarbeit militärischer Geheimnisträ- neten und sieben Ministern ger „verschafft Iran eine direkte Verbin- Balladurs wichtigster Hilfs- dung zur russischen Nuklearforschung und trupp; im Fall seines Wahlsie- Entwicklung“, warnt ein besorgter russi- ges sollte Le´otard sein Nach- scher Atomfachmann, der bis vor kurzem folger werden. Doch eine selbst mit heiklen Aufgaben betraut war. Amnestie für ins Zwielicht ge- Besonders brisant ist ein Forschungs- ratene Minister werde es nicht schwerpunkt der entsandten Arsamas-Spe- geben, versprach Balladur bei zialisten: Sie arbeiten in Rußland an der einem Fernsehauftritt. Drei

VARIO-PRESS Verbesserung hochgenauer Zündsätze für Minister mußten wegen Atomkraftwerk von Buschehr (im Bau) Atomwaffen. Durchstechereien bereits ihre Sessel räumen.

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Rußland Unschuldslamm Jelzin Rußlands Präsident läßt an- gestrengt nach Schuldigen am brutalen Krieg in Tsche- tschenien fahnden. Der Kreml-Kommissar für die verwüstete Kaukasus-Regi- on, Nikolai Jegorow, wurde bereits abberufen – angeblich aus Gesundheitsgründen, in Wahrheit wegen allzu rüder Gauleiter-Methoden. Als nächstem könnte Verteidi- gungsminister Pawel Gra- tschow die Ablösung drohen: Nach der letzten Sicherheits- ratssitzung sei Jelzin mitge- P. CHAUVEL / SYGMA Tschetschenen vor ihrem zerbombten Haus

teilt worden, so die Zeitung Sewodnja, der Minister un- terhalte seit Herbst 1992 bei der Deutschen-Bank-Filiale in Zossen ein Konto mit zeit- weiligem Guthaben von 20,6 Millionen Dollar. Seit der Enthüllung ist Gratschow krank gemeldet. Ein Mit- glied der kürzlich gegründe- ten Tschetschenien-Unter- suchungskommission ahnt, warum der alte Korruptions- verdacht plötzlich ernst ge- nommen wird: Gratschow habe Jelzin „zuerst mit Sprü- chen vom schnellen Sieg be- soffen geredet“ und anschlie- ßend durch eine „schlimme militärische Pleite blamiert“. Die Ermittler haben offen- sichtlich die Aufgabe, Jelzin so rasch wie möglich reinzu- waschen. Seine früheren Aussagen, er sei stets über al- le Einzelheiten der Militärak- tion unterrichtet gewesen, bitten Kreml-Beamte mit mildem Lächeln „einstweilen nicht zu zitieren“.

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AUSLAND

Österreich HAIDERS LANGER SCHATTEN Endzeitstimmung in Wien: Filz, Korruption und Streit um den fälligen Sparkurs haben die Regierung verschlissen. Kanzler Vranitzky wird von seinen eigenen Parteifreunden demontiert. Ex-Finanzminister Hannes Androsch drängelt wieder nach vorn. Oder kommt jetzt die Stunde des Rechten Jörg Haider? REUTER Koalitionspartner Busek, Vranitzky: In unglückseliger Komplizenschaft zusammengeschmiedet

rhard Busek, Vizekanzler und Chef Aufmunterung haben alle Beteiligten Zerbricht die Regierung, könnte das der Österreichischen Volkspartei bitter nötig. Die scheinbar unerschüt- auch das Ende der Zweiten Republik be- E(ÖVP), wird von dunklen Ahnun- terliche rot-schwarze Koalition von deuten. Der lachende Erbe hält sich gen geplagt. Wenn es der Regierung SPÖ und ÖVP, die seit acht Jahren schon bereit: Der Rechte Jörg Haider, nicht gelinge, in kurzer Zeit ein tragfähi- das Land regiert und schon allein des- 45, der die Dritte Republik einläuten ges Budget zu erstellen, „bleibt uns nur halb so grundsolide wirkte, weil es kei- will, steht noch früher als von ihm selbst der Weg zum Bundespräsidenten“, sieht ne Alternative gab, steht mit dem geplant an der Schwelle zur Macht in der ÖVP-Obmann das Ende der Gro- Rücken zur Wand. „Vranitzky & Bu- Wien. ßen Koalition heraufziehen. sek: Tandem auf Talfahrt“, titelt der Das Unheil kommt nicht unerwartet. Die Chancen, das Bündnis von Sozial- Wiener Kurier, und die konservative Seit den Parlamentswahlen im Oktober demokraten und Volkspartei in Wien Presse sieht die „Koalition an der Kip- vorigen Jahres, bei denen die SPÖ von 43 doch noch zu retten, schätzt Busek auf pe“. Prozent auf 35 abstürzte und die ÖVP nicht mehr als „fünfzig zu fünfzig“. Ein Hauch von Endzeitstimmung von 32 auf 28, konnte die Regierung nie Sein sozialdemokratischer Koalitions- weht durch die Alpenrepublik, die sich mehr richtig Tritt fassen. Die von inne- partner Franz Vranitzky scheint nicht lange im Ruf einer Insel der Seligen rem Verschleiß gezeichneten Regie- ganz so düster gestimmt, aber auch der sonnte, ohne Wirtschaftskrise und ho- rungsparteien taumeln von einer Krise in Bundeskanzler weiß, daß die Existenz he Arbeitslosigkeit. Die goldenen Jah- die nächste. Die Grabenkämpfe drohen der Regierung auf dem Spiel steht. Die re sind vorbei. Österreich wird von nun beide in den Abgrund zu reißen. Lage sei „ernst, aber nicht hoffnungs- ähnlichen Problemen wie die deut- Den letzten Stoß könnte der Koalition los“, versucht Vranitzky den Seinen schen Nachbarn geplagt – ohne die eine Affäre versetzen, die zunächst als Mut zu machen. Kraft zu einschneidenden Reformen. Lachnummer begann. Die beiden Abge-

132 DER SPIEGEL 6/1995 ordneten Peter Marizzi, Bundesge- schäftsführer der SPÖ, und Her- mann Kraft, Wehrexperte der ÖVP, mauschelten unverfroren, wie sie illegale Provisionen aus ei- nem geplanten Waffenkauf für die Parteikassen abschöpfen könnten. Das Geschäft kam nicht zustande, aber ein Mitschnitt des Gesprächs wurde dem Magazin News zuge- spielt; die beiden Kungler standen wie ertappte Ganoven da. Was die Sache besonders pikant machte: Vieles deutet darauf hin, daß der Skandal aufflog, weil einer der beiden Verschwörer – Marizzi – die Unterredung heimlich aufge- nommen hatte, um dem Koalitions- partner eins auszuwischen. Der gelernte Schlosser Marizzi, ein Geschöpf des Kanzlers Vranitz- ky, sollte ursprünglich für Öster- reich in den Europäischen Rech- nungshof entsandt werden. Die Der dritte Mann Hamburger Abendblatt ÖVP und die Öffentlichkeit verhin- derten den lukrativen Aufstieg: Marizzi Auch die Bauern – mehrheitlich treue und die Koalitionsturbulenzen aufmerk- sei nicht qualifiziert genug. ÖVP-Wähler – sind aufgebracht, weil sam verfolgt. Österreich galt bisher als Die Posse kostete nicht nur die beiden sie nach Österreichs Beitritt zur Euro- solider Kandidat für die geplante Euro- „Prachtexemplare politischen Schwach- päischen Union sinkende Agrarpreise päische Währungsunion. Das Ansehen sinns“ (profil) die Karriere; sie stellte hinnehmen müssen. Busek wiederum ist nun gefährdet, das Land droht in die schlagartig die Legitimation der Koaliti- beschuldigte die SPÖ-nahen Gewerk- B-Liga abzusteigen. on insgesamt in Frage. Wie könnten schaften, das Sparpaket zu torpedieren: Österreich könne zunehmend in jenes Parteien das Land lenken, so empörten Sie gefährdeten mit ihrer starren Hal- Eck geraten, „aus dem der unfinanzier- sich die Bürger, deren Spitzenpolitiker tung die Existenz des Landes. bar gewordene schwedische Wohlfahrts- derart krumme Dinger aushecken? Und Es sei „billig“, die Arbeitnehmer für staat verzweifelt zu entkommen sucht“, wie könne die Regierung von der Bevöl- die innenpolitische Krise verantwortlich ängstigt sich die Wiener Wirtschaftswo- kerung Sparwillen erwarten, wenn sie zu machen; das lasse auf eine „tiefe che. Der bislang harte Schilling könne selbst den Verdacht schüre, daß die Ko- Inakzeptanz der Sozialpartnerschaft“ unter Druck geraten. alitionsparteien wie selbstverständlich schließen, schoß der Österreichische Scharfe Kritik bekommt nun auch Schmiergelder in Millionenhöhe für sich Gewerkschaftsbund zurück. Vranitzky zu hören, bislang fast unan- abzweigen? tastbarer Strahlemann seiner Partei. In unglückseliger Komplizenschaft Dem „Schönwetter“-Kanzler lasten die zusammengeschmiedet, verhinderten Scheinheilig die Genossen Führungsschwäche an. Ex-Fi- die Koalitionsparteien vorige Woche die Rettung aus nanzminister Hannes Androsch, einst Einsetzung eines parlamentarischen Un- als Nachfolger des legendären Bruno tersuchungsausschusses – und trugen so der Not angeboten Kreisky auserwählt, bevor er über priva- erst recht zum Argwohn bei, womöglich te Geschäfte stolperte, verlangt offen ei- noch Schlimmeres zu verbergen. Sozialdemokratie und Gewerkschaf- nen Wechsel an der Spitze. Dabei hatten Vranitzky und Busek ten, sonst ein Herz und eine Seele, sind Nach Niederlagen müsse für Politiker ohnehin Schwierigkeiten genug, ihr mittlerweile genauso zerstritten. Finanz- das gleiche Prinzip „wie bei Feldherren“ Sparpaket durchzusetzen. Die mächti- minister Ferdinand Lacina klagt, es ma- gelten, lästert Androsch über seinen gen Interessenverbände des Landes che sich „stärkerer Gruppenegoismus ehemaligen Sekretär Vranitzky, der es wehren sich erbittert gegen den Ver- als je zuvor“ bemerkbar. Sollte es nicht statt seiner zum Regierungschef ge- such, die galoppierende Verschuldung gelingen, das Budgetdefizit unter 100 bracht hat. Das Bemühen Vranitzkys, des Staates – die Ausgaben wachsen Milliarden Schilling zu drücken, will er das Sanierungspaket doch noch durch- doppelt so schnell wie die Wirtschaft – zurücktreten. Dann würde wohl auch zusetzen, kommentiert Androsch höh- auf ein erträgliches Maß zu drücken. die Regierung stürzen. nisch: „Wenn ich mein Haus erst anzün- Doch keiner will Opfer bringen, um das Der Krach rührt an die Grundpfeiler de und dann lösche, so zeugt das Lö- Defizit, das im neuen Haushalt die Re- der österreichischen Nachkriegsrepu- schen ja nicht von Leadership.“ kordsumme von 170 Milliarden Schilling blik. Jahrzehntelang ruhten sozialer Inzwischen wird schon unverhohlen (24 Milliarden Mark) beträgt, zu verrin- Frieden und Wohlstand auf der Sozial- über ein Comeback des international gern. Jeder verfolgt egoistisch eigene In- partnerschaft, der weitgehend konflikt- bekannten Finanzberaters spekuliert, teressen – Beamte, Bauern, Länderver- freien Zusammenarbeit von Arbeitge- obwohl gerade Androsch lange als Inbe- treter und Gewerkschaften. bern und Arbeitnehmern. Ausgerechnet griff des moralischen Verfalls der Sozial- Das mußte zuletzt Vizekanzler Busek diese gepriesene Institution, auf die demokratie galt – fürwahr ein Offenba- erfahren, der zugleich Unterrichtsmini- Österreich immer so stolz war, könnte rungseid der abgewirtschafteten Kanz- ster ist. Er wollte 10 000 Lehrerstellen sich nun als größter Bremsklotz auf dem lerpartei. und 2,5 Milliarden Schilling jährlich ein- Weg aus der Krise erweisen. Sogar Wiens Ex-Bürgermeister Hel- sparen. Doch die Schulmeister rebellier- Mit Sorge registriert die Regierung, mut Zilk, dessen Stimme großes Ge- ten – und Busek kapitulierte. daß auch das Ausland die Budgetnöte wicht besitzt, plädiert für eine Rückkehr

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AUSLAND

Androschs in die Politik, wenn auch alition das Sterbeglöcklein läuten hört, parlamentarischer Ebene“ vor, einzige „vielleicht nicht gleich als Bundeskanz- in Panik zu ihm überläuft. Bedingung: Es dürfe keine Steuererhö- ler oder Parteiobmann“. Damit ist die Der Schatten des Mannes, der mit hungen geben. Demontage Vranitzkys in vollem Gang. Fremdenhaß und Staatsverdrossenheit Genau dazu ist die Koalition nicht in Die ÖVP bietet ein noch erbärmliche- auf Stimmenfang geht und nach dem der Lage. Dennoch rechnet Haider res Bild als der große Koalitionspartner. Italiener Silvio Berlusconi der zweite nicht damit, daß die Regierung jetzt Umfragen zufolge würde sie heute auf Zerstörer des traditionellen Parteiensy- schon stürzt. Sie werde sich noch einmal den dritten Platz zurückfallen – hinter stems in Europa werden könnte, fällt „durchfretten“, aber lange könne sie Haiders populistische Freiheitliche Be- immer länger über Wien. Scheinheilig nicht mehr „so dahindilettieren“. wegung. Das stärkt dessen Ambitionen bietet er sich als verantwortungsbewuß- Seine Partei sei jederzeit zu Neuwah- auf das Kanzleramt. Er muß nur abwar- ter Retter in der Not an. Er schlägt eine len bereit: „Wir haben genug Fachleute, ten, bis die ÖVP, die in der Großen Ko- „Sanierungspartnerschaft auf breiter um jeden Posten zu besetzen.“ Y

daß sich in der österreichischen Poli- tik zwei Säulen bewährt haben: die „Glückliches Land“ Sozialpartnerschaft und das Kaffee- haus. Als Wiener würde ich noch Wiens SPÖ-Bürgermeister Michael Häupl über Haiders Vormarsch den Heurigen hinzufügen. Die Leute sollten einmal anständig miteinander trinken gehen, dann spricht es sich SPIEGEL: Das Klima zwischen den besser. Regierungsparteien SPÖ und ÖVP SPIEGEL: In Wien hat die SPÖ bei ist vergiftet. Die Korruptionsaffäre den letzten Gemeindewahlen im No- um das geplante Waffengeschäft hat vember 1991 noch einmal die absolu- die Öffentlichkeit empört. Bricht die te Mehrheit der Mandate erreicht. Große Koalition auseinander? Aber schon damals gelangen Haider Häupl: Es herrscht ein eklatanter große Einbrüche in rote Hochbur- Widerspruch zwischen den realen, gen. Wie wollen Sie ihn 1996 stop- guten Lebensverhältnissen der Men- pen? schen und dem, was in der Politik öf- Häupl: Ich habe keine Angst vor fentlich debattiert und dargestellt ihm. Ich wünsche mir, daß Jörg Hai- wird. Es geht uns Österreichern der persönlich in Wien antritt, in der wunderbar; die wirtschaftlichen Ver- Direktbewerbung um die Macht. Als hältnisse, Sicherheit und Lebensqua- es Haider noch nicht gab, hatten die

lität – alles ist in Ordnung; und doch P. LEHNER Wiener Freiheitlichen zwei Manda- tun wir so, als taumelten wir von ei- Bürgermeister Häupl te, jetzt haben sie 22; ihr Aufstieg ner Staatskrise in die nächste, als „Richtig grantig“ muß also etwas mit Haider zu tun bräche schon morgen der Staat zu- haben, darum soll er auch hier antre- sammen. Häupl: Wir müssen sagen, wie die ten. SPIEGEL: Das Gezänk und die Affä- Dinge wirklich sind, daß wir in ei- SPIEGEL: Fürchten Sie nicht, daß Sie ren spielen einmal mehr Jörg Haider nem glücklichen Land leben. Wir in der direkten Konfrontation mit in die Hände. brauchen doch nur über die Grenzen Haider untergehen würden? Häupl: Ja, leider. Das stimmt mich zu schauen, etwa nach Italien. Dort Häupl: Überhaupt nicht. So ein Du- richtig grantig. Und was besonders herrscht ein sozialer Verelendungs- ell würde mir wirklich Spaß machen. schlimm ist: Wir werden in der Öf- prozeß, den man sich hierzulande Da wären endlich einmal klare Ver- fentlichkeit für einen Korruptions- gar nicht vorstellen kann. hältnisse hergestellt. skandal geprügelt, der gar nicht SPIEGEL: Haben die Koalitionspar- SPIEGEL: Was wollen Sie Haider stattgefunden hat. Das ist so, als teien noch die Kraft für einen Neu- entgegenhalten? würde jemand wegen einer Affäre beginn? Häupl: Auge in Auge mit ihm könnte mit einer Frau gescholten, ohne je Häupl: Was ist denn die politische man zwei große Gesellschaftsent- das Vergnügen genossen zu haben. Alternative zur Großen Koalition? würfe gegeneinanderstellen: auf der SPIEGEL: Kann Kanzler Vranitzky Ein Bündnis der ÖVP mit den Frei- einen Seite den Entwurf einer offe- nicht für Ordnung sorgen? heitlichen Jörg Haiders – das aber nen Stadt, einer kulturell freien und Häupl: Die Führungsschwäche be- können sich kulturell aufgeschlosse- auch sehr lebenslustigen Metropole. schränkt sich nicht auf die Spitze der ne, am Fortschritt orientierte Men- Dem steht Haiders Politikvorschlag Sozialdemokratischen Partei und ge- schen nicht wirklich wünschen. gegenüber, der auf soziale und kul- wiß nicht auf den Bundeskanzler. SPIEGEL: Trotzdem liebäugeln maß- turelle Eingrenzung hinausläuft, auf Aber der Vorwurf ist berechtigt: gebliche Teile der ÖVP mit einem Abschottung. Zwischen diesen bei- Wenn es den Leuten gutgeht, gleich- solchen Bündnis. Die Regierungs- den Modellen sollen die Wiener ent- zeitig aber alle jammern, dann müs- parteien sind einander doch offen- scheiden. Mit diesen Freiheitlichen sen die kritisiert werden, die Verant- kundig überdrüssig geworden. ist nicht nur kein Staat zu machen, wortung tragen für die öffentliche Häupl: Das ist eine Frage, wie die mit denen kann man auch auf keiner Diskussion. Leute miteinander umgehen. Ich bin Ebene zusammenarbeiten. Was soll SPIEGEL: Was wollen Sie denn end- da in jeder Hinsicht ein Kind meines ich mit einem anfangen, der nur die lich dagegen tun? Vorgängers Helmut Zilk und meine, Republik zusammenschmeißen will?

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„mit glücklichem Her- USA zen ausführen und zu- frieden sein mit dem, was er vollbracht hat. Er wird Gott bitten, Blinder weiterhin gute Taten vollbringen zu dürfen, und hoffentlich wird Dickschädel Gott diese Bitte erhö- ren“. In New York hat der größte Terroris- Das Video, mit dem der Ablauf des Atten- musprozeß der US-Geschichte be- tats festgelegt werden gonnen. Reicht religiöser Fanatis- sollte, ist nun Teil der Beweiskette in einem mus für eine Verurteilung? Prozeß, der am vorigen Montag in New York m Namen Gottes, des Allbarmherzi- begann. Zwölf Ange- gen: Wir fahren jetzt in den Holland- klagten, allesamt from- ITunnel ein, auf der rechten Spur. Wir me Moslems nahöstli- kommen aus New Jersey und sind auf cher Herkunft, wird dem Weg nach New York.“ vorgeworfen, Spreng- Ein Videoband, aufgenommen am 23. stoffattentate auf zwei Juni 1993 um 19.30 Uhr, hat diese Wor- Tunnel und mehrere te festgehalten. Auf dem Film sind der Gebäude in Manhattan

schleppende Verkehr nach Manhattan geplant zu haben. REUTER zu sehen, das Aufblinken der Brems- Zudem werden die Bombenanschlag auf das World Trade Center (1993) lichter vorausfahrender Wagen und die Beschuldigten mit dem Viermal 240 Jahre Haft für die Täter verschmutzten Wände der Tunnelröhre Anschlag auf das unter dem Hudson River. World Trade Center vom Februar 1993 Omar Abd el-Rahman, 56, in einer Ra- Der Fahrer, ein bärtiger Sudanese in Verbindung gebracht, bei dem sechs diosendung aus der Bundeshauptstadt mit Malcolm-X-Kappe, und sein ein- Menschen getötet wurden. Für die Aus- Washington verkündet, seien „Nach- ziger Passagier, ein Ägypter, der die Ka- führung des Bombenattentats waren im kommen von Affen und Schweinen, die mera hält, vertreiben sich die Zeit mit vorigen Jahr bereits vier andere Mos- von den Tischen des Zionismus, des lockeren Sprüchen. Als sie eine unbe- lems zu je 240 Jahren Haft verurteilt Kommunismus und des Kolonialismus setzte Polizeikabine passieren, imitiert worden. fressen“. Seinen Anhängern in den der Ägypter den strengen Tonfall eines „In diesem Fall geht es um Krieg“, USA empfahl er: „Schlagt zu, tötet die Fahnders: „Haben Sie Drogen da- lautete der erste Satz des Staatsanwalts Feinde Gottes, wo immer ihr sie trefft.“ bei?“ Robert Khuzami im bislang größ- Hat der eifernde Religionsgelehrte „Ich habe Katastrophen dabei“, ent- ten amerikanischen Terroristenprozeß. solche Befehle wörtlich gemeint? Erfüllt gegnet lachend der Fahrer. „Der Feind sind die USA, das Schlacht- es den Straftatbestand einer Anstiftung Diesmal noch nicht. Denn die Tun- feld die Straßen von New York.“ zum Verbrechen, wenn der seit früher neldurchfahrt an diesem Abend ist nur In das Gruselbild vom blutigen Islam Kindheit blinde Prediger in Brooklyn ein Probelauf. Die beiden Männer be- als unversöhnlichem Feind des Westens ausgerufen hat: „Ein Mord, der der Sa- sprechen, wie der Ernstfall ein paar Ta- scheint der Hauptangeklagte bestens zu che des Islam zum Sieg verhilft, ist ge- ge später aussehen soll. passen. Amerikaner, so hat Scheich rechtfertigt“? In der Mitte des Genau das versu- Tunnels, der täglich chen die Anklagever- von etwa 50 000 Pend- treter zu beweisen: lern benutzt wird, wol- Abd el-Rahman sei der len sie die „Hudud“ religiöse Führer einer plazieren. Hudud be- Gruppe islamischer zeichnet im Arabischen Terroristen gewesen – bestimmte, vom isla- mit der Autorität, die mischen Recht unab- geplanten Attentate änderlich festgelegte gutzuheißen. Um eine Strafen. Verurteilung des reli- Die Strafe für das giösen Fanatikers zu verderbte New York, erreichen, berief sich für die gottlosen USA die Staatsanwaltschaft überhaupt, soll nach auf eine nur selten ge- den Plänen der Ver- nutzte Rechtsvorschrift schwörer eine Auto- und klagte Abd el- bombe sein. Ein Gesin- Rahman samt sei- nungsgenosse des Fah- nen Anhängern wegen rers mit dem Deckna- „aufwieglerischer Ver- men Singh ist auserse- schwörung“ an. hen, den Sprengsatz in Das vage Gesetz er-

den Tunnel zu fahren. S. ELATAB / SYGMA möglicht selbst dann Singh werde die Tat Spitzel Salem, Angeklagter Abd el-Rahman: „Tötet die Feinde Gottes“ noch einen Schuld-

DER SPIEGEL 6/1995 135 AUSLAND spruch, wenn es bei der bösen Absicht blieb. Als Beweis reichen den Staatsan- wälten deshalb schon die Aufforderun- gen des Angeklagten an seine Anhän- ger, „das Land der Ungläubigen zu er- obern, um es zu reinigen“. Das rückt den Terroristenprozeß nach Ansicht prominenter Strafverteidiger in die Nähe eines politischen Verfahrens. In der wenig rühmlichen Geschichte des Aufwiegelungsparagraphen sind Tau- sende Angeklagter vornehmlich wegen ihrer Überzeugung verurteilt worden. So wurden nach dem amerikanischen Bürgerkrieg Anhänger der Südstaaten vor Gericht gestellt, wenn sie die Legiti- mität der siegreichen Union nicht aner- kannten. 1918 wurde die Rechtsnorm erweitert und diente als juristischer Knüppel gegen Sozialisten, Gewerk- schafter und Kriegsgegner. Erst in den achtziger Jahren reakti- vierten Bundesanwälte die längst ver- gessene Bestimmung. Sie wandten das Gesetz – mit nur geringem Erfolg – ge- gen radikale Linke an, aber auch gegen ultrarechte Rassisten oder puertoricani- sche Nationalisten. Michael Deutsch, ein bekannter New Yorker Verteidiger, hält das Vorgehen der Staatsanwälte für wenig aussichts- reich. „Aus Tradition klagen wir nie- Vom Freiheitskämpfer in Afghanistan zum Terroristen in New York manden wegen seiner Überzeugungen an, und viele Geschworene nehmen das sehr ernst.“ Sehr viel eindrucksvoller dagegen ist die Beweiskette gegen die Mitangeklag- ten des Scheichs. Ein V-Mann des FBI konnte Hunderte Gespräche der Islami- sten mitschneiden. Und der Ägypter Emad Salem, der das Video im Holland- Tunnel aufgenommen hat, tritt nun als Kronzeuge der Anklage auf. Ein Idealzeuge ist Salem trotzdem nicht. Schon jetzt mußten die Staatsan- wälte zugeben, daß der einstige Ge- heimagent der ägyptischen Armee we- gen Meineids vorbestraft ist. Für die In- filtration der Islamisten-Gruppe hat er von den Behörden mehr als eine Million Dollar erhalten. Doch auch der heute angeklagte Scheich galt lange Zeit als so nützlich, daß ein als Konsulatsbeamter tätiger CIA-Agent ihm 1990 ein Einreisevisum für die USA ausstellte. „Mich erbittert“, klagte der Prediger nach seiner Verhaf- tung vor 19 Monaten, „daß ein Mann, der früher Freiheitskämpfer genannt wurde, plötzlich als Terrorist gilt, wenn der Krieg vorbei ist.“ Ein Freiheitskämpfer ganz im Sinne des großen Antikommunisten Ronald Reagan war der blinde, an Diabetes und Herzschwäche leidende Gottesmann tat- sächlich: In der pakistanischen Grenz- stadt Peschawar wirkte Abd el-Rahman als religiöser Führer für islamische Frei- willige, die aus dem gesamten Nahen Osten anreisten, um die afghanischen Mudschahidin gegen die sowjetischen Invasoren zu unterstützen. Als Freund des Guerillaführers Gul- buddin Hekmatjar hat der Prediger ver- mutlich erste Kontakte zur CIA ge- knüpft. Der amerikanische Geheim- dienst versorgte die Afghanistankrieger mit Waffen im Wert von drei Milliarden Dollar. Noch heute kämpfen die beiden ältesten Söhne des Scheichs auf der Seite Hekmatjars gegen konkurrierende Stammesführer. Daß Abd el-Rahman jetzt vor Gericht steht, empört die arabische Welt. Die unter staatlicher Kontrolle erscheinende saudische Zeitung Ukas schreibt: „Der New Yorker Prozeß wird nicht allein ge- gen den Scheich geführt, sondern auch gegen den Islam. Kein Wunder, New York wird von den Juden beherrscht.“ Der Angeklagte selbst glaubt, er ver- danke den Prozeß seinen Feinden in Kairo; die Regierung von Husni Muba- rak habe Druck auf Washington ausge- übt. Nach eigener Aussage sieht sich Abd el-Rahman als „geistigen Mentor“ der Gamaat el-islamija, jener islami- schen Fundamentalisten, die mit An- schlägen auf Touristen Ägypten erschüt- tern. „Wir kennen diesen Mann als Dickschädel, als entschlossenen Aufrüh- rer, der Konfrontation und Gewalt an- heizt“, sagt der Mubarak-Berater Ussa- ma el-Bas. Schon seine 2000-Seiten-Dissertation, die er Ende der Siebziger schrieb, be- schäftigte sich mit dem Dschihad, dem heiligen Krieg – ein Thema, das ihn nicht wieder losließ: „Dschihad ist der einzige Weg, die Feinde des Islam zu vernich- ten“, schrieb der junge Islam-Gelehrte. Zu denen zählte nach seiner Meinung auch Anwar el-Sadat, der mit dem Erz- feind Israel Frieden geschlossen hatte. In zwei Prozessen sollte Abd el-Rah- mans Mitschuld an Sadats Ermordung bewiesen werden. Doch die ägyptische Justiz scheiterte. Mohammed Abd el- Ghaffar, ein Kairoer Richter, der 1984 das Verfahren gegen den Scheich mit ei- nem Freispruch beendete, sagt heute: „Das ägyptische Strafgesetz kann nur Taten ahnden, aber keine Vorsätze.“ Die amerikanische Verteidigerin des Hauptangeklagten im New Yorker Pro- zeß sieht das ähnlich. Für sie steht mit dem Scheich dessen religiöse Überzeu- gung vor Gericht: „Dies ist einer der er- sten Fälle überhaupt, in denen der An- klagepunkt ,aufwieglerische Verschwö- rung‘ nicht nur mit dem Grundrecht der Redefreiheit kollidiert, sondern auch mit dem der Religionsfreiheit.“ Y Überschwemmung der Maas bei Roermond: Die Flut hat die Menschen zusammengeschweißt AP

Niederlande „Wat een prachtig volk“ SPIEGEL-Reporter Erich Wiedemann über die Holländer im Kampf gegen das Hochwasser

in steifer Wind aus bleigrauem Doch die Soldaten des 101. Panzerba- Die Polizei hat angekündigt, sie wer- Himmel schlägt weiße Cappucci- taillons aus Soesterberg verhindern die de jeden verhaften, der dem Räu- Eno-Krönchen auf der Waal bei Katastrophe. Sie packen in Tag- und mungsbefehl nicht folge. Aber sie kann Nimwegen. Er bläst so stark, daß sich Nachteinsatz ein Gebirge von Sandsäk- natürlich nicht alle Keller und Dachbö- selbst die sturmerprobten Waal-Enten ken auf den brüchigen Deich. Die nie- den in den evakuierten Gebieten absu- am Ufer kaum auf den Beinen halten derländische Armee tut in diesen Tagen chen. Der „Bond van Blijvers“, der können. viel für ihren Ruf. Klub der Zurückbleiber, der sich spon- Der Wind drückt immer neue Was- Insgesamt haben rund 250 000 Men- tan in der Region gegründet hat, ist sermassen gegen das eingedeichte schen ihre Häuser verlassen müssen. mindestens tausend Mitglieder stark, Dreistromland zwischen Waal, Maas Ein Teil ist bei Freunden und Verwand- wie Klubchef Dick Hollander, Garten- und Niederrhein. Wenn die Dämme ten untergekommen. Der Rest lebt bis bauer im gefährdeten Ort Hurwenen, brechen, dann ist Holland in Not. Die auf weiteres in Schulen, Turnhallen, mitteilt. Gelderländer Polder liegen bis zu sechs Gemeindehäusern und im Utrechter In Wamel am südlichen Waal-Ufer Meter unter dem Meeresspiegel. Messezentrum. Eine alte Frau hat auf sind 50 Männer zurückgeblieben. Sie Der Asphalt auf dem historischen einer hölzernen Bank im Rathaus von schieben schichtweise Wache am Deich Waal-Deich hat fingerdicke Risse. An Nimwegen Quartier bezogen. und sitzen ansonsten in der Dorfknei- einigen Stellen kann man durch das Im Albertinum-Kloster von Nimwe- pe, trinken Kaffee und spielen Billard. Heulen des Windes das leise Schmat- gen werden alte Leute über 70 betreut. Es kann ja nicht ewig dauern. zen im Boden hören. Der Damm hat Die Stimmung ist gut, streckenweise so- Die Regierung hat eine Busladung sich mit Wasser vollgesogen wie ein gar heiter. „Erst war es kalt, aber jetzt Psychologen ins Notstandsgebiet ge- Schwamm. haben wir es hier großartig“, sagt die schafft, die störrische Bauern zur Auf- Am gefährlichsten ist die Lage zwi- 89jährige Hanneke van der Weerden. gabe bewegen sollen. Freilich ohne Er- schen Ochten und Tiel, etwa 20 Kilo- Daß der Bürgermeister von Nimwegen folg. Der Bürgermeister von Ochten, meter westlich von Nimwegen. Das sie besuchen kommt, das findet sie nett. der zu den Rebellen gehört, meldet, sie ganze Gebiet mußte vorigen Mittwoch „Aber es wäre nicht nötig gewesen.“ hätten noch Brot und Nudelsalat für ei- blitzartig geräumt werden, weil der Hat der denn jetzt nichts Wichtigeres zu ne Woche. Es sei deshalb nicht einzuse- Deich zu brechen drohte. tun? hen, weshalb sie aufgeben sollten.

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AUSLAND

Die Flut hat das Volk zusammenge- Utrecht Arnheim schweißt. Seit einem Teil der Nation das Gouda Niederrhein Ede 40 km Wasser am Hals steht, sind die notorisch Lek individualistischen Niederländer, die Ochten Nordsee evakuierte Gebiete sonst für ihr ewiges Genörgel („moppe- Tiel Waal ren en kankeren“) berüchtigt sind, ein Wamel Nimwegen einig Volk von Brüdern. Waal NIEDERLANDE Soviel „eendracht“ bewiesen sie in Oss Maas diesem Jahrhundert nur zweimal: 1953 Maas nach der großen Killerflut in Zeeland Lek ’s-Hertogenbosch und vorher – mit Abstrichen – während 10 km Amsterdam der deutschen Besetzung. Professor Deich Ijssel Cees van der Staak, Ordinarius für Kli- Den Haag Lek nische Psychologie an der Katholischen Jeder weiß, was das bedeutet: Die Köni- Rotterdam Waal Universität Nimwegen, erklärt dazu, gin geht nur zu ganz besonderen Anläs- Maas DEUTSCH- das „Element der Unkontrollierbar- sen ohne Hut. LAND Rhein keit“, das Gefühl, den Naturgewalten Die meisten Holländer im Hochwas- ausgeliefert zu sein, schaffe eine sonst sergebiet ertragen die Prüfung vorwie- BELGIEN nicht erreichbare Gemeinsamkeit. gend stoisch, aber mit zähem Wider- Bis Freitag sind 30 Millionen Gulden standswillen. Die perfekte Organisation mer, der am Mittwoch sein Haus vor an Spenden eingegangen. Die Regie- unterscheide sie von den erdbebenge- den drohenden Fluten räumen mußte. rung legt noch einmal 30 Millionen schädigten Japanern in Kobe, schrieb Tatsache ist: Die alten, von Weiden drauf. Die Krisenstäbe in Nimwegen anerkennend die Londoner Times. gesäumten Flußdeiche in den östlichen und Arnheim registrieren über 50 000 Doch die Anlässe zeigen, daß Hollän- und südlichen Niederlanden sind Quartierangebote. An der Küste hat ein der und Japaner auch etwas gemeinsam Schrott. Mit so was kann eine Nation, Vermieterverband mehrere tausend Fe- haben: Sie sind einsame Klasse im Er- die zu mehr als der Hälfte unterhalb des rienwohnungen als Notunterkünfte an- finden von Techniken zur präventiven Meeresspiegels lebt, keine Ehre einle- geboten. Bekämpfung von landesspezifischen Na- gen. Außer den Menschen hat die Solidar- turkatastrophen. Die Holländer bauen „Vielleicht haben wir das Risiko un- gemeinschaft eine Million Rinder, die besten Deiche der Welt, die Japaner terschätzt, aber wir haben unsere Lekti- Schweine und Schafe und ebensoviel bauen die sichersten Hochhäuser der on gelernt“, räumt der sozialdemokrati- Federvieh untergebracht, zum Teil in Welt – im Prinzip. sche Ministerpräsident Wim Kok ein. Vieh-Sammellagern, zum Teil auf priva- Die gekonnte Katastrophenabwehr Nun müsse gehandelt werden. Erstens, ten Höfen. Fernsehentertainerin Linda wird weltweit exportiert, aber wenn in damit so etwas nicht wieder passiert, de Mol resümiert gerührt: „Wat een Japan die Erde wackelt oder in Holland und zweitens natürlich auch, weil am prachtig volk.“ die Flüsse ausufern, stellt sich heraus, 8. März Provinzwahlen sind. Donnerstag früh trifft Königin Bea- daß man sich selbst das Beste nicht ge- Zunächst sollen alle gesetzlichen Be- trix ein. Sie trägt einen schwarzen Re- gönnt hat. „Warum machen unsere In- stimmungen bis auf weiteres außer Kraft genmantel und grüne Gummistiefel. genieure gute Deiche nur in Bangla- gesetzt werden, die dem Ausbau und Dazu eine wasserfeste Betonfrisur. Und desch, warum machen sie sie nicht zu der Sanierung der Deiche im Weg stan- zwar „zonder hoedje“, wie ein sechsjäh- Hause?“ fragt Lambertus Visser, Gel- den. Vor allem mit den sogenannten riges Mädchen im Fernsehen berichtet. derländer Kanalreinigungsunterneh- Umwelteffektreportagen, die die Grü- nen im Haager Parla- ment durchgesetzt hat- ten und ohne die kein Spatenstich getan wer- den durfte, ist erst mal Schluß. Die grüne Front hat mit ihrem Widerstand gegen den „alles ver- wüstenden Betonan- griff“, wie der Öko- Aktivist Jan Beckers es nennt, die Armie- rung der Deiche durch Eisenbetonelemente verhindert. Das pitto- reske Land zwischen den Strömen sollte so bleiben, wie es Rem- brandt vor über 300 Jahren gemalt hat. Auch die Deiche, die überwiegend noch aus dem Mittelalter stam- men, sollten so blei- ben. Doch die Konser-

P. HILZ / HOLLANDSE HOOGTE vierung der Idylle Deichbefestigung der Waal bei Ochten: „Risiko unterschätzt, Lektion gelernt“ ging, wie sich jetzt

DER SPIEGEL 6/1995 139 zeigte, zu Lasten der allgemeinen Si- cherheit. Grüne Politiker hat man in diesen Ta- gen in der Öffentlichkeit nicht gesehen. Kunstmaler Willem den Ouden, einer der Wortführer der Bewegung, ist aus Gelderland zu Freunden nach Amster- dam geflüchtet – nicht vor der Flut, son- dern vor den Drohungen der Nachbarn, die ihn und seine Freunde für das Desa- ster verantwortlich machten. Die großen Parteien freuen sich dar- über, daß die Grünen die Prügel bezie- hen, die sie alle zusammen verdient ha- ben. Auch die Etablierten waren sich stets darin einig, daß die Seedeiche an der Nordseeküste absolute Priorität ha- ben sollten und daß die Flußdeiche nicht so wichtig seien. Der Amsterdamer Te- legraaf faßt sein Urteil in einem Satz zu- sammen: „Sie haben jahrzehntelang ge- schlampt.“ Als wenn sie sich darauf verlassen hätten, daß im Notfall Hansje Brinkers einspringen würde. Klein-Hansje ist ei- ne vom Fremdenverkehrsamt gespon- serte Kultfigur aus der niederländischen Mythologie. Nach der Sage hat er in grauer Vorzeit die Nation vorm Absau- fen gerettet, indem er seinen Zeigefin- ger in ein Loch im Deich steckte, bis der Deichgraf und seine Männer mit Sand- säcken kamen. Nein, ohne die blauäugige grüne Op- position wäre es auch nicht viel besser gelaufen. Alle hatten immer nur Angst vorm Blanken Hans. Für die Instandhal- tung der zum Teil 500 Jahre alten Fluß- deiche hatte die letzte Regierung nur Almosen übrig. Dafür ist der „Delta- plan“, der die Küste gegen Hochwasser von der Nordsee her schützt, auf Sturm- stärken berechnet, wie es sie seit dem Beginn der niederländischen Ge- schichtsschreibung noch nicht gegeben hat. Nun soll alles anders werden. „Als het kalf verdronken is, dempt men de put“, heißt es in Gelderland. Deutsch: Man schüttet den Brunnen zu, nachdem das Kalb darin ertrunken ist. Am Donnerstag beginnt der Pegel zu sinken. Kein Grund zum Aufatmen. Denn das Wasser fließt zu schnell ab und droht – nunmehr von innen – die morschen Dämme erneut zu zerstören. Fachleute nennen das den Plumpud- ding-Effekt. Erst am Freitag abend ist das Schlimmste überstanden. Anfang der Woche können die ersten Flutflüchtlin- ge in ihre Häuser zurück. Immerhin, es sind auch drei Todesop- fer zu beklagen: Zwei alte Schwestern fielen in der Ortschaft Winssen beim Ausführen ihres Dackels vom Deich und ertranken. Ein 72jähriger Radfah- rer fuhr in einen Entwässerungsgraben. Er ertrank ebenfalls, weil er nicht schwimmen konnte. Y

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AUSLAND K. WOJCIK S. KAMINSKI Mahner Geremek, Präsident Wałe˛sa: „Die Zustände im Präsidialamt erinnern an den Hof von Ludwig XIV.“

Volksrepublik Polen sollen auch Eigen- Polen tümer des demokratischen Polen sein. Das ist vollkommen unannehmbar. De- mokratie bedeutet nicht nur freie Wah- len und Mehrheitsentscheidungen, son- „Anreiz zum Putsch“ dern außerdem Rechtssicherheit, un- abhängige Rechtsprechung, politische Oppositionsführer Bronisław Geremek über den Warschauer Machtkampf Kultur. SPIEGEL: Also hat Wałe˛sa doch recht mit seiner Kritik? SPIEGEL: Der Staatspräsident ruft zu ei- gen. So etwas ist völlig unmöglich. Na- Geremek: Beide Seiten, Präsident und nem Steuerboykott auf, will den gewähl- türlich bin auch ich nicht darüber er- Premier, stellen derzeit eine Bedro- ten Premier in einen langen Urlaub freut, daß die Regierungskoalition wirt- hung der Demokratie und der Freiheit schicken und droht mit der Auflösung schaftliche und politische Reformen dar. Für den Präsidenten ist die Demo- des Parlaments. Ist Lech Wałe˛sa ausge- blockiert. Aber sie ist in freien Wahlen kratie wohl nicht die Regierungsform, rastet? an die Macht gekommen, das muß man die er in seinem Innersten respektiert. Geremek: Nein. Damit fängt nur sein akzeptieren. Seine Art, über Politik zu denken, hat Wahlkampf an, und der wird sehr hart SPIEGEL: Der Präsident spricht von ei- eher in autoritären Systemen Platz. geführt. Meinungsumfragen zeigen den ner Diktatur der Mehrheit im Sejm. SPIEGEL: Trauen Sie Wałe˛sa einen Präsidenten in einer schwachen Aus- Geremek: Ja, dank ihrer Erfahrung mit Putsch zu? gangslage. Deshalb wendet Wałe˛sa alle dem Einparteiensystem versteht die Geremek: Psychologisch wäre er wohl Mittel an, die er für nötig hält. Er will Regierungskoalition unter Demokratie dazu bereit. Wałe˛sa denkt in der Tradi- den Eindruck eines starken Mannes er- schlicht die Macht der Mehrheit. Für sie tion von Marschall Jo´zef Piłsudski . . . wecken, auf den sich die Bürger verlas- heißt das: Die früheren Eigentümer der SPIEGEL: . . . der 1926 putschte und sen können. ein autoritäres Regime errichtete. Als SPIEGEL: Derselbe Mann, der das kom- erster Staatschef des unabhängigen Po- munistische Regime stürzte, scheint nun Eine Verfassungskrise len ist Piłsudski noch immer sehr popu- die Demokratie zu gefährden, wenn er lär. die Machtprobe mit einer gewählten Re- hat Polens Präsident Lech Wałe˛sa Geremek: Diese Beliebtheit wäre wohl gierung sucht. Wie verträgt sich das? heraufbeschworen. Mit seinem auch der Anreiz für Wałe˛sa, ähnlich zu Geremek: Wałe˛sa als historische Figur „Krieg an der Spitze“ des Staates handeln. Aber wer einen Coup durch- ist ein ganz anderer als Wałe˛sa, der Poli- will er den reformfeindlichen Pre- ziehen will, braucht Unterstützung in tiker. Der Mann, der die Geschichte des mier Waldemar Pawlak stürzen, ob- der Gesellschaft, dazu die Verfügungs- ausgehenden Jahrhunderts entschei- wohl der im Parlament über die ab- gewalt über die nötigen Machtinstru- dend beeinflußt hat, ist mein Freund. Er solute Mehrheit verfügt. In der vori- mente. Die hat Wałe˛sa nicht, anders hat die Streiks in Danzig organisiert, gen Woche drohte Wałe˛sa, das Par- als Piłsudski. Armee und Polizei wür- und damit fing in gewisser Weise alles lament aufzulösen, und riskierte den einem Putschaufruf des Präsiden- an, was zum Fall der Berliner Mauer damit eine Anklage vor dem Staats- ten kaum folgen. Und so wird es in Po- führte. tribunal. Bronisław Geremek, 62, len keinen solchen Staatsstreich geben. SPIEGEL: Wałe˛sa als Staatschef ist Ihnen Fraktionsvorsitzender der stärksten SPIEGEL: Wałe˛sa geht also nicht als weniger sympathisch? Oppositionspartei im Sejm, diente zweiter Piłsudski in die Geschichte ein? Geremek: Er hat selbst gesagt, er sei be- dem einstigen Gewerkschaftsführer Geremek: Ich glaube kaum. Aber er reit, undemokratische Methoden anzu- Wałe˛sa lange Jahre als Berater. will Macht, und er will mehr Macht, als wenden, um die Demokratie zu verteidi- ich für angemessen halte.

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SPIEGEL: Seit wann stellt Ihr Freund Seit mehr als 50 Jahren wallt im klei- denn eine politische Gefahr dar? Peru nen Ecuador Ende Januar der Patriotis- Geremek: Seit dem Präsidentschafts- mus auf, nimmt die Wut auf den gro- wahlkampf 1990. Schon da lautete seine ßen Nachbarn Peru zu. Dann jährt sich Devise: Ein Konflikt an der Spitze des die Unterzeichnung des Abkommens Staates verhindert den Konflikt weiter Affen und von Rio de Janeiro, in dem Ecuador unten im Volk, verhindert den Bürger- 1942 einen großen Teil seines Amazo- krieg. Diese brutale Auseinanderset- nasgebiets an Peru abtreten mußte. zung zerstörte die Solidarnos´c´-Bewe- Hühner Acht Jahre steckten Quito und Lima gung und beschädigte das noch sehr gemeinsam den neuen Grenzverlauf ab. schwache politische System Polens. Nur Ein alter Grenzstreit mit Ecuador Doch als die letzten Markierungspfähle deshalb konnten die Kommunisten die eskalierte zu Scharmützeln im Ur- entlang eines 78 Kilometer langen Macht zurückerobern. Streifens in der unwegsamen Condor- SPIEGEL: Vielleicht hat Wałe˛sajadie wald. Präsident Fujimori setzt im Kordillere eingeschlagen werden soll- falschen Berater? Wahlkampf voll aufs Militär. ten, zogen sich die ecuadorianischen Geremek: Für falsche Entscheidungen Vertreter aus der Grenzkommission zu- ist er selbst verantwortlich. Früher war rück. Wałe˛sa noch in der Lage, seine persönli- uerst fielen dem Krieg sieben Kühe Seitdem versucht Ecuador immer chen Interessen zu vergessen und im zum Opfer. Sie hatten unvorsichti- wieder, seine Grenze ein Stück in den Sinne der gemeinsamen Sache zu den- Zgerweise den trüben, stinkenden von Peru gehaltenen Urwald vorzu- ken und zu handeln. Die Zustände im Fluß durchwatet, der das peruanische schieben. Es geht dabei nur vorder- heutigen Präsidialamt erinnern mich da- Städtchen Aguas Verdes vom benach- gründig um Öl oder Gold – niemand gegen an den Hof von Ludwig XIV. barten ecuadorianischen Grenzort Hu- weiß genau, ob sich überhaupt Boden- Auch da ging es nur darum, wer das Ohr anquillas trennt. Soldaten Ecuadors be- schätze in dem umstrittenen Gebiet des Königs hatte und am meisten Ein- schlagnahmten das Vieh. verbergen. Quito will den Zugang zum fluß gewinnen konnte. Wałe˛sa hält sich eine Entourage, die ihm einredet, er handele stets zum Vorteil der Nation. Und er könne durchaus auch ohne de- mokratische Institutionen auskommen. SPIEGEL: Hat Wałe˛sa überhaupt Chan- cen auf eine Wiederwahl? Geremek: Die Stimmung wendet sich immerhin schon zu seinen Gunsten. Die Wähler sind enttäuscht von den nicht eingehaltenen Versprechen der Regie- rung. Die Frage ist, ob Wałe˛sa es wagt, das Parlament aufzulösen. Jetzt will er Neuwahlen, die Präsidentenwahlen aber möchte er ins nächste Jahr verschieben. SPIEGEL: Das wäre verfassungswidrig. Geremek: Hier stellt sich wieder die Fra- ge, ob Wałe˛sa überhaupt noch in demo- kratischen Bahnen denkt. Sein Verhal- ten ist freilich ein Beweis, daß er diese Bahnen verlassen hat. SPIEGEL: Es steht schon fest, daß der polnische Präsident auch nach der künf- REUTER

tigen Verfassung vom Volk gewählt FOTOS: werden wird. Das bedeutet: Er wird Ecuadors Präsident Dura´n Balle´n: Ablenkung von innenpolitischen Krisen weiterhin großen Einfluß haben. Geremek: Das muß nicht sein. Es ist „Sie haben die Tiere bestimmt ge- Amazonas zurückerhalten, den es an zwar wahr, daß wir dem Volk dieses schlachtet und gegessen“, vermutet Juan Peru verlor. Recht nicht nehmen können. Aber ein Romero Fuente, ein peruanischer Stra- Dieses Jahr brach der Streit so heftig gewählter Präsident könnte, wie in ßenhändler. Er hockt neben einigen aus wie schon lange nicht mehr. Fünf Österreich oder Portugal, die Rolle ei- Landsleuten auf dem Geländer der Grenzposten hätten die Ecuadorianer nes Schiedsrichters übernehmen. „Internationalen Brücke“, die Peru mit heimlich in peruanisches Gebiet vorge- SPIEGEL: Angenommen, Wałe˛sa verlöre Ecuador verbindet. Eine Flasche Pisco- schoben, behauptete die Regierung in sein Amt. Können Sie sich ihn als stillen Schnaps macht die Runde. Einer deutet Lima. Bei den Scharmützeln kamen Rentner in Danzig vorstellen? auf eine Ritze im Asphalt, die sich quer mindestens 17 Soldaten ums Leben. Geremek: Warum nicht? Auch da kann über die Brücke zieht. „Das ist die Gren- Ecuadors Präsident Sixto Dura´n Balle´n, er als historische Persönlichkeit eine Art ze“, sagt er. „Wer da rübergeht, hat 73, verordnete die totale Mobilma- Makler in politischen Konflikten sein. nichts zu lachen. Das gilt nicht nur für chung. Für ihn ist der Konflikt eine will- Das Argument, wir sollten Wałe˛sa lie- Kühe.“ kommene Gelegenheit, von der schwe- ber im Präsidentenamt belassen, nur Peruanische Reisende, die sich nicht ren wirtschaftlichen und politischen Kri- weil er als intrigierender und stänkern- ausweisen können, werden in Ecuador se abzulenken. der Rentner die Stabilität des Landes derzeit als Spione festgenommen. Etwas In Quito und Guayaquil verbrannten gefährden könnte, akzeptiere ich nicht. östlich des Grenzübergangs bei Aguas Schüler unter Anleitung ihrer Lehrer ei- Wir sind stark genug, um ihn in Danzig Verdes schießen seit dem 26. Januar Sol- ne peruanische Flagge. „Krieg ist die zu verkraften. Y daten der beiden Länder aufeinander. einzige Lösung“, tönt ein Taxifahrer in

142 DER SPIEGEL 6/1995 Huanquillas. Über die Motorhaube hat ger und überparteilicher Landesvater zu er die Nationalflagge geklebt. „Wir präsentieren. müssen die peruanischen Diebe nach Li- Nach neun Tagen Kampf einigten sich ma zurücktreiben“, pflichtet ihm ein Vertreter Perus und Ecuadors bei Ver- Straßenhändler bei. Ein Lautsprecher- mittlungsgesprächen in Brasilien vori- wagen der Stadtverwaltung holpert gen Freitag auf einen Waffenstillstand. durch die ungepflasterten Gassen. Er Zuvor hatte Fujimori noch verkündet, spielt die Nationalhymne und ruft die er werde nicht einlenken, solange sich Bevölkerung auf, Ruhe zu bewahren. feindliche Soldaten auf peruanischem Die Peruaner blieben zunächst gelas- Territorium aufhielten. sener. Nur die Boulevardzeitungen Der Grenzstreit könnte Fujimoris machten Stimmung. Statt der üblichen Wahlchancen schmälern. Bislang galt er drallen Blondine prangte vergangene als starker Mann, alle Umfragen geben Woche ein Orang-Utan auf der Titelsei- ihm einen riesigen Vorsprung. Unter te des Wochenmagazins Sı´: Im Volks- seiner Regierung gelang es, den Leuch- mund werden die Ecuadorianer – eine tenden Pfad zurückzuschlagen und die Anspielung auf ihre großen Bananen- Inflation zu bekämpfen. plantagen – gern als Affen verunglimpft. Jetzt steht der „Chino“ (der Chinese), Diese schmähen die Peruaner wiederum wie die Peruaner ihren japanischstäm- als „Hühner“ – weil sie ihre Nachbarn migen Präsidenten nennen, plötzlich als für dumm und feige halten. Zauderer da. Bei Beginn der Gefechte Viele Familien haben auf ihren Häu- waren seine Streitkräfte schlecht vorbe- sern und Hütten die Nationalflagge ge- reitet. Mit Taxis und Lastwagen mußten hißt. Inhaftierte Anhänger der maoisti- die Soldaten an die Front fahren. Dabei schen Terrorgruppe Leuchtender Pfad ist ihre Ausrüstung vergleichsweise mo-

Peruanischer Staatschef Fujimori: Vom starken Mann zum Zauderer und Indianer aus dem Amazonasgebiet dern; zahlenmäßig sind sie dem Gegner boten Präsident Alberto Fujimori an, weit überlegen. Ecuador gelang es dage- mit den peruanischen Truppen ins Ge- gen, einen peruanischen Hubschrauber fecht zu ziehen. mit Raketen abzuschießen. Doch der war von dem Ausbruch des Die bedingte Verteidigungsbereit- Grenzkonflikts überrumpelt worden; ta- schaft der peruanischen Soldaten erklä- gelang ließ er überhaupt nichts von sich ren Kritiker wie der Publizist Guillermo hören. „Fujimori hat offenbar nicht die Thorndyke mit Fujimoris „Mißbrauch nötigen Führungsqualitäten, das Land des Militärs zur eigenen Machterhal- durch diese Krise zu steuern“, kritisierte tung“. Das habe „ihre eigentliche Auf- die Zeitung La Repu´blica. gabe, die Landesverteidigung, beein- Der ehemalige Uno-Generalsekretär trächtigt“. Javier Pe´rez de Cue´llar, Fujimoris wich- Doch die Schuld darf der Präsident tigster Gegner bei den Präsidentschafts- den Generälen, auf die er sich seit sei- wahlen im April, warf dem Präsidenten nem Putsch gegen das Parlament vor vor, als Folge der „Desinformation“ der drei Jahren stützt, nicht zuweisen. Nach Regierung stehe Peru international als seiner Schlappe im Grenzkonflikt Aggressor da. Geschickt nutzte Pe´rez de braucht er die Militärs mehr denn je zu- Cue´llar die Krise, um sich als sachkundi- vor. Y

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Italien Respekt begraben Entsetzen nach einem Mord im Sta- dion: Vereine halten Schläger aus, Sportreporter müssen fliehen, der Fußball entgleist.

m blutigen Sonntag von Genua fand der Präsident des italienischen AFußballverbandes, Antonio Matar- rese, wie so oft ein trefflich unpassendes Wort. Heilige Empörung im Gesicht, be- klagte er, daß der italienische Fußball- sport geschändet worden sei. „Svergina- to“, sagte er, „entjungfert“ also, seiner Unschuld beraubt. Der Genueser Fan Vincenzo Spagnolo war von einem geg- nerischen Fan erstochen worden. Doch den Mord meinte Matarrese nicht. Ihn empörte vielmehr, daß die Spielführer der Mannschaften beschlossen hatten, das Spiel wegen der Untat nach der Halbzeit abzubrechen: ein Sakrileg of- fenbar für den Hohepriester des italieni- schen Fußballs. Auch dem Beschluß der obersten Sportbehörden, das ganze Land zum Zeichen der Sühne mit einem sportfrei- en Sonntag zu strafen, widersetzten sich Matarrese und etliche seiner Funktionä- re. The Show must go on. Und weitergehen wird sie. Gewiß schwelgte wie immer, wenn italienische Hooligans morden, die Nation ein paar Tage lang in sentimentaler Betroffen- heit. Schluchzende Frauen durften Fernsehreportern anvertrauen, wie man sich fühlt, Mutter eines Mordopfers oder eines Mörders zu sein. In den dick- sten verfügbaren Lettern proklamierte Italiens meistgelesene Sportzeitung, die rosafarbene Gazzetta dello Sport: „Jetzt reicht’s“, während die Turiner Stampa forderte, „die Händler aus dem Tempel des Fußballs zu vertreiben“. Derweil gingen schon Todesdrohun- gen beim Anwalt des Täters ein, des 19jährigen Simone Barbaglia aus Mai- land. Und auch dessen Eltern wurde te- lefonisch blutige Vergeltung für die Tat ihres Sohnes angekündigt. Der abgrund- tiefe Haß, der italienische Fußballfans entzweit, steigert sich eher noch, wenn einer von ihnen umkommt, als daß der Schock zur Besinnung beiträgt. Wie Landsknechte schweifen Italiens militante Fußball-Fundamentalisten je- den Sonntag kreuz und quer durchs Land: Die „Furiosi“ aus Cagliari. Die

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auf, die etwa Silvio Berlusconi den ra- biaten Anhängern seines Klubs AC Mi- lan zukommen ließ: Eintrittskarten, Fahrkarten zu den Spielorten, Unter- bringung, sogar Arbeitsplätze oder fi- nanzielle Unterstützung. Die schlechte Gewohnheit ist aus der Notwendigkeit entstanden, ständig neue Begeisterung für die Mannschaften zu schüren. Die ausgehaltenen Fans nehmen ihre Aufgabe todernst. Sportreporter, die sich kritisch über ihren Verein äußern, müssen damit rechnen, bedroht oder gar schwer verprügelt zu werden – so ge- schehen in Genua, wo der Sportjourna- list Giovanni Porcello unter Polizei- schutz vom Trainingsplatz flüchten mußte, nachdem er dem lokalen Team REUTER eine schlechte Zensur erteilt hatte.

FOTOS: Sich aus der zwielichtigen Beziehung Wasserwerfer-Einsatz im Stadion von Genua: Fahrkarten für die Fans zu lösen fällt den meisten Vereinen schwer; sie sind zu „Gefangenen ihrer „Hell’s Angels“ aus Padua. Die „Lö- sche Fans in den Stadien entrollen: „Vie- eigenen Heuchelei“ geworden (Gazzetta wengrube“ oder das „Kommando Ti- len Dank auch, Nero“, verkünden etwa dello Sport). Als sich etwa der Direktor ger“ aus Mailand. Die „Sturmtruppen“ Rom-Gegner in Anspielung auf den Kai- des AS Rom weigerte, den Fans mehr oder die „Totenköpfe“ aus Cremona. ser, der angeblich die Stadt zu eigenem als 400 Freikarten zur Verfügung zu stel- 3800 Ultras sind der Polizei bekannt. Lustgewinn in Brand steckte. Neapolita- len, stürmten diese immer wieder das Bei Spielbeginn müssen sie laut richter- ner werden aufgefordert, „Seife zu be- Spielfeld, was dem Verein nach dem ita- licher Verfügung telefonisch melden, nutzen, um dieUmwelt voreuchzuschüt- lienischen Fußball-Reglement heftige wo sie sind. Das erledigen sie locker per zen“. „Schluß mit den Tierversuchen, Bußgelder eintrug. Handy direkt aus dem Stadion. Die Son- nehmt Sizilianer“, hieß es unlängst beim Der Trupp aus der Mailänder Vor- derzüge, die ihnen zur Verfügung ge- Spiel gegen einen süditalienischen Ver- stadt, zu dem Simone Barbaglia, der stellt werden, demolieren sie liebevoll. ein im nördlichen Padua. Messerstecher von Genua, gehörte, sah Versuche, die Fußballvereine für den Die Gewalt imStadion zubrechen istin freilich ganz anders aus als die meisten Schaden haftbar zu machen, den ihre Italien auch deshalb besonders schwer, der Hooligans mit ihren Bomberjacken entfesselten Fans bei der Staatsbahn an- weil eine versteckte Komplizenschaft die und Kampfstiefeln: Seine Mitglieder ka- richten, scheiterten bisher. Ein Heer Vereine mit ihren Fans verbindet. Nach men als nette Mittelschicht-Jugendliche von 220 000 Polizisten muß eingesetzt dem tödlichen Messerstich von Genua daher. Statt mit dem Gemeinschafts- werden, um die Hemmungslosen zu wird dieser „kranke Konsens“, so die rö- transport der Mailänder Fans reiste die bändigen. Kosten: etwa 65 Millionen mische Tageszeitung la Repubblica, jetzt Gruppe im Intercity an. Kein Schal, Mark im Jahr. von der Sportpresse attackiert. kein Abzeichen verriet ihre Gefährlich- Uralter Haß zwischen Regionen und „Vereine beschützen die Ultras“, keit. Gemeinsam war ihnen vielmehr Städten, partikularistische Abneigungen schrieb der Fußballjournalist Maurizio die modische Barbour-Jacke, ein für und Aufspaltungen, die sogar den Be- Crosetti und zählte die Vergünstigungen den englischen Landedelmann entwor- wohner eines anderen fenes Kleidungsstück Stadtteils zum Todfeind aus grünem, gewach- stempeln können, brin- stem Tuch. gen die Aggressionen Niemand kannte sie zwischen den Anhän- in der Szene. Sie fielen gern verschiedener nicht auf. Genau das Mannschaften in Italien wollten sie. Ihre feine schneller zum Siede- Kleidung war Tarnung; punkt als irgendwo die jungen Leute nann- sonst in Europa. ten sich „Barbour-Ban- Kein Amerikaner de“. könne sich die Gewalt Hätte ein Polizist sie der „regionalen Passio- kontrolliert, wäre ihm nen vorstellen“, die der das Messer indie Hände Fußball in Italien frei- gefallen, das Simone setze, schrieb nach dem Barbaglia in einer Ta- Mord der Fußballkom- sche seiner Jacke ver- mentator George Vec- steckt hielt. Der bis da- sey in der New York hin als friedfertig be- Times; unter Haß und kannte Gärtnerlehrling Rachegefühlen werde hatte sich das Mord- jeder Respekt für den instrument aus der Gegner begraben. Sammlung eines Freun- Entsprechend dra- des geborgt: Er geden- stisch sehen die Spruch- ke, „einen aus Genua bänder aus, die italieni- Beisetzung des Mordopfers Spagnolo: Zwielichtige Beziehung aufzuschneiden“. Y

DER SPIEGEL 6/1995 145 Frankreich Rote Karotte Das staatliche Tabakmonopol soll fallen. Aber die Regierung kontrol- liert die Raucherei weiter.

er neueste Verschnitt der französi- schen Tabakanbauer stank in ge- Dwaltigen Qualmwolken zum Him- mel. Die rund 5500 „planteurs de ta- bac“, die Mitte Januar in Straßburg und Agen gegen die Abschaffung des staatli- chen Tabakmonopols demonstrierten, hatten ihre Scheiterhaufen aus duften- den Nikotinblättern mit Heu und Auto- reifen angereichert. 320 Jahre zuvor hatten die Vorfahren der Pflanzer für das genaue Gegenteil rebelliert: Sie erhoben sich gegen das einträgliche Tabakmonopol, das der Fi- nanzminister Ludwigs XIV., Jean-Bap- tiste Colbert, für seinen Herrn ausge- heckt hatte. Der Sonnenkönig verteidig- te sein Privileg mit äußerster Brutalität: Er ließ die Meuterer foltern, auf Galee- ren verbannen oder hinrichten – es habe „viel Hängerei“ um den Tabak gegeben, überlieferte die Marquise de Se´vigne´. Jetzt steht wieder eine Rauchwolke über der Nation. Weil die Europäische Union Zollschranken und Staatsmono- pole abschafft, wird der staatliche Pro- duktions- und Vertriebsmulti Socie´te´ Nationale d’Exploitation Industrielle des Tabacs et Allumettes (Seita) privati- siert. Das Unternehmen (Jahresumsatz: etwa 16 Milliarden Francs) besitzt das Exklusivrecht auf die Zigarettenproduk- tion in Frankreich; auch alle Glimm- stengelimporte von außerhalb der Euro- päischen Union laufen über die Seita. Der Konzern verdient klotzig Geld – etwa 650 Millionen Francs letztes Jahr. 6300 Beschäftigte rollen pro Jahr in fünf Fabriken 48 Milliarden Zigaretten, vom Marktführer Gauloises über Gitanes bis zu Lizenzprodukten wie News, Lucky Strike und Pall Mall. Sie drehen zudem 712 Millionen Zigarren und fertigen 200 Millionen Schachteln Zündhölzer. Hin- zu kommen weltweite Beteiligungen; in Deutschland hat die Seita 1994 mit ih- rem Partner BAT 2,6 Milliarden Zi- garetten – Spitzenreiter: Gauloises Blondes – abgesetzt. Mit dem Erlös aus der Entstaatli- chung will Premier Edouard Balladur zwei hochverschuldete Staatsbetriebe sanieren: Air France und die Bankge- sellschaft Cre´dit Lyonnais. Die Zigarette – Volksmund: „la clope“ – ist in Frankreich allen Antirau- cherkampagnen zum Trotz ein Symbol von Lebensgenuß und Kultur geblieben

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wie Rotwein oder Ba- guette. Diese Erfahrung machte schon der Gele- genheitsraucher Napo- leon. Der Korse hob 1811 eine vorüberge- hende Liberalisierung des Tabakgewerbes aus Angst vor dem Volks- zorn auf. Weil der frei gehandelte Tabak für sie unerschwinglich ge- worden war, mußten die Massen Ersatz wie Kohl, Heu und Baum- rinde kauen, schnupfen oder rauchen. Bis in die jüng- ste Zeit hinein war „la clope“ geradezu Teil der französischen Männer-Physiogno- mie: Filmstars wie Jean Gabin und Yves Mon- tand, der Philosoph

Jean-Paul Sartre und F. DEMANGE / GAMMA / STUDIO X selbst Staatspräsident Protest von Tabakbauern in Straßburg: Trotz Antiraucherkampagnen weiter drauflosgequalmt Georges Pompidou tra- ten stets mit Gauloise im Mundwinkel Elsaß und im Südwesten bangen um ihre gierung den Staatsanwalt in die Büros. auf, die an der Unterlippe klebte und Existenz. Grund: Verstoß gegen das Werbeverbot beim Sprechen mitwippte. Der Metzger Die Seita-Beschäftigten sind ent- für Nikotinware. arbeitete mit der ascherieselnden Kippe schlossen, um ihren beamtenähnlichen Wehmütigdenken alte Seita-Strategen im Mund, Liebesakte im Film klangen Sonderstatus zu kämpfen. Und die Inha- an das Jahr 1965 zurück. Da hatten sich aus mit der erholsamen Bett-Zigarette. ber der landesweit 35 500 Verkaufsstel- die Beatles öffentlich beschwert, daß sie Warnungen vor der Gefährlichkeit len – meistens Bistros, die mit einer me- im Vereinigten Königreich nur mit Mühe des Nikotins verpufften; letztes Jahr tergroßen roten Plastikzigarre („la ca- an ihre geliebten Gauloises kämen. sank der Zigarettenkonsum um nur zwei rotte“) dem Raucher den Weg weisen – Schlagartig stieg der Umsatz der scharfen Prozent. Obwohl Raucher heute in fran- wollen ihr bisheriges Verkaufsmonopol Braunen um 15 Prozent. Y nicht mit Supermärkten tei- len. Raucher sind Wähler, und sobeläßt esBalladur –schließ- lich möchte er im Mai in den Elyse´e-Palast einziehen – bei einer Privatisierung der mil- desten Sorte. Der Staat behält 10 Prozent des Seita-Kapitals, ein vergleichbarer Anteil soll an Belegschaft und Tabak- händler gehen. Ein harter Kern aus regierungsfreundli- chen Banken und Unterneh- men wird 25 Prozent der Ak-

KEYSTONE tien übernehmen. Filmstar Gabin (1954) Der traditionell dirigisti- Gauloise an der Unterlippe sche Staat, der 75Prozent vom Erlös jeder Zigarettenschach- zösischen Restaurants dem Gesetz nach tel kassiert, sichert sich so sei- nur in eigens markierten Winkeln gedul- nen beherrschenden Einfluß det sind, wird an allen Tischen drauflos- auf die Raucherei – obwohl er gequalmt wie eh und je. sie eigentlich eindämmen Bei soviel Rückhalt an der Clope-Ba- möchte. sis fühlt sich das mit der Seita „inzestu- Als die Seita jetzt eine ös“ (Le Point) verbandelte Qualmge- aggressive Werbekampagne werbe stark genug, auf die Barrikaden startete – die Plakate zeigten zu gehen. Die Pflanzer, bisher durch eine indianische Friedenspfei- Abnahmegarantien des Monopolisten fe und den Slogan „Alles, was verwöhnt, fürchten ausländische Kon- uns bremsen sollte, bringt uns Werbeplakat der Tabakindustrie kurrenz; 10 000 Familien vor allem im voran“ –, schickte ihr die Re- „Was uns bremsen sollte, bringt uns voran“

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Raumfahrt Jeder Start ein Wunder SPIEGEL-Redakteur Christian Neef über den Verfall des russischen Weltraumbahnhofs Baikonur

lles an diesem Morgen scheint wie Den richtungweisenden Spruch hat aus Zisternen betankt. Wie Matrosen früher. Mit einer scheppernden Ei- Raketenpionier Sergej Koroljow ge- in den Wanten eines Segelschiffs hän- Asenkette zieht Alexander Schmaly prägt. Rußlands Wernher von Braun gen Soldaten in den Kabelmasten und zwei Schlagbäume vor dem Bahnüber- ließ an dieser Stelle vor bald 34 Jahren zurren das silberne 50-Meter-Geschoß gang in der kasachischen Steppe herun- Jurij Gagarin in den blauen Wüstenhim- fest. Das stammt – technologisch gese- ter, obwohl kilometerweit weder Pferd mel schießen. Der Bauernsohn mit dem hen – aus dem Jahr 1963 und heißt noch Wagen zu sehen sind. Dann fingert sympathischen Jungengesicht sollte als noch immer „Sojus“ (Union): ironische der Major ein 50-Rubel-Stück aus dem erster Mann im Weltraum aus 300 Kilo- Hommage an die verweste Union der Portemonnaie und legt es auf den ge- meter Höhe dem Westen die Überle- Sowjetrepubliken. wohnten Platz vor der letzten Weiche. genheit des sowjetischen Systems vor- Die Abwasserpumpen unten im Gas- Punkt sieben, kurz vor Sonnenauf- führen. Der Schlag, mitten im Kalten kanal waren schon in Betrieb, als Sput- gang, kündigt ein Pfiff den Transport Krieg, traf das amerikanische Selbstbe- nik 1 von dieser Stelle in die Umlauf- Nummer 56877L an: Die Lok mit einer wußtsein an empfindlichster Stelle. bahn flog. Am Kabelmast ist die erste weißen Rakete im Schlepp rasselt vor- Inzwischen ist die östliche Super- erfolgreiche Erdumrundung als gelber bei. Schmaly läßt die Schranke wieder macht dahingeschieden, und Gagarin, Stern mit Datum 4. Oktober 1957 do- hoch und steckt zufrieden seinen Held der Sowjetunion, liegt längst ne- kumentiert. Die anderen 355 Stern- Glücksbringer ein: Der 40-Tonnen-Zug ben Koroljow an der Kremlmauer be- chen stehen für alles, was sonst hier in hat die Münze zur hauchdünnen Kup- graben. Doch in der weißflimmernden den Weltraum abhob: vom Russen Ga- ferfolie geplättet. Steppe, 2500 Kilometer von Moskau garin (1961) bis zum Deutschen Mer- Das Ritual ist Routine wie der tägli- entfernt, werden noch immer Ruhm und bold (1994). Nun wird Major Schmaly che Kasernendienst auf dem Weltraum- Korpsgeist aus der guten alten Gründer- Stern Nr. 357 dazupinseln, sobald die bahnhof von Baikonur, dem russischen zeit beschworen. Rakete mit zwei Tonnen Fracht für das „Kosmodrom“ in Mittelasien. Schmaly Blauuniformierte Generäle und die diensthabende Kosmonautenteam in ist seit elf Jahren dabei. „Genossen“, Generaldirektoren der Weltraumindu- der Weltraumstation „Mir“ gestartet verheißt wie damals ein Plakat am Start- strie beobachten nach traditionellem Ri- ist. platz, „der Weg zu den Sternen ist of- tual die Vorbereitung zum Start. Mühe- Veteran Schmaly erlebte 1983, wie fen.“ voll wird die Rakete aufgerichtet und eine explodierende Sojus-Rakete den

Rußlands Raumfahrt geht das Licht aus. Jurij Koptew, Gene- raldirektor der russischen Weltraum- agentur, hat ein Ende der bemannten Raumfahrt angekündigt, falls kein Geld mehr kommt: Von den benötigten 770 Millionen Mark will Moskau nicht einmal die Hälfte bereitstellen; lediglich fünf Prozent davon wurden für das erste Quartal 1995 überwiesen. Jeder dritte der 169 russischen Satelli- ten, die sich derzeit im All befinden, funktioniert nicht mehr richtig; schon fallen Fernsehübertragungen in einzel- nen Regionen Rußlands aus. Über 200 000 Ingenieure und Arbeiter der Weltraumindustrie haben sich einen an- deren Job gesucht; statt der bestellten 45 Trägerraketen wurden 1994 nur 7 produziert. Dabei galt die Präsenz im Kosmos, die mit dem ersten Sputnik (1957) und dem ersten Menschen im All (Jurij Gagarin 1961) begann, einmal als das wichtigste Weltmachtsymbol der UdSSR.

KASSIN Die Raumstation „Mir“, die schon seit 1986 die Erde umkreist, halte bei guter

FOTOS: P. Pflege noch ein paar Jahre, meint der Molnija-Rakete in Baikonur: „Alles solide Technik hier“

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Raketen-Müllhalde in der kasachischen Steppe: „Der Weg zu den Sternen ist offen“

Startplatz in eine Gluthölle verwandel- Dem treuen Ukrainer, der nach dem te – die gerade noch per Rettungskap- Untergang der UdSSR in russischen sel abgesprengten Kosmonauten lande- Diensten geblieben ist, klopft Kosmo- ten zwei Kilometer entfernt in einem drom-Vize Oberst Leonid Gorjuschkin Schweinepferch. Fünf Jahre später lief aufmunternd auf die Schulter: „Alles so- beim Auftanken hochexplosiver Treib- lide Technik hier und hervorragende stoff aus einem defekten Schlauch; der Leute.“ Schmaly ist skeptischer als sein damals 30jährige Schmaly rettete sich großspuriger Chef: Nur „reiner Enthusi- aus dem Flammenmeer. asmus“ halte den Betrieb noch aufrecht. Von Rußland fast aufgegeben, durch Geldmangel an den Rand des Ruins ge- deutsche Astronaut Ulf Merbold, der im rückt – Baikonur, einst der technologi- Herbst von Baikonur aus mitgeflogen sche Stolz der roten Weltmacht, verfällt. war. Jeder geglückte Start gilt als kleines Russische Findigkeit und Robustheit Wunder. Nicht mal mehr eine Reserve- seien „Milliarden wert“, sagt ein Mana- rakete steht wie früher hinten in den ger der US-Konkurrenzagentur Nasa. Hangars bereit. Baikonur-Veteran Schmaly Dieses Kapital geht verloren – wenn es Die Geschäftigkeit am Startplatz „Eine 50-Rubel-Münze als Talisman“ den Russen nicht gelingt, Aufträge aus Nr. 2 wirkt wie Selbsthypnose. Solange dem Westen zu bekommen. Ein Joint- sie die Triebwerke noch in Gang krie- Sowjetreiches. Am Anfang, so doku- venture mit der US-Firma Lockheed will gen, sagen sich die Männer, könne ihr mentieren Fotos im Garnisonsmuseum, nun für eine Milliarde Dollar „Proton“- Einsatz nicht völlig hoffnungslos sein: gossen Soldaten 1955 an der Bahnstati- Raketen kaufen und 25 Millionen in Bai- trotz Treibstoffmangels, fehlender Er- on Tjuratam den Beton für das Mili- konur investieren. satzteile, eingemotteter Abschußbasen. tärobjekt „11284-R“ in den kasachi- Rundherum Trostlosigkeit: verlasse- schen Boden. Das vermeintliche Stadi- ne Kasernen mit glaslosen Fensterhöh- on entpuppte sich später als Raketen- len, bröckelnde Bauruinen, aus denen bahnhof von der dreifachen Größe des hungriges Hundegebell ertönt. In den Saarlandes mit 15 Startanlagen, 1500 Ki- Regalen des Provianthandels „Wojen- lometer Straßen und einer Wohnstadt torg“ liegt nichts außer einem Packen für 100 000 Menschen am Fluß Syr-Dar- Papirossy der Billigmarke „Weißmeer- ja. Das 250 Kilometer entfernte Dörf- kanal“. Die Straßen sind voller Schlag- chen Baikonur wurde nur als Namens- löcher, durch die Leitungen kommt geber benutzt, um den amerikanischen Strom nur noch gelegentlich. Am Vor- Feind in die Irre zu führen. abend der Sojus-Montage dämmerte das Zu den Reliquien im Heiligenschrein Kosmodrom im Kerzenschein dahin – Baikonurs gehören die Memoiren des Stromsperre. Konstrukteurs Koroljow, der nach dem Die Geschichte des Heldenstartplat- Krieg Hitlers V-2 zur Sowjetrakete um-

GAMMA / STUDIO X zes, jahrzehntelang Objekt mit Sonder- baute. Aber auch die Erinnerung an die Kosmonaut Merbold nach der Landung status, wirkt plötzlich wie eine Kurzfas- größte Katastrophe Baikonurs ist noch sung des Dramas vom Niedergang des wach: Die Explosion einer R-16-Inter-

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sich Sosemtschuk Hoffnung, „irgend- wann geht alles wieder los.“ Dieser Optimismus hält auch Sergej Jerschow aufrecht. Winzig wirkt der „Energija“-Konstrukteur mit Buchhal- terbrille neben seinem eingemotteten Wunderwerk. Dessen Triebwerke, sagt er und lauscht in die Stille, hätten „wie ein musikalischer Marsch“ geklungen. Zwei schon fertiggestellte Raketen hält Jerschow betriebsbereit. Welt- raumrivale USA hat den Russen zuge- sagt, bei der kommerziellen Nutzung des Ungetüms zu helfen. Deshalb ist Jerschows Halle fast der einzige ge- pflegte Ort in Baikonur. 100 Helfer, letztes Häuflein einer 2000-Mann-Be- legschaft, halten den grüngestrichenen Boden sauber und die Triebwerke in Schuß. Selbst auf den vier Jahre alten Wandzeitungen wischen sie weiter den Staub von den Namen längst vergesse-

P. KASSIN ner Helden der Arbeit. Shuttle-Konstrukteur Pimenow: „Rußlands einzige konkurrenzfähige Branche“ Der Hausherr vom Hangar nebenan hält seinen Kollegen Jerschow hohnla- kontinentalrakete (SS-7) riß 1960 fast erbaute Kombinat versank im Dorn- chend für einen Traumtänzer: Nikolai die gesamte Kosmodrom-Führung und röschenschlaf. Pimenow, Konstrukteur des Raum- einen Vize-Verteidigungsminister in Der Shuttle-Flugplatz sieht so aus, transporters „Buran“. Das noch mit den Tod. Es gab 165 Tote, das Desa- als wäre das gesamte Personal nur mal der Unionsflagge geschmückte Shuttle ster wurde als „Flugzeugunglück“ ka- schnell zum Mittagessen in die Kantine – er sieht den US-Modellen sehr ähn- schiert. gegangen. Die mit Schaumkanonen be- lich – steht in zwei flugfähigen Exem- Und die Bilder von der 100 Meter stückten Löschwagen stehen noch an plaren in der Halle. hohen Mondrakete N-1: Nach der vier- der insgesamt fünf Kilometer langen Jetzt soll Pimenow die milliardenteu- ten Explosion gaben die Russen das Landebahn. Rost zernagt das Feuer- ren Elektronikvögel in der Salzsteppe Wettrennen mit den Amerikanern um wehrrot. Im Tower brennt Licht, dort abstellen – das endgültige Aus für sein die erste Mondlandung auf. Vom spielt das Wachpersonal tagaus, tagein Werk: Selbst wenn die Russen das Mondterminal aus hätte später die Su- Karten. Geld hätten, „kriegten wir die Dinger perrakete „Energija“ eine neue Welt- In den Abgaskanälen des Startplat- nicht mehr hoch, es gibt keine Fach- raumstation ins All wuchten sollen; zes steht meterhoch Wasser, Risse zie- leute mehr“. Der Konstrukteur kann regelmäßige Flüge des sowjetischen hen sich quer durch den Beton. Acht nicht verstehen, warum Rußlands Spaceshuttles „Buran“ waren ebenfalls der neun ausgebildeten Shuttle-Flieger „einzige konkurrenzfähige Branche“ geplant. sind schon tot. Warum hier Major Sergej Sosemtschuk bewacht nach sechs Jahren Stillstand mit Schäferhund und Gummiknüppel noch Dienst geschoben wird? von Rußland gepach- RUSSLAND die übriggebliebenen Stahltürme, hoch- „Man hat uns gesagt“, macht Moskau teter Raketenstartplatz Baikonur/Leninsk ragenden Lifte und 40 Me- ter tiefen Betonbunker. Er KASACHSTAN hat den feuerspeienden Einsatzbereite Trägerraketen UKRAINE 100-Tonnen-Lastesel „Ener- Rußlands gija“ fliegen sehen. Beim Test im Mai 1987 war er Höhe in Metern Nutzlast GEORGIEN USBEKI- vorsichtshalber 15 Kilometer in Tonnen TURK- STAN ARMENIEN KIRGISIEN weit ins Hinterland evaku- 60 MENIEN ASERBAIDSCHAN iert worden; selbst die Kon- 100,0 TADSCHIKISTAN strukteure befürchteten eine 50 Explosion „wie in Hiroschi- ma“. Anderthalb Jahre spä- ter hob das noch unbemann- 40 te Shuttle ab. „Einfach sa- genhaft“, schwärmt Sosemt- 30 schuk heute. Doch als in der russischen 20 K Hauptstadt unter dem Re- O C M former Boris Jelzin kauf- O 19,5 C männisches Rechnen einge- 10 15,0 führt wurde, war es mit dem 7,5 4,0 Milliarden Rubel verschlin- 2,1 1,7 genden Unternehmen vor- 0 bei. Das von 15 000 Men- Energija Proton Zenit Sojus Zyklon Molnija Kosmos mit Raumfähre Buran schen im Aktivisteneinsatz

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von den Reformherrschern im Kreml so zierskollegen erwischt. 90 Prozent der kaputtgemacht wird. Verbrechen, räumt der kasachische Po- Ihre Bitterkeit laden die Russen gern lizeichef ein, würden von seinen auf einem Sündenbock ab, dem ihre gan- Landsleuten verübt. Um russische zeVerachtung gilt: den Kasachen, Urein- Lynchjustiz zu verhindern, ließ der wohnern von Baikonur. Deren Präsident Kosmodrom-Befehlshaber die Dienst- Nursultan Nasarbajew erklärte das in sei- waffen seiner Offiziere einsammeln. ner Republik gelegene Kosmos-Juwel Die Läden, die früher ein besseres zumEigentum seines Staats, alsBoris Jel- Angebot hatten als die Geschäfte im zin das Ende der Sowjetunion besiegelte, stolzen Moskau, sehen aus, als wären und teilte der Uno offiziell die Enteig- sie gerade geplündert worden. Allein nung mit. der Bauernmarkt zwischen den schie- Sieben Milliarden Dollar Pacht für 30 fen Plattenbauten an der „Straße der Jahre forderte Nasarbajew – genausoviel Sowjetarmee“ sorgt fürs Nötigste. Zäh wie das Haushaltsdefizit seiner Regie- handeln Russen und Kasachen über rung, aber in Devisen. Kasachische Poli- die Preise für Schwarzbrot, das von zisten übernahmen das Revier. Zugleich weit her herbeigeschafft werden muß, zogen Zehntausende Obdachlose aus den und russischen Wodka. Elendsgebieten am Aral-See ins früher In Moskau verkauften sie den hermetisch abgeriegelte Leninsk, die Schnaps zu einem Drittel des Preises, Wohnstadt für die Kosmodrom-Bedien- beschimpft ein Kunde im speckigen steten 40 Kilometer südlich von Baiko- Militärdrillich die kasachischen Händ- nur. Propaganda in Baikonur ler, und: „Die klauen sogar die Kup- Als Jelzin den Bau einer Ersatzanlage 115 Millionen Dollar Pacht fer- und Bleikabel aus dem Steppenbo- im Fernen Osten androhte, einigten sich den.“ Schmalys Monatssold von die verfeindeten Brüder auf 115 Millio- ren ein ganzes Bauregiment meuterte 400 000 Rubeln, 35 Flaschen Wodka nen Dollar Jahrespacht. So dürfen die (drei Tote); die abgefackelte Bäckerei wert, reicht gerade fürs Essen. Russen 20 Jahre bleiben. Ihre trotzigen an der Ecke, neben der Kühe und Scha- Nach dem Pachtabkommen hoffen Losungen an der Straße zur Stadt („Bai- fe weiden. die Russen darauf, daß Leninsk wieder konur – auf ewig unser“) haben sie mit In Schmalys Zweizimmerwohnung, zur geschlossenen russischen Exklave Freundschaftsschwüren („Nur mit dem wo seine Frau Walja und Tochter Olga wird, ein selbstverwaltetes Ghetto. Bruder bist du stark“) übermalt. Freilich warten, steht ein Uralt-Fernseher Mar- „Wir bringen die Stadt wieder in hat Moskau bislang keinen Cent der ver- ke „Horizont“, der rumpelnde Kühl- Ordnung“, sagt Vize-Befehlshaber einbarten Pachtsumme bezahlt. schrank in der Küche ist geborgt. Die Gorjuschkin. Das muß er auch. Denn Der Streit hat das betonumzäunte Le- besseren Möbel hat Schmaly zu den El- Moskaus Raumfahrtstrategen haben ninsk zum Siechtum verurteilt. Wenn tern in die Ukraine geschickt. mit dem Westen einen Vertrag über 15 Alexander Schmaly nach dem Dienst zu Selbst im bitterkalten Winter bleibt Satellitenstarts geschlossen – für eine seiner Wohnung in die Gorkistraße geht, regelmäßig Strom, Gas oder Wasser Milliarde Dollar. Bezahlt wird jedoch passiert er alle Stationen des Niedergangs weg. Für Schmaly und seine Kameraden nur, wenn das Kosmodrom vorher mo- in einer Stadt, die schon halb entvölkert ein klarer Fall: Kasachen, die jetzt in dernisiert worden ist. ist: das ausgebrannte Offizierskasino hin- der Stadtverwaltung sitzen, „haben 700 So könnte Rußlands neuer Griff ter dem Lenin-Denkmal; den von einer Jahre keine Heizungen gekannt“. nach den Sternen ebensoleicht schei- Gasexplosion zerrissenen Plattenbau, Alle paar Tage finden Passanten mor- tern wie der Traum von der gemeinsa- unter dem im Juli 13 Menschen begraben gens eine Leiche in der Stadt; vor kur- men russisch-amerikanischen „Alpha“- wurden; die Kaserne, in der vor drei Jah- zem hat es einen von Schmalys Offi- Raumstation. Moskau hat inzwischen erkannt, daß der russische Anteil an diesem „Jahrhundert-Projekt“ gering bleibt: Zum Bau der „Alpha“-Station werden russische Firmen nur wenig beitragen, und von der Flugleitung des gemeinsamen Labors haben die Ameri- kaner ihre Partner vorab schon ausge- schlossen. Den Flirt der beiden Kosmos-Mäch- te leitet US-Shuttle „Discovery“ ein, der ein Andockmanöver an das Orbi- tallabor „Mir“ übt. Als russischer Fremdenführer sitzt ein Unglücksrabe mit an Bord: Kosmonaut Wladimir Ti- tow. Bei seinem ersten Weltraumstart war er wegen einer defekten Antenne in 300 Kilometer Höhe an der sowjeti- schen Orbitalstation vorbeigesaust. Beim nächsten Start explodierte Titows Trägerrakete, in allerletzter Minute rettete ihn die Startmannschaft des Majors Schmaly. Da bangt ein Baikonur-Offizier:

FOTOS: K. ANDREWS / DIAGONAL „Hoffentlich kein böses Omen für die Fleischverkauf an Raumfahrtpersonal: Der Sold reicht gerade fürs Essen russische Raumfahrt.“ Y

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Werbeseite . AGENCE VO Passagiere des Air-France-Airbus vor der Entführung der Maschine: „Geiseln! Geiseln! Nicht schießen!“

Terrorismus „Raus mit den Leuten“ Wie französische Gendarmen den gekaperten Airbus in Marseille befreiten / Von Jean-Claude Bourret

lughafen Marseille-Marignane, Noch etwas mehr als 50 Meter bis gegen. Aber er verliert den Kampf. Die 17.14 Uhr. Aus 400 Metern Entfer- zum Flugzeug. Der Luftpirat schließt Tür öffnet sich und schwingt zur Seite. Fnung setzen sich drei fahrbare die hintere Tür. Zwei Gangways nä- Wachtmeister Thierry P. dringt in die Gangways in Bewegung. Am Steuer je- hern sich nun rechts und links den Maschine ein, seine sieben Kameraden weils zwei Männer der GIGN; wenn ei- Hecktüren, die dritte rollt auf die rech- dicht hinter ihm. Sie werden von Schüs- ner getroffen wird, kann der andere so- te Tür am Bug zu. sen empfangen. Die vier Terroristen ha- fort übernehmen. Auf den Treppen hal- Der Fahrer der dritten Treppe hält ben sich im Cockpit verschanzt, mit drei ten sich acht bis elf Gendarmen bereit. zehn Zentimeter vor dem Rumpf der Geiseln: dem Flugkapitän, dem Kopilo- Da eröffnet ein Terrorist von der hin- Maschine. Die acht Gendarmen aus ten und dem Chefsteward. Sie haben teren linken Tür aus mit einer Kala- der Mannschaft von Kommandant De- zwei Pistolen sowie eine Kalaschnikow schnikow das Feuer. Eine der Treppen nis Favier stürmen die Stufen empor. und eine Uzi-Maschinenpistole. wird getroffen, aber niemand verletzt. Der Gendarm an der Spitze ver- Wachtmeister Thierry P. entgeht sucht, die Tür zu öffnen. Einer der knapp dem Tod, als ihn die ersten Ku- © Editions Michel Lafon, 1995. Terroristen stemmt sich von innen da- geln einer Salve durch die Trennwand

Minute um Minute hat der französische Journalist Jean- Claude Bourret den Sturm auf den Airbus der Air France rekonstruiert, den vier al- gerische Islamisten Weihnachten 1994 von Algier nach Marseille entführt hat- ten. Bourret, Autor eines soeben er- schienenen Buchs über die 1974 gegründete Antiterror-Einheit GIGN (Groupe d’Intervention de la Gendarme- rie Nationale), befragte die beteiligten Polizisten, die 173 Geiseln unversehrt retten konnten. Die Einsatzleitung im Kontrollturm verfügte über Beobach- tungsmittel, mit denen Bewegungen im Cockpit verfolgt werden konnten. S. PAGANO / SIPA Eliteeinheit beim Aufstemmen der Bugtür, Helmvisier und Panzerweste mit

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zum Cockpit streifen. Er feuert viermal aus seiner 357 Magnum. Zwei Männer fallen um. Tot oder verletzt? Eine wei- tere Salve trifft die rechte Schulter des Wachtmeisters. Schwer verwundet bricht er zusammen. Gendarm Alain P. feuert, obwohl er in die Beine getroffen wurde, Schuß auf Schuß in Richtung Cockpit. Komman- dant Favier ist als vorletzter an Bord ge- stürmt. Ein dritter, dann ein vierter Gendarm des ersten Kommandos sind innerhalb von zwölf Sekunden zu Boden gegangen. Die Verwundeten stöhnen vor Schmerzen. Auf dem Rücken rut- schend, schafft einer den Weg zurück

bis zur Tür. Auf dem Teppichboden der T. ORBAN / SYGMA Kabine bleibt eine dunkle Blutspur zu- Evakuierung der Airbus-Passagiere: Flach auf das Vorfeld gelegt rück. Gendarm Olivier H. wird getroffen – für einen Moment verloren hin, bis er in Zwei Gendarmen der zweiten Gruppe ins Wadenbein. Im Dämmerlicht ist das Sicherheit gebracht wird. sind getroffen worden. Sie waren nach schwere Visier der Schutzhelme eher ein Im Vorderteil der Maschine sind in vorn gestürmt, um dem ersten Kom- Nachteil für die Beamten. Einige schie- der ersten Minute mehr als 200 Schüsse mando zu Hilfe zu kommen. Haupt- ben es für einen Moment hoch, um die abgegeben worden. Von hinten ertönen mann Tardy brüllt: „Raus mit den Leu- Situation besser einschätzen zu können. Schreie und Weinen. Die Passagiere ten! Raus mit den Leuten!“ Beißender Rauch breitet sich in der Ma- und Mannschaftsmitglieder suchen auf Jetzt hasten die ersten Passagiere schine aus. dem Boden Schutz. über eine Treppe nach draußen, die Eine Kugel trifft Eric A. in die kugel- Über die zweite Treppe ist Haupt- Hauptmann Kim gerade mit der dritten sichere Weste. Das Geschoß hat eine mann Tardy in die Maschine gestürmt. Mannschaft an die rechte Hecktür ge- solche Wucht, daß trotz der Keramik- Mit einer Maschinenpistole in der Hand schoben hat. Eine Minute und sieben platten eine Rippe bricht. Eine zweite dringt er bis zu den Toiletten vor und Sekunden nach Beginn des Angriffs Salve zertrümmert das Schulterblatt. reißt die Türen auf: leer. Den weibli- werden die Notausgänge rechts und Im Cockpit sind immer noch sieben chen Passagieren jagen die Männer in links geöffnet. Mann, die vier Terroristen und die drei ihren schwarzen Kampfanzügen einen Zwei Rutschen blasen sich auf. Der Besatzungsmitglieder. Die drei Geiseln solchen Schrecken ein, daß sie laut erste Passagier hat es aus Angst so eilig, werfen sich hin, machen sich ganz klein, schreien: „Geiseln! Geiseln! Nicht daß er ins Leere springt und sich ver- sie möchten im Erdboden verschwin- schießen!“ letzt. Die Menschen, die der Hölle im den. Zum Glück beachten die Entführer Tardy tritt auf Körper und Hände im Airbus entkommen sind, müssen sich sie kaum. In dem winzigen Raum ist der Gang. Im Licht der Halogentaschenlam- flach auf das Vorfeld legen. Vielleicht Lärm der Waffen ohrenbetäubend. Das pe sieht Tardy, wie plötzlich ein Stück hat sich ein Terrorist unter sie gemischt. Feuer der GIGN hat die Fensterschei- Wand von Kugeln zersiebt wird. Stöh- Man kann sie nicht überprüfen, wäh- ben durchlöchert. nen vorne links. Es ist Thierry P., der rend noch geschossen wird. In einem unbewachten Augenblick zwei Treffer abbekommen hat. Die vordere rechte Rutsche wird von zwängt sich der Kopilot durchs rechte Die GIGN-Männer schießen aus allen einer Salve beschädigt. Kläglich fällt sie Seitenfenster und läßt sich aus zehn Me- Rohren. Sie wollen die Terroristen in in sich zusammen. Die vordere linke ter Höhe auf die Rollbahn fallen. Er der Pilotenkanzel festnageln, um die Rutsche entfaltet sich planmäßig. Über bricht sich den Oberschenkel, humpelt Evakuierung der Passagiere zu ermögli- diese Rutsche wird auch Thierry P. ge- Richtung Flugzeugheck und setzt sich chen. borgen, der an der Schulter und am TURPIN / GAMMA / STUDIO X J.-M. FOTOS: Einschußlöchern: Ein Blitz, dann eine furchtbare Explosion in der Kabine

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der Terroristen hat einfach ins Blaue geschossen. Philippe fällt hintenüber. Eine Kugel hat seinen Revolver zer- schmettert. Er selbst kommt mit einem gebrochenen Finger und ein paar Krat- zern davon. Der Kugelhagel aus dem Cockpit wird spärlicher. Nur noch ein Luftpirat scheint am Leben zu sein. Im Kontrollturm des Flughafens, wo der Krisenstab die Erstürmung ver- folgt, meldet sich über Funk plötzlich eine Stimme: „Hier ist der Kapitän. Nicht mehr schießen, sie sind alle tot.“ Die Gendarmen stellen das Feuer ein. „Kommt mit erhobenen Händen heraus!“ brüllt Kommandant Favier. Er

AFP / DPA fürchtet, daß es sich um eine List der Verwundeter GIGN-Beamter nach dem Einsatz: Vier Bomben gefunden Geiselnehmer handeln könnte. Der Kapitän und der Steward verlas- Rücken schwer verwundet ist.Die beiden plodiert die Granate unter der Flug- sen das Cockpit; sie sind so verstört, Ärzte der Gruppe versorgen ihn noch im zeugnase. daß sie nicht wahrnehmen, was um sie Feuerhagel. Der zweite Versuch gelingt. Glei- herum geschieht. Durch die halbgeöffnete Tür des Cock- ßendes Licht erfüllt das Cockpit, ein Im Cockpit liegen vier ineinander pits, das für den Bruchteil einer Sekunde Feuerwerk explodiert, in langen Fah- verknäulte Körper. Überall Einschuß- im Zwielicht sichtbar wird, schleudert nen quillt weißer Rauch durchs Fen- löcher. Insgesamt sind mehr als 500 einer der Entführer plötzlich einen ster. Doch die Terroristen schießen Schüsse gefallen. Sprengsatz in den Rumpf. Ein Blitz, dann weiter, als sei nichts geschehen. Einer Die Gendarmen fühlen eine merk- eine furchtbare Explosion. Kommandant von ihnen ist zu diesem Zeitpunkt würdige Stille in sich. Ganz langsam Favier wird in die erste Sesselreihe ge- schon schwer verwundet, wie sich spä- löst sich die Spannung. Jeder war mit schleudert. Favier verrenkt sich fast, um ter herausstellt. Hinter dem Airbus ge- dem Tod konfrontiert. Und dennoch neue Patronen unter seiner Panzerweste hen die ersten Feuerwehrfahrzeuge in leben sie – ein Wunder bei diesem Feu- hervorzukramen. Er sucht, kann sie aber Stellung. erhagel. Passagiere und Crew sind ge- nicht finden: „Munition! Munition!“ Unter dem linken Flugzeugflügel rettet. Alles in allem hat es 30 Verwun- Ein Gendarm, fünf Meter hinter ihm, wird ein Verwundeter geborgen. Sol- dete gegeben, davon neun bei der wirft ihm ein Lademagazin zu. Zum daten, die das Cockpit im Visier behal- GIGN. Die Besatzungsmitglieder be- Glück bringen Hauptmann Kim und sei- ten, schützen ihn. Das Feuer auf die richten, sie seien vor der Erstürmung ne Mannschaft Verstärkung. Sie sind Terroristen darf nicht abreißen, damit gezwungen worden, sich mit schwarzen durch die hintere rechte Tür eingedrun- sie nicht aus dem Cockpit fliehen. Kapuzen über dem Kopf und einer Ka- gen. 17.18 Uhr: Ein Geiselnehmer wird laschnikow in der Hand aus der Tür zu In drei Minuten und zehn Sekunden getroffen. Er ist auf der Stelle tot. lehnen. Einer der Entführer habe sich sind alle Passagiere geborgen. Aber noch Um 17.24 Uhr stürmen vier Gendar- die Jacke des Flugkapitäns übergezo- werden zwei Besatzungsmitglieder von men die rechte vordere Treppe hinauf. gen, um nicht von Scharfschützen nie- den Terroristen im Cockpit gefangenge- Sie bleiben für einen Augenblick ste- dergestreckt zu werden. halten. hen, ihre Waffen auf Tür und Cockpit Bei der Durchsuchung der Maschine Ein Gendarm auf dem Rollfeld präpa- gerichtet. Philippe, der Anführer, werden vier Sprengsätze gefunden – die riert eine Blendgranate. Er nähert sich steigt noch ein paar Stufen weiter. Sein Bomben, mit denen die Terroristen das dem offenen Seitenfenster, wirft – dane- Kopf befindet sich jetzt in Höhe der Flugzeug womöglich über Paris in die ben. Miteinem gewaltigen Lichtkegel ex- Plattform. Plötzlich eine Salve. Einer Luft jagen wollten. Y TURPIN / GAMMA / STUDIO X REUTER J.-M. Einschußlöcher im Airbus-Cockpit, durchschossenes Pistolenmagazin: 500 Kugeln abgefeuert

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SPIEGEL-Gespräch „SIEGE FÜR DIE MENSCHHEIT“ Box-Weltmeister George Foreman über seine Mission für Alte, Dicke und Jesus Christus

SPIEGEL: Mister Foreman, Hand aufs Schwergewichts-Weltmeisterschaft zu SPIEGEL: Also würden Sie auch gegen Herz: Von einem Boxer namens Axel boxen. Schulz wieder die legendäre rote Hose Schulz hatten Sie bis vor wenigen Tagen SPIEGEL: Wird der Kampf stattfinden? anziehen, in der Sie 1974 gegen Muham- noch nie gehört? Foreman: Das ist noch offen. Aber mad Ali verloren und in der Sie nun wie- Foreman: Nein. Ich bin einer aus der al- wenn, wird es eine harte Sache. Schulz der Weltmeister geworden sind? ten Schule. Ich kenne Muhammad Ali, ist sehr stark und gefährlich, da muß ich Foreman: O nein, die Hose kommt ins Joe Frazier, Ken Norton; und was diese mich vorsehen. Museum. Generation drauf hat, das hat gerade SPIEGEL: Der große George Foreman SPIEGEL: Wurde Schulz nicht auch des- Michael Moorer erfahren . . . zittert vor einem zweitklassigen Europä- halb als Gegner ausgewählt, weil er ein SPIEGEL: . . . der junge Weltmeister, er? Schulz hat als international größten Klischee bedient: Er ist weiß, blond und den Sie im November entthront haben. Erfolg lediglich den Sieg gegen James Deutscher? In amerikanischen Billigse- Foreman: Genau der. Sie sehen also, es „Bonecrusher“ Smith vorzuweisen – ei- rien spielen Männer, die so aussehen, gibt keinen Grund, bei den neuen Na- nen abgehalfterten Fighter. die Nazi-Schergen. men auf dem laufenden zu sein. Foreman: Ich werde nicht den Fehler Foreman: Manager mögen in diesen Ka- SPIEGEL: Aber über Schulz, den Sie als machen, meinen Gegner zu unterschät- tegorien denken; für sie gibt es diese Herausforderer akzeptiert haben, sind zen. Das hat Moorer getan – Sie wissen, Rollenverteilung: Schwarz gegen Weiß, Sie inzwischen informiert? wie es ausgegangen ist. Ob andere sa- Gut gegen Böse. Als Joe Louis gegen Foreman: Natürlich, ich habe ihn mir auf gen, Schulz sei schlecht, ist mir egal. Max Schmeling boxte, kämpfte angeb- Video angeschaut. Er ist der vielver- Wenn ich höre, mein Gegner kommt lich das freie Amerika gegen das häßli- sprechende junge Kerl aus Deutschland, aus Deutschland, dann heißt das für che Deutschland. Aber ich habe bei sol- der die Chance bekommen soll, als er- mich: Achtung! Die Deutschen wollen chen Vergleichen nie mitgespielt. Ich ster nach Karl Mildenberger um die nicht verlieren. habe die Adjektive schwarz oder weiß nie benutzt, um Menschen zu beschreiben. Und Deutschland habe ich in bester Erinnerung. SPIEGEL: Wann waren Sie in Deutschland? Foreman: 1968 war ich als Amateur in Hannover. Ich habe nirgends auf der Welt so saubere Straßen und so schöne Gärten gesehen; das Essen war einmalig, und die deutschen Sportler sind Spitzenklasse. SPIEGEL: Sie sind ja gera- dezu begeistert. Foreman: Ich komme jetzt nach Deutschland, auch da habe ich viele Fans. Von mir werden Sie nichts Schlechtes über Deutsch- land hören. SPIEGEL: Will George Foreman es sich mit nie- mandem verderben? Auf Ihr eigenes Land lassen Sie auch nichts kommen. 1968 bei den Olympischen Spie- len hüpften Sie mit dem Sternenbanner durch den Ring, während etliche ih- rer Teamkollegen für die

DUOMO schwarze Selbstbestim- Titelverteidiger Foreman: „Mit 46 Jahren bin ich nicht nur älter, sondern auch stärker geworden“ mung demonstrierten.

160 DER SPIEGEL 6/1995 . REUTER B. WENDE Weltmeister Foreman*, Herausforderer Schulz: „Manager denken in den Kategorien Schwarz gegen Weiß, Gut gegen Böse“

Foreman: Die Flagge würde ich voller ständigen Schlägen der linken Führungs- nicht mehr der Weg, der aus dem Stolz heute wieder schwenken. Ich bin hand darauf hingearbeitet. Als die Zeit Ghetto führt? damals gerettet worden, weil Präsident gekommen war, schlug ich eine rechte Foreman: Anders als früher ist Boxen Lyndon B. Johnson 1964 ein Beschäfti- Gerade. Und sehen Sie sich diese Mus- nicht mehr der einzige Weg. Heute gungsprogramm für Jugendliche gestar- keln an: Solchen Bizeps hatte ich noch bieten Sportarten wie Football und vor tet hatte. Das gab all denen eine Chan- nicht, als ich mit 24Jahren erstmals Welt- allem Basketball talentierten Jugendli- ce, die – wie ich – auf die schiefe Bahn meister wurde. Mit46Jahren binichnicht chen eine Alternative. geraten waren. nur älter, sondern auch stärker gewor- SPIEGEL: Der bislang letzte Straßen- SPIEGEL: George Foreman, der ameri- den. Der George Forman von 1973 hätte kämpfer, der es bis zum Champ brach- kanische Patriot, der niemals aneckt. gegen den von 1995 keine Chance. te, war Mike Tyson. Im Mai hat er Erklärt sich aus dieser Rolle Ihre Be- SPIEGEL: Gibt es keine jüngeren Kämp- voraussichtlich seine Gefängnisstrafe liebtheit? fer, die mithalten können? Ist das Boxen wegen Vergewaltigung verbüßt. Wer- Foreman: Ich bin ein Mensch den Sie dann gegen ihn bo- wie du und ich. Überall, übri- xen? gens auch in Deutschland, er- George Foreman Foreman: Die Frage ist wohl kennen mich die Menschen zunächst, wie Tyson mit sei- wie einen Nachbarn wieder. ist der einzige Pastor, der ganz legal 68 Menschen k. o. nem Leben zurechtkommen Der einzige Unterschied ist, schlug – der Box-Weltmeister im Schwergewicht, der in sei- wird. daß ich einen härteren Punch nem Jugendzentrum texanischen Ghetto-Kids Nächstenlie- SPIEGEL: Die Szene wartet habe. be predigt, verlor von 77 Profi-Kämpfen nur 4. Foreman wur- sehnsüchtig auf seine Rück- SPIEGEL: Dieser Punch hat de 1973 erstmals Weltmeister, verlor den Titel aber schon kehr. Kann das Boxen Tyson die Boxszene durcheinander im nächsten Jahr wieder – an Muhammad Ali. Nach zehn- bei seiner Resozialisierung gewirbelt. Promoter Don jähriger Kampfpause stieg er 1987 wieder in den Ring. Das helfen? King hat nach Ihrem Sieg ge- Comeback brachte ihm bisher 40 Millionen Dollar Gage und Foreman: Boxen ist eine gute schimpft: „Wenn ein alter erneut den WM-Titel. Jetzt hofft der Deutsche Axel Schulz, Hilfe im Leben; und Hilfe Mann wie Foreman die Szene 26, auf einen WM-Kampf gegen Foreman, 46, der vor sei- kann Tyson brauchen. Wenn am Leben erhält, zeigt das, nem am Dienstag beginnenden Deutschland-Trip noch ein Sie fragen, ob er dem Boxen wie verrottet dieser Sport paar Tage auf Hawaii ausspannte. helfen kann, kann ich nur sa- ist.“ gen: Das Boxen braucht nie- Foreman: Was soll ich über manden, aber wir brauchen Don King sagen? Nur soviel: das Boxen. Wenn er sich Der hat nie im Ring gestan- wieder in Form bringt, wür- den, geschweige denn einen de ich mit Vergnügen gegen Titel gewonnen. Tyson antreten. SPIEGEL: Ist es nicht absurd, SPIEGEL: Mike Tyson ist ein wenn ein45jähriger miteinem Boxer, der mit Totschlag lucky punch, einem Glücks- droht. „Ich will meinem treffer, Champion wird? Gegner das Nasenbein ins Foreman: Das war kein Hirn treiben“, hat er gesagt. Glückstreffer, ich habe mit Muß man sich vor so einem Mann nicht fürchten? * Oben: beim K.-o.-Sieg gegen Ti- Foreman: Natürlich, Boxen telverteidiger Michael Moorer am 5. ist zum Fürchten. Wenn du November 1994 in Las Vegas; un-

SAKOMOTO / BLACK STAR in den Ring steigst, gleich ob ten: Helmut Schümann, Hans Hiel- scher im Hapuna Beach Prince Ho- Foreman, SPIEGEL-Redakteure*: „Arbeite gern“ als Profi oder Amateur, er- tel auf Hawaii. scheint dir dein Gegner wie

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ein Riese. Erst nach dem Kampf stellst len Leuten demonstrieren, daß ich noch SPIEGEL: Nur nicht in Torschlußpanik du dann fest, daß er vielleicht viel klei- nicht müde bin. verfallen – ist das die Botschaft, die Sie ner ist als du. SPIEGEL: Endet Ihre Show, sobald die den Mittvierzigern geben wollen? SPIEGEL: Vor dem Fight gegen Moorer Kameras abgeschaltet sind? Foreman: Ich habe bewiesen, daß Alter haben Sie gesagt, diesmal sei das Sech- Foreman: Keineswegs. Morgens bei uns keine Barriere ist. Die Zeiten haben ste Gebot – Du sollst nicht töten – außer zu Hause, wenn sich die Kinder auf die sich geändert, heute ist ein 46jähriger Kraft gesetzt. Wollten Sie Moorer um- Schule vorbereiten und am liebsten in kein alter Mann mehr. Ich bin der Stan- bringen? Ruhe gelassen werden möchten, albere dartenträger dieses Wandels. Foreman: Ich will niemanden umbrin- ich herum. Ich möchte immer alle zum SPIEGEL: Mit dieser Einstellung haben gen. Ich habe häufig Ringrichter aufge- Lachen bringen. Ich bin der geborene Sie, wie die New York Times schrieb, fordert, Kämpfe zu stoppen, wenn ich Clown. die „Grenze zwischen Athlet und Iko- Gegner schwer angeschlagen hatte. Ta- SPIEGEL: Das vermarkten Sie nach Kräf- ne“ überschritten. Würde mit einer Nie- ten sie es nicht, habe ich mich zurückge- ten. Ob als Hamburger verschlingendes derlage – zum Beispiel gegen Tyson – halten. Aber es kann schiefgehen, wenn Monster oder als Werbemodel für Aus- auch die Hoffnung sterben, die Sie allen du einen Unterlegenen vom Haken läßt. puff-Service, Chips und Turnschuhe – Älteren, Dicken und Glatzköpfigen ge- Plötzlich erholt er sich, und du bist der stets sind Sie der ulkige Vogel. Ist George ben? Dumme. Gegen Moorer hätte ich in je- Foreman nur ein Kunstprodukt? Foreman: Nein, denn ich kann nicht dem Fall voll draufgehalten. Das ist al- Foreman: Ich habe mit meinen Auftritten mehr verlieren. Wenn ich in den Ring les. keine Schwierigkeiten. Es stimmt, ich es- steige und besiegt werden sollte, werden die Leute sagen: George hat verloren, weil ein Besserer da war. Nie mehr werden sie sagen: George hat verloren, weil er zu alt ist. Daß ich Moorer besiegt habe, der mein Sohn sein könn- te, hat ein Zeichen ge- setzt, das sich nicht mehr wegwischen läßt. Meine Siege über Jüngere wa- ren Siege für die Mensch- heit. Jetzt wissen wir, daß in die Jahre zu kom- men nicht die Todesstra- fe bedeutet. SPIEGEL: Den K.-o.- Schlag gegen Moorer wollen Sie auch als At- tacke gegen den weltwei- ten Jugendkult gewertet wissen? Foreman: Ja, die war dringend notwendig. Ich habe gezeigt, daß Dyna- mik und Erfolg nicht nur für die Jugend da sind. Und ich behaupte, daß ich kein einmaliges Phä- nomen bin. Ich bin nur

J. BARRETT / GLOBE PHOTOS SYGMA durchschnittlich veran- Prediger Foreman, Sträfling Tyson: „Natürlich, Boxen ist zum Fürchten“ lagt, es gibt Stärkere und Schnellere als mich. Stel- SPIEGEL: Mit solchen Sprüchen geraten se viel – aber heute bekomme ich auch len Sie sich vor, was da ein Supermann Sie aber in den Verdacht, das Boxen um noch Geld dafür, ist das nicht wunder- in meinem Alter alles erreichen könnte. jeden Preis in den Schlagzeilen halten zu bar? Ich bin gern Schauspieler. SPIEGEL: Der Umfang Ihrer Oberarme, wollen. SPIEGEL: Auch sonntags, wenn Sie in Ihre Schlag- und Willenskraft – da ist Foreman: Es gibt keinen Zweifel: Wenn Ihrer Kirche predigen? Wo können wir doch ebensowenig Durchschnitt wie bei ich in den Ring steige, will ich gewin- den wahren George Foreman erleben? Ihrem angeblichen Hamburger-Kon- nen. Aber das Wichtigste, was mir er- Foreman: Vor allem im Ring, aber auch sum. möglicht, meine Rechnungen zu bezah- außerhalb. Sowohl das Alberne als auch Foreman: Als Junge habe ich tatsächlich len, ist das Entertainment. Ich weiß, das Ernste sind in mir drin. Was ich über davon geträumt, soviel Geld zu haben, daß alle Kameras auf mich gerichtet sind die Jahre gelernt habe, ist Geduld zu ha- mir so viele Hamburger leisten zu kön- und ich etwas bieten muß. ben. Ich lasse mich nicht hetzen. Als ich nen, wie ich möchte. Und auch heute SPIEGEL: Bleiben Sie deshalb, wie im 1987 mein Comeback startete, sagten liebe ich sie noch über alles. Aber dar- Kampf gegen Evander Holyfield, schon viele: Beeile dich, denn du wirst alt. Ich um geht es nicht. Natürlich trainiere ich mal in den Ringpausen stehen, statt sich habe mir damals die Zeit genommen ständig; ich arbeite auch hier im Urlaub sitzend auszuruhen? und auch jetzt im Kampf gegen Moorer. auf Hawaii täglich an meinen Muskeln. Foreman: Das war sowohl Show als auch Jetzt warte ich, bis meine Chance Entscheidend aber für jeden Erfolg ist Psychotrick. Ich wollte Holyfield und al- kommt. der Glaube an sich selbst.

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SPIEGEL: Und dieser Glaube kann die werden wir gefördert. Ich boxe dennoch SPIEGEL: Aber berufen fühlen Sie sich Welt verbessern? weiter, was viele wohl nicht begreifen zu Höherem? Foreman: Um die Welt zu verbessern, können. Aber ich arbeite gern. Mein Foreman: Lassen Sie es mich so sagen: muß man zuerst selbst ein besserer Job ist Boxen, also boxe ich. Boxen hat mir meinen Platz gezeigt. Mensch werden. Meiner Gemeinde sage SPIEGEL: Reichen die Werbeeinnahmen Wenn Sie mich aber nach dem Sinn ich, die beste Predigt sei ein vorbildli- noch nicht für einen ruhigen Lebens- meines Lebens fragen, dann ist es ein- ches Leben. Nicht was du sagst, zählt, abend? deutig das Predigen. Im nächsten Som- sondern was du tust. Foreman: Ich wäre naiv, wenn ich an- mer werden wir einen Bus kaufen. Ich SPIEGEL: Müssen Sie weiter boxen, um nehmen würde, daß das Werbegeschäft träume davon, damit durch die Verei- es sich auch künftig finanziell leisten zu unabhängig vom Boxen läuft. Im Mo- nigten Staaten von Amerika zu fahren können, in Ihrer Gemeinde zu predi- ment rennen mir die Manager die Tür und den Leuten zu zeigen, wie sehr gen? ein. Aber das hört schlagartig auf, wenn dieser alte, ehemalige Boxer Jesus Foreman: Als ich 1987 wieder anfing zu ich nicht mehr in den Ring steige. Für Christus liebt. boxen, habe ich Geld für mein Jugend- die PR-Leute bin ich nur als Boxer in- SPIEGEL: Herr Foreman, wir danken zentrum gebraucht. Inzwischen aber teressant, nicht als Mensch. Ihnen für dieses Gespräch. Y

Fußball WM-Held aus dem Computer Stuttgarts Mittelfeldspieler Dunga ist für Brasilien wichtiger als Stürmerstar Roma´rio

aum hielten die brasilianischen Fußballer nach dem Finalsieg Küber Italien den Weltmeister- schaftspokal in Händen, behauptete ihr gefährlichster Stürmer: „Das ist der Roma´rio-Cup.“ Auch die Nationaltrainer aus 83 Ländern waren sich in der Beurtei- lung Roma´rios nahezu einig: Sie machten den brasilianischen WM- Helden, der schon zum besten Spie- ler des Turniers gewählt worden war, auch zum „Weltfußballer des Jahres 1994“. Jetzt hat ein Computer des finni- schen Forschungsinstituts für Olym- pische Sportarten die WM-Ge- schichte umgeschrieben: Nicht der exzentrische Stürmer war Garant des brasilianischen Erfolges, son- dern der eher unauffällig spielende Mittelfeldstratege Carlos Dunga, 31. Am Institut hat Professor Pekka Luhtanen ein Programm entwickelt,

mit dem jedes WM-Spiel in Einzel- M. KUNKEL / BONGARTS aktionen zerlegt wurde. Das brasilia- Profi Dunga: Auch unter Druck Pässe mit großer Präzision nische Nationalteam wies überall Spitzenwerte auf: Es war am läng- pelpaß weiterzugeben. Im Finale helfen Carlos Dunga allerdings sten im Ballbesitz, ließ am wenigsten spielte Dunga 120 Pässe; Roma´rio nicht. Wie viele im Ausland spielen- Schüsse auf das eigene Tor zu und brachte es nicht einmal auf 40 Ball- de Weltmeister wäre auch Dunga gewann die meisten Zweikämpfe. kontakte. Selbst unter Druck arbei- gern zu Jahresbeginn in seine Hei- Dabei, so der frühere Fußballer tete der für den VfB Stuttgart spie- mat zurückgekehrt. Doch Flamengo Luhtanen, habe Dunga „die Schlüs- lende Profi mit großer Präzision: 70 Rio de Janeiro, mit dem sich der selrolle gespielt, obwohl er selten Prozent seiner Zuspiele – eine unge- VfB-Profi schon einig war, konnte mit dem Ball gelaufen ist“. Das wöhnlich hohe Quote – erreichten sich den effektivsten Spieler der WM Team kontrollierte in Gruppen zu einen Teamkollegen. nicht mehr leisten. Der Traditions- zwei oder drei Profis den Ballbesitz, Die Qualitäten, die Stuttgarts Ma- klub muß umgerechnet acht Millio- ihr Kapitän bot sich allen Gruppen nager Dieter Hoeneß („Er hat auch nen Mark an den FC Barcelona kontinuierlich als Anspielstation an dann gut gespielt, wenn’s nicht so überweisen – für diese Summe holte – um dann den Ball sofort per Dop- aussah“) schon immer beschwor, er Roma´rio, 29, aus Spanien zurück.

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WISSENSCHAFT PRISMA

Diabetes angenommen, auf einen zu hohen Blutzuckerspiegel bei Hilfe bei den Patienten zurückzufüh- ren sind, sondern auf die Spätschäden? mangelnde Produktion insu- Viele Zuckerkranke leiden linähnlicher Wachstums- mit fortschreitender Krank- faktoren („IGF-1“ und heit an der sogenannten dia- „IGF-2“), die neben der feh- betischen Neuropathie – ei- lenden oder zu geringen In- nem Funktionsverlust peri- sulinproduktion zum Bild der pherer Nerven. Symptome Zuckerkrankheit gehört. Wie sind ein schmerzhaftes Bren- Ishii und seine Kollegen im nen in Händen und Füßen; Journal of Neuroscience Re- Impotenz, Inkontinenz so- search, Experimental Neuro- wie Verdauungsbeschwerden logy and Brain Research Re- sind häufig die Folge. Mitun- views berichten, konnten sie

ter kommt es zu Durchblu- bei zuckerkranken Ratten NASA tungsstörungen, welche die die Nervenstörungen durch Sterbende Sonne Amputation von Fuß oder Injektionen eines der Wachs- Unterschenkel notwendig tumsfaktoren verhindern, Astronomie sterbenden Sonne ins All ge- machen. In Tierexperimen- obwohl die Blutzuckerspie- schleudert werden. „Es ist ten hat der Biochemiker gel der Ratten erhöht blie- Tod einer die letzte Stufe in der Evolu- Douglas Ishii von der Colora- ben. Mögliche klinische Kon- tion normaler Sonnen“, so do State University jetzt sequenzen aus seiner Theorie fernen Sonne Harrington, „unsere Sonne nachgewiesen, daß diese erwartet Ishii allerdings erst In gewisser Weise sei es „ein wird in vielleicht fünf oder Schäden nicht, wie bislang in einigen Jahren. Blick in die Zukunft unseres sechs Milliarden Jahren diese eigenen Sonnensystems“, so Phase durchlaufen.“ erläutert der Astronom Pa- trick Harrington von der Artensterben University of Maryland ein Foto, das er mit Hilfe der Virenpest Weitwinkelkamera an Bord des erdumkreisenden Hub- bei Fröschen? ble-Teleskops aufgenommen Harte UV-Strahlen, Pestizi- hat. Das Bild zeigt den To- de, Saurer Regen, Dürren deskampf einer Sonne als oder Versalzung des Erd- hellen Punkt in dem Stern- reichs – so vielfältig sind die nebel NGC 6543, rund 3000 Lichtjahre von der Erde ent- fernt im Sternbild des Dra- chen. Die blütenblätterarti- gen Gebilde sind Gaswolken,

COLORADO STATE UNIVERSITY die durch die Explosions- Biochemiker Ishii und Ausdehnungskräfte der

Lungenkrebs vielleicht auch lebenslang in der Lunge des Rauchers verweilen. Die Hersteller der Fil-

ter, darunter auch eine Tochterfirma des PELKA / SILVESTRIS Filter in Verdacht deutschen Chemieriesen Hoechst AG, be- Wasserfrösche Im Gewebe eines lungengewebskranken stritten umgehend jede „Giftigkeit“ ihres Patienten fand der Krebsarzt John Pauly Produkts. Amerikanische Krebsexperten Hypothesen, mit denen Wis- vor drei Jahren mikroskopisch winzige Fa- hingegen verwiesen in diesem Zusammen- senschaftler das weltweite sern. Eine Analyse ergab, daß es sich um hang auf eine besorgniserregende Ände- Massensterben der Frösche Zellulose-Acetat handelte, das Material, rung im Spektrum der Lungenkrebsarten zu erklären suchten. Drei Au- aus dem seit einigen Jahrzehnten die Ziga- seit Einführung der Filterzigarette: Noch stralier, die den Rückgang rettenfilter gefertigt werden. Pauly und sei- im Jahr 1950 trat das sogenannte Platten- und das teilweise Aussterben ne Mitarbeiter vom Krebsforschungszen- epithelkarzinom 16mal so häufig auf wie von 14 heimischen Froschar- trum Roswell Park in New York verfolgten das Adenokarzinom der Lunge; im Jahr ten näher untersuchten, ha- die Spur weiter. In der jüngsten Ausgabe 1980 entsprach das Verhältnis der beiden ben nun den Verdacht geäu- der Zeitschrift Cancer Research veröffent- Krebsarten beim Lungenkrebs 1:1,4. Die- ßert, ein Virus könnte der lichten sie die Ergebnisse ihrer Untersu- ser Anstieg fällt zusammen mit dem zuneh- Bösewicht beim Froschster- chungen an Mäusen und Menschen. Sie le- menden Schwenk zur Filterzigarette in den ben sein. Einer der drei, Ri- gen den Verdacht nahe, daß beim Rauchen USA. Professor Neal Benowitz von der chard Speare von der James von Filterzigaretten (die mittlerweile über University of California: „Wenn sich die Cook University in Towns- 90 Prozent des Zigarettenmarkts ausma- Fasern in der Peripherie der Lunge ansie- ville, hat einen möglichen Er- chen) kleinste Teile der Faser aus dem Fil- deln, könnte das den Anstieg der Adeno- reger isoliert, ein sogenanntes ter brechen und zumindest über Monate, karzinome erklären.“ Iridovirus, das sich womög- lich seuchenartig verbreitet.

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Archäologie GROSSMACHT AM BERG IDA War Troja Atlantis? Stritten Griechen, Trojaner, Ägypter und Hethiter vor 3000 Jahren in einem zyklopischen Kampf um die Weltherrschaft? Mit einer Neudeutung der Frühgeschichte hat ein deutscher Wissenschaftler die Altertums- forscher in Aufruhr versetzt. Neueste Grabungsbefunde in Troja bestätigen seine Theorie.

er Geoarchäologe Eberhard Zang- tenartig ist der gebürtige Westfale zum Stadt Atlantis als „verzerrten Bericht ger, 36, spekuliert gern über Enfant terrible seiner Zunft aufgestie- über Troja“ (SPIEGEL 20/1992). D„Revolutionen in der Wissen- gen. US-Professoren nennen den Mann Zanggers zweites Buch, letztes Jahr schaft“. Dem Physiker Galilei, auch genial. Seine – vor allem in Deutschland erschienen, wagt sich noch weiter vor. Darwin und Einstein seien solche Um- sitzenden – Gegner werfen ihm einen Der Autor unternimmt darin den Ver- stürze gelungen. Wie Blitzschläge sau- „schwer erträglichen Hang zur Selbst- such, die bislang unverstandenen Um- sten ihre Gedanken in die bestehenden glorifizierung“ vor. brüche von der Bronze- zur Eisen- Lehrgebäude, gefolgt vom Donner und Grund der Aufregung sind zwei zeit erstmals zu einem gewaltigen von „heftigen Reaktionen“ der Fachkol- sprachgewaltige Bücher, in denen Zang- Geschichtspanorama zusammenzufü- legen. ger als großer Rätsellöser auftritt. Sein gen*. Wähnt sich auch Zangger in dieser erstes Werk entzifferte Platons myste- Wiederum integriert Zanggers Werk Kategorie von Superhirnen? Fast rake- riöse Angaben über die versunkene zahllose Unbekannte in seine Formel – darunter den in den ägyptischen Totentempel von Medinet Habu Rekonstruktion des eingemeißelten Rätseltext von ei- Burghügels von Troja ner „Invasion der Seevölker“. Königspalast * Eberhard Zangger: „Ein neuer Kampf um Troia“. Verlag Droemer Knaur, München; C. TOWNSEND 352 Seiten; 39,80 Mark.

100 m

Burghügel Festungsmauer (Akropolis) West-Tor

UNTERST ADT Vergessene Metropole freigelegte Haus- Ost-Tor Trojas Unterstadt wächst fundamente Troja, von der klassischen Archäologie als kleine Siedlung betrachtet, war in Wahrheit eine mächtige Handelsmetro- nachgewiesene Stein- pole von beträchtlichen Ausmaßen. mauerabschnitte Das von Heinrich Schliemann 1871 freigelegte Troja umfaß- Brandruinen te nur den Palasthügel. Die um ein Vielfaches größere Un- terstadt kam erst im letzten Jahr zum Vorschein, als ein zwei Südwest-Tor mittlerer Kilometer langer Ringgraben geortet und teilweise freigelegt Ringgraben wurde. Jetzt fand der Münchner Physiker Helmut Becker mit- tels Magnetortungstechnik Hinweise auf einen zweiten, durch magnetische Süd-Tor noch weiter außen liegenden Graben. Ortung erfaßtes Teil- Die Stadtfläche Trojas, so Becker, läge demnach bei „weit stück des äußeren Ringgrabens vermutlicher Ver- über 300 000 Quadratmetern“. lauf des äußeren Ringgrabens

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Zangger schafft Klarheit. Nach seiner Vorstellung verbirgt sich hinter den mit Irokesen-Haarschnitt dargestellten An- greifern eine westanatolische Militär- Allianz unter Führung Trojas. Geniestreich eines Außenseiters? Der Autor, lobte das angesehene Journal of Field Archaeology, habe geschaffen, was die Atomphysik für ihr Gebiet seit Jahrzehnten vergebens suche: eine „vereinigte Feldtheorie“, und zwar für die Bronzezeit. Deutsche Fachkollegen dagegen leh- nen das Szenario rundweg ab. Das von Heinrich Schliemann ausgegrabene Städtchen an den sturmumtosten Dar- danellen zur „politischen Großmacht“ aufzublasen, meint das Fachblatt Antike Welt, wirke „geradezu krampfhaft“. Unbestritten ist, daß am Ende des 13. vorchristlichen Jahrhunderts Schrecken über den mediterranen Teil der Mensch- heit kam. Fast der gesamte Mittelmeer-

raum wurde von einer mächtigen öko- C. HAUSSNER nomischen und kulturellen Krise erfaßt, Troja-Rekonstruktion: Holzhäuser und prächtige Villen in der Unterstadt ganze Landstriche wurden durch Blut- bäder und Militäraktionen verwüstet. Manfred Korfmann, der, von Merce- terstadt von Troja zu suchen. Dabei Mehrere Hochkulturen versanken im des-Benz gesponsert, nach 50jähriger stieß er auf einen Graben, der sich kreis- Nichts. Unterbrechung 1988 die Grabungen förmig um die Akropolis zog. Schlagar- Auch der von Homer geschilderte am Burghügel Hisarlik wiederaufnahm, tig hatte sich die Siedlungsfläche der Trojanische Krieg ist Teil dieses bronze- ordnete die Stadt anfangs als „Piraten- Stadt verzehnfacht. zeitlichen Showdowns. Ihn mit dem all- nest“ ein. Damit nicht genug. Während der gemeinen Chaos zu verknüpfen gelang Solche Ansichten sind nicht länger Grabungskampagne 1994 schritt Becker bislang noch keinem Forscher. haltbar. Im Licht der neuen Grabungs- erneut durchs Gelände. Bei 30 Grad ergebnisse hat sich das Küstenkaff zu Hitze bahnte er sich mit seinem Or- einer wehrhaften Handelsmetropole tungsgerät den Weg durch Baumwollge- Nautisches Geheimwissen gemausert, größer, reicher und mächti- strüpp, Melonenfelder und mannshohes bescherte den Trojanern ger als jede frühgriechische Festung. Gras. Die ersten Erschütterungen des tra- Das Datenmaterial, von Becker mo- unermeßlichen Reichtum ditionellen Troja-Bildes ereigneten sich natelang in seinem Münchner Labor bereits im vorletzten Jahr. Inspiriert ausgewertet, schien anfangs enttäu- Schuld an dem Dilemma ist nach durch Zanggers Atlantis-These, war schend. Erst kurz nach Weihnachten, Zangger die „hellenozentrische“ Tradi- der Münchner Physiker Helmut Becker „buchstäblich im allerletzten Meßqua- tion der Archäologie. Stets habe sie die vom Burgberg Hisarlik herabgestiegen, dranten“ (Becker), kam eine Sensation Leistungen der Griechen – und damit um die möglichen Überreste einer Un- zum Vorschein. Auf den Magnetfeld- die eigenen abendländischen Wurzeln – über Gebühr hoch eingestuft. Für das asiatische Hinterland hatte die Spatenzunft lange Zeit wenig Inter- esse. Leuchtend sollten sich die mykeni- sche Hochkultur und deren legendäre Könige, ob Nestor oder Odysseus, vom dämonischen Gefüge der orientalischen Kulturen abheben. Die Griechen selbst nannten ihre Feinde in Asien und Afri- ka Barbaren – zu deutsch: die Lallen- den. Als Schliemann 1870 am Hellespont auf die Akropolis von Troja stieß, sah sich die Forschung bestätigt. Ganze 20 000 Quadratmeter maß die Stadtan- lage – ein Kuhdorf im Vergleich zu den mykenischen Festungen. Homer, der 100 000 Soldaten gegen Troja aufmar- schieren läßt, mußte demnach wahnsin- nig übertrieben haben. Auch in den folgenden Jahrzehnten wurde Westanatolien von der Forschung

als kulturelles Notstandsgebiet betrach- H. SCHICKERT tet. Der Tübinger Altertumsforscher Troja-Forscher Becker (r.): Fahndung nach Atlantis

DER SPIEGEL 6/1995 169 Werbeseite

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von Pylos ist niemand anderer als sein Kon- trahent Eberhard Zangger, der unter amerikanischer Regie in Pylos tätig ist. Aber noch andere Troja-Funde lassen aufhorchen. Der türki- sche Geoarchäologe Il- han Kayan begab sich letztes Jahr mit einem Bohrtrupp zum etwa fünf Kilometer ent- fernten Küstengebir- ge. Zanggers Atlantis- Topographie zufolge müßten sich dort künstliche Schiffsree- den und Durchstiche zum Meer befinden. Wiederum führte die Spur ans Ziel. Kayan erfaßte zwei Kanäle, die quer durchs Vorgebirge ge-

DPA schlagen sind und zum Troja-Ausgräber Korfmann: Ringkanäle als Stolpergruben gedeutet Inland hin in große Becken münden. karten zeichneten sich die Konturen ei- wohner von Atlantis jedenfalls speisten Die Bohrergebnisse des türkischen nes weiteren Grabens ab. – Platon zufolge – ihre Ringkanäle mit Experten sind nirgendwo publiziert. Der Steinschacht verläuft vermutlich Frischnaß aus einem umgelenkten Fluß. Nur mündlich auf einer Fachtagung in kreisförmig auf einer Länge von drei Ki- Zu solchen Projekten waren die Hy- Istanbul gab der Archäologe Auskunft. lometern um die Akropolis. Mit dieser drotechniker der Bronzezeit offenbar in Mauert Korfmann? Der Überflieger „monumentalen Anlage“, so der For- der Lage. Ein Archäologenteam der Zangger jedenfalls ist ihm zum wahren scher, hat sich die Ausdehnung von Tro- University of Cincinnati, das derzeit in Plagegeist geraten. Während er als Lei- jas Unterstadt „auf weit über 300 000 Pylos, der Heimatstadt des Troja-Rek- ter eines Teams von 70 Wissenschaftlern Quadratmeter Größe erhöht“ (siehe ken Nestor, gräbt, entdeckte jüngst den Hisarlik nach neuen Erkenntnissen Grafik Seite 168). zwei künstliche Hafenbecken, die von absucht, hat Zangger – wie der Igel, der Der Befund gibt Zanggers Atlantis- einem umgebetteten Fluß gespeist wur- vor dem Hasen ankommt – alles schon Hypothese neue Nahrung. Auch in Pla- den. immer vorher gewußt. tons Schilderung wird die Fabelstadt At- Dieser Befund, der Öffentlichkeit Korfmann scheut sich nicht, seinen lantis wie ein antikes Venedig von drei noch nicht bekannt, wird den Korf- Kontrahenten mit Erich von Däniken zu künstlichen Wasserringen umspült. mann-Standpunkt weiter schwächen. vergleichen. Doch der Demontagever- Wahrscheinlich war der mittlere Ring- Was den Tübinger Professor mehr är- such wird kaum gelingen. In den angel- graben in Troja einst mit Wasser gefüllt. gern dürfte: Entdecker des Kunst-Ports sächsischen Ländern hat Zangger den Die Sohle der an die drei Meter tiefen Felsgrube verläuft über Hunderte von Weltkrieg in der Bronzezeit Metern auf demselben Höhenniveau. Becker: „Das macht nur Sinn, wenn der Bündnisse im östlichen Mittelmeerraum um 1200 v. Chr. Graben geflutet werden sollte.“ (Rekonstruktionsversuch nach Zangger) Chefgräber Korfmann hält solche ASSYRIEN Überlegungen für falsch. „Der mittlere GRIECHENLAND Troja Hattusa Graben liegt 20 Meter über dem Meeres- und verbündete Mykene HETHITISCHES Staaten spiegel. Wie soll da Wasser reinkom- REICH men?“ WEST- Pylos ANATOLIEN Der Tübinger Gelehrte deutet die ver- Assur meintlichen Atlantis-Kanäle als schlichte Fallgruben. „Angreifer“, so Korfmanns Erklärung, „wurden so gehindert, mit ih- KRETA ZYPERN AMURRU ren Streitwagen bis an die dahinterlie- gende Schutzmauer heranzufahren.“ PALÄSTINA Aber: Gleich zwei hintereinanderlie- gende Stolpergräben zu bauen, macht LIBYEN Troja und Verbündete schwerlich einen Sinn. Zudem: Der Ska- mander (griechisch für: Schaum von Anti-trojanische Allianz Menschenhand), der sich vom Ida-Ge- ÄGYPTEN Neutrale Staaten birge in die trojanische Ebene ergießt, könnte gezielt umgeleitet worden sein, Theben um die Felsschächte zu fluten. Die Be-

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post zu entnehmen. „Ahhijawa“, so heißt es in den Texten, habe sich mit 22 anderen westanatolischen Kleinstaaten verbunden und bedrohe das Hethiter- Reich. Die Großmacht Ahhijawa, eine bis- lang von den Wissenschaftlern nicht faß- bare Hochkultur, wird von vielen Wissenschaftlern im westanatolischen Raum vermutet. In ägyptischen Texten taucht der bronzezeitliche Dunkelstaat unter dem Namen Asija auf. Zangger nun setzt dieses mysteriöse Reich mit Troja gleich. Das aufstreben- de Land Ahhijawa sei identisch mit der Festungsstadt an den Dardanellen, die im 14. und 13. vorchristlichen Jahrhun- dert zu den Supermächten aufschloß. Zangger scheut nicht das Wagnis, das damalige Machtgefüge zu rekonstruie- ren. Beistandspakte zwischen Hethi- tern, Ägyptern und dem Amurru-Reich sind aus zahlreichen Quellen bekannt. Am Ende der hektischen Krisenjahre sind nach Zanggers Rekonstruktions- versuch zwei große militärische Blöcke entstanden (siehe Grafik Seite 172). Dann geht es Schlag auf Schlag. Der F. GIERTH / MAURITIUS Ägyptischer Totentempel von Medinet Habu: Rätseltext entschlüsselt? Weltkrieg entbrennt. Um 1190 bläst die trojanische Konföderation zur Attacke. Beistand fast der gesamten Archäolo- schafft wurde, oder Kupfer aus den rie- Die Angreifer entreißen den Hethitern genelite. sigen Erzlagerstätten in Nordostanato- die Kupferlagerstätte Zypern, dann sto- Die Troja-Debatte bleibt mithin span- lien – stets war Troja die erste Mittel- ßen sie nach Süden vor. Amurru sowie nend – zumal auch das Korfmann-Team meermetropole, in der die Kostbarkei- Dutzende von syrischen und palästinen- eine Reihe von interessanten Details ten anlandeten. sischen Handelsstädten werden verwü- vorgelegt hat. Wichtiger im militärischen Machtge- stet. Erst an den Grenzen Ägyptens Hauptnahrungsmittel der Trojaner füge der Bronzezeit war Trojas Zugriff kommt der Vormarsch zum Stillstand. war demnach Gerste. Schaf, Rind, auf die Zinnquellen in Böhmen oder Dann folgt die Gegenoffensive. Die Schwein und Ziege waren domestiziert. Afghanistan. Ohne Zinn läßt sich keine Griechen, so das Fazit von Zanggers de- Adelsgesellschaften verlustierten sich Bronzewaffe schmieden. Zu allem tailversessenen Archäo-Recherchen, auf Jagdausflügen im nahe gelegenen Überfluß kontrollierten die Trojaner springen den bedrohten Ägyptern bei Ida-Gebirge. Geschossen wurden Wild- auch noch den Fernhandel mit Wild- und holen zum Vergeltungsschlag aus. ziegen, Hirsche und Löwen, wie Kno- pferden aus der ukrainischen Steppe. 1186, glaubt Zangger, stand das Grie- chenfunde beweisen. Streitwagen, wohl um 1700 vor Christus chenheer vor Troja, um den verhaßten Im 13. Jahrhundert vor Christus er- Seehandelsrivalen zu vernichten. reichte die Stadt wohl den Gipfel ihrer Der Ausgang der Schlacht ist be- Macht. Dicht an dicht standen in der „Es ging um die kannt. Seine Brutalität, in zahlreichen Unterstadt prächtige Bürgervillen und Frage: Wer regiert nichthomerischen Troja-Quellen über- mehrstöckige Holzhäuser. liefert, wurde indes verdrängt. Nach Volle Kassen brachte den Trojanern die Welt?“ Einnahme der Stadt sollen die edelmüti- ihre geographische Lage. Für die kiello- gen Helden um Agamemnon knietief im sen Schiffe der Bronzezeit war es fast als Kampfmittel eingeführt, entwickel- Blut gewatet sein, auch Frauen und Kin- unmöglich, gegen den tosenden Nord- ten schnell die „Bedeutung, die heute der wurden abgeschlachtet. wind in die Dardanellen einzufahren. Atombomben haben“ (der Archäobio- Ob das von Zangger entworfene, mit Nur bei günstigen Winden und mit Hilfe loge Hans-Peter Uerpmann). ungezählten Grabungsbefunden und trojanischer Lotsen, so die Annahme, Um 1250 vor Christus beginnt sich die Textquellen unterfütterte Weltkriegs- war die gefährliche Passage möglich. geopolitische Großwetterlage drama- panorama stimmt, werden zukünftige Offensichtlich kannten die ortsansässi- tisch zuzuspitzen. Die Trojaner bauen Forschungen bestätigen oder widerlegen gen Seefahrer jeden Strudel in der wet- gewaltige Burgwälle und legen große müssen. terwendischen Meeresenge. Nahrungsvorräte an. Hattusa, die Der griechische Geograph Strabo (63 Ihr nautisches Geheimwissen muß Hauptstadt der Hethiter, verschanzt vor Christus bis 23 nach Christus) jeden- den Trojanern unermeßlichen Reichtum sich hinter Kyklopenmauern. falls findet sich auf der Seite des Anti- gebracht haben. Wie ein Krake saßen 50 Jahre später jammert der König ken-Einstein. sie an der Nahtstelle zwischen Asien von Pylos über Metallknappheit. Um Die Story vom Raub der Helena, und Europa und kontrollierten die Ein- seine 400 Bronzeschmiede zu versorgen, schrieb Strabo, sei nichts als eine schön- fuhr von Bodenschätzen aus dem läßt er zu einer Art Schrottsammlung geistige Erfindung. In Wahrheit habe Schwarzmeergebiet. aufrufen. Was braute sich da zusam- der gewaltige Waffengang vor Trojas Ob Karneol aus Kolchis (dem heuti- men? War Troja übermütig geworden? Toren einen Streit ganz anderer Dimen- gen Georgien), Ostsee-Bernstein, der Letzte Meldungen vor dem großen sion entschieden: Es ging um „die Fra- über die russischen Flüsse herange- Desaster sind hethitischer Diplomaten- ge: Wer regiert die Welt?“ Y

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WISSENSCHAFT

Aids Krieg der Viren Wie der Aids-Erreger das Immunsy- stem besiegt, haben HIV-Forscher jetzt im Detail ergründet.

itten im Mai verfiel Bernard Fields dem Trübsinn: „Selbst un- Msere größten Hoffnungen haben sich nicht erfüllt“, klagte der HIV-Ex- perte von der Bostoner Harvard Medi- cal School, alle Konzepte zur Entwick- lung von Aids-Medikamenten und HIV- Impfstoffen seien gescheitert.

Nur verstärkte Grundlagenforschung SMITH / GAMMA / LIAISON auf breiter Front, konstatierte der US- Aids-Forschung an HIV-infiziertem Affen: „Das hat mich umgehauen“ Mikrobiologe, könnte eine Wende in der Aids-Medizin bringen. Nach wie HIV, so die bisherige Ansicht der Organismus HIV-Infizierter gegen das vor, so Fields’ Klage, seien die wichtig- Forscher, verursache eine chronische Virus an –und verliert, nach jahrelangem sten Fragen zum Verständnis der tödli- und schleichende Infektion, die erst Ringen, allen Anstrengungen zum Trotz chen Immunschwäche unbeantwortet, nach Jahren aus rätselhaftem Grund den den Abwehrkampf. zum Beispiel: „Wie verbreitet sich HIV tödlichen Zusammenbruch der Immun- Konsterniert nahmen die Experten die im Körper, wie tötet es die Immunzel- funktionen hervorruft und das Krank- Beweise für den „Titanenkampf zwi- len?“ heitsbild Aids auslöst. schen Virus und Immunverteidigung“ Jetzt erhielt der Wissenschaftler den Wesentlich dramatischer zeichnen die zur Kenntnis. „Das hat mich wirklich um- angemahnten Bescheid. Kaum neun Ergebnisse der Forschertruppe von Da- gehauen“, bekennt der US-Mikrobiolo- Monate nachdem Fields’ Brandbrief vid Ho am Aaron Diamond Aids Re- ge John Coffin; „erbarmungslose Stra- („Time to turn to basic Science“) im search Center in New York und der ßenkämpfe“, schrieb HIV-Experte Si- Fachblatt Nature veröffentlicht wurde, HIV-Forscher um George Shaw von der mon Wain-Hobson im Fachblatt Nature, sorgen neue Befunde zweier US-For- University of Alabama das Bild der seien „nichts im Vergleich zu der Feind- scherteams unter den Aids-Experten für HIV-Infektion: Ihren Ermittlungen zu- seligkeit“ der Immuntruppen im Ab- Aufregung. folge tobt im Körper der Infizierten von wehrkampf gegen das Virus. Die Untersuchungen werfen erstmals Beginn an gleichsam eine verheerende Im Verlauf des zähen Stellungskrie- ein Licht auf den zeitlichen Verlauf der Materialschlacht von bislang ungeahn- ges, so die Schlußfolgerung der Aids- HIV-Infektion. Als längst gesichert gel- tem Ausmaß. Forscher Ho und Shaw, vernichtet die tende Glaubenssätze der Forschergilde Mit täglich neu rekrutierten Milliar- Immunverteidigung Tag für Tag bis zu ei- müssen danach revidiert werden. denheeren von Immunzellen tritt der ner Milliarde HI-Viren im Körper der äu- ßerlich noch gesunden Patienten. Vorgetragen wird die Attacke vor al- Dramatisches Ringen Ausbreitung des HI-Virus lem von sogenannten zytotoxischen Lymphozyten (CTL), einer auf die HIV- alte Theorie Bislang hatten die Forscher ange- Bekämpfung gedrillten Killertruppe, die nommen, daß sich das Aids-Virus sich auf die zellulären Brutstätten des Vi- zunächst nur in einer kleinen Zahl rus stürzt. Täglich fallen den Immun-To- von Immunzellen einnistet und desschwadronen zwei Milliarden der sich dort entsprechend langsam HIV-infizierten T-Immunzellen vom vermehrt. Dafür sprach die meist CD-4-Typ zum Opfer, noch bevor sie lange Latenzzeit zwischen HIV- weitere Viren ausschwitzen können – Infektion und Ausbruch der Krankheit. doch selbst dieses Vernichtungswerk hält gesunde infizierte sterbende die Aids-Erreger nicht dauerhaft in HI-Virus Immunzelle Immunzelle Immunzelle Schach. neue Theorie Nach neuesten Erkenntnissen ver- Alle 24 Stunden, rechneten Ho und breitet sich das Virus von Anfang Shaw den Kollegen vor, wirft das Virus an mit enormer Geschwindigkeit rund eine Milliarde frisch produzierter in den Immunzellen. Der Körper HIV-Angreifer in die Blutbahn; sie fin- reagiert mit einer ebenso rapiden den schnell weitere Opfer unter den Mil- Produktion neuer Abwehrzellen. Erst wenn, nach jahrelangem Rin- liarden neuer CD-4-T-Zellen, die den gen, das Immunsystem erschöpft Verlust durch die CTL-Attacken ausglei- ist, bricht die Krankheit aus. chen sollen. HIV, klagte der US-Mikro- biologe Ashley Haase, sei wie „eine aku- te Infektion, die niemals endet“.

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Schließlich, so das Szenario der US- wuchs die Nerven der Eltern – und rui- Forscher, zwingen die Verluste unter Zahnmedizin niert zugleich seine ersten Zähne. den CD-4-T-Zellen, die das Offiziers- Auch die schon angelegten Keime für korps der Verteidiger bilden, das Im- das bleibende Gebiß werden durch Ei- munsystem nach und nach zum Rück- terbakterien geschädigt. Vorzeitige zug. Fällt die Zahl der CD-4-Zellen un- Wie Dracula Lücken bei den Milchzähnen können zu- ter eine kritische Grenze, erlahmt auch dem Kieferdeformationen zur Folge die Immunabwehr gegen andere Erre- Ein BGH-Urteil: Für Kariesschäden haben. ger – Beginn der tödlichen Erkrankung. durch Baby-Fruchtsäfte, die keinen Daß die Flasche ebenso wie der Inhalt Nur dem „heroischen Abwehrkampf“ den allzu frühen Zahnverfall verursache, des Immunsystems, erklärt Fachmann Warnhinweis trugen, haftet der Her- hat nun, im jüngsten Urteil zum Baby- Wain-Hobson, sei es zu verdanken, daß steller. Bottle-Syndrom, der Bundesgerichtshof die HIV-Infizierten dem Siechtum zehn festgestellt. Mehr als sieben Jahre lang Jahre und manchmal sogar noch länger hatte ein inzwischen elfjähriger Junge widerstehen könnten. räunliche Flecken, faulige Stum- durch alle Gerichtsinstanzen ein Schmer- Erstmals ahnen die HIV-Experten, mel, eitrige Wurzeln und bröckeln- zensgeld von mindestens 20 000 Mark warum bei den HIV-Infizierten alle Be- Bder Schmelz: Wo unversehrte eingeklagt. handlungsversuche mit Impfstoffen Milchzähne im Kindermund blinken Von der dritten Lebenswoche an hatte oder dem Virus-Killer AZT als Fiasko sollten, finden Zahnärzte häufig nur der Junge zunächst Milupa-Kräutertee, enden mußten. Angesichts der fulmi- noch Ruinen vor. 200 000 Kinder, so dann Früchte- und Karottensäfte der Fir- nanten HIV-Vermehrung meint der Vi- schätzt der Gießener Zahnheilkundler ma Hipp genuckelt, beides aus der klei- rologe Douglas Richman von der Uni- Willi-Eckhard Wetzel, sind „Opfer ei- nen Milupa-Plastikflasche. Die Folge: versity of California, könne die rasante ner Modeunsitte“ geworden, die sich zu Das Kind litt unter Dauerschmerzen und Resistenzentwicklung gegen antivirale Beginn der achtziger Jahre ausbreitete. „sah aus wieDracula“, sagt Rechtsanwalt Medikamente nicht verwundern: Das hohe Vermehrungstempo der Erreger steigert die Anzahl der Mutationen und befähigt sie, sich schnell durch eine Än- derung ihres Genprogramms vor phar- mazeutischen Giftanschlägen zu schüt- zen. Ist die Aids-Erkrankung erst einmal ausgebrochen, hausen bis zu 100 Millio- nen genetisch unterschiedliche HIV-Va- rianten im Immunsystem der Patienten, ein Arsenal, mit dem das Virus auch brandneue Medikamente schnell un- wirksam machen kann. Um den Schlagabtausch zwischen Vi-

ren und Immuntruppen studieren zu P. FRISCHMUTH / ARGUS-FOTO-ARCHIV W. WETZEL können, hatten die US-Wissenschaftler Flaschenkind, Flaschenkaries: „Opfer einer Mode“ insgesamt 42 Aids-Patienten mit neuar- tigen Virus-Blockern behandelt. Zwar Damals kamen die „Kindertees“ auf Christoph Kremer aus Frankfurt, der sank die Virusbelastung ihrer Patienten den Markt – körnige Instant-Mischun- schon viele Baby-Bottle-Prozesse ge- zunächst um das Zehntausendfache, das gen mit minimalem Kräuter- und ho- führt und Schmerzensgelder zwischen Heer der Abwehrzellen erholte sich. hem Zuckeranteil, die Babys und 7500 und 35 000 Mark von den Herstel- Doch vier Wochen nach der Behand- Kleinkinder zum Dauerschnuddeln ver- lern erstritten hat. lung hatte HIV das verlorene Terrain abreicht wurden. Die katastrophalen Die Hipp KG, die auf ihren Baby- zurückerobert. In alter Stärke und hun- Folgen für das Gebiß, von Professor Fruchtsaftflaschen keinen Warnhinweis dertprozentig resistent gegen die neuen Wetzel angeprangert, gingen als „Baby- angebracht hatte, haftet nach der Karls- Medikamente setzte es seinen Krieg im Bottle-Syndrom“ in die Medizin-Hand- ruher Entscheidung für alle dadurch ver- Körper fort. bücher ein. ursachten Zahnschäden. Als Hersteller Wie die Überlegenheit von HIV in Obwohl, nach Aufklärungskampa- der verwendeten Saugflaschen, so das dem tödlichen Zweikampf künftig ge- gnen und Prozessen, der Zucker weit- Gericht, treffe auch die Firma Milupa ei- brochen werden könnte, ist den Fach- gehend aus den Zubereitungen ver- ne Haftung. Milupas Warnungen auf den leuten noch schleierhaft: „Durch Mono- schwunden ist und die Hersteller Warn- Teedosen seien allerdings deutlich genug therapie“, mit nur einer Chemodroge, hinweise anbrachten, grassiert die und nicht zu beanstanden. sei der Kampf gegen HIV nicht zu ge- Zahnseuche weiterhin: Statt Fertigtee „Mit Befriedigung“ hat Zahnarzt Wet- winnen, versichert HIV-Experte Wain- umspülen nun zucker- und säurehaltige zel, der alsGutachter tätigwar, dasUrteil Hobson, höchstens ein Cocktail aus un- Fruchtsäfte die ersten Zähne. zur Kenntnis genommen. Daß die Be- terschiedlichen Chemowaffen könne Die Hersteller entwickelten beson- quemlichkeit der Eltern, die ihre Kinder „das Virus in die Knie zwingen“. ders griffige Plastiknuckelflaschen, die mit der Dauerflasche stillen, sich unter- Gleichwohl wollen die Aids-Bekämp- zum Dauergebrauch auch schon die des zum „nationalen Unglück“ (Wetzel) fer die Hoffnung auf einen Sieg über Kleinsten selber halten können. Statt auswächst, lassen auch Berichte aus der HIV nicht aufgeben. Mehr und mehr die Flasche nur bei Bedarf aus der Ex-DDR vermuten: Die dort zuvor unbe- Geheimnisse müsse HIV preisgeben, Hand der Eltern zu bekommen und kannteFlaschenkaries,sohieß esaufdem frohlockt Wain-Hobson. Sein Trost: bald auf Becher oder Tasse umgewöhnt jüngsten Kongreß der beiden Deutschen Der Erreger sei zwar einzigartig, unge- zu werden, „hängen die Kleinen ständig Gesellschaften für Kinderzahnheilkun- wöhnlich raffiniert und tückisch – „doch an der Saftpulle“, kritisiert Wetzel: de, habe sich nach der Einigung im Osten letztlich ist er auch nur ein Virus“. Y Derart ruhiggestellt, schont der Nach- sprunghaft ausgebreitet. Y

DER SPIEGEL 6/1995 177 TECHNIK

den Wirbel wieder auslöscht (siehe Gra- che“, glaubt Jan Tulinius, Chefwissen- Luftfahrt fik). schaftler der Luftfahrtfirma Rockwell Ein ähnliches Prinzip liegt einer Kon- International, „das könnte die Wirt- struktion zugrunde, mit der sich Luft- schaftlichkeit von Flugzeugen erheblich fahrtforscher der TU Berlin beschäfti- verbessern.“ Schnelle gen: Quäkende Lautsprecher, die im In- In den nächsten zwei Jahren sollen nern der Tragfläche angebracht sind, Chi-Ming Hos Mikro-Maschinen probe- schleudern Schallwellen gegen die Tur- halber auf den Flügeln von Militär-Jets Rillen bulenzen, bis diese sich gleichsam in durch die Gegend düsen. Frühestens in Luft auflösen. einem Jahrzehnt könnten die ersten Um im Flugverkehr Treibstoff einzu- Andere Teams brennen mit Laser- Verkehrsflugzeuge damit bestückt wer- sparen, haben US-Forscher einen strahlen mikroskopisch kleine Löcher in den. die Flugzeugflügel. Durch dieses Sieb Schon für flugtauglich befunden wur- „intelligenten“ Flügel gebaut: Er wollen sie jene Luftschicht, in der die de unterdes eine Spezialfolie, die Inge- flutscht besser durch die Luft. Luft verwirbelt, einfach absaugen. Mit nieure der Deutschen Forschungsanstalt einer derartigen Pump-Vorrichtung für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Ber- könnte der Kraftstoff-Verbrauch wo- lin entwickelt haben. Die Folie wird auf evor sich die Phönizier auf große möglich um zehn Prozent gesenkt wer- Rumpf und Flügel von Flugzeugen ge- Fahrt begaben, schmierten sie ih- den. klebt. Darin eingeritzte haarfeine sägen- Bre Schiffsrümpfe mit Talg ein. An Die Matten aus Mikro-Maschinen, förmige Rillen verringern den Luftwi- fettigen Frachtern, so hatten sie beob- die der Amerikaner Chi-Ming Ho ent- derstand von Düsenjets um bis zu acht achtet, zerrt das Wasser mit geringerer wickelt hat, können noch einiges mehr. Prozent. Kraft. So kamen die antiken Seefahrer Wären etwa die Triebwerksschaufeln Wie Testflüge mit einem Airbus A ein paar Knoten schneller voran. damit ausgekleidet, ließen sich Rei- 320 ergeben haben, können Flugzeuge Bei modernen Verkehrsflugzeugen bungsverluste im Triebwerk vermin- mit Hilfe der aufgeklebten Rillen-Folien ist es mit einem Gleitfilm nicht getan. dern. Aus der gleichen Menge Kraft- zwischen ein und zwei Prozent Sprit ein- Um deren Reibung zu verringern, stoff würde dann mehr Schub erzeugt sparen. wenden Ingenieure aufwendigere werden, gleichzeitig entstünde weniger „Bei Langstreckenflügen wären sogar Tricks an. Es geht um viel Geld: Nur Lärm. Auch ein Abreißen der Strömung drei Prozent rauszuholen“, sagt Folien- die Hälfte des in den Düsen verfeuer- am Flügel, das Absturzgefahren mit sich Erfinder Dietrich Bechert. Dies ent- ten Kraftstoffs dient der Fortbewe- bringt, könnte mit den Mikro-Klappen spräche einer Einsparung von 200 bis gung; die andere Hälfte wird benötigt, bereits im Ansatz unterbunden werden. 600 Tonnen Kerosin pro Jahr und Flug- um die Luftreibung zu überwinden. Erste Versuche im Windkanal verlie- zeug. „Weltweit“, so Bechert, „würden Das bislang raffinierteste Verfahren fen erfolgreich. „Eine revolutionäre Sa- 1,5 Millionen Tonnen Flugtreibstoff we- haben jetzt Forscher an der University niger verpulvert wer- of California in Los Angeles entwik- den.“ kelt: eine „intelligente Tragfläche“, Wirbel gegen Wirbel Die Luftfahrtunter- überzogen mit Myriaden von winzigen, „Mikromaschinen“ nehmen zögern noch, computergesteuerten Klappen, die den die nützliche Plastik- 4 zur Einsparung von Luftstrom optimal an der Flügelfläche Flugbenzin schicht auf die Bord- entlangfließen lassen. wand zu backen. Ihr „Ich bin selber überrascht“, sagt 1 Haupteinwand betrifft Chi-Ming Ho, Luftfahrtprofessor und die Haltbarkeit und Erfinder der „Mikro-Maschinen“, „daß Wartung: An Flügeln, es so gut klappt.“ 2 die mit Plastikfolien Nach den Gesetzen der Aerodyna- 3 verhüllt sind, könnten mik ist der Reibungsverlust eines Flug- Risse kaum noch ent- zeugs dann am geringsten, wenn die deckt werden. „Doch Luft die Tragfläche auf gleichmäßig ge- diese Hürde“, berich- richteten Wegen umströmt und sich tet Luftfahrtingenieur gleichsam wie eine Haut ans Blech Sensor Bechert, „haben wir schmiegt. 0,5 Millimeter Mikroklappe inzwischen durch Ver- Allenfalls Segelflugzeuge mit ihren wendung einer durch- glattpolierten Schwingen kommen die- 1 Umströmen die Luftmoleküle auf gleichmäßig gerichteten sichtigen Folie genom- sem Ideal nahe. Schon winzige Un- Linien den Flügel eines Flugzeugs, treten wenig Reibungsver- men.“ ebenheiten auf dem Flügel – Nieten, luste auf. Das pfiffige Design Kratzer, Schmutzflecken, zerquetschte 2 Verwirbelt der Luftstrom, wird das Flugzeug abgebremst. haben die DLR-Leute Mücken – führen hingegen bei Ver- Über die Tragfläche verteilte Sensoren registrieren an den be- übrigens von der Natur kehrsflugzeugen dazu, daß millionen- treffenden Stellen einen leichten Anstieg der Temperatur und abgekupfert. Auch die fach winzige Wirbel entstehen, die den eine minimale Druckänderung. Haut der Haie ist von Flieger abbremsen. 3 Entsprechend diesen Meßwerten steuert ein Computer mikroskopisch kleinen Hier hilft der High-Tech-Flügel aus das Klappensystem. Mikromechanische Vorrichtungen heben Kerben durchzogen, den USA: Seine empfindlichen Senso- jeweils die unter einem Wirbel liegende Klappe um einen die den Strömungswi- ren registrieren, wo plötzlich die Tem- zehntel Millimeter an und lösen dadurch winzige Druckwellen derstand verringern. peratur geringfügig ansteigt – genau an aus: Wirbel und „Antiwirbel“ heben einander auf. Die Rillen ermögli- dieser Stelle kräuselt und verknäuelt 4 Aus Zehntausenden solcher Mikromaschinen bestehende chen es den gefräßigen sich der Luftstrom. Blitzschnell klappt Matten sind an der Oberseite der Tragflächen angebracht. Raubfischen, mit bis dort sodann ein stecknadelkopfgroßes Das kontinuierliche Betätigen der Mikromaschinen führt zu zu 45 Stundenkilome- Plättchen hoch, wodurch eine Gegen- Treibstoffersparnis. tern hinter ihrer Beute strömung erzeugt wird, die den stören- herzujagen. Y

178 DER SPIEGEL 6/1995 Werbeseite

Werbeseite . MICROSOFT NOVELL Bedienflächen der Programme „Corsair“, „Bob“: „Menschen neigen dazu, Computer wie Menschen zu behandeln“

einer Flut von Bildschirmsymbolen bie- Empfänger – vorausgesetzt, der PC ist Software tet Bob Software-Charme für absolute über Modem und Telefonbuchse an ein Computerlaien. Datennetz wie Compuserve oder das Nach dem Einschalten erscheint auf demnächst hauseigene Microsoft Net- dem Monitor das Bild eines traditionel- work gekoppelt. Kitschiger len Arbeitszimmers, ganz in Pastell. Ei- Acht Programme rund um das traute ne Standuhr und einige Regale umrah- Heim hält Bob parat. Er kann das Haus- men ein Sprossenfenster, durch das der haltsgeld verwalten, per Datendienst Geschmack Blick auf das Klischee einer Bergland- Rechnungen begleichen, eine Weinkel- schaft fällt. Den Vordergrund füllt ein ler-Datei aufbauen oder an einem Quiz Ein neues Programm soll aus chro- Tisch, übersät mit Schreibutensilien. teilnehmen. nischen Computer-Verweigerern In dieser virtuellen Wohnlandschaft Anwender, die trotz allem mit den kann der Benutzer mit Maus und Cursor Tücken nicht fertig werden, dürfen glückliche Daten-Freaks machen. auswählen, welche Funktion er aktivie- wahlweise auf zwölf Zeichentrick- ren will. Klickt er etwa den Notizblock Freunde bauen. Vom umgänglichen iele Manager in der Computerbran- an, startet ein Programm zur Textverar- Hund Rover bis zur undurchsichtigen che atmeten auf, als sich William beitung. Hinter dem Kalender an der Unterweltsratte Scuzz reicht die Palette V(„Bill“) H. Gates III., 39, mit sei- Wand versteckt sich der Terminplaner. der Figuren, die von Zeit zu Zeit als ner Angestellten Melinda French, 30, Solche Spielereien erregten kaum Helfer auf dem Bildschirm erscheinen vor zwölf Monaten vermählte. Der Mul- Aufsehen, wären nicht die verschiede- und mit Sprechblasen Rat geben. timilliardär und Chef der weltgrößten nen Anwendungen innig miteinander Fraglich bleibt, ob diese nette Com- Softwarefirma Microsoft, so hofften die verbunden. Auf Knopfdruck überträgt puterwelt nach anfänglichem Reiz hält, Konkurrenten, werde sich fortan mehr zum Beispiel das Adreß-Programm eine was Papa Gates verspricht. Revolutio- aufs Familiäre konzentrieren. Anschrift in die Textverarbeitung. Eine när jedenfalls ist die Idee nicht, Compu- Zwölf Monate später präsentierte Nachricht kann direkt als elektronische ter und Software zu vermenschlichen. Gates, auf der Consumer Electronics Post in den virtuellen Schreibtisch- Seit mehr als zehn Jahren grinst dem Show in Las Vegas, sogar einen Spröß- Briefkasten gesteckt werden, Bob erle- Benutzer beim Start von Apple-Compu- ling namens Bob. Doch entspannen digt automatisch den Versand zum tern ein Abbild des Rechners vom Bild- können sich die Rivalen des- schirm entgegen, ein Schrift- halb nicht: Bob braucht we- zug entbietet ein „Herzlich der die Flasche noch Windeln Willkommen!“. Die Software und soll Ende März in den hat der Firma Apple den Ruf USA zum Preis von 99 Dollar eingebracht, sie verkaufe die bei jedem gutsortierten Soft- freundlichsten Personal Com- warehändler zu haben sein. puter. Microsoft-Manager Marty Auch bei der Bedienung Taucher erhofft sich von dem von vernetzten Bürocompu- Produkt, es werde „den Stel- tern setzen die Softwareher- lenwert des Personal Compu- steller jetzt auf die Abbildung ters als Haushaltswerkzeug von Arbeitszimmern, Straßen neu definieren“. Die „Killer- und ganzen Bildschirmstäd- applikation“, wie Taucher die ten. In den grafischen Darstel- Schöpfung nennt, ist ein um- lungen kann der Benutzer auf fangreiches Softwarepaket, Knopfdruck die gewünschten das diverse Computerplagen Funktionen auswählen. überwinden soll: Statt aufge- Der Netz-Mini-Rechner blähter Programme, Zeitver- „Magic Link“ von Sony zum

schwendung durch kompli- AP Beispiel zeigt einen aufge- zierten Datenaustausch und Milliardär Gates, Ehefrau Melinda: Soziale Schnittstelle räumten Schreibtisch; ebenso

180 DER SPIEGEL 6/1995 TECHNIK das 3D-Netz-Büro der amerikanischen Computerfirma Novell (derzeitiger Na- me „Corsair“ – „Das ideale Interface zur Infobahn“), das voraussichtlich im April auf den Markt kommt. Daß Gates, der seine Mitarbeiter schon mal krude niedermacht, jetzt ein freundlicheres Computerzeitalter aus- ruft, entspringt kaum fürsorglichen Ge- danken. Vielmehr liegt ihm die Zukunft seines Unternehmens am Herzen: Nach einer hausinternen Microsoft-Studie un- terstellt der potentielle Kunde dem Computer nach wie vor, daß „häufige Nutzung im Privatbereich“ zum Beispiel „einen negativen Einfluß auf die zwi- schenmenschlichen Beziehungen hat“. Zudem verkümmerten „wichtige menschliche Fähigkeiten wie etwa das Lesen von Büchern“. „Der PC ist noch immer nicht einfach zu bedienen“, räumte Gates in Las Ve- gas ein. Womöglich bremst die Technik- Angst der Kundschaft die Microsoft-Ex- pansion in den Heim-Computer-Markt, das am schnellsten wachsende Segment im Elektronik-Geschäft. Allein 1994 schnellte die Zahl der Computer in ame- rikanischen Haushalten von 21 auf 30 Millionen hoch. Die neue Software soll die Bedenken zerstreuen, indem sie spielerisch menschliche Nähe suggeriert. „Men- schen neigen dazu“, sagt Clifford Nass von der US-Universität Stanford, „Computer wie Menschen zu behan- deln.“ Nass, Grundlagenforscher für das neue Konzept, meint denn auch: „Bob läßt die Menschen das tun, was sie am besten können: zwischenmenschlich handeln.“ Social Interface, soziale Benutzer- Schnittstelle, nennen Forscher und Ent- wickler den neuen Software-Charme. Billig zu haben ist dieses Vergnügen je- doch nicht, denn Bob ist anspruchsvoll. Mindestens acht Megabyte Haupt- speicher, einen PC mit schnellem 80486-Prozessor und mindestens 30 Me- gabyte freie Festplattenkapazität braucht das Programm. Quasi als Fun- dament verlangt das virtuelle Wohn- und Arbeitszimmer außerdem noch die Steuersoftware Dos und das grafische Bedienprogramm Windows. Die Fach- zeitschrift PC Professionell bescheinigt dieser Kombination im Vergleich mit anderen Betriebssystemen nach wie vor nur „mangelnde Betriebssicherheit“. Eine deutsche Version von Bob wird frühestens Anfang 1996 zu haben sein. „Für den deutschen Markt ist das Pro- gramm wohl doch noch ein bißchen zu verspielt“, begründet Sylvia Krause von Microsoft Deutschland die Zurückhal- tung. Die Amerikaner hätten außer- dem, so Krause, „irgendwie einen kit- schigeren Geschmack“. Ein Spottname für die deutsche Aus- gabe ist schon gefunden: Bobele. Y

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Viehtransporte Zug am Euter Moderne Lastwagen versprechen weniger qualvolle Tiertransporte – ein Fortschritt nur für das privilegier- te Zuchtvieh.

enn Rosa verreist, dann ist für al- les gesorgt. Der Amtsveterinär What der wohlgenährten rheini- schen Kuh eine Vorsorgeimpfung gegen die Infektionskrankheit Brucellose und

ein leichtes Beruhigungsmittel gespritzt. KARREMANN Die Spedition Hefter aus Troisdorf bei Herkömmlicher Schlachtvieh-Transport: Mehrtägige Ochsentour Köln bereitet den Wagen vor. Der Boden des doppelstöckigen Last- tier und soll in Südamerika viele Käl- viel zu steilen Verladerampen die Ha- zugs wird mit frischem Stroh bedeckt, ber gebären. xen. Heu als Proviant eingestreut, der Was- Zuchtrinder zählen zu den wenigen Das Elend der todgeweihten Tiere be- sertank für die im Fahrzeug integrierten Privilegierten in der beinharten Zwei- wog Politiker und Speditionsverbände Tränken gefüllt. Zuletzt zieht der Fah- Klassen-Gesellschaft auf europäischen bislang nur zu Lippenbekenntnissen. rer die Planen an den seitlichen Luft- Viehtransportern, deren gepeinigten Wilhelm Dreskornfeld vom Bundesver- schlitzen des Aufliegers so weit zu, daß Bodensatz das Schlachtvieh bildet. band des Deutschen Güterfernverkehrs Rosa genügend Frischluft bekommt, Allein im Jahr 1992 wurden rund 20 etwa erklärt, daß „der partiell bekannt- aber dennoch kein eisiger Zug das emp- Millionen Tiere über europäische Lan- gewordene Skandal auf Rädern beendet findliche Euter während der Fahrt un- desgrenzen hinweg meist unter übel- werden muß“. Taten folgen solchen terkühlt. sten Bedingungen zu fernen Schlacht- Aussagen nicht. Der Transport in die südfranzösische bänken gekarrt. Die qualvollen Trans- Bundeslandwirtschaftsminister Jo- Hafenstadt Marseille, von wo aus Rosa porte dauern oft mehr als 20 Stunden. chen Borchert (CDU) schlug im vergan- nach Brasilien verschifft werden soll, Dänische Schweine, die in Spanien genen Jahr vor, den Transport von wird mehrfach unterbrochen. Regelmä- zu Schnitzeln verarbeitet werden, ster- Schlachtvieh auf maximal acht Stunden ßig werden die mit Firma Hefter reisen- ben unterwegs in überfüllten Stauräu- zu begrenzen. Sein Ansinnen scheiterte den Rinder getränkt und gefüttert. men an Streß. Ausgediente Ackergäule in der Europäischen Union jedoch am Mancher Bustourist hätte gern solchen aus Polen verdursten auf dem Weg Einspruch der Südländer, in deren Komfort. nach Italien, weil der Spediteur das Schlachthöfen die meisten Transporte Die scheinbar selbstlose Pflege dient Geld für die vorgeschriebenen Trän- enden. Die EU-Kommission drohte einem handfesten Zweck: Mit dem kungen einspart. Irische Rinder torkeln letzte Woche gar mit einem Verfahren Wohlergehen der umsorgten Kuh sind nach der mehrtägigen Ochsentour in vor dem Europäischen Gerichtshof, um erhebliche finanzielle Interessen ver- moslemische Länder entkräftet vom Borchert von einem angeblich wettbe- bunden. Rosa ist ein begehrtes Zucht- Auflieger und brechen sich auf glatten, werbswidrigen Alleingang abzuhalten. H. GUTHMANN / FORMAT J. BERGRATH Neuartiger Pezzaioli-Transporter, Zuchtrinder beim Transport: Futter im Dach, ein Wassertank speist die Tränken

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WISSENSCHAFT

So läuft derzeit alles auf einen Kom- agogen und Psychologen an Methoden, promiß hinaus, der keine generelle Be- Pädagogik mit denen sie das mysteriöse Versagen grenzung der Fahrzeiten vorsieht. Statt kurieren wollen. konkreter Vorschriften erläßt Brüssel Auf der Suche nach den Ursachen der den mutlosen Appell an die bessere Aus- Legasthenie definierten die Wissen- bildung der Fahrer und die konsequente Gegen schaftler bislang über 60 Störungen, die Einhaltung der Tränk- und Fütterungs- für das schulische Handicap verantwort- zeiten. lich sein sollen – von der „Raumlagela- Gesetzliche Richtlinien sollen in den Strich bilität“ bis zur „kortikalen Reifungsver- Deutschland immerhin dafür sorgen, zögerung“ im Kinderkopf. Doch außer daß das Vieh während der Transporte Legasthenie, die vielerforschte einer üppigen Einnahmequelle für die nicht ganz so gedrängt stehen muß. Die Lernstörung, kann ohne aufwendige Therapeuten sei bei alledem nichts her- neue Tierschutztransport-Verordnung ausgekommen, meint die schweizerische des Bundesrates fordert 20 Prozent mehr Therapie gebessert werden: Ein Leh- Soziologin Doris Bühler-Niederberger. Bodenfläche pro Tier, wenn die Außen- rer rät zur Selbsthilfe. Die „Pathologisierung“ der LRS temperatur über 20 Grad (bei Rindern) (Bühler-Niederberger) habe vor allem oder über 25 Grad (bei Schweinen) eine verwirrende Vielzahl meist lang- steigt. Außerdem muß die Decke des ax Breyer war ein aufgewecktes wieriger Therapien hervorgebracht, Laderaums zukünftig mindestens 20 Kind. Im Kindergarten bewies er schreibt Gerhard Haberland, 72, in ei- Zentimeter über dem Nacken der Tiere M als Bastler Talent, früh lernte er nem „Leitfaden zur Hilfe und Selbsthil- liegen. Radfahren, Schwimmen und Skilaufen. fe“*. Der Lehrer und Legasthenie-Ex- Die Verordnung greift allerdings erst Daheim machte er am Klavier Fort- perte aus Sachsen-Anhalt wendet sich von 1998 an, obwohl es längst Fahrzeuge schritte, ebenso beim Schachspiel mit gegen die „alleinige Zuständigkeit der gibt, die solchen Komfort weit übertref- dem Vater. Fachleute“: Wenn Eltern und Lehrer fen. Drei wahre Luxus-Transporter vom italienischen Fahrzeugbauer Pezzaioli aus Montichiari bei Brescia hat der Zuchtvieh-Spediteur Ewald Hefter, 65, im vergangenen Jahr angeschafft. Trenngatter teilen den Laderaum des Pezzaioli-Lastzugs in Abteile auf, in de- nen die Tiere etwa soviel Platz haben wie in einem vernünftig geführten Zucht- stall. Eine hydraulische Bühne erleich- tert die Doppelstock-Beladung. Hält das Fahrzeug längere Zeit, läßt sich das Dach über die zulässige Lkw-Höhe von 4 Metern auf 4,30 Meter ausfahren. Ein 600 Liter fassender Wassertank speist die Tränken. Ausreichender Stauraum für Futter ist im Dachbereich vorgese- hen. Seitentüren erleichtern den Zugang zu den Tieren bei der Fütterung. Rund 200 000 Mark kostet der italieni- sche Lastzug, eine Investition, welche die Spediteure des billigen Schlachtviehs

kaum freiwillig leisten werden. Gewöhn- W. SCHMIDT / NOVUM liche Viehwagen gibt es schon für Legastheniker-Test: Aus „Maschine“ wird „Schamine“ 150 000 Mark. Doch mit dem richtigen Fahrzeug al- Auch in der Schule erntete Max an- mit einem einfachen, aber systemati- lein ist es noch nicht getan, wenn dem fangs nur Lob. Einzig beim Lesen und schen Training ihre legasthenischen Fahrer die Zeit fehlt, die Tiere angemes- Schreiben hakte es, ein Manko aller- Kinder schon im Vorschulalter begleiten sen zu pflegen. Hefter läßt daher jede dings, das mit den Jahren immer deutli- und fördern würden, könnte das LRS- Tränkung der kostbaren Fracht mit Da- cher wurde. Mit neun war der ansonsten Syndrom „zum Auslaufmodell werden“. tumsanzeige fotografieren. Nicht nur die gute Schüler Klassenletzter in Deutsch. Drei Jahrzehnte lang hat Haberland Tierliebe motiviert den Spediteur zu sol- Max, so erfuhren die Eltern von der erfolgreich mit LRS-Kindern gearbeitet: cher Überwachung. Hohe Werte stehen Schulpsychologin, sei „Legastheniker“ – Als methodischer (und dazu politischer) auf dem Spiel. Ein Zuchtbulle kostet bis er leide an einer manifesten Lese- und Abweichler war der Mathematiklehrer zu 100 000 Mark, 70mal soviel wie ein Rechtschreibschwäche (LRS), nur mit 1961 an die Schule des Bezirkskranken- Schlachtrind. einer gezielten LRS-Therapie könne hauses für Psychiatrie und Neurologie in Die Sterbequoten der Hochpreis-Pas- ihm geholfen werden. Uchtspringe versetzt worden. Hier, in sagiere liegen im Promille-Bereich. Im Bei rund fünf Prozent aller Kinder der Provinz und abgeschnitten vom aka- letzten Jahr brachten Hefters Lastwagen wird im Alter zwischen sieben und neun demischen Meinungsstreit, dazu ver- allein 8000 Rinder aus Holland in die Jahren eine Legasthenie-Diagnose ge- schont vom Druck der DDR-Schulbe- Ukraine. Nur 10 Tiere verendeten unter- stellt. Die Schüler können Buchstaben wegs. Bei Schlachtvieh-Transporten auf wie b und d nicht voneinander unter- * Gerhard Haberland: „Leserechtschreibschwä- Billiglastern würde ein Spediteur in ei- scheiden, beim Lesen lassen sie Silben che? Rechenschwäche? Weder Schwäche noch Defekt. Ein Leitfaden zur Hilfe und Selbsthilfe für nem solchen Fall mit 800 Todesfällen oder ganze Wörter aus. Seit den sechzi- Lehrer und Eltern betroffener Kinder“. Megalopo- rechnen. Y ger Jahren laborieren Mediziner, Päd- lis-Verlag, Schwerin; 56 Seiten; 14,20 Mark.

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WISSENSCHAFT

hörden, begann Haberland seine praxis- ein Defekt“, sondern Folge einer legasthenisches Kind der 5. Klasse, das nahe Forschungsarbeit. „Normvariante, die zufällig im Gegen- „verlieren“ lesen sollte, begann mit der Haberland erteilte Kindern aller Klas- satz zu unserer Kulturnorm steht“. Silbe „auf“ – es wußte, daß der Buchsta- sen, die wegen Verhaltensstörungen LRS-Kinder sind nach seiner Ansicht be V („fau“) heißt und las ihn, gemäß und Neurosen monate- bis jahrelang weder geistig behindert noch haben sie seiner Richtungsauffassung, als „auf“. erfolglos behandelt worden waren, „Teilausfälle“: Sie reihen ihre Buchsta- Aus solchen Einsichten und Erfah- Deutsch- und Mathematikunterricht. ben (oft auch die Zahlen) nur gegen die rungen entwickelte Haberland für El- Von modischen Theorien über die LRS von der westlichen Kultur vorgegebene tern und Lehrer praktische Ratschläge, unbelastet, statt dessen „direkt vom Richtung aneinander und sind damit so mit denen den Kindern die Anpassung Phänomen ausgehend“, konnte der Au- erfolglos wie etwa ein Europäer im Chi- an die rechtsausgerichtete Norm erleich- ßenseiter ungestört seine eigenen dia- narestaurant, der sich abmüht, mit Stäb- tert werden soll. Statt zu tadeln und gnostischen Methoden entwickeln und chen Reis zu essen. Druck auszuüben, sollten die Erzieher frühzeitig helfend eingreifen. Der Schlüssel zum Problem „Leg- ihre Kinder schon früh in ihrem gegen- Die LRS-Kinder von Uchtspringe asthenie“ ist nach Haberlands These läufigen Richtungssinn bestärken und zeigten die gleichen Absonderlichkeiten (die vom Unesco-Institut für Pädagogik sie auch links löffeln, malen, hämmern im Umgang mit Schrift und Zahlen wie als „von wissenschaftlicher Bedeutung“ lassen. Legastheniker an anderen Schulen: We- eingestuft wird) die von der Norm Anhand von dreifarbigen Mosaikmu- der dumm noch faul, kamen sie gleich- abweichende, physiologisch beding- stern oder Domino-Bildern mit gleichen wohl mit der Orthographie nicht zurecht te linksorientierte „Händigkeit“ und Figuren können die Kinder beim Nach- – sie vertauschten und verdrehten Silben „Äugigkeit“: Nicht nur Hantierungen, bauen das „Spiegeln“ und Beachten der Ausrichtung lernen. Auf diese Weise wird ihnen bewußt, daß ihr Richtungs- sinn dem üblichen zuwiderläuft. Schädlich, kritisiert Haberland, sei für legasthenische Kinder das Lesenler- nen mit der Ganzwortmethode. Auch die vereinfachte Fibelnormschrift er- schwere nur das Lernen: Sie sei nur ver- meintlich leichter zu lesen als die ältere Antiqua-Schrift, die Kindern richtung- Texte so oft zu lesen, bis sie sitzen, ist „völlig falsch“

weisende und zugleich unterscheidende Elemente biete. Mit den legasthenischen Kindern Tex- te so oft zu lesen, bis sie „sitzen“, sei „völlig falsch“. Die Kinder, denen das Auswendiglernen nicht schwerfällt, täu- schen dabei oft nur Fertigkeiten vor.

W. SCHMIDT / NOVUM Statt dessen sollten Seite und Reihe oft Legasthenie-Forscher Haberland: Mit Mosaiken den Richtungssinn gestärkt gewechselt und Wörter mit typischen Schwierigkeiten herausgegriffen wer- und Schriftzeichen, bis ein schier „un- auch die „geistigen Intentionen“ laufen den. Dem „ratenden Lesen“ wirken entwirrbarer Buchstabensalat“ (Haber- bei LRS-Kindern gegen den Uhrzeiger- auch Wortketten entgegen wie etwa land) angerichtet war. Die dabei unver- sinn ab – und gehen damit der abendlän- „Wade-Made-bade“, „leben-laben-Na- meidlichen ständigen Mißerfolge beim dischen Schriftkultur gegen den Strich. bel-Nadel-Laden“: Auf diese Weise Lernen erzeugten schließlich sogenann- Die rechtsgerichtete Norm wird von werden die Kinder trainiert, unterschei- te Pfropfneurosen, die, so Haberland, den Kindern zwar im Laufe der Zeit bis dende Formmerkmale zu beachten. „zusätzlich die Kinderpersönlichkeit de- zu einem gewissen Grad verinnerlicht, Die Eltern wiederum sollten das Kind formieren“: Die Legastheniker versu- doch sie bleiben grundsätzlich „sini- ermuntern, überall, auf Plakaten und chen, ihre schlechten Leistungen durch strad“, so der Fachterminus; immer wie- Schildern, Wörter und kurze Texte zu Kaspereien und Aggressionen zu kom- der erleben sie „Gegenschübe“, auch lesen und „diese Versuche sportlich- pensieren. beim spontanen Sprechen: Aus dem spielerisch auszugestalten“. Psychotherapien, erkannte Haber- freudigen „Hurra“ wird ein „Harru“ – Mit einer Fülle derartiger Kunstgriffe land, müssen so lange erfolglos bleiben, weil im Legastheniker-Hirn das A vor und Übungen könnten die richtungsge- wie das Grundübel, jenes rätselhafte dem U gespeichert wird. störten Kinder lernen, sich durch zuneh- Leistungsversagen samt seinem Lei- Mit ihrem gegenläufigen Richtungs- mend geschickteres „Umpolen“ anzu- densdruck, nicht beseitigt ist. Dieser sinn erfassen die Kinder Symbole gleich- passen. Rasche Erfolge befreien sie „Teufelskreis“, so Haberland, „dem nur sam spiegelbildlich. So lesen und schrei- dann auch von Versagensängsten. wenige lerngestörte Kinder unbeschä- ben sie einzelne Buchstaben, Wortteile Wie quälend die sein können, hat der digt entgehen“, könne jedoch vermie- oder ganze Wörter „gegensinnig“: etwa Pädagoge an sich selbst erfahren: Er den werden. „bei“ statt „die“, „nur“ statt „rum“, konnte als Kind noch in den ersten Nach Überzeugung des altgedienten „Schamine“ statt „Maschine“. Richtig Schuljahren rechts und links nicht aus- Pädagogen ist die Lese-Rechtschreib- interpretiert, machen auch scheinbar einanderhalten. Fehlerfrei schrieb er schwäche „weder eine Schwäche noch unerklärliche Fehlleistungen Sinn: Ein erst, als er schon selbst Lehrer war. Y

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TECHNIK

ruhmsüchtig reitenden Schußwaffen Sohn Napoleons III. – wol- len an der Moderne teilha- ben. Nachdem sich ihre bes- serverdienenden Stammes- Tod am Ohr brüder im Bedarfsfall der Kalaschnikow bedienen, Beim Bau von Feuerwaffen, so ergab verlangen nun auch die so- die Klärung eines Mordes, ist nie- zial schwächeren Zulus nach Explosionswaffen. mand erfinderischer als die Zulus. Daher haben viele der dorfansässigen Speer- und ie Patrone, so lernt der angehende Messerschmiede auf Büch- Gerichtsmediziner, besteht aus senmacher umgesattelt. De- Dzwei Teilen: erstens dem Projektil, ren Produkte sehen zwar das die Todeswunde schlägt und den ziemlich skurril aus, aber Leichnam damit obduktionspflichtig sie schießen gut – meist mit macht; zweitens der Hülse, die bis zu ih- Schrot, seltener mit Ku- rer Entfernung im Lauf verbleibt und geln, aber fast immer mit überall hingehört, nur nicht in den Kör- Läufen, die aus dem Sani- per des Toten. tärbereich stammen. „Lei- Genau dort aber, mitten im Hirn ei- tungsrohre scheinen für die- ner Mordleiche, stieß der südafrikani- sen Zweck ideal geeignet“, sche Pathologe Robert Book auf eine konstatierten die Experten. Patronenhülse. Das dazugehörige Pro- Im Zuge ihrer Feldfor-

jektil fand er eine Handbreit weiter M. PERSSON / GAMMA / STUDIO X schung im Zululand stießen rechts, hinter dem Ohr. Zulus: Traditioneller Waffenstolz sie auch auf die Wiederer- Da die Zunft der Pathologen (außer findung des Hinterladers dem Alkohol) nichts so liebt wie einen afrikaner über das Ergebnis ihrer Re- mit anderen Mitteln – und damit auch publikationsfähigen Rätselfall, be- cherche berichten. auf die Lösung des Rätsels um die schlossen Book und sein Kollege Jan Auf ihren Streiffahrten entdeckten ominöse Patronenhülse im Hirn. Botha, das Phänomen der Hülse zu er- die Gerichtsmediziner eine Vielzahl von Es handelt sich dabei um eine Waf- forschen. Mit der ganzen Hartnäckig- Schießgerät der Marke Eigenbau, das fe, deren Lauf nach jedem Schuß abge- keit, zu der forensische Wißbegier fähig vom handlichen Taschenpuffer bis zur schraubt, um 180 Grad gedreht und ist, roverten die beiden einen Urlaub halbwüchsigen Kanone reicht – alles dann wieder angeschraubt wird. Wo lang durch das Zululand in der Provinz Werkmannsarbeit schwarzer Waffen- vorher die Mündung war, schiebt der Natal, an deren Universität sie dem Se- schmiede, deren Einfalls- und Formen- Schütze jetzt die Munition ein und pla- ziergewerbe nachgehen. reichtum in der Geschichte der handge- ziert sie damit hinter der Hülse der zu- Die Holiday-Mission klärte das Ge- führten Artillerie einzigartig ist. vor abgefeuerten Patrone: Mit dem heimnis um die „Zulu-Waffen und einen Soziohistorischer Hintergrund: Die Schuß stieben beide aus dem Lauf. ungewöhnlichen Mord“ – so der Titel weniger bemittelten Mitglieder des tra- „Kolossale Idee“, resümierte Book des Artikels im American Journal of Fo- ditionell waffenstolzen Zulu-Stammes – mit dem goldenen Humor seiner Be- rensic Medicine and Pathology, in des- er tötete beispielsweise den 1889 mit rufsgruppe: „Ein Schuß, zwei Tref- sen jüngster Ausgabe die strebigen Süd- den englischen Kolonial-Schwadronen fer.“ Y

Selbstgebaute Zulu-Schußwaffen: „Leitungsrohre ideal geeignet“

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KULTUR SZENE

Affären Friedens-Uni im Kreuzfeuer Es wird eng für den großen Vorsitzenden. Der Berliner Uwe Morawetz, 29, Kopf des obskuren „Fördervereins zur Gründung einer Friedensuniversität“ (FGF) in Pots- dam, hatte kürzlich mit illustren Namen für den Lehrbe- trieb der geplanten Hochschule geworben, ohne daß ihm definitive Zusagen dieser Referenten vorlagen (SPIE- GEL 5/1995). Jetzt wird er mit weiteren Dementis von sei- nen angeblichen Mitstreitern eingedeckt. TV-Journalist Günther Jauch etwa, von Morawetz zum Friedens-Dozen-

ten promoviert, spricht von schlichtem „Schwindel“. Der PROKINO Moderator verwundert: „Ich habe niemals eine Zusage für Te´chine´-Film „Wilde Herzen“ irgendeine Referentenliste gegeben.“ Die Menschen- rechtsorganisation Amnesty International wurde rabiater. Regisseuren bestellt (und in- anal-banalen Geschmacks- Sie verlangte von Morawetz, schriftlich zu versichern, nie zwischen gesendet) hat. Einer verletzungen. Aber jetzt ist wieder den Namen der Organisation und ihres deutschen der Beiträge geriet so bemer- Kelley 40 und arriviert, und Vorsitzenden Volkmar Deile in Zusammenhang mit sei- kenswert, daß er in längerer prompt werden die Floskeln ner FGF zu benutzen. Auch der Zentralrat Deutscher Sin- Fassung in französischen Ki- des Kunstbetriebs auf ihn ab- ti und Roma teilte dem Hochschul-Hochstapler katego- nos gezeigt wurde, zum natio- geschossen. Er entlarve „die risch mit, daß man „zu einer Mitarbeit nicht bereit“ sei. In- nalen Oscar-Favoriten auf- Symbole und Mythen der zwischen wurden sogar Berliner Behörden aktiv. Der Se- stieg und nun auch hierzulan- westlichen Zivilisation mit nator für Wissenschaft und Forschung erwägt Ordnungs- de herauskommt, wobei aus Witz und provokatorischer maßnahmen gegen den großspurigen Universitätsgrün- dem wilden Schilfrohr („Les Schärfe“, behauptet ein Kom- der, weil der ohne Erlaubnis den Begriff Universität ver- roseaux sauvages“) „Wilde mentar zur großen Mike-Kel- wende. Senator Manfred Erhardt ließ lapidar mitteilen: Herzen“ geworden sind. An- ley-Ausstellung, die vom „Eine Wissenschaftlichkeit des Unternehmens können dre´Te´chine´, 51, der scheue, kommenden Sonnabend an wir nicht feststellen.“ verschwiegene Gefühlsmini- im Haus der Kunst in Mün- malist des französischen Ki- chen gezeigt wird (bis 17. nos, hat sich mit halbwüchsi- April). Parallel ist Kelley mit Architektur und werben mit der Ausstel- gen Laiendarstellern auf die einer Einzel-Bilderschau in lung „Warchitecture“ um Suche nach seiner verlorenen der Kölner Jablonka Galerie Der Tod Sponsoren für den Wieder- Jugendzeit in der Provinz ge- vertreten (bis 18. März). Ob aufbau der bosnischen Kapi- macht: Er erzählt von einer Kelleys schmuddelige, trauri- einer Stadt tale. Bis Mitte März macht die Abiturklasse in jenem Som- ge und groteske Werke soviel Foto-Schau Station im Deut- mer 1962, als Algerienkrieg Wohlwollen der Hochkultur schen Werkbund in Frank- und rechtsradikaler Terror verkraften? „Wenn Arschlö- furt. Gezeigt werden die di- die Nation nahezu zerrissen; cher fliegen könnten“, heißt versen Bauepochen Sarajevos er erzählt von der Selbstfin- es in einer Museumsinstallati- und das, was von alldem noch dung eines einsam heran- on Kelleys von 1992, „wäre übrig ist. Am Samstag dieser wachsenden Homosexuellen dieser Ort ein Flughafen.“ Woche – ebenfalls im Werk- und davon, wie die Sinnenlust bund – diskutieren namhafte einer Jungkommunistin über Architekten über die Repara- die Terrorbereitschaft eines tur der zu zwei Dritteln rui- rechten Brandstifters siegt. nierten historischen Bausub- stanz. Am selben Tag finden Ausstellungen ähnliche Workshops in New York und Sarajevo statt. Friedhof der Nachdem Europa schon nicht die Zerstörung ihrer Stadt Kuscheltiere verhindert habe, sagen die Es hat wieder einen erwischt. fünf Bosnier, möge es wenig- Mehr als ein Jahrzehnt lang stens bei der Beseitigung der hatte Mike Kelley sich als Kriegsfolgen helfen. Provokateur gebärdet und

M. KOVACEVIC-STRASNI mit seiner Proleten-Pop-Art Fotodokument aus Sarajevo Film – Zutaten: Sex, Scheiße, Schund und Geschwätz – das Im März 1994 gelang es fünf Frühlings Establishment verschreckt. bosnischen Architekten, Sa- Galerien staffierte der aus ei- rajevo zu verlassen – im Ge- Erwachen ner katholischen Detroiter päck eine Foto-Dokumenta- Von pubertären Liebeseksta- Arbeiterfamilie stammende tion über ihre zerbombte sen und -verzweiflungen han- Kelley mit spätpubertärer Heimatstadt. Seitdem reisen delt ein neunteiliger Filmzy- Verve zu einem Friedhof der

sie mit Unterstützung der klus, den der TV-Kanal Arte Kuscheltiere aus, bastelte M. KELLEY Unesco durch ganz Europa bei französischsprachigen seine Werke aus Abfall und Kelley-Collage (1987)

186 DER SPIEGEL 6/1995 Werbeseite

Werbeseite .

KULTUR

Filmfestspiele „ES DARF GEWEINT WERDEN“ Stärker als in den vergangenen Jahren trumpft der deutsche Film im Hauptprogramm der Berlinale auf, die diese Wo- che beginnt: mit neuen Arbeiten von Edgar Reitz, Herbert Achternbusch und Christian Wagner. Höchste Erwartungen aber richten sich auf den Eröffnungsfilm, Margarethe von Trottas großangelegte Chronik der deutschen Teilung.

enn am Donnerstag dieser Woche Als die DDR zusammenbrach, lebte der Held als Atomphysiker im Osten, die45.FilmfestspieleinBerlinbe- Margarethe von Trotta in Rom und während seine Schwester und ihr Mann Wginnen, präsentieren sie in ih- schien sich, verdientermaßen, von den in Kirche und Pfarrhaus die verfolgten rem Hauptprogramm stolze 19 „Welt- deutschen Miseren vielleicht für immer Bürgerrechtler bemuttern. Und da sich uraufführungen“ sowie 8 „internationale abgewendet zu haben. Es brauchte den all dies über 28 Jahre hinzieht, sind die Premieren“. Anstoß durch einen italienischen Produ- Hauptrollen jeweils stafettenmäßig auf Die Eröffnungsgala bestreitet, natür- zenten, der ihr einen Mauer-Film vor- zwei Darsteller verteilt: Meret Becker lich als „Welturaufführung“, endlich mal schlug, bis ihr die fordernde Größe der übergibt an Corinna Harfouch, Susanne Aufgabe aufging. Erst Uge´ an Eva Mattes, Anian Zollner an zögerte sie. Doch nach August Zirner, Pierre Besson an Hans zwei weiteren Filmen Kremer. in Italien packte sie Viele Anwärter für viele Schauspie- die Mauer-Geschichte, ler-Preise, falls ihnen nicht ein unver- gründlich, wie das ihre doppelter Nebendarsteller komödian- Art ist, um sie sich zu tisch die Schau stiehlt: Der stets hilfsbe- eigen zu machen. Nun reite Regiekollege und Professor Hark thront sie darauf, ei- Bohm spielt den stets hilfsbereiten ne gesamtdeutsche Be- Freund und Helfer von der Stasi. troffenheitsglucke wie Ende Januar, als Edmund Stoiber in noch nie. An mancher der Münchner Residenz Margarethe Stelle von „Das Ver- von Trotta für „Das Versprechen“ mit sprechen“, so Dreh- dem Regiepreis des Bayerischen Film- buch-Mitautor Peter preises samt 50 000 Mark auszeichnete, Schneider, „darf, glau- mußte beim anschließenden kalten Buf- be ich, geweint wer- fet hinter vorgehaltener Hand sogar ein den“. Vorabendserienredakteur von der Ba-

C. EISLER / TRANSIT Die Filmheldin varia einräumen, daß unter den unge- Leipziger „Regina-Kino“ kommt im Westen als ahnten Folgen des Mauerfalls dieser Selbstbedienungscliquen und unbeirrbare Narren Dolmetscherin voran, Film nicht die schlimmste sei.

wieder ein deutscher Film, nämlich je- ner mit Spannung erwartete, dem der Ruf vorauseilt, daß er die Berliner Mau- er ein für allemal im Melodram verewi- ge: Margarethe von Trottas „Das Ver- sprechen“. Ende März wird der Film, wie seine Macher hoffen, auch beim Oscar-Wettbewerb in Hollywood glän- zen. „Das Versprechen“, so sagt die Ver- leihwerbung, „ist der erste große Film über das Leben, die Sehnsucht und das Schicksal der Gefühle in den Jahren der Mauer.“ Er handelt – vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989 – unent- wegt und ausschließlich von der Teilung Berlins, von einem getrennten Liebes-

paar nämlich (sie im Westen, er im FILM Osten), also von einem mehr als 28 Jah- re währenden, schwer von Geigen um- schluchzten Herzensunglück nach der CONCORDE

Melodie: Sie konnten zusammen nicht FOTOS: kommen, die Mauer war viel zu hoch. Regisseurin Trotta, Darsteller Zollner: Stafette über 28 Jahre

188 DER SPIEGEL 6/1995 . FILM CONCORDE FOTOS: Grenzöffnung am 9. November 1989

Meret Becker Anian Zollner, Meret Becker Ost-West-Filmszenen aus „Das Versprechen“: Eigentlich erst im nächsten Jahr dran Man hält halt zusammen: Da das ewig heißen, die eben damals ihr Mauer- Film vorschlagen, und aus diesem Ange- sieche Pflänzchen „Deutscher Film“ pro Werk in Angriff genommen hatte. bot filtert die Academy fünf Favoriten Jahr mit über 200 Millionen Mark sub- Und wie kam es, so fragen nun man- heraus. Schon die offizielle „Nominie- ventioniert wird, seine Früchte an den che deutschen Produzenten, daß die Ju- rung“ dieser fünf kommt einer Aus- Kinokassen aber kaum die Hälfte ein- ry der dafür zuständigen „Export-Union zeichnung gleich, und die Trophäe bringen, besteht die Branche zu einem des Deutschen Films“ bei der Oscar- selbst ist wie ein Jackpot-Gewinn: In guten Teil aus Seilschaften, Suppengän- Kandidatenwahl all jene Werke, die im den Ursprungsländern der Filme wird gern, Selbstbedienungscliquen sowie ein Jahre 1994 in den Kinos gute Figur ge- der kleine Goldene aus Hollywood (für paar einsamen, unbeirrbaren Narren. macht hatten, einfach vom Tisch fegte, Deutschland hat ihn als bisher einziger In der Regel gilt die Regel: Vor den um einen Anwärter zu küren, den Trot- 1979 Volker Schlöndorffs „Blechtrom- Hegern und Pflegern des deutschen ta-Film eben, der sich vordrängelte, ob- mel“ gewonnen) mehr als jede Olympia- Films sind alle gleich, aber einige ein wohl er eigentlich erst nächstes Jahr medaille geschätzt. wenig gleicher als andere. Deshalb ist dran wäre? Der etwa 400köpfige Academy-Aus- jeder immer auch seines Nächsten Nei- Um diesen Blitz-Start des „Verspre- schuß, der sich um die Exotenkonkur- der. Wie kam es etwa, so fragten man- chens“ in die Oscar-Kandidatur zu ver- renz kümmert, hat dieses Jahr deutlich che deutschen Produzenten, daß der ita- stehen, hilft ein Blick auf die Spielre- mehr als je zuvor zu tun: Statt wie üblich lienische Film „Il lungo silenzio“ („Zeit geln. Die amerikanische „Academy of gut 30 sind diesmal 45 Anwärter im des Zorns“), nur weil die Regisseurin Motion Picture Arts and Sciences“ ver- Rennen – die neue Kleinstaaterei in Margarethe von Trotta hieß, im letzten gibt bei ihrer für Werbezwecke sehr ge- Osteuropa hat Folgen. Auch Länder wie Frühjahr eine mit 300 000 Mark versüß- schätzten Selbstfeier jeweils einen be- Guatemala oder Kambodscha, von de- te Nominierung für den Deutschen sonderen Oscar an einen jener Filme, ren Filmschaffen man in der Fremde Filmpreis erhielt? Man könne das doch, denen der amerikanische Kinoalltag nur keine Ahnung hatte, sind erstmals da- so die Antwort aus dem Klüngel, der be- eine Paria-Rolle einräumt, den fremd- bei, dafür hat das große China auf eine rühmten Berliner Luft zuschreiben, sprachigen nämlich, die fürs Big Busi- Bewerbung verzichtet. oder anders gesagt: kurz ein Auge zu- ness ohne Belang sind. „Das Versprechen“ ist also in diesem drücken und die Prämie als Begrüßungs- In jedem Land darf eine repräsentati- Reigen der deutsche Kandidat, aber geld für die Italien-Heimkehrerin gut- ve Standes- oder Staatsinstitution einen noch keineswegs „nominiert“. Nur eine

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KULTUR

Hürde war dafür zu nehmen: Wenn man in Hollywood die Oscars für das Jahr SPIEGEL-Gespräch 1994 vergibt, setzt man selbstverständ- lich voraus, daß die konkurrierenden Fil- me in jenem Jahr zu Hause im Kino ge- laufen seien. Wie konnte da der Trotta- „Kribbeln im Bauch“ Film von deutscher Seite im letzten Ok- tober ins Rennen geschickt werden, ob- Hollywood-Star Robert Redford über Fernsehen, Patriotismus und Moral wohl er seine Premiere erst jetzt im Fe- bruar bei der Berlinale hat? Die Berliner Filmfestspiele wahren ihr mehr werden kann. Es „ius primae noctis“ alias Anspruch auf ist sehr schwierig, sich „Welturaufführung“ äußerst pingelig. von der Rolle des Sogar die geschlossenen Vorführungen Glamour-Stars zu be- für die Presse, die sonst vor jedem Kino- freien und als derjeni- start üblich sind, gelten als unzulässig ge wahrgenommen zu (finden aber klammheimlich trotzdem werden, für den man statt), und eine zu früh veröffentlichte sich selbst hält. Kritik wäre, wie der Verleih anmahnt, SPIEGEL: Für wen hal- Lästerung: „Wir kämen in Teufels Kü- ten Sie sich denn? che mit dem Festival.“ Redford: Ich möchte In Berlin respektiert man diese Maß- schon glauben, daß ich regeln. Im fernen Hollywood aber ver- vor allem Künstler bin. breitet das Branchenblatt Variety in aller SPIEGEL: Könnte es Arglosigkeit die Information, der Film sein, daß Stars schon „Das Versprechen“, dieser angeblich al- deswegen so gern von lerweltunuraufgeführteste überhaupt, den Nachteilen ihres sei schon vor Monaten in einem Leipzi- Daseins erzählen, um ger Kino gelaufen. Nanu, was denn nun? von den eigenen Privi- Da rückt, zur Lösung des Rätsels, für legien abzulenken? einen Augenblick die Stadt Leipzig in Redford: Ich bestreite den Mittelpunkt der Ereignisse. Um den ja gar nicht, daß ich Wettbewerbsregeln der Hollywood- mich am Anfang mei- Academy Genüge zu tun, hat man (wie ner Laufbahn sehr ge- das in der Branche heißt) „ein bißchen schmeichelt gefühlt ha- getrickst“: „Das Versprechen“ wurde in be. In der Schule galt ein paar Nachmittagsvorstellungen im ich nicht als gutaus- Regina-Palast vor zahlenden Zuschau- sehender Junge. Ich ern gezeigt – mit größter Unauffälligkeit, hatte Sommersprossen weil es sich nicht bis nach Berlin herum- und fast rote Haare, sprechen sollte. und außerdem war ich In Leipzig zu sehen war: Eigentlich viel zu wild. Und auf wird in dem Film nur immer geredet, und einmal erzählte man die Selbsterfahrungsprosa der Dialoge mir, ich sei ein Star.

hängt den Darstellern oft bleischwer aus J. M. KELLY / GLOBE PHOTOS Wer hätte da widerste- den Mündern bis auf die Knie. Doch Regisseur Redford: „Anfang vom Ende der Unschuld“ hen können? über alle Zweifel erhaben ist die politi- sche Korrektheit: Deutsches Zeigefin- SPIEGEL: Mr. Redford, warum sind die ger-Kino schlechthin für alle Wissens- Menschen so begierig nach Stars? „Quiz Show“ durstigen in allen Goethe-Instituten der Redford: Ich weiß es nicht. Ich komme Dritten Welt. Die Trotta schafft es, den nicht dahinter. heißt der neue Film von Robert Red- Graben, der Ossis von Wessis trennt, bis SPIEGEL: Sollen wir das glauben? ford, ein Film über die Jugendsün- an den Rand hoch vollzusülzen. Es ist, Redford: Nun gut, ich habe schon dar- den des amerikanischen Fernse- als würde Birgit Breuel sich in eine Pose über nachgedacht, aber das Thema ist hens: Ratesendungen waren mani- werfen, die Christa Wolf erst vor kurzem mir unangenehm. Aus irgendeinem puliert worden, um sicherzustellen, geräumt hat, und rufen: Hallo Sports- Grund sehnen sich die Leute nach je- daß die beliebtesten Kandidaten ge- freunde, der geteilte Himmel ist wieder mandem, der vollkommen wirkt. Und wannen. „Quiz Show“ spiegelt die ganz! dann haben sie sonderbarerweise den medienkritische Sicht Redfords, 57, Über den Film hinaus aber war in die- ebenso starken Wunsch, denjenigen der als Regisseur und Produzent sem Leipziger Regina-Palast zu erleben, wieder von seinem Sockel herunterzu- verantwortlich zeichnet, selbst je- wie deutsche Filmbranchen-Schlaumeier stoßen. doch nicht mitspielt. Das packende zwei Fliegen auf eine Klappe erledigen: SPIEGEL: Sie selbst behaupten sich Drama des Hollywood-Veteranen Den Dummen in Hollywood wird weis- schon lange auf Ihrem Sockel. („Jenseits von Afrika“, „Ein unmora- gemacht, der Film sei uraufgeführt und Redford: Ja, aber auch das hat Nachtei- lisches Angebot“) hat gute Chancen laufe hierzulande im Kino, die Dummen le. Wenn es erst einmal heißt: Ach, Bob auf einen Oscar und wird jetzt bei in Berlin aber, die jetzt die „Welturauf- Redford, der ist ein Star, dann bedeutet den Berliner Filmfestspielen erst- führung“ ankündigen, sollen sich bitte das zugleich, daß man nichts anderes mals in Europa gezeigt. Am Don- schön blind stellen und glauben, in Leip- nerstag nächster Woche startet der zig sei eine Schimäre über die Leinwand Das Gespräch führte SPIEGEL-Redakteurin Susan- Film in den deutschen Kinos. getrottet. Y ne Weingarten.

190 DER SPIEGEL 6/1995 ..

SPIEGEL: Und wann wurde Ihnen der ändert. Ich sehe den Fernsehbetrug als lar mit Antworten, die sie vorher aus- ganze Wirbel unangenehm? Anfang vom Ende unserer Unschuld. wendig gelernt hatten. Redford: Als ich mit „Barfuß im Park“ SPIEGEL: Sie übertreiben etwas, oder? Redford: Ja, vor allem einer, der junge 1963 am Broadway meinen ersten gro- Redford: Nun ja, der Verlust der Un- New Yorker Dozent Charles Van Do- ßen Erfolg hatte. Ich merkte plötzlich, schuld hat vermutlich schon im Augen- ren . . . daß mich eine Art zweites Ich begleite- blick unserer Staatsgründung begonnen. SPIEGEL: . . . die Hauptfigur Ihres te, ein imaginärer Doppelgänger, den Dennoch glaube ich, daß der Quiz-Be- Films. Was war denn so Besonderes an die Öffentlichkeit geschaffen hatte. Die- trug Amerika einen entscheidenden Van Doren? sen Doppelgänger kann ich nicht kon- Schock versetzt hat. Das Fernsehen fing Redford: Er galt als Volksheld, als Vor- trollieren. damals ja gerade erst an, sich seiner vol- bild der Jugend. Er schaffte es sogar auf SPIEGEL: Aber Sie müssen sich damit len Macht bewußt zu werden – und die Titelseite von Time. Charles Van arrangieren. prompt mißbrauchte es sie. Die Rate- Doren war der erste Intellektuelle, der Redford: Richtig. Am Anfang habe ich shows hatten ja ungeheuren Erfolg. es in der Unterhaltungsbranche zum sehr viel Energie darauf verschwendet, Damals hieß es, das wäre die meinem Ruhm zu entkommen. Ich habe beste Zeit, um einen Raub- mich verkleidet, getarnt und bin durch überfall zu begehen, weil alle irgendwelche Hinterausgänge ent- fernsahen. Die Bars waren wischt. Einmal habe ich behauptet, ich proppenvoll, weil längst nicht wäre ein Austauschstudent aus Bogota´. jeder einen eigenen Apparat Aber irgendwann merkte ich dann, wie- besaß, und manche Kinos GLOBE / INTERTOPICS EVERETT COLLECTION Redford-Film „Quiz Show“, Quizbetrüger Van Doren (1956)*: „Die beste Zeit für einen Raubüberfall“

viel Zeit mich diese Streiche kosten, stellten einen Fernseher vor die Lein- Star gebracht hatte. Bei allen anderen und ich hab’s gelassen. wand, statt einen Film zu zeigen. Kandidaten schalteten die Leute ein, SPIEGEL: Inzwischen hat sich Ihr SPIEGEL: Und wo waren Sie? um zu sehen, wann sie endlich geschla- Image verändert. Sie gelten nicht nur Redford: Ich war 20 Jahre alt, frisch in gen würden. Aber nicht bei diesem als Idol, sondern auch als seriöser Re- New York angekommen, ein Schauspie- Wunderknaben Van Doren. Keiner gisseur: Ihr neuer Film „Quiz Show“ ler, der gerade für seine ersten Rollen wollte, daß er verliert. war bei den Kritikern in den USA ein am Theater vorsprach. Einmal trat ich SPIEGEL: Haben Sie ihn damals im Riesenerfolg. sogar in einem Quizprogramm auf. Fernsehen gesehen? Redford: Ja, durch „Quiz Show“ werde SPIEGEL: Als Kandidat? Redford: Das ließ sich nicht vermeiden. ich in Amerika endlich mit anderen Redford: Nein, ich war Statist bei einem SPIEGEL: Was hielten Sie denn von ihm? Augen gesehen. Sie glauben gar nicht, Ratespiel. Ich hatte nichts anderes zu Redford: Ich fand ihn gar nicht so char- wie froh und erleichtert ich bin, daß tun, als zusammen mit zwei anderen mant und attraktiv. Mir war damals ich das noch erlebe. jungen Männern hinter Schattenwänden schon klar, daß es nur das Fernsehen SPIEGEL: „Quiz Show“ erzählt von ei- zu stehen. Dafür waren mir 75 Dollar war, das ihm die Aura des Außerge- nem längst vergessenen Fernsehskan- Honorar zugesagt worden – und die wöhnlichen verlieh. Außerdem dachte dal: In den fünfziger Jahren waren den brauchte ich dringend, weil meine Frau ich immer, wenn ich mir die Show Kandidaten zahlreicher Ratesendungen damals gerade schwanger war. Statt des- „Twenty-One“ ansah, in der er auftrat: heimlich die Antworten zugesteckt sen drückte man mir am Ende der Show Da stimmt etwas nicht. Das wirkt nicht worden. Wer soll sich heute noch dar- eine Angelrute in die Hand und behaup- echt. Ich glaube, der Kerl schauspielert. über aufregen? tete, die wäre auch 75 Dollar wert. Aber dennoch bin ich nie auf den Ge- Redford: Es geht nicht nur um den Be- SPIEGEL: Und unterdessen verdienten danken gekommen, daß die ganze Sen- trug, sondern darum, was diese Ge- die Kandidaten Zehntausende von Dol- dung manipuliert sein könnte. Ich blieb schichte damals in Gang gebracht hat. wie hypnotisiert vor dem Bildschirm sit- Der Skandal um die Ratesendungen * Mit Ralph Fiennes, Christopher McDonald, John zen. Daran sehen Sie, wie naiv ich da- hat die amerikanische Gesellschaft ver- Turturro. mals noch war.

DER SPIEGEL 6/1995 191 .

KULTUR

SPIEGEL: WarenSieneidischauf Van Do- Redford: Es trägt jedenfalls stark dazu Schönheit zu bewahren. Und ich bin ren? Während Sie noch als armer Thea- bei. Ich glaube, daß eine Gesellschaft, dankbar dafür, daß Amerika ein freies teranfänger die Klinken putzten, genoß die ihre Mythen verliert, zum Unter- Land ist. er die Aufmerksamkeit ganz Amerikas. gang verdammt ist. Früher haben sich Wenn irgend jemand diese Freiheiten Redford: Ich glaube nicht, daß ich ihn be- die Leute Geschichten erzählt, am Gar- bedroht, sei es durch Dreistigkeit oder neidet habe. Als der Skandal aufflog, ha- tenzaun geklatscht und getratscht. So durch Dummheit, dann reagiere ich sehr be ich . . . Warten Sie: Ich muß doch nei- entstand mit der Zeit ein Schatz an ge- empfindlich. Bei den letzten Senatswah- disch gewesen sein. Wissen Sie, warum? sellschaftlichen Mythen. Aber das Fern- len hat ein reicher Nichtstuer namens Ich erinnere mich daran, eine tiefe Be- sehen läßt so etwas nicht entstehen. Es Michael Huffington fast 30 Millionen friedigung empfunden zu haben, ein rich- setzt uns alles vor, jedes Bild, jeden Dollar für seinen Wahlkampf in Kalifor- tiges Kribbeln im Bauch, als er sein Ge- Kommentar, und die Phantasie des Zu- nien ausgegeben. Er besaß absolut kei- ständnis ablegte. schauers wird nicht gefordert. Wenn ei- ne Qualifikationen, er kam nicht mal SPIEGEL: Auch Van Dorens Sturz und ne Gesellschaft die Vorstellungskraft ih- aus Kalifornien, und vermutlich hatte der Quizskandal haben die Fernsehbe- rer Bürger verkümmern läßt, ist das ein ihm diese ganze Idee nur seine Gattin in sessenheit der Amerikaner nicht ge- schlimmes Zeichen. den Kopf gesetzt, weil sie lieber in Be- bremst. Mein Film „Milagro – Der Krieg im verly Hills leben wollte. Redford: Nein, aber die Affäre hat unsere Bohnenfeld“ erzählt von einem Dorf na- SPIEGEL: Huffington hat die Wahl ver- Einstellung zum Fernsehen verändert. he der mexikanischen Grenze, dessen loren. Vorher hatten wir geglaubt, was uns das Bewohner an Geister und Engel glau- Redford: Schon, aber er hätte einem Fernsehen zeigte. Es hatte uns janoch nie ben – lauter Vorstellungen, die wir als Sieg niemals so nahe kommen dürfen. Kein Mensch hat sich um das geschert, was er zu sagen hatte. Es ging nur darum, daß er Sen- dezeit im Fernsehen kaufen und seine Nase in die Kameras halten konnte. SPIEGEL: Warum schockiert Sie das so? Sie haben 1972 einen Film gedreht, „Bill McKay – der Kandidat“, der bereits die- selben Mechanismen und den- selben Mißbrauch in der Politik anprangerte. Redford: Das stimmt. Ich muß immer wieder an diesen Film denken, und ich frage mich, ob überhaupt damals jemand ge- merkt hat, was ich mit ihm sa- gen wollte. Die Lage hat sich seither nur verschlimmert. SPIEGEL: Jetzt klingen Sie wie ein unverbesserlicher Moralist. Redford: Das will ich hoffen. Die Moral ist doch ein Schutz- wall gegen alle Exzesse in einer

AP Gesellschaft. Wo soll es denn Erschießung im Vietnamkrieg (1968): „Immer mehr abgestumpft“ hinführen, wenn Geld jede mo- ralische Überlegung außer angelogen. Dieser Glauben wurde uns lächerlich abtun. Und warum? Weil das Kraft setzt? Wir interessieren uns doch ausgetrieben. Mythen sind. Und damit wollen wir jetzt schon nur für das Image, nicht für SPIEGEL: Vielleicht war es gar nicht nichts zu tun haben. Ich glaube, die in- die Inhalte. Wie jemand aussieht, wie er schlecht, daß dieses blinde Vertrauen dianischen Kulturen sind die einzigen, auf uns wirkt, das ist wichtiger als alles ins Fernsehen gekappt wurde. die noch eine echte eigene Mythologie andere. Redford: Doch. Damals begannen die besitzen. SPIEGEL: Darauf beruht auch Ihre Kar- Amerikaner, sich eine zynische Haltung SPIEGEL: Sie sprechen von einem riere. Sie haben zwar oft gebrochene, zuzulegen. Der Quizskandal war ja nur „Wir“, das wie ein gesamtamerikani- gescheiterte Helden gespielt, aber die der Anfang. Dann kam das Attentat auf scher Plural klingt. Fühlen Sie sich als Zuschauer haben Sie hartnäckig als John F. Kennedy, dann wurde zum er- Patriot? Charmeur und Erfolgsmenschen wahr- stenmal in den Nachrichten gezeigt, wie Redford: Ja. genommen. Macht Ihnen dieser Wider- ein Mensch einen anderen erschießt, im SPIEGEL: Was bedeutet das? spruch noch zu schaffen? Vietnamkrieg. Dann kam Watergate – Redford: Soll ich jetzt so richtig kitschig Redford: Ja, sehr. Ich habe mich stets das Fernsehen zeigte uns all diese Vor- klingen? Mit Geigen im Hintergrund? gegen Vereinfachungen – hier schwarz, fälle und untergrub damit unser Ver- SPIEGEL: Warum nicht? dort weiß – gewehrt. Aber wir sind ein trauen in den Staat, in die Gesetze. Und Redford: Also gut. Ich glaube, daß wir Land, das Helden braucht. Wir klam- dagegen wappneten wir uns mit einer wirklich mit dem Land gesegnet sind, in mern uns so verzweifelt an irgendwelche Gleichgültigkeit, die uns im Laufe der dem wir leben dürfen. Der nordameri- Lichtgestalten, an „Golden Boys“, daß Jahre immer mehr abgestumpft hat. kanische Kontinent ist außergewöhnlich wir von ihren dunklen Seiten nichts hö- SPIEGEL: Sie glauben wirklich, daß das schön. Deshalb erscheint es mir voll- ren wollen. Fernsehen die amerikanische Gesell- kommen selbstverständlich, dieses Land SPIEGEL: Mr. Redford, wir danken Ih- schaft zerstört? zu ehren und seinen Reichtum und seine nen für dieses Gespräch. Y

192 DER SPIEGEL 6/1995 . VG BILD-KUNST, BONN 1995 Gille-Bild „Brigadefeier – Gerüstbauer“ (1976): Mit betrunkenen Arbeitern die Partei verärgert

on dargestellt, wie sie für die Bildnisse re für die ostdeutschen Parteifürsten. Im Kulturgeschichte von Monarchen und ihrem Gefolge seit Laufe der Jahre bestellte allein das Mu- der Renaissance typisch war – eher un- seum für Deutsche Geschichte im Berli- passend bei der damals geltenden DDR- ner Zeughaus 120 Auftragsarbeiten. Doktrin einer „lebensnahen und volks- Museen und Parteiorgane, die Volks- Mutti verbundenen Kunst“. armee und allen voran der Freie Deut- Aber die Auftraggeber nahmen es sche Gewerkschaftsbund vergaben Auf- nicht so genau. Wichtig war ihnen nur träge an DDR-Künstler. Wie die Maler kommt heim der malerische „Anti-Formalismus“, um und Bildhauer der DDR 42 Jahre lang sich vom Westen abzusetzen. zwischen politischer Lenkung, künstleri- 42 Auftragswerke aus 42 Jahren Die junge DDR hatte in den fünfziger schem Eigenwillen und Dilettantismus DDR: Das Deutsche Historische Mu- Jahren eine ähnliche Historienmalerei lavierten, zeigt jetzt eine Ausstellung im begründet wie einst das deutsche Kai- Deutschen Historischen Museum Berlin seum zeigt Staatskunst zwischen serreich. Was damals der Hofmaler An- – mit genau 42 Bildern und Bildgrup- Propaganda und Dilettantismus. ton von Werner für Kaiser Wilhelm war, pen*. das wurden nun Künstler wie Colberg, Nach den historistischen Anfängen Max Lingner, Willi Sitte und viele ande- gewannen die Bilder in den sechziger in lästiges Problem plagte die Grün- der des Geschichtsmuseums der Thälmann-Bildnis von Colberg (1954): Pseudo-Dokumente des Klassenkampfes EDDR im Jahre 1953: Für eine Do- kumentation der Arbeiterbewegung und der Klassenkämpfe auf deutschem Bo- den gab es kaum Dokumente. Maler, Bildhauer und Wissenschaftler erhielten deswegen den Auftrag, künstliche Ge- schichtszeugnisse für das Ost-Berliner Haus anzufertigen. Eines davon malte der Hamburger Willy Colberg. Sein Ölschinken „Thäl- mann im Hamburger Aufstand“ wurde zu einem der wichtigsten Dokumente der sozialistisch-neuhistorischen Rich- tung. Allerdings hatte Colberg seine Lichtfigur Thälmann in ähnlicher Positi-

* Bis zum 14. April. Katalog im Verlag Klinkhardt & Biermann; 432 Seiten; 48 Mark. .

KULTUR VG BILD-KUNST, BONN 1995 Michaelis-Gemälde „Lebensfreude“ (1977), Grimmling-Zyklus „Die Freuden der Fröhlichen“ (1978): Ab ins Depot

Jahren an Aktualität. Die Partei schick- turelle Leben in der entwickelten sozia- Abreibungen, Fotomontagen und Fund- te die Künstler in die Betriebe, um Bri- listischen Gesellschaft“ zu sichern such- stücken wie bei Rauschenberg oder gaden bei der Planübererfüllung zu ver- te. Wohnungsbau, Wissenschaft, Ju- Warhol. ewigen. Heraus kamen dabei Bilder wie gend, Politik, Lenin und die Atomkraft Eines der letzten Idealbilder einer „Mutti kommt heim“ oder „Fahneneid“ – alles war dargestellt, und dennoch Brigade, die sich wie beim Rütlischwur – der ästhetische Tiefpunkt der DDR- blicken die Menschen reichlich unfroh. die Hände hält, malte Eberhard Heiland Kunst. Frühe Westkunst importierte 1978 1988 für den Wettbewerb „Max braucht Der strikte sozialistische Realismus Hans-Hendrik Grimmling in seinem Kunst“ der Maxhütte in Unterwellen- riß erst ab, als Sighard Gille 1976 be- Zyklus „Die Freuden der Fröhlichen“ born. Die Aktion sollte unter den Be- trunkene Arbeiter des VEB Baustoff- für den VEB Leichtmetallwerk Rack- werbern maximal 30 auswählen. Aber maschinen Eilenburg bei einer Brigade- witz. Aber seine kubistischen Figuren da sich insgesamt nur 30 Einsender mel- feier zeigte. Etwas zu großzügig hatte er waren nicht optimistisch genug und deten, mußte die Galerie auch das naive die Aufbruchstimmung der frühen Ho- wurden wegen „allgemeiner Unver- Comicbild „Die Aura der Schmelzer“ necker-Ära ausgelegt. Mit einer nach- bindlichkeit“ statt in der Betriebskanti- annehmen. träglich hinzugefügten Darstellung von ne gleich im Depot aufgehängt. Der Die Berliner Schau steht noch am An- Gerüstbauern mußte er die erbosten Zweck vieler Aufträge, meint Grimm- fang der künstlerischen Geschichtsbe- Parteiführer besänftigen. ling heute im Rückblick, sei Arbeitsbe- wältigung. Auf der Burg Beeskow bei Linientreu, wenn auch mit einer schaffung gewesen, um unter den Frankfurt an der Oder bereitet der letz- Frauenikone nach Art der amerikani- Künstlern „Druck herauszunehmen“. te Kulturminister der DDR, Herbert schen Freiheitsstatue bebilderte Paul Auch Walter Womackas Bildfolge Schirmer, die Totalerfassung des DDR- Michaelis sein Auftragswerk „Lebens- über den sozialistischen Vorzeigebau- Kunstnachlasses vor. Schirmer hat be- freude“ für den FDGB 1977. Der Titel ern Fritz Dallmann von 1985, bestellt reits 12 000 Objekte gezählt. Glückli- entsprang dem damaligen Parteipro- von der Galerie des Bauernhilfeverban- cherweise sollen sie vorerst nicht ausge- gramm, das nach der materiellen des in Suhl, zeigt westliche Anklänge. stellt, sondern nur in einer Datenbank Grundversorgung auch das „geistig-kul- Es erinnert an eine Wandzeitung mit gespeichert werden. Y VG BILD-KUNST, BONN 1995 Womacka-Werk „Dallmann“ (1985), „Die Aura der Schmelzer“ von Heiland (1988): Letzter Rütlischwur

194 DER SPIEGEL 6/1995 Werbeseite

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KULTUR

Autoren Lava in der Kuchenform SPIEGEL-Redakteurin Doja Hacker über Susanna Tamaros Roman „Geh, wohin dein Herz dich trägt“

n Italien ist ein Wunder geschehen. Buddhismus, die alten Griechen, Christ- Es geht um die Ergründung der Sein Ort ist der Literaturbetrieb, sei- liches, Jüdisches, Indianisches, Chinesi- menschlichen Seele, um keine leichtere Ine Heldin eine knabenhafte Frau von sches, Japanisches. Frage als die, ob das Leben des einzel- 37 Jahren, sein Gegenstand ein Roman. Wie ist es möglich, rätselten die italie- nen vorherbestimmt ist oder nicht, um „Geh, wohin dein Herz dich trägt“ – nischen Leser, daß eine Frau von 37 Zufall und Schicksal. Am Ende stehen dieser Maxime eines Samurai aus dem Jahren weiß, was man mit 80 vom Leben zwei, wenn auch nicht gerade froh stim- 17. Jahrhundert folgen zur Zeit, zwi- begriffen haben kann. Woher diese frü- mende, so doch kaum zu widerlegende schen Bozen und Palermo, die lesen- he Altersweisheit? „Ach was“, sagt Ta- Erkenntnisse: „Wenn das Leben ein den Menschen, vom Enkel bis zur Groß- maro, „ein Schriftsteller muß vom Le- Weg ist, so ist es ein Weg, der immer mutter. ben anderer Besitz ergreifen können, bergauf führt“, und „wenn das Leben ei- „Va’ dove ti porta il cuore“, erschie- sonst ist er keiner.“ Sie hat ein paar Jah- nen Sinn hat, so ist dieser Sinn der nen im Januar 1994, sauste kometen- re mit ihrer Großmutter zusammenge- Tod“. gleich in den Bestsellerhimmel und pla- lebt. Das mag geholfen haben. Wer glaubt, dieses beides schon zu zierte sich im Herbst direkt hinter dem Die Erzählung umfaßt vier Genera- wissen und das Buch nicht lesen zu sol- Papst und noch vor dem neuen Roman tionen von Frauen, von der Jahrhun- len, dem würde die Erzählerin antwor- von Umberto Eco. Vor wenigen Wo- dertwende über Faschismus und Welt- ten: Der Weg ist das Ziel. Jener „ge- chen überschritt seine Auflage die Mil- krieg bis zu den Roten Brigaden. heimnisvolle Weg, der von der Unver- lionengrenze. Die alte Dame berichtet von ihrer söhnlichkeit zur Barmherzigkeit führt“. Susanna Tamaro, die das Buch ver- Kindheit bei einer Mutter, die der Toch- Ihm ist der Roman gewidmet. Litera- faßt hat, erlitt ob des unerwarteten Er- ter „regungslos und feindselig wie ein risch erinnert er mit seiner bewußten folges einen Nervenzusammenbruch. Janitschar“ im Gedächtnis geblieben ist; Naivität an Hesses „Siddhartha“ und Jeden Tag sah sie ihr Gesicht in einer sie beschreibt ihre eigene Tochter, die in Saint-Exupe´rys „Der kleine Prinz“. anderen italienischen Zeitung und las eine Zeit hineinwuchs, in der es die Das Buch balanciert am Abgrund des Sätze, die sie nie gesagt hatte. Sie erhielt Bourgeoisie zu vernichten galt. Kitsches, es verblüfft durch die Leichtig- Tausende von Telefonanrufen, Säcke Sie erzählt schließlich auch von sich keit, mit der das Schwere verhandelt voller Post. selbst, davon, daß sie ihr Leben lang wird, durch das unerschrockene Be- Die Menschen dankten ihr von Her- „nur gelogen“ habe, um manchmal kenntnis zur Überlegenheit des Gefühls. zen. Sie hatten, ergriffen von der Zau- glücklich sein zu können. Jetzt, da sich Auch durch seine vollständige Freiheit berformel des Titels und gestärkt durch die Enkelin entschieden hat, ihrer Nähe von Sarkasmus, Zynismus, Ironie. dessen Botschaft, den Mut gefaßt, ihr zu entfliehen, will die Großmutter Re- „Gefühle“, sagt Susanna Tamaro, „sind Leben zu ändern. „Gestern hab ich mei- chenschaft ablegen. heute ein stärkeres Tabu als der nen Mann hinausgewor- fen“, schrieb eine Leserin. Dabei handelt es sich bei Tamaros nun auch auf deutsch vorliegendem Ro- man um alles andere als um eine feministische Kampf- schrift; das Buch ist ein ein- ziger Appell an die Versöh- nung, an die Barmherzig- keit, an die Geduld. Es enthält den Lebensbericht einer 80jährigen, geschrie- ben an ihre Enkelin in Amerika*. Der lange Brief ist Groß- mutters Testament, ein Sammelsurium der Er- kenntnisse fürs wahre Le- ben, selbstgewonnener und quer über den Planeten aufgelesener. Alles ver- trägt sich gut miteinander:

* Susanna Tamaro: „Geh, wohin dein Herz dich trägt“. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Dio-

genes Verlag, Zürich; 192 Seiten; D. BROGIONI / CONTRASTO 32 Mark. Schriftstellerin Tamaro: „Gefühle sind ein stärkeres Tabu als der Sex“

DER SPIEGEL 6/1995 197 Werbeseite

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Sex.“ Und: „Ironie wird in Italien nicht ein Schulkind, das bis zur letzten Minute verstanden.“ im Bett geblieben ist und sich dann in Die Vergleiche, die die Erzählerin Windeseile anziehen mußte. heranzieht, um die Beschaffenheit der Seit Fellini ihren Erzählungsband Seele zu beschreiben, zeugen immer „Love“ lobte und seit ihre Ähnlichkeit wieder von einem beherzt hausfrauli- mit Giulietta Masina bemerkt wurde, chen Sprachgefühl: Tränen, die nicht wird Tamaro fotografiert wie die herauskönnen, lagern sich als eine Kru- Clownfrau in „La Strada“. ste auf dem Herzen ab und legen es Aber Susanna Tamaro ist anders. Sie lahm, „wie der abgelagerte Kalk mit der hat eine dunkle feste Stimme, und sie Zeit den Mechanismus einer Waschma- schine lahmlegt“. Leidenschaft gebärdet sich wie ein Kuchen, bei dem Hefe und Mehl nicht BESTSELLER richtig vermischt wurden; solcher Ku- chen erhebt sich nur auf der einen Seite, BELLETRISTIK platzt auf, und der Teig quillt wie Lava über den Rand der Form. Gaarder: Sofies Welt (1) Aber das Buch verträgt diese Küchen- 1 Hanser; 39,80 Mark Metaphorik schadlos, und die Erzähle- rin ist allem Spott voraus: „Jeder emp- Høeg: Fräulein Smillas (4) 2 Gespür für Schnee Beim Blick auf den Hanser; 45 Mark schlammigen Tiber Grisham: Der Klient (2) 3 Hoffmann und Campe; entdeckte sie die Wörter 44 Mark fängt Anstöße aus der Welt, die er am Pilcher: Das blaue Zimmer (3) besten kennt.“ 4 Wunderlich; 42 Mark Vier Bücher hat Tamaro bisher veröf- fentlicht. Vor „Geh, wohin dein Herz Follett: Die Pfeiler (5) dich trägt“ den Roman „Kopf in den 5 der Macht Wolken“, den Erzählungsband „Love“ Lübbe; 46 Mark mit düsteren fatalistischen Geschichten und ein Kinderbuch. Ihr dichtestes Noll: Die Apothekerin (6) Stück Literatur aber ist ein kleines Heft 6 Diogenes; 36 Mark mit dem Titel „Die Demut des Blicks. Wie ich zum Schreiben kam“. Begley: Lügen in (7) Es ist ihr poetischer Lebensbericht, 7 Zeiten des Krieges die Geschichte eines apathischen Kin- Suhrkamp; 36 Mark des, eines „stumpfsinnigen kleinen Mädchens mit sehr wenig Selbstvertrau- Forsyth: Die Faust Gottes (8) en“, dem es gefallen hätte, Offizier zu 8 C. Bertelsmann; 48 Mark werden, obwohl es alle Situationen ver- abscheute, in denen Menschen zechen Crichton: Enthüllung (9) und prassen. 9 Droemer; 44 Mark Ein Mädchen, das mit sechs Jahren zum Einsiedler wurde und eine Leiden- Kishon: Ein Apfel (10) schaft entwickelte, die Dinge der Natur 10 ist an allem schuld zu katalogisieren. Ein Mädchen, das Langen Müller; 36 Mark sich später, anstatt über Godard zu dis- kutieren, lieber in eine Theatergardero- 11 de Moor: Der Virtuose (11) be schlafen legte, und das eines Tages Hanser; 34 Mark beim Blick auf den schlammigen Tiber die Wörter entdeckte. 12 Clancy: Gnadenlos (15) Eine junge Frau, die krank wurde und Hoffmann und Campe; der die Ärzte nicht mehr viel Zeit zum 49,80 Mark Leben gaben. Eine erwachsene Frau, die zu Kräften kam und ihre Bücher ver- 13 King: Schlaflos (12) öffentlichte. Tamaros Geschichte. Heyne; 48 Mark Das Foto im Heft zeigt ein koboldhaf- tes Wesen mit breiter Stirn, von der 14 Garcı´a Ma´rquez: Von der (13) stümperhaft geschnittene blonde Sträh- Liebe und anderen Dämonen nen widerspenstig abstehen, mit den Kiepenheuer & Witsch; 38 Mark Ohren um die Wette. Der runden Brille George: Denn keiner ist gelingt es nur knapp, die schrägen Au- (14) 15 ohne Schuld gen zu umrahmen. Das Lächeln wirkt Blanvalet; 44 Mark ungeschützt. Eine Seite des Hemdkra- gens ist eingeknickt. Sie sieht aus wie scheint genau zu wissen, was sie will und Der Regisseur half ihr im entscheiden- kann. Sie lebt lieber mit Frauen zusam- den Moment: Als „Love“ wegen zu ge- men als mit Männern, und sie ist nicht ringer Nachfrage aus den Buchhandlun- lesbisch, auch wenn die italienischen gen zurückgezogen werden sollte, mach- Journalisten darauf bestehen. te Fellini die italienischen Kritiker auf Fellinis Anruf erwischte sie beim Bü- Susanna Tamaro aufmerksam. geln an einem Sonntag. Sie dachte, je- Eher geschadet, so glaubt sie, habe ihr mand erlaube sich einen Scherz, aber dagegen der Vergleich mit dem Großon- dann erkannte sie seine Stimme, „eine kel, dem Triester Schriftsteller Italo sehr weibliche Stimme, sehr knödelnd“. Svevo. Wenn sie etwas mit Svevo ge- mein habe, so sei es die Reaktion der Verleger auf die frühen Manuskripte. „Miserables Italienisch“, lautete der Vorwurf. „Danach habe ich mir eine ita- lienische Grammatik besorgt.“ SACHBÜCHER Tamaro, die zusammen mit einer Freundin, vielen Katzen und einem Wickert: Der Ehrliche (1) Hund in der Nähe von Orvieto wohnt, 1 ist der Dumme fühlt sich immer noch „deplaziert“ in Hoffmann und Campe; 38 Mark Italien. Sie stammt aus Triest, nicht aus Carnegie: Sorge dich (2) Rom; sie gehöre eher zu einer nordi- 2 nicht, lebe! schen, europäischen, sogar deutschen Scherz; 44 Mark Kultur, sagt sie. Fast zehn Jahre erhielt die Schriftstel- Ogger: Das Kartell (5) lerin von den Verlagen nur Absagen. 3 der Kassierer „Keinerlei Talent“ wollte man ihr be- Droemer; 38 Mark scheinigen, ihre Erzählungen seien „zu N. E. Thing Enterprises: (3) deutsch“. „Sklerotische Elefanten, die 4 Das magische Auge III sich nicht mehr bewegen können“, Ars Edition; 29,80 Mark nennt Tamaro heute diese Verleger. N. E. Thing Enterprises: (4) Sie schreibt nur wenige Monate im 5 Das magische Auge II Jahr, in dieser Zeit aber 14 Stunden am Ars Edition; 29,80 Mark Tag. Den Rest des Jahres widmet sie ih- rem Gemüsegarten, dem Kampfsport N. E. Thing Enterprises: (6) 6 Das magische Auge Karate, oder sie studiert Insekten. Ars Edition; 29,80 Mark Wenn sie melancholisch wird, löst sie mathematische Gleichungen. 7 Carnegie & Assoc.: (9) Bis zu ihrem 40. Lebensjahr möchte Der Erfolg ist in dir! Tamaro noch zwei Bücher schreiben. Scherz, 39,80 Mark Dann keins mehr. „Je weiter ich mit Scholl-Latour: Im (7) dem Schreiben komme, desto dichter 8 Fadenkreuz der Mächte stehe ich vor einer Mauer. Diese Mauer C. Bertelsmann; 44 Mark zu durchdringen, würde mich umbrin- gen.“ Friedrichs, mit Wieser: (12) 9 Journalistenleben Für die kommende Dekade ihres Le- Droemer; 38 Mark bens plant sie, Medizin zu studieren und Kinderärztin zu werden. Das Geld, das 10 Johannes Paul II.: (8) sie mit ihrem Erfolgsroman verdient Die Schwelle der hat, soll helfen, den Traum zu verwirkli- Hoffnung überschreiten chen. Für diese Chance dankt sie dem Hoffmann und Campe; 36 Mark Ruhm. Der Rest sei Qual. Mandela: Der lange (11) „Schreiben ist eine physische Hal- 11 Weg zur Freiheit tung“, sagt Tamaro. „Eine Tür öffnet S. Fischer; 58 Mark sich, man begeht einen Raum, den man Ogger: Nieten in (10) noch nie gesehen hat. Dieser Prozeß 12 Nadelstreifen vollzieht sich in einer ungeheuren An- Droemer; 38 Mark spannung.“ Weil sie sich vor dem Reisen fürchtet, träumt sie, wenn sie zu schrei- 13 Paungger/Poppe: Vom (13) ben beginnt, von Schiffen, Eisenbah- richtigen Zeitpunkt nen, Flugzeugen. Hugendubel; 29,80 Mark Neulich träumte sie von einer U- Kelder: Die Fünf „Tibeter“ Bahnfahrt. Die Stationen wurden immer 14 Integral; 19 Mark finsterer und leerer. „Bei der Endstation Gallmann: Afrikanische öffne ich die Tür, und ein Mönch steht 15 Nächte vor mir. Ich frage ihn nach dem Aus- Droemer; 32 Mark gang, er antwortet, nein, Sie müssen noch tiefer, und schlägt die Tür wieder Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom zu.“ Der Traum macht ihr angst. „Des- Fachmagazin Buchreport halb werde ich mit dem Schreiben auf- hören. Ich möchte noch etwas leben.“ Y Bücher Archiv des Schreckens Taslima Nasrins Roman „Scham“ er- scheint jetzt auf deutsch – eine Chronik religiösen Terrors, aber kein literarisches Ereignis.

er Morgen des 7. Dezember 1992: Auch in Dhaka, der Hauptstadt Dvon Bangladesch, sind die Nach- richten des amerikanischen Fernsehsen- ders CNN zu empfangen. Bedrohliche Nachrichten. Am Tag zuvor ist im be- nachbarten Indien die 464 Jahre alte Ba- bri-Moschee von fanatischen Hindus zerstört worden. Nun fürchten die Glau- bensgenossen in Bangladesch die Rache der Moslems. „Steh auf“, sagt die 21jährige Maya Datta unter dem Eindruck der CNN-Bil- der zu ihrem Bruder Suranjan, „tu ir- gendwas.“ Sie erwartet von ihm, daß er sie und die Eltern in Sicherheit bringt. Womöglich kann die Hindu-Familie Schutz und Unterschlupf bei moslemi- schen Freunden finden, bis sich die Wut der islamischen Fundamentalisten, des Straßenmobs verflüchtigt hat. Die Zerstörung der Babri-Moschee steht am Anfang eines Buches, das die is- lamische Welt erschüttert hat wie zuletzt nur Salman Rushdies „Satanische Ver- se“: Taslima Nasrins Roman „Scham“; in dieser Woche erscheint er auf deutsch*. Nasrin, 32, schildert das Schicksal der Familie Datta an 13 Tagen im Dezember 1992. Die Ärztin und Autorin aus Dhaka hat den Roman unmittelbar unter dem Eindruck jener Ereignisse zu Papier ge- bracht, die auf dem indischen Subkonti- nent rund 2000 Todesopfer forderten. Schon im Februar 1993 erschien „Laj- ja“ in Bangladesch, zunächst als Novelle von 70 Seiten; innerhalb von fünf Mona- ten wurde das Buch 60 000mal verkauft. Dann kam das staatliche Verbot (Be- gründung: Störung der öffentlichen Ord- nung) und bald darauf, im September, die Todesdrohung für Taslima Nasrin: Fundamentalistische Muslime verhäng- ten die „Fatwa“ – wie schon im Fall Rushdie verbunden mit dem Verspre- chen auf Belohnung für die Mörder. Woher die Wut auf die Autorin? In „Scham“ wird der religiöse Terror gegen die Hindus von Bangladesch beschrie-

* Taslima Nasrin: „Scham. Lajja“. Aus dem Ben- galischen von Peter K. Lienen. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg; 304 Seiten; 36 Mark. .

KULTUR

ben, der Ende 1992 pogromhafte Züge jungs rufen hinter ihm nun her: „Packt annahm. Zu Helden verklärt werden die den Hindu, holt ihn euch!“ Er läuft da- Hindus allerdings nicht. von: aus Scham. Suranjan etwa, der eigentlich seine Am sechsten Tag geschieht das Un- Familie beschützen müßte, hat keine heil: Eine Bande Jugendlicher erstürmt Lust dazu. Warum sollte er seine Mos- das Haus, zertrümmert die Einrichtung, lem-Freunde schon wieder um Hilfe bit- verschleppt Maya. Suranjan sucht ver- ten? Er fühlt sich selbst gar nicht als geblich nach der Schwester. Er betrinkt Hindu: Er ist Atheist und Sozialist. Und sich, holt eine Prostituierte von der Stra- ein Nichtsnutz: Suranjan, 33 Jahre alt, ße und quält sie, nachdem er sich verge- lebt in den Tag hinein, lebt vom Geld wissert hat, daß sie moslemischer Her- des Vaters. kunft ist. Am 13. Tag beschließt der alte Der, Sudhamay, ein pensionierter Sudhamay, zusammen mit Frau und Krankenhausarzt, gehört zur Gründer- Sohn das Land zu verlassen. Eine er- generation des Staates Bangladesch: greifende Geschichte. Doch kein ergrei- Kurz vor der 1971 erkämpften Unab- fender Roman. hängigkeit gerät der junge Arzt in die Taslima Nasrin vertraut nicht der Hände pakistanischer Soldaten, die ihm Wirkung ihrer Geschichte. Sie über- die Hose vom Leib reißen, um zu prü- frachtet sie mit Daten, Nachrichten und Statistiken. Sie möchte, ge- rade in der später auf Ro- manlänge gestreckten Fas- sung, ein Übermaß an In- formationen unter die Le- ser bringen: seitenlang Na- men zerstörter Tempel, überfallener Dörfer und Menschen. Das verlangt Geschick. Der amerikanische Ro- mancier John Dos Passos hat schon in den dreißiger Jahren seine „USA“-Trilo- gie mit kompletten Nach- richtenblöcken durchsetzt, schroff in die Geschichte hineinmontiert. Auch Le- on Uris hat in „Exodus“ (1958) historische Daten in spannende Handlung ver- packt. Taslima Nasrin aber müht sich hilflos damit ab, die Datenflut als Gedan- ken oder Dialoge ihrer Fi- guren auszugeben. Zwi- schen Leitartikelsätzen und Materialsammlung bleibt die Erzählung auf der

FACELLY / SIPA Strecke. Autorin Nasrin: Werk der guten Absicht Mit Rushdies Roman „Die satanischen Verse“ fen, ob er beschnitten ist. Das aber ist (1988), dem anderen legendären Ob- nicht der Fall, und so verstümmeln sie jekt fundamentalistischen Hasses, ist sein Geschlecht: „Wenn du kein Muslim „Scham“ schon gar nicht zu vergleichen. werden willst, dann machen wir dich Dazwischen liegen Welten – nicht der eben zum Muslim.“ guten Absicht, sondern des künstleri- 1988 wird der Islam zur Staatsreligi- schen Vermögens. on. Taslima Nasrin beschreibt die fata- Der Roman „Scham“ hat dennoch len Folgen für die Hindu-Minderheit – seine Würde – und Berechtigung: als bis hin zu den Hetzparolen auf der Stra- Archiv des Schreckens und der Ernied- ße im Dezember 1992: „Hindus, wenn rigungen. Die mörderische Wut der reli- ihr leben wollt, dann seht zu, daß ihr giösen Eiferer auf dieses Buch und seine euch trollt.“ Autorin bestätigt zudem, daß noch die Suranjan versinkt in Depressionen. unglaublichsten Begebenheiten in die- Er mißtraut seinen moslemischen sem Roman-Bericht der Wirklichkeit Freunden. Selbst seine frei denkenden entsprechen. Die im August vergange- Genossen fragen ihn plötzlich: „Warum nen Jahres nach Schweden geflohene habt ihr unsere Moschee zerstört?“ Ihr? Taslima Nasrin zahlt einen schreckli- Wir? Dem Gift der Zuordnungen ist chen Preis: die Bedrohung ihres Le- nicht zu entkommen. Ein paar Straßen- bens. Y

DER SPIEGEL 6/1995 203 Werbeseite

Werbeseite .

KULTUR

Kriminalität Kulturell bei Null Mit einer Spezialtruppe und Haus- durchsuchungen geht die Berliner Polizei gegen Graffiti-Sprüher vor.

inge es nach Dieter Hapel, 43, könnte Berlin schon viel schöner G sein. Der einst berüchtigte Schmuddelbahnhof Zoo ist zwar bereits zur edlen Bummelhalle umgestaltet, und die ehemals besetzten Häuserreihen der Mainzer Straße sind aufs feinste po- LICHTBLICK liert – und trotzdem, ärgert sich der par-

lamentarische Geschäftsführer der Ber- S. SAUER / liner CDU-Fraktion, ruinierten „ein Verfolgter Graffiti-Künstler Ben: „Die müßten wissen, daß ich legal bin“ paar kriminelle Graffiti-Sprayer“ regel- mäßig den Ruf der Stadt. Jahres war der Schüler aus dem Berliner vergangenen Jahres sammelten die 30 Am Freitag, dem 13. Januar dieses Osten beim „Taggen“ (Spezialjargon für GiB-Beamten konsequent Informatio- Jahres, wurde die Klage von Hapel, Sprühen) eines 30mal 30Zentimeter gro- nen und Indizien. Ein internes Schrei- Mitglied im Innenausschuß und neben- ßen Schriftzugs auf der Außenwand eines ben informiert die sachbearbeitenden bei Initiator des „Vereins zur Rettung Freizeitklubs in Friedrichshain erwischt Kollegen ausführlich über Umgangsfor- des Berliner Stadtbilds e.V.“, erhört. worden. Die Angelegenheit war längst men, Insiderausdrücke und Intentionen Knapp 400 Beamte durchsuchten zeit- geregelt, das Graffito vom Jungen eigen- („ähnlich wie Duftmarken im Tier- gleich frühmorgens um sechs Uhr 85 händig entfernt. „Es gab keinen Grund, reich“). Wohnungen und drei Geschäfte in Ber- und es lag uns auch keine Anzeige vor“, Auch Ratschläge zur Beweissicherung lin und Brandenburg – nach allem, was sagt sein Vater Matthias Baxmann, 37. finden sich in dem Papier: Bei Woh- einen Hinweis auf illegale Farbschmie- Entsprechend mager war die Ausbeu- nungsdurchsuchungen solle besonders rereien geben könnte: Spraydosen und te: sieben Schulhefte, diverse Zettel, ein „in Papierkörben und Schultaschen“ ge- Fotoalben, Videos und Bücher, Skizzen Airbrush-Poster, ein selbstverziertes sucht werden; verwendete Farbdosen und Schulhefte. T-Shirt, ein Graffiti-Magazin und ein und Skizzen würden „häufig in Ruck- In 74 Fällen wurden Graffiti-Kalender, den säcken transportiert“. die Fahnder fündig. ihm sein Vater zu Weih- Über Sinn, Verhältnismäßigkeit und „Ein recht großer Er- nachten geschenkt hatte. Wirkung des polizeilichen Zugriffs auf folg“, findet Michael Gregor mußte zur er- Schultaschen und Malhefte der Graffiti- Havemann, 37, Leiter kennungsdienstlichen Kids wird nun im Berliner Rathaus ge- der im August vergange- Behandlung mit auf die stritten. Innensenator Dieter Heckel- nen Jahres gegründeten Wache. „Wenn er noch mann (CDU) hofft, die Aktion habe Ermittlungsgruppe GiB kein Feindbild hatte“, den Sprayern den Unterschied zwischen („Graffiti in Berlin“), meint sein Vater, „dann Kunst und Sachbeschädigung klarge- auch wenn die Umzugs- hat man ihm jetzt eins macht: „Wer Schmierereien als Kunst kartons mit den be- vermittelt.“ betrachtet, dem empfehle ich, sein eige- schlagnahmten Dosen Überraschend wurde nes Auto oder Haus zur Verfügung zu und Büchern noch groß- auch Ben, 20, von einem stellen.“ teils ungeöffnet in den Dutzend Beamten heim- Jugendsenatorin Ingrid Stahmer Fluren stehen. Have- gesucht. „Die müßten (SPD) glaubt dagegen, daß großange-

mann: „Wir haben ge- H. FLOß doch eigentlich wissen, legte Durchsuchungsaktionen eher noch hört, daß die Szene be- Sprayer-Jäger Havemann daß ich längst legal bin“, mehr Widerstand erzeugen, weil sie eindruckt ist.“ wundert sich nun der nicht zwischen Schmierakel und Wand- Die Großrazzia in der Graffiti-Haupt- stadtbekannte „King“, der für seine gemälde differenzieren. „Eine saubere stadt Europas ist der jüngste Eskalati- Auftragsarbeiten, unter anderem für Stadt will ich auch, aber so kommt man onsschritt in einem politischen Grund- Mercedes, Benetton und den Porzellan- da jedenfalls nicht hin.“ satzstreit. Es geht um die Frage, ob man produzenten Rosenthal, inzwischen bis Richtig zufrieden mit dem Resultat die überwiegend minderjährigen 12 000 zu 15 000 Mark pro Kunststück ver- der Operation GiB kann auch der er- Berliner „Writer“ (Szenejargon) als dient. „Kulturell“, so schätzt Ben die klärte Graffiti-Gegner Hapel nicht sein: Sprüh-Artisten einer eigendynamischen Auswirkungen der Polizeiaktion ein, In den Tagen nach der Polizeiaktion, so Jugendkultur oder als notorische Straf- „sind wir jedenfalls wieder bei Null, wurde ihm mitgeteilt, verstärkten die täter einordnen und behandeln soll. weil die gesamte Szene kriminalisiert übriggebliebenen Berliner Kids trotzig So besuchten gleich sechs Beamte ist.“ ihre Sprühaktivitäten. „Die wollten Gregor, 14. Grund für den personellen Die Durchsuchungen waren general- wohl ausprobieren, wie weit sie jetzt Aufwand: Im November vergangenen stabsmäßig vorbereitet. Seit Herbst noch gehen können.“ Y

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Werbeseite Pop Nie geschämt Die Simple Minds, protzigste Band der Achtziger, melden sich zurück – in vorbildlicher Bescheidenheit.

aß unsere Welt nur eine unter vie- len sei, gilt unter Freunden außer- Dirdischer Phantasterei zwar als ge- sichert, mit der Kontaktaufnahme zu fernen Galaxien allerdings haperte es bisher. Nun aber scheint die Suche nach fremden Lebensräumen wenigstens ei- nem Erdenbürger geglückt zu sein. Der Schotte Jim Kerr jedenfalls berichtet froh gestimmt: „Da gibt es eine Welt voll mit Liebe und Liedern.“ Kerr, Sänger und Kopf der Rockband Simple Minds, schwärmt von einer Rei- se, für die „jeder den Weg in sich selber suchen muß“. Auch bei der Namens- wahl für das jüngste, gerade erschienene Album der Simple Minds zeigt sich der Popstar von dieser neuen kosmischen Euphorie beflügelt: Das Ding heißt „Good News From The Next World“. In den achtziger Jahren zählten die schottischen Bombast-Rocker zu den er- folgreichsten Bands der Welt. Nun ist das einstige Quintett zum Duo ge- schrumpft – „die anderen sind von Ufos entführt worden“, erklärt Kerr –, und, das ist die wirklich gute Nachricht, der von vielen Kritikern verspottete Pomp ist dabei dann auf der Strecke geblie- ben. Denn während der Tüftelei an der neuen Platte haben Kerr und Gitarrist Charlie Burchill ihren Hang zu monu- mentaler Elektronik und wuchtigem Ci- nemascope-Kitsch offenbar bezähmt. Nun präsentieren sie kleine melodiöse Songs, die für Simple-Minds-Verhältnis- se geradezu kärglich mit Gitarre, Baß und Schlagzeug instrumentiert sind – und zugleich die beste Platte seit zehn Jahren. Daß sie für die Arbeit am neuen Werk vier Jahre benötigten, hat viele Fans betrübt: Immerhin hatte die Band einst ihre ersten drei Alben innerhalb von nur 18 Monaten veröffentlicht. Aber das war Ende der Siebziger, da- mals spielten die Simple Minds eine Art New Wave; und ob sie überhaupt irgend etwas rausbrachten, interessierte in die- ser Zeit sowieso nur ein paar Einge- weihte. Heute ist jede Platte der Band ein mit maximalem Werbeaufwand annoncier- tes Großereignis. Kerr selbstkritisch:

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KULTUR VIRGIN RECORDS Duo Simple Minds: „Die anderen sind von Ufos entführt worden“

„Was würde passieren, wenn wir im „Früher habe ich vor jedem großen Jahr 1995 mit drei Platten ankämen? Auftritt vor Aufregung gekotzt. Heute Unser Manager würde fragen, ob wir weiß ich, daß eine gute Lightshow alles den Verstand verloren haben. Und die retten kann“, sagt Kerr. Mittlerweile ist Plattenfirma würde uns verklagen.“ er die Spektakel auf großen Bühnen Zudem hat der Rocker, so scheint es, derart gewohnt, daß er jüngst bei einem die Vorzüge eines gemächlichen Pro- Konzert in einem kleinen Klub über die duktionstempos entdeckt: „Wer gut er- Rampe kippte – und sich dabei fast den holt ist, kann ohnehin viel besser arbei- Hals brach. ten“, sagt er. Solche Unfälle werden sich in diesem In frühen Tagen wurden die Simple Frühjahr nicht wiederholen. Denn für Minds gern mit so abgebrühten Stilisten die Deutschland-Tournee der Band wie Bryan Ferry und dessen Band Roxy wurden nur die größten Säle gebucht. Music verglichen. Kerr aber hatte bald Von dort aus wollen die Schotten zwar anderes im Sinn: „Schon zu Punk-Rock- weiterhin die Liebe predigen, doch mit Zeiten habe ich mich niemals geschämt aktuellen politischen Lebenshilfepro- zuzugeben, daß mich die bombastische grammen halten sie sich heute zurück. Atmosphäre von Genesis, Yes oder Led Es ist nicht einmal mehr sicher, ob alt- Zeppelin tief beeindruckt.“ bewährte Gassenhauer wie „Mandela Day“ oder „Belfast Child“ Gnade bei der Programmgestaltung für die aktuelle Kerr trat an, um Gutes Tour finden. zu verkünden und Denn Jim Kerr ist zwar immer noch ein guter Mensch, aber die Rolle des das Böse zu verteufeln Pop & Politik-Heilands hat er abgelegt. „Als wir immer wieder gefragt wurden, So sorgte er dafür, daß auch Musik warum wir noch kein Lied über Jugosla- und Gehabe der Simple Minds im Ver- wien parat haben, wußte ich, daß etwas lauf der achtziger Jahre ins Protzige ab- verdammt schiefgelaufen ist“, sagt Kerr. drifteten – zuletzt konnten die Auftritte Gut und Böse zu scheiden fällt in diesem der Schotten, was Zuschauerzahl und Fall selbst einem Schwarzweiß-Maler Sendungsbewußtsein betraf, durchaus wie ihm schwer. mit denen des Papstes konkurrieren. Andere Lieblingsthemen des singen- Daß Genesis, Yes und all die anderen den Wanderpredigers haben sich zumin- Riesen der Siebziger eigentlich gar dest vorläufig erledigt. In Südafrika re- nichts zu sagen hatten, wertet Kerr als giert Nelson Mandela, in Belfast dummen Fehler. Deshalb traten seine herrscht Waffenstillstand. Ist die Wen- Simple Minds an, um Gutes zu verkün- dung zum Besseren am Ende auch ein den und das Böse zu verteufeln. wenig Kerrs Verdienst? Ein Stadion zu unterhalten ist eine Der Verkünder der „Frohen Bot- Kunst. „Die Pretenders oder Elvis Co- schaften aus der nächsten Welt“ ist da- stello sind an dieser Aufgabe geschei- von überzeugt: „Wir stehen eben immer tert“, sagt Jim Kerr. Nur wenige beherr- noch für Songs, die mehr aussagen als schen das Spiel mit den Massen. Die die von Prince, der nur von seinem Pe- Simple Minds gehören dazu. nis singt.“ Y

DER SPIEGEL 6/1995 209 Fernsehen Im Brautkleid zum Suizid Der ZDF-Film „Freundinnen“ zeigt, daß nicht zusammengeht, was – warum bloß? – zusammengehört: Männer und Frauen.

as Beziehungsdrama ist deutsch und ambitioniert, der Mann, na Dklar, eine emotionale Null. Eine der Heldinnen ist selbstmordgefährdet, heißt auch noch Sophia Hunger und kommt aus Elend, das bei Wernigerode im Harz liegt. Was bitte, außer vielleicht eine Zweitliga-Begegnung vor leeren Rängen im Regen oder Witzen von Gerd Rubenbauer, kann es Tristeres im Fernsehen geben? Allerhand. Denn der spröde und zu- gleich subtile Film des Berliners Heiko Schier, 40, mit dem Titel „Freundinnen“ (Sendetermin: Montag, 19.25 Uhr, ZDF) erhebt sich über die Seichte und Öde der TV-Landschaft: eine bittersüße Komödie von der Einsamkeit der Lie- bessehnsüchtigen im Zeitalter des Nar- zißmus. Schiers Film beginnt, als alles aus ist. Sophia (Meret Becker), die aschenput- telige Christel von der Berliner Post-Te- lefonauskunft, legt das Brautkleid an, setzt die Katze aus und stiefelt ganz in Weiß auf eine Spreebrücke, um sich zu ertränken: Ihr Kerl hat sie sitzenlassen. Olga (Nina Kronjäger), die dunkel- haarige Schönheit mit Kostüm und Sportcabrio, wirkt entschlossener, klopft große Sprüche („Man kriegt nie alles, aber alles zurück“), aber bezie- hungsmäßig – du liebe Zeit: Als Diens- tags- und Donnerstags-„Muschi“ ist sie bei ihrem Freund Marcel (Sebastian Koch), dem Geschäftsführer eines Jazz- klubs, überraschend am Montag aufge- taucht und hat prompt seine Untreue mit einer Blondine entdeckt. Selbstmord und Tränen sind Olgas Bewältigungsstrategien nicht. Sie liebt den Stutenbiß. Marcel – er verkrümelt sich, als es brenzlig wird – habe der Lie- besleistung ihrer Rivalin im Bett eine vier gegeben, attackiert sie ihre blonde Gegnerin. Und gestört habe ihn „dein Wiehern, wenn du kommst“, höhnt sie weiter. Schließlich verläßt „das Pferd beim Notdienst“ geschlagen den Kampfplatz. Olga feiert ihren Sieg, der eine Nieder- lage ist: Denn der Mann hat sich als Verräter intimer Geheimnisse erwiesen.

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KULTUR

So stoßen die Le- ständlichkeit ins Glas, benslinien der Frauen als sei Selbstmord mit den blutenden durch Vergiften nicht Herzen auf der Spree- mehr als das Herun- brücke zusammen. Ol- terspülen von Alka- ga rettet Sophia vor Seltzer. Gut, daß Olga dem Sprung ins Was- zufällig an der Woh- ser, spendiert ihr einen nungstür klingelt, so Drink und später Un- daß das Glas ungetrun- terkunft. Doch der Be- ken bleibt. ginn dieser wundersa- Trotz solch drama- men Frauenfreund- turgischer Reizmittel schaft kann das Duo wie dem Brautkleid über sein Elend mit zum Suizid und den Männern nicht dem rattengiftgefüllten hinwegtrösten. Schierlingsbecher ent-

Selbst als die beiden ACTION PRESS gleitet Schiers Film zum Showdown ge- Filmemacher Schier nicht in den Nebel des geneinander antreten Pathos. Ein wacher müssen, weil Sophia ein kurze Liaison Witz blitzt in jeder Szene auf: Humor ist mit Marcel hat, macht der Film klar: bekanntlich, wenn man trotzdem lacht. Frauen sind ganz allein mit ihren Träu- Die Figuren verfallen auch zu keiner men von Liebe. Zeit in Larmoyanz und beginnen Gott, Schier, der 1989 mit seinem Kinode- Welt oder Gesellschaft wegen ihres büt „Wedding“ bei den Hofer Filmtagen Schicksals zu verklagen. Die virtuose einen Publikumserfolg landete, erzählt Nüchternheit der Darstellerin Meret seine Geschichte ganz unaufdringlich. Becker läßt falsche Sentimentalität nicht Die Heldinnen haben die unendliche zu. Die Schauspielerin wirkt, ähnlich ih- Enttäuschung über die Männer und die rer weniger herben Kollegin Nicolette Liebe wie eine zweite Haut angezogen, Krebitz, wie die Protagonistin einer Ge- sie haben sich im Herzenselend einge- neration, für die Nähe kontaminiert ist richtet. und große Gefühle Erstickungsanfälle Olga hetzt wie eine Hexe des Nachts auslösen. durch Zoos und Museen, in die sie sich Die Sehnsucht müssen ihresgleichen zuvor hat heimlich einschließen lassen. im eigenen Kopf ausleben, nach inneren Da leuchtet sie Raubkatzen, gefangenen Drehbüchern, die nicht das Leben, son- Erinnerungen an ihren Zorn, mit der dern das Kino der eigenen Wünsche Taschenlampe in die Augen, entwendet schreibt. Zu träumen wagen die erlö- aus Vitrinen Edelkristalle, versteinerte sungssüchtigen Narzißten nur im Ver- Wünsche. Beziehungen beurteilt Olga borgenen. nach Sternbildern: Wo die Liebe unsi- Einmal sitzen Olga und Sophia auf cher wird, bemächtigt sich die Magie der dem Balkon und erzählen sich märchen- Köpfe. hafte Geschichten von Augenblicken, in Sophia, diese gerupfte Krähe, hüpft denen ihr Herz schneller schlägt. Die an der Grenze des Lebens entlang. Sie beiden jungen Frauen bekennen Gefüh- füllt sich Rattengift mit einer Selbstver- le – Männer sind weit, weit entfernt. Y HIPP-FOTO „Freundinnen“-Darsteller Kronjäger, Becker: Allein mit Träumen von Liebe

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KULTUR

Legenden Und fliegt und fliegt und . . . Sie sammeln Devotionalien vom Raumschiff Enterprise und treffen sich zu Zehntausenden auf Kongressen: Die Fans der Science-fiction-Serie „Star Trek“, deren siebte Episode jetzt in die Kinos kommt, haben den Vermarktern einen der größten Finanzerfolge der Popkultur beschert – für viele ist der Mythos zum Religionsersatz geworden.

ein Tod konnte kein Geheimnis Premierenfeier in Ber- bleiben, nicht dieser Tod. Der lin startet – und wohl SHeld war durch galaktische Ionen- einer der größten Mer- stürme gerauscht wie einst Francis chandising-Tricks der Drake um Kap Hoorn. Er hatte Hun- Popkultur. derte von Außerirdischen besiegt, meist Denn der neue „Star eklige Burschen mit schleimiger Haut. Trek“ soll nicht nur, Und wann immer ein Raum-Zeit-Dis- acht Jahre nach dem kontinuum oder andere Weltraumpro- Fernsehvorbild, nun bleme aufgetaucht waren, sprach er – so auch im Kino den will es zumindest die Sage – nur den ei- Stabwechsel der al- nen Satz: und war weggebeamt. ten „Enterprise“-Crew Doch nun sollte er so unwürdig ster- (Kirk) an die neue ben – zerschmettert an einem banalen, (Captain Picard) voll- irdischen Felsen. Besiegt von einem ein- ziehen, sondern vor al- zigen verrückten Wissenschaftler. Ein lem diejenigen zusam-

schnödes Ende nach fast 30 Jahren treu- menführen, die den KINOARCHIV ENGELMEIER em Dienst. Bald wußte es ganz Holly- Verantwortlichen des „Star Trek VII“-Schlußszene*: Kirks letzter Kampf wood. Schon bevor die erste Klappe ge- amerikanischen Film- fallen war, trafen Protestschreiben aus und Fernsehmultis Paramount beson- Fans wie der Hamburger Kirk-Bewun- aller Welt ein. Sie kamen zu spät: James ders am Herzen liegen – die zahlenden derer Andreas Fallinski, 32, behaupten: Tiberius Kirk, der Captain der „Enter- Fans, von denen Hunderttausende welt- „Von der berühmten Toleranz der En- prise“, war tot, gestorben laut Dreh- weit in Klubs organisiert sind. terprise-Besatzung ist da wenig zu spü- buch im Sternenjahr 2371. Doch zwischen jenen, die der alten ren. Für die Profiteure des Kults ist der- Kirks Ende ist trauriger Höhepunkt Serie anhängen, im Eingeweihtenvoka- lei Zwist geschäftsschädigend.“ des jüngsten, siebten „Star Trek“-Kino- bular „Classic“ genannt, und den Fans Wütende Diskussionen über Qualität films „Treffen der Generationen“, der der Nachfolgeserie „Star Trek – The und Sinngehalt der verschiedenen Se- in dieser Woche mit einer pompösen next Generation“ (TNG) liegen Welten. rien – vor wenigen Tagen ist in den USA „Voyager“ angelaufen, die mittlerweile vierte Staffel der „Star-Trek“-Mytholo- gie – drücken nicht nur auf das Klima in den „Trekker“-Klubs. Sie spalten auch die Käuferschicht des riesigen Devotio- nalienmarktes, der sich um die Ge- schichte der „Enterprise“ entwickelt hat. Wer eine „Classic“-Phaserwaffe (120 Mark) kauft, hat meist kein Interesse an einem Picard-Uniformshirt zu 80 Mark. Wer einen TNG-Pappkameraden für 60 Mark in Lebensgröße erwirbt, braucht die Kaffeetasse von Mr. Spock (27 Mark) nicht. Der Krimskrams-Handel bildet den Grundstock jener eine Milli- arde Dollar, die das Merchandising mit „Star Trek“ inzwischen umgesetzt hat. Jede Minute werden weltweit 13 „Star Trek“-Bücher verkauft, über 100 ver- schiedene Titel mit Millionenauflagen sind im Handel. Die Fernsehserie wird in über hundert Staaten der Erde ausge- strahlt, allein von den ersten fünf Kino-

* Oben: Malcom McDowell, William Shatner; un-

CINETEXT U. REIMER ten: De Forest Kelley, Leonard Nimoy, William Erste „Enterprise“-Crew*: Friedfertige, optimistische Zukunftsvision Shatner.

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KULTUR

filmen wurden über zehn Millionen Vi- von Roddenberry erfundenen „Materie- deokassetten abgesetzt. Antimaterie-Strahler“ oder „Warpbe- Nun soll der Tod von Kirk, der nach schleuniger“. einem gewagten Drehbuch-Zeiten- In den USA dagegen floppte die Serie sprung in den Armen Picards stirbt, den nach der Erstausstrahlung 1966 und soll- Rummel noch ein bißchen anheizen. te abgesetzt werden. Doch die Fans er- Darauf setzen nicht nur die Paramount wirkten durch eine spektakuläre Ketten- und die weltweit vereinigten TV-Pro- briefaktion die Fortsetzung, die „Enter- grammchefs, sondern auch Menschen prise“ avancierte zum landesweiten wie Dirk Bartholomä aus Augsburg. Kultprogramm. Endgültig durchgestar- Der 30jährige, Vorsitzender des mit tet war das Raumschiff dann im Februar über 6000 Mitgliedern größten deut- 1972: Zur ersten „Star Trek Conven- schen „Trek“-Fanklubs, schmiß vor we- tion“, einem Fan-Treffen in New nigen Monaten seinen Job als Möbelver- York, erschienen statt ein paar hundert käufer hin und versucht nun sein Glück erwarteter Gäste mehrere tausend als Veranstalter von Fantreffen. „Hof- „Trekker“. fentlich kommen der Kinofilm und die Als die Nasa vier Jahre darauf ihr ,Voyager-Serie‘ an“, hofft Bartholomä, Space-Shuttle-Projekt vorstellte, wurde „es geht um meine Existenz.“ sie von über 400 000 Trekkern mit Brie- W. M. WEBER „Star Trek“-Fans in Deutschland: „Es geht um meine Existenz“

Große Ängste muß er nicht ausste- fen bombardiert: Das erste Schiff, so die hen. Das Geschäft mit „Enterprise“ und Bitte, solle doch bitte „Enterprise“ hei- ihren Nachfolgern gilt als narrensicher, ßen. Die Raumfahrtbehörde erfüllte vor allem in Europa, wo der Nachholbe- den Wunsch. darf enorm ist. Das Raumschiff fliegt Seither wird vor allem auf den und fliegt und fliegt. Aber die Geschich- „Cons“, so das Kürzel für die Fan-Tref- te von „Star Trek“ ist nicht nur wegen fen, der Mythos der „Enterprise“ gefei- ihres finanziellen Erfolges zum Groß- ert, selbst Nebenrollen-Darsteller wer- mythos der Popkultur avanciert. den als Kultstars verehrt und kassieren „Raumschiff Enterprise“ war die Se- kräftig ab. Die Stars der alten Folgen rie der Babyboomer-Generation, jener nehmen bis zu 100 000 Dollar für ihre Jahrgänge, die, Anfang der sechziger Con-Auftritte, und Schauspieler wie Jahre geboren, als erste unter dem Ein- James Doohan („Scotty“) oder Walter fluß des Fernsehens erwachsen wurden. Koenig („Chekov“), die nach ihrer Für sie bedeuteten die Weltall-Abenteu- „Enterprise“-Zeit kaum noch ein ver- er des 1991 verstorbenen amerikani- nünftiges Filmangebot bekamen, reisen schen Autoren Gene Roddenberry die nun auf Einladung von über 50 Veran- primäre TV-Erfahrung. staltern das ganze Jahr um die Welt. Obwohl nicht als solche konzipiert, Auf den größten Conventions in den wurde die „Enterprise“ vor allem in Eu- USA versammeln sich bis zu 40 000 ropa durch nachmittägliche Sendeplätze Menschen. und schlechte, seicht witzelnde Synchro- Die Begeisterung der „Trekker“ ist nisation schnell zur erfolgreichen Ju- meist mehr als normale Sammelleiden- gendserie. Ihre Sprüche wie „Beam me schaft. „Viele leben in einer Art Paral- up, Scotty“ (der in Wahrheit nie in der lel-Universum“, sagt Bartholomä, aus Serie gefallen ist) wurden genauso zu ihrem irdischen Dasein drifteten sie Standards wie Diskussionen über die regelmäßig in die Ideenwelt der Serie

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ab. Dabei hatte Rodden- für eine esoterische Ge- berry nur ein paar Rah- brauchsanweisung zum mendaten geliefert, für besseren Leben. eine normale TV-Serie Die fanatischsten vollkommen ausrei- „Trekker“ bilden eine chend. Doch bald mußte Art Sekte, die vielleicht er Science-fiction begei- Vorbildcharakter erlan- sterte Koautoren, meist gen wird. Schon im näch- Ingenieure oder Compu- sten Jahrhundert, so ora- terfachleute, engagieren kelte der Science-fiction- – die Fans bombardier- Autor William Gibson in ten ihn mit Nachfragen. seinem letzten Roman

Mittlerweile ist eine EVERETT COLLECTION „Virtuelles Licht“, wer- perfekt durchgestylte Film-Raumschiff „Enterprise“: Großmythos der Popkultur den die mächtigsten Re- „Star-Trek“-Welt ent- ligionsgemeinschaften je- standen, die in jeder Menge Büchern, aufwartet – „Trekker“ gelten als knall- ne seien, welche die Botschaften alter fiktiven technischen Anleitungen, harte Erbsenzähler. Fernsehserien verkünden. Raumschiffhandbüchern und Sternen- Erfolg und Mystifizierung verdankt Tatsächlich verband die „Star-Trek“- karten beschrieben wird. die Serie freilich weniger technischen Serie ganz nach dem Willen ihres Schöp- Und wehe dem, der bei Fandiskussio- Details oder geschicktem Marketing. fers Roddenberry, einem ehemaligen nen mit der falschen Geschwindigkeit ir- Viele halten den Plot und dessen fried- Kampfflieger der U. S. Air Force, von gendeines außerirdischen Raumschiffes fertige und optimistische Zukunftsvision Anfang an die wichtigsten Eigenschaf- ten einer sinn- und heilstiftenden Ideo- logie: Eine verschworene Gemeinschaft zumeist gutgelaunter Wesen unter- nimmt eine gefährliche Fahrt ins uner- forschte All. „Klar bin ich traurig“ Roddenberry besetzte das Raumschiff Captain-Kirk-Darsteller William Shatner über seinen Filmtod den Sehnsüchten seiner Zuschauer ent- sprechend: als harmonische Crew aus Russen, Japanern und Amerikanern, SPIEGEL: Wie fühlt man sich als dern nur von einem einzelnen Mann Schwarzen und Weißen – Mitte der Filmleiche? besiegt. sechziger Jahre, auf dem Höhepunkt Shatner: Als ich das Drehbuch las, Shatner: Ja, eine außerirdische Ar- des Kalten Krieges, ziemlich sensatio- hielt ich meinen Tod als Kirk für ei- mada wäre besser gewesen. Aber ich nell für eine amerikanische TV-Serie. ne gute Idee. Je näher aber der ent- glaube, wir hatten zum Schluß kein Auch die Storys der meisten Serien- scheidende Moment kam, desto Geld mehr. folgen hatten mehr irdische als galak- mehr wurde mir klar, wie wichtig SPIEGEL: Was sind für Sie die Grün- tische Bezüge: Auseinandersetzungen diese Szene für mich war. Ich habe de für den phänomenalen Erfolg von zwischen verschiedenen Rassen, der sogar an meinen echten Tod ge- „Star Trek“? Kampf gegen Seuchen und andere na- dacht. Shatner: Lange Zeit habe ich ge- türliche Katastrophen, sogar gegen fa- SPIEGEL: Quält Sie der Schmerz des glaubt, ich sei es. Und dann mußte schistische Diktaturen nach Art der Na- Hinterbliebenen? ich zu meiner Schande sehen, daß es zis – allerdings ist eben diese „Enter- Shatner: Klar bin ich auch ohne mich oder prise“-Folge, die dieses Thema aufgriff, traurig. Schon al- Spock funktionierte. bis heute nicht im deutschen Fernsehen lein, weil ich nicht Im Ernst, ich glaube, ausgestrahlt worden. weiß, ob ich jemals daß wir mit „Star Der neue Kinofilm spielt routiniert al- wieder die Chance Trek“ einen moder- te „Enterprise“-Tugenden aus, die – an- haben werde, in so nen Mythos erschaf- ders als im Genre üblich –, mehr auf einem millionen- fen haben, für eine Dialoge und Witz setzen, als auf wilden schweren Film mit- Zeit, die sonst keine Aktionismus und den Overkill an Spezi- zuspielen. Mythen mehr hat. aleffekten. Es gibt ein paar beeindruk- SPIEGEL: Aber in SPIEGEL: Bei einem kende Computer-animierte Sequenzen, den USA haben Fantreffen haben Sie eine grandiose Crashszene, ein bißchen die „Star Trek“-Fans einmal dem Publi- Weltraumballerei und die üblichen Tur- doch schon mit einer kum zugerufen, es bulenzen auf der „Enterprise“. Die wur- großen Unterschrif- solle endlich ein ei- den, wie schon vor 30 Jahren, mit wak-

tenaktion Ihre Auf- KINOARCHIV ENGELMEIER genes Leben führen, kelnder Kamera und wackelnden Schau- erstehung im näch- Serienheld Shatner schließlich sei „Star spielern inszeniert, die sich so bemüht sten Film gefordert. Trek“ nur eine Fern- im angeblich geschüttelten Raumschiff Shatner: Wie sollte Captain Kirk mit sehserie. War das ein Scherz oder hin- und herwerfen, daß spätestens da der neuen Crew zusammenspielen? ernst gemeint? bei jedem Fan die nostalgischen Gefühle Lust hätte ich schon, aber ich fürch- Shatner: Unsere Fans sind große aufkommen. te, daß wir das endgültige Ende von Optimisten, was den Glauben an die Bis heute ungeklärt ist jedoch das Kirk erlebt haben. Zukunft angeht. Aber gerade als Rätsel, warum es an Bord eines Raum- SPIEGEL: Kein richtig heroischer Optimist muß man auch Praktiker schiffes, das mit mehrfacher Lichtge- Abgang: Kirk wird nicht etwa von sein. Man muß für die eigenen Träu- schwindigkeit durchs All rast, keine Si- einer gewaltigen Übermacht, son- me arbeiten. cherheitsgurte für die Besatzung gibt. Die Frage hat noch keines der „Star Trek“-Handbücher beantwortet. Y

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KULTUR

„Die urheberrechtliche Mitwirkung von Frau Uschi Glas bezogen auf das Dreh- buch für den Pilotfilm und die ersten 13 Folgen der Serie ,Anna Maria – Eine Frau geht ihren Weg‘ steht außer Zwei- fel.“ Auskunftswilliger zeigt sich aber Uschis Gatte Bernd Tewaag, Produzent der Anna-Maria-Serie. „Meine Frau hat es nicht nötig, sich mit fremden Fe- dern zu schmücken“, sagt er etwa und kritisiert die Journalisten, die „Frau Glas“ falsch zitiert hätten. Aus ihrer Feder stammten nicht nur „17 Seiten des Inhalts des Pilotfilms für die Serie“, sie habe auch „einen Ver- trag für die Mitarbeit an den weiteren Drehbüchern der Serie gehabt“ und obendrein „immer bei den Drehbuch- besprechungen mitgewirkt, auf deren Grundlage die Kummeths dann die Ge- schichte weiterentwickelten“. Und die Folge 13 habe Frau Glas „in Zusam- menhang mit dem Regisseur Bleiweiß sogar wesentlich umgeschrieben“.

ACTION PRESS Kummeths sehen es anders: „Uns die „Anna Maria“-Schöpferin Glas: „Praktisch selbst geschrieben“ Uschi hinterher als Co-Autorin unter- zujubeln, ist unfair – und widerspricht hin zu behaupten, sie habe an der Serie auch den Abmachungen in unseren Affären mitgeschrieben. Drehbuchverträgen.“ „Niemand bestreitet, daß Frau Glas Drehbücher gehen gewöhnlich durch die wunderbare Grundidee zu der Serie mehrere Hände, und Schauspieler dür- um die plötzlich verwitwete Kiesgruben- fen schon mal Dialoge ändern. Doch Liebenswert besitzerin Anna Maria hatte“, sagt Eva wer ist rechtlich Urheber? Kummeth, „doch die Drehbücher haben Drehbuchautoren haben es schon wir geschrieben.“ Auf den Versuch, schwer, wenn es nur darum geht, zu be- und kalt „den unnötigen Streit auf normale Wei- weisen, wer die Idee für ein Skript hat- se beizulegen“, habe die Schauspielerin te. Das zeigt der Fall Peter Märtheshei- Es klang wie ein Marienwunder: Der „säuerlich“ reagiert. mer. Der Drehbuchschreiber klagte ge- Star Uschi Glas will auch Autorin des Nun, da die Auseinandersetzung zum gen das Münchner Autorengespann erstenmal in der langen Karriere der Helmut Dietl/Ulrich Limmer, weil es TV-Erfolgs „Anna Maria“ gewesen Uschi Glas am sauberen „Schätzchen“- angeblich bei „Schtonk“ seine Ur- sein. Jetzt melden sich Zweifler. Image zu kratzen droht und die Affäre sprungsidee abgekupfert hätte. Der für negative Schlagzeilen sorgt, schweigt Fall ist noch nicht entschieden. Aber „Das Reh vom Dienst“ (Die Zeit). kürzlich verlor ein Drehbuchautor den ielleicht war’s ein Anflug von Grö- Über die Münchner Anwaltskanzlei Streit um die Serie „Forsthaus Falke- ßenwahn, vielleicht taten auch nur Meyer-Wölden/Unger/Duvinage läßt nau“, weil er den originären Charakter Vder Föhn und das Münchner Okto- die Ewigjugendliche lediglich mitteilen: seiner Feld-, Wald- und Förster-Idee berfest ihre Wirkung, als Uschi Glas ei- nicht nachweisen konnte. Bloßer Ein- nem bayerischen Reporter des Lokal- fall ist nämlich kein Fall für Juristen. senders „tv weiß-blau“ stolz und aufge- Bisher galten nach Paragraph 2, Abs. regt von ihrer neuen Serie „Anna Maria 2 des Urheberrechtsgesetzes Werke erst – Eine Frau geht ihren Weg“ berichtete. dann als „geschützt“, wenn es „persön- Diese „große Arbeit, die ich gemacht liche geistige Schöpfungen sind“. Und habe“, sei nach einer Idee von ihr ent- die sind in der Regel schriftlich fixiert. standen, und „den Pilotfilm praktisch Was aber, wenn die branchenübliche habe ich selbst geschrieben“. Zusammenarbeit wie im Fall Glas, Der Sender tv weiß-blau, in dem das Teilnahme an Besprechungen und ein Interview im vergangenen Jahr ausge- paar Dialogänderungen am Set jeman- strahlt wurde, hat sich in tv München den berechtigen, sich Co-Autor zu nen- verwandelt – doch die schaffensbe- nen? rauschte Bemerkung der beliebten Die Serienheldin mag entschlossen Schauspielerin ist nun Gegenstand einer ihren Weg gehen. Aber wohin gerät ei- gerichtlichen Auseinandersetzung zwi- ner, der Uschis Notizen aus der 17seiti- schen den Drehbuchautoren der Er- gen Inhaltsangabe in Filmbilder umset- folgsserie „Anna Maria“, Eva und Horst zen will, heißt es doch da: „Er ist stäm- Kummeth, und Uschi Glas. mig, ca. 45 Jahre alt, und sein Gesicht Per Unterlassungsklage will das Auto- könnte genausogut als liebenswert und

renpaar am 7. April vor dem Münchner P. BISCHOFF gutmütig wie auch als brutal und kalt Landgericht der Schauspielerin verbie- „Anna Maria“-Schöpferpaar Kummeth gedeutet werden.“ ten lassen, in der Öffentlichkeit weiter- „Haben wir geschrieben“ Anna Maria, hilf. Y

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Werbeseite . PERSONALIEN

osef Kraus, 45, Gymnasial- agent „James Bond“ heftige ans Schwier, 68, Kultus- Jlehrer und designierter Kritik einstecken. Im neuen Hminister in Nordrhein- Kultusminister im Schatten- 007-Film „Goldeneye“, der Westfalen, verweigert sich kabinett des CDU-Spitzen- im November anlaufen wird, der Schleichwerbung, sogar kandidaten Manfred Kanther verstößt Brosnan nach Mei- wenn sie mit der Schirmherr- für die Hessenwahl, über- nung der Bond-Fans gegen schaft von Hannelore Kohl raschte mit einer ehrlichen zu viele Prinzipien des ureng- wirbt. Die Kanzlergattin leiht Prognose. Der Philologe hat- lischen Spions: Er trägt eine ihren prominenten Namen te sich für eine neue Stelle an Schweizer Uhr, italienische einer Verkehrssicherheitsak- einem Gymnasium im bayeri- Anzüge und fährt, besonders tion des „Familiensenders schen Vilsbiburg beworben – bitter für die Fans, nicht ein Pro Sieben und des Familien- kurz bevor ihn das Angebot englisches Auto, sondern ei- restaurants McDonald’s“. Kanthers erreichte. Nach nen BMW. Außerdem be- Dabei sollen Schulkinder im kurzem Zögern willigte CSU- handele der Bond-Darsteller Schlepp von Polizeibeamten Mitglied Kraus ein. Große sogar Frauen mit Respekt. Verkehrssünder mit Hand- Chancen, als Minister nach „Dies ist ein Desaster“, zetteln der Hamburger-Kette Wiesbaden zu ziehen, sieht stöhnte ein englischer Zei- zur Vernunft im Straßenver- Kraus allerdings offenbar tungskolumnist. Schließlich kehr aufrufen. Schwier un- nicht. In einem Gespräch mit sei die Attraktion bei Bond, terband die Teilnahme seines der Landshuter Zeitung ver- daß er „ein kleiner Schurke Landes, weil Schulkinder riet er: „Ich arbeite zur Zeit ist . . . unser Schurke“. nicht Werbung für Firmen unter dem Vorzeichen, daß

ich am 20. Februar in Vilsbi- C. LUTZ burg anfange und auch dort Schirinowski-Wodkaflasche bleibe.“ Das wäre am Tag nach der Landtagswahl. ladimir Schirinowski, W48, russischer Rechtsex- att Groening, 41, ameri- tremist mit Vorliebe für Mkanischer Comiczeich- großmäulige Auftritte, be- ner, muß wohl auf einen neu- treibt Sympathiewerbung mit en Markt für seine erfolgrei- Hochprozentigem. Bei ei- che Serie „Die Simpsons“ nem Empfang im Europarat, verzichten. In Japan dürfen zu dem in der vergangenen die Zeichentrickfiguren näm- Woche der schwedische Ge- lich gar nicht oder nur stark neralsekretär des Staaten- zensiert gezeigt werden. Der bundes, Daniel Tarschys, ins Protest der Behörden richtet Restaurant des Straßburger sich nicht gegen den Inhalt Europa-Palastes eingeladen der US-Proletenserie, son- hatte, erschien Schirinowski dern gegen die Anatomie der mit mehreren Dutzend Fla- Simpson-Familie. Die haben schen Wodka. Die Flaschen, nämlich allesamt nur vier auf denen Schirinowskis Por- Finger an der meist ausge- trät und eine Karte des von streckt gezeichneten Hand – ihm angestrebten Großlan- und genau dies gilt in Japan des mit Grenzen bis nach als geheimes Erkennungszei- Polen und zum Bosporus chen der „Yakuza“, der ge- prangten, ließ der Russe auf fürchteten Mafia. den Büffet-Tischen vertei- len. Anschließend mischten sich der Rechtsextremist und PICTURES seine Leibwächter un- ter die etwa 400 Gäste

und boten ihnen PHOTO SELECTION MANNI MASONS Wodka an. Etwas spä- Moss O’Sullivan ter reagierte dann ein ate Moss, 21, englisches Top-Modell mit Minimalmaßen, Vertreter des Europa- Kwurde auf dramatische Weise mit den Auswirkungen des rats und ließ die Fla- von ihr geprägten Schlankheitslooks konfrontiert. Als der Dai- schen mit dem kom- ly Express Fotos der 17jährigen Clare O’Sullivan veröffentlich- promittierenden Eti- te, die sich nach ihrem Vorbild Moss auf ganze 32 Kilo herun- kett von den Tischen tergehungert hatte, richtete Moss einen persönlichen Appell entfernen. an die Studentin: „Bitte, bitte, iß wieder normal. Ich mache auch keine Diät“, ließ sie wissen, „meine Figur kommt nur ierce Brosnan, 45, vom Training.“ Sie selber wiege ja auch mehr, nämlich 54 Ki- Pirischer Schauspie- lo. Clare O’Sullivan hatte vor einem Jahr eine Diät mit nur 100 ler, muß schon lange Kalorien am Tag begonnen, meist ein Apfel und eine Orange. vor seinem ersten Ihre Familie will sie jetzt in eine Londoner Spezialklinik ein- Comicfiguren „Die Simpsons“ Auftritt als Geheim- weisen lassen.

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machen sollten, „die keine außerschulischen Partner der Verkehrserziehung sein kön- Begehrter nen“. Im übrigen, so der Mi- nister an die Adresse von Phallus Frau Kohl, „deckt sich das Angebot des Fast-food-Un- ternehmens nicht mit unse- ren Vorstellungen von einem Familienrestaurant und den Prinzipien der gesunden Er- nährung“.

onnie Chung, 48, ameri- Ckanische TV-Reporterin, büßt für ein umstrittenes In- terview nun auch Sympathien beim Publikum ein. Die Star- journalistin des Fernsehsen- ders CBS hatte vor wenigen Wochen das „Skandalge- spräch“ mit Kathleen Gin- grich, der Mutter des Präsi- denten des US-Repräsentan- tenhauses Newt Gingrich, ge- führt. Die alte Dame hatte dabei auf energisches Drän- gen von Chung verraten, was

KEYSTONE / DPA ihr Sohn von der Ehefrau sei- Briefmarke von Saint Phalle nes Gegenspielers Bill Clin- ton halte: Hillary sei „ein iki de Saint Phalle, 64, amerika- Biest“, habe ihr Sohn gesagt, N nisch-französische Künstlerin, flüsterte Kathleen Gingrich erfuhr für ihr kleinstes Werk sehr in die Kameras. Chungs In- gemischte Reaktionen. Als sie vor terview-Stil löste mehr Em- drei Monaten im Auftrag der schwei- zerischen Bundespost eine neue Briefmarke entwarf, hagelte es wü- tende Proteste: De Saint Phalle hat- te zur Unterstützung der Anti-Aids- Kampagne einen stilisierten Phal- lus mit buntem Gummiüberzug ge- malt. Kunden, die sich in ihren reli- giösen Gefühlen verletzt sahen, schickten das Wertzeichen an die Postzentrale zurück, andere zettel- ten wutentbrannt Diskussionen an den Schaltern an: Die Marke forde- re zur freien Sexualität auf, die Adressaten ihrer Briefe hätten sol- chen Schutz nicht nötig. Einige Mo- ralhüter drohten gar mit Klage, ver-

zichteten dann aber darauf. A. SAVIGNANO / GALELLA Denn inzwischen ist die verru- Chung fene „Stop Aids“-Marke im Wert von 60 Rappen zum absoluten Renner pörung aus als die böse Äu- geworden. Sammler und Spekulan- ßerung. Doch statt der von ten sind schon einen Monat vor dem Newt Gingrich geforderten offiziellen Verkaufsende auf der Entschuldigung verteidigte Jagd nach dem begehrten Stück, CBS die Ausstrahlung. Aber obwohl noch nicht einmal bekannt die Zuschauer quittierten ist, was die bunten Phalli einmal den journalistischen Faux- wert sein werden – die eidgenössi- pas: Chungs Sendungen fie- sche Bundespost verrät traditionell len tief ins Quotenloch. Ihr erst nach Ende einer Kampagne die Sender will, so berichten In- Auflagenhöhe ihrer Wertzeichen. sider, Chung in den nächsten Wochen möglichst unauffäl- lig einsetzen.

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Gestorben Vera-Sylvia Schiller, 58. Die gelernte Juristin war am 12. Januar während des Fred Perry, 85. Generationen haben das Staatsaktes für den großen Ökonomen Hemd mit dem grünen Lorbeerkranz Karl Schiller nicht anwesend; statt des- auf der linken Brust getragen – das Per- sen ihre 31jährige Tochter Sabine. Vera- ry-Hemd ist bis heute der Klassiker un- Sylvia Schiller konnte nicht kommen, ter den Polo-Shirts. Der Sohn eines weil sie selbst auf den Tod krank war. Baumwollwebers aus dem englischen Bis zuletzt hatte sie vor ihrem Mann, Stockport war der erste weltbeste Ten- mit dem sie im selben Krankenhaus lag, verheimlichen können, daß ihre Krank- heit bösartig war. Nach 16jähriger glücklicher Ehe sah sie keinen Sinn mehr darin, ohne ihn weiterzuleben, und hörte auf, gegen den Krebs zu kämpfen. Vera-Sylvia Schiller, die zwei erwachsene Kinder hinterläßt, starb ver- gangenen Donnerstag in Hamburg.

Donald Pleasence, 75. Vermutlich war er nicht von Grund auf böse – doch in den meisten seiner Rollen stand er mit einem Bein schon in der Hölle: Er hat Heinrich Himmler gespielt und den

BETTMANN James-Bond-Widersacher Blofeld; er pflegte, in einem Film von John Carpen- nisspieler, der nicht aus einer Upper- ter, den Kontakt mit dem Fürsten der class-Familie kam. Auch nach drei Finsternis und durfte, in „Will Penny“, Wimbledon-Siegen in Folge von 1934 Charlton Hestons Weihnachtsbaum ver- bis 1936 litt Perry unter seiner Herkunft: brennen. Dabei waren die Zeichen des „Ich war das dreckige Arbeiterkind, das Bösen seinem Gesicht nicht unbedingt ihr weißes Tennis beschmutzte.“ Um eingeschrieben; seine der feinen Gesellschaft zu gefallen, zog Züge wirkten ver- er sich in der Spielpause stets ein fri- wechselbar, seine sches Gabardine-Hemd an, wechselte Lippen nur leicht die langen Flanellhosen und schmierte verkniffen. Er sah sich Brillantine ins Haar. Als die Aner- meist aus wie ein kennung ausblieb, wurde Perry Profi, Spießer, und er han- wanderte nach Los Angeles aus und delte, als ob eine un- gründete dort einen Klub, in dem sich geheure Leere, das Tennisspieler und Hollywood-Stars tra- Bewußtsein der eige-

fen. Aufnahmebedingung: ein Wochen- nen Bedeutungslosig- U. RÖHNERT verdienst von mindestens 1500 Dollar. keit, ihn erst zu sei- Fred Perry starb am vergangenen Don- nen bösenTaten trieb. Er warBrite, hatte nerstag in Melbourne. beim Theater angefangen, und seine größten Filmrollen hatte er in: „Die Andre´ Frossard, 80. Am 8. Juli 1935 trat phantastische Reise“, „Das Wiegenlied ein junger Mann, Enkel einer Jüdin, vom Totschlag“, „Wenn Katelbach Sohn einer Lutheranerin und eines kommt“. Donald Pleasence ist vergange- Kommunisten, als Atheist in eine Pari- nen Donnerstag im französischen St.- ser Kirche, heraus kam ein gläubiger Paul-de-Vence gestorben. Katholik. Der Bekehrte wurde zum Pre- diger, sein Buch „Gott existiert, ich bin Urteil Ihm begegnet“ ein Bestseller. Wider- standskämpfer gegen die Deutschen, Andrej Lapin, 29, russischer Seemann, Verehrer Charles de Gaulles, Freund wurde in Osnabrück vom Vorwurf des des Papstes Johannes Paul II., Mitglied fünffachen Mordes freigesprochen und der Acade´mie franc¸aise, war der Essay- nur wegen versuchter Brandstiftung zu ist und Moralist eine französische Insti- einem Jahr auf Bewährung verurteilt. tution. 32 Jahre polemisierte Frossard Die Anklage hielt Lapin für überführt, fast täglich auf der ersten Seite des Figa- den Kapitän und vier Besatzungsmitglie- ro in einer Kolumne als „Cavalier seul“, der des Motorschiffs „Bärbel“am 15.Au- als einsamer Reiter: „In Frankreich ver- gust 1993 auf der Nordsee ausHabgier ge- schaffen Irrtümer Autorität, vorausge- tötet zu haben. Der als Sensation emp- setzt, sie sind monumental.“ Er sei, so fundene Freispruch erinnert an die große sein Selbsturteil, der einzige französi- Zahl rätselhafter Vorfälle in der Ge- sche Journalist, der sich „mit linken Ge- schichte der Brigg „Mary Celeste“, die im danken einen Ruf als Rechter“ erschrie- Dezember 1872 vor Gibraltar seetüchtig, ben habe. Andre´ Frossard starb vergan- doch ohne Lebende, Tote oder eindeuti- genen Donnerstag in Versailles. ge Spuren an Bord, entdeckt wurde. Werbeseite

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6. bis 12. Februar 1995 FERNSEHEN

MONTAG Wieso trägt der vornehme che nach der Herkunft eines menstrom deutlich: Unter der 15.00 – 16.00 Uhr RTL Bonvivant Mathieu (Fernan- Geldkoffers in verworrene Regie von Detlef Rönfeldt do Rey) einen Kartoffelsack Manöver von Waffenhänd- spielen Stars wie Michel Pic- Ilona Christen durch die Straßen von Paris? lern, FBI und CIA. Am En- coli, Marthe Keller, Christian O-Ton „Trendletter“ von Bun˜uel, getreu seinen surrea- de weiß der Zuschauer nicht Kohlund, Friedrich von RTL: „Bei Ilona Christen listischen Anfängen, streut mehr, wem er glauben soll. Thun, Ernst Jacobi. sind 71 Prozent der Zuschau- in die Geschichte von der Die unübersichtliche Hand- er weiblich. Affinitätswerte „amour fou“ des älteren lung ähnelt dem Drehort, 21.45 – 0.25 Uhr Arte von zum Teil über 160 zeigen Mannes zu einem Dienst- den bizarren Gipsdünen in deutlich, wie sicher man in mädchen (nach dem Raus- der Wüste New Mexicos. Themenabend: diesem Programmumfeld die Maschinenmenschen Zielgruppe ,Frau‘ treffen Die Dokumentation von kann.“ Vorsicht deshalb, Gusztav Hamos (21.45 Uhr) Männer. Das heutige Thema: berichtet von einem jun- „Eiskalte Killerinnen? – gen Computerfreak, der ins Frauen, die töten“. Reich der virtuellen Lust auf- bricht. Für seinen computer- 19.25 – 21.00 Uhr ZDF animierten Kurzfilm „Posthu- man“ (22.40 Uhr) ließ sich Freundinnen Pierre Tirier von den Cyber- Bittere Liebeskomödie von punk-Romanen des Amerika- Heiko Schier (siehe Seite ners William Gibson inspirie- 210). ren, die von der Vernetzung von Mensch und Maschine er- 20.15 – 20.45 Uhr RTL zählen. Im Kurzfilm von Ste- phan Köster (23.00 Uhr) lehnt Otto – die Serie sich ein Dummy gegen sein Quotto bene: 7,64 Millionen Dasein als Crashtest-Figur

in der ersten Sendung. Alle ARTE auf. Zum Schluß (23.05 Uhr) lieben den Friesen, nur die „Objekt der Begierde“-Darstellerin Bouquet gibt es Fritz Langs Stumm- FAZ mäkelte. Fazkes. film-Klassiker „Metropolis“ schmiß der launischen Maria DIENSTAG in der 1984 entstandenen Neu- 20.15 – 20.59 Uhr ARD Schneider mit Carole Bou- 19.25 – 20.15 Uhr ZDF bearbeitung von Giorgio Mo- quet und Angela Molina dop- roder. Expeditionen ins Tierreich pelt besetzt) bizarre Einfäl- Unser Lehrer Dr. Specht Dr. Specht (Robert Atzorn) Der Mythos, schrieb der le und Traumerinnerungen. 22.15 – 23.00 Uhr ZDF französische Strukturalist Köstlich die Szene, als sich unterrichtet 16 neue Folgen Roland Barthes, mache aus der geile Alte endlich am lang auf der Berliner In- Körper Geschichte Natur. Umge- Ziel seiner Wünsche wähnt, ternatsinsel Krähenwerder. Was ist los, wenn die Topmo- kehrt: Die Geschichte macht aber das verknotete Korsett Zum Piepen. dels Kinder werden und die aus Natur und ihren Mythen der Angebeteten nicht aufzu- Alten und Gebrechlichen in Geschichte. Im Film des knöpfen vermag. Frappie- 20.15 – 21.14 Uhr ARD Reha-Kliniken verschwin- Franzosen Jean-Paul Cornu rend, wie beiläufig und lako- den, wenn die 40jährigen wie ist die Zoologin Nicole Vilo- nisch Bun˜uel das Finale, den Peter Strohm teau zu sehen, die auf den Anschlag der Terroristen- Reue – erste Mimenpflicht: Kleinen Sunda-Inseln im Ma- gruppe „Bewaffnete Armee „,Zorc‘ war ein Seiten- laiischen Archipel die letzten der Kinder Jesu“, zeigt. Der sprung, den ich tief bereue. Exemplare der drachenarti- greise Meisterregisseur ver- RTL-Filme dienen nur dazu, gen Komodo-Warane zu trat am Ende seines Lebens die Pausen zwischen Odol schützen versucht. Wurden folgende Meinung: „Heute und Pampers zu füllen“, er- einst in Verherrlichung der ist man gewalttätig aus Ge- klärt Klaus Löwitsch zum Naturunterwerfung Drachen- schmack am Risiko. Es wird Start von 13 neuen Folgen töter wie der Heilige Georg nicht mehr lange dauern, mit dem Brutalo-Detektiv oder Richard Wagners Held dann wird man von den At- Peter Strohm. Nomen est Siegfried mythisiert, kreiert tentaten auf den Sportseiten omen: Alles fließt, Richtung die Moderne den Drachen- der Zeitungen lesen.“ Gage. pfleger. 22.15 – 23.50 Uhr ZDF 20.15 – 22.15 Uhr Sat 1 20.40 – 22.20 Uhr Arte White Sands – Der große Tödliches Geld – Das Dieses obskure Objekt der Deal Gesetz der Belmonts Begierde „Der Film wirkt wie eine Mit eiserner Faust lenkt der Großes Kritiker-Rätselraten Zwiebel, bei der hinter jeder Patriarch die vornehme Gen- angesichts dieses Spätwer- Haut eine neue zum Vor- fer Privatbank. Als er stirbt, kes, das der Spanier Luis Bu- schein kommt“, schrieb die brechen die Intrigen aus. n˜uel 1977 mit 77 Jahren ge- SZ über Roger Donaldsons Die Gelder dieses zweiteili- dreht hat: Warum schlägt im Thriller (USA 1992). Ein gen (Fortsetzung Mittwoch,

noblen Salon ohne Vorwar- Kleinstadt-Sheriff (Willem 20.15 Uhr) TV-Millionen- TELEBUNK nung eine Mausefalle zu? Dafoe) gerät bei der Recher- spiels beeinflußten den Mi- Szenenfoto

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Hamster Rad treten und jun- DONNERSTAG mentation die Frage, ob der KIOSK ge Frauen ihren Körper weg- 19.25 – 20.15 Uhr ZDF verheerende britische An- hungern wollen und schon griff auf Dresden vom Febru- 18jährige sich unters Messer Freunde fürs Leben ar 1945 eine Vergeltung für legen für ein neues Körper- Serienärzte treten in dieser die deutsche Bombardierung Überlasteter Design? Dokumentation von Serienfolge in einer Fern- Coventrys oder eine Macht- Yuppie Mischka Popp und Thomas seh-Talkshow auf. Selbstre- demonstration gegen die her- Der Mann liebt den aufge- Bergmann. ferenz mit Zügen von anrückende Rote Armee ge- motzten Auftritt im Fern- Selbstdemenz. wesen ist. sehen. In der wochentäg- lichen Telefon-Talkshow MITTWOCH 20.15 – 22.45 Uhr RTL „Achtzehn 30“ auf RTL gab FREITAG 20.15 – 21.44 Uhr ARD Herr der Gezeiten er vier Monate lang bis 18.30 – 19.00 Uhr ZDF April 1994 den Pöbler vom Die Wahrheit und nichts Mit einer Höchstdosis an Dienst, der Anrufer be- als die Wahrheit Lebensleid traktierte Barbra Verlieren Sie Millionen schimpfte und aus der . . . ist zunächst die, daß An- Streisand ihre Fans mit ih- Nein, keine neue Sendung Sendung warf („Gehen Sie walt Schaller (Joachim Kem- rem zweiten Film (USA von Jörg Wontorra: „Rei- zurück in die Küche!“). Am mer) ein verkommener und 1991) als Regisseurin. Tom cher, bitte melde dich“. Statt Ende fiel der unfreundli- total versoffener Typ ist. Erst Wingo (Nick Nolte) soll der dessen zeigt Mike Krüger in che Joachim Steinhöfel eine junge Gehilfin (Claudine Psychiaterin (Streisand) er- dieser neuen Spielshow, daß selbst aus dem Programm Wilde) holt den Advokaten klären, warum seine Schwe- looser die Steigerung von – er schaffte die ange- aus seiner Scheidungsdepres- ster immer wieder versucht, nichts los ist. sion und treibt ihn an, einen Job als Pflichtverteidiger in ei- nem Fall von Mord ohne Lei- che zu übernehmen. Justizkri- mi von Ecki Ziedrich.

22.15 – 23.00 Uhr ZDF Kennzeichen D

ACTION PRESS Themen: Zurück ins wilde Steinhöfel Kurdistan? – Streit um Asyl- bewerber / Niedriglöhne in strebten zwei Millionen der Textilindustrie / Verkehr- Zuschauer nicht. Nun will te Welten – arme Max-Hütte Steinhöfel auch den näch- West, reiche Max-Hütte Ost. sten TV-Job abgeben: Die Rolle des Moderators im 23.00 – 0.20 Uhr ARD Boulevard-Magazin „Die Redaktion“ (RTL 2), das Weh mir seit Dezember gegen „Die Ein Gott wohnt einer Men- Reporter“ von Pro Sieben schenfrau bei, ohne daß ihr

sendet. Wahrscheinlich Mann etwas ahnt: Diesmal ist COLUMBIA PICTURES nur noch bis Ende März nicht an Maria und Josef, son- „Herr der Gezeiten“-Paar Nolte, Streisand mimt er den Chefredak- dern an Alkmene und Amphi- teur, der am Konferenz- tryon zu denken. Im an- ihrem Leben ein Ende zu 22.10 – 0.45 Uhr RTL tisch die Themenvorschlä- spielungsreichen, vieldeuti- machen. Der Abstieg in den gen Spätwerk von Jean-Luc Brunnen der Vergangenheit Terminator 2 – Tag der ge diskutiert. Den Aus- Abrechnung stieg begründet Steinhö- Godard, das immer wieder fördert Fürchterliches zuta- fel, 32, mit Arbeitsüber- Ankündigung und Zeugung ge: Die wortkargen Ge- Anfang der neunziger lastung: Der Hambur- einer Messias-Figur umkreist, schwister verdrängen eine in Jahre kam die Macht der ger Rechtsanwalt pendelt ist dieser Film („He´las pour der Familie verschwiegene Frauen in Hollywood aus zwischen Fernsehstudio, moi“, 1993) der geheimnis- Vergewaltigung. Die Exkur- den Gewehrläufen. Im er- Kanzlei und Gerichtssaal. vollste und hat trotz des Stars sion in die Seelentiefe macht sten „Terminator“-Film Zeit für die TV-Materialien Ge´rard Depardieu nieindeut- die Couch fast zum Lotter- spielte Linda Hamilton noch fand der kantige Spät- sche Kinos gefunden. bett: Der Analysant verfällt eine brave Kellnerin, die Yuppie mit der Kurzhaar- der Analytikerin. Doch Tom ziemlich schwach und hilfs- leistet Triebverzicht und frisur jeweils erst am Tag 0.30 – 2.20 Uhr ARD bedürftig war. 1990, im vor der Aufzeichnung. Die kehrt zu Frau und Kindern „Terminator 2“ (Regie: RTL-Manager wollen „Die Tote schlafen fest zurück. Das Rührstück läßt James Cameron), zeigte sie Redaktion“, die das Quo- Mag sein. Aber für diesen so gut wie kein Klischee ihre guttrainierten Muskeln tenziel von knapp einer Klassiker der Schwarzen Serie aus. und hatte sich alle Sanftmut Million Zuschauer gele- (USA 1946, Regie: Howard gänzlich abgewöhnt. Mit gentlich noch verfehlt, Hawks) mit Lauren Bacall 23.00 – 23.45 Uhr ARD Panzerfaust und Maschinen- fortsetzen und denken an und Humphrey Bogart wür- gewehr und unterstützt von eine Moderatorin – Blon- den selbst sie aufstehen. So Operation Donnerschlag Arnold Schwarzenegger, der dinen bevorzugt. spannend ist Totsein wohl nun MDR-Autor Matthias Koch einen Kraftroboter spielt auch wieder nicht. untersucht in seiner Doku- (und neben Sarah trotzdem

DER SPIEGEL 6/1995 227 . FERNSEHEN

wie ein Softie wirkt), rettet SAMSTAG SONNTAG die zum aggressiven Flin- 21.40 – 23.15 Uhr Arte 20.15 – 22.10 Uhr Pro Sieben DIENSTAG tenweib mutierte Frau die 23.00 – 23.30 Uhr Sat 1 Welt. Vietnam nach dem Spaceballs Bombenhagel SPIEGEL TV Mel Brooks inszenierte in sei- REPORTAGE Nachdem Lyndon B. John- nem Film (USA 1987) eine 22.15 – 0.40 Uhr Sat 1 son 1964 vom amerikani- Mixtur aus Weltraum-Mär- Für 600 000 Mark hatte Basic Instinct schen Kongreß die unbe- chen und Science-fiction-Par- ihn der millionenschwere Züchter „Charles“ Grendel Den „Fick des Jahrhun- schränkte Vollmacht zur odie. Space-Cowboy Lone vor vier Jahren erworben – derts“ versprach der Ver- Kriegführung in Vietnam er- Starr kämpft mit „Möter“ 4,31 Millionen Mark hat leih, als Paul Verhoevens halten hatte, setzten die USA Waldi, einer Kreuzung aus der Wunder-Traber „Sea Sex-Thriller (USA 1992) in 57 Millionen Kilogramm der Mensch und Köter, an Cove“ schon eingebracht. die Kinos kam. Hemmungs- Entlaubungsmittel „Agent Bord eines intergalaktischen Doch am Sonntag vergan- los war die Produktion auch Orange“ und „Blue Agent“ Wohnmobils gegen ein feind- gener Woche scheiterte beim Einsammeln von Geld: ein. Die dioxin- und arsen- liches Raumschiff. Bevor das erfolgreichste deut- So beanspruchte der Film in haltigen Herbizide vernich- Starr den königlichen, aber sche Pferd aller Zeiten Spanien als angeblich hol- teten nicht nur den gesam- verzogenen Weltraum-Teen- beim „Prix d’Amerique“. ländische Produktion eine ten Mangrovenwald und die ager Prinzessin Vespa eheli- Bericht von SPIEGEL-TV- Subvention von 160 000 Reisernte. Hunderttausende chen darf, muß er greuliche Autoren Tillmann Scholl Mark – weil die Produkti- aus der hungernden Zivilbe- Abenteuer bestehen. Abson- und Uli Stein. onsfirma Carolco ihren Sitz völkerung erkrankten durch derliche Fabelwesen, wie der im Steuerparadies Nieder- die massive Vergiftung an verfressene Pizza-Mampf, ei- ländische Antillen hatte. Krebs, die vietnamesischen ne überdimensionale Welt- MITTWOCH Das deutsche Feuilleton Frauen brachten Tausende raum-Putzfrau oder der weise 21.55 – 22.40 Uhr Vox von mißgebildeten Kindern Yogurt, begleiten ihn bis zum schäumte vor Wut. Daß SPIEGEL TV THEMA „Basic Instinct“ eine span- zur Welt. 20 Jahre nach dem phallischen Showdown: Mit nende und ziemlich hinter- Rückzug besuchte der ameri- seinem Gegenspieler Lord Zwei Männer und eine hältig inszenierte Geschichte kanische Dokumentarfilmer Helmchen kreuzt er heftig das Frau berichten, wie sie ih- über die sexuelle Entgren- J. Edward Milner das Land Laserschwert. Liebenswerter re tödlichen Krankheiten zung ist und daß Verhoeven und zieht eine erschreckende Klamauk, urteilten Kritiker. überwunden haben. die Sexualität als kategori- Bilanz. sches Nein zu allen Normen 20.15 – 22.05 Uhr Premiere FREITAG und Werten der Gesellschaft 23.05 – 0.45 Uhr Kabelkanal 21.55 – 22.25 Uhr Vox definiert, das wurde von den Dave meisten, die immer nur auf Frösche Der amerikanische Präsident SPIEGEL TV INTERVIEW das eine fixiert sind, überse- Schon der coole Typ aus dem (Kevin Kline), der sich von hen. Grimmschen „Froschkönig“ seiner Gattin (Sigourney 1978 wurde Christiane F., ist eine Zumutung. In Weaver) längst entfremdet das Kind vom Bahnhof Zoo, zum bekanntesten 23.25 – 1.25 Uhr ARD George McCowans Thriller hat, braucht ein Double, wäh- (USA 1972) aber überfallen rend er sich für ein Schäfer- Junkie der Bundesrepublik Manche mögen’s heiß die Quaker zu Hunderttau- stündchen mit einer Sekretä- – und zum Symbol für eine Manchmal sind manche alle. senden eine Insel vor Flori- rin zurückzieht. Im harmlosen Fixer-Generation. SPIEGEL Wer wäre schließlich auf da, um sich für die Umwelt- Dave (nochmals Kevin Kline) TV INTERVIEW sprach mit diese Billy-Wilder-Komödie verschmutzung zu rächen. So finden die Sicherheitsbeam- der heute 32jährigen. (USA 1959) mit Marilyn viele küssende Prinzessinnen ten den Richtigen. Weil der Monroe, Tony Curtis und gibt es gar nicht, damit sie in eigentliche Präsident im frem- SAMSTAG Jack Lemmon nicht von Prinzen verwandelt werden den Bett einen Schlaganfall 21.50 – 23.30 Uhr Vox Herzen scharf. könnten. erleidet, muß das Doppel auf Original hingetrimmt werden. SPIEGEL TV SPECIAL Die Weltwoche über Ivan Die Ware Schönheit – Reitmanns Politkomödie SPIEGEL TV SPECIAL beob- (USA 1993): „Die Stroh- achtet den Kampf der Miß- mann-Charade ist witzig bis wahlen in der deutschen zur ersten Hälfte, wird leider Provinz und in der Karibik. sentimental und rührend im zweiten Teil.“ SONNTAG 22.15 – 22.55 Uhr RTL 23.00 / 23.05 Uhr RTL / ZDF SPIEGEL TV MAGAZIN Dresden Erbarmen: Die Hessen RTL (Beginn: 23.00 Uhr) wählen – die FDP im Über- zeigt Interviews mit Überle- lebenskampf / Hingerich- benden des Bombenangriffs. tet, tiefgefroren, in Schei- In der Dokumentation der ben gehobelt – ein Mörder Mainzer (Beginn: 23.05 Uhr) im Dienste der Wissen- berichten Carl-L. Paeschke schaft / Endstation Letten und Dieter Zimmer auch über – der Zürcher Drogen-

TELEBUNK den Wiederaufbau der sächsi- bahnhof wird geräumt. „Manche mögen’s heiß“-Darsteller Curtis, Monroe schen Metropole.

228 DER SPIEGEL 6/1995 Werbeseite

Werbeseite HOHLSPIEGEL RÜCKSPIEGEL

Aus dem vom Verteidigungsministeri- Der SPIEGEL berichtete . . . um herausgegebenen Flugbegleiter: „Die Internationalität des roten Tep- . . . in Nr. 49/1993 MEDIZIN: „GEPLÜN- pichs ist heute ungebrochen, wenn auch DERT INS GRAB“ über den illegalen Han- die Farbe in manchen Ländern bzw. Re- del mit Leichenteilen aus deutschen Pa- gionen eine andere ist.“ thologien. Y Wegen Störung der Totenruhe verurteil- te dasHamburger Amtsgericht vergange- ne Woche drei Sektionshelfer des Allge- meinen Krankenhauses Heidberg zu Be- währungsstrafen zwischen fünf und zehn Monaten. Das Gericht befand die Patho- logie-Gehilfen für schuldig, Hirnhäute von Toten für 30 Mark pro Stück an die nordhessische Pharmafirma Braun Mel- sungen verkauft zuhaben. Insgesamt kas- sierten die drei dafür mehr als 34 000 Mark. Das Gericht wertete dieschwarzen Geschäfte als Zeichen eines „deutlichen Sittenverfalls in der Gesellschaft“.

. . . in Nr. 14/1994 TITEL: AMIGO F. J. STRAUSS – „EDI, DAS MACHEN WIR“, wie Aus dem Versandkatalog des Augsbur- der bayerische Ministerpräsident Franz ger Weltbild-Verlags Josef Strauß dem Steuerflüchtling Edu- ard Zwick nach dessen Angaben gehol- Y fen habe, die Niederschlagung der Steu- Aus der Zeitschrift Goethe-Institut-In- erschulden in die Wege zu leiten. Über tern: „Und wer das Vergnügen hatte, seine Schwester Maria habe Strauß, so Frau Engl-Weno die Hand zu küssen, Zwick, einen Kontakt zwischen dem da- merkte, daß der vorzügliche Wurstsalat maligen Finanzminister Max Streibl und von ihr selbst gemacht worden war.“ dem Zwick-Sohn Johannes anbahnen lassen. Y Die Strauß-Kinder Monika Hohlmeier, Staatssekretärin im bayerischen Kultus- ministerium und stellvertretende CSU- Vorsitzende, sowie ihre Brüder Max Jo- sef Strauß und Franz Georg Strauß er- Aus den Harburger Anzeigen und Nach- klärten in einer gemeinsamen Stellung- richten nahme, veröffentlicht im Bayernkurier Y am 9. April 1994: „Unsere Tante, Frau Maria Strauß, hatte niemals Berührung Wolf Wondratschek in der NDR-Talk- mit der Steuersache Zwick und war dies- show auf die Frage: „Was ist eine Kar- bezüglich schon gar nicht für unseren Va- rierefrau?“ – „Wenn ich instinktiv ihr ter tätig . . . Jeder, der Tante Maria per- aus dem Wege gehe.“ sönlich kennt, weiß um die Absurdität Y dieser Unterstellungen.“ Maria Strauß setzte gerichtlich den Abdruck einer Ge- gendarstellung in SPIEGEL Nr. 19/1994 durch,inder siefeststellt: „Ich habekeine Kontakte zwischen dem damaligen Fi- nanzminister Streibl und Dr. Eduard Zwick bzw. seinem Sohn Johannes ver- mittelt, auch nicht auf Veranlassung von Franz Josef Strauß.“ Die bayerische Staatsanwaltschaft hat im Zuge der Er- mittlungen gegen Johannes Zwick bei ei- ner Durchsuchung ein Schreiben der Aus der Saarlouiser Stadtrundschau Strauß-Schwester Maria an Johannes Zwick vom 6. September 1987 sicherge- Y stellt, in dem sie dem Zwick-Junior Aus der Frankfurter Allgemeinen: schreibt: „Mein Versprechen in Sachen „Außerdem entstanden der Industrie Finanzministerium habe ich nicht verges- zusätzliche Kosten durch die Forderung sen; ich werde alles versuchen, möglichst des Ministers, Änderungen an der Kon- bald einen Termin bei Herrn Minister struktion des Flugzeuges vorzunehmen, Streibl für Sie zu bekommen. Ihre Maria um es billiger zu machen.“ Strauß.“

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