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Herkunft und Bedeutung eines Idols

Bearbeitet von Volker Turnau

1. Auflage 2016. Taschenbuch. 236 S. Paperback ISBN 978 3 7345 1935 2 Format (B x L): 17 x 24 cm Gewicht: 454 g

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Volker Turnau

"Paladin" Roland

Herkunft und Bedeutung eines Idols

www.tredition.de

© 2016 Volker Turnau

Herausgeber: éditions vevelux [email protected]

Lektorat: Dr. Matthias Feldbaum, Augsburg

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN Paperback: 978‐3‐7345‐1935‐2

Printed in Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Ver‐ wertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. 1 Herkunft und Bedeutung in den Primärquellen ...... 7 2 Herkunft und Bedeutung Rolands in den Sekundärquellen: chansons de geste, Erzählungen, Gedichte und Legenden des 11./13. Jahrhunderts ...... 9 3 „Primär‐/Sekundärquellen“ und das Problem der Historizität ...... 13 4 Roland und die gefälschte Schenkungsurkunde Fulrads ...... 15 5 „Der andere Roland“ und das Problem der bretonischen Grenzmark ...... 27 6 und „der andere Roland“ ...... 43 7 Roland in Einhards „Vita Caroli Magni“ ...... 59 8 Rolands Grafschaft ...... 67 9 Wigerichs Grafschaft ...... 71 10 Rolands „familia“ ...... 76 10.1 Die „familia militaris“ ...... 76 10.2 Die „familia civilis“ ...... 102 10.3 Die beiden Gesichter der „familia“ (Zusammenfassung) ...... 123 10.4 Die „familia censualis“ und „servilis“ ...... 124 11 Rolands Gaue ...... 126 12 Milos und Rolands Münzstätte ...... 132 12.1 Milo‐Münzen ...... 134 12.2 Roland‐Münzen ...... 139 13 Verwandtschaft und Freundschaften ...... 141 13.1 Rolands Mutter ...... 141 13.2 und A(l)da ...... 142 14 Rolands Schwertname „“ – ein Toponym ...... 157 15 Die Grafschaft des Suburbiums ...... 163 16 „Divisio“ und amtskirchliche Reaktionen ...... 172 16.1 Jahrhunderte des (Ver)Schweigens ...... 172 16.2 Haus (domus) und Kammer (cubile) der heiligen Helena ...... 178 16.3 Der „Heilige Rock“ ...... 182 17 Bedeutung und Nachleben ...... 191 Quellen und Literatur ...... 219

1 Herkunft und Bedeutung Rolands in den Primärquellen Unter dem Titel „Roland, Mythe ou personnage historique“, stellte Aebischer 1965 die meist als authentische historische Zeugnisse geltenden Belege für die Existenz des bei Roncevalles getöteten Roland infrage.1 Rita Lejeune blieb die Antwort hierauf nicht schuldig.2 Der zentrale Beleg einer Historizität Rolands findet sich in Einhards „Vita Caroli Magni“, die „wohl Mitte der 30er Jahre“ des 9. Jahrhunderts von dem Berater und „Tischgenossen Karls d. Gr.“ und späteren Abt Einhard (ca. 770–840) verfass‐ te Lebensbeschreibung des Kaisers.3 Es existieren keine Originalhandschriften Einhards. Die Abschriften werden kalligraphisch in die Gruppen A und B unter‐ teilt, wobei nur in A Roland neben dem Pfalzgrafen Anshelm und dem Truchses‐ sen Eggihard erwähnt wird, die sich beim Rückzug des fränkischen Heeres aus Spanien in der Nachhut befanden, die in einen Hinterhalt der „Wascones“ geriet, wobei die drei namentlich aus der Zahl der Opfer hervorgehobenen Personen ums Leben kamen –„In quo proelio Eggihardus regiae mensae praepositus, Ans‐ helmus comes palatii et Hruodlandus Brittannici limitis praefectus cum aliis com‐ pluribus interficiuntur.“4 Roland in seiner fränkisch‐germanischen Namensform wird hier als der Präfekt einer gegen die Bretonen gerichteten Grenzregion bezeichnet. Ob er denn hier auch ansässig war, sei dahingestellt. Als zweiter zur Frage der Historizität Rolands herangezogener Beleg wären die beiden Roland‐Münzen zu diskutieren.5 Die eine Münze führt auf der Vorderseite den Namen CAROLUS in zwei Reihen, auf der Rückseite den Namen RODLAN ebenfalls in zwei Reihen mit einem Abkürzungsstrich über ROD. Die andere Ro‐ landmünze führt auf der einen Seite die Buchstaben KRF mit einem Abkürzungs‐ strich (Karolus Rex Francorum) und auf der anderen Seite den Namen ROD‐LAN.

1 AEBISCHER, Paul, Roland. Mythe ou personnage historique?, in: Revue belge de philologie et dʼhistoire, Bd. 43, 1965, S. 849–901. Auch in: DERS., Rolandiana et Oliveriana. Recueil dʼétudes sur les Chansons de Geste, Genève 1967, S. 99–138; siehe auch DERS., Préhistoire et protohistoire du Roland dʼOxford, (Bibliotheca Romanica, Bd. 12), Bern 1972. 2 LEJEUNE, Rita, Le héros Roland, mythe ou personnage historique?, in: Académie de Belgique.Bulletin de la Classe des Lettres et Sciences Morales, Bd. 65, 5, 1979, S. 145–162. 3 FLECKENSTEIN, J., Einhard, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 3, München/Zürich 1986 Sp. 1737ff. 4 Einhardi Vita Karoli Magni, (MGH SRG), hg. v. O. HOLDER‐EGGER, Hannover 1965, (= Neudr. d. Ausg. Hannover 1911), S. 12. 5 Abbildungen bei GARIEL, Ernest, Les monnaies royales de France sous la race carolingienne, Bd. 2, Hildesheim/New York 1974 (= Neudr. d. Ausg. Strasbourg 1884), Pl.IX, Tl.2, Nr.113f.; weitere Abb. von Nr.113 in: DERS., a.a.O., Bd. 1, Hildesheim/New York 1974 (= Neudr. d. Ausg. Strasbourg 1883), Pl.II, Tl.1, Nr. 44.

7 Falls der Roland beider Münzen mit dem Präfekten der bretonischen Grenzregion identisch ist, q.e.d., dann wäre zu ermitteln, wo sich seine Münzstätte befand, etwa auch in jener bretonischen Grenzregion? Zur Klärung der Frage sind die Fundorte beider Münzen freilich unerheblich – Nr. 113 wurde unter hunderten von Münzen zu Imphy gefunden, gelegen zwischen Nevers und Decize, Nr. 114 bei der Burg Grüneck zwischen Ilanz und Ruschin (Schweiz) unter 116 Münzen6. Ein weiteres Mal erscheint der Name „Rothlandus“ ao 772 innerhalb einer Grup‐ pe von vier Grafen als Beisitzern einer Gerichtsentscheidung Karls des Großen in seinem Palast zu Heristal, wobei der König sie als seine „fideles“ von einer weite‐ ren Beisitzergruppe von Vasallen (vassi) abhebt.7 Ob dieser Graf Roland gleichzei‐ tig Präfekt der bretonischen Grenzregion gewesen ist? Die Datierung jedenfalls steht einer solchen Annahme nicht im Wege, denn Rolands Tod wird zum Jahre 778 vermeldet.8 Die Frage, die Rita Lejeune 1979 stellte, blieb bis heute aktuell: „dʼoù provient ce comes Rothlandus du diplôme? On lʼignorait jusquʼà présent. On lʼignore encore.“9 Wo befand sich seine Grafschaft, etwa in jener bretoni‐ schen Grenzregion? Ein letztes Mal kommt der Name Rolands in einer gefälschten Schenkungsurkun‐ de des Abtes Fulrad von Saint‐Denis vom Jahre 777 vor mit dem „signum Rotlani comitis“ unterhalb des Chronogramms von Karl dem Großen, der die Schenkung bestätigt.10 Geht man von der Voraussetzung aus, dass die zitierten Belege alle den in einen Hinterhalt der „Wascones“ im Jahre 778 getöteten Roland meinen, dann ergibt sich ein knapper Rückschluß auf seine historische Bedeutung: Einhard hebt ihn neben zwei anderen Dignitaren als Präfekt einer gegen die Bretonen gerichteten Grenzregion aus der Masse der gefallenen Franken heraus. Er soll kein gewöhnli‐ cher Graf gewesen sein, immerhin zählt ihn König Karl zu seinen Getreuen, in dessen Nähe er auch auf den beiden Rolanddenaren gerückt wird und auch in der gefälschten Schenkungsurkunde des Abtes Fulrad.

6 STIENNON, Jacques, Le denier de au nom de Roland, in: Cahiers de Civilisation Médiévale, Xe– XIIe siècles, Bd. 3, 1960, S. 90. 7 Die Urkunden der Karolinger, Bd. 1: Die Urkunden Pippins, Karlmanns und Karls des Grossen, (MGH: Diplomatum Karolinorum, t.I), Berlin 1956, Nr.65; GLÖCKNER, Karl (Hg.), Codex Laureshamensis, Bd. 1: Einleitung, Regesten, Chronik, Darmstadt 1929, S. 273, 3.(Reg.742). 8 Todesdatum des Präfekten Roland: 15. Aug. 778 gemäß dem Epitaph Eggihards (Einhardi Vita Karoli Magni, S. 12, Anm. 4). 9 Le héros Roland, S. 160. 10 TANGL, Michael, Das Testament Fulrads von Saint‐Denis, in: Neues Archiv für ältere deutsche Geschichtskunde, Bd. 32, 1907, S. 167–217; LEJEUNE, Rita, La Légende de Roland et la fausse donation de Fulrad, in: Le Moyen Age, Bd. 81, 1975, S. 191–210. (Zu dieser Schenkungsurkunde s. u. Kap. 4.)

8 2 Herkunft und Bedeutung Rolands in den Sekundärquellen: chansons de geste, Erzählungen, Gedichte und Legenden des 11./13. Jahrhunderts1 Eine Nachricht über den Geburtsort Rolands findet sich nur in dem französisch‐ italienischen Gedicht des 13. Jahrhunderts „Berta e Milone“.2 Demnach wurde Roland in Imola geboren, 32 km hinter Bologna auf der Straße Emiliana. Seine Mutter wird als Bertha bezeichnet, Schwester Karls des Großen, sein Vater sei der einfache Ritter Milon gewesen. Hierher seien sie vor dem Zorn Karls des Gro‐ ßen geflohen, zunächst in die Lombardei, dann nach Ravenna und in die Roma‐ gna bis nach Imola. In seiner Jugend soll der kleine Roland (Rolandin) in Laon zusammen mit anderen Kindern edler Herkunft gefangengehalten worden sein. Sie befreiten sich aus eigener Kraft – soweit der „roman dʼAspremont“.3 Ausführlichere Angaben finden sich zur sozialen Herkunft bzw. dem sozialen Um‐ feld Rolands. In der Oxford‐Version des Rolandliedes bezeichnet der spätere Verräter Roland als seinen Stiefsohn (Rollant, cist miens fillastre) und Roland ihn als sei‐ nen Stiefvater (Guenes, mis parastre).4 Ganelon wiederum soll eine Schwester König Karls zur Frau gehabt haben („Ensurquetut si ai jo vostre soer“ – des Kö‐ nigs), von der er einen Sohn hat, Baldewin (Si ʼn ai un filz … ço est Baldewin), der ein tapferer Ritter werden wird (ço dit, ki ert prozdoem).5 Demnach wäre die Mutter Rolands eine Schwester Karls d. Gr. und in zweiter Ehe mit Ganelon ver‐ heiratet. Baldewin wäre also Rolands Halbbruder. Beide sind folglich Neffen des Königs. Als ein solcher wird Roland auch bezeichnet (sun nevuld – ses niés – Bel sire niés).6 Karl d. Gr. soll seinen Neffen Roland aufgezogen haben (De Carlemag‐

1 Eine Übersicht über die Filiationen der „légende de Roland dans la littérature“ findet sich in: MORTIER, Raoul (Hg.), Les textes de la Chanson de Roland: La Version dʼOxford, Bd. 1, Paris 1911 (Tableau proposé „Filiation“). 2 BÉDIER, Joseph, Les légendes épiques. Recherches sur la formation des Chansons de Geste, Bd. 2, Paris 31926, S. 212f. In der Legende „Charlemagne de Venise“ wird Roland als der Sohn Bertes und des Seneschalls Milon bezeich‐ net, deren Verbindung Karl d. Gr. nicht duldet und vor dem sie nach Italien fliehen. (GAUTIER, Léon, La Chan‐ son de Roland. Texte critique, traduction et commentaire, grammaire et glossaire, Tours 1920, S. 377.). 3 GAUTIER, S. 378. 4 La chanson de Roland, übersetzt von H.W. KLEIN, (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben, hg. v. JAUSS, Hans Robert/KÖHLER, Erich), München 1963, S. 24f.; 48f. 5 A.a.O., S. 26f. 6 A.a.O., S. 20f.; 30f.; 34f.; 40f.; 50f.

9 ne, sun segnor kil nurrit),7 demzufolge blieb Roland nicht bei seiner Mutter und seinem Stiefvater. Ganelon entstammt einem großen Geschlecht (estes de mult grant parentéd), sein Oheim heißt Guinemer (sun uncle Guinemer), sein Freund und Gefährte ist (Pinabel, mun ami e mun per)8 Rolands Freund und Ge‐ fährte heißt Oliver (Oliver ... [il] est si[s] cumpainz),9 beide gehören zu den 12 Pa‐ ladinen (Li duze par – doze pers – doze cumpaignuns)10. Roland bezeichnet Oliver als „Sohn des tapferen Herzogs Reiner, der die Mark im Tal von Runers besaß.“ (Bels cumpainz Oliver, Vos fustes filz al pro conte Reiner, Ki tint la marche de [ce] val de Runers.).11 Er ist mit Olivers Schwester Alde verlobt.12 Nach der Rückkehr aus Spanien und der Ankunft in seiner Residenz in kam „Alde, ein schö‐ nes Edelfräulein“, auf König Karl zu mit der Frage: „Wo ist Roland, der Feldherr, der mir schwur, mich zu seiner Gemahlin zu nehmen?“ (As li venue Alde, une be‐ le dam[isel]e, co dist al rei: ʼO est Rollanz, le catanie, Ki me jurat cume sa per [a per] a prendre?ʼ).13 Daraufhin bot Karl seinen eigenen Sohn Ludwig als Ersatz für den in Roncevalles gefallenen Roland an, woraufhin Alde aber das Ansinnen zu‐ rückwies und auf der Stelle tot umsank. Karl läßt sie in ein Nonnenkloster über‐ führen und dort beisetzen.14 Wie Roland und (Ada, Alda) zusammenfanden, wird in der Spielmannser‐ zählung des 12. Jahrhunderts „Girard de Viane“ berichtet:15 Um der Jahre andau‐ ernden Belagerung der an der Rhône gelegenen Stadt Viane (Vienne) durch Karl d. Gr. ein Ende zu bereiten, greifen der König und der Stadtherr Girard de Viane einen Vorschlag Erzbischof Turpins auf, den Kampf durch ein Duell zweier Ritter entscheiden zu lassen. Für Karl soll dessen Neffe Roland streiten, für Girard des‐ sen Neffe Olivier. Das Duell findet auf einer Insel der Rhône statt, zu Füßen der Mauern der belagerten Stadt. Roland trägt mit seinem Schwert „Durendal“ letzt‐ endlich den Sieg davon, schenkt Olivier jedoch auf Bitten von Aude das Leben. Zur Besiegelung ihres Einverständnisses bittet Roland Olivier um die Hand seiner Schwester Aude. Damit ist ihre Freundschaft begründet. Zu diesem Zeitpunkt war Aude erst 13 Jahre alt. Sieben Jahre später, als sie 20 war, mit Roland noch im‐

7 A.a.O., S. 134f. 8 A.a.O., S. 28f. 9 A.a.O., S. 26f.; 38f. 10 A.a.O., S. 22f.; 56f. 11 A.a.O., S. 126f. 12 Das Ende in Roncevalles vor Augen ruft Oliver Roland verbittert zu: „Par ceste meie barbe, Se puis veeir me gente sorur Alde, Ne jerriiez ja mais entre sabrace.“ (A.a.O., S. 100f.). 13 A.a.O., S. 204f. 14 A.a.O., S. 206f. 15 Le roman de Girard de Viane, par Bertrand de Bar‐sur‐Aube, hg. v. Prosper TARBÉ, 1850.

10 mer nicht verheiratet – Aude wäre demnach 758 geboren –, kehrte Karl d. Gr. von seinem Spanienfeldzug zurück. Aude hört von seiner Ankunft in „Aix“, eilt herbei, um Roland zu begrüßen, erfährt hier von dessen Tod und bricht auf der Stelle vor dem Kaiser tot zusammen. Die ältere Version der Überlieferung, älter noch als das Rolandslied,16 aus den Jahrzehnten vor der Jahrtausendwende (Girart primitif), die als Vorbild für die nordische Karlamagnús Saga diente, läßt das Duell vorzeitig durch eine Interven‐ tion des Oliver verpflichteten königlichen Grafen Lambert im Bunde mit dem weisen Naimes beenden. Sie vermögen Karl d. Gr. umzustimmen, das Duell zu stoppen und die Unterwerfung Girarts zu akzeptieren. Es kommt eine Verbin‐ dung zwischen Roland und Oliver zustande, dessen Schwester Ada mit Roland verlobt wird und zwar von Erzbischof Turpin, einem nahen Verwandten Girarts, der seine letzten Tage in Vienne zugebracht haben soll. Der Name von Rolands Vater wird in der Oxford‐Ausgabe des Rolandliedes nicht genannt, wohl aber im sog. „Pseudo‐Turpin“: In einer Schlacht fiel „dux Milo, Rotolandi genitor“ als ein Märtyrer des christlichen Glaubens (… pugna, in qua occisa sunt Christianorum quadraginta milia, et dux Milo, Rotolandi genitor, ibi‐ dem palmam martirii adeptus est …),17 der König Karl in einem Heereszug nach Spanien gegen den Maurenkönig Agolandus begleitet hatte (fuitque cum eo [Kg. Karl] dux exercituum Milo de Angulariis)18. In der vollständigen Fassung des „Pseudo‐Turpin“ der Aachener Handschrift fin‐ den sich weitere Angaben zur Person Rolands. (Rotolandus dux exercituum, co‐ mes cenomanensis et Blavii dominus, nepos Karoli, filius ducis Milonis de Ancleris natus de Berta sorore Karoli).19 Roland war demnach einer der Heerführer Karls d. Gr., Graf von Maine, Herr von Blaye, als Neffe Karls der Sohn von dessen Schwester Berta und des Herzogs Milo von Ancleris (bzw. de Angulariis, s. o.). Milo stirbt hier zeitlich vor seinem Sohn Roland in einer Schlacht gegen .20 In der Oxford‐Ausgabe des Rolandliedes kommt Milo zusammen mit seinem Cou‐ sin Tedbald von Reims nur als Ratgeber König Karls vor (Tedbald de Rens et Milun sun cusin)21 und er stirbt nicht früher als Roland, denn Karl erteilt ihm, dem Gra‐ fen (le cunte Milun) und Tedbald von Reims den Auftrag, das Schlachtfeld von

16 MOISAN, André, Le livre de Saint‐Jacques ou de Compostelle. Étude critique et littéraire, (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Age, Bd. 21), Genève 1992, S. 191, Anm. 6. 17 A.a.O., S. 32; 48f. 18 A.a.O., S. 56. 19 La Chanson, S. 18f. 20 A.a.O., S. 50f.; s. o. 21 La Chanson, S. 18f.

11 Roncevalles zu sichern22 und zusammen mit einem Gebwin und dem Markgrafen Otes die getöteten Roland, Oliver und Turpin auf drei Wagen zu betten und sie auf der Reise zu geleiten23. In einem weiteren epischen Gedicht, der „Entrée dʼEspagne, version primive“, neben „Girard de Vienne“ zeitlich vor dem Roland der Oxford‐Version angesie‐ delt, wird von Milos Tod in den Ardennen berichtet und zwar schon vor dem Spanienfeldzug.24 Die nordische „Karlamagnus saga“ platziert ihn an den Hof Karls d. Gr.25 In dem Zweikampf, der über das Schicksal des Verräters Ganelon und dessen 30 Ritter entscheidet, kämpft Pinabel für Ganelon gegen „Tirrich“ – so die deutsche Version des Rolandliedes.26 Roland soll Tirrich erzogen haben, aus dessen Sippe er stamme. Er sei sein nächstgeborener Verwandter. (Tirrich dar für trat. /ainer stille er bat. /er sprach: ʼRuolant hât mich gezogen. /ûzer sînem künne bin ich geboren. / ich bin sîn naehester geborn mâc.).27 Bei seinem Tod soll Roland 38 Jahre alt gewesen sein,28 demnach wäre er im Jah‐ re 740 geboren. Rolandslied und Pseudo‐Turpin stimmen bei der Schilderung der Rolle Rolands inhaltlich in den Grundzügen überein.29 Die Trilogie liegt beiden Erzählungen zu‐ grunde: Im ersten Teil wird er gerächt. Er wird als Held und Glaubensmärtyrer dargestellt, wobei der Pseudo‐Turpin in seinem zweiten Teil „eine teils verkürzte, teils amplifizierende Darstellung des Rolandstoffes“ in seinem Verhältnis zum Rolandslied bringt, amplifizierend hinsichtlich des religiösen Charakters. „Kreuz‐ zugsgedanke und das Märtyrertum der Glaubensstreiter“ werden „noch stärker hervorgehoben als dies bereits in der Chanson der Fall war.“30

22 A.a.O., S. 138f. 23 A.a.O., S. 166f. 24 MOISAN, a.a.O., S. 191, Anm. 6; 192, Anm. 18. 25 Ib. 26 Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hg. , übers. u. kommentiert von Dieter KARTSCHOKE, Stuttgart 1993, S. 590ff. 27 Anm. des Kommentators: Im Chanson de Roland „ist T i e r r i s ein Bruder des G e f r e i , von einer wie immer gearteten Beziehung zu Roland ist nicht die Rede.“ (A.a.O., S. 745). – Hier irrt sich der Kommentator, denn Dietrich wird hier als Bruder Gottfrieds, des Herzogs von Anjou, bezeichnet. (La Chanson, S. 210–213.) 28 Die Chronik, S. , 110f. (Sex qui lustra gerens octo bonus insuper annos). 29 Siehe Die Chronik, S. 12ff. – Was die Erzählung über das heroische Opfer Rolands in Roncevalles betrifft, hat der Pseudo‐Turpin eine Quelle benutzt, “ qui ne différait guere de la version dʼOxford“. (MOISAN, a.a.O., S. 176.). 30 Die Chronik, S. 12ff.

12 3 „Primär‐/Sekundärquellen“ und das Problem der Historizität Es kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass in den hier sogenann‐ ten „Sekundärquellen“ des 11.–13. Jahrhunderts Sublimate einer Historizität Ro‐ lands und seines räumlichen und sozialen Umfeldes enthalten sind. Akzeptiert man die These Aebischers, Roland sei keine historische Person sondern ein My‐ thos, quasi ein Phantom,1 so wie auch Ganelon und Oliver „unhistorisch“ seien2 und fährt man auf dieser Schiene fort, bliebe der Historiographie lediglich die Vornahme einzelner Korrekturen oder Widerlegungen, die Negation, die Ermitt‐ lung chronologischer Rückprojektionen von Anachronismen – so diejenige von Personen3 oder die Feststellung, „dass Taten und Wunder des spanischen Königs Alfons VI. auf Karl /d. Gr./ projiziert worden sind“, da Karl „nie in Compostela gewesen“ sei wie in Teil 1 des Pseudo‐Turpin behauptet, und dass seine Spanien‐ kämpfe „kurz und nicht gerade rühmlich“ gewesen seien4 oder die Klarstellung historischer Realitäten um die Kampfesszene vor der Burg Vienne: Girart de Vienne lebte im 9. und nicht im 8. Jahrhundert, er war kein Zeitgenosse Karls d. Gr. sondern königlicher Statthalter Karls des Jungen für die Region um Vienne. Im Jahre 870 kam es zu einer Belagerung Viennes und Übergabe der Stadt durch Gi‐ rart. Es sei kein Zufall, wenn der erste bekannte Olivier in der Region Vienne auf‐ taucht (in einem historischen Dokument als Unterzeichner einer Charta der Abtei Savigny, Rhône, arr. Lyon, cant. LʼAbresle, in der Form S(ignum) Oliverii, ca. ao 1000.). Allerdings begegnet der Name Livier als Variante von Olivier bereits in der 2. Hälfte des 10. Jahrhunderts in Lothringen .5 So wird im Pseudo‐Turpin behauptet, Turpin hätte eine zeitlang in Vienne gelebt, wo er auch gestorben und begraben sei,6 aber „der historische Turpin /, Ebf. von Reims7/ ist nie in

1 S. o. S. 7, Anm. 1 2 Die Chronik, S. 147, Anm. 10. Klein stützt hier seine Aussage auf Forschungen Mandachs. 3 Klein hält für möglich, dass „der Name Ganelon, im Rectus Guenes, …vielleicht dem eines bösartigen Gefäng‐ niswärters im Leodegarlied (V.175) entnommen“ sei. (Die Chronik, S. 149, 40). – Ein Erzbischof von Sens na‐ mens Ganelon ist 845 bezeugt. (AUZIAS, Léonce, LʼAquitaine carolingienne /778–987/, Toulouse/Paris 1937, S. 234, Anm. 62.).In der „liste des personnages de qui sont des personnages historiques“ von Bédier wird unter Nr. 35 ein „Ganelon, peut être Wanilo, archevêque de Sens, † après 866“, geführt. (BÉDIER, Joseph, Les légendes épiques. Recherches sur la formation des Chansons de Geste, Bd. 4, Paris 1913, S. 349f. – Kommentar und Kritik S. 360f.). 4 KLEIN, S.12ff. (gemäß der These von A.de Mandach). 5 Hierzu: La Chanson de Geste et le mythe carolingien. Mélanges René LOUIS, Bd. 1, 1982, S. CXX. 6 KLEIN, S. 130–133. 7 „Benedictinermönch von St.Denis, wurde 773 (769) Erzbischof von Rheims u. st. 811. Unter seinem Namen wurde im 11. Jahrh. ein Roman, der die Thaten Karls d. Gr.enthielt, von einem Mönch gedichtet, der an der französisch‐span. Grenze wohnte, … Papst Calixtus II. erklärte 1122 den Roman Turpin als echt.“(PIERER, H.A. /Hg./, Universal‐Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit ..‐., Bd. 31, Altenburg 21844, S. 158; siehe auch

13 Vienne gewesen“.8 Milo, angeblich Vater Rolands, ist auch nicht in einem der an‐ geblich vier nach Compostella weisenden Vorläuferfeldzüge Karls d. Gr. gegen das maurische Spanien gefallen, denn es gab nur den einen Feldzug des Jahres 778.9 Als Neffe Karls d. Gr., Sohn von dessen Schwester Berta (Berthe), wird Ro‐ land in den Genealogien der Karolinger nicht geführt.10 Die ältere Forschung be‐ rücksichtigt nur Karls Schwester Gisela, weitere Schwestern Karls d. Gr. als Töch‐ ter aus der Ehe von Karls Vater Pippin d. J. mit Bertrada d. J. (Berta) werden mit Bertha, Rothaid und Adalhaid genannt.11 Es wird sogar behauptet, Roland sei aus einer inzestuösen Verbindung Karls d. Gr. mit dessen Schwester Gisela hervorge‐ gangen, was freilich schon aus chronologischen Gründen nicht ernsthaft in Be‐ tracht gezogen werden kann.12 Folgt man der Interpretationsrichtung von Rita Lejeune, damit auch nachfolgend der Frage nach den „Kontaktpersonen“, dem Lebensbereich bzw. Wirkungsraum eines historischen Rolands, muß an dem noch ausbaufähigen bzw. zu verbes‐ sernden Fundament der sogenannten „Primärquellen“ angesetzt werden, nach‐ folgend an dem vermeintlich schwächsten Glied einer Argumentationskette.

BAUER, Thomas, Turpin = Tilpin, in: Biographisch – Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 12, 1997, Sp. 727– 733.). – Vienne werde hier deshalb genannt, “weil Papst Calixtus II. vor seinem Papsttum (1119–1124) als Guido, Sohn des Grafen von Burgund, seit 1088 Erzbischof von Vienne war.“ (Die Chronik, S. 169, 1). 8 Die Chronik, S. 169, 1. 9 MOISAN, a.a.O., S. 166. 10 BÖHMER, J.F., Regesta Imperii, Bd. 1: Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751–918, Hildesheim 1966, „Stammtafel des karolingischen Hauses“; SCHIEFFER, Rudolf, Die Karolinger, Stuttgart/Berlin/Köln 21997, S. 245 (Stammtafel 2: Von Karl Martell zu Karl dem Großen). 11 Rothaid und Adelhaid sind in den ersten Kinderjahren gestorben.(HLAWITSCHKA, Eduard, Die Vorfahren Karls des Großen, in: BEUMANN, Helmut (Hg.), Persönlichkeit und Geschichte, (Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, Bd. 1), Düsseldorf 1965, S. 59. 12 TREFFER, Gerd, Die französischen Königinnen. Von Bertrada bis Marie‐Antoinette (8.‐18. Jahrhundert), Regensburg 1996, S. 23–29; HERM, Gerhard, Karl der Große, Düsseldorf/Wien/New York 1987, S. 123; 129; ILLIG, Heribert, Das erfundene Mittelalter. Die größte Zeitfälschung der Geschichte, Düsseldorf/München 1996, S. 50. – Gisela, geb. 757, Karl d. Gr., geb. 748.

14 4 Roland und die gefälschte Schenkungsurkunde Fulrads „La Légende de Roland et la fausse donation de Fulrad“ – unter diesem Titel ver‐ öffentlichte Rita Lejeune 1975 ihre Gegenposition gegen die Thesen Aebischers, der die Person Rolands für unhistorisch erklärt hatte.1 Fulrad († 784), Abt von Saint‐Denis, verfaßte in der Zeit zwischen Weihnachten 776 und März 777 sein Testament, in dem er seiner Abtei seinen bedeutenden Grundbesitz vermachte, gelegen im Gebiet der Saar, des Elsaß und Badens. Seine Schenkung wird dokumentiert durch zwei Originalexemplare des Testamentes (A + B) und einer von einem Mönch von Saint‐Denis Mitte des 9.Jahrhunderts ver‐ faßten Kopie (C). Daneben existiert ein anderes Dokument (D), das zunächst irr‐ tümlich für eine weitere Kopie des Testaments Fulrads gehalten wurde: Dieses Dokument bezeugt eine spezielle Schenkung des Abtes, diejenige der nahe Col‐ mar in der „prieuré de Saint‐Alexandre de Lièpvre“ (Leberau) gelegenen „villa“ Andolsheim an St. Denis.2 Dass es sich um eine in Saint‐Denis Ende des 9. oder Anfang des 10. Jahrhunderts angefertigte Fälschung handelt, wurde von Tangl nachgewiesen.3 Das Falsifikat enthält eine Zeugenliste, die bis auf eine Ausnahme identisch ist mit derjenigen des Testamentes,4 anstelle des Siegels eines R a u l c o n e c o m (i t i s) findet sich die Eintragung s i g n u m R o t l a n i c o m i t i s oberhalb und in unmittel‐ barer Nachbarschaft zum Monogramm Karls des Großen.5 Rita Lejeune bespricht die bis dahin vorgebrachten unbefriedigenden Hypothe‐ sen ihrer Historikerkollegen zu diesem Fälschungsakt und stellt anschließend ihr eigenes Verständnis der Quelle vor: Der naive Fälscher hätte wissentlich ein „ha‐ lo légendaire“ ausgebeutet, Widerhall eines historischen Roland, der zur Legende wurde. Am Anfang des 10. Jahrhunderts findet sich die Spur einer Rolandlegen‐ de, die mit derjenigen Karls d. Gr. vermengt wird. Die Autorin fügt flankierende Argumente hinzu, resultierend aus der Lage der villa Andolsheim im Priorat Leberau (Elsaß), wo sich eine mittelalterliche Roland‐ verehrung nachweisen läßt: Spätestens ab 1338 besaß die Klosterkirche ein Fens‐ ter mit Darstellungen Karls d. Gr. und Rolands und seines Compagnon Oliver. Eine Zeichnung des nicht mehr vorhandenen Kirchenfensters aus dem 16. Jahr‐ hundert weist auf nebeneinandergestellte Abbildungen Abt Fulrads (Fulradus

1 LEJEUNE, La Légende, S. 191–210. Die nachfolgenden Ausführungen nach LEJEUNE, a.a.O 2 S. o. S. 8 Anm. 10; Nachdr. in: Das Mittelalter in Quellenkunde und Diplomatik, Bd. 1, Graz 1966, S. 540–571. 3 S. o. Kap. 1, Anm. 10. 4 LEJEUNE, La Légende, a.a.O. 5 Abdruck bei MABILLON, Acta SS. III. 2., S. 341.

15 Abbas), Kaiser Karls (Carolus Imperator) und Rolands/Olivers (Rolandus.Oliverus) hin, worin die Autorin einen engen Konnex zum Testament Fulrads und der ge‐ fälschten Schenkung erblickt. Allen Interpreten, von Rita Lejeune bis Tangl, bleibt ein Vorwurf nicht erspart, dass sie die Vorgeschichte des Fulrad‐Testamentes nicht berücksichtigt haben, die sie hätten kennen können, ja sogar müssen und die zu neuen Erkenntnissen geführt hätte, auch was das Verhältnis zwischen Testament und Fälschung be‐ trifft. 1871 erschienen die „Jahrbücher des fränkischen Reiches unter König Pippin“, wo sich der wichtige Hinweis auf besagte Vorgeschichte findet:6 Am 23. September 768 bestätigte König Pippin dem Abt die Übertragung der im Elsaß und der Mortenau gelegenen Güter Widos, welche dieser einst an Fulrad übertragen und zum Teil als Precarie zurückempfangen hatte, „namentlich zum Schutze gegen den Einspruch der Erben Widos“: Der Abt hätte ihm, dem König, „in einer gefährlichen Krankheit…jene Güter Widos…für den Fall seines To‐ des…zur Vergabung an heilige Orte überlassen“. Namentlich werden „nur fol‐ gende sechs aus der Umgegend des heutigen Colmar angeführt: Guémar /Ghermari/, S. Hippolyte /Audaldovillare, Audalsweiler; wegen der von Fulrad hier erbauten, die Reliquien des h. Hippolyte…bergenden Zelle auch S. Hippolyte oder S. Bilt genannt /, Andolsheim/Ansulfishaim; auch ABEL (Karl der Große I, S. 223), entscheidet sich mit Schöpflin für Andolsheim, während Grandidier den Namen auf Enzheim bei Straßburg deutet /, Sundhofen /Suntof/, Grussen‐ heim/Grucinhaim/, Ribeauvillé/Ratbertovillare, deutsch Rappolsweiler/“; nach seiner Genesung waren sie ihm zu freier Verfügung wieder zurückerstattet wor‐ den. „Ueber diese Wiedererstattung zu vollem Besitz erbat sich Fulrad jetzt, künftiger Sicherheit wegen, namentlich zum Schutze gegen den Einspruch der Erben Widoʼs, eine schriliche Beglaubigung, und der König ertheilte sie ihm denn auch in jener vielleicht letzten Urkunde seines Lebens. Am folgenden Tage, dem 24. September 768, einem Samstag, starb König Pippin.“ Die Schenkung dieser in das Testament Fulrads aufgenommenen ehemaligen im Elsaß und der Mortenau gelegenen Güter Widos, zu denen auch die villa Andols‐ heim der Fälschungsurkunde gehört, ließ Fulrad wohlweislich gegen mögliche Ansprüche der Erben Widos durch eine königliche Rückübertragung absichern. Gegen die Autorität des Königs würden sich die Erben Widos mit ihren vor dem

6 OELSNER, Ludwig, Jahrbücher des fränkischen Reiches unter König Pippin, (Jahrbücher der Deutschen Geschichte), Berlin 1975 ( = Neudr. d. 1. Aufl. 1871), S. 423f. (Oelsner zitiert hier Sickel, UL. S. 151)

16 königlichen Hofgericht geltend gemachten Ansprüchen schwerlich durchsetzen können. Abt Fulrad hat seine Befürchtungen sicherlich zu recht geäußert, Widos Erben klagten ihr Recht ein. Die Mitte des 9. Jahrhunderts angefertigte Kopie des Tes‐ tamentes und die in Saint‐Denis Ende des 9./Anfang des 10. Jahrhunderts ange‐ fertigte Fälschung sind in diesen Zusammenhang einzuordnen – übrig blieb am Ende nur noch der Anspruch auf einen Einzelkomplex, auf die villa Andolsheim. Es ist davon auszugehen, dass über alle anderen Güter vorher bereits entschie‐ den worden war, dass die jetzige Fälschung gezielt eingesetzt worden ist, um den letzten noch anstehenden Anspruch zu entkräften. Hier geht es um die nochmalige Bestätigung einer Jahre zurückliegenden Schen‐ kung Widos, jetzt auch durch Karl d. Gr. und einer besonderen neu in die vom Testament her bekannte Zeugenliste aufgenommenen Person: Rolands, der hier anstelle des „Raulcone comitis“ erscheint. Saint‐Denis hat seine Fälschung ca. in den Anfang des Jahres 777 verlegt,7 sodass formal Vereinbarkeit mit den Lebens‐ daten Rolands und der Aufnahme der Schenkung in das noch im selben Jahr ver‐ faßte Testament Fulrads hergestellt war. Roland konnte Mitte und Ende des 9. Jahrhunderts noch nicht die Heldengestalt der Spielmannslieder des 11./12. Jahrhunderts sein. In dem von den Widonen angestrengten Prozeß wurde nicht gegen sie mit dem nicht justiziablen Mythos einer Person argumentiert! 120 Jahre nach Rolands Tod lebte noch die Erinne‐ rung an ihn als einer realen historischen Persönlichkeit! Seine Aufnahme in ein gegen die Kläger verwendetes Prozeßdokument muß daher speziell für die Sippe der Widonen eine besondere Bedeutung zugefallen, muß deren Argumenten entgegengestellt worden sein, sie entkräftet haben. Man mag darüberhinaus vermuten, dass der Nähe des Namens Rolands zum Monogramm Karls d. Gr. eine besondere Bedeutung zukommt. Es mag auf den ersten Blick verwundern, dass sich ein Prozeß seit ca. 777 bis ca. Ende des 9. Jahrhunderts hingeschleppt haben kann, aber wir kennen einen Pa‐ rallelfall, in den wiederum die Widonen verwickelt sind: Im Jahre 782 hielt sich Karl d. Gr. in Diedenhofen auf und fällte hier in seinem Hofgericht ein Urteil gegen die Ansprüche der Söhne eines Lantbert – Wido, Hrodold und Warnar – auf das Kloster Mettlach und zugunsten der Trierer Kirche.8

7 Dez. 76–März 77 (ABEL, Sigurd, Jahrbücher der Deutschen Geschichte), Berlin 1969 (= Neudr. d. 2. Aufl. 1888), S. 265f. 8 Hierzu und zum Folgenden siehe ANTON, Hans Hubert, Liutwin–Bischof von Trier und Gründer von Mettlach († um 722), in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend, Jg.38/39, 1990/91, S. 33; RAACH, Theo, Kloster Mettlach/Saar und sein Grundbesitz, (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte,

17 Dieses Urteil hatte seine Vorgeschichte und auch ein Nachspiel. Die Aussagen der Zeugen (testes Moslinenses, Schöffen der Mosellande) erhellen diese Vorgeschichte, die bis zur Gründung des Klosters durch Herzog Liutwin, dem späteren Bischof von Trier und Vorgänger seines Sohnes Milo, hinaufreicht. Liutwin (ca. 665–720/3), der „genitor Miloni et Widoni“, hätte das auf seinem Grund und Boden gegründete Kloster der Trierer Kirche, d. h. dem Bistum, ge‐ schenkt, dann Karl Martell (688/91–741) dem Bischof Milo (ca. 687–761/2?) und dessen Nachfolger Hartham als Lehen übergeben – offenbar war es zuvor von ihm säkularisiert worden. Gleiches vollzieht Karl Martells Nachfolger Pippin (714– 768), Vater Karls d. Gr.9 „Dagegen behaupteten die Söhne Lantberts das Kloster von ihrem Vater als Allod erhalten zu haben“10 – die Agenten der Trierer Kirche stellen dies so dar, als ob deren Vater Lambert das Kloster mit Gewalt König Pip‐ pin entrissen und so den Bischof beraubt hätte.11 Die weiteren Stationen der sich nach 782 fortsetzenden Rechtsstreitigkeiten um die Zugehörigkeit des Klosters finden sich bei Anton und Raach aufgelistet: 840/842 VIII 29 (Lothar I.), 884 VI 9 (Karl III.), 888 X 22 (Arnolf von Kärnten).12 In der Tat zog sich dieser Rechtsstreit um das Kloster Mettlach genau wie derje‐ nige um die Güterschenkung Widos an Abt Fulrad von Saint‐Denis bis zum Ende des 9. Jahrhunderts hin, als „die Familie der Widonen – in Italien auf dem Kaiser‐ thron etabliert – des kleinen Saarklosters wohl kaum noch bedurfte“13 und, wie nun hinzuzufügen ist, auch wohl kaum noch der im Elsaß gelegenen „villa An‐ dolsheim“. Jedoch 888 erfolgte der letzte Vorstoß der Widonen in ihrem Erbschaftsstreit. 840 erhob Herzog Wido von Spoleto, Sohn des Grafen Lambert von Nantes, der mit Kaiser Lothar I. 834 nach Italien gezogen war und dort 837 verstarb, Rechts‐ ansprüche auf verlorene Besitztümer in den fränkischen Stammlanden, als er mit

Bd. 19), Mainz 1974, S. 22; HAHN, Heinrich, Jahrbücher des fränkischen Reichs 741–752, (Jahrbücher der Deutschen Geschichte), Berlin 1975 ( = Neudr. d. 1.Aufl. 1863), S.187;ABEL, Sigurd, Jahrbücher des fränkischen Reiches unter Karl dem Großen, Bd. 1: 768–788, Berlin 1969 (= Neudr. d. 2.Aufl. 1888), S. 435– 438. 9 „… testes Moslinenses, qui detulerunt nobis [i.e. Karl d. Gr.] eo, quod res proprietatis nostrae idem monasterium–Medolago, quod avus noster Karolus quondam major domus Miloni beneficiaverat et postea domnus et genitor noster Pippinus quondam rex ipsius Miloni benefuisset et post discessum Miloni Harthamo episcopo …“, zit. n.: HAHN, S. 187, Anm. 6. 10 ABEL, S. 436. 11 „Agentes S. Petri – dicebant, quod Lambertus genitor eorum per fortia potestate P.regis malo ordine ipsum monasterium evasisset, Hartbanium episcopum exinde exspoliavisset.“, zit. n.: HAHN, S. 187, Anm. 8. 12 ANTON, mit den zugeordneten Belegen; desgleichen RAACH, S. 25f. mit Anm. 21. 13 RAACH, a.a.O.

18 Kaiser Lothar I. 840 in die Saar‐Maas‐Moselgegend zurückkam, die er zunächst auch „zugestanden erhielt, auf die er aber dann zugunsten der Trierer Kirche ver‐ zichten mußte.“ „Erzbischof Hetti von Trier war es 842–844 gelungen, von Lothar I. eine Besitzbestätigung des Klosters Mettlach zu erhalten. Aus dem Kontext geht hervor, dass Lothar I. in einer gewissen Notlage ʼc u i d a m e x proceri‐ bus nostris Vuitoni Spolitanorum duciʼ das Kloster Mettlach aus dem Besitz der ʼe c c l e s i a s . P e t r i T r e v e r e n s i s ʼ zugeteilt hat; ferner heißt es vom dux Spolitanorum: ʼc u i u s o r i g o a d p r e f a t a m e c c l e s i ‐ am (= s. Petri Trev.) propter dei amorem memoratum con‐ t u l i t m o n a s t e r i u m ʼ. Es kann sich hierbei nur um die Schenkung Mettlachs an Trier durch Liutwin handeln, der mithin als ʼorigoʼ des Wido bezeichnet wird.“14 884 wird dem Trierer Erzbischof der Besitz der Abtei Mettlach bestätigt und er‐ neut 888. „… dies ist, wie Heinrich Büttner sicherlich richtig vermutet, genau die Zeit, als wiederum ein Widone aus der italienischen Linie versuchte, von Langres aus das Königtum zu erwerben, ein Versuch, der scheiterte und 888 mit der Rückkehr nach Italien … ohne dauende Wirkung blieb“ – „Wido von Spoleto hatte gehofft, mit Hilfe seines Verwandten, des Erzbischofs Fulco von Reims, seine Plä‐ ne zu verwirklichen …“15 Wer war nun jener 768 angesprochene Wido, dessen Schenkung an Saint‐Denis von seinen Erben angefochten wurde und warum setzte Saint‐Denis deren An‐ spruch auf die villa Andolsheim ausgerechnet die Person Rolands in einer eigens hierfür angefertigten Fälschung entgegen? Eine genealogische Übersicht auf der Grundlage der Forschungen Ewigs,16 Baldesʼ und Raachs17 sowie Hlawitschkas18 könnte erste Erkenntnisse vermitteln.

14 RAACH, S. 25f. – Lothar I. übergab das Kloster seinem Getreuen Wido „propter arduam et strictam regni nostri partem“ (A.a.O., S.22; EWIG, Eugen, Das Trierer Land im Merowinger‐ und Karolingerreich, in: LAUFNER, Richard ( Hg.), Geschichte des Trierer Landes, Bd. 1, Trier 1964, S.280f.). 15 RAACH, S. 26 mit Anm. 21. 16 EWIG, S. 259f. 17 RAACH, S. 26–36, der hier von den Genealogieverbindungen bei BALDES ausgeht. 18 HLAWITSCHKA, E., Widonen, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 9, München 1998, Sp. 72ff.

19 Gerwin (1) oo Gunza (2) ::: Liutwin (3) ::: ______: : : : ___Milo (4) ______Wido I. (5) ______:: :: :: :: : : :: :: :: :: : : Milo von Soissons(6) Lantbert (7) [N.N.(8)] Lantbert (7) Werinhar Adalhard (10) (Warnar) (9) ::: ::: ::: ::: ::: (17)/(18)/(19) ______Wido II. (11) Hrodold (12) Warnar (13) Wido II. Hrodold (12) Warnar(13) ::: :: ::: :: Lambert I. Wido (21) Lambert I. Wido (21) (von Nantes) (20) (von Nantes) (20) ::: ::: ::: ::: ______> < (Alternative) Heimo (25)/ Warnar (26)/ Lambert II./ Wido (22) v.Nantes (oo Rotrud,To. Ks.Lothars I.) gesichert: wahrscheinlich: vermutet: ::: :: :

(1) senatoriae dignitatis, regiique generis

(2) Schwester des 705 verst. Basin, Bischofs von Trier

(3) zuerst dux, dann Bischof von Trier (ca. 705–722/23), Gründer des Klosters Mettlach

(4) Bischof von Trier und Reims (713/15–vor 762 VIII 13, Bf. seit 722/23), Oppo‐ nent des Hl. Bonifatius, Helfer Pippins d. M. und Karl Martells

(5) Graf, wahrscheinlich identisch mit dem Laienabt Wido von St. Wandrille (Fon‐ tanella) und St. Vaast in Arras, „propinquus“ von Karl Martell, zunächst Helfer

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