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Erinnerung an Das Ethische Alois Mertes in der Politik

Jürgen Aretz

In nicht geringerer Weise als andere Poli- selige Nationalismen sind den Menschen tikfelder bedarf auch die Außenpolitik ei- dieser Region fremd. Mertes hat wieder- ner ethischen Fundierung. Ein eindrucks- holt und mit Stolz festgestellt, dass das voller Beleg für diese Feststellung ist der Rheinland und seine eifelländische Hei- dramatische Wandel, der um 1990 die po- mat sich als besonders immun gegen den litische Landkarte über Europa hinaus Totalitätsanspruch der Nationalsozialis- verändert hat. Im Westen Deutschlands ten und ihren Rassenwahn erwiesen hat- war dieser Entwicklung eine Phase vor- ten. Seinem nationalsozialistischen Biolo- ausgegangen, in der das Handeln wichti- gielehrer und dessen These von der Über- ger Teile der politischen Klasse von Belie- legenheit der germanischen Rasse hielt bigkeit und Desorientierung bestimmt der Gymnasiast Mertes offen entgegen, war; gegenüber dem Schicksal der Men- dass im Rheinland bereits Juden wohn- schen, die über die politischen und mate- ten, lange bevor die Germanen dort sie- riellen Selbstverwirklichungsmöglichkei- delten. ten des Westens nicht verfügten, zeigte Nach dem humanistischen Abitur zur man ein unbeschwertes Desinteresse. Wehrmacht einberufen, geriet der junge Der Ost-West-Konflikt konnte freilich Leutnant bei Kriegsende in amerikani- erst überwunden werden und die Selbst- sche Gefangenschaft. Als Deutschland, befreiung der Völker des ehemaligen wie er es später formulierte, „ein physi- „Ostblocks“ war erst möglich, als die west- scher und moralischer Trümmerhaufen“ lichen Demokratien sich ihrer Grundla- war, bildeten christlicher Glaube und hu- gen besannen und wieder bereit waren, manistische Bildung ein geistiges Funda- für sie einzustehen. Diese Selbstbesin- ment, das noch kurz zuvor als rückstän- nung war zugleich Voraussetzung für eine dig gegolten hatte und das ihm und vie- neue und zukunftsfähige Europapolitik. len seiner Generation jetzt Zuversicht und Weisung in einer Zeit der Hoff- Ein Wegbereiter nungslosigkeit bot. Alois Mertes, einer der herausragenden Mertes arbeitete nach Kriegsende als Politiker der CDU/CSU-Bundestagsfrak- Dolmetscher für den französischen Kom- tion in den siebziger und achtziger Jah- mandanten in seinem Landkreis, wurde ren, gehörte zu den Wegbereitern dieser aber entlassen, weil er Übergriffe der Be- Politik. Er wäre am 29. Oktober 2001 acht- satzungsmacht kritisiert hatte. Seiner zig Jahre alt geworden. grundsätzlich positiven Einstellung ge- Mertes stammte aus dem Grenzgebiet genüber dem westlichen Nachbarn hat zu Luxemburg und Lothringen, mithin ei- diese schlechte Behandlung keinen Ab- nem europäischen Kerngebiet, das auf bruch getan. Er studierte an der Univer- eine mehr als 1500-jährige sehr bewusst sität Romanistik und Geschichte, christliche Tradition zurückblickt. Feind- besuchte bereits 1949/50 die Sorbonne in

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Paris und wurde wenig später mit einer Als Mertes von Paris nach Moskau Arbeit promoviert, in der er die französi- wechselte, stand Deutschland unter dem sche Haltung gegenüber dem nationalen Schock des Mauerbaus vom 13. August Einheitsstreben in Deutschland im neun- 1961. Hinter den Kulissen aber begannen zehnten Jahrhundert untersuchte – ein unter Bundeskanzler und Thema, das über die historische Fra- Außenminister Gerhard Schröder vor- gestellung hinaus aktuelle Bedeutung ge- sichtige Versuche, die Beziehungen zu wonnen hatte. den Staaten Osteuropas zu verbessern. Europa als Brücke Realismus gegenüber Für Mertes bildeten die grenzüberschrei- der Sowjetunion tende Annäherung auf christlicher Mertes, der sich auf seine Moskauer Auf- Grundlage und der Gedanke an das ver- gabe sorgfältig vorbereitet hatte, trat für einte Europa eine tragfähige Brücke zwi- einen offenen Dialog ein, war aber kein schen den Völkern. Zu dem geistigen Um- Freund politisch-rhetorischer Beliebig- feld, das ihn und seine Studentengenera- keit. Er hat das Sowjetsystem und seine tion prägte, gehörten die akademischen Strategie nüchtern eingeschätzt und ist il- Lehrer Robert Curtius und Franz Stein- lusionären Auffassungen deutlich entge- bach, es gab Verbindungen zu Romano gengetreten. Von Moskauer Seite begeg- Guardini und Walter Dirks, mit dem er nete man ihm mit Misstrauen, und nach- wenig später in der Wiederbewaffnungs- dem die Bundesregierung einen sowjeti- frage nicht übereinstimmen konnte, es be- schen Diplomaten der Spionage über- gann die Freundschaft mit Joseph Rovan. führt und zur Persona non grata erklärt Nach Abschluss seiner Studien trat hatte, musste Mertes als Retourkutsche Alois Mertes 1952 in das Auswärtige Moskau verlassen. Die regierungsnahe Amt ein. Dort erlebte er die Hochphase Tageszeitung Iswestija titulierte ihn hass- des Kalten Krieges und die folgende Ent- erfüllt als „Jesuit in Diplomatenuniform“, spannungspolitik – entscheidende Pha- was Mertes gewiss nicht als ehrenrührig sen deutscher und internationaler Nach- empfand. kriegspolitik. Als Diplomat an der deut- Mertes hat stets unterschieden zwi- schen Botschaft in Paris wurde er Zeuge schen dem kommunistischen Regime einer der dramatischsten Phasen der und den Völkern der Sowjetunion, im Be- jüngeren Geschichte Frankreichs – der sonderen dem russischen Volk, zu dessen Krise des nationalen Selbstverständnis- Kultur und historischem Schicksal er per- ses, des innenpolitischen Umbruches und sönlichen Zugang fand. Lew Kopelew, erschütterter internationaler Bedeutung: der aus seinem eigenen Vaterland ausge- Frankreichs Rückzug aus den Kolonien, wiesene russische Germanist und Schrift- die Algerien-Krise (1960–62) und die An- steller, wurde einer seiner engsten Ge- fänge der V. Republik. Es war auch die sprächspartner. Zeit der von den Sowjets provozierten Mertes’ zunächst letzte Station im Aus- Krisen in Berlin (1958), des Mauerbaus wärtigen Amt war die Leitung des Refe- (1961) und schließlich Kubas (1962). rates „Europäische Sicherheit und regio- Diesen Krisenerfahrungen stand ein nale Abrüstung“. Dem ostpolitischen positives Erlebnis von epochaler Bedeu- Kurswechsel der sozial-liberalen Bundes- tung gegenüber – die Unterzeichnung des regierung Brandt/Scheel, die im Herbst Elysée-Vertrages durch Staatspräsident 1969 die Regierung Kiesinger abgelöst Charles de Gaulle und Bundeskanzler hatte, stand Mertes skeptisch gegenüber, Konrad Adenauer. ohne dass er seine Loyalitätspflichten je

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Alois Mertes, 1921–1985 Foto: ACDP

vernachlässigt hätte. Für ihn waren klare einander. Von regierungsnaher Seite Begrifflichkeit und die Wahrung von suchte man ihm – letztlich vergeblich – Rechtspositionen allerdings kein „For- den Ruf eines rückwärts gewandten „Kal- melkram“, wie es auf Regierungsebene ten Kriegers“ anzuhängen. Die Parallele hieß, sondern Voraussetzung einer über zu der früheren Bewertung durch die den Tag hinausreichenden verantwor- sowjetischen Stellen war verblüffend. tungsbewussten und tatsächlichen Frie- Dabei mag auch eine Rolle gespielt ha- denspolitik. Die Preisgabe von Interessen ben, dass Mertes die damals unter deut- und Rechtspositionen nutzten nach sei- schen Sozialdemokraten und in den Me- ner Überzeugung der Glaubwürdigkeit dien aufkommende Äquidistanz zu den Deutschlands im Ausland nicht. Viel- USA und zur Sowjetunion ablehnte, die mehr schien ihm Berechenbarkeit die bes- mittelbar auch in der Gleichsetzung der sere Garantie für ein friedliches Neben- Ostpolitik Brandts und der Westpolitik

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Adenauers zum Ausdruck kam. Es war nicht aber auf ein unkritisch-sprachloses vor diesem Hintergrund folgerichtig, dass Einschwenken und Einlenken. er den Weg in die aktive Politik suchte. Schon in seiner ersten Legislaturperi- Zunächst wurde er unter dem Minister- ode übernahm er wichtige Aufgaben, so präsidenten Staatssekretär als Mitglied des Auswärtigen und des und Bevollmächtigter des Landes Rhein- Innerdeutschen Ausschusses sowie des land-Pfalz beim Bund. So konnte er über Unterausschusses für Abrüstung und den Bundesrat offen und aktiv zu außen- Rüstungskontrolle; faktisch wurde der politischen Fragen Stellung nehmen. engagierte und wirkungsvoll auftretende Debattenredner außenpolitischer Spre- Die Ostverträge cher der Fraktion. Seine Skepsis gegenüber der neuen Ost- Der praktizierende Katholik Mertes sah politik verstärkte sich, als im Frühjahr sich deutschland- wie kirchenpolitisch ge- 1972 deutlich wurde, dass zwischen der fordert, als der Heilige Stuhl unter Papst deutschen und der sowjetischen Interpre- Paul VI. eine neue Ostpolitik entwickelte tation der Ostverträge eine gefährliche und in diesem Zusammenhang die deut- Diskrepanz bestand. Erschwert wurde schen Bistumsgrenzen infrage stellte. die Lage dadurch, dass sich als Mertes wandte sich auch im Gespräch mit Verhandlungsführer der Regierung lange deutschen Bischöfen nachdrücklich gegen weigerte, der Opposition vollständigen diese Politik: Die alten Diözesangrenzen, Einblick in die Verhandlungsunterlagen die im doppelten Sinne über die inner- zu gewähren. Mertes hat dann im Hin- deutsche Grenze hinweggingen, bildeten tergrund wichtigen, mitentscheidenden eine der letzten formalen Klammern zwi- Anteil daran gehabt, dass die CDU/CSU- schen den beiden Staaten in Deutschland. Opposition im Deutschen den Nicht zuletzt im Zusammenspiel mit „Brief zur Deutschen Einheit“ vom 12. Heinrich Krone trug Alois Mertes dazu August 1970 und die „Gemeinsame Ent- bei, dass die kurzsichtig angelegten und schließung des Deutschen Bundestages“ daher im Prinzip ganz unrömischen Vor- vom 17. Mai 1972 erreicht und durchge- stellungen aufgegeben wurden. setzt hat, dass sie nicht nur deklaratori- Mertes hatte in der Debatte über die schen Charakter hatten, sondern völker- Ostverträge stets klar Position bezogen; rechtliche Anerkennung fanden. So – und nach ihrer Ratifizierung galt für ihn wie nur so – konnte die deutsche Frage recht- für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion lich offen gehalten werden. Für die politi- der Grundsatz pacta sunt servanda, eine sche Offenhaltung hat Mertes engagiert Formel, die nach der Ablösung Brandts wie wenige bis zu seinem Tod innen- und durch 1974 von der außenpolitisch gestritten. staatspolitischen Selbstverständlichkeit zur Grundlage größerer Gemeinsamkei- Kritische Loyalität ten weiterentwickelt werden konnte. Im Herbst 1972 wurde Mertes in den Deutschen Bundestag gewählt. Als „Sei- Mertes und Genscher teneinsteiger“ verfügte er nicht über eine Seit 1976/77 traf sich Mertes mit Außen- Hausmacht, musste sich vielmehr seine minister Hans-Dietrich Genscher in pri- Stellung in der Fraktion durchaus mühe- vater Umgebung. Mertes hielt den FDP- voll erarbeiten. Andererseits konnte er so Politiker in der Deutschlandfrage für „be- einen hohen Grad persönlicher Unabhän- tont verfassungstreu“. Umgekehrt war gigkeit wahren: Auf seine Loyalität durfte Mertes für Genscher ein vertrauenswür- in Fraktion und Partei gerechnet werden, diger und – hinsichtlich des Stellenwertes

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der Gespräche entscheidend – in seiner Oktober 1982 als Staatsminister in das Partei deutschland- und außenpolitisch Auswärtige Amt zurück. Trotz guter per- einflussreicher Politiker. Behutsam such- sönlicher Kontakte zu Genscher, der Au- ten beide, einen ost- und deutschlandpo- ßenminister blieb, verfügte Mertes nur litischen Konsens zwischen CDU/CSU über sehr begrenzte Entscheidungsmög- und FDP wieder zu finden – Vorausset- lichkeiten und hatte kaum Zugriff auf die zung für weiter gehende politische Über- personellen Ressourcen seines Hauses. Er legungen. suchte diese Nachteile durch die vielfälti- Mertes ließ sich von dem Grundsatz gen persönlichen Kontakte und Bezie- leiten, dass die Grenzen des Deutschen hungen zu kompensieren, die er seit Jahr- Reiches von 1937 völkerrechtlicher Aus- zehnten auch international aufgebaut gangspunkt deutscher Ostpolitik sein und gepflegt hatte. mussten, aber angesichts der Nachkriegs- realitäten nicht das Ziel deutscher Ostpo- Überwindung litik sein konnten. Diesen Gedankengang des Systems von Jalta stellte er in einen größeren menschen- Mertes verfolgte eine außenpolitische Li- rechtlichen und europapolitischen Zu- nie, die er – sicher auch unter Koalitions- sammenhang. Von ihm stammt die For- gesichtspunkten – auf die Formel „Kon- mel vom unauflöslichen „Wertedrei- tinuität und Wandel“ brachte. Die Offen- klang“ von freiheitlicher Rechtsstaatlich- haltung der deutschen Frage und das keit, nationaler Einheit und europäischer Ziel der Überwindung des Systems von Gemeinschaft. Jalta machten zugleich den qualitativen Angesichts wachsender sachlicher und Unterschied zu den außenpolitischen interner Probleme der sozial-liberalen Vorstellungen der deutschen Sozialde- Koalition entwickelte die CDU/CSU eine mokratie klar. Deren politische Kanoni- Strategie, die einerseits die Regierungs- sierung des Status quo fand in der be- unfähigkeit der SPD belegen und ande- wussten Ignorierung der osteuropäi- rerseits der FDP vermitteln sollte, dass die schen Bürgerrechtsbewegungen – im Be- Union Partner eines „neuen Anfangs“ sonderen der polnischen Gewerkschafts- auch in der Regierungsverantwortung bewegung Solidarno´s´c durch die Regie- sein konnte. Schwer wiegende Haushalts- rung Schmidt – ihren sichtbaren und be- probleme, steigende Arbeitslosigkeit und schämenden, vor allem aber kurzsich- hohe Inflationsrate waren in beziehungs- tigen Ausdruck. Mertes widersprach, weise von der sozial-liberalen Koalition weil er die künftige Entwicklung im nicht mehr zu bewältigen. Die Auseinan- sowjetischen Herrschaftsbereich anders dersetzung kulminierte schließlich im beurteilte und die Politik der Vorgän- Streit um den NATO-Doppelbeschluss. gerregierung auch seiner persönlichen Bundeskanzler Schmidt hatte diesen Be- Grundüberzeugung entgegengestanden schluss 1979 als Reaktion auf die unpro- hatte: Für ihn galt – ausgehend vom vozierte sowjetische Hochrüstung per- christlichen Menschenbild, auf das er sönlich initiiert. Die SPD stellte sich in ih- sich immer wieder bezog –, dass der rer ganz überwiegenden Mehrheit gegen Mensch zur Freiheit bestimmt sei. diesen für die weitere außenpolitische Ihren sichtbarsten Ausdruck und ihren Entwicklung in Europa mitentscheiden- Höhepunkt fanden die Unterschiede im den Beschluss und damit gegen den eige- Besonderen zwischen Union und SPD in nen Kanzler. der Auseinandersetzung um den NATO- Nach der Wahl Helmut Kohls zum Doppelbeschluss, die sich nach dem Re- Bundeskanzler kehrte Alois Mertes im gierungsverlust der SPD 1982 noch ver-

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schärfte. Vordergründig ging es um die Tod schrieb Böll an seine Witwe Hiltrud Reaktion der NATO auf die sowjetische Mertes, ihr Mann sei „einer der wenigen, Hochrüstung, tatsächlich stand die wenn nicht der einzige Politiker einer Par- NATO vor der Frage, ob das Bündnis tei (gewesen), mit dem ich reden konnte überhaupt noch die Kraft besaß, so Mer- und noch hätte reden können“. tes, dem „Risiko einer schleichenden po- Für Mertes war es eine Frage der christ- litischen Selbstunterwerfung“ entgegen- lichen Moral wie der politischen Klugheit, zutreten. sich um Glaubwürdigkeit zu bemühen Nicht in den Waffen sah Mertes die Ur- und das menschliche Miteinander auch in sachen von Spannungen – sie waren für härtesten Auseinandersetzungen mit dem ihn nur Symptome eines tieferen Konflik- politischen Gegner zu wahren. Aus seiner tes. Für ihn setzte wirkliche Abrüstung tiefen Religiosität hat er kein Hehl ge- den politischen Wandel voraus. Mertes macht, er hat sie aber auch nicht demon- teilte diese Position auf unterschiedliche strativ nach außen getragen. Vor dem Hin- Weise mit Ronald Reagan und Václav tergrund der nationalsozialistischen Zeit Havel (Timothy Garton Ash). Demokrati- und in dem Wissen um die Wurzeln des scher Wandel aber war zu dieser Zeit christlichen Glaubens galt sein besonde- noch kein Thema auf sowjetischer Seite. res Interesse dem jüdischen Glauben und Mertes sah weder Anlass noch Möglich- dem jüdischen Schicksal. Im Zusammen- keit, seine Einschätzung der sowjetischen hang mit dem Besuch des amerikanischen Strategie zu revidieren. Präsidenten Ronald Reagan in der Bun- Der Friedensbewegung rief er im desrepublik spielten Mertes’ Beziehungen Deutschen Bundestag zu, „Freiheit und gerade zum amerikanischen Judentum Friede“ seien für ihn „ein untrennbar noch eine besondere Rolle. Ganzes, auch moralisch“. Er hielt ihr sei- ne eigenen Kriegserfahrungen entgegen Kontakte zu jüdischen und das Schicksal der eigenen Söhne, die Amerikanern im Kriegsfall als Reservisten der Bundes- Der Reiseplan sah vor, dass der amerika- wehr sofort einberufen würden, und nische Präsident durch einen gemeinsa- schloss die Frage an: „Was gibt Ihnen ei- men Besuch mit Bundeskanzler Kohl auf gentlich das Recht, sich eine größere Sen- einem deutschen Soldatenfriedhof vier- sibilität für den Frieden zuzusprechen als zig Jahre nach Kriegsende ein demonstra- mir?“ tives Zeichen der Versöhnung setzen sollte. Besonders in den USA entstand ei- Friedensbewegung ne heftige Kontroverse, die noch eska- Die grundsätzliche ethische Argumen- lierte, als sich herausstellte, dass auf dem tation, aber auch die erkennbare persön- vorgesehenen Friedhof in auch liche Betroffenheit machten Mertes zu einige Angehörige der Waffen-SS beige- einem der wenigen Befürworter des setzt waren. NATO-Doppelbeschlusses, denen zu- Mertes flog nach New York und hielt mindest von Teilen der Friedensbewe- wenige Tage vor dem Präsidenten-Besuch gung persönliche Glaubwürdigkeit zuer- bei der Jahresversammlung des American kannt wurde. Eine Äußerung von Hein- Jewish Committee eine viel beachtete rich Böll macht dies deutlich: Beide hatten Rede. Er sprach von der „Ruchlosigkeit sich nachdrücklich für osteuropäische der nationalsozialistischen Diktatur“, die Dissidenten eingesetzt, vertraten aber in Deutschlands Namen „mit dem plan- der Nachrüstungsdebatte entschieden mäßigen Völkermord“ belastet habe, dem gegensätzliche Positionen. Nach Mertes’ „Genozid“ am jüdischen Volk. Er fügte

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aber auch offen – und für jüdisch-ameri- liche Präzision und sein disziplinierter kanische Zuhörer nicht selbstverständlich Fleiß machten Mertes zu einer von den – hinzu, dass Hitler „unser eigenes Volk politischen Freunden geschätzten und missbraucht“ habe, ganz besonders die von den Gegnern respektierten Persön- „Loyalität des deutschen Soldaten gegen- lichkeit. Politische Beliebigkeit, fragwür- über seinem Vaterland“. Unter Berufung dige Argumentationen und unscharfe Be- auf Arthur Burns, den US-Botschafter in griffe forderten seinen Widerspruch her- Bonn, der zur jüdischen Gemeinschaft sei- aus. Eine „Sicherheitspartnerschaft mit ner Nation gehörte, mahnte er ebenso die der Sowjetunion“ etwa, wie sie Egon Bahr Pflicht an, „auch all des Großen und Guten apostrophierte, belegte für ihn einen ho- zu gedenken, das unser Volk der Mensch- hen Grad an intellektueller und ethischer heit gegeben hat“. Nach den Verbrechen Fragwürdigkeit. des Nationalsozialismus sei der deutsche Partnerschaft konnte es für ihn nur Patriotismus „nicht mehr zu trennen von zwischen frei gewählten Regierungen der Treue zu den Menschenrechten und freier Völker, nicht aber mit totalitären zur Demokratie“. Mertes schloss, seine Regimes geben. Für alle Zeit musste aus gläubigen Eltern und sein verstorbener äl- der Sicht von Alois Mertes klar sein, dass terer Bruder, der katholischer Priester ge- die Bundesrepublik Deutschland un- wesen sei, hätten ihn „gelehrt, Ehrfurcht zweideutig ein demokratischer Staat zu haben vor jüdischer Frömmigkeit und westlicher Prägung ist. Die außenpoliti- jüdischer Gesetzestreue“. sche Doktrin des freien Deutschland Es war eine große, schwierige und si- konnte nicht eine imaginäre politische cher eine der wichtigsten Reden, die Mer- Mittlerrolle zwischen West und Ost sein, tes gehalten hat. Das Echo in den USA hat sondern nur die Integration in den Wes- weit über den aktuellen Anlass hinaus ten, die Verbindung mit dem freien Eu- Wirkung gezeigt. Ein Beispiel dafür ist ropa und das Bündnis mit den Vereinig- die Alois Mertes Memorial Lecture, die ten Staaten. Auf dieser Basis konnte und das American Jewish Committee in Zu- musste für Alois Mertes die Verständi- sammenarbeit mit der Konrad-Ade- gung mit den östlichen Nachbarn gelin- nauer-Stiftung veranstaltet. gen. Wenige Wochen nach seiner New Yor- Seine persönliche Unabhängigkeit in ker Rede ist Alois Mertes am 16. Juni 1985 Fraktion und Partei erlaubte es ihm stär- an den Folgen eines Schlaganfalles ge- ker als anderen, die Bedeutung des „Ethi- storben. Sein letzter Vortrag, den er beim schen“ in der Politik zu betonen. Idealis- Bund der Vertriebenen hielt, galt einer mus war für ihn kein zwangsläufiger Ge- politischen Aufgabe, von deren friedli- gensatz zu politischem Realismus: Die in cher Lösung er überzeugt war, deren Er- seiner Zeit – übrigens auch in der eigenen füllung er aber nicht mehr erlebte: der Partei – eher ungewöhnliche These, die Einheit Deutschlands. deutsche Frage sei in erster Linie eine Frage der Menschenrechte, erfuhr vier Idealistischer Realist Jahre nach seinem Tod eine, wie es Timo- Seine umfassende historische Bildung, thy Garton Ash formulierte, „triumphale die analytischen Fähigkeiten, die sprach- Bestätigung“.

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