Dossier Weimarer Republik

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Einleitung

Die Weimarer Republik war in den bald 100 Jahren seit ihrer Gründung schon so einiges: erste deutsche Demokratie, Republik ohne Republikaner, Zwischenkriegszeit, aber auch Negativfolie und Identitätsressource zugleich.

Und auch in gegenwärtigen politischen Debatten wird immer wieder vor "Weimarer Verhältnissen" gewarnt. Was aber ist damit gemeint? Was prägte diese Zeit zwischen dem Ende des Krieges 1918 und dem Beginn der nationalsozialistischen Diktatur 1933? Dieses Dossier bietet eine kompakte Übersicht zur Geschichte der Weimarer Republik und ermöglicht dabei sowohl einen Zugriff über zentrale Zeitabschnitte als auch über Schlüsselthemen dieser Zeit.

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Inhaltsverzeichnis

1. Die Geschichte der Weimarer Republik in Themen 4

1.1 Die deutsche Revolution 1918/19 5

1.2 Kriegsfolgen und Kriegserinnerung: eine Nachkriegsgesellschaft 13

1.3 Krisenbedingungen der Weimarer Republik 23

1.4 Weimar und der kulturelle Aufbruch 32

1.5 "Grundsätzlich" gleichberechtigt. Die Weimarer Republik in frauenhistorischer Perspektive 38

1.6 Bilder der Weimarer Republik 48

1.7 Chronologie 55

1.8 Vom Kaiserreich zur Republik 1918/19 56

2. Kampf um die Republik 1919-1923 78

2.1 Zwischen Festigung und Gefährdung 1924-1929 96

2.2 Zerstörung der Demokratie 1930-1933 118

2.3 Redaktion 139

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Die Geschichte der Weimarer Republik in Themen

16.9.2018

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Die deutsche Revolution 1918/19

Von Alexander Gallus 13.9.2018 Der Historiker und Politikwissenschaftler Prof. Dr. Alexander Gallus ist Inhaber der Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte an der TU Chemnitz.

Mit der einen, sogenannten Novemberrevolution begann die Weimarer Republik – viele weitere revolutionäre Aufstände und Unruhen aber begleiteten die Anfangsjahre der jungen Demokratie. Ein Überblick.

Kurz zusammengefasst

• Das Ende des Weltkrieges mündete in Deutschland in revolutionären Aufständen, überall im Reich gründeten sich Arbeiter- und Soldatenräte

• Mit der sogenannten Novemberrevolution wurde der Grundstein der Weimarer Republik gelegt.

• Die Anfangsjahre der jungen Republik waren immer wieder von teils sehr gewaltsamen Aufständen und Protesten begleitet – von links und von rechts.

Rückblick und Vorbedingungen

Die bei Ende des Ersten Weltkrieges durch konservative Militärs in die Welt gesetzte "Dolchstoßthese", der zufolge die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg wesentlich durch eine unzuverlässige und revoltierende "Heimatfront" herbeigeführt worden sei, war von Anfang an bewusst eingesetzte Propaganda. Bei Lichte betrachtet waren die deutschen Truppen mit anhaltender Kriegsdauer den materiellen und personellen Ressourcen der Entente-Mächte unterlegen. So wenig also die deutsche Revolution von 1918/19 die Niederlage verursacht hatte, so war sie doch untrennbar mit dem Krieg verbunden: Sie zielte zunächst auf Frieden, eine bessere Ernährungslage und die Abschaffung autoritärer Befehlsstrukturen. Ab dem Jahr 1916 kündigten Hungerrevolten, die im Januar 1918 bei Massenprotesten ihren Höhepunkt erreichten, eine Systemkrise der monarchischen Ordnung an. Die Enttäuschung und Frustration gegenüber den Repräsentanten des Kaiserreichs waren Ende September 1918 umso größer, als die Oberste Heeresleitung – nach dem Friedensschluss von Brest- Litowsk mit Sowjetrussland (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/ersterweltkrieg/155304/ kriegsverlauf-und-aussenpolitik) – mit der Westoffensive im Sommer 1918 nochmals die Siegeserwartungen innerhalb der Gesellschaft genährt hatte. Vor diesem Hintergrund war der Schock der Niederlage besonders groß.

Vom gemeinschaftsstiftenden nationalen Aufbruch des Jahres 1914 ("Augusterlebnis", "Geist von 1914") war vier Jahre später im deutlichen Angesicht der Niederlage ab dem Spätsommer 1918 kaum noch etwas zu spüren. Der Druck auf den Monarchen und die im Verlauf des Krieges zunehmend dominante Militärführung Paul von Hindenburgs und Erich Ludendorffs wuchs nicht nur von innen

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 6 angesichts offen ausbrechender sozialer Spannungen und neuer Partizipationsansprüche, sondern auch von außen. Insbesondere US-Präsident Woodrow Wilson war nicht länger bereit, mit einem autokratischen Herrscher und autoritären Militärs über Waffenstillstand und Frieden zu verhandeln. Er verlangte eine demokratisch legitimierte Regierung als Gegenüber.

Reform statt Revolution?

Anfang Oktober 1918 kam es zur Umbildung der Reichsregierung, die nun vom liberal gestimmten, gleichwohl dem monarchischen Prinzip verhafteten Prinz Max von Baden angeführt wurde und an der die Mehrheitsfraktionen des Deutschen Reichstags (die liberale Fortschrittliche Volkspartei, das katholische Zentrum und nicht zuletzt die SPD) mitwirkten. Diese Mehrheitsfraktionen hatten sich bereits ab Juli 1917 in einem interfraktionellen Ausschuss zusammengefunden und ihre Politik koordiniert. Für einiges Aufsehen sorgte die "Friedensresolution" für einen Verständigungsfrieden, die der Ausschuss entworfen hatte und die vom Reichstag am 19. Juli 1917 mehrheitlich befürwortet wurde.

Dies waren klare Anzeichen für einen Parlamentarismus, der stetig weiter Einfluss einforderte und hinzugewann. Am 28. Oktober wurde schließlich eine Verfassungsrevision vollzogen, die einen politischen Systemwechsel von der konstitutionellen hin zu einer parlamentarischen Monarchie markierte ("Oktoberreformen") und die in der Tradition einer während des Kaiserreichs schrittweisen evolutionären Modernisierung stand. So grundlegend dieser Wandel der Staatsform sich nämlich ausnahm, erfolgte er doch im Rahmen der geltenden Verfassungsordnung. Er war daher in staatsrechtlicher Hinsicht keine Revolution. Ein Bruch mit der Staats- und Rechtsordnung des Kaiserreichs blieb aus. Gleichwohl wurde die Stellung des Monarchen darin stark abgewandelt. Der Kaiser blieb zwar das Staatsoberhaupt, er verlor aber viel von seiner machtvollen Position: Fortan konnte nicht mehr er, sondern nur noch der Reichstag Reichskanzler und Regierung entlassen. Bei ihr lag zudem künftig der Oberbefehl über die Armee.

In den Augen der ebenso erschöpften wie erbosten Arbeiterinnen, Arbeiter und Soldaten vermittelte dieser Schritt, ein legaler Verfassungswandel in Papierform, keine Durch- und Aufbruchsstimmung. So gelang es durch diese Verfassungsreformen nicht, eine revolutionäre Massenbewegung von unten zu verhindern, die damals weder im Interesse der alten Eliten des Kaiserreichs noch der staats-, ordnungs- und reformorientierten Sozialdemokratie unter Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann lag.

Ereignisse und Ergebnisse

Ein militärischer Befehl zum Auslaufen der Flotte zu einer letzten, selbstmörderischen Schlacht in die Nordsee gegen die Royal Navy war der Funke ins Pulverfass, der zum Ausbruch der Revolution als einer von Soldaten und Arbeiterinnen und Arbeitern getragenen Massenbewegung (http://www.bpb. de/izpb/224762/das-ende-des-kaiserreichs-weltkrieg-und-revolution) führte. Sie wollten diesen selbstmörderischen Akt, der wesentlich durch Ehrvorstellungen der Seekriegsleitung motiviert war, nicht vollziehen. Es kam zu Befehlsverweigerungen von Matrosen auf den Kriegsschiffen der in Wilhelmshaven konzentrierten deutschen Hochseeflotte. Als diese daraufhin auseinandergezogen wurde, gelangte der Protest der Matrosen nach Kiel und verband sich dort mit einer streikbereiten Arbeiterschaft. Die Revolution begann somit als Matrosenaufstand und Militärstreik und verlief doch anfangs fast unblutig, was angesichts des Ausgangspunkts von diesen bewaffneten Kräften her erstaunlich ist. Die wenigen tödlichen Auseinandersetzungen zwischen Mannschaften und Offizieren Anfang November 1918 in Kiel führten nicht zu einer Eskalation der Gewalt. Das Entfernen von Rangabzeichen und Kokarden, das Schwenken roter Tücher und das Hissen roter Fahnen genügten den Aufständischen, um so das Ende alter Befehlsstrukturen und den lange herbeigesehnten Frieden zu demonstrieren.

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Manche dieser Symbole wie auch die Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten deuteten in östliche Richtung und folgten – der äußeren Form nach – dem groben Muster der russischen Oktoberrevolution von 1917 (http://www.bpb.de/geschichte/ zeitgeschichte/oktoberrevolution/). Der Wunsch nach Übernahme einer bolschewistischen Ordnung war damit in den allermeisten Fällen nicht verbunden. Der Großteil der Räte, die sich als ordnungsstiftende Organe einer Übergangszeit verstanden, sympathisierte mit der Sozialdemokratie. In den Folgetagen breitete sich der Aufstand durch reisende Matrosen und Mundpropaganda von der Küste in weitere Teile des Landes aus. Ein Fürstentum nach dem anderen fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen, ganz ohne Soldatenräte in (© picture- alliance/akg) Gegenwehr. Am 7. November 1918 stürzte die Monarchie in Bayern und der Unabhängige Sozialdemokrat (USPD) Kurt Eisner rief die bayerische Republik aus. Am 9. November schließlich ergriff die Revolution Besitz von Berlin. Die revolutionäre Dynamik war dabei so spontan und rasant, dass die Planungen mancher revolutionärer Akteure selbst mit diesem Tempo nicht Schritt halten konnten.

Politische Spannungen und Grundentscheidungen

Nicht zuletzt die tonangebende und am stärksten organisierte Kraft der Arbeiterbewegung, die Sozialdemokratie, war in jenen Tagen von Sorge erfüllt: über drohende chaotische Zustände voller Gewalt, über "russische Verhältnisse", wie es in zeitgenössischen Texten regelmäßig hieß. Die Furcht vor dem Bolschewismus war ausgeprägt und überstieg dessen reales Gefährdungspotenzial bei weitem. Doch auch eine falsche oder verzerrte Wahrnehmung kann, zumal wenn sie emotional aufgeladen ist, das Handeln der Akteure und somit die Zeitläufte beeinflussen.

Die führende Sozialdemokratie strebte nach Kontrolle und politischer Führung. Um die Stimmung der aufgebrachten Massen zu beruhigen, forderte sie ultimativ die Abdankung Kaiser Wilhelms II. Am geschichtsträchtigen 9. November 1918 (http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/172172/der-9- november) erklärte Prinz Max von Baden – ohne die Autorisierung des Kaisers – öffentlich dessen Abdankung. Außerdem legte der Regierungschef aus dem Hause Baden an jenem Tag seine Reichskanzlerschaft in die Hände des SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert. Allein dieser Akt der Übertragung war in staatsrechtlicher Hinsicht revolutionär, spielte er sich doch außerhalb der geltenden Verfassungsordnung ab. Am Nachmittag des 9. November proklamierte Scheidemann als wortmächtiges Regierungsmitglied von einem Balkon des Reichstagsgebäudes aus die Republik. So sehr diese Szene, wie wir mittlerweile wissen, erst Jahre später geschichtspolitisch aufbereitet und überhöht wurde, brachte sie doch symbolisch den Führungsanspruch der Sozialdemokratie im weiteren Verlauf der Revolution zum Ausdruck; einer Revolution, die in den Augen der Parteispitze mit der Einführung einer republikanischen Ordnung im Grunde bereits ihr Ziel erreicht hatte. Die radikale Gegenposition zu dieser Republiks-Proklamation tat wenige Stunden nach Scheidemann der "Spartakist" Karl Liebknecht in einer Rede vor dem Berliner Stadtschloss kund, als er die "freie sozialistische Republik Deutschland" als Zwischenschritt auf dem Weg zur Weltrevolution ausrief.

Schon seit mehr als zwei Jahrzehnten rangen verschiedene Kräfte innerhalb der Sozialdemokratie (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/kaiserreich/139650/sozialdemokratie-zwischen- ausnahmegesetzen-und-sozialreformen) um den richtigen politischen Kurs. Revolutionäre standen reformerischen Strömungen gegenüber ("Revisionismusstreit") – mit vielen Mischformen und Schattierungen dazwischen. Der Weltkrieg samt der Bewilligung der Kriegskredite ("Burgfriedenpolitik") (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/ersterweltkrieg/155305/burgfrieden- und-innenpolitik) sorgte für weitere Spannungen innerhalb der Partei. Im Jahr 1916 spaltete sich die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft von der SPD-Fraktion im Reichstag ab, aus der im April 1917 die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) hervorging. Ihr schloss sich auch die "Spartakusgruppe" um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht an, bevor sie gemeinsam mit

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 8 weiteren linksradikalen Gruppierungen an der Jahreswende 1918/19 in der neu gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) aufging.

Die innerlinken Spannungen waren schon von Anfang der Republik an groß. Zunächst aber taten sich Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) und Unabhängige zusammen und bildeten schon am 10. November die Regierungsorgane der Revolution: an vorderster Stelle den Rat der Volksbeauftragten, quasi als Exekutive und zugleich zur Beaufsichtigung der durch Staatssekretäre verwalteten Ministerressorts der Reichsregierung. Dem von Friedrich Ebert faktisch geleiteten Rat gehörten neben ihm für die MSPD Otto Landsberg und Phillip Scheidemann an, für die USPD Emil Barth, Wilhelm Dittmann und Hugo Haase.

Der Rat brachte schon am 12. November eine Reihe von politischen und sozialen Reformen auf den Weg, die in einem Aufruf "An das deutsche Volk!" – für Dittmann die "Magna Charta der Revolution" – verkündet wurden. Dazu zählten die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, die Aufhebung der Zensur ebenso wie der Gesindeordnung und die Einführung des Wahlrechts für Männer und erstmals auch für Frauen ab dem 20. Lebensjahr. Wenige Tage darauf schrieb das zwischen Gewerkschafts- und Industrievertretern geschlossene Stinnes-Legien-Abkommen, benannt nach den beiden Verhandlungsführern Hugo Stinnes und Carl Legien, am 15. November den Achtstundentag, die Bildung von Arbeiterausschüssen und den Gedanken der Sozialpartnerschaft fest. Darüber hinaus war die Übergangsregierung in den letzten beiden Monaten des Jahres 1918 wesentlich damit beschäftigt, die Rückführung des Feldheeres in die Heimat zu koordinieren sowie für ausreichend Nahrung und Wohnraum zu sorgen. Der Druck, der auf den Schultern dieser unerfahrenen Regierung lastete, war gewaltig.

Die Frage, wie und wo weitere Grundentscheidungen der politisch-sozialen Transformation getroffen werden sollten, sorgte für Streit. Die federführenden Sozialdemokraten unter Eberts Ägide favorisierten die Bildung einer demokratisch gewählten verfassunggebenden Nationalversammlung, die über die weitere Gestaltung von Staat und Gesellschaft zu bestimmen hätte. Andere Vertreter der Arbeiterbewegung wollten eine Verstetigung und Ausweitung des Rätemodells, der linke USPD- Politiker Ernst Däumig sogar ein "reines Rätesystem". Einen entsprechenden Beschlussantrag stellte er, letztlich ohne Erfolg, auf dem Reichrätekongress, der vom 16. bis zum 21. Dezember in Berlin tagte. Die MSPD setzte sich auf dieser zentralen Delegiertenversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte mit überwältigender Mehrheit durch, und es fiel die Entscheidung für die Wahl der verfassungsgebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919 (http://www.bpb.de/izpb/274854/ die-nationalversammlung).

Bei diesen Wahlen, an denen erstmals in der deutschen Geschichte Frauen wählen und gewählt werden durften (http://www.bpb.de/apuz/268362/grundsaetzlich-gleichberechtigt-die-weimarer-republik- in-frauenhistorischer-perspektive), errang die MSPD 37,9 Prozent der Stimmen vor dem Zentrum mit 19,7 und der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) mit 18,5 Prozent. Mit einer Dreiviertelmehrheit begründeten diese drei Parteien die sogenannte Weimarer Koalition. Die Verfassungsentwicklung kam rasch voran: Die Weimarer Reichsverfassung, wesentlich vom liberalen Staatsrechtslehrer Hugo Preuß erarbeitet, trat bereits Mitte August 1919 in Kraft. Verfassungswerk und Regierungsbildung unterstrichen den Grundcharakter der Republikgründung: als Basiskonsens zwischen gemäßigt- sozialdemokratischen und liberal-bürgerlichen Kräften.

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 9 Von der gewaltlosen zur gewaltsamen Revolution

Schon im Dezember 1918 und verstärkt ab Januar 1919 zeigte sich indes deutlich, wie groß die Konflikte innerhalb des linken politischen Milieus (http://www.bpb.de/politik/extremismus/ linksextremismus/33640/weimarer-republik) waren. Das von Anfang an wenig herzliche, aber für einige Zeit funktionstüchtige Bündnis aus MSPD und USPD im Rat der Volksbeauftragten zerbrach nach den "Weihnachtskämpfen" des Jahreswechsels 1918/19. Am 29. Dezember verließen die USPD-Vertreter den Rat der Volksbeauftragten, dem stattdessen fortan die MSPD-Politiker Gustav Noske und Rudolf Wissell angehören sollten. Bei den Weihnachtsunruhen kam es in Berlin zu militärischen Auseinandersetzungen. Die "Volksmarinedivision", eine im Zuge der Revolution und ursprünglich zum Schutz der Übergangsregierung gebildete militärische Formation, hatte sich aus Protest gegen eine ausgebliebene Soldzahlung im Berliner Stadtschloss verschanzt und bald darauf den sozialdemokratischen Berliner Stadtkommandanten Otto Wels gefangengesetzt. Ebert, der lange vor dem Einsatz gewaltsamer Mittel zurückschreckte, fürchtete um Wels’ Leben und ordnete daraufhin den Einsatz von Regierungstruppen an. Die herbeigerufenen Soldaten konnten sich am Ende nicht gegen die von der "Sicherheitswehr" des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn (USPD) unterstützte "Volksmarinedivision" durchsetzen. Bei den Kämpfen starben 56 Regierungssoldaten, 11 Matrosen und einige Zivilisten.

Ungeachtet dieses Ausgangs und der vorübergehenden Beruhigung der Weihnachtskrise auf dem Verhandlungswege hatte der Einsatz von Regierungssoldaten fatale Wirkungen, schien er doch den Beweis für ein Bündnis der Regierung mit gegenrevolutionären Kräften zu erbringen. In diesem Zusammenhang wird auch häufig das Ebert-Groener-Abkommen erwähnt: Bereits am 10. November 1918 hatte Ebert mit dem Ersten Generalquartiermeister Wilhelm Groener als neuer Führungsfigur der Obersten Heeresleitung telefonisch eine Absprache über die Loyalität des Militärs gegenüber der neuen Regierung getroffen. Die USPD jedenfalls nahm die Weihnachtsunruhen zum Anlass, um das Bündnis mit der Regierung aufzukündigen. Differenzen zwischen USPD und MSPD über die Durchsetzung einer Militärreform (u.a. zur Bildung einer "Volkswehr"), über das Ausmaß – bislang ausgebliebener – Sozialisierungsmaßnahmen und über die Einführungen von Rätestrukturen in der Politik erwiesen sich als unüberbrückbar.

Nach dem – gerade im Schatten des mörderischen Weltkriegs – nahezu gewaltfreien November und auch Dezember der Revolution (abgesehen von einem nicht ganz aufgeklärten Massaker mit 16 Toten am 6. Dezember in Berlin, als Soldaten des Garde-Füsilier-Regiments, die für die Sicherung des Regierungsviertels zuständig waren, während tumultartiger Zustände auf einen Demonstrationszug von "Spartakus"-Anhängern und -Sympathisanten an der Kreuzung Invaliden- und Chausseestraße schossen), begann das Jahr 1919 blutig. Die Entlassung Eichhorns als Berliner Polizeipräsident und dessen Weigerung, das Amt niederzulegen, entfachten neue Massenproteste in Berlin. Die Proklamation eines Generalstreiks, vom Berliner USPD-Vorstand und Teilen der KPD-Führung sowie der Revolutionären Obleute verfasst, forderte dazu auf, die Ebert-Scheidemann-Regierung zu stürzen und wollte deren Repräsentanten auf dem "Schaffott" oder wenigstens im "Zuchthaus" sehen. Der Verbalradikalismus, wie ihn Parteizeitungen wie die kommunistische "Rote Fahne", aber auch der sozialdemokratische "Vorwärts" probten, heizte die Stimmung zusätzlich an.

Die geschürten Ängste und ideologischen Gegensätze entluden sich während gewaltsamer Straßenkämpfe zwischen dem 5. und 12. Januar ("Spartakusaufstand") in Berlin. Die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts am 15. Januar durch Angehörige der Garde-Kavallerie-Schützen- Division unter der Leitung Hauptmann Waldemar Pabsts wurde auch schon zeitgenössisch als eine Zäsur wahrgenommen und galt schnell als Sinnbild für den Ausbruch eines brutalen Gewaltniveaus, das fortan zu dieser bis dahin besonnenen Revolution zählen sollte. Außerdem verfestigte sich dadurch der nun unversöhnliche Gegensatz innerhalb der politischen Linken. In Berlin eskalierte die Gewalt während der Berliner Märzkämpfe weiter, als der neue Reichswehrminister Gustav Noske den Ausnahmezustand samt Schießbefehl verhängte und Regierungstruppen mit schwerer Artillerie zur Niederwerfung von Aufständen einsetzte. Schon am Beginn der Januaraufstände hatte er als der für Wehrfragen zuständige Volksbeauftragte gesagt: "Meinetwegen! Einer muss der Bluthund werden,

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 10 ich scheue die Verantwortung nicht!" Die Zahl der Getöteten wird mit rund 1.200 beziffert. Im Zuge der Beendigung der "Baierischen" Räterepublik durch Regierungstruppen und Freikorps kam es Ende April/Anfang Mai 1919 zu ähnlich hohen Opferzahlen ("weißer Terror").

Für einige Autorinnen und Autoren markiert das Abebben der Gewalt ab dem Sommer 1919 das Ende der Revolution. Als weiteres Argument für dieses zeitliche Ende der Revolution wird oftmals hinzugezogen: die Verabschiedung der – wenn man so will – äußeren und inneren Grundgesetze der Weimarer Republik zwischen Juni und August 1919 mit dem Versailller Friedensvertrag (http://www. bpb.de/apuz/30789/versailles-und-weimar) und der Weimarer Reichsverfassung. Mit Blick auf die Periodisierung des Umbruchs am Ende des Ersten Weltkriegs besteht weitgehende Einigkeit darüber, diesen nicht länger als "Novemberrevolution" zeitlich eng zu fassen und ihn stattdessen als "deutsche Revolution 1918/19" zu bezeichnen oder ihn sogar bis zum Ende des konterrevolutionären Kapp- Putsches und der Ruhraufstände bis ins Jahr 1920 hinein auszudehnen. Manche Autorinnen und Autoren plädieren sogar dafür, die politisch-gesellschaftliche Transformationsphase noch weiter zu strecken und zwischen 1916 und 1923 anzusiedeln oder sogar Zeitschichten bis zur Jahrhundertwende zurück zu berücksichtigen und die Revolution wie die Weimarer Republik überhaupt als Teil einer krisenhaften Moderne zu interpretieren.

Deutungen und Perspektiven

Mit Periodisierungsfragen sind immer auch verschiedene Deutungsmöglichkeiten verbunden. Wer sich beispielsweise auf die letzten drei Monate des Jahres 1918 konzentriert, wird die Gewaltfreiheit der Revolution und die politischen Grundentscheidungen für eine parlamentarisch-demokratische Ordnung hervorheben, die eine erhebliche formgebende Kraft für die weitere Entwicklung der Weimarer Republik besaßen. Dann passt die Revolution in ein vorrangig demokratiegeschichtliches Narrativ. Wer hingegen die Phase der Gewalt und Radikalisierung ab der Jahreswende 1918/19 ins Zentrum der Betrachtung stellt und eine ausgebliebene oder zumindest ungenügende Militärreform als wesentliches Versäumnis der Revolution herausstellt, wird schon am Beginn der neuen Republik Ansätze für ihre spätere autoritäre Wende oder sogar einen "Inkubationsraum für das Dritte Reich" (Mark Jones) erkennen. Diese Sichtweise fügt sich in ein diktaturgeschichtliches Narrativ ein, das – mit anderen Argumenten – auch jene Autorinnen und Autoren bevorzugen, die Herausforderungen durch Feinde der Republik an den rechten wie linken Rändern ab der Frühphase der Weimarer Demokratie betonen.

Diese Interpretationen konstruieren unterschiedliche Kontinuitätsannahmen zur Einordnung der Revolution von 1918/19 in den weiteren Gang der deutschen Geschichte. Solche Zusammenhänge deuten an, weshalb die zwischenzeitlich "vergessene Revolution" über Jahrzehnte hinweg das Zeug dazu hatte und weiter hat, ein historisches Streitthema erster Güte zu sein.

Frühzeitig sah sich die Revolution von 1918/19, sahen sich vor allem die Sozialdemokraten um Ebert, welche die Revolution mit einem Wort des Zeitgenossen Ernst Troeltschs "adoptiert" hatten, dem Vorwurf des Verrats ausgesetzt. Und dies in gleich zweifacher Weise: Von links wurden sie als "Arbeiterverräter" geschmäht, die lieber mit den alten Eliten bis hin zum Militär paktierten und kein Interesse an einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzung und sozialen Revolution zeigten. Rechten Gegnern galten sie hingegen – wie schon seit den Zeiten des Kaiserreichs – als "Vaterlandsverräter", die für die Kriegsniederlage verantwortlich seien ("Dolchstoßlegende") und das Deutsche Reich in Form des demokratischen "Systems" auch von innen geschwächt hätten. Weder die weit linken noch die weit rechten Kritiker lehnten dabei eine Revolution an sich ab. Die einen wollten sie in der Zukunft erst noch fortsetzen und vollenden, die anderen eine rechte oder "konservative" Revolution in Gang setzen. Gänzlich getilgt werden sollte die Revolution von 1918/19 durch die "nationale Revolution" der Nationalsozialisten von 1933, die sie gleichsam als Antithese zum Werk der von ihnen geschmähten "Novemberverbrecher" definierten.

Dies stellte die stärkste geschichtspolitische Überformung der Revolution von 1918/19 dar. Aber auch

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 11 in anderen Lesarten der Revolution ist ein jeweiliges Gegenwartsinteresse zu erkennen. In der DDR (http://www.bpb.de/izpb/48499/geschichte-der-ddr) etwa diente die "Novemberrevolution" der Legitimation der Kaderpartei SED. Eine schlagkräftige Organisation wie die SED habe 1918/19 gefehlt, ansonsten hätte sie schon damals der "proletarischen" und nicht nur der "bürgerlichen" Revolution zum Durchbruch verholfen. Wenngleich frei von staatlicher Steuerung, schwangen in westdeutschen Geschichtsdeutungen doch ebenfalls Einflüsse des Zeitgeists mit. Karl Dietrich Erdmanns These von 1955 etwa, es habe 1918/19 eine Entscheidungssituation zwischen "östlichem Bolschewismus (http:// www.bpb.de/apuz/29513/der-totalitarismusbegriff-im-wandel)" und "westlicher Demokratie (http:// www.bpb.de/izpb/248564/entwicklungen-im-19-und-20-jahrhundert)" bestanden, lässt die polarisierte Stimmungslage während der Hochzeit des Kalten Krieges erkennen. Auch die vermehrte Aufmerksamkeit für Rätemodelle und die Interpretation der Revolution als Suche nach "dritten Wegen" zwischen Kommunismus und Kapitalismus (http://www.bpb.de/apuz/26309/dritter-weg-kommunitarismus) ab den 1960er Jahren ist ohne Reflexe eines gewandelten Meinungsklimas kaum angemessen zu verstehen.

Erst in den vergangenen Jahren ist die Forschung zur Revolution – im Zeichen des Hundertjahresjubiläums – wieder in Gang gekommen. Neben Erörterungen der Politik- und Arbeiterbewegungsgeschichte (http://www.bpb.de/apuz/169563/arbeiterbewegung), zuletzt vorrangig von unzureichend genutzten Handlungsspielräumen und einem nicht ausgeschöpften Demokratisierungspotenzial bestimmt, treten Fragestellungen der Kultur-, Medien-, Alltags- und Mentalitätsgeschichte, ohne dass eine neue "Meistererzählung" erkennbar wäre. Eine solche ist wohl auch nur schwer zu formulieren, ein geschichtskulturelles Leitparadigma von dieser Revolution nicht leicht abzuleiten. Sie präsentiert sich im Ganzen als ein schwer zu entschlüsselnder, von Widersprüchen geprägter Novemberkomplex und ist weder zur Abschreckung noch als Lernbeispiel innerhalb der deutschen Demokratiegeschichte umstandslos geeignet. Statt aber den Mangel an Eindeutigkeit zu beklagen, bietet es sich an, diese aufregende Transformationsperiode zwischen Krieg, Frieden, Revolution und Nachkrieg als vielfältige Erfahrungsgeschichte der Zeitgenossen weiter zu rekonstruieren. Sie befanden sich mitten in einer zukunftsoffenen Orientierungskrise, auf die sie mit ganz unterschiedlichen Gegenwartsdiagnosen und Kommentaren reagierten. Die darin von ihnen aufgezeigten Möglichkeitsräume haben – statt Belehrungen über versäumte Chancen und bessere Alternativen – unsere Aufmerksamkeit verdient.

Ausgewählte Literatur

• Gallus, Alexander (Hrsg.), Die vergessene Revolution von 1918/19, Göttingen 2010.

• Gerwarth, Robert, Die größte aller Revolutionen. November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit, München 2018.

• Jones, Mark, Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik, Berlin 2017.

• Käppner, Joachim, 1918 – Aufstand für die Freiheit. Die Revolution der Besonnenen, München 2017.

• Keil, Lars-Broder/Sven Felix Kellerhoff, Lob der Revolution. Die Geburt der Demokratie in Deutschland, Darmstadt 2018.

• Machtan, Lothar, Der Endzeitkanzler. Prinz Max von Baden und das Ende des Kaiserreichs, Darmstadt 2018.

• Machtan, Lothar, Kaisersturz. Vom Scheitern im Herzen der Macht, Darmstadt 2018.

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• Niess, Wolfgang, Die Revolution von 1918/19. Der wahre Beginn unserer Demokratie, Berlin 2017.

• Niess, Wolfgang, Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichtsschreibung. Deutungen von der Weimarer Republik bis ins 21. Jahrhundert, Berlin 2013.

• Schönpflug, Daniel, Kometenjahre. 1918: Die Welt im Aufbruch, Frankfurt am Main 2017.

• Ullrich, Volker, Die Revolution von 1918/19, München 2009.

• Weinhauer, Klaus/McElligott, Anthony/Heinsohn, Kirsten (Hrsg.), Germany 1916–23. A Revolution in Context, Bielefeld 2015.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Alexander Gallus für bpb.de

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Kriegsfolgen und Kriegserinnerung: eine Nachkriegsgesellschaft

Von Dirk Schumann 13.9.2018 Dirk Schumann ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Sein Schwerpunkt ist die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Unmittelbare Kriegsfolgen konnte die Gesellschaft der Weimarer Republik recht erfolgreich bewältigen. Was ihr aber nicht gelang: eine gemeinsame Deutung des verlorenen Krieges. Schon bald prägten politische Kampfbünde den Diskurs, militarisierten die politische Kultur und hielten den Krieg in unheilvoller Erinnerung.

Knapp 2,7 Millionen deutsche Soldaten waren mit bleibenden Verletzungen aus dem Krieg zurückgekehrt. Die junge Republik stand vor der Herausforderung, die Kriegsversehrten und ihre Familien angemessen zu unterstützen. Dieses nachkolorierte Bild zeigt zwei kriegsblinde Veteranen, die als Straßenmusikanten durch Berlin ziehen. (© picture- alliance/akg)

Kurz zusammengefasst

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• Unmittelbare Kriegsfolgen – etwa die Reintegration ehemaliger Soldaten in den Arbeitsmarkt – konnte die Weimarer Gesellschaft vergleichsweise gut bewältigen.

• Schwerer gelang ihr der Umgang mit langfristigen Folgen des Krieges: Die Konflikte um den Versailler Vertrag wurden symbolisch aufgeladen und erschwerten, eine einheitliche gesellschaftliche Deutung des Krieges und Kriegsendes zu finden.

• Oftmals republikfeindliche Veteranenverbände profitierten von diesen Konflikten und erhielten großen Zulauf.

Unsicherheit als Zeitsignatur

Die Erfahrung tiefgreifender Umbrüche in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur prägte die Zeitgenossen der Weimarer Republik. Dies bezog sich nicht nur auf den Ersten Weltkrieg, sondern auch auf die Zeit davor. Wer in den 1870er Jahren geboren worden war, hatte zur Jahrhundertwende erlebt, wie sich Deutschland vom Agrar- zum Industriestaat wandelte und die Großstadt mit der Vielfalt ihres sozialen Lebens, ihren technischen Errungenschaften und ihrer neuen Vergnügungskultur zum Inbegriff modernen Lebens wurde. Für die zwanzig Jahre später Geborenen bildete der Erste Weltkrieg hingegen die zentrale Erfahrung ihrer jungen Jahre. Die Männer dienten als Soldaten, die Frauen übernahmen Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie und mussten sich mit den Versorgungsmängeln an der "Heimatfront" auseinandersetzen. Kinder und Jugendliche erlebten den Krieg als Zeit patriotischer Mobilisierung, aber auch als eine Zeit, die ihnen angesichts der Abwesenheit vieler Lehrer und Polizisten so manche Freiräume eröffnete. Allen war gemeinsam, dass sie sich an keinem eindeutigen Vorbild orientieren konnten, als im Gefolge der Revolution von 1918/19 eine neue staatliche Ordnung in Deutschland aufzubauen war. Unsicherheit bestimmte den Blick in die Zukunft und dies eben nicht allein wegen der Belastungen durch die militärische Niederlage, sondern auch wegen der vielfältigen Erfahrungen in der Umbruchszeit davor. Umso schwerer fiel es, den Erlebnissen der Kriegsjahre auf individueller Ebene ebenso wie aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive heraus Sinn zu verleihen und zu einem Konsens über die Konsequenzen für Innen- und Außenpolitik zu finden. Die deutsche Gesellschaft der Weimarer Republik blieb bis zu deren Ende eine den Erbschaften des Krieges verhaftete Nachkriegsgesellschaft.

Unmittelbare Kriegsfolgen

Als am 11. November 1918 der Waffenstillstand vereinbart wurde, befanden sich mehr als fünf Millionen deutsche Soldaten im Westen und Osten jenseits der deutschen Landesgrenzen. Die provisorische Regierung des "Rats der Volksbeauftragten" sah sich nun mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert: Sie musste die deutschen Soldaten zügig nach Deutschland zurückzuführen, militärisch demobilisieren und ihnen wieder Arbeitsplätze verschaffen. Dies gelang überraschend schnell. Bis Ende Januar 1919 waren alle Soldaten aus dem Westen nach Deutschland zurückgekehrt, zwei Monate später auch die aus dem Osten. Viele von ihnen beschleunigten den Prozess im Westen dadurch, dass sie ihre Einheiten auf eigene Faust in Richtung Heimat verließen. Bis zum Waffenstillstand hatten die Soldaten an der Front ihre Stellungen gehalten – jetzt wollten alle rasch nach Hause. Zügig fanden sie dort wieder eine Beschäftigung, was sich etwa daran ablesen lässt, dass die Arbeitslosenzahlen Anfang 1919 nur kurzzeitig hochschnellten. Als förderlich für die Erhaltung alter und die Schaffung neuer Arbeitsplätze erwiesen sich hier mehrere Faktoren: die sich zunächst moderat fortsetzende Inflation, der gerade zwischen Unternehmern und Gewerkschaften vereinbarte Acht-Stunden-Tag, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sowie eine Ausweitung des Personals von Staatsunternehmen wie der Post und der Eisenbahn.

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Statistische Befunde zur Gewaltkrimininalität nach dem Krieg legen die Vermutung nahe, dass der Kriegseinsatz die Soldaten nicht umfassend und nachhaltig "brutalisiert" hatte: Zwar waren in den ersten Nachkriegsjahren weitaus mehr Tötungsdelikte zu verzeichnen als vor 1914, was auch mit den großen Mengen jetzt illegal verfügbarer Waffen und Munition zusammenhing, doch ging ihre Zahl danach wieder klar zurück. Hingegen lag das Ausmaß der Körperverletzungen, gerade auch der gefährlichen, ungeachtet eines anfänglichen Anstiegs, dem dann der Rückgang folgte, deutlich unter dem Vorkriegsniveau. Dies wurde zeitgenössisch zum Teil zwar auch mit einer gesunkenen Strafverfolgungsintensität, vor allem aber mit dem mittlerweile erheblich geringeren Alkoholkonsum erklärt.

Dass viele der zurückgekehrten Soldaten erfolgreich wieder reintegriert werden konnten, besaß freilich auch eine Schattenseite: Viele Frauen, die während des Krieges Arbeitsplätze in der Industrie eingenommen hatten, mussten diese nun wieder für die zurückgekehrten Männer räumen. Die langfristige Tendenz der Zunahme weiblicher Erwerbstätigkeit war damit allerdings nur unterbrochen und setzte sich in den folgenden Jahren wieder fort. Zudem erhielten die Frauen mit der Revolution das aktive und passive Wahlrecht und wurden in dieser Hinsicht den Männern rechtlich gleichgestellt. Deren Reintegration bedeutet also keine bloße Restauration der Vorkriegsverhältnisse.

Als schwieriger für die neue Reichsregierung und Gesellschaft insgesamt zu bewältigen erwies sich eine andere Herausforderung, nämlich die Versorgung der Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen. Deren Zahl hatte in Deutschland wie bei seinen Kriegsgegnern eine bisher ungekannte Höhe erreicht: 2,7 Millionen deutsche Soldaten hatten Verletzungen mit bleibender Wirkung erlitten und erwarteten ebenso wie 600.000 Witwen und 1,2 Millionen Waisen materielle Hilfe vom Staat. Die Weimarer Republik gewährte den Kriegsbeschädigten im Vergleich etwa zu Großbritannien umfangreiche staatliche Leistungen, ausgerichtet freilich auf das Ziel einer erneuten Arbeitsaufnahme. Neben Renten gemäß dem Grad der Behinderung und dem sozialen Status vor dem Krieg sowie Hilfen bei der Ausbildung und Arbeitsplatzsuche gehörte dazu vor allem die Reservierung von 2% der Arbeitsplätze für Schwerbeschädigte. Allerdings entwertete die nach der Konkretisierung der alliierten Reparationsforderungen sich seit Ende 1921 deutlich beschleunigende und 1923 zum Zusammenbruch der Währung führende Inflation diese finanziellen Leistungen ebenso wie die Hilfen für Witwen und Waisen. Außerdem bildete sich eine zunehmende Spannung heraus zwischen dem Anspruch der Kriegsbeschädigten auf herausgehobene Behandlung wegen des von ihnen gebrachten Opfers und ihrer Wahrnehmung in der Gesellschaft, der sie zunehmend als zu Unrecht Klagende erschienen.

Andere Kriegsfolgen, die sich aus dem Versailler Vertrag ergaben, waren im Alltag weniger greifbar, prägten aber die politische Diskussion und entfalteten symbolische Kraft. Dazu gehörten die Reparationen, die im Versailler Vertrag als Ausgleich für die von den Alliierten erlittenen Kriegsschäden erlassen worden waren, die von den Alliierten diktierte Feststellung der deutschen Kriegsschuld, die Begrenzung des deutschen Heeres auf 100.000 Mann, die alliierte Besetzung des linken Rheinufers bis zum Ende der 1920er Jahre sowie die Abtretung von Grenzgebieten und der Verlust der Kolonien. Ob die nach der Hyperinflation von 1923 mit dem Dawes-Plan 1924 und dem Young-Plan 1929 reduzierten und in der Weltwirtschaftskrise ganz gestrichenen Reparationen ökonomisch tragbar waren, ist umstritten und keineswegs unwahrscheinlich. Ihre Hauptbedeutung lag allerdings auf dem Feld der Politik: Sie machten greifbar, dass Deutschland nicht eigenständig über seine Staatsfinanzen entscheiden konnte, und boten so den Gegnern der Weimarer Republik einen wichtigen Angriffspunkt für ihre Fundamentalkritik. Der Kriegsschuldartikel, der ursprünglich nur die alliierten Zahlungsansprüche absichern sollte, lieferte den Kritikern der Republik weitere Munition, obwohl auch die Befürworter der Republik ihn zurückwiesen. Die Reduzierung des Heeresumfangs beförderte zusammen mit der alliierten Besatzung den Eindruck, Deutschland leide an einem Mangel an Souveränität. Verstärkt wurde dieser Eindruck auch dadurch, dass Frankreich im Rheinland zahlreiche Soldaten aus seinen afrikanischen Kolonien einsetzte und die vormalige deutsche Kolonialherrschaft

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 16 damit symbolisch ins Gegenteil verkehrte. Dies löste teils heftige, parteiübergreifende Proteste gegen die "schwarze Schmach" aus. Gleichwohl blieben die Kolonien als imaginierter Raum von Abenteuer und männlicher wie weiblicher 'Bewährung' im öffentlichen Bewusstsein präsent.

Unverkennbar waren somit die Belastungen, die der Versailler Vertrag für die Weimarer Republik bedeutete. Doch zeigte die Verständigungspolitik Gustav Stresemanns, dass kluge Politik sie durchaus überwinden konnte. Stresemann, kurzzeitig Reichskanzler in der Hyperinflationskrise 1923 und dann Außenminister bis zum seinem Tod 1929, zielte auf eine Wiederherstellung der deutschen Großmachtposition, wollte dies aber mit friedlichen Mitteln erreichen und nahm dabei ausdrücklich Rücksicht auf die Sicherheitsinteressen Frankreichs. So hielt der von Stresemann maßgeblich initiierte Locarno-Vertrag 1925 den gegenwärtigen Verlauf der deutsch-französische Grenze als endgültig fest und bekräftigte damit den Verbleib Elsaß-Lothringens bei Frankreich. Im Gegenzug erhielt Deutschland einen ständigen Sitz im Völkerbundsrat, womit es wieder als führende Macht anerkannt wurde. Gleichfalls wurden in Stresemanns Amtszeit die Reparationsregelungen von 1924 und 1929 vereinbart. Der Dawes-Plan trug wesentlich zur wirtschaftlichen Stabilisierung in den mittleren 1920er Jahren bei und der Young-Plan führte zur vorzeitigen Räumung der Rheinlandes.

Kriegserinnerung

Die vielleicht größte Herausforderung, die sich den Deutschen nach 1918 stellte, bestand darin, dem Tod und Leiden der vier Kriegsjahre Sinn zu verleihen. Zwei Millionen deutsche Soldaten waren im Krieg ums Leben gekommen. Die ökonomische und patriotische Mobilisierung zwischen 1914 und 1918 hatte alle gesellschaftlichen Schichten und Regionen erfasst. Auch die seit 1916 aufgrund der alliierten Blockade deutlich schlechter werdende Versorgungslage, die eine erheblich erhöhte Sterblichkeit zur Folge hatte, wurde zur allgemeinen Erfahrung. Hinterbliebene und Kriegsbeschädigte machten die Opfer, die der Krieg verlangt hatte, nach 1918 unmittelbar greifbar. War also der Krieg vor allem als grauenhafte Schlächterei zu verstehen und daraus die Konsequenz internationaler Versöhnung zu ziehen, auf der Basis einer zu festigenden demokratischen Ordnung? Oder war der Krieg eher als legitime Austragungsform internationaler Staatenkonkurrenz anzusehen und die Erinnerung an heroische Taten deutscher Soldaten zu pflegen, damit Deutschland wieder eine Großmacht werden konnte, auf Grundlage einer autoritären Ordnung? So lassen sich zugespitzt die gegensätzlichen Interpretationslinien der Kriegserinnerung in der Weimarer Republik beschreiben. Ihren weithin sichtbaren Niederschlag fanden sie vor allem in Form von Denkmälern und im Auftreten der Veteranenverbände, insbesondere derjenigen, die sich als politisch agierende Kampfbünde verstanden.

In den ersten Jahren der Republik war aber vor allem ein spezifischer Aspekt der Kriegserinnerung einflussreich, die Deutung der Niederlage als vermeintlicher "Dolchstoß" in den Rücken der kämpfenden Truppe. Die von rechtsnationalistischen Kreisen seit Ende 1918 verbreiteten "Dolchstoßlegende" wuchs ein Jahr später Gewicht zu, als der weithin geachtete ehemalige Chef der Obersten Heeresleitung, Paul von Hindenburg, sie in seiner Aussage vor einem Untersuchungsausschuss der Nationalversammlung bekräftigte. Plausibilität gewann sie im zeitgenössischen Diskurs aus dem Umstand, dass die deutsche Niederlage nicht von einer großen Entscheidungsschlacht besiegelt worden war, sondern aus der Erschöpfung aller Ressourcen angesichts der alliierten Übermacht resultiert war. Ins Visier nahm die in Varianten präsentierte "Dolchstoßlegende" vor allem die radikale Linke, daneben aber auch die Mehrheitssozialdemokratie, verbunden mit antisemitischen und frauenfeindlichen Untertönen. Die Legende sollte die Legitimität der neuen Republik infrage stellen und die Führungsschicht des untergegangenen Kaiserreichs von der Verantwortung für den Kriegsausgang entlasten. In der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), von der sich gerade die alten Eliten vertreten sahen, wirkte die "Dolchstoßlegende" integrierend, rückte in der öffentlichen Diskussion aber in den Hintergrund, als die DNVP 1925 in die Reichsregierung eintrat. Einflussreich blieb sie in völkisch-antisemitischen Kreisen, großen Teilen der Professorenschaft und der protestantischen Geistlichkeit.

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Für eine ganz andere öffentlich vermittelte Kriegsdeutung standen in den ersten Jahren der Weimarer Republik vor allem pazifistische Organisationen. Zwar blieb ihre Mitgliederzahl überschaubar und Streit zwischen ihren Flügeln sorgte für ihre politische Marginalisierung am Ende der 1920er Jahre. Doch zunächst konnten sie unter der Parole "Nie wieder Krieg!" bei Demonstrationen zum Jahrestag des Kriegsbeginns im August jeweils mehrere hunderttausend Menschen mobilisieren.

Auszug aus einem Bericht des SPD-Organs "Vorwärts" zur Kundgebung "Nie wieder Krieg" des Friedensbundes der Kriegsteilnehmer, 1920

"Zahlreiche rote und schwarz-rot-goldene Banner wehten gestern im Lustgarten, am Dom und am Marstall: SPD und USPD hatten sich zu gemeinsamer Kundgebung zusammengefunden, und von vielen Teilnehmern wurde diese Tatsache mit Genugtuung begrüßt. Außer diesen beiden Arbeiterparteien waren die Syndikalisten und die bürgerlichen Pazifisten an der Demonstration gegen den Wahnsinn des Krieges beteiligt. Die Kommunisten aber agierten auf eigene Rechnung für ihre Ideen, die sie nicht glauben, ohne Gewalt durchsetzen zu können, und so war es nur konsequent, wenn ihre Organisation sich an dieser Kundgebung nicht beteiligte. Ungefähr 30 Redner sprachen zu den Tausenden und riefen auf zum Kampf gegen Imperialismus, Kapitalismus und Militarismus. Brausende Zustimmung hallte über den Platz. Am Museum sprach zunächst Wilhelm Dieterle vom Großen Schauspielhaus einen Prolog im Sinne der pazifistischen Idee. Von der Museumstreppe herunter sprach der Leiter des Aktionsausschusses Karl Vetter, der auf die bedeutungsvolle Tatsache hinwies, daß in diesem Jahre zum ersten Male die sozialistischen Parteien und die Gewerkschaften sich offiziell und geschlossen an einer pazifistischen Kundgebung beteiligen. […] Am Denkmal im Lustgarten sprach unter stürmischen Beifall i.a. Genosse Heller. Heute vor sieben Jahren, so führte er aus, begann das Völkermorden, das "herrliche Stahlbad". Ein Krieg, wie ihn die Weltgeschichte noch nicht gesehen hatte. Das Ergebnis: zehn Millionen tote Menschen, dahingerafft im blühenden Menschenalter. […] Den Hetzern von recht sei ins Gedächtnis gerufen: Wilhelm II. war es, der 1911 in Hamburg in bezug auf die Marine erklärte, er brauche seine Machtmittel zur Durchführung seiner Politik. Diese Politik ist heute – 20 Jahre später – gründlich durchgeführt; diese Politik hat den Krieg, den Zusammenbruch, das Elend verschuldet! Heute hat man trotzdem den Mut zu dem Versuch, diese kaiserliche Vergangenheit neu erstehen zu lassen. Die Kaiserflagge hissen, würde neue Verwicklungen bedeuten, neue Kriege, erneutes Modern – das Chaos! Scharf muß hier der Kampf geführt werden – gegen alle Kriegshetzer, in allen Ländern. Und da müssen alle Mittel angewendet werden, dies zu hintertreiben. Die arbeitenden Klassen haben den Krieg nicht gewollt. Die arbeitenden Klassen sind sich klar darüber, daß sie heute für den Krieg mit bluten müssen. Deshalb wollen wir mithelfen am Wiederaufbau Europas, an der Versöhnung der Völker. […] Wir kämpfen für die Völkerverständigung mit der Parole: Nieder mit jedem Militarismus – nieder mit der Reaktion! Es lebe die Republik! […]"

zitiert nach: Bernd Ulrich/Benjamin Ziemann (Hg.), Krieg im Frieden. Die umkämpfte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Quellen und Dokumente, Frankfurt a.M. 1997.

Keineswegs einheitlich fiel die Kriegserinnerung aus, die sich in den nach 1918 überall in Deutschland errichteten Gefallenendenkmälern manifestierte. Trauer stand zwar im Vordergrund, doch die schon aus Kostengründen oft einfachen und bereits im 19. Jahrhundert verwendeten Formen – neben dem christlichen Kreuz der Obelisk oder die Stele – sandten keine eindeutige Botschaft aus. Gleiches galt für die Inschriften, in denen von "Helden" ebenso wie von "Kameraden" und "Söhnen" die Rede war. Ebenfalls vielfältige Deutungen ließen figürlichen Darstellungen zu, die sich oft an antiken Vorbildern orientierten.

Beispiele zeitgenössischer Kriegsdenkmäler

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Wie umstritten die Kriegserinnerung politisch war, zeigte die Debatte über die Errichtung eines nationalen Gefallenendenkmals, die ohne Ergebnis endete. Ein Grabmal des Unbekannten Soldaten in Berlin nach den Vorbilder in London und Paris, das der prorepublikanische Veteranenverband "Reichsbanner" befürwortete, lehnten rechtsnationale Organisationen, an erster Stelle der "Stahlhelm", wegen der damit verbundenen Orientierung an den ehemaligen Kriegsgegnern ab. Ihr Vorschlag wiederum, in einem "Heiligen Hain" das Gedenken an die Gefallenen mit dem mythischen Kraftquell des deutschen Waldes zu verknüpfen, blieb unausgeführt, da über Standort und Gestaltung keine Einigung zu erzielen war. Der von den Sozialdemokraten geführten und von ihnen, der katholischen Zentrumspartei und den Linksliberalen getragenen preußischen Landesregierung gelang es hingegen, mit dem Umbau der Neuen Wache in Berlin einen Gedenkort zu schaffen, der sich als Deutungskompromiss der Kriegserinnerung verstehen ließ. Die Gestaltung des Innenraums setzte auf abstrakte Formen, arbeitete mit dem Kontrast von dunklen Farben und einem offenen Oberlicht. Die Inschrift beschränkte sich auf die Jahresangabe "1914/18". Damit stellte die gesamte Komposition die Trauer um die Gefallenen in den Vordergrund, erlaubte aber auch eine heroische Lesart ihres Todes.

Ende der 1920er Jahre erhielt die Kriegserinnerung einen neuen Schub. Erich Maria Remarques sehr erfolgreichem, bereits ein Jahr nach seinem Erscheinen verfilmtem Roman "Im Westen nichts Neues" von 1929, der sich primär als Anklage gegen die Schrecken des Krieges und Friedensappell lesen ließ, sowie ähnlichen Werken von Ernst Glaeser und Ludwig Renn standen Romane Werner Beumelburgs oder Franz Schauweckers gegenüber, die den Krieg als männliche Bewährungsprobe und Stifter einer mythisch überhöhten "Frontgemeinschaft" glorifizierten. Diese etwa auch von Ernst Jünger in seinem Bericht "In Stahlgewittern" in den frühen 1920er Jahren angebahnte Deutung gewann nun weit über die politische Rechte hinaus an Gewicht. Unabhängig von der eigenen politischen Position konnten vor allem Jüngere, die die Schrecken des Krieges nicht selbst erfahren hatten, sich leichter mit einer Darstellung der Soldaten identifizieren, die diese als pflichtbewusst und opferbereit Handelnde, nicht als vornehmlich Leidende zeigte. Eine solche Kriegsdeutung stand zwar nicht zwingend im Widerspruch zum Versöhnungswillen der prorepublikanischen Kräfte, ließ sich aber leichter mit der Heldenbeschwörung ihrer Gegner verbinden.

Fünf Leserbriefe zu Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues" in der Vossischen Zeitung, Anfang Dezember 1928

"Potsdam, 9. Dezember. In der "Vossischen Zeitung" ging heute der Abdruck des Werkes "Im Westen nichts Neues" von E.M. Remarque zu Ende. Diese Erzählung ist hinreißend, echt und groß. Naturgetreu wir ein photographisches Dokument, von einem Dichter erfühlt und gestaltet. Kunst rettet. Kunst macht untilgbar, was menschliche Stumpfheit zu vertuschen, zu verscharren droht: das Massenschicksal der Soldaten, das gewaltigste Stück vom Inhalt unserer Zeit. Wird der reife Zeitgeist es an diesem Buche endlich recht entdecken? Gewissen der Menschheit, werde wach! Gab es schon vor 1914 Tragödien? Sie verblassen vor dieser, vor der Tragödie des gemeinen Soldaten im Weltkriege. Glücklicher Dante, glücklicher Shakespeare, ihr ahntet nie ein Höllenwerk wie dieses: Im Westen nichts Neues! […] Martin Hohbohm"

"[…] So war es. So lamen wir von der Penne zum Kommiß, so litten und wüteten wir durch den seltsam schnell gewohnten Schrecken, taten wir, was man von uns verlangte, und mehr, als wie je jemand zugetraut hätten, während man vergleich in kurzen Redengedanken Anschluß an seine kaum begonnen Persönlichkeit zu bekommen versucht. Darum finden wir nach dem Krieg eigentlich zum drittenmal an. Jene Zeit ging weg wie ein Alptraum. Und darum muß ich diesem Erinnerungsbuche dankbar sein, denn inzwischen hat man ein wenig zu denken gelernt, und es ist an der Zeit, daß die verschüttete Vergangenheit wieder vor uns tritt. Es war ja nicht bloße Vergeßlichkeit, wie die politischen Moralisten es den "Nachkriegsmenschen" vorwarfen, aber ein gestaltender Dichter mußte kommen, um uns helfen zu können. Nur zehn Jahre hat er dazu gebraucht. Ein große Leistung. Heinz Graumann"

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"[…] Wenn nur ein Sinn in dem unsinnigsten aller Leben, das wir 1914 bis 1918 führten, sein kann, so muß es der Gedanken des Pazifismus sein, der danach seinen Siegerzug antreten sollte. Wer das Werl Remarques als einen Abenteuerroman mit schaurigen Situationen wird lesen wollen, der soll ihn lieber erst nicht zur Hand nehmen. Wer ihn aber richtig versteht, der wird die stumme Frage, die bis 1918 immer wieder gewaltsam unterdrpckt wurde, heraushören, die Frage nach dem einzigen Ziel des unwürdigen Dahinvegetierens zwischen Lazarett (dessen zwangsläufiges Folterkammerdasein Remarque i so schlichter und doch herzergreifender Realität schildert) und "Heldentod" […] Freilich, wenn wir blind und verblendet sind, wie anno 1914, dann wird uns wieder der Taumel mit seiner Suggestivkraft hinreißen, dann werden wir erst zur Einsicht kommen, wenn nichts mehr zu retten ist, wenn der nächste Krieg nicht nur Millionen der "Krieger", sondern auch der friedlichen Zivilbevölkerung hingestreckt haben wird; und dann kann es nur eine Parole geben: Wahrheit über die Wirklichkeit des Krieges, über die größten Schrecknisse; und die Konsequenz: den pazifistischen Zusammenschluß des Volkes in Deutschland und überall sonst, wie es in England die "Conscientious Objector" taten. Darum muß die Stimme es Volkes, in diesem Sinne "vox die", die Staatsmänner unterstützen, denen Friedenssicherung höchste Aufgabe ist […] Hans J. Salomon."

"Zehn Jahre ist es her, daß durch den Waffenstillstand dem entsetzlichen Morden des Weltkrieges ein Ende gemacht wurde. Überall in der Presse liest man jetzt, von verschiedenen Seiten betrachtet, Erinnerungen an jene furchtbare Zeit, deren schnelles Dahinfließen uns diese Rückblicke oft wie Märchen anmuten läßt. Jeder Gerechturteilende, der ohne die Brille politischer Verblendung mit klaren Augen durch die letzten Jahre gegangen ist, muß, selbst er ein guter Staatsbürger unter dem alten Regime gewesen ist, zu der Überzeugung gekommen sein, daß der Krieg mit seinen grauenvollen Geschehnissen und seinen noch grausameren Folgen für alle Zeiten unmöglich gemacht werden muß. […] Paula Weiß, Lehrerin."

"Ich habe von November 1914 ab an der Westfront als Unteroffizier, Feldwebel, Offizierstellvertreter und Offizier bis Juni 1918 ununterbrochen mitgemacht und geriet schließlich 1918 in französische Gefangenschaft. Ich darf mir also ein Urteil erlauben, ohne daß ich irgendwie politisch eingestellt bin. Ich wünschte, daß alle Menschen Remarque hören könnten, und daß ein jeder danach sich klar darüber wird, wie erbärmlich und wie klein er ist, wenn er nackend dasteht, und wie sinnlos die Menschen desselben Volkes und die Völker miteinander umgehen. Wie alle vergessen wieder allmählich in unserer Flachheit und Schnelllebigkeit die Sinnlosigkeit des Krieges. […] Reg.-Baurat Jacoby." zitiert nach: Bernd Ulrich/Benjamin Ziemann (Hg.), Krieg im Frieden. Die umkämpfte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Quellen und Dokumente, Frankfurt a.M. 1997.

Veteranenverbände als politische Kampfbünde

Wenn sich ehemalige Soldaten organisierten, geschah das oftmals zur Vertretung ihrer sozialpolitischen Interessen. So gehörten den Verbänden der Kriegsbeschädigten unterschiedlicher politischer Ausrichtung Ende 1919 1,4 Millionen Veteranen an, angeführt vom "Reichsbund der Kriegsbeschädigten und ehemaligen Kriegsteilnehmer", der der SPD nahestand und 600.000 Mitglieder zählte. Kaum halb so groß war dagegen die Stärke der teils auch aus ehemaligen Soldaten bestehenden Freikorps, die noch zur Zeit der Weimarer Republik im Baltikum gegen bolschewistische und andere Truppen kämpften und in Deutschland selbst gegen Aufstände von Arbeitern und der radikalen Linken vorgingen, nicht selten mit großer Brutalität.

Nach Auflösung der Freikorps schlossen sich viele ihrer Mitglieder einem neuen, zunächst auf der rechten Seite des politischen Spektrums in Erscheinung tretenden Typ von Veteranenverband an, der sich nicht in erster Linie als Erinnerungsgemeinschaft oder Interessenvertretung, sondern als politische Kampforganisation verstand. Führend war der "Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten", der seit dem Sommer 1919 in ganz Deutschland Zulauf erhielt und bis 1925 auf 225.00 Mitglieder anwuchs. Seine

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 20 distanzierte Haltung gegenüber der Republik mündete Ende der 1920er Jahre in ausdrückliche Gegnerschaft.

Charakteristisch für den "Stahlhelm" war sein Auftreten in der Öffentlichkeit. In Flaggenweihen und Massenkundgebungen, zu denen seine Mitglieder in Uniform und mit militärischem Gepränge aufmarschierten, zeigte er Präsenz und Stärke und scheute sich auch nicht, physische Gewalt gegenüber politischen Gegnern anzuwenden. So hielt er den Krieg in sichtbarer und heroisierender Erinnerung und pries den Frontkämpfer und die "Frontgemeinschaft" als vorbildhaft für die Politik. Die prorepublikanische Antwort auf den "Stahlhelm" war das 1924 gegründete und mit 600.000 Mitgliedern deutlich größere "Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Bund der republikanischen Kriegsteilnehmer". Auch seine Mitglieder, die meisten von ihnen Sozialdemokraten, trugen Uniform und traten in geschlossener Formation bei Kundgebungen auf, vor allem zum Verfassungstag im August. Anders als der deutlich kleinere Rotfrontkämpferbund der Kommunisten ging das Reichsbanner nicht mit offensiver Gewalt gegen seine Gegner auf der Rechten vor, war aber zu robuster Selbstverteidigung bereit. Zusammen mit dem "Reichsbund der Kriegsbeschädigten" betonte es in seiner Erinnerung an den Krieg dessen Grausamkeit und die Nöte der Soldaten und setzte sich für internationale Verständigung ein.

Auszug aus einer Erklärung des "Stahlhelm" auf dem Frontsoldatentag am 9. Mai 1927 in Berlin ("Berliner Stahlhelm-Botschaft")

I. Die Berliner Stahlhelm-Botschaft: Der Stahlhelm, der Bund der Schlachterprobten, unbesiegt heimgekehrten deutschen Frontsoldaten und der von ihnen zum Geste der Wehrhaftigkeit erzogenen deutschen Jungmannen, gibt am 8. Reichsfrontsoldatentag in der Reichshauptstadt die politischen Ziele bekannt, für die zu kämpfen er sich und alle seine Kameraden aufs neue verpflichtet:

Der Stahlhelm sagt den Kampf an jeder Weichlichkeit und Feigheit, die das Ehrenbewußtsein des deutsches Volkes durch Verzicht auf Wehrrecht und Wehrwillen schwächen und zerstören wollen. Der Stahlhelm erklärt, daß er den durch das Versailler Friedens-Diktat und dessen spätere Ergänzungen geschaffenen Zustand nicht anerkennt. Er fordert deshalb die Anerkennung des Nationalstaates auch für alle Deutschen, die Widerherstellung des deutschen Wehrrechts, wirksamen Widerruf des erpreßten Kriegsschuldbekenntnisses, die Regelung und Widergutmachung der Weltkriegsschäden auf Grund der soldarischen Haftung aller für den Weltkrieg verantwortlichen Völker.

Diese Ziele dürfen bei der Durchsetzung des vertragsmäßigen Rechts auf die vorzeitige Räumung der besetzten Gebiete und bei der Berichtigung der Ostgrenzen nicht preisgegeben weeden. Der Stahlhelm fordert die Wiederanerkennung der Farben Schwarz-Weiß-Rot. Unter dieser Flagge hat das Deutsche Reich die Zeit seiner höchsten Ehre erlebt, unter dieser Flagge hat das deutsche Volk seinen unvergleichlichen Heldenkampf gegen die Welt von Feinden geführt.

Die wirtschaftliche und soziale Not unseres Volkes ist verursacht durch den Mangel an Lebens- und Arbeitsraum. Der Stahlhelm unterstützt jede Außenpolitik, welche dem deutschen Bevölkerungsüberschuß Siedlungs- und Arbeitsgebiete eröffnet und welche die kulturelle, wirtschaftliche und politische Verbindung dieser Gebiete mit dem Kern- und Mutterlande lebendig erhält. Der Stahlhelm will nicht, daß durch seine Not zur Verzweiflung getriebene deutsche Volk Beute und Brandherd des Bolschewismus wird.

Der Stahlhelm bekennt sich zu der Überzeugung, daß die Geschichte des deutschen Volkes nur durch eine starke, zur Tragung der Verantwortung willige und fähige Führung bestimmt werden dürfen. Deshalb fordert er: die Stärkung der Machtbefugnisse des Reichspräsidenten, die Sicherung der Wohlfahrt von Land und Volk gegen die Willkür parlamentarischer Notverständigungen und Zufälligkeiten, die Schaffung eines Wahlrechts, dessen Ergebnisse sowohl die Uebereinstimmung mit

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 21 dem wahren Volkswillen als auch die Möglichkeit echter Regierungsverantwortung gewährleisten. zitiert nach: Heinrich Hildebrandt/Walter Kettner (Hrsg.), Stahlhelm-Handbuch, 4. Aufl. Berlin 1931, S. 13f.

Die in den Veteranenverbänden vor allem der Rechten zur Schau gestellte militärische Männlichkeit versprach, mit den vielfältigen Zeitproblemen fertig zu werden, Verlust- und Leidenserfahrungen hinter sich zu lassen. Nicht umsonst stilisierte sich der NSDAP-Führer Adolf Hitler, ein ehemaliger Soldat mit allerdings nur geringer Fronterfahrung, gerne als kraftvoller Mann. Doch auch wenn die von den Veteranenverbänden getragene Militarisierung der politischen Kultur die Weimarer Republik belastete, war der Sieg der Nationalsozialisten damit noch keineswegs garantiert.

Literaturangaben

• Boris Barth, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration: das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914-1933, Düsseldorf 2003

• Volker R. Berghahn, Der Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten 1918-1935, Düsseldorf 1966

• Richard Bessel, Germany After the First World War, Oxford 1993

• Deborah Cohen, The War Come Home. Disabled Veterans in Britain and Germany, 1914-1939, Berkeley 2001

• Martina Kessel, Demokratie als Grenzverletzung. Geschlecht als symbolisches System in der Weimarer Republik, in: Gabriele Metzler/Dirk Schumann (Hrsg.), Geschlechter(un)ordnung und Politik in der Weimarer Republik, Bonn 2016, S. 81-108

• Bernadette Kester, Film Front Weimar. Representations of the First World War in German Films from the Weimar Period (1919-1933), Amsterdam 2002

• Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985

• Reinhold Lütgemeier-Davin, Basis-Mobilisierung gegen den Krieg. Die Nie-Wieder-Krieg- Bewegung in der Weimarer Republik, in: Karl Holl/Wolfram Wette (Hrsg.), Pazifismus in der Weimarer Republik, Paderborn 1981, S. 47-76

• Susanne Rouette, Sozialpolitik als Geschlechterpolitik. Die Regulierung der Frauenarbeit nach dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt 1993

• Britta Schilling, Postcolonial Germany: Memories of Empire in a Decolonized Nation, New York 2014

• Matthias Schöning, Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914 – 1933, Göttingen 2009

• Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918-1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001

• Dirk Schumann, Gewalterfahrungen und ihre nicht zwangsläufigen Folgen. Der Erste Weltkrieg

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in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Zeitgeschichte-online, Thema: Fronterlebnis und Nachkriegsordnung. Wirkung und Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs, Mai 2004, http:// www.zeitgeschichte-online.de/thema/gewalterfahrungen-und-ihre-nicht-zwangslaeufigen-folgen

• Michaela Stoffels, Kriegerdenkmale als Kulturobjekte. Trauer- und Nationskonzepte in Monumenten der Weimarer Republik, Wien et al. 2011

• Arndt Weinrich, Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus, Essen 2011

• Robert Weldon Whalen, Bitter Wounds. German Victims of the Great War, 1914-1939, Ithaca, N. Y. 1984

• Benjamin Ziemann, Veteranen der Republik: Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918 - 1933, Bonn 2014

Textquellen

• Auszug aus einer Erklärung des "Stahlhelm" auf dem Frontsoldatentag am 9. Mai 1927 in Berlin ("Berliner Stahlhelm-Botschaft") – Aus: Heinrich Hildebrandt/Walter Kettner (Hrsg.), Stahlhelm- Handbuch, 4. Aufl. Berlin 1931, S. 13f.

• Bernd Ulrich/Benjamin Ziemann (Hg.), Krieg im Frieden. Die umkämpfte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Quellen und Dokumente, Frankfurt a.M. 1997, verwendete Quellen: 13: Leserbriefe zu Remarque, 15a: Nie wieder Krieg.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Dirk Schumann für bpb.de

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Krisenbedingungen der Weimarer Republik

Von Thomas Raithel 27.9.2018 Prof. Dr. Thomas Raithel, Institut für Zeitgeschichte München/Berlin, seine Forschungsschwerpunkte sind vergleichende Geschichte Deutschlands und Frankreichs im 20. Jahrhundert, Geschichte der Europäischen Union, Parlamentarismusgeschichte und Sportgeschichte.

Weimar = Krise?! Schon von Zeitgenossen wurde die junge Republik oftmals als krisenhaft wahrgenommen. Die Geschichtswissenschaft hat das Narrativ der krisenhaften Republik schließlich fortgeschrieben. Doch worin bestanden die Krisenbedingungen der Weimarer Republik? Eine Bestandsaufnahme.

Ein Bäckermeister zählt 1923 während der großen Inflation seine Tageseinnnahmen. Während der Inflationskrise stiegen die Preise für Lebensmittel und andere Waren in unermessliche Höhen. (© picture-alliance/akg)

Kurz zusammengefasst

• Krisen waren in der Zeit der Weimarer Republik allgegenwärtig und prägten auch die Wahrnehmung der Zeitgenossen.

• Die verschiedenen Krisen speisten sich vielfach aus politischen und wirtschaftlichen

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Strukturproblemen, waren aber auch bedingt durch gesellschaftspolitische Spannungen zwischen Vertretern "alter" Ordnungen und Traditionen und Befürwortern einer demokratischen Modernisierung.

• Allerdings: Die Instabilität und Krisenhaftigkeit der Weimarer Demokratie war kein Sonderfall, sondern eine in gewisser Weise europäische Normalität der Zwischenkriegszeit.

Die Weimarer Republik im Zeichen der Krise

Die Geschichte der Weimarer Republik wird in der Regel mit dem Begriff der Krise verbunden. Dies ist insofern berechtigt, als es massive politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Problemlagen gab, die immer wieder zu Zuspitzungen führten – etwa im "Krisenjahr" 1923, in dem sich Hyperinflation, Ruhrkampf, Regierungs- und Parlamentskrisen sowie ein nationalsozialistischer Putschversuch ballten. Die vielfältigen Schwierigkeiten waren schwere Belastungen für die erste parlamentarische Demokratie in Deutschland, und sie schufen Voraussetzungen für den Aufstieg und die Machtübernahme des Nationalsozialismus (http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/ dossier-nationalsozialismus/). Das Bild einer zutiefst krisenhaften Republik besaß freilich immer auch Charakteristika eines Konstrukts, dem eine spezifische Funktion zukam. Dies begann bereits mit den zeitgenössischen Urteilen, bei denen die Krisendiagnose vielfach standortgebunden war: So nahm ein Gegner der parlamentarischen Regierungsform bestimmte Erscheinungen des politischen Lebens kritischer wahr als ein Befürworter. Generell ist allerdings festzustellen, dass die Neigung zur Krisenperzeption und damit verbunden ein Gefühl der Unsicherheit unter den Zeitgenossen der Weimarer Republik weit verbreitet war.

Für die bundesdeutsche Selbstwahrnehmung gewann das Krisenparadigma dann grundlegende Bedeutung. "Weimar" diente über Jahrzehnte hinweg als Negativfolie, von der sich die eigenen Verhältnisse positiv abheben ließen: "Bonn ist nicht Weimar" (http://www.bpb.de/apuz/268354/die- weimarer-republik-als-metapher-und-geschichtspolitisches-argument). Wenngleich die Historiografie inzwischen ein differenziertes und weniger düsteres Weimarbild zeichnet, ist "Weimar" gegenwärtig als Negativkontrast in aktuelle Debatten zurückgekehrt. Im Folgenden geht es in einem doppelten Sinne um Krisenbedingungen der Weimarer Republik. Skizziert werden zum einen die wichtigsten Herausforderungen und Konfliktfelder sowie zum anderen die Strukturen des politischen Systems, das mit der Problembewältigung befasst war. Da diese innenpolitischen Strukturen nicht selten selbst zum Problem wurden, soll hier der Schwerpunkt der Darstellung liegen. Die krisenhaften Aspekte, die im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen, dürfen freilich nicht verabsolutiert werden. Die Weimarer Republik war nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt (http://www.bpb.de/ apuz/268352/weimar-nicht-vom-ende-her-denken), und ihre Entwicklungen dürfen nicht allein im Hinblick auf das Jahr 1933 bewertet werden. Die Weimarer Zeit war auch eine Epoche vielfältiger Potentiale, verheißungsvoller Aufbrüche und großer Leistungen – nicht nur im kulturellen Bereich. Und bis zum Schluss gab es immer auch Situationen, in denen ein anderer Weg hätte eingeschlagen werden können.

Zu berücksichtigen ist zudem, dass zwischen den Weltkriegen auch in anderen Teilen Europas und der Welt mehr oder minder schwerwiegende Krisenerscheinungen auftraten. Die Einordnung der Weimarer Republik in dieses größere Szenarium der europäischen und globalen "Zwischenkriegszeit" stellt eine schwierige Aufgabe dar, der sich die Geschichtswissenschaft zunehmend stellt.

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 25 Wirtschaftliche Probleme und sozialpolitische Grenzen

Die Wirtschaft der Weimarer Republik war von schwerwiegenden Strukturproblemen gekennzeichnet. Dies betraf zum einen die vielfach veraltete Landwirtschaft. Obwohl sie in der gesamtwirtschaftlichen Bedeutung bereits vor 1914 von der Industrie überflügelt worden war, stellte sie immer noch einen wichtigen Sektor des Wirtschaftslebens dar. Die unter globalem Konkurrenzdruck stehenden und mit fallenden Preisen für Agrarprodukte konfrontierten Landwirte erwarteten Hilfen vom Staat, die dieser angesichts seiner schwierigen Finanzlage kaum gewähren konnte. Ende der 1920er Jahre, bereits vor Beginn der Weltwirtschaftskrise (http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/21193/ weltwirtschaftskrise), führte die Agrarkrise in manchen Regionen zu heftigen bäuerlichen Protesten und zu einer Radikalisierung der Wählerschaft. Politisch brisant war in der Endphase der Republik zudem die wirtschaftliche Krise der ostelbischen Großgrundbesitzer.

Demonstration von Berliner Metallarbeitern gegen das Sparprogramm der Regierung Brüning während der Wirtschaftskrise. (© picture-alliance, akg-images) Strukturelle Probleme herrschten zum anderen auch in der Industrie, die von Kapitalmangel, Überkapazitäten und insgesamt von einer Wachstumsschwäche gekennzeichnet war. Weltwirtschaftliche Faktoren, insbesondere auch ein hohes Maß an Protektionismus (http://www.bpb. de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/20387/protektionismus), spielten eine wichtige Rolle. Kontrovers beurteilt wird in der Forschung die schon zeitgenössische Annahme, dass ein zu starkes sozialpolitisches Engagement des Staates – mit Folgen für Steuerlast und Kreditwesen – sowie ein zu hohes Lohnniveau mitverantwortlich für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten gewesen seien. In der Weimarer Republik führten diese Konfliktthemen zu einer zunehmenden Konfrontation zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften, nachdem die anfängliche Kooperation schon bald zerbrochen war. Infolge des Systems staatlicher Zwangsschlichtung von Tarifkonflikten wuchs gleichzeitig auf Unternehmerseite die Kritik am Weimarer Staat.

Die für die Weimarer Zeit ebenfalls charakteristischen Anstrengungen, die Industrie zu modernisieren, blieben ambivalent: Einerseits stellte der Rationalisierungsboom der 1920er Jahre eine notwendige weltwirtschaftliche Anpassung dar, andererseits war er belastend für einen Arbeitsmarkt, auf dem infolge der allgemeinen Wirtschaftsschwäche schon vor 1929 eine erhebliche Sockelarbeitslosigkeit

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(http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/18923/bodensatzarbeitslosigkeit) herrschte. Die beiden großen ökonomischen Krisenkomplexe der Zwischenkriegszeit – Nachkriegsinflation und Weltwirtschaftskrise – haben Deutschland jeweils stark getroffen. Nachdem die bereits im Ersten Weltkrieg einsetzende Inflation zu Beginn der Republik auch wirtschaftliche Vorteile gebracht hatte, schlug die Entwicklung seit Ende 1922 unter dem Eindruck der sich zuspitzenden Reparationsfrage und des Ruhrkampfes in eine wirtschaftlich und sozial fatale Hyperinflation (http://www.bpb.de/ nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/19643/hyperinflation) um, die das Vertrauen vieler Bürger in den Staat schwer beschädigte. Die seit Herbst 1923 vollzogene Währungsstabilisierung war dann zweifellos ein finanzpolitischer Erfolg; vor allem aufgrund kurzfristiger Kredite aus den USA konnte nun vorübergehend eine gewisse wirtschaftliche Erholung stattfinden.

Das schnelle Übergreifen der von den Vereinigten Staaten ausgehenden Weltwirtschaftskrise nach Deutschland im Herbst 1929, der Anstieg der Massenarbeitslosigkeit und die rasche Überforderung der 1927 eingeführten Arbeitslosenversicherung brachten schließlich ein breites wirtschaftliches Krisenbewusstsein zum Durchbruch. Die rigide Sparpolitik unter Reichskanzler Brüning, deren Beurteilung auch innerhalb der Forschung weiterhin kontrovers ist, beschleunigte in dieser Situation den Vertrauensschwund und das Erstarken der politischen Extreme (KPD (http://www.bpb.de/politik/ extremismus/linksextremismus/188314/linksextremismus-in-deutschland-im-europaeischen-vergleich) und NSDAP (http://www.bpb.de/apuz/30845/die-nsdap-vor-und-nach-1933)). Insgesamt zogen die wirtschaftlichen Schwächen enge Grenzen für die Möglichkeiten des zunächst durchaus ambitionierten und in mancherlei Hinsicht wegweisenden Weimarer Sozialstaates. Dies wiederum verminderte die soziale Integrationskraft der jungen Republik.

Soziokulturelle Spannungen und Widersprüche

In soziokultureller Hinsicht herrschten in der Weimarer Republik große Differenzen zwischen der an Breite gewinnenden "klassischen Moderne" und den immer noch starken Kräften der Tradition. Dies betraf nicht nur die Hochkultur – man denke etwa an die Konflikte um moderne Malerei und moderne Architektur –, sondern auch das alltägliche Leben der Menschen. Die Widersprüche zwischen alten und neuen weiblichen Rollenbildern (http://www.bpb.de/apuz/268362/grundsaetzlich-gleichberechtigt- die-weimarer-republik-in-frauenhistorischer-perspektive) – zwischen "neuer Frau" und traditionellem Mutterideal – sind hierfür ein Beispiel unter vielen. Allerdings darf kein einseitiges Bild gezeichnet werden: Es gab zwischen Tradition und Moderne nicht nur Gegensätze und Konflikte, sondern auch manche Überlappungen und Synthesen. Vor allem die Architektur bietet hierfür zahlreiche Beispiele: So nahm etwa das erste Münchner Hochhaus, das 1929 fertiggestellte Technische Rathaus, Formelemente der lokalen Baugeschichte auf.

Deutlich ausgeprägt war die transnationale Dimension einer Modernität, die einerseits Begeisterung, andererseits aber auch Verunsicherungen und kulturpessimistische Widerstände hervorrief. Die Vereinigten Staaten wurden gleichermaßen zum Vor- und Schreckbild und der Begriff "Amerika" zu einer Chiffre des Neuen, das sich vor allem in den Großstädten entfaltete. Zudem entstand mit der wachsenden Angestelltenschaft im Dienstleistungsgewerbe – neben der schon im Kaiserreich etablierten Industriearbeiterschaft – eine weitere neue urbane Bevölkerungsgruppe. Die Provinz blieb hingegen meist traditionsverhaftet, und die bereits im späten Kaiserreich (http://www.bpb.de/ izpb/224727/das-deutsche-kaiserreich-1871-1918) ausgebildete kulturpessimistische und häufig antisemitische Großstadtfeindschaft intensivierte sich.

In der Weimarer Zeit herrschten auch soziokulturelle Spannungen, die sich nicht der Dichotomie von Tradition und Moderne zuordnen lassen: Exemplarisch erwähnt seien etwa die konfessionellen Konflikte, die der politischen Kooperation hinderliche Beharrungskraft der sozialmoralischen Milieus und die Probleme der Jugend. Infolge hoher Geburtenraten im späten Kaiserreich war diese junge Bevölkerungsgruppe, die über ein zunehmendes Eigenbewusstsein verfügte, stark angewachsen; Arbeitsmarkt und Gesellschaft boten ihr jedoch oft nur wenig Chancen.

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Eine Berliner Arbeiterfamilie teilt sich in Krisenzeiten eine magere Mahlzeit. (© picture-alliance, Mary Evans Picture Library, WEIMA)

Außen- und Militärpolitik im Schatten des Ersten Weltkriegs

Außen- und militärpolitische Fragen bildeten einen wichtigen Aspekt der Belastungen, mit denen die Weimarer Republik konfrontiert war. Prägend wurde die Ausgangssituation der Kriegsniederlage. Das Deutsche Reich war für viele, die noch lange von einem glänzendem "Siegfrieden" geträumt hatten, überraschend und kaum nachvollziehbar geschlagen worden. Es musste sich Friedensbedingungen unterwerfen, die nahezu im gesamten politischen Spektrum als sehr hart empfunden wurden. Das stete staatliche Bemühen, die militärischen Restriktionen des Versailler Vertrages (http://www.bpb.de/ apuz/30789/versailles-und-weimar) zu unterlaufen, förderte die Militarisierung der extremen Rechten und gab Anlass zu schweren innenpolitischen Konflikten. Die schwelende Reparationsfrage schließlich wurde zu einem – teilweise auch innenpolitisch instrumentalisierten – Dauerproblem, das die rechten Gegner der Republik mit Propagandastoff versorgte, etwa in der Agitation gegen den Young-Plan 1929, der eine Zahldauer der Reparationsschuld bis 1988 vorsah.

Erneut ist freilich vor einem einseitigen Bild zu warnen: Die Weimarer Außenpolitik erzielte mit der Wiedereingliederung Deutschlands in das Staatensystem und den Bemühungen um eine Verständigung mit den Westmächten Erfolge, die durchaus auch Anerkennung im Innern fanden. Der langjährige Außenminister Gustav Stresemann (http://www.bpb.de/apuz/268358/gustav-stresemann- und-die-perspektive-der-anderen), der 1929 mit nur 51 Jahren starb, war einer der umstrittensten, aber auch einer der beliebtesten Politiker der Republik. Im Bereich der Militärpolitik konnte der Weimarer Staat ebenfalls gewisse Erfolge verbuchen: Die Integration der Reichswehr in den republikanischen Staat, die lange Zeit kaum vorangekommen war, machte gegen Ende der Weimarer Zeit Fortschritte. So wurde nun, anders als zuvor, die gesamte Rüstungspolitik mit der Regierung abgestimmt. Allerdings gab dies der militärischen Führung auch neue Möglichkeiten, in die innenpolitische Entwicklung einzugreifen.

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 28 Strukturen des politischen Systems

Die Strukturprobleme der Weimarer Republik begannen mit ihrer Gründung. Die Transformation des Deutschen Reiches von einer konstitutionellen Monarchie in eine parlamentarische Demokratie und in eine Republik wurde in großen Teilen des politischen Spektrums nie wirklich akzeptiert. Antipathien gab es aus gegensätzlichen Motiven: Während auf der Rechten dem Kaiserreich nachgetrauert und der mit der Kriegsniederlage verbundene Systemwechsel als fremdbestimmt empfunden wurde, ging der revolutionäre Umbruch von 1918/19 der radikalen Linken nicht weit genug.

Das bekannte Schlagwort von der "Demokratie ohne Demokraten" ist allerdings zu pauschal: Es verdeckt, dass in den Parteien der Weimarer Koalition (SPD, DDP und Zentrum) bedeutende Kräfte am Werk waren, die engagiert für eine Entfaltung der Demokratie eintraten und dass es durchaus auch integrative Erfolge der Republik gab. Letzteres zeigte sich etwa in ihrer Frühphase, als die rechtsliberale DVP unter dem Vorsitz von Stresemann faktisch in das republiktreue Lager einbezogen wurde und als große Teile der 1917 abgespaltenen linkspazifistischen Unabhängigen Sozialdemokratie (USPD) wieder Anschluss an die (Mehrheits-)SPD fanden. Ein integrativer Grundzug parlamentarischer Kultur konnte sich, vieler Widrigkeiten zum Trotz, bis Ende der 1920er Jahre auch im Reichstag entfalten. Vorübergehend kam es sogar zu einer gewissen Annäherung der konservativen DNVP an das Lager der systemtragenden Parteien. Auch die legislativen Leistungen des Reichstags – so z.B. die große Reichsfinanzreform von 1919/20 – konnten sich außerhalb der akuten Krisenphasen 1923 bis 1924 und 1930 bis 1933 durchaus sehen lassen.

Dass die Ergebnisse der Reichstagswahlen mit ihrer zunehmenden Parteienzersplitterung und dem Erstarken der Republikfeinde langfristig eine deutliche Schwächung der systemtragenden Kräfte nach sich zogen, war keine Zwangsläufigkeit. Vielmehr resultierte diese Entwicklung auch aus Ursachen, die sich erst im Laufe der Weimarer Zeit ausbildeten: So war in den ersten Jahren die harte Niederschlagung linksextremer Demonstrationen und Aufstände ein Faktor, der zur Distanzierung und Radikalisierung von Teilen der Arbeiterschaft beitrug. Neben den ökonomischen Krisen führten auf die Dauer besonders die parlamentarischen Funktionsprobleme, die auch in der Schwäche des demokratischen Lagers wurzelten, zu einem weiteren Vertrauensverlust gegenüber den demokratischen Parteien.

Bei der parlamentarischen Mehrheitsbildung und damit auch bei der Bildung und Stützung von Regierungen traten immer wieder schwere Krisen auf. Die durchschnittliche Lebensdauer der 20 Weimarer Reichsregierungen blieb entsprechend niedrig (ca. acht Monate). Kabinettsneubildungen wurden oft zu einer komplizierten Angelegenheit. Im Vergleich zur Stabilität, die den Regierungen der Kaiserzeit zu eigen war, verwundert es nicht, dass die neuen Verhältnisse als krisenhaft perzipiert wurden. Nicht selten zeigten sich zudem Schwierigkeiten im Verständnis eines modernen parlamentarischen Systems (http://www.bpb.de/izpb/8377/die-logik-der-parlamentarischen-demokratie) – etwa wenn zeitgenössisch der Einfluss der Reichstagsfraktionen auf die Kabinettsbildung kritisiert wurde.

Die konkreten Ursachen der Regierungskrisen waren komplexer, als es das lange Zeit in der Geschichtsschreibung beliebte Klischee von den zu wenig verantwortungsvollen Parteien suggeriert. Die massiven Differenzen innerhalb eines polarisierten Vielparteiensystems spiegelten die Interessengegensätze der fragmentierten deutschen Gesellschaft nach dem verlorenen Krieg. Ebenso waren sie Ausdruck der spannungsreichen politischen Gesamtlage. Ein Mehr an Kompromissbereitschaft zog immer auch die Gefahr nach sich, bei den nächsten Wahlen abgestraft zu werden – zumal das Verständnis für Pluralismus und Kompromisse in der deutschen Gesellschaft schwach entwickelt war. Die dominierenden politischen Mentalitäten waren gleichsam hinter den gesellschaftlichen und politischen Wandlungen zurückgeblieben. Und die Vielfalt und Konfliktträchtigkeit der Weimarer Verhältnisse bestärkte Gegenentwürfe, die ein ganzheitliches oder gar totalitäres Staats- und Gesellschaftsverständnis propagierten. Innenpolitische Komplikationen erzeugte phasenweise auch das seit 1922 immer wieder erkennbare Streben nach einer Großen Koalition (http://www.bpb.de/apuz/31302/grosse-koalition-schwacher-

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 29 bundestag) von der SPD bis zur DVP. Dahinter standen nicht nur arithmetische Motive, die an einer parlamentarischen Mehrheitsbildung interessiert waren. Vielmehr spielten auch das durch Weltkrieg und Nachkriegskrisen bestärkte Ideal nationaler Einheit eine Rolle sowie das taktische Bemühen der bürgerlichen Mitte, die SPD als Regierungspartner möglichst breit einzurahmen. Als 1923 unter Reichskanzler Stresemann und von 1928 bis 1930 unter Hermann Müller (SPD) tatsächlich Große Koalitionen regierten, waren diese durch starke innere Spannungen belastet und teilweise gelähmt. Gleichzeitig gab es im Reichstag fast keine systemloyale Opposition, was bei den jeweils folgenden Reichstagswahlen zum Erstarken der Extreme beitrug. Zu den strukturellen Problemen gehörte auch die Neigung zur Gewalt: linksradikale Aufstandsversuche und ihre Niederschlagung durch Militär und Freikorps sowie rechtsradikale Putschversuche in der Anfangsphase der Republik, politische Morde und schließlich die Konfrontation militarisierter parteinaher Wehrverbände (SA, Stahlhelm, Rotfrontkämpferbund und – zwischen den Extremen – Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold) untereinander und mit den staatlichen Ordnungsorganen prägten die Weimarer Zeit.

Der Versuch, die innenpolitischen Schwierigkeiten über eine Aufwertung des Reichspräsidenten zu lösen, bildete eine im Keim bereits in der Weimarer Verfassung angelegte Option, die sich dann im Laufe der Jahre entfaltete. Die Inflationskrise von 1922 bis 1924 spielte dabei eine wichtige Rolle. Erstmals wurde nun eine stark vom Reichspräsidenten gesteuerte Regierungsbildung vollzogen (Kabinett Cuno im November 1922). Außerdem wurde eine entparlamentarisierte Form der Gesetzgebung mittels des "präsidentiellen" Artikels 48 der Verfassung sowie weitgefasster parlamentarischer Ermächtigungsgesetze praktiziert. All dies geschah unter Reichspräsident Friedrich Ebert in der besten Absicht, die politische und wirtschaftliche Krise zu überwinden und die Republik zu retten.

Allerdings wurden damit auch die staatsrechtlichen Voraussetzungen für den tiefergehenden parlamentarischen Funktionsverlust geschaffen, der seit 1930 unter den "Präsidialregierungen" Brüning, Papen und Schleicher erfolgte. Inzwischen bekleidete – nach dem frühen Tod Eberts und den Reichspräsidentenwahlen von 1925 – mit Paul von Hindenburg ein Repräsentant der alten Armee und des alten Systems das höchste Staatsamt. Für Teile des Mitte-rechts-Spektrums verband sich diese Entwicklung mit der Hoffnung, das parlamentarische System nun zugunsten einer autoritär- präsidialstaatlichen Lösung aufgeben und gleichzeitig die SPD dauerhaft aus der Regierungsverantwortung drängen zu können.

Dass die Rückkehr zu einer im Reichstag verankerten Kabinettsbildung seit den Wahlen vom Juli 1932 auch die Regierungsbeteiligung der stark angewachsenen NSDAP bedeuten musste, schuf eine paradoxe Situation, die kurzfristig wohl nur durch einen Staatsstreich aufzulösen gewesen wäre. Diesen Schritt scheute der am nationalen Konsens orientierte Reichspräsident Hindenburg – und lieferte schließlich im Januar 1933, indem er sich bei der Regierungsbildung formal an den Gepflogenheiten des parlamentarischen Systems orientierte, den Weimarer Staat an seine schärfsten Feinde aus.

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 30 Vergleichende Perspektiven

Die Fragilität und Krisenhaftigkeit der Weimarer Demokratie war kein Sonderfall, sondern bis zu einem gewissen Maße europäische, ja weltweite Normalität der Zwischenkriegszeit. Auch eine Neigung zu autoritären Tendenzen ist in vielen demokratischen Staaten dieser Epoche festzustellen, wobei die Regierungen gegenüber den Parlamenten an Macht gewannen.

Der inzwischen verstärkt praktizierte historische Vergleich muss die jeweiligen nationalen Spezifika jedoch genau beachten. Hinter vordergründig ähnlichen Erscheinungen verbergen sich oft unterschiedlich zu bewertende Phänomene. Beispielsweise hatte der ebenfalls häufige Wechsel der Regierungen in der Dritten Französischen Republik eine weniger gravierende Dimension als in der Weimarer Republik. Infolge eines schwach ausgeprägten Parteiensystems und eines breiten republikanischen Konsenses wurden in Frankreich Regierungsneubildungen meist sehr schnell vollzogen. Das ministerielle Personal blieb dabei häufig stabil. Auch das Scheitern einer Demokratie und ihre Ablösung durch ein autoritäres Regime waren in der Zwischenkriegszeit keine deutsche Besonderheit. Entsprechende Vorgänge fanden europa- und weltweit, je nach Kriterien der Zählung, in 12 bis 15 weiteren Staaten statt. Besonders betroffen waren junge parlamentarische Systeme in Mittel-, Ost- und Südeuro-pa. Dabei gab es auch eine transnationale Dynamik – etwa in der Vorbildwirkung des italienischen Faschismus.

Einen Sonderfall bildet das Scheitern der Weimarer Republik allerdings im Hinblick auf die fürchterlichen Folgen: den Machtgewinn der Nationalsozialisten. Die Analyse dieses Prozesses, für den weder ein geradliniger deutscher Sonderweg noch der bloße Zufall verantwortlich ist, bleibt eine zentrale Aufgabe der Zeitgeschichtsschreibung, insbesondere auch im Hinblick auf die Einordnung und Bewertung der Weimarer Problemlagen und Krisen. Der Vergleich kann dabei sowohl transnationale Phänomene als auch nationale Spezifika klarer hervortreten lassen. Der Forschungsbedarf hierzu ist weiterhin hoch.

Literaturhinweise

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• Wirsching, Andreas: Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, München 22008.

• Wirsching, Andreas (Hg.): Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im europäischen Vergleich, München 2007.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Thomas Raithel für bpb.de

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Weimar und der kulturelle Aufbruch

Von Martina Weinland 13.9.2018 Dr. Martina Weinland ist seit 2008 Direktorin der Abteilung Sammlung in der Stiftung Stadtmuseum Berlin und seit 2018 Beauftragte für Kulturelles Erbe in der Stiftung Stadtmuseum Berlin.

Die Weimarer Republik eröffnete neue Freiheiten für Kunst und Kultur. Viele Künstlerinnen und Künstler begriffen die Republik zudem als Aufgabe: Sie wollten mit ihrer Kunst am Aufbau einer demokratischen Gesellschaft mitwirken. Ein Überblick zur Kultur der Weimarer Republik – zwischen Aufbruch und Widerstreit.

Das Bauhaus-Orchester in der Akademie des Bauhaues in Dessau, um 1931. (© picture-alliance/akg)

Kurz zusammengefasst

• Die Kunstfreiheit der Weimarer Republik beflügelte zahlreiche Kulturbereiche. Viele Künstlerinnen und Künstler wollten mit ihrer Kunst am Aufbau einer demokratischen Gesellschaft mitwirken.

• Neue Medien wie das Radio und das Kino prägten die Kulturwelt bis in breite Bevölkerungsschichten hinein. Auch thematisch suchten die Kulturschaffenden neue Felder: Themen wie die Alltagskultur oder die Emanzipation der Frau hielten Einzug in die Kunst.

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• Die gesellschaftliche Polarisierung der Weimarer Republik spiegelte sich aber auch in den Konflikten zwischen kulturellen Traditionalisten und Vertretern einer neuen "Moderne" wider.

Etwas stolpernd endete die deutsche Monarchie und holpernd startete die Weimarer Republik, die am 9. November 1918 ausgerufen wurde. Damit war die erste freie Republik in Deutschland proklamiert und der Weg offen für eine parlamentarische Demokratie. Die am 11. August unterzeichnete neue Reichsverfassung trat am 14. August 1919 in Kraft. Verabschiedet wurde sie in Weimar und gab für die Dauer von knapp 13 Jahren der Republik ihren Namen. Während ihrer gesamten Existenz hatte diese Republik harte innere und äußere Belastungen auszuhalten, die durch radikale politische Kräfte von links (http://www.bpb.de/politik/extremismus/linksextremismus/33640/weimarer-republik) und rechts provoziert wurden. Und dennoch eröffnete diese neue Republik Chancen für nahezu alle Gesellschaftsbereiche, die zuvor in der wilhelminischen Ära des Kaiserreichs (http://www.bpb.de/ geschichte/deutsche-geschichte/kaiserreich/) undenkbar gewesen waren. So garantierte Artikel 142 der Weimarer Reichsverfassung, dass Kunst, Wissenschaft und ihre Lehre frei sind. Der Staat bot ihnen Schutz und nahm an ihrer Pflege teil. Eine Zensur sollte nicht mehr stattfinden. Davon ausgenommen war jedoch das noch neue Medium Film, für Lichtspiele konnten durch Gesetz (Artikel 118) abweichende Bestimmungen getroffen werden.

Mit dieser schriftlichen Zusage im Artikel 142 der Reichsverfassung fühlten sich freie Gruppen und Vereinigungen aus allen künstlerischen Sparten (Musik, Theater, bildende Kunst und Literatur, aber auch Architektur und Design) angesprochen und aufgefordert, bei der Gestaltung einer neuen, demokratischen Gesellschaft mitzuwirken. Der gemeinsame Wille zur Veränderung und Erneuerung drückte sich auch aus in Begriffsbildungen wie Neue Sachlichkeit, Neue Frau (http://www.bpb.de/ apuz/268362/grundsaetzlich-gleichberechtigt-die-weimarer-republik-in-frauenhistorischer-perspektive) und Neues Wohnen. Das "Neue" entsprach dem Lebensgefühl der Jüngeren und stieß häufig auf den Widerstand älterer, konservativer Kreise. Umso mehr sollte Kunst dabei helfen, einen neuen Menschen zu "schaffen", der aufgeschlossen und aufgeklärt seine Zukunft gestalten würde. In dieser Aufgabe bündelten sich die Interessen sowohl der freien Gruppen als auch staatlicher Initiativen und das Image der jungen Demokratie sollte dies widerspiegeln.

Offizielle Kulturpflege

Nur wenige Monate nach Inkrafttreten der Reichsverfassung wurde 1919 die Position eines Reichskunstwartes geschaffen, angesiedelt beim Reichsministerium des Innern, mit dem Ziel, die künftige künstlerische Ausrichtung der Weimarer Republik in allen staatlichen Kunst- und Kulturfragen zentral zu lenken, zu pflegen und die künstlerische Formgebung des Reichs verbindlich zu kreieren. Dies betraf ästhetische und künstlerische Vorgaben für sämtliche Staatssymbole wie Wappen, Fahnen, Münzen, Geldnoten, Briefmarken u.a. Die großen Erwartungen, die sich ursprünglich auf diese nationale Kulturinstanz richteten, erfüllten sich nicht, weil dem künftigen Reichskunstwart nur sehr wenig Handlungsspielraum bei bescheidenem Finanzetat zugestanden wurde. So konnte dieses Amt eigentlich nur beraten und zwischen den einzelnen kulturellen Strömungen vermitteln. Für dieses komplexe Amt empfahl sich der bestens vernetzte Kunsthistoriker und Museumsdirektor Edwin Redslob (1884-1973), der für die neue Republik eine zeitgemäße Formensprache ohne Pomp und falschen Tand zu entwickeln suchte. Einen eindrucksvollen Einblick in dieses Verständnis demonstrierten die Trauerfeierlichkeiten am 6. Oktober 1929 im Berliner Reichstag für den 3 Tage zuvor verstorbenen Reichsaußenminister und Friedensnobelpreisträger Gustav Stresemann. Der Trauerzug führte mit dem Sarg des Politikers, der von sechs schwarz ummantelten Pferden gezogen wurde, vorbei am ebenfalls mit schwarzen Bannern verhüllten Brandenburger Tor bis zum Reichstag. Entlang des Trauerzuges waren alle Straßenmöbel wie Laternen einschließlich der Denkmäler am Königsplatz mit schwarzen Hussen verhüllt worden. Der Gesamteindruck vermittelte eine ruhige Monumentalität des

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Innehaltens.

Die neue Staatskunst der Republik sollte eine Verbindung zwischen Moderne und Aufbruch und den Grundfesten der Demokratie (http://www.bpb.de/izpb/248539/demokratie) vermitteln: Meinungs- und Religionsfreiheit, freie Wahlen, unabhängige Justiz und Gewaltenteilung. Stilistisch sah Redslob dies in der Kunstrichtung des Expressionismus gegeben. Es war deshalb nur konsequent, Karl Schmidt- Rottluff, einen Mitbegründer der expressionistischen Künstlergruppe "Brücke", einzuladen, einen neuen Entwurf des Reichsadlers zu entwerfen – ein Projekt von staatlicher Symbolkraft. Karl Schmidt- Rottluffs als Holzschnitt gearbeitete Entwurf fand im Parlament allerdings kaum Befürworter. In der Öffentlichkeit wurde sein Entwurf sogar als Karikatur kritisiert, spöttisch nannte man ihn "Pleitegeier".

Das Kabinett entschloss sich schließlich gegen Schmidt-Rottluffs Adler und für einen Entwurf des Künstlers Emil Doepler. Reichspräsident Ebert legte am 11. November 1919 fest, dass das künftige Reichswappen auf goldenem Grunde einen Adler mit nach rechts gewandtem Kopf und geöffneten Flügeln in schwarz, Schnabel, Zunge und Fänge hingegen in roter Farbe zeigen sollte.

Eine weitere Aufgabe des neuen Reichskunstwartes war es, eine neue Formensprache für offizielle Zeremonien und Staatsfeiern zu entwickeln. Doch auch hier stieß Redslob auf Probleme, wie etwa die Feierlichkeiten zum Verfassungstag zeigten. Nach dem Beschluss der Regierung 1921, den 11. August als Verfassungstag zum neuen identitätsstiftenden Nationalfeiertag – allerdings ohne den Status eines gesetzlichen Feiertages – einzuführen, sollte dieses Ereignis künstlerisch und staatstragend inszeniert werden. Das jährlich wiederkehrende Fest diente dazu, die enge Verbundenheit zwischen Staat und Volk zu demonstrieren. In Berlin hatte der Reichstag beispielsweise an diesem Tag geöffnet, während auf dem Platz davor eine Militärkapelle aufspielte und kirmesartige Belustigungen den Charakter eines Volksfestes verstärken sollten. Tatsächlich konnte sich der 11. August als identitätsstiftender Nationalfeiertag allerdings nicht deutschlandweit etablieren. Dies lag größtenteils an der uneinheitlichen Regelung innerhalb des Reiches. Zum letzten Mal fanden die Feiern zum Verfassungstag am 11. August 1932 statt.

Kunst für alle

Noch in den Revolutions- und Umbruchswirren nach der Abdankung hatten sich in Berlin 1918 Künstlerinnen und Künstler der bildenden Sparten Malerei, Bildhauerei, Theater, Musik und Architektur zur politisch-avantgardistischen Novembergruppe zusammengeschlossen. Gemeinsam wollten sie sich unabhängig von ihren eigenen stilistischen Richtungen allen Gesellschaftsschichten öffnen. Die Mitglieder der Gruppe verband die Überzeugung, mit ihren künstlerischen Mitteln zum Aufbau einer demokratischen Gesellschaft beitragen zu können. Kunst sollte sich nicht nur an eine begrenzte Bildungsschicht wenden wie noch zur Kaiserzeit, sondern jeder und jedem zugänglich sein. Kunst sollte dabei eine Vision vom neuen, aufgeklärten und aufgeschlossenen Menschen mitbilden und Realität werden lassen. Die Gruppe verstand sich selbst als Ideal einer pluralistischen Gesellschaft, was sich auch darin äußerte, dass es innerhalb der Gruppe mit über 400 Künstlerinnen und Künstlern keine stilistische Festlegung gab. Es wurde als Vorteil angesehen, alle modernen Richtungen (http:// www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/ersterweltkrieg/155309/zivilisationskrise-und-moderne- kunst) vom Expressionismus, Kubismus, Futurismus, Dada bis zur Neuen Sachlichkeit zu vertreten. Gerade diese Vielfalt und Freizügigkeit der einzelnen Kunststile entsprach den demokratischen Ideen der Weimarer Republik.

In den rund 15 Jahren ihres Bestehens bis zu ihrer zwangsweisen Auflösung unter den Nationalsozialisten 1933 hatte die Novembergruppe eine kulturelle Symbiose mit der vielschichtigen Gesellschaft der Weimarer Republik, einen gelungenen Spagat zwischen Kulturtraditionen des Bildungsbürgertums und der Moderne angestrebt. Vortragsreihen und Lesungen gehörten neben den Kunstausstellungen selbstverständlich zum Programm.Zu den Mitgliedern der Gruppe zählten neben

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Bertolt Brecht, Wassily Kandinsky, Mies van der Rohe und Walter Gropius nur wenige Künstlerinnen wie Käthe Kollwitz, Hannah Höch und Emy Roeder. Auch dies war ein Resultat der Zulassungsbeschränkungen an den Kunstakademien, die während der Kaiserzeit für Frauen gegolten hatten. Erst seit Beginn der Weimarer Republik konnten sich Frauen zunehmend emanzipieren, durften wählen und studieren, erkämpften sich Freiräume wie in der Novembergruppe.

Frauen galten außerdem in diesen künstlerischen Kreisen als die neue Zielgruppe, die sich von der tradierten Rollenzuweisung als Mutter und 'Heimchen am Herd' emanzipieren sollte. Auch hier griff die Kunstszene soziale Missstände auf, thematisierte zeitgenössische Debatten um die Aufhebung oder Anpassung des sogenannten Abtreibungsparagrafen (§ 218) und mischte sich gesellschaftspolitisch ein. Als eine Hauptprotagonistin gilt die Grafikerin und Bühnenbildnerin Alice Lex-Nerlinger, die zur Avantgarde politischer Künstlerinnen in der Weimarer Republik zählte und in ihrem Werk provokante Themen des Proletariats und der noch jungen Frauenbewegung aufgriff. Zentral war dabei die Debatte um das Recht auf selbstbestimmte Schwangerschaft oder aber auch auf das Recht des Abbruchs.

Literatur für alle

Die Literatur der neuen Zeit, Texte, Gedichte, Balladen, Dramen und literarische Beschreibungen, sollten nach der Vorstellung der Novembergruppe ohne Pathos und ohne Illusionen den Alltag der Bevölkerung und das Schicksal einzelner realistisch skizzieren. Viele Handlungen waren in den Großstädten angesiedelt, denn dort traten soziale Missstände und gesellschaftliche Diskrepanzen in verschärfter Weise hervor. Künstler wie Ernst Barlach, Heinrich Zille und Hans Baluschek gehörten zu denjenigen, die mit kritischen Blick die prekäre Lage des Proletariats ohne Chancen auf eine bessere Zukunft erfassten.

In den Mittelpunkt des zeitgenössischen Literaturbetriebs rückte auch die Beschreibung der Arbeitswelt, die sich signifikant änderte, da die traditionellen Handwerksberufe zunehmend verschwanden und von einem neuen Typus des Angestellten abgelöst wurden. Büroarbeit veränderte den Lebensrhythmus vieler Menschen, ihre Tagesabläufe und die sozialen Verhältnisse in den Städten. Zu den bekannten Werken, die zwischen 1918 bis 1933 entstanden beziehungsweise sich mit dieser Epoche kritisch auseinandersetzen und in schonungsloser Sozialreportage die Umwälzungen beschreiben, zählen Alfred Döblins Romane "Berlin Alexanderplatz" (1929) und "November 1918 – eine deutsche Revolution" (4teiliger Romanzyklus, 1937-1943). Dieser Roman versucht, eine Konklusion zwischen dem Scheitern der Novemberrevolution und dem Erstarken der Nationalsozialisten abzuleiten, denn Döblin bejahte die Demokratie und hoffte darauf, mit seinen literarischen Arbeiten die Bevölkerung dafür zu begeistern. Er gehörte auch zu den Mitbegründern der Gruppe 1925, in der sich linksstehende Schriftsteller und Künstler wie George Grosz und Rudolf Schlichter im Berlin des Jahres 1925 zusammengeschlossen hatten.

Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der Großstadtliteratur spielten die Verlage. Neben einer Fülle von Tages-, Mittags- und Abendzeitungen, die beinahe im Stundentakt Aktuelles und Feuilletonistisches publizierten, und den satirischen Blättern "Ulk" und "Simplicissimus" gab es die wöchentlichen Magazine "Die Pleite" und die kleine, aber vielgelesene Zeitschrift "Die Weltbühne" (1928-1933). In diesen Magazinen erschienen oftmals im Vorabdruck spätere Romane. Große Namen jener Zeit waren , Siegfried Jacobsohn und die Verleger Samuel Fischer sowie Bruno und Paul Cassirer. Die literarische Avantgarde fand sich und ihre Ideale wieder in der neuen Literatur, im Programm der Theater und Varietés und ab Mitte der 1920er Jahre auch im neuen Medium Rundfunk.

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 36 Rundfunk für alle

In der Weimarer Zeit liegen außerdem die Anfänge eines fundamentalen Medienwandels. Kunst- und Kulturschaffende konnten ihre Inhalte nicht mehr nur auf Leinwänden oder gedrucktem Papier präsentieren, sondern nun auch per Rundfunk: Mit der ersten Übertragung am 29. Oktober 1923 aus der Berliner Radiostation im Vox-Haus kam dem Rundfunk innerhalb der Demokratisierung der Republik eine zunehmend bedeutende Rolle zu. Zahlreiche Rundfunkautoren, darunter auch Bertolt Brecht, experimentierten mit neuen Formaten. So animierte Brecht seine Hörer 1929 zum Mitspielen in seinem Hörspiel Lindbergh. Mithilfe des Rundfunks sollten die Hörerinnen und Hörer aber auch Fernstudien absolvieren und ihre Allgemeinbildung vertiefen können.

Die Weimarer Kultur im Widerstreit

Schon früh hatte sich Harry Graf Kessler, ein über Weimar und Deutschland hinaus bekannter Kunstsammler, Publizist, Diplomat und Pazifist, öffentlich zu den sich abzeichnenden, zunehmend nationalistischen Tendenzen geäußert. Einen konkreten Anlass bot ihm 1930 der Amtsantritt des Nationalsozialisten Wilhelm Frick als Innen- und Volksbildungsminister in Thüringen, unter dessen Leitung republikanisch Gesinnte entlassen und bevorzugt nationalsozialistische Anhänger (vor allem im Polizeidienst) eingestellt wurden.

"Frick über Deutschland!"

Als 1904 Wilhelm II. dekretierte, dass die Bilder von deutschen Künstlern, die zur Sezession gehörten, nicht auf der Weltausstellung in St. Louis ausgestellt werden dürften, versammelten sich zum erfolgreichen Protest die namhaftesten deutschen Künstler in Weimar und gründeten zum Schutz der deutschen Kunst gegen die Willkür des damaligen Kaisers den Deutschen Künstlerbund. Heute werden auf Befehl des Herrn Frick die Bilder von Franz Marc (eines kriegsgefallenen deutschen Offiziers, also gewiss eines Frontsoldaten), von Kokoschka, Klee und anderen deutschen Künstler, die einen europäischen Ruf geniessen, aus dem Weimarer Museum ausgewiesen, um den heimkünstlerischen Geschmack des Herrn Professor Schulze-Naumburg, der gewiss kein Frontsoldat gewesen ist und keinen europäischen Ruf geniesst, entgegenzukommen.

Wenn Weimar, was anderthalb Jahrhunderte lang eine Zentrum deutschen Geisteslebens war, sich gewaltsam zu einer belanglosen Kleinstadt machen lässt, so ist das bedauerlich, aber keine Angelegenheit, die für das übrige Deutschland lebenswichtig ist. Schliesslich hat Deutschland andere Kulturzentren, die Weimar ersetzen können. Eine deutsche Angelegenheit ersten Ranges aber ist es, wenn der Geist, der in Weimar auf grund einer engstirnigen und krausen Ideologie die Museen leert und die ehemals blühende Kunstschule veröden lässt, sich über das ganze deutsche Kulturgebiet ausbreitet. Leider ist es so, dass die Gesinnung, die heute Weimar bedrückt, auch in München herrscht, wie das Verbot von Stücken wie "Cyankali" und Döblins "Ehe" beweist. Und jetzt haben wir das beschämende Schauspiel erleben müssen, wie sogar in Berlin dieser selbe Geist, in einer kleinen Schar wildgemachter Schul- und Strassenjungen verkörpert, die deutsche Reichsregierung in die Knie zwingt und damit dem Ansehen Deutschlands eine auf Jahre hinaus nicht wieder gutzumachende Wunde schlägt. Es ist der heute in Weimar herrschende Geist, der in Berlin beim Verbot des Remarque Films [Anmerkung: Im Westen nichts Neues] gesiegt hat. Frick über Deutschland! Gegen dieses kleinstädtische Gespenst, das heute nicht bloss die deutsche Wirtschaft und Politik, sondern schon die deutsche Kultur bedroht, muss man den deutschen Kulturwillen aufrufen und kann diesen Ruf nicht besser formulieren als in dem Worte des Herrn Frick persönlich und seiner Freunde: Deutschland erwache! Gez. Harry Graf Kessler, Berlin 17.XII. 1930 an die Zentral-Redaktion für deutsche Zeitungen. Quelle: Privatbesitz, Berlin

Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 wurde der Reichskunstwart Redslob von NSDAP- Reichsinnenminister Wilhelm Frick – einem erklärten Gegner der Moderne – zwangsweise in den Ruhestand versetzt. Die Position des Reichskunstwartes ging über auf das neugeschaffene

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Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Unter Leitung des NS-Propagandaministers schützte der Staat nun nicht mehr die Freiheit von Kunst und Kultur, sondern kontrollierte künftig sämtliche Inhalte der Presse, der Literatur, der bildenden Künste sowie Film, Theater und Musik.

Kulturkampf zwischen rechts und links

Dieser Wandel hatte sich bereits Ende der 1920er Jahre angekündigt. In dieser Zeit nahmen die Kontroversen zwischen den politisch links und rechts stehenden Lagern stark zu. Auch im Kultursektor wuchsen diese Spannungen und wurden in kontroversen Diskussionen innerhalb der Architektenschaft, angeführt von dem Schweizer Architekten Alexander von Senger, spürbar. Mit national Gleichgesinnten und dem "Heimatstil" verpflichteten Architekten, wie German Bestelmeyer und Paul Schultze-Naumburg, schloss Senger sich 1931 zum "Kampfbund Deutscher Architekten und Ingenieure" zusammen, um den "Vormarsch der Moderne" zu stoppen. Vor allem die Funktionalität der Bauten und der vollkommene Verzicht auf jeglichen Zierrat waren dem Kampfbund ein Dorn im Auge. Der theoretische Ansatz, dass die Form der Funktion entsprechen solle, war ein weiterer Kritikpunkt. Die Angriffe der Vereinigung richteten sich deshalb vor allem gegen Mitglieder des Internationalen Stils wie Le Corbusier und gegen Vertreter des staatlichen Bauhauses wie Mies van der Rohe. Das Bauhaus, die 1919 in Weimar von Walter Gropius gegründete Kunstschule, gehörte in allen Bereichen der Kunst und Architektur zur Avantgarde. 1925 zog die Schule um nach Dessau. 1931 gewann die NSDAP dort die Gemeindewahl und konnte 1932 die Schließung des staatlichen Bauhauses durchsetzen. Es folgte noch ein kurzes Intermezzo als privates Institut in Berlin. 1933 musste dann auch dort die einst populäre Schule aufgrund der nationalsozialistischen Repressalien gegen Lehrende und Studierende aufgelöst werden. Viele ehemalige Bauhäusler emigrierten. Die Repressalien betrafen nun aber zunehmend auch alle weiteren Kunst- und Kultursparten. So wurde alles Moderne, Andersartige als Kulturbolschewismus bezeichnet und diffamiert. Das Ideal, dem sich viele Kulturschaffende zu Beginn der Weimarer Republik verpflichtet gesehen hatten, um durch Kunst eine vernunftorientierte, aufgeklärte Gesellschaft mit demokratischen Werten zu realisieren, zerschlug sich endgültig mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Martina Weinland für bpb.de

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"Grundsätzlich" gleichberechtigt. Die Weimarer Republik in frauenhistorischer Perspektive

Von Kirsten Heinsohn 27.4.2018 ist stellvertretende Direktorin der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und Privatdozentin am Fachbereich Geschichte der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Frauen- und Geschlechtergeschichte, Jüdische Geschichte sowie Geschichte Hamburgs. [email protected]

Die Weimarer Verfassung stellte Frauen und Männer dem Gesetz nach gleich - dennoch war die Zeit aus frauenhistorischer Sicht eher durch Kontinuitäten als durch Brüche gekennzeichnet. Ein Blick auf die Frauengeschichte der Weimarer Republik auf politischer, rechtlicher und sozialer Ebene.

Junge Arbeiterinnen verpacken in einer Fabrik Spielkarten. (© picture-alliance/akg)

Die erste demokratische Republik in Deutschland existierte nur knappe 15 Jahre. Ihr Werdegang verlief zwar kurz, dafür aber dramatisch: Politische Systembrüche 1918 und 1933 (http://www.bpb.de/ izpb/137194/machteroberung-1933), wirtschaftliche Krisen am Anfang und am Ende, politische Instabilität und mehrere Regierungswechsel kennzeichneten den jungen Staat. Entsprechend ist die Geschichte der Weimarer Republik in der Regel von ihrem Ende, ihrem Anfang oder von ihren Krisen ausgehend geschrieben worden. Die traditionelle Einteilung in drei Phasen – unruhige Anfangszeit bis 1924, Konsolidierung 1924 bis 1928 und Krisenjahre 1928/30 bis 1933 – spiegelt diese politikhistorische Herangehensweise wider.[1] In einer längeren Perspektive verschwindet aber auch diese kurze

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Geschichte der Republik in Begriffen wie "Zwischenkriegszeit" oder "Katastrophenzeitalter".[2]

Zweifellos gibt es gute Gründe für all diese Bezeichnungen und Phasen, denn sie bringen den politischen Wandel sowie die Besonderheit des Jahrhunderts ("Zeitalter der Extreme") eindrücklich auf einen Begriff. Und doch gehen dabei Erkenntnisse über weitere oder andere Formen sozialen Wandels verloren, gerade jener, die weniger dramatisch waren.

Die Geschichte der Weimarer Republik (auch) aus frauenhistorischer Sicht zu betrachten, ist eine solche Perspektive. Sie kann und soll die politikhistorische Sichtweise nicht ersetzen, aber doch herausfordern. Ergeben sich vergleichbare historische Phasen und Zäsuren, wenn die Geschichte der Frauen in der Weimarer Republik in den Blick genommen wird? Haben sich die weiblichen Lebensverhältnisse in dieser Zeit gewandelt? Gab es neue Handlungsoptionen für Frauen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft (http://www.bpb.de/gesellschaft/gender/frauen-in-deutschland/)? Und wie haben Frauen selbst diese Zeit erlebt, interpretiert? Diese klassischen Fragen der Frauengeschichte zielen darauf, zunächst genau zu analysieren, wie die soziale und gesellschaftliche Lage von Frauen aussah und welche Modelle von Weiblichkeit gesellschaftlich anerkannt waren, bevor diese in ein Verhältnis zur männlichen Lebenswelt und den dort herrschenden Männlichkeitsvorstellungen gesetzt werden.[3] Statt politische Zäsuren zu untersuchen, stehen in einer solchen Perspektive gesellschaftliche Modernisierungsprozesse im Zentrum, wie etwa in dem 1987 erschienenen Standardwerk des Historikers Detlev Peukert.

Er interpretiert die erste deutsche Republik als "Krisenjahre der klassischen Moderne". Die Emanzipationsbestrebungen von Frauen sind aus seiner Sicht ebenso zentral für die Krisendeutungen der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen wie die strukturellen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt oder die breit diskutierte Erscheinung der "neuen Frau", mit der ein moderner, durch Selbstständigkeit und vor allem Selbstbewusstsein gekennzeichneter Typus von Weiblichkeit gemeint war. Der Wandel sei aber insgesamt weniger positiv gewesen, als oft angenommen, die Optionen hatten sich vergrößert, aber es "blieb dabei, daß die traditionelle Doppelbelastung der Frauen nur durch eine Kette weiterer Lasten und Irritationen ergänzt wurde". [4]

Auch die Historikerin Ute Frevert bewertet diese Entwicklungen in der Weimarer Republik als ambivalent. Die "Entdeckung der modernen Frau" sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass "die geschlechtsspezifische Begrenzung sozialer, ökonomischer und politischer Handlungsoptionen weitgehend erhalten" blieb, lautet ihr Fazit.[5] Ebenso schreibt Helen Boak ihre Frauengeschichte der Republik im Modus des permanenten Wechsels von neuen Optionen und traditionellen Einschränkungen und verweist dabei auch auf die großen Unterschiede zwischen Stadt und Land: Frauen hatten größere Wahlmöglichkeiten, aber diese standen nicht überall gleichermaßen zur Verfügung.[6]

Auch mit Blick auf die Politik, also dem Bereich, in dem mit der Zulassung von Frauen zum Wahlrecht (http://www.bpb.de/apuz/277327/frauen-waehlen) ein wichtiger Schritt zur Gleichberechtigung der Geschlechter gegangen wurde, sind die Ergebnisse eher nüchtern. Ein nachhaltiger Wandel des Politischen hat in der Weimarer Republik nicht stattgefunden.[7] Die Faszination, die die "neue Frau", die "neue Sachlichkeit" oder auch die Kultur- und Unterhaltungsszene in Berlin, München oder Weimar auslösen, ist verständlich, übersieht aber womöglich die Ambivalenzen des Frauenlebens in der Weimarer Republik.[8]

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 40 Veränderte Rollenbilder in der Nachkriegsgesellschaft?

Der Erste Weltkrieg (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/ersterweltkrieg/) markierte in vielerlei Hinsicht einen deutlichen Einschnitt,[9] auch mit Blick auf die Geschlechterverhältnisse. Wie weit die Veränderungen reichten und wie diese zu deuten seien, war aber schon unter Zeitgenossen eine umstrittene Frage. Der Krieg habe zur Entfremdung zwischen Ehepaaren geführt, Frauen selbstständiger gemacht und dadurch einen erheblichen Emanzipationsschub ausgelöst – so lauteten die Grundannahmen.[10] Für diese Interpretation gab es durchaus Belege, waren doch bereits 1915 etwa neun Millionen Männer eingezogen, die Hälfte von ihnen verheiratet. Der Krieg dauerte länger als gedacht, er forderte mehr als zwei Millionen Tote und Tausende körperlich oder seelisch Verletzte, die nicht mehr erwerbsfähig waren.

Viele Arbeitsplätze von Männern wurden während des Kriegs mit Frauen besetzt (http://www.bpb.de/ geschichte/deutsche-geschichte/ersterweltkrieg/155330/frauenarbeit-und-geschlechterverhaeltnisse), vor allem in der kriegswichtigen Rüstungsindustrie, aber auch in öffentlichen Einrichtungen. Gleichzeitig sank die Zahl der Arbeitsplätze in den Branchen, die traditionell eher Frauen beschäftigten, etwa in der Textilindustrie. Statistisch änderte sich an dem Anteil erwerbstätiger Frauen an der Gesamtbeschäftigtenzahl, der etwa ein Drittel betrug, nicht viel, aber es gab eine strukturelle Verschiebung in Richtung Industrie und Dienstleistung. Diese Entwicklung hatte sich jedoch bereits vor dem Krieg angedeutet und wurde durch die Mobilisierung der Wirtschaft für den Krieg letztlich nur beschleunigt.[11] Insofern wirkte der Krieg mit Blick auf die Ökonomie nicht wie eine Zäsur, sondern eher wie ein Katalysator mittel- bis langfristiger Trends, die sich in den nächsten Jahrzehnten weiter fortsetzten.

Viele Zeitgenossen deuteten jedoch die stärkere Sichtbarkeit von Frauen an außerhäuslichen Arbeitsplätzen und in der Verwaltung, zum Beispiel im expandierenden staatlichen Wohlfahrtswesen, in dem auch viele Frauen Arbeit fanden, als einen Bruch der traditionellen Rollenmuster. Bürgerliche Frauenorganisationen beteiligten sich darüber hinaus umfangreich an der gesellschaftlichen Mobilisierung für den Krieg, sowohl ideologisch als auch ganz praktisch in zahlreichen lokalen ehrenamtlichen Initiativen. Die Vertreterinnen der Frauenbewegung (http://www.bpb.de/gesellschaft/ gender/frauenbewegung/35265/weimarer-republik) hoben immer wieder die gesellschaftliche Bedeutung all dieser Tätigkeiten für den Krieg hervor, sprachen von "Bewährung" der Frauen an der Heimatfront und erhofften sich dafür Zugeständnisse in Fragen der Gleichstellung (http://www.bpb.de/ apuz/33138/gleichstellung-in-deutschland-im-europaeischen-vergleich), die schon vor dem Krieg artikuliert worden waren: die Zulassung von Frauen zum Wahlrecht sowie eine Berücksichtigung von Fraueninteressen in Rechtsprechung, Politik und Wirtschaft.[12]

Mit dem ersehnten Ende des Kriegs waren Hoffnungen, aber auch Unsicherheiten verbunden. Viele Ehefrauen von Soldaten, insbesondere aus den einkommensschwachen Schichten, litten unter der hohen Arbeitsbelastung im Beruf und in der Familie, die noch durch die schlechte Ernährungslage im Winter 1917 drastisch verschärft wurde. Den Alltag einer Familie zu organisieren, war allein schon harte Arbeit. Unter diesen Bedingungen erschien der Wunsch nur folgerichtig, zur friedlichen Vorkriegszeit und einer klaren geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zurückzukehren. Auch die staatlichen Behörden gingen selbstverständlich davon aus, dass die wirtschaftliche Demobilmachung, die Rückkehr von Frauen ins Haus und von Männern auf ihre Arbeitsplätze, kein Problem darstellen würden.

Mit der militärischen Niederlage und dem Zusammenbruch des Kaiserreichs im November 1918 intensivierten sich nochmals die Gefühle von Verunsicherung und Unordnung, verstärkt in den politisch unruhigen Zeiten im Frühjahr 1919, sowie eine allgemeine Fassungslosigkeit über die Bedingungen des Versailler Vertrags (http://www.bpb.de/apuz/30789/versailles-und-weimar). Im gleichen Zeitraum ergaben sich aber auch neue Handlungsoptionen für Frauen durch ihre politische Gleichberechtigung und ihre Zulassung zum Wahlrecht – damit wurden Frauen erstmals zu Wählerinnen, auf deren Interessen die politischen Parteien eingehen mussten.

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Beispielhaft zeigte sich die schwierige Mischung aus traditionellen Rollenerwartungen, Verunsicherungen über die Zukunft und Handlungsoptionen aufseiten der Frauen an der Frage der Demobilmachung:[13] Gesetzliche Vorschriften des Frauen- und Jugendschutzes, wie zum Beispiel das Verbot der Nachtarbeit, die während des Kriegs gelockert worden waren, wurden bereits im November 1918 wieder eingeführt. Zugleich wurden in Preußen Richtlinien erlassen, mit denen der Übergang in die Friedenszeit geregelt werden sollte. Zuerst sollten alle Frauen entlassen werden, die nicht auf ihre Erwerbstätigkeit angewiesen waren, dann Frauen, die auch in anderen Bereichen Arbeit finden könnten und schließlich unverheiratete Frauen aus anderen Orten. In den 1919 erlassenen, reichsweiten Verordnungen zur Regulierung der wirtschaftlichen Demobilmachung wurden diese Vorschriften zum Umgang mit Arbeiterinnen nicht übernommen, aber festgelegt, dass zuerst alle Arbeiter zu entlassen seien, die nicht von ihrem Einkommen abhängig waren. Die geschlechterneutrale Formulierung verschleierte, dass diese Verordnungen vor allem Frauen meinten. Der Anteil von Frauen an der Industriearbeiterschaft sank direkt nach dem Krieg an vielen Orten auf das Niveau von 1913 oder darunter.

Unterstützt wurden all diese Maßnahmen zusätzlich durch öffentliche Forderungen männlicher Arbeitnehmergruppen, etwa dem Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband, und zwar auch noch über den Abschluss der Demobilmachung im Sommer 1919 hinaus. Die Idee, dass Ehefrauen kein Arbeitsplatz zustehe, da sie ja versorgt seien, wurde nun auch ohne Bezug zur Kriegswirtschaft weitergetragen. Begriffe wie "Doppelverdiener" tauchten erstmals in diesen Debatten auf und wurden in der Wirtschaftskrise (http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/21193/weltwirtschaftskrise) Ende der 1920er Jahre erneut gegen berufstätige verheiratete Frauen verwendet. Neu war aber auch, dass vonseiten der liberalen und sozialdemokratischen Frauenbewegungen Widerstand gegen diese eindeutige Diskriminierung berufstätiger Frauen formuliert wurde – wenn auch zunächst lediglich dagegen, dass in den örtlichen Demobilmachungskomitees keine Frauen vertreten waren.

Arbeiterinnen bei der Fertigung von Messinstrumenten in den Apparate-Fabriken der AEG in Berlin 1928. (© picture- alliance, akg-images)

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 42 Frauen als Wählerinnen

Frauen als Wählerinnen sowie als Abgeordnete in Parlamenten (http://www.bpb.de/politik/hintergrund- aktuell/179230/1919-erste-frauen-im-parlament-18-02-2014) waren ein Novum in der Weimarer Republik – und entsprechend hoch waren die Erwartungen. Der Rat der Volksbeauftragten hatte am 12. November 1918 das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für beide Geschlechter für alle zu wählenden öffentlichen Körperschaften verkündet. Bei der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 (http://www.bpb.de/izpb/274854/die-nationalversammlung) lag die Beteiligung mit über achtzig Prozent sehr hoch; ähnliche Ergebnisse zeigten sich in den Wahlen zu regionalen und lokalen Parlamenten.

Das Wahlrecht war gegenüber dem Kaiserreich (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/ kaiserreich/) dreifach verändert worden: Das Wahlalter war gesenkt worden, erwachsene Frauen durften wählen, und es gab ein Verhältniswahlrecht. Trotz dieser Neuerungen blieben die Ergebnisse der einzelnen Parteilager zu Beginn der 1920er Jahre erstaunlich stabil: Wie schon im letzten Reichstag vor dem Krieg stellten die Sozialdemokraten die stärkste Fraktion, die Linksliberalen konnten ihre Stimmzahl deutlich erhöhen, die Rechtsliberalen verloren etwas, und auch der Anteil des katholischen Zentrums änderte sich nur unwesentlich. Die Konservativen verloren dagegen nicht so stark wie befürchtet; im Gegenteil konnte die neue Deutschnationale Volkspartei ihren Stimmenanteil bis 1928 weiter ausbauen.

Paradoxerweise konnte die SPD (http://www.bpb.de/politik/grundfragen/parteien-in-deutschland/spd/) nicht nachhaltig vom Frauenstimmrecht profitieren, obwohl sie die einzige Partei war, die diese Forderung schon seit 1891 im Parteiprogramm führte. In einigen Wahlkreisen wurden in den 1920er Jahren die abgegebenen Stimmen getrennt nach Geschlechtern ausgezählt, und dabei zeigte sich ein spezifisches Stimmverhalten von Frauen: Diese wählten im Vergleich zu Männern weniger radikal und stärker religiös beziehungsweise konservativ.[14] Dieses Muster blieb bis zum Ende der Republik erhalten; erst 1932 gelang es den Nationalsozialisten, ihren Stimmenanteil bei den Frauen zu erhöhen.

Der erwartete Linksrutsch durch das Frauenwahlrecht (http://www.bpb.de/apuz/277331/auch-unsere- stimme-zaehlt-der-kampf-der-frauenbewegung-um-das-wahlrecht-in-deutschland) blieb also aus, sodass sich auch die konservativen Kräfte, aus deren Sicht das Frauenstimmrecht sogar einer der zentralen Fehler der demokratischen Kräfte im Übergang zur Republik gewesen war, mit den neuen Rechten für Frauen arrangieren konnten.[15] Aber auch die Einschätzung, Frauen hätten Hitler an die Macht gebracht, lässt sich aus dem Wahlmuster nicht ableiten – im Gegenteil erhielt die NSDAP auch in den entscheidenden Wahlen Anfang der 1930er Jahre sehr viel mehr Stimmen von Männern als von Frauen. Sowohl die KPD als auch die NSDAP waren vom Charakter her eher Männer- als Frauenparteien, wenn auch die Kommunisten eine ganz andere Frauenpolitik propagierte als die Nationalsozialisten.[16] Sonderrolle in der Politik

Dank des Frauenwahlrechts mussten Frauen von den Parteien als Wählergruppe und als potenzielle Mitglieder adressiert werden. Alle Parteien reagierten darauf mit einer geschlechtsspezifischen Propaganda, in der Frauen die Aufgabe zugesprochen wurde, ihre Stimmen nicht für partikulare Interessen, sondern wahlweise für die des Volkes (Konservative und Liberale) oder für den Frieden und die Gemeinschaft der Werktätigen (Linke) abzugeben.[17]

Auch innerhalb der Parteien wurden Frauen gesondert organisiert, in der Hoffnung, auf diese Weise erfolgreich weibliche Mitglieder gewinnen zu können.[18] Traditionelle Strukturen der Parteien, etwa in der SPD, wurden um "Frauensekretärinnen" ergänzt, doch löste diese Ergänzung nicht das Problem, dass die traditionelle Wahl- und Mitgliederwerbung der Partei, die über den Betrieb lief, für die Agitation von Frauen wenig vorteilhaft war. Auch im sozialdemokratischen Milieu galt die Erwerbstätigkeit der Frau eher als Übergangsphase zur Familiengründung, die zudem aufgrund der Mehrfachbelastungen nur wenig Zeit für politische Abende gestattete.[19]

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 43

Diese Strukturen hatten ambivalente Folgen: Einerseits erhielten Frauen nach 1918 erstmals in allen politischen Parteien eine anerkannte Vertretung. Andererseits etablierte sich dadurch eine Art "Ghettoisierung" der weiblichen Mitglieder und damit ihre permanente Sonderrolle. Zugleich wurden parteiübergreifend die Themen, die in den separaten Frauengruppen behandelt wurden, nur zu Wahlkampfzwecken eingesetzt. Von einer intensiven Auseinandersetzung der Parteien mit Fragen der Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes der Weimarer Verfassung, der Reform weiblicher Arbeitsverhältnisse oder der Ehe- und Familiengesetzgebung kann keine Rede sein.

Die geschlechtsbezogene Organisationsstruktur der Parteien wurde sogar noch durch eine inhaltliche Arbeitsteilung unterstützt. In der Weimarer Republik bildete sich nämlich ein langfristig wirkendes Muster aus: Das Soziale, die Sittlichkeit, die Mädchen- und Frauenbildung waren die zentralen Inhalte der frauenpolitischen Parteiarbeit. Dies war auch eine Folge der Personalpolitik, denn alle Parteien nahmen bekannte Vertreterinnen aus den unterschiedlichen Frauenbewegungen auf ihre Wahllisten, um überhaupt professionelle Kandidatinnen präsentieren zu können. Für die neuen weiblichen Abgeordneten in Stadt und Land war diese Berufung wiederum eine wichtige Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten; sie erhofften sich, dass viele ihrer Anliegen aus dem Kaiserreich nun durch fleißige Mitarbeit in Parteien und Parlament endlich Gehör finden würden. Wohlfahrt und Jugendarbeit, aber auch der Schutz von Sittlichkeit sowie "berufsständische" Fragen, etwa für Arbeiterinnen aber auch Hausfrauen, zählten zu den zentralen Themen der parlamentarischen Frauenarbeit.[20]

Alle Frauenpolitikerinnen versuchten, ihre Themen in parlamentarische Beratungen einzubringen, doch blieben sie dabei weitgehend auf sich allein oder die anderen weiblichen Abgeordneten gestellt. Die Relevanzhierarchie in allen Parteien war nämlich sehr eindeutig: Die Themen der Frauenausschüsse galten als "weiblich", und sie waren damit tendenziell gegenüber den harten, "männlichen" Themen wie Außen- oder Wirtschaftspolitik abgewertet. Mit der Zulassung von Frauen zu politischen Vereinen (in Preußen 1908) sowie der Einführung des Frauenstimmrechts 1918 hatten sich damit allgemeine Strukturmerkmale der politischen Partizipation von Frauen in Parteien ausgebildet, die erst in den 1980er Jahren verändert (http://www.bpb.de/gesellschaft/gender/frauen-in-deutschland/49362/ frauen-in-der-politik) werden sollten.[21]

Sehr viele Politikerinnen äußerten sich bereits ab 1924 enttäuscht über die geringe Reichweite ihrer Stimmen und ihrer Anliegen. Manche wandten sich von den Parteien ab und schlugen als Alternativen "Frauenlisten" vor. Auch sank die Anzahl der weiblichen Abgeordneten absolut wie relativ seit der ersten Wahl zur Nationalversammlung und pendelte sich bei rund sieben Prozent ein. Im weiteren Verlauf der Republik, vor allem in ihrer dramatischen Endphase, setzte eine erneute Maskulinisierung von Politik und Parteien ein, sodass immer weniger Frauen in den Führungsgremien vertreten waren. Die generelle Entwertung der Parteien als Organisatoren gesellschaftlicher Konsensfindung im parlamentarischen Raum ab 1930 korrespondierte mit der zunehmenden Ausgrenzung von Frauen und ihren Themen aus den politischen Debatten. Die letzte Krise der Weimarer Republik äußerte sich daher auch als Rollback gegenüber der Geschlechterdemokratie.

Der radikale und brutale Aufbau des nationalsozialistischen Regimes ab 1933 führte zu einem Bruch in der kurzen Geschichte der weiblichen Partizipation an Politik. Ab Ende 1933 war nur noch die NSDAP (http://www.bpb.de/apuz/30845/die-nsdap-vor-und-nach-1933) als Staatspartei zugelassen, und diese ließ sich grundsätzlich nicht durch Frauen politisch repräsentieren.[22] Allen Frauen wurde damit zugleich das passive Wahlrecht entzogen – diese Maßnahme brachte die Maskulinisierung der Politik auf ihren symbolischen Höhepunkt und den 1908 und 1918 begonnenen Aufbruch von Frauen in die Parteipolitik zu einem vorläufigen Ende.

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 44 Anhaltende Ungleichheiten

Die Einführung des Wahlrechts für Frauen im Zuge der Revolution führte also weder zu einem kurzfristigen Linksrutsch noch zu einem nachhaltigen Wandel des als männlich konnotierten politischen Feldes. Eine Erklärung für diese Kontinuitäten liegt offenbar in der Diskrepanz zwischen der neuen staatsbürgerlichen Gleichberechtigung und der anhaltenden Ungleichheit im sozialen und privaten Raum.[23]

Erstmals wurden Frauen in der Weimarer Verfassung als gleichberechtigte Staatsbürgerinnen anerkannt: "Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten", lautete Paragraf 109. Was zunächst wie eine einfache Formel aussah, entpuppte sich durch die Einschränkung "grundsätzlich" als problematisch. Denn mit dieser Bestimmung wurde eine grundlegende Revision geschlechterspezifischer Ungleichbehandlung von Frauen (http://www.bpb. de/izpb/198038/ungleichheiten-zwischen-frauen-und-maennern) etwa im Ehe- und Scheidungsrecht, aber auch in Vermögensfragen, weiterhin blockiert.

Gesellschaftlich war die Auffassung, dass Männer und Frauen "grundsätzlich" verschieden seien, so tief verankert, dass die wenigen Frauenrechtlerinnen und Politiker, die sich für die Gleichberechtigung ohne Einschränkungen einsetzten, kaum Gehör fanden. Entsprechend gab es nur wenige Initiativen für eine Novellierung von Gesetzen und auch keine politischen Mehrheiten für grundlegende Revisionen im Reichstag. Das Familienrecht von 1900, in dem eine patriarchale Familienstruktur sowie die Verfügungsmacht des Ehemannes über das Vermögen, die Arbeit und den Körper seiner Frau festgelegt wurde, blieb letztlich unangetastet. Damit fehlte den Frauen aber eine wesentliche Voraussetzung für eine tatsächliche Gleichstellung.

Deutlich wurde dies vor allem bei jenen Themen, die traditionell allein von Männern besetzt waren, etwa im Bereich der Rechtsprechung bei der Frage, ob Frauen zum Amt des Schöffen oder Geschworenen zugelassen werden sollten. Dies war bereits zu Zeiten des Kaiserreichs eine der wichtigsten Forderungen der Frauenbewegungen gewesen. Die Vertretung der Länder, der Reichsrat, führte 1924 zu diesem Anliegen aus, dass der Mann "überwiegend eine Abneigung dagegen (habe), sich von Frauen aburteilen zu lassen und sich ihrem Urteil zu unterwerfen";[24] ähnlich argumentierte der Deutsche Richtertag. Die Abgeordneten des Reichstages nahmen deshalb die Bestimmung in das fragliche Gesetz auf, dass Frauen die Wahl zum Amt ablehnen könnten und mindestens einer der Schöffen ein Mann sein müsse.

Einfacher war es hingegen, Ausnahmegesetze für weibliche verheiratete Beamte zu erhalten, trotz eines in Paragraf 128 der Verfassung klar formulierten Verfassungsauftrages, solche abzuschaffen. Die spezifischen Regelungen, die Kündigung von verheirateten Beamtinnen aufgrund von Defiziten in den öffentlichen Haushalten, wurden nur sehr zögerlich bis 1929 abgeschafft – um 1932 in der Wirtschaftskrise wieder eingeführt zu werden. Auch in der Frage des Scheidungsrechts konnte eine Liberalisierung nicht gegen die Stimmen der Konservativen und des Zentrums durchgesetzt werden.[25]

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 45 Sichtbare Frauen

Also eigentlich nichts Neues für und von Frauen in der Weimarer Republik? Eine solche Schlussfolgerung wäre ebenso falsch wie eine einseitige Betrachtung der 1920er Jahre allein unter dem Stichwort "neue Frau". Frauen hatten nach dem Krieg mehr und neue Optionen für ihre persönliche Lebensführung, konnten sich teilweise auch in neuen Räumen ausprobieren. Dazu zählte nicht nur der Bereich der Politik, sondern auch der Sport, die Freizeitgestaltung, Berufsausbildungsangebote und überhaupt der öffentliche Raum.[26] Inwieweit diese Angebote aber genutzt werden konnten, hing von der sozialen Lage ab und auch vom Wohnort.

Eine beliebte Freizeitbeschäftigung für junge Menschen war der Kinobesuch – doch war ein solcher meistens nur in größeren Städten möglich. Zwar lebten Anfang der 1930er Jahre mehr als dreißig Prozent der Deutschen in Großstädten, aber immer noch ein Drittel auf dem Land, wo es in der Regel weder ein Theater noch eine Tätigkeit als Angestellte im Kontor für junge Frauen gab. Die neuen Arbeitsmöglichkeiten für junge Frauen entstanden in urbanen Zentren und dort auch nur in einigen industriellen Bereichen sowie in Handel und Verwaltung. Die Mehrheit aller Frauen fand weiterhin Beschäftigung als "mithelfende Familienangehörige" im Geschäft des Mannes oder Vaters in Stadt und Land.

Gegenüber der Vorkriegszeit absolvierten jedoch mehr Mädchen aus dem Arbeitermilieu eine Berufsausbildung, und in wohlhabenden Familien erwarben Mädchen zunehmend nicht nur höhere Bildungsabschlüsse, sondern entschieden sich auch, ein Studium aufzunehmen. Damit waren junge Frauen verstärkt auch in der städtischen Öffentlichkeit sichtbar – allein und auf dem Weg zur Arbeit, zur Universität, ins Kino oder im Café. Auch stieg der Anteil von Frauen in Sportvereinen signifikant, vor allem im Bereich Gymnastik und Leichtathletik.

Der erweiterte Handlungsraum gerade für junge Frauen spiegelte sich in der Mode der Zeit wider, den kürzeren, leichteren Kleidern sowie sportlichen Kurzhaarfrisuren. Und auch die Medien verbreiteten Bilder von erfolgreichen, selbstständigen, aber auch umstrittenen Frauen, seien es bekannte Politikerinnen wie Gertrud Bäumer oder Katharina von Kardorff-Oheimb, Künstlerinnen wie die Tänzerinnen Josephine Baker und Valeska Gert, die Schauspielerin oder die Kabarettistin Claire Waldoff. In den Großstädten, vor allem in Berlin, entwickelten sich erstmals eigene Frauenlokale jenseits des klassischen Clubs der Frauenvereine, in denen sich lesbische Frauen trafen und ganz nach eigenen Wünschen ihre Freizeit gestalteten.[27]

Doch sollte das medial weitverbreitete Bild der "neuen Frau" nicht darüber hinwegtäuschen, dass die große Mehrheit der Frauen ihre Individualität nur in den Grenzen der sozialen und geschlechtsspezifischen Möglichkeiten leben konnte. In Ausbildung, Beruf, Familie und auch in der Freizeit waren Frauen weiterhin nur "grundsätzlich" gleichberechtigt. Aber immer mehr Frauen hofften, in einer Zeit zu leben, die ihnen Selbstverwirklichung und Verantwortung für das eigene Leben ermöglichen würde.[28] Eine Zeitgenossin sah genau in dieser Hoffnung das zentrale Merkmal der "neuen Frau": "Die Frau von heute ist also keine künstlich gewollte Erscheinung, aus bewußter Ablehnung gegen ein bestehendes System konstruiert, sie ist vielmehr organisch mit der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung der letzten Jahrzehnte verwachsen. Ihre Aufgabe ist es, dem Gedanken der Gleichberechtigung der Frau auf allen Lebensgebieten die Wege zu bahnen."[29] Hinweis: Dieser Text ist zuerst in "Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 18-20/2018) (http:// www.bpb.de/apuz/268362/grundsaetzlich-gleichberechtigt-die-weimarer-republik-in-frauenhistorischer- perspektive)" erschienen.

Fußnoten

1. Vgl. Eberhard Kolb/Dirk Schumann, Die Weimarer Republik, München 20138. Zur öffentlichen Erinnerung und wissenschaftlichen Erforschung der Weimarer Republik siehe auch die Beiträge

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von Franka Maubach, Jörn Leonhard und Ursula Büttner in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). 2. Vgl. Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005; Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 19975. 3. Vgl. Claudia Opitz, Um-Ordnungen der Geschlechter. Einführung in die Geschlechtergeschichte, Tübingen 2005; Kirsten Heinsohn, Parteien und Politik in Deutschland. Ein Vorschlag zur historischen Periodisierung aus geschlechterhistorischer Sicht, in: Gabriele Metzler/Dirk Schumann (Hrsg.), Geschlechter(un)ordnung und Politik in der Weimarer Republik, Bonn 2016, S. 283–286. 4. Detlev J.K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt/M. 1987, S. 106. 5. Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt/M. 1986, S. 198. 6. Vgl. Helen Boak, Women in the , Manchester–New York 2013, S. 293. 7. Vgl. Metzler/Schumann (Anm. 3). 8. Vgl. Katharina von Ankum (Hrsg.), Frauen in der Großstadt. Herausforderung der Moderne?, Dortmund 1999; Hanna Vollmer-Heitmann, Wir sind von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt. Die zwanziger Jahre, Hamburg 1993. 9. Siehe auch den Beitrag von Dirk Schumann in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). 10. Vgl. Birthe Kundrus, Geschlechterkriege. Der Erste Weltkrieg und die Deutung der Geschlechterverhältnisse in der Weimarer Republik, in: Karen Hagemann/Stefanie Schüler- Springorum (Hrsg.), Heimat-Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt/M.–New York 2002, S. 171–187. 11. Vgl. Frevert (Anm. 5), S. 150–155; Boak (Anm. 6), S. 137–164. 12. Angelika Schaser, Frauenbewegung in Deutschland 1848–1933, Darmstadt 2006. 13. Vgl. dazu und im Folgenden Susanne Rouette, Sozialpolitik als Geschlechterpolitik (http://www. bpb.de/nachschlagen/lexika/handwoerterbuch-politisches-system/202023/frauen-und-politik-von- der-frauenpolitik-zur-geschlechterpolitik). Die Regulierung der Frauenarbeit nach dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt/M. 1993, S. 92–170. 14. Vgl. Boak (Anm. 6), S. 76–82. 15. Vgl. Walter Graef, Der Werdegang der Deutschnationalen Volkspartei 1918–1928, in: Max Weiß (Hrsg.), Der nationale Wille, Berlin 1928, S. 20. 16. Vgl. Klaus-Michael Mallmann, Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 2012, S. 131–141; Hans-Jürgen Arendt/Sabine Hering/ Leonie Wagner, Nationalsozialistische Frauenpolitik vor 1933. Dokumentation, Frankfurt/M. 1995. 17. Vgl. Julia Sneeringer, Winning Women’s Votes. Propaganda and Politics in Weimar Germany, Chapel Hill 2002. 18. Vgl. zusammenfassend dazu Boak (Anm. 6), S. 82–88. 19. Vgl. Karen Hagemann, Frauenalltag und Männerpolitik. Alltagsleben und gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990, S. 552–583. 20. Vgl. Heide-Marie Lauterer, Parlamentarierinnen in Deutschland 1918/19–1949, Königstein/Ts. 2002, S. 120–151. 21. Vgl. Heinsohn (Anm. 3). 22. Vgl. Arendt/Hering/Wagner (Anm. 16), S. 85. 23. Vgl. Ute Gerhard, Grenzziehungen und Überschreitungen. Die Rechte der Frauen auf dem Weg in die politische Öffentlichkeit, in: dies. (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 509–546, hier S. 544. 24. Verhandlungen des Reichstages, Bd. 368, Anlagen, Berlin 1924, S. 2534. 25. Vgl. Dirk Blasius, Ehescheidung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1992. 26. Vgl. Boak (Anm. 6), S. 254–291. 27. Vgl. Ilse Kokula, Freundinnen. Lesbische Frauen in der Weimarer Zeit, in: Kristine von Soden/ Maruta Schmidt (Hrsg.), Neue Frauen. Die zwanziger Jahre, Berlin 1988, S. 160–166. 28. Vgl. Moritz Föllmer, Auf der Suche nach dem eigenen Leben. Junge Frauen und Individualität in der Weimarer Republik, in: ders./Rüdiger Graf (Hrsg.), Die "Krise" der Weimarer Republik. Zur

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Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt/M. 2005, S. 287–318. 29. Elsa Hermann, So ist die Neue Frau, Hellerau 1929, S. 43.

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Bilder der Weimarer Republik West- und ostdeutsche Rezeptionsgeschichte im Vergleich

Von Axel Schildt 13.9.2018 Prof. Dr. Axel Schildt ist Zeithistoriker und war bis 2017 Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte und Prof. für Neuere Geschichte an der Universität Hamburg.

Weimar war lange Zeit unpopulär und ihr Bild politisch überformt. In der Rezeption der frühen Bundesrepublik galt die Weimarer Republik als mahnendes Beispiel, aus dem Lehren gezogen werden sollten. Die DDR beklagte die unvollendete Revolution der Jahre 1918/1919. Wie haben sich die Bilder gewandelt?

Kurz zusammengefasst

• Die Rezeption der Weimarer Republik war in beiden deutschen Staaten vom Kalten Krieg geprägt.

• In der Bundesrepublik galt sie als Negativbeispiel, aus dem man Lehren ziehen konnte.

• In der DDR galt das Scheitern der Republik als eine Folge einer nicht vollendeten Revolution und der Etablierung einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung.

Die Weimarer Republik war in beiden deutschen Staaten nicht populär und wurde von geschichtspolitischen Konstruktionen des Kalten Krieges geprägt. In groben Strichen zusammengefasst: In der Bundesrepublik galt die erste deutsche Demokratie als negatives Beispiel, aus dem die Lehren gezogen werden sollten, um die zweite Demokratiegründung zum Erfolg zu führen. In der Geschichtspropaganda der DDR wurde das Scheitern der Weimarer Republik als Folge des Abbruchs der Revolution und der Etablierung eines bürgerlichen Staates und kapitalistischen Wirtschaftsordnung angesehen. Während diese Sicht ungeachtet vieler Differenzierungen bis zum Ende der DDR beibehalten wurde, drangen alternative Deutungen, die Möglichkeit eines "dritten Weges", in der Bundesrepublik parallel zur Abschwächung des Kalten Krieges allmählich durch. Zugleich wurde nun auch die Gesellschaft und Kultur der Weimarer Republik in ihrer faszinierenden Widersprüchlichkeit entdeckt, ohne das von vornherein vorhandene schlechte Image völlig zu überdecken.

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 49 Die unpopuläre Republik

Die Weimarer Republik war in West- und Ostdeutschland gleichermaßen unpopulär, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. In der Bundesrepublik diente sie von den Gründungsjahren an als Negativfolie. Aus ihrem Scheitern sollten die Lehren für eine nun erfolgreiche zweite Demokratiegründung gezogen werden.

In der DDR wurde das Scheitern der Weimarer Republik geschichtspolitisch in Anspruch genommen und als Bestätigung dafür interpretiert, dass die Niederschlagung der Revolution von 1918 und die Aufrichtung einer kapitalistischen Staats- und Gesellschaftsordnung in der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre zwangsläufig zur "Machtübergabe" an Hitler, der Etablierung einer faschistischen Diktatur und schließlich zum Weltkrieg führen mussten. Die Republik von Weimar konnte in dieser Sicht nur eine "Republik auf Zeit" (Wolfgang Ruge) sein.

Während in der Bundesrepublik die erste deutsche Republik als schwache und mit Strukturfehlern behaftete Demokratie ohne Demokraten erschien, war in der DDR die parlamentarische Demokratie, die lediglich als getarnte Diktatur der Bourgeoisie galt, selbst eine folgenreiche Fehlentwicklung der Geschichte. Ihren symbolischen Ausdruck fanden diese sich auch im zeitgenössischen Diskurs voneinander abgrenzenden Sichtweisen in der Erinnerung an die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Januar 1919. Dass der Mord an den Gründern der KPD, für den hauptsächlich ein sozialdemokratisches Regierungsmitglied (Gustav Noske) politisch verantwortlich war, in einem westdeutschen bundesamtlichen Bulletin vom 8. Februar 1962 als "standrechtliche Erschießung" bezeichnet wurde, weil Deutschland nur so "vor dem Kommunismus gerettet werden konnte", und dass der verantwortliche Offizier Waldemar Pabst als wohlhabender Waffenhändler bis zu seinem Tod 1970 in der Bundesrepublik lebte, passte nur zu gut in die ostdeutsche Geschichtspropaganda. Die Lehren aus Weimar, so dekretierte die SED, seien bereits durch die "antifaschistisch-demokratische" Umwälzung in der SBZ unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gezogen worden. Die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Weimarer Republik radikalisierten sich zunehmend im Kalten Krieg. Während in der Bundesrepublik die offiziöse Version dominierte, Nationalsozialisten und Kommunisten hätten in Weimar als totalitäre Bewegungen einträchtig die Demokratie bekämpft, betonte die Geschichtspolitik der DDR die enge Verbindung der kapitalistischen und bürgerlichen Eliten mit der NSDAP. In der verbindlichen Sprachregelung der marxistisch-leninistischen Geschichtspolitik war die Partei Hitlers lediglich eine Marionette besonders aggressiver Teile eines Monopol- und Finanzkapitals. Zudem wurde die Sozialdemokratie der Weimarer Zeit kritisiert, weil sie eine Stütze der bürgerlichen Herrschaft gewesen sei und so Mitverantwortung für die Durchsetzung Hitlers trage. Schon die unterschiedliche Bezeichnung der Hitler-Partei als "nationalsozialistisch" in der Bundesrepublik und als "faschistisch" in der DDR illustriert die west- östlichen Gegensätze.

Über die Gründe für das schlechte Image der Weimarer Republik wurde sowohl in West- als auch in Ostdeutschland kaum nachgedacht. Die Herabsetzung der ersten deutschen Demokratie wurzelte nämlich bereits im zeitgenössischen politischen Kampf der 1920er Jahre selbst. Obwohl in den ersten freien und gleichen Wahlen – unter Einschluss der Frauen – zur Nationalversammlung im Januar 1919 eine Mehrheit von zwei Dritteln für die demokratischen Parteien stimmte, setzte sich bereits in den 14 Jahren des Bestehens der Weimarer Republik eine abwertende Charakterisierung in der politischen Kultur durch. Der Begriff "Vernunftrepublikaner" zeigte an, dass viele Anhänger der bürgerlichen Parteien wie etwa der nationalliberalen Deutschen Volkspartei, die Weimarer Republik nur als kleineres Übel sahen gegenüber dem politischen Chaos und eine drohende Revolution nur bedingt unterstützten. Und nicht nur die Kommunisten erhofften eine Überwindung des demokratischen und kapitalistischen Systems. Selbst in der Sozialdemokratie, die besonders eng mit der Entstehung des neuen Staates verbunden war und den ersten Reichspräsidenten und den ersten Reichskanzler stellte, gab es Diskussionen darüber, wie man zu einer echten "Wirtschaftsdemokratie" kommen könnte. Ein Slogan lautete: "Demokratie, das ist nicht viel – Sozialismus ist das Ziel!" Allerdings organisierten die Sozialdemokraten und die von ihnen kontrollierten Gewerkschaften am Ende der Weimarer Republik, gemeinsam mit Teilen der katholischen Zentrumspartei und der liberalen Staatspartei, die "Eiserne Front" als Sammlungsbewegung zum Schutz der Demokratie.

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Deutschnationale und deutsch-völkische Kräfte und dann die NSDAP verweigerten der Weimarer Republik sogar die Anerkennung als Staat. Sie sprachen vom "System der Novemberverbrecher", ein Narrativ, das bereits im Kern antisemitisch geprägt war. Befördert worden sei dieses "System" durch die Manipulation intellektueller und meist jüdischer Demagogen. Diese hätten die proletarischen Massen aufgehetzt und so einen Dolchstoß in den Rücken des deutschen Heeres verübt und seien somit verantwortlich für die Niederlage im Ersten Weltkrieg. Die neue Regierungselite hätte Deutschland daraufhin mit dem Vertrag von Versailles in eine Knechtschaft unter den alliierten Mächten geführt. Diese haltlose Konstruktion galt im "Dritten Reich" als verbindliche Deutung der Weimarer Nachkriegszeit. Der brutale Terror gegen die politischen Gegner auf der Linken wurde 1933/34 durch eine Fülle von Korruptionsprozessen gegen Politiker der Weimarer Republik 1933/34 propagandistisch begleitet. In Köln zum Beispiel sah sich der damalige Oberbürgermeister Konrad Adenauer mit der Parole konfrontiert: "Fort mit Adenauer! Schluss mit der schwarz-roten Korruptionsmehrheit!"

Nach dem Zweiten Weltkrieg lag die Herabsetzung der Weimarer Republik vor allem für jene Bevölkerungsteile nahe, die ihr Engagement für die NS-Bewegung zu erklären hatten. Nicht selten wurde dieses mit dem Protest gegen die katastrophalen Weimarer Zustände gerechtfertigt.

Das anhaltend schlechte Image der ersten deutschen Demokratie ist allerdings nicht allein auf die Nachwirkungen der NS-Propaganda und die Rechtfertigungsnotwendigkeiten NS-belasteter Eliten zurückzuführen. Es entsprach zugleich den Lebenserfahrungen großer Teile der Bevölkerung. Die Weimarer Republik wurde als eine Zeit der ökonomischen Krisen und beruflichen Blockaden erinnert, die sogenannten Friedensjahre des "Dritten Reiches" hingegen von vielen als Phase sozialen Aufstieges und materieller Besserstellung geschätzt. Dass die Rüstungskonjunktur der 1930er Jahre der Vorbereitung des Weltkrieges diente, wurde kaum reflektiert. Insofern verwundert es nicht, dass bei einer repräsentativen Erhebung des Instituts für Demoskopie Allensbach (1951) nur sieben Prozent der Befragten die Weimarer Republik als die Zeit angaben, in der es Deutschland am besten gegangen sei (45 Prozent entschieden sich für das Kaiserreich und 40 Prozent für die Zeit von 1933 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs). Solche Umfragen gab es in der DDR nicht, aber das schlechte Image der ersten deutschen Demokratie kann als gesamtdeutsche Grundlage gelten.

Lehren aus Weimar

Das Grundgesetz der Bundesrepublik, das 1948/49 im Parlamentarischen Rat ausgearbeitet wurde, gilt als prinzipieller Gegenentwurf zur Weimarer Reichsverfassung (WRV). Die in Artikel 1-19 vorangestellten und nicht durch Mehrheiten veränderbaren Grundrechte unterstrichen den normativen Wertegehalt gegenüber dem bloß "positivistischen" Charakter der WRV, die als bloßer Parteienkompromiss mit einem "Ermächtigungsgesetz" ausgesetzt werden konnte. Auch die staatliche Organisation – Demokratie, Republik, Bundesstaat, Sozialstaat – sollte Widersprüche wie in der WRV vermeiden, die als Strukturfehler angesehen wurden: Regierungen durften nicht mehr durch Negativkoalitionen abgesetzt werden können. Es bedurfte nun eines "konstruktiven Misstrauensvotums". Die Machtbefugnisse des Reichspräsidenten, der auf Basis des Notstandsparagraphen 48 der WRV Reichsregierungen einsetzen konnte, hatten sich unheilvoll ausgewirkt. Das Amt des Bundespräsidenten sollte nach der Architektur des Grundgesetzes, anders als der Weimarer Reichspräsident, nicht vom Volk gewählt werden, um zu vermeiden, dass eine gleich- oder sogar höherwertige präsidiale Legitimation neben dem Parlament entstehen könnte. Als zentrale Lehren des Scheiterns der Weimarer Demokratie galten die Verhinderung häufiger Wahlen, der Zersplitterung und Verantwortungslosigkeit der Parteien ebenso wie die Aufstellung hoher Hürden für den Einzug in den Bundestag und für Volksabstimmungen. Dahinter stand das allgemeine Bild der von dämonischen Demagogen der totalitären Bewegungen aufgepeitschten Masse, die schließlich Hitler an die Macht gebracht hätten. Dass dies ein – bewusst oder unbewusst benutztes – konservatives Entlastungsnarrativ zur Verdeckung der hauptsächlichen Verantwortung konservativer Eliten war und auch die Strukturdefizite der WRV einen geringeren Anteil an der Zerstörung der Weimarer Republik hatten als lange behauptet, gilt heute in der geschichtswissenschaftlichen Forschung als weithin

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 51 geteilter Konsens.

Die vielzitierte Formel des Publizisten Fritz René Allemann "Bonn ist nicht Weimar" (1956) drückte die Erleichterung darüber aus, dass die zweite deutsche Demokratie im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin sich auf der Basis eines erfolgreichen wirtschaftlichen Wiederaufbaus politisch stabilisiert hatte. Wie nachhaltig sich das Narrativ der gescheiterten Weimarer Republik allerdings etabliert hatte, wird bis heute in krisenhaft empfundenen Phasen immer wieder deutlich. Von der Gefahr der Wiederkehr "Weimarer Verhältnisse" als Inbegriff politischer und wirtschaftlicher Unordnung wurde während der kurzen Phase der Rezession 1966/67 gesprochen, und bis 1968 diente die angebliche Parteienzersplitterung der ersten deutschen Demokratie als Argument für den noch im Vertrag zur Großen Koalition vereinbarten Übergang zu einem Mehrheitswahlrecht.

Einige politische Ereignisse und Entwicklungen der Weimarer Republik wurden im Übrigen in der Bundesrepublik bereits seit der Mitte der 1950er Jahre als positive Tradition hervorgehoben. Dazu zählte etwa die Benennung der Bundeszentrale für Heimatdienst (seit 1964 Bundeszentrale für politische Bildung) in Anlehnung an die Vorläuferorganisation in den 1920er Jahren. Vor allem der Kult – einschließlich eines Kinofilms – um den "Friedenskanzler" Gustav Stresemann passte gut zur Vermittlung der angestrebten deutsch-französischen Aussöhnung und europäischen Integration. Kritische Fragen zu seiner politischen Biographie wurden erst Jahrzehnte später gestellt.

Während in der Bundesrepublik die Weimarer Republik, wenn auch lange vornehmlich als Negativfolie, nachwirkte, spielte sie in der DDR als Tradition eine noch geringere Rolle. Lediglich die Geschichte der Kommunistischen Partei (KPD), in der die meisten Funktionäre der Staatspartei (SED), etwa Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht, in führender Funktion tätig gewesen waren, bildete eine historische Erfahrungsbrücke, ansonsten begann die "Zeitgeschichte" definitorisch mit dem Sieg über den "Hitler- Faschismus" und der DDR.

Die Beurteilung der Novemberrevolution – erstaunliche deutsch- deutsche Gemeinsamkeiten

Der Kalte Krieg, in dem sich West- und Ostdeutschland quasi stellvertretend als Frontstaaten gegenüberstanden, führte zu einer erstaunlichen Gemeinsamkeit in der Charakterisierung des Scheiterns der Novemberrevolution als Fundament der Weimarer Republik. In den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte erschien 1955 ein Aufsatz des Kieler Historikers Karl Dietrich Erdmann, der die dominante Interpretation vorgab: 1918/19 habe sich Deutschland in einer dramatischen Entscheidungssituation zwischen proletarischer Diktatur und parlamentarischer Republik befunden. Die verantwortlichen Kräfte der Regierung, die Sozialdemokraten um Friedrich Ebert, hätten gar nicht anders gekonnt, als mit konservativen Kräften, vor allem dem kaiserlichen Offizierskorps, zu kooperieren. Diese Sicht der Dinge, die den mehrheitlich reformistischen Teil der Sozialdemokratie in das Lager der antibolschewistischen Ordnung integrierte, erfüllte eine wichtige geschichtspolitische Funktion in der Bundesrepublik.

Dem Szenario einer dramatischen Alternative wurde aber auch von Historikern der DDR, selbstverständlich mit spiegelbildlicher Wertung, zugestimmt. Denn dadurch erhöhte sich auch die Bedeutung der revolutionären Kräfte in der Weimarer Republik. Interne Debatten gab es in der DDR 1957/58 allerdings darüber, ob es sich bei der Novemberrevolution um eine proletarische Revolution oder um eine bürgerlich-demokratische Revolution gehandelt habe. Walter Ulbrich setzte die Formel durch, es sei letztere gewesen, durchgeführt allerdings in gewissem Umfang mit proletarischen Mitteln und Methoden. Eine proletarische Revolution konnte es gemäß der marxistisch-leninistischen Doktrin nicht gewesen sein, denn diese wäre nicht ohne starke kommunistische Partei zu organisieren gewesen. Die KPD war aber erst am Jahreswechsel 1918/19 gegründet worden.

In der Bundesrepublik meldeten sich bereits in den 1960er Jahren kritische Stimmen gegen die These von der dramatischen Entscheidungssituation zu Wort, zu nennen sind die Historiker Erich Matthias,

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Peter von Oertzen, Ulrich Kluge u.a., die auf die nicht vorhandene empirische Grundlage dieser Theorie verwiesen. Die Arbeiter- und Soldatenräte hatten sich in ihrer übergroßen Mehrheit als aus der Not geborene Ordnungsmacht und nicht als Gegner der parlamentarischen Demokratie erwiesen, während linksradikale und kommunistische Einflüsse gering geblieben waren. Insofern hätte es für die Mehrheitssozialdemokratie Chancen gegeben, eine auf die Räte gestützte soziale Demokratie zu etablieren, ein Zwang zur Kollaboration mit den republikfeindlichen alten Eliten habe nicht bestanden. Der kommunistische Einfluss in den 1920er Jahren wiederum sei aus der Enttäuschung breiter Schichten der Arbeiterschaft über die Politik der Sozialdemokratie entstanden.

Dieser Interpretationsrahmen, der sich nicht zufällig in den 1960er Jahren, im Vorfeld der Protestbewegungen, entfaltete, wurde von den konservativen Historikern der Bundesrepublik wie von der geschichtspolitischen Propaganda der DDR als Illusion eines "reinen Rätegedankens" bzw. eines "dritten Weges" als Möglichkeit einer friedlichen Entwicklung im Gleichklang bekämpft. Im Fortgang seit den 1970er Jahren hielten die Historiker der DDR an ihrer offiziellen Interpretation fest, während sich die Diskussion in der Bundesrepublik differenzierte. Zwar wurde nun die weitgehende Zusammenarbeit der Sozialdemokratie mit den alten Eliten kritischer als zuvor betrachtet, aber auch die Chancen eines "dritten Weges" relativiert. Im Übrigen wurde die Novemberrevolution sowohl in der Geschichtspolitik als auch in den Forschungsinteressen der Geschichtswissenschaft immer weiter in den Hintergrund gedrängt und erst seit einigen Jahren wieder als "vergessene Revolution" (Alexander Gallus) wiederentdeckt.

Auflösung, Selbstpreisgabe oder Zerstörung – das Ende der Weimarer Republik

Mehr noch als der Anfang der Weimarer Republik interessierte ihr Untergang. Ihr Scheitern beglaubigte zugleich den über alle politischen Lager hinweg weithin bestehenden Konsens, dass sie strukturell von Anfang dem Untergang geweiht gewesen sei. Dabei setzte eine empirische Forschung zur Endphase der Weimarer Republik erst ein Jahrzehnt nach Kriegsende ein. Zuvor dominierten die Memoiren politischer und militärischer Entscheidungsträger, in denen vor allem den Siegern des Ersten Weltkrieges und deren Diktat von Versailles eine hohe Bedeutung für den Aufstieg der NS-Bewegung zugemessen wurde. Nicht die Weimarer Republik, sondern die Präsidialkabinette ihrer Endphase 1930 bis 1933 (Heinrich Brüning, Franz von Papen, Kurt von Schleicher), die zum Abbau der parlamentarischen Demokratie beitrugen, galten in der Zeitzeugenliteratur häufig als positive Alternative zum Nationalsozialismus.

Erst Mitte der 1950er Jahre gelangten die von den alliierten Mächten beschlagnahmten staatlichen Unterlagen aus der Zeit der Weimarer Republik in die Archive der beiden deutschen Staaten und ermöglichten fundierte politikgeschichtliche Forschungen. Eine wegweisende geschichtswissenschaftliche Studie veröffentlichte der Historiker Karl Dietrich Bracher unter dem Titel "Die Auflösung der Weimarer Republik" (1955). Erstmals wurden auf breiter Quellengrundlage die politischen Konstellationen der Phase der Präsidialkabinette 1930-1933 dargestellt. Bracher betonte die politische Verantwortung der konservativen Politiker für die Durchsetzung Hitlers. Allerdings wurde sein theoretischer Deutungsrahmen eines Machtvakuums, in dem sich die demokratische Republik auflöste und das von der NS-Bewegung ausgenutzt werden konnte, von zwei Seiten angegriffen. Konservative Interpreten wiesen der Sozialdemokratie, die 1930 die "Große Koalition" mit dem Zentrum, der DVP und der DDP im Streit um die Höhe der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung verlassen hatten, eine hohe Verantwortung zu. Die Historiker Karl Dietrich Erdmann und Hagen Schulze sprachen in diesem Zusammenhang von der "Selbstpreisgabe einer Demokratie". Linksliberale Interpreten wie Kurt Sontheimer betonten dagegen eher das rechte "antidemokratische Denken in der Weimarer Republik", so der Titel seines gewichtigen Werks von 1962, als verhängnisvolle Belastung ihrer politischen Kultur.

In der DDR ging die Geschichtsforschung und -propaganda dagegen von einer zielbewussten "Zerstörung" der bürgerlichen Demokratie durch eine Allianz von bürgerlichen Eliten und der NS- Bewegung aus, wobei diese letztlich die Weisungen des Monopol- und Finanzkapitals ausführte.

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Angesichts der unabweisbaren Quellen wurde auch in der westdeutschen Öffentlichkeit zumeist nicht die Mitverantwortung der wirtschaftlichen und bildungsbürgerlichen Eliten für die Machtergreifung Hitlers geleugnet, in der Regel aber mit dem Hinweis auf das Bedrohungsgefühl durch eine linke Revolution und soziale Abstiegsängste erklärt. In der Geschichtspolitik der DDR wurde eine solche Deutung ebenso vehement abgelehnt wie konkurrierende marxistische Deutungen, die zwar die Verantwortung kapitalistischer Eliten nicht leugneten, aber der NS-Bewegung ein hohes Maß an Autonomie zumaßen. Solche Interpretationen basierten auf der Wiederentdeckung von kommunistischen Außenseitern wie August Thalheimer oder Leo Trotzki, von Vertretern der sogenannten Kritischen Theorie und anderen Theoretikern der Studentenbewegung, die in den Jahren der Studentenrevolte wiederentdeckt worden waren. Letztlich aber standen sich bis zum Ende des Kalten Krieges – zumindest in der breiteren medialen Öffentlichkeit – zwei Bilder des Untergangs der Weimarer Republik gegenüber: In der Bundesrepublik wurde der Siegeszug der NSDAP vor dem Hintergrund der Staats- und Wirtschaftskrise betont, in der DDR war es das Monopol- und Finanzkapital, das die Krise zur Zerstörung der bürgerlichen Demokratie und zum Übergang in eine von ihr indirekt geleitete faschistische Diktatur ausnutzte, um die revolutionäre Arbeiterbewegung terroristisch auszuschalten.

Die Entdeckung der Weimarer Republik als Gesellschaft und Kultur

Nach den in starkem Maße geschichtspolitisch geprägten Kontroversen um Anfang und Ende der ersten deutschen Demokratie entwickelte sich erst seit den 1970er Jahren ein breites Interesse für die Gesellschaft und Kultur der Weimarer Republik. Nahezu alle historischen Gesamtdarstellungen über diese Zeit erschienen in den 1980er und 1990er Jahren. Stärker beachtet wurde nun auch die mittlere Phase zwischen Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise. In Ost- und Westdeutschland wurden ihre kurze Dauer (1924-1929) und die nur scheinbare Stabilisierung von Staat und Gesellschaft betont. In der DDR galt sie explizit als "Phase der relativen Stabilisierung des Kapitalismus".

Aber mit der Entdeckung der kurzen mittleren Jahre der Weimarer Republik verband sich einerseits ihre Einbettung in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts und andererseits ihre Anerkennung als ein bedeutsamer Abschnitt dieser Geschichte, der nicht als bloße Zwischenphase zwischen Kaiserreich und "Drittem Reich" fungierte. Die Weimarer Republik wurde nun als Höhepunkt und zugleich als Krise einer "klassischen Moderne" (Detlef Peukert) profiliert, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte. Aufmerksamkeit fanden nun die sozialpolitischen Leistungen der 1920er Jahre, etwa das Gesetz zur "Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung" von 1927 oder der Massenwohnungsbau unter der Ägide des Neuen Bauens mit seinen Innovationen wie der nach ergonomischen Kriterien konzipierten Arbeitsküche zur Erleichterung der Hausarbeit.

Im Mittelpunkt des neuen Weimar-Bildes standen die Ansätze einer Konsummoderne und die Phänomene einer urbanen "Massenkultur": der "Unterhaltungsrundfunk" (seit 1923); der Kinofilm, der 1930/31 zum Tonfilm wurde; Illustrierte mit hoher Auflage; die weibliche Mode mit Hängekleid und "Bubikopf"; Shimmy, Charleston und Tango als neue Tänze; die Ausbreitung des Sports. Neben der "Massenkultur" bestimmte nun auch die Blüte der Bildenden Kunst, Musik und Belletristik das Bild der "Weimar Culture" – ein Begriff, der bereits im Exil während der NS-Zeit geprägt worden war. Schon im Vorfeld der Protestbewegung von 1968 waren die unabhängigen marxistischen Theoretiker der Weimarer Zeit wiederentdeckt worden. Zwei Jahrzehnte später wurde der intellektuelle Reichtum der 1920er Jahre auch als Teil einer deutsch-jüdischen Tradition betrachtet, der 1933 aus Deutschland vertrieben worden war. Weimar wurde nun auch zu einem kulturellen Sehnsuchtsraum.

Aus dem Bild einer angesichts der Rahmenbedingungen und politischen Strukturfehler von vornherein zum Scheitern verurteilten Demokratie wurde aber nicht nur eine historische Phase unabgegoltener Möglichkeiten, sondern zugleich auch extremer Widersprüche. Diese sah man nicht mehr wie im Kalten Krieg vor allem im Streit um geschichtspolitische Konstruktionen, etwa jener eines Kampfes zwischen wenigen Demokraten und ihren totalitären Feinden von links und rechts – so die westdeutsche Sicht – oder eines Kampfes der Klassen, so die marxistisch-leninistische Doktrin.

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Vielmehr zeigte das neue Bild von Weimar, das sich am Ende des Kalten Krieges und der deutsch- deutschen Zweistaatlichkeit ausbreitete, die Janusköpfigkeit einer Zeit, in der urbane Lebensstile und konservative Heimattümelei nebeneinander und gegeneinander bestanden. Gleichzeitig erlebten humanistische Ideen und sozialistische Visionen einer friedlichen Zukunft ebenso eine Blüte wie völkischer Rassismus und Antisemitismus. Diese Widersprüchlichkeit könnte bewirken, dass das Interesse an der Geschichte der ersten deutschen Demokratie in den vergangenen Jahren wieder gestiegen ist.

Innerhalb der Geschichtswissenschaft gilt die Zeit der Weimarer Republik mittlerweile als ausgeforscht, ihr Bild hat sich in den vergangenen Jahrzehnten differenziert und pluralisiert. Allerdings wird das ursprüngliche schlechte Image damit nicht einfach abgelöst, sondern nur partiell überdeckt. Mochte die Rede von den "Weimarer Verhältnissen" in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg noch Lebenserfahrungen der Zeitzeugen transportieren, so führt sie im kulturellen Gedächtnis der Deutschen mittlerweile ein Eigenleben.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Axel Schildt für bpb.de

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Chronologie

16.9.2018

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Vom Kaiserreich zur Republik 1918/19

Von Reinhard Sturm 23.12.2011 Reinhard Sturm, geboren 1950, studierte von 1971 bis 1978 Geschichte, Politikwissenschaft und Anglistik an der Georg-August- Universität Göttingen. 1973/74 war er ein Jahr als German Assistant an einer Schule in England tätig. Nach dem Vorbereitungsdienst 1978 bis 1980 in Salzgitter arbeitete er als Gymnasiallehrer bis 1990 in Göttingen, seither in Hildesheim. Seit 1990 bildet er als Studiendirektor und Fachleiter für Geschichte am Studienseminar Hildesheim für das Lehramt an Gymnasien angehende Geschichtslehrer/innen aus. Er hat wissenschaftliche und didaktische Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, zur Weimarer Republik, zum Nationalsozialismus und zur deutschen Nachkriegsgeschichte sowie zur Geschichtsdidaktik veröffentlicht. Kontakt: [email protected] (mailto:[email protected])

Die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg war zugleich das Ende des Kaiserreiches: Wilhelm II. dankte ab, in den Wirren der darauffolgenden Revolution wird die Republik ausgerufen. Zunächst steht die Frage nach dem zukünftigen System – parlamentarische Demokratie oder Rätesystem – zur Diskussion. Im August 1919 tritt die Weimarer Verfassung in Kraft.

Einleitung

Der Anfang vom Ende des Deutschen Kaiserreichs lässt sich auf den 29. September 1918 datieren. Denn an diesem Tag trat in Berlin der "Kronrat" zusammen, dem neben Kaiser Wilhelm II. der Chef der Obersten Heeresleitung (OHL), Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, seine rechte Hand, General Erich Ludendorff, Reichskanzler Graf von Hertling und der Staatssekretär des Äußeren, Admiral Paul von Hintze, angehörten. Dieses Gremium beriet über die Konsequenzen aus der Tatsache, dass der Weltkrieg wegen der personellen und materiellen Übermacht der Gegner endgültig verloren war, und beschloss einschneidende Maßnahmen.

Revolution von oben

Eine schnelle "Revolution von oben" – so berichtet Hintze – sollte ein "Chaos" und eine "Revolution von unten" (wie in Russland) verhindern. Das bedeutete, dass erstmals eine vom Reichstag (dem nach dem allgemeinen Männerwahlrecht gewählten Parlament) getragene Reichsregierung ins Auge gefasst wurde. Ferner beschloss man die "sofortige" Übermittlung eines Waffenstillstandsangebotes an die alliierten Kriegsgegner durch die neue Regierung.

Welche Hintergedanken vor allem die OHL dabei hegte, äußerte Ludendorff am 1. Oktober 1918 gegenüber seinen Stabsoffizieren: "Ich habe aber Seine Majestät gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu verdanken haben, dass wir so weit gekommen sind. [...] Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muss. Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben."

Gemeint waren – nach der Spaltung der Sozialdemokratie in die linke "Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands" (USPD) und die gemäßigte "Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands" (MSPD) 1916 – die MSPD, die linksliberale "Fortschrittliche Volkspartei" und die katholische "Zentrumspartei", die im Reichstag eine oppositionelle Mehrheit bildeten ("Mehrheitsparteien"). Sie hatten seit vielen Jahren eine Demokratisierung des obrigkeitsstaatlichen Kaiserreiches gefordert; den Krieg hatten sie mitgetragen, sich aber seit 1917 gemeinsam für einen ehrenvollen "Verständigungsfrieden" ohne Gebietsverluste und Entschädigungen ausgesprochen.

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Anfänge der parlamentarischen Regierung

Der kaiserliche Parlamentarisierungserlass vom 30. September 1918 stieß bei den Mehrheitsparteien auf ein positives Echo, zumal sie den designierten neuen Reichskanzler Prinz Max von Baden – ein Cousin des Kaisers – wegen seiner sozialen und liberalen Gesinnung akzeptieren konnten. Am 1. Oktober bekam Prinz Max, tags darauf auch die Führer der Reichstagsfraktionen einen ungeschminkten militärischen Lagebericht. Sie waren entsetzt; die Regierungsbildung geriet vorübergehend ins Stocken. Aber am 3. Oktober 1918 erhielt das Kaiserreich die erste parlamentarische Regierung seiner Geschichte. MSPD und Fortschrittspartei stellten je zwei Staatssekretäre, das Zentrum drei.

Waffenstillstandsgesuch

Noch am selben Tag musste Prinz Max in einer diplomatischen Note den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson bitten, alle kriegführenden Staaten zu Friedensverhandlungen einzuladen. Als Grundlage sollten die "14 Punkte" dienen, ein Friedensprogramm, das Wilson seit Anfang des Jahres immer wieder verkündet und weiterentwickelt hatte; es beruhte auf den Grundsätzen "Herrschaft des Rechts und der Demokratie überall", "Selbstbestimmungsrecht der Völker" sowie "unparteiische Gerechtigkeit und Gleichberechtigung" im Leben der Völker. Der entscheidende, kapitulationsähnliche Satz der deutschen Note lautete: "Um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, ersucht die deutsche Regierung, den sofortigen Abschluss eines Waffenstillstandes zu Lande, zu Wasser und in der Luft herbeizuführen." Damit hatte die OHL ihr Ziel, sich aus der Verantwortung für den verlorenen Krieg zu stehlen, erreicht.

Schlagartig löste sich der von der kaiserlichen Propaganda unermüdlich versprochene "Siegfrieden" in nichts auf. Mit der schmerzlichen Erkenntnis, dass alle Anstrengungen, Entbehrungen und Opfer vergeblich gewesen waren, entstand aus der physischen und psychischen Kriegsmüdigkeit großer Teile der Bevölkerung ein rasch um sich greifender Friedenswille. Anders als die zu zähen Verhandlungen bereite Regierung kannten die friedensbewegten Massen nur ein Ziel: die sofortige Beendigung des Krieges ohne weiteres Blutvergießen. Sie politisierten und radikalisierten sich, je länger der ersehnte Friedensschluss auf sich warten ließ.

Denn zunächst kam es zu einem wochenlangen Notenwechsel mit Präsident Wilson. Dieser stellte schließlich am 23. Oktober 1918 zwei Vorbedingungen: Entwaffnung (die Waffenruhe müsse "eine Wiederaufnahme der Feindseligkeiten seitens Deutschlands unmöglich machen") und Demokratisierung (der König von Preußen dürfe nicht mehr die Macht besitzen, "die Politik des Reiches unter seiner Kontrolle zu halten"). Jetzt mischte sich die OHL doch wieder in die Politik ein: Wilsons Forderungen seien unannehmbar, es gelte "Widerstand mit den äußersten Kräften" zu leisten – was sie kurz zuvor noch für unmöglich erklärt hatte. Prinz Max sorgte dafür, dass Wilhelm II. Ludendorff am 26. Oktober entließ und durch den politisch unauffälligen General Groener ersetzte; Hindenburg blieb im Amt.

Durch die Wilson-Note vom 23. Oktober entstand der Eindruck, dass Wilhelm II. einem schnellen Friedensschluss im Wege stand. "Der Kaiser muss weg!" lautete jetzt eine immer populärer werdende öffentliche Forderung. Auch namhafte Unternehmer wie Robert Bosch, die eine revolutionäre Erhebung fürchteten, sprachen sich nun dafür aus, den Monarchen, notfalls auch die Monarchie zu opfern.

Oktoberverfassung

In diesen kritischen Wochen versäumte es der Reichstag, sich zum Zentrum der politischen Diskussion über Frieden und Demokratie zu machen – nach der Regierungserklärung des Prinzen Max am 5. Oktober vertagte er sich und überließ dem Kanzler und seinen Staatssekretären alles Weitere. Erst am 22. Oktober trat er wieder zusammen, um eine Verfassungsreform zu beraten. Die wichtigsten Veränderungen lauteten:

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• Kriegserklärungen und Friedensverträge bedurften der Zustimmung des Reichstages.

• Regierungsmitglieder durften dem Reichstag angehören.

• Der Reichskanzler und die Staatssekretäre benötigten das Vertrauen des Reichstages. Sie waren dem Reichstag und dem Bundesrat (der Vertretung der Einzelstaaten, vor allem der Landesfürsten) für ihre Amtsführung verantwortlich.

• Der Reichskanzler trug die Verantwortung für alle politischen Handlungen des Kaisers.

Mit dem In-Kraft-Treten der Reform am 28. Oktober 1918 verwandelte sich die Verfassung des Kaiserreichs, das die deutschen Fürsten "von Gottes Gnaden" ohne das Volk 1871 gegründet hatten, von einer obrigkeitsstaatlichen in eine parlamentarisch-demokratische Monarchie. Die Mehrheitsparteien waren mit dem Erreichten durchaus zufrieden. Sie wünschten jetzt eine ruhige demokratische Entwicklung, um das Problem des Friedensschlusses zu lösen.

Revolution von unten

Dazu kam es jedoch nicht mehr – zum einen, weil die immer weiter anschwellende "Friedensbewegung" bereits die Abdankung des Kaisers forderte; zum anderen, weil der Monarch und das Militär mit provozierenden Aktionen demonstrierten, dass sie nicht gewillt waren, die neue demokratische Ordnung zu respektieren und mit Regierung und Parlament loyal zusammenzuarbeiten. Am 29. Oktober 1918 reiste Wilhelm II. ohne Rücksprache mit dem Reichskanzler nach Spa ins Hauptquartier der OHL. Dieser Schritt wirkte freilich wie eine Flucht aus Berlin und fügte dem Ansehen der Hohenzollernmonarchie schweren Schaden zu.

Matrosenrevolte

Seit dem Beginn der Verfassungsberatungen im Reichstag am 22. Oktober bereitete die Seekriegsleitung ohne Wissen der Reichsregierung einen Angriff auf die britische Flotte im Ärmelkanal vor. "Wenn auch nicht zu erwarten ist, dass hierdurch der Lauf der Dinge eine entscheidende Wendung erfährt, so ist es doch aus moralischen Gesichtspunkten Ehren- und Existenzfrage der Marine, im letzten Kampf ihr Äußerstes getan zu haben," heißt es in der Eintragung im Kriegstagebuch der Seekriegsleitung vom 25. Oktober 1918.

Die Matrosen erkannten rasch, dass sie von der Admiralität unmittelbar vor dem Ende des Krieges noch auf eine sinnlose "Todesfahrt" geschickt werden sollten. Am 29./30. Oktober löschten sie auf mehreren vor Wilhelmshaven liegenden Schlachtschiffen das Feuer unter den Kesseln und zerstörten die Ankerlichtmaschinen. Die Seekriegsleitung musste ihren Angriffsplan fallen lassen. Als sie mehr als 1000 Meuterer verhaften und in Wilhelmshavener und Kieler Militärgefängnisse bringen ließ, wo ihnen das Kriegsgericht und die Todesstrafe drohten, eskalierte die Entwicklung.

Am Morgen des 4. November wählten die Mannschaften Soldatenräte, bewaffneten sich und entwaffneten ihre Offiziere. Der Kieler Militärgouverneur wurde gezwungen, die gefangenen Meuterer freizulassen. Matrosen und Marinesoldaten besetzten die wichtigsten militärischen und zivilen Dienststellen. Als die Aufständischen am Abend bereits die ganze Stadt kontrollierten, erhielten sie Unterstützung von den solidarisch in Streik getretenen Werft- und Industriearbeitern. Jetzt schalteten sich die Kieler MSPD und die USPD ein. In der Nacht organisierten sie gemeinsam einen "Provisorischen Zentralen Arbeiter- und Soldatenrat" als neues Machtzentrum. Aus Berlin traf der MSPD-Abgeordnete Gustav Noske ein. Er wurde begeistert begrüßt und übernahm die politische und militärische Leitung in Kiel.

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Aber die Angst, von heranrückenden Truppen eingeschlossen zu werden, und die Sorge um die in Wilhelmshaven noch inhaftierten Kameraden trugen die Matrosenbewegung über Kiel hinaus. Innerhalb weniger Tage lösten reisende Matrosengruppen in den militärischen Einrichtungen der norddeutschen Hafenstädte und weiterer Städte des Binnenlandes eine revolutionäre Welle aus, die sich von selbst und unwiderstehlich in alle Himmelsrichtungen fortpflanzte. Im Prinzip spielte sich überall dasselbe ab wie in Kiel: "Die "Kaserne" revolutionierte die "Fabrik" (Ulrich Kluge), Soldatenräte und Arbeiterräte übernahmen die Macht, MSPD und USPD setzten sich an die Spitze der Rätebewegung, um sie in geordnete Bahnen zu lenken. Es gab kaum Blutvergießen – nur selten erhob sich noch eine Stimme oder regte sich eine Hand für die Rettung der alten Ordnung. Die Monarchie begann zu zerbrechen: Am späten Abend des 7. November rief der bayerische USPD-Führer Kurt Eisner in München die Republik aus; am 8. dankte der Wittelsbacher König Ludwig III. ab. Ähnlich erging es in den nächsten Tagen den übrigen Fürstenhäusern. Die Friedensbewegung hatte sich in eine "Volksbewegung gegen den Militär- und Obrigkeitsstaat" (Helmut Heiber) verwandelt.

Revolution in Berlin

Vor diesem Hintergrund forderte die MSPD am 7. November ultimativ einen stärkeren Einfluss im Kabinett, eine parlamentarische Regierung auch in Preußen und "den sofortigen Rücktritt des Kaisers und Kronprinzen". "Jetzt heißt's, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, sonst gibt's doch anarchische Zustände im Reich" – so beurteilte der MSPD-Fraktionsvorsitzende Philipp Scheidemann die Lage.

Denn inzwischen bereiteten sich Berliner Linksradikale auf die Revolution vor: Teile des linken Flügels der USPD, namentlich die "Spartakusgruppe" (in Berlin annähernd 100, reichsweit 2000 bis 3000 Anhänger der russischen Revolution, geführt von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht) sowie die " Revolutionären Obleute" (80 bis 100 bei den Berliner Arbeitern angesehene linksradikale Gewerkschaftsfunktionäre). Wie überall musste die Haltung der Soldaten den Ausschlag geben; aber anders als in den übrigen Städten ging es in der Hauptstadt in erster Linie um die Kontrolle über die Reichspolitik.

Am 9. November begann die Revolution mit einem Generalstreik der größeren Betriebe, ausgerufen von den Revolutio-nären Obleuten und der Spartakusgruppe, mitgetragen von der MSPD und den ihr nahestehenden Gewerkschaften, unterstützt von den zunehmend MSPD-orientierten Soldaten.

Arbeiter- und Soldatenräte wurden gebildet, das Polizeipräsidium und andere strategisch wichtige Gebäude besetzt. Die Straßen der Innenstadt füllten sich mit endlosen Demonstrationszügen. Da die MSPD jetzt fürchtete, ihren Einfluss auf die revolutionäre Bewegung zu verlieren, erklärte sie ihren Austritt aus der Reichsregierung.

Abdankung der Hohenzollern

Zur selben Zeit versuchte Prinz Max die Monarchie zu retten. Vergeblich beschwor er den Kaiser in Spa telefonisch und telegrafisch zur Übergabe des Throns an einen "Regenten" (das heißt einen verfassungsmäßigen Vertreter), der Friedrich Ebert zum Reichskanzler ernennen und eine " verfassunggebende deutsche Nationalversammlung" wählen lassen sollte. Gegen 11.30 Uhr sah der Kanzler keine andere Möglichkeit mehr, als eigenmächtig den Verzicht von Kaiser und Kronprinz auf den deutschen Kaiserthron und den preußischen Königsthron bekannt zu geben.

Gegen zwölf Uhr erschien die MSPD-Führung in der Reichskanzlei; der Parteivorsitzende Friedrich Ebert forderte Prinz Max zur Übergabe der Regierungsgeschäfte auf. Nach einer kurzen Kabinettsberatung "übertrug" der Kanzler sein Amt auf Ebert.

Der neue Regierungschef ließ die Oktoberregierung weitgehend unverändert, stellte aber dem

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 60 preußischen Kriegsminister und dem für Berlin zuständigen Militärbefehlshaber sozialdemokratische Kontrolleure an die Seite. Ebert wandte sich sogleich mit mehreren Aufrufen an die Öffentlichkeit, in denen er versprach, eine "Volksregierung" zu bilden, Frieden zu schließen und die Freiheit zu sichern. Er beschwor die Bürger, die Nahrungsmittelversorgung sicherzustellen, die Straßen zu verlassen und für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Eine verfassunggebende Nationalversammlung sei zu wählen – erstmals unter Beteiligung der Frauen. Die Soldaten sollten so rasch wie möglich zu ihrer Familie und zur Erwerbsarbeit zurückkehren. Das Eigentum müsse vor "willkürlichen Eingriffen" geschützt werden.

Ausrufung der Republik

Aber die Massen erwarteten eine klarere politische Orientierung. Gegen zwei Uhr nachmittags wurde Philipp Scheidemann von Parteifreunden genötigt, an ein Fenster des Reichstags zu treten und zu der versammelten Menge zu sprechen. Er ließ sich spontan dazu hinreißen, nicht nur das Ende der Hohenzollernherrschaft und des "Militarismus" zu verkünden, sondern auch die "deutsche Republik " auszurufen. Reichskanzler Ebert werde eine Regierung aller sozialistischen Parteien bilden. Die Menge reagierte begeistert, Ebert jedoch war entsetzt: "Du hast kein Recht, die Republik auszurufen! Was aus Deutschland wird, ob Republik oder was sonst, entscheidet eine Konstituante (verfassunggebende Nationalversammlung – Anm.d.Red.)!", schrie er seinen Parteifreund an.

Nur zwei Stunden später proklamierte der "Spartakus"-Führer Karl Liebknecht vom Balkon des Berliner Stadtschlosses aus die "freie sozialistische Republik Deutschland". Er erklärte die "Herrschaft des Kapitalismus" für gebrochen und propagierte eine "neue staatliche Ordnung des Proletariats" mit dem Ziel der "Vollendung der Weltrevolution".

Um die Linksradikalen durch ein rasches Regierungsbündnis zwischen MSPD und USPD auszumanövrieren, machte Ebert der USPD-Führung erhebliche Zugeständnisse: Grundsatzentscheidungen sollte eine Vollversammlung der deutschen Arbeiter- und Soldatenräte treffen, die verfassunggebende Nationalversammlung vorläufig zurückgestellt werden. Auf dieser Basis wurde am Vormittag des 10. November ein neues, von beiden sozialdemokratischen Parteien paritätisch besetztes " entscheidendes Kabinett" gebildet, dem die bisherigen Fachminister als "Gehilfen" unterstanden.

Am selben Morgen übertrug Kaiser Wilhelm II. in Spa Hindenburg das militärische Oberkommando und reiste nach Holland ins Exil. Ludendorff floh, verkleidet und mit falschen Papieren, nach Schweden.

Rat der Volksbeauftragten

Am Nachmittag nahm eine Versammlung von 3000 in den Berliner Betrieben und Kasernen gewählten, mehrheitlich MSPD-orientierten Vertretern der Arbeiter und Soldaten die Einigung zwischen USPD und MSPD begeistert auf. Störversuche der Spartakusgruppe blieben erfolglos. Die neue Regierung wurde "bestätigt" und "Rat der Volksbeauftragten" genannt. Die MSPD hielt die wichtigsten Ressorts – vor allem Inneres und Militär (Ebert) – in ihren Händen. Zwar erreichte die USPD-Linke die Wahl eines " Vollzugsrates des Arbeiter- und Soldatenrates Groß-Berlin", der die Volksbeauftragten kontrollieren sollte. Die 24 Mitglieder standen jedoch mehrheitlich der MSPD nahe. Otto Wels (MSPD) wurde Stadtkommandant, Emil Eichhorn (USPD) Polizeipräsident von Berlin.

Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann ...

Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. Das alte Morsche ist zusammengebrochen; der Militarismus ist erledigt! Die Hohenzollern haben abgedankt! Es lebe die deutsche Republik! Der Abgeordnete Ebert ist zum Reichskanzler ausgerufen worden. Ebert ist damit beauftragt worden, eine neue Re-gierung zusammenzustellen. Dieser Regierung werden alle sozialistischen Parteien angehören. Jetzt besteht unsere Aufgabe darin, diesen glänzenden Sieg, diesen vollen Sieg des deutschen Volkes, nicht beschmutzen zu lassen, und deshalb bitte ich Sie, sorgen Sie dafür, daß keine

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Störung der Sicherheit eintrete! Wir müssen stolz sein können, in alle Zukunft auf diesen Tag! Nichts darf existieren, was man uns später wird vorwerfen können! Ruhe, Ordnung und Sicherheit, das ist das, was wir jetzt brauchen! Dem Oberkommandierenden in den Marken und dem Kriegsminister Scheüch werden je ein Beauftragter beigegeben. Der Abgeordnete Genosse Göhre wird alle Verordnungen des Kriegsministers Scheüch gegenzeichnen. Also es gilt von jetzt ab, die Verfügungen, die unterzeichnet sind von Ebert, und die Kundmachungen, die gezeichnet sind mit den Namen Göhre und Scheüch, zu respektieren. Sorgen Sie dafür, daß die neue deutsche Republik, die wir errichten werden, nicht durch irgend etwas gefährdet werde! Es lebe die deutsche Republik!

Von einem, der dabei war: Wie die deutsche Republik ausgerufen wurde, in: Deutscher Revolutionsalmanach für das Jahr 1919 über die Ereignisse des Jahres 1918, Hoffmann & Campe, Berlin 1919, S. 72

... und durch Karl Liebknecht

[...] der Tag der Freiheit ist angebrochen. Nie wieder wird ein Hohenzoller diesen Platz betreten. Vor 70 Jahren stand hier am selben Ort Friedrich Wilhelm IV. und mußte vor dem Zug der auf den Barrikaden für die Sache der Freiheit Gefal- lenen, vor den fünfzig blutüberströmten Leichnamen, seine Mütze abnehmen. Ein anderer Zug bewegt sich heute hier vorüber. Es sind die Geister der Millionen, die für die heilige Sache des Proletariats ihr Leben gelassen haben. [...] Parteigenossen, ich proklamiere die freie sozialistische Republik Deutschland, die alle Stämme umfassen soll, in der es keine Knechte mehr geben wird, in der jeder ehrliche Arbeiter den ehrlichen Lohn seiner Arbeit finden wird. Die Herrschaft des Kapitalismus, der Europa in ein Leichenfeld verwandelt hat, ist gebrochen. Wir rufen unsere russischen Brüder zurück. Sie haben bei ihrem Abschied zu uns gesagt: Habt ihr in einem Monat nicht das erreicht, was wir erreicht haben, so wenden wir uns von Euch ab. Und nun hat es kaum vier Tage gedauert.

Wenn auch das Alte niedergerissen ist [...], dürfen wir doch nicht glauben, daß unsere Aufgabe getan sei. Wir müssen alle Kräfte anspannen, um die Regierung der Arbeiter und Soldaten aufzubauen und eine neue staatliche Ordnung des Proletariats zu schaffen, eine Ordnung des Friedens, des Glücks und der Freiheit unserer deutschen Brüder und unserer Brüder in der ganzen Welt. Wir reichen ihnen die Hände und rufen sie zur Vollendung der Weltrevolution auf. [...] Hoch die Freiheit und das Glück und der Frieden!

Ausrufung der sozialistischen Republik durch Karl Liebknecht, 9.11.1918, in: Peter Longerich (Hg.), Die Erste Republik. Dokumente zur Geschichte des Weimarer Staates, Piper, München 1992, S. 46 f.

Positionen im Kampf um die politische Neuordnung am 9./10. November 1918

Schreiben des Vorstandes der MSPD an den Vorstand der USPD, 9.11.1918

Von dem aufrichtigen Wunsche geleitet, zu einer Einigung zu gelangen, müssen wir Ihnen unsere grundsätzliche Stellung zu Ihren Forderungen klarlegen. Sie fordern:

1. Deutschland soll eine soziale Republik sein.

[Antwort:] Diese Forderung ist das Ziel unserer eigenen Politik. Indessen hat darüber das Volk durch die konstituierende Versammlung zu entscheiden.

2. In dieser Republik soll die gesamte exekutive, legislative und die jurisdiktionelle Macht ausschließlich in den Händen von gewählten Vertrauensmännern der gesamten werktätigen Bevölkerung und der Soldaten sein.

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[Antwort:] Ist mit diesem Verlangen die Diktatur eines Teils einer Klasse gemeint, hinter dem nicht die Volksmehrheit steht, so müssen wir diese Forderung ablehnen, weil sie unseren demokratischen Grundsätzen widerspricht.

3. Ausschluss aller bürgerlichen Mitglieder aus der Regierung.

[Antwort:] Diese Forderung müssen wir ablehnen, weil ihre Erfüllung die Volksernährung erheblich gefährden, wenn nicht unmöglich machen würde. [...]

6. Gleichberechtigung der beiden Leiter des Kabinetts.

[Antwort:] Wir sind für die Gleichberechtigung aller Kabinettsmitglieder, indessen hat die Konstituierende Versammlung darüber zu entscheiden.

Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

Antwort des Vorstandes der USPD an den Vorstand der MSPD, 10.11.1918.

Auf Ihr Schreiben vom 9. November 1918 erwidern wir Folgendes: Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei ist bereit, um die revolutionären sozialistischen Errungenschaften zu befestigen, in das Kabinett unter folgenden Bedingungen einzutreten:

Das Kabinett darf nur aus Sozialdemokraten zusammengesetzt sein, die als Volkskommissare gleichberechtigt nebeneinanderstehen. [...]

Die politische Gewalt liegt in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte, die zu einer Vollversammlung aus dem ganzen Reiche alsbald zusammenzuberufen sind.

Die Frage der Konstituierenden Versammlung wird erst bei einer Konsolidierung der durch die Revolution geschaffenen Zustände aktuell und soll deshalb späteren Erörterungen vorbehalten bleiben.

Für den Fall der Annahme dieser Bedingungen, die von dem Wunsche eines geschlossenen Auftretens des Proletariats diktiert sind, haben wir unsere Mitglieder Haase, Dittmann und Barth in das Kabinett delegiert.

Der Vorstand der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei.

Aufruf der Spartakusgruppe, 10.11.1918

Sichert die von euch errungene Macht!

[...] Mit der Abdankung von ein paar Hohenzollern ist es nicht getan.

[...] Denn euer Ziel ist die sofortige Herbeiführung eines proletarisch-sozia-istischen Friedens, der sich gegen den Imperialismus aller Länder wendet, und die Umwandlung der Gesellschaft in eine sozialistische.

Zur Erlangung dieses Zieles ist es vor allem notwendig, [...] folgende Forderungen mit aller Entschlossenheit und unbezähmbaren Kampfwillen zu verfolgen:

1. Entwaffnung der gesamten Polizei, sämtlicher Offiziere sowie der Soldaten, die nicht auf dem Boden der neuen Ordnung stehen; Bewaffnung des Volkes; [...]

2. Übernahme sämtlicher militärischer und ziviler Behörden und Kommandostellen durch

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Vertrauensmänner des Arbeiter- und Soldatenrates.

3. Übergabe aller Waffen- und Munitionsbestände sowie aller Rüstungsbetriebe an den Arbeiter- und Soldatenrat.

4. Kontrolle über alle Verkehrsmittel durch den Arbeiter- und Soldatenrat.

5. Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit; Ersetzung des militärischen Kadavergehorsams durch freiwillige Disziplin.

6. Beseitigung des Reichstages und aller Parlamente sowie der bestehenden Reichsregierung; Übernahme der Regierung durch den Berliner Arbeiter- und Soldatenrat bis zur Errichtung eines Reichs- Arbeiter- und Soldatenrates.

7. Wahl von Arbeiter- und Soldatenräten in ganz Deutschland, in deren Hand ausschließlich Gesetzgebung und Verwaltung liegen. [...]

8. Abschaffung aller Dynastien und Einzelstaaten; unsere Parole lautet: einheitliche sozialistische Republik Deutschland.

9. Sofortige Aufnahme der Verbindung mit allen in Deutschland bestehenden Arbeiter- und Soldatenräten und den sozialistischen Bruderparteien des Auslandes.

10. Sofortige Rückberufung der russischen Botschaft nach Berlin.

[...] Es darf kein "Scheidemann" mehr in der Regierung sitzen; es darf kein Sozialist in die Regierung eintreten, solange ein Regierungssozialist noch in ihr sitzt. Es gibt keine Gemeinschaft mit denen, die euch vier Jahre lang verraten haben.

Wolfgang Michalka / Gottfried Niedhart (Hg.), Die ungeliebte Republik. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik Weimars 1918-1933, dtv, München 1980, S. 27 ff.

Pro und Contra Rätesystem

Aus den Debatten des Reichsrätekongresses am 19. 12. 1918

Max Cohen-Reuß (MSPD)

Wie man auch über die Arbeiter- und Soldatenräte denken mag [...], in jedem Falle drücken die Arbeiter- und Soldatenräte nur einen Teilwillen, niemals aber den Willen des ganzen deutschen Volkes aus. Diesen festzustellen, darauf kommt es an. [...] Wenn wir eine sozialistische Mehrheit bekommen wollen, müssen wir die Nationalversammlung so schnell wie möglich einberufen. [...] (Es) wird nicht mehr Sozialismus durchführbar sein, als die Mehrheit des Volkes will. [...]

Parteigenossen, schätzen Sie wirklich [...] den Widerstand der bürgerlichen Kreise und der Intelligenz so gering ein, dass wir, wenn wir sie politisch entrechten, gegen ihren Willen die Wirtschaft führen können? [...]

Ernst Däumig (USPD)

[...] [Das] muss doch jedem Klardenkenden einleuchten, dass die jubelnde Zustimmung zur Nationalversammlung gleichbedeutend ist mit einem Todesurteil [...] für das Rätesystem. [...]

Im Wirtschaftsleben werden mit Hilfe der Nationalversammlung und des Bürgertums die

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Gewerkschaften alten Stils natürlich die Arbeiterräte aus den Betrieben ganz schnell herausgedrängt haben. [...] Die Diktatur ist zweifellos mit dem Rätesystem verbunden. Aber was sich in Russland durch die historischen Gesetze aufzwang, braucht noch lange nicht in Deutschland der Fall zu sein. [...]

Allgemeiner Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands vom 16.-21. Dezember 1918 im Abgeordnetenhaus zu Berlin. Stenografische Berichte, Berlin 1919, in : Gerhard A. Ritter / Susanne Miller (Hg.), Die deutsche Revolution 1918-1919. Dokumente, Frankfurt/M. 2. Aufl. 1983, S. 372 ff.

Am Abend des 10. November hatte sich die breite Mehrheit der gemäßigten Sozialisten gegen die linksradikale Minderheit durchgesetzt.

Waffenstillstandsunterzeichnung

Währenddessen leistete der Kern des deutschen Heeres an der zurückweichenden Westfront noch immer zähen Widerstand. Am 5. November 1918 erklärten die Alliierten ihre Bereitschaft zu Waffenstillstandsverhandlungen. Drei Tage später nahm die noch von Prinz Max entsandte, von Staatssekretär Matthias Erzberger (Zentrum) geleitete deutsche Delegation im Hauptquartier des alliierten Oberkommandierenden, Marschall Foch, im Wald von Compiègne nordöstlich von Paris die harten Waffenstillstandsbedingungen entgegen:

• Rückzug des Westheeres hinter den Rhein innerhalb von 15 Tagen,

• Besetzung der linksrheinischen deutschen Gebiete sowie dreier Brückenköpfe bei Köln, Mainz und Koblenz durch alliierte Truppen innerhalb von 25 Tagen,

• Aufrechterhaltung der Seeblockade bis zum Friedensvertrag,

• Übergabe des schweren Kriegsgerätes, der U-Boote und der Hochseeflotte,

• Ablieferung von 5.000 Lokomotiven, 150.000 Waggons und 5.000 LKW als erste Reparationsleistungen,

• Freilassung der alliierten Kriegsgefangenen,

• Aufhebung der Friedensverträge mit Rumänien und Russland,

• Rückzug des Ostheeres auf Abruf hinter die deutsche Grenze von 1914; vorläufige Stationierung deutscher Truppen im Baltikum, um die Ausbreitung des russischen Kommunismus zu verhindern.

Erzbergers Hoffnung, als demokratischer Zivilist und Friedenspolitiker könne er bessere Bedingungen aushandeln als ein kaiserlicher General, wurde bitter enttäuscht. Marschall Foch gewährte lediglich eine geringfügige Verlängerung der Rückzugsfrist. OHL-Chef Hindenburg riet dringend zur Annahme des Waffenstillstandes.

Als dieser am 11. November 1918 um 11 Uhr die Kampfhandlungen beendete, hatte der Erste Weltkrieg insgesamt ca. zehn Millionen Tote und 20 Millionen Verwundete gefordert. Etwa 1,8 Millionen deutsche Soldaten waren gefallen, 4,2 Millionen waren verwundet und oftmals verstümmelt worden, mehr als 600.000 befanden sich in Kriegsgefangenschaft.

Matthias Erzberger

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 65

Als was sollte man die 66. Sitzung der Nationalversammlung am 25. Juli 1919 in Weimar beschreiben? Als eine Art [...] Jüngstes Gericht? Oder als eine erste parlamentarische Sternstunde der jungen Weimarer Republik? Noch den heutigen Leser des Protokolls überkommt ein kalter Schauer angesichts der scharfen Abrechnung, die der Reichsfinanzminister Matthias Erzberger den Parteien der Rechten, dem früheren kaiserlichen Regiment und der Führung der Reichswehr vorhielt. Zum ersten Mal erfuhren die Deutschen an jenem Freitagnachmittag von dem größenwahnsinnigen Versagen der vormaligen Reichsführung.

[...] Von ihr sei die Möglichkeit eines Verständigungsfriedens im Jahre 1917 sabotiert worden: "Durch die Verblendung militärischer Machthaber, die für unsere politische Kraft und militärische Macht nicht das richtige Augenmaß hatten, ist ein günstiger Moment für die Herbeiführung des Friedens versäumt und verpaßt worden." [...] "Jeder Friedensvertrag", resümierte Erzberger am Ende seiner Rede, "ist die Schlußrechnung eines Krieges. Wer den Krieg verliert, verliert den Frieden, und wer hat bei uns den Krieg verloren? [...] [D]iejenigen, welche den handgreiflichen Möglichkeiten eines maßvollen und würdigen Friedens immer wieder einen unvernünftigen, trotzigen und verbreche-rischen Eigensinn entgegenstellten [...]. Dadurch, daß wir Ihren Waffenstillstand und Ihren Frieden unterzeichnen mußten, haben wir für Ihre Schuld gebüßt. Diese Schuld werden Sie niemals los, [...] weder vor uns, noch vor der Geschichte, noch vor Ihrem eigenen Gewissen." Das Protokoll verzeichnet: "Stürmischer Beifall und Händeklatschen im Zentrum und bei den Sozialdemokraten. – Zischen rechts. [...]

In der Tat konnte man sich keinen größeren Gegensatz vorstellen: da die protestantische, teils akademische, teils militärische, teils unternehmerische, zumeist adelige Elite des preußisch dominierten Reiches – hier der württembergische Katholik Matthias Erzberger, ganz kleiner Leute Kind, ohne universitäre Bildung, ohne militärischen Rang, weder Vermögen noch Titel geerbt und alles, was er war, durch hohe Begabung und harten Fleiß erarbeitet. Erzberger hatte ihnen die Konsequenzen ihres Versagens abgenommen – und genau das haben ihm die alten Eliten nie verziehen. Als er nahe dem Kurort Bad Griesbach im Hochschwarzwald [...] am 26. August 1921 von zwei rechtsradikalen Fememördern erschossen wurde, war die Freude unter den Feinden der jungen Weimarer Republik kaum noch klammheimlich zu nennen. [...]

Im Kabinett des SPD-Kanzlers Philipp Scheidemann Minister ohne Ressort, [war] er [zuvor] am 21. Juni 1919 im Kabinett Gustav Bauers (ebenfalls SPD) zum Finanzminister ernannt [worden]. In wenigen Monaten setzte er [...] eine völlig neue Finanzverfassung für Deutschland durch, vor allem eine einheitliche Finanzverwaltung. Auf diese Weise stellte er das Reich auf eigene fiskalische Beine und schuf ein Steuersystem, das im Grundsatz bis heute Bestand hat und das die materiellen Privilegien der Besitzbürger im Sinne der Leistungsgerechtigkeit stutzte. Allein diese enorme Tat müsste ihm einen Ehrenplatz in der Geschichte unserer Republik sichern. [...] [B]is auf den heutigen Tag erinnert im Straßenbild der Reichs- und Bundeshauptstadt Berlin kein einziges öffentliches Zeichen an diesen Opfergänger unserer Demokratie.

Robert Leicht, "Patriot in der Gefahr", in: Die Zeit Nr. 34 vom 18. August 2011

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 66 Rätesystem oder Parlamentarismus?

In ganz Deutschland hatte sich über private und staatliche Betriebe und über Regierungen, Verwaltungen und Militärbehörden aller Ebenen ein locker geknüpftes Netz aus revolutionären Gremien gelegt; es reichte vom Rat der Volksbeauftragten über die Revolutionsregierungen in den Bundesstaaten bis zu den regionalen und lokalen Arbeiter- und Soldatenräten. Dieses revolutionäre Netzwerk stützte sich auf die bewaffnete Macht der Soldaten, die Streikmacht der Arbeiter und die Demonstrationsmacht der Massen.

In diesem provisorischen Gebilde aus alten und neuen Strukturen dominierte die MSPD. Hinter ihr standen die meisten Arbeiterräte und fast alle Soldatenräte. Ihr Parteiapparat bildete in Verbindung mit den Gewerkschaftsorganisationen ein eigenes, ausgedehntes Kommunikations- und Kooperationsnetz. Durch die Zusammenarbeit mit der USPD – in ländlichen Städten auch mit bürgerlichen Katholiken und Liberalen – hatte die MSPD die Linksradikalen fast völlig aus den Räten heraushalten können. Außerdem hielt sie eine strategische Schlüsselstellung in Händen: "Durch das Aufeinandertreffen der beiden Bewegungen – quasi-legale Machtüberleitung "von oben", revolutionäre Machtbildung "von unten" – kam Friedrich Ebert, der Führer der Mehrheitssozialisten, in eine Doppelstellung und -funktion hinein [...]. Er war noch ernannter Reichskanzler und damit von der alten Ordnung beglaubigter Macht- und Entscheidungsträger, gewissermaßen eine Brücke der Legalität; zugleich stützte er sich als Vorsitzender des Rats der Volksbeauftragten auf die revolutionäre Legitimität und stand ihr gegenüber in Verantwortung." (Ernst-Wolfgang Böckenförde).

Der von Ebert geleitete Rat der Volksbeauftragten stand vor gewaltigen Aufgaben: Acht Millionen Soldaten mussten demobilisiert und wieder in den Wirtschaftsprozess eingegliedert werden; davon waren drei Millionen in kürzester Frist über den Rhein ins Reich zurückzuführen. In Anbetracht des bevorstehenden Winters musste die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Heizmaterial (Kohle) gewährleistet werden. Und nicht zuletzt war ein Mindestmaß an innerer und äußerer Sicherheit aufrechtzuerhalten und insbesondere die Einheit des Reiches in Süd- und Westdeutschland gegen separatistische Tendenzen, im östlichen Grenzgebiet gegen polnische Expansionsbestrebungen zu behaupten.

Vertagung der Sozialisierung

In Anbetracht der schwierigen Umstände wurden diese Probleme erstaunlich gut gemeistert. Dies war allerdings nur mit einem Heer qualifizierter Fachleute möglich, über das MSPD und USPD nicht selbst verfügten. Die Volksbeauftragten waren daher auf die wilhelminischen Unternehmer und Großagrarier, Offiziere, höheren Regierungs- und Verwaltungsbeamten, Richter, Staatsanwälte und Polizeiführer angewiesen. Ebendiese monarchistischen Eliten hätte man jedoch enteignen bzw. aus ihren Positionen entfernen müssen, um die Republikanisierung und Demokratisierung dauerhaft abzusichern. In diesem Dilemma gaben die regierenden Sozialdemokraten der Lösung der dringendsten Aufgaben den Vorrang, zumal die Frage der Überführung von Schlüsselindustrien (Bergbau, Eisen- und Stahlerzeugung, Energiewirtschaft) in Formen von Gemeineigentum ("Sozialisierung") zwischen ihnen umstritten war. Die MSPD-Volksbeauftragten sahen sich in erster Linie als "Konkursverwalter" (Ebert) des Kaiserreiches; verfassungsrechtliche Entscheidungen – Rätesystem oder parlamentarische Demokratie, Privatwirtschaft oder Sozialisierung – durften nach ihrer Überzeugung nicht durch spontan gebildete Arbeiter- und Soldatenräte, sondern nur durch eine vom Volk gewählte Nationalversammlung getroffen werden. Demgegenüber drängten die USPD-Volksbeauftragten auf eine schnelle Sozialisierung; eine Nationalversammlung sollte nach ihren Vorstellungen erst später gewählt und (auf noch zu klärende Weise) mit dem Rätesystem verbunden werden. Beide Linksparteien waren sich jedoch einig, über die Frage der Nationalversammlung möglichst bald einen Beschluss durch einen Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte herbeizuführen.

Machterhalt der wilhelminischen Eliten

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 67

So bewirkte die Entwicklung zwischen November 1918 und Januar 1919 ein Abbremsen der Revolution – die Umwälzung blieb letztlich auf den politischen Bereich beschränkt. Eine Demokratisierung des öffentlichen Dienstes, der Wirtschaft und wichtiger gesellschaftlicher Einrichtungen fand nicht statt. Seit Eberts Aufrufen vom 9. November arbeiteten die Regierungs-, Verwaltungs- und Justizbehörden ohne wirksame Kontrolle weiter; selbst betont antidemokratische Beamte wurden nicht entlassen. Gymnasien und Universitäten – Hochburgen des Monarchismus, Nationalismus und Antisemitismus – blieben unreformiert. Allerdings mussten die evangelischen Landeskirchen, deren Pfarrer sich (besonders in Preußen) überwiegend kritiklos mit Kaiser und Reich identifiziert hatten, auf das landesherrliche Kirchenregiment (das heißt auf die Stellung des Landesfürsten als Kirchenoberhaupt) verzichten, das dem Protestantismus eine privilegierte Stellung gegenüber dem Katholizismus gesichert hatte.

Generalität und Offizierskorps behielten ihre Stellung. Noch am Abend des 10. November 1918 unterstellte sich die OHL in einem Telefongespräch (bekannt als "Ebert-Groener-Bündnis") dem Rat der Volksbeauftragten, um ihrer Auflösung zu entgehen und ihre Autorität gegenüber den Soldaten zu festigen. Zwar wurden die kaiserlichen Militärs für die Demobilisierung noch gebraucht, aber die Volksbeauftragten versäumten es, der OHL gegenüber selbstbewusst aufzutreten und deren Befugnisse auf das Nötigste zu beschränken. Der Versuch, das kaiserliche Militär durch eine "Freiwillige Volkswehr" zu ersetzen, scheiterte, weil nur noch wenige republikanisch und demokratisch gesinnte Weltkriegssoldaten zum Wehrdienst bereit waren. So blieb die alte Armee bestehen. Im Zuge der Demobilisierung schmolz sie unter der Regie der OHL bis zum Sommer 1919 auf einen Kern von etwa 150000 Soldaten zusammen, die der Republik und der Demokratie fast ausnahmslos fern standen.

Auch die ostelbischen adligen und bürgerlichen Großgrundbesitzer, die im Kaiserreich den Großteil des höheren Offizierskorps stellten und das Rückgrat der Monarchie bildeten, kamen ungeschoren davon. Sie durch Enteignung zu entmachten, wurde von keiner gesellschaftlichen Gruppe gefordert.

Verzicht auf Sozialisierung – der Stinnes-Legien-Pakt

Schon früh wurden die Weichen so gestellt, dass die rheinisch-westfälischen Schwerindustriellen – auch sie Säulen des kaiserlichen Obrigkeitsstaates – von Enteignungen verschont blieben. Am 15. November 1918 schlossen der Vorsitzende der Unternehmerverbände Hugo Stinnes und der (der MSPD angehörende) Gewerkschaftsvorsitzende Carl Legien ein Abkommen, in dem sie folgendes vereinbarten:

• die Anerkennung der Gewerkschaften als "berufene Vertretung der Arbeiterschaft" und das Prinzip der kollektiven Tarifverträge,

• den Acht-Stunden-Tag bei vollem Lohnausgleich,

• Arbeiterausschüsse und paritätische Schlichtungsausschüsse in Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigten,

• die Wiedereinstellung der demobilisierten Soldaten,

• sowie einen paritätisch besetzten "Zentralausschuss" (Zentralarbeitsgemeinschaft/ZAG) zur Durchführung des Abkommens und zur "Entscheidung grundsätzlicher Fragen".

Erstmals wurden die Gewerkschaften von den Unternehmern als gleichberechtigte Vertragspartner anerkannt. Auch war die damals geschaffene Tarifautonomie der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen ein bedeutender sozialpolitischer Erfolg, der noch heute einen Eckpfeiler des Sozialstaates der Bundesrepublik bildet. Das geschickte Angebot der Unternehmer – "Sozialpolitik

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 68 gegen Verzicht auf Sozialisierung" (Eberhard Kolb) – stieß bei den Gewerkschaftsführern auf Zustimmung, weil diese die spontane Rätebewegung in den Betrieben als lästige Konkurrenz empfanden. Die Volksbeauftragten einigten sich zwar am 18. Dezember auf den Kompromiss, Industriezweige, die dafür "reif" waren, zu sozialisieren, sobald eine Expertenkommission aus Wirtschaftswissenschaftlern, Unternehmern und Arbeitervertretern die notwendigen Einzelheiten ausgearbeitet hätte. Aber dieser Beschluss lief auf eine Vertagung der Sache hinaus.

Ebenfalls am 15. November 1918 beriefen die Volksbeauftragten Hugo Preuß, einen angesehenen linksliberalen Staatsrechtslehrer und bekannten Kritiker des kaiserlichen Obrigkeitsstaates, zum Staatssekretär des Innern und erteilten ihm den Auftrag, eine neue Reichsverfassung zu entwerfen. Preuß Ernennung signalisierte, dass die MSPD ihre Zusammenarbeit mit dem liberalen Bürgertum und dem politischen Katholizismus fortsetzen wollte.

Grundsatzentscheidungen im Reichsrätekongress

Vom 16. bis zum 21. Dezember 1918 tagte im preußischen Abgeordnetenhaus in Berlin der "Erste Allgemeine Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands". Reichsweit war auf je 200000 Einwohner bzw. je 100000 Soldaten ein Delegierter gewählt worden. Der Kongress führte eine Grundsatzdebatte über die Vor- und Nachteile des Rätesystems und der parlamentarischen Demokratie sowie über den richtigen Zeitpunkt der Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung. Er fasste – jeweils mit großer Mehrheit – richtungweisende Beschlüsse:

• Abgelehnt wurde der Antrag der USPD, am "Rätesystem als Grundlage der Verfassung einer sozialistischen Republik" festzuhalten und den Räten die "höchste gesetzgebende und Vollzugsgewalt" zuzugestehen.

• Angenommen wurde der Antrag der MSPD, bis zur Regelung durch die Nationalversammlung die gesetzgebende und vollziehende Gewalt dem Rat der Volksbeauftragten zu übertragen und diesen nicht mehr durch den Berliner Vollzugsrat, sondern durch einen vom Kongress zu wählenden "Zentralrat der Deutschen Sozialistischen Republik" zu kontrollieren. In diesem Gremium war dann nur die MSPD vertreten – die USPD boykottierte die Wahl, weil der Zentralrat keine Gesetzgebungsbefugnis erhielt. Das Ende der Zusammenarbeit zwischen den beiden Linksparteien kündigte sich an.

• Die Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung wurden auf den frühestmöglichen Termin (19. Januar 1919) festgesetzt.

Damit hatte sich erwartungsgemäß die politische Linie der MSPD durchgesetzt. Denn von den 514 Delegierten des Reichsrätekongresses stellte sie rund 300, die USPD etwa 100 (darunter 10 Spartakisten); die übrigen waren Linksliberale, Parteilose oder Vertreter unabhängiger revolutionärer Gruppen.

Umso mehr überraschten zwei weitere Beschlüsse: Die Volksbeauftragten wurden angewiesen, "mit der Sozialisierung aller hierzu reifen Industrien, insbesondere des Bergbaus, unverzüglich zu beginnen". Auch sollten sie die militärische Kommandogewalt (unter der Kontrolle des Vollzugsrates) selbst übernehmen und für die "Zertrümmerung des Militarismus" und die "Abschaffung des Kadavergehorsams" sorgen. Offenbar existierte in der starken demokratisch-sozialistischen Massenbewegung ein parteiübergreifender Konsens über eine sofortige (!) strukturelle Demokratisierung von Heer, Verwaltung und Wirtschaft.

Doch die Mehrheitssozialdemokraten blieben ihrer Devise, dass man der Nationalversammlung nicht vorgreifen dürfe, treu und verschleppten die Reformbeschlüsse des Rätekongresses. Mit dieser Politik

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 69 enttäuschten sie Teile ihrer Anhängerschaft und brachten die radikale Linke noch mehr gegen sich auf. Daher waren sie, um die Macht zu behaupten, immer stärker auf die alten Mächte angewiesen – vor allem auf das Militär. In der Folge kam es zum Blutvergießen und zum Bruch zwischen USPD und MSPD.

Weihnachtskämpfe

Seit Mitte Dezember schwelte ein Streit um die "Volksmarinedivision", die nach dem 9. November 1918 zum Schutz des Berliner Regierungsviertels aus etwa 1000 Kieler Matrosen aufgestellt und im Schloss einquartiert worden war. Mittlerweile stand sie der USPD und dem "Spartakusbund" nahe. Da sie sich nicht korrekt verhielt – im Schloss verschwanden Kunstschätze –, sollte die Volksmarinedivision nach dem Willen der Volksbeauftragten ein neues Quartier beziehen. Die Matrosen ließen es auf eine Machtprobe ankommen: Sie setzten am 23. Dezember die Volksbeauftragten in der Reichskanzlei fest und entführten den Stadtkommandanten Otto Wels in den Marstall, wo er misshandelt wurde.

Daraufhin rief Friedrich Ebert über eine nicht überwachte Telefonleitung OHL-Truppen zu Hilfe, die sich am nächsten Tag bei einem Feuergefecht mit der Volksmarinedivision als bürgerkriegsuntauglich erwiesen: Als ihnen auch die Sicherheitswehr des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn (USPD), bewaffnete Arbeiter und eine unbewaffnete Volksmenge gegenüberstanden, zogen sie sich zurück. Ebert erlitt eine Niederlage: Wels kam frei, musste aber als Stadtkommandant zurücktreten; Schloss und Marstall wurden geräumt, aber die Volksmarinedivision blieb vorerst bestehen. Aus Protest gegen den Militäreinsatz beendete die USPD am 29. Dezember 1918 ihre Zusammenarbeit mit der MSPD und schied aus den Revolutionsregierungen aus. Im Rat der Volksbeauftragten wurden die USPD- Mitglieder durch Mehrheitssozialdemokraten (Militär: Gustav Noske, Arbeit und Soziales: Rudolf Wissell) ersetzt. Die Weihnachtskämpfe und der Bruch zwischen den beiden Linksparteien signalisierten den Eintritt der Revolution in eine zweite, weitaus radikalere Phase.

Bereits seit Mitte November hatte die OHL parallel zur Demobilisierung des Heeres die Bildung von "Freikorps" durch ausgesuchte Offiziere gefördert. In diesen (meist von Großagrariern und Industriellen finanzierten) militärischen Freiwilligenverbänden sammelten sich antirevolutionär, monarchistisch und nationalistisch eingestellte Weltkriegssoldaten, die nur das Kriegshandwerk gelernt hatten, keinen Rückweg in eine zivile Existenz mehr fanden und gegen den "Bolschewismus" kämpfen wollten. Als Reaktion auf die Weihnachtskämpfe ließen jetzt auch die Volksbeauftragten, in Zusammenarbeit mit der OHL, überall Freikorps anwerben. Sie waren nicht nur für die Sicherung der östlichen Grenzgebiete und (entsprechend dem Waffenstillstandsabkommen) den Schutz des Baltikums vor der Roten Armee, sondern auch für den Einsatz im Innern vorgesehen. Bis März 1919 entstanden etwa 100 Freikorps unterschiedlicher Stärke mit einer Gesamtzahl von 250000 Mann. Die Freikorpssoldaten fühlten sich jedoch nicht der Republik und der Demokratie, sondern allein ihren Kommandeuren und dem Staat als solchem verpflichtet.

Gründung der KPD

Durch den Rätekongress und die Weihnachtskämpfe verschärften sich auch die Spannungen zwischen den verschiedenen Flügeln der USPD. Am 30. Dezember 1918 gründete der "Spartakusbund" zusammen mit Hamburger und Bremer Linksradikalen die "Kommunistische Partei Deutschlands" (KPD), die von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht geführt wurde. Rosa Luxemburg versuchte die KPD von Lenins Parteidiktatur in Russland abzugrenzen und auf eine Doppelstrategie einzuschwören: "Der Sozialismus wird nicht gemacht und kann nicht gemacht werden durch Dekrete [...]. Der Sozialismus muss durch die Massen, durch jeden Proletarier (das heißt besitzlosen Arbeiter – Anm. d. Red.) gemacht werden. [...] Wir wollen innerhalb der Nationalversammlung ein siegreiches Zeichen aufpflanzen, gestützt auf die Aktion von außen." Der Gründungsparteitag beschloss jedoch, die Wahl der Nationalversammlung zu boykottieren – diese sei nur ein "Organ der Bourgeoisie" (das heißt des kapitalbesitzenden Bürgertums).

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Januaraufstand

Den Weihnachtskämpfen folgte unausweichlich die nächste Machtprobe: Ein Berliner Polizeipräsident, der Aufständischen half, statt die Regierung zu schützen, war nicht tragbar – am 4. Januar 1919 wurde Eichhorn entlassen. USPD, Revolutionäre Obleute und KPD riefen sofort zu einer Protestdemonstration auf, die am Folgetag großen Zulauf fand und unerwartet außer Kontrolle geriet. Bewaffnete Demonstranten besetzten das Berliner Zeitungsviertel. In völliger Fehleinschätzung der Lage ließen sich die Führer der drei linksradikalen Gruppen zu dem Beschluss hinreißen, den Aufstand bis zum "Sturz der Regierung Ebert-Scheidemann" fortzusetzen – sie wollten die Wahl der Nationalversammlung verhindern und die Revolution fortsetzen.

Die Volksbeauftragten hatten sich rechtzeitig an den Stadtrand zurückgezogen. Mit den Worten: "Meinetwegen! Einer muss der Bluthund werden, ich scheue die Verantwortung nicht!" übernahm Gustav Noske den Auftrag, in der Umgebung Berlins Freiwilligenverbände aufzustellen. Als Verhandlungen mit den Aufständischen scheiterten, ließ er am 11./12. Januar das Berliner Zeitungsviertel beschießen und stürmen. Es gab zahlreiche Tote und Verletzte. Obwohl die Ordnung bereits am 13. Januar wiederhergestellt war, beorderte Noske zusätzliche Freikorps der OHL nach Berlin. Zu diesen gehörte eine Gruppe von Offizieren um den Hauptmann Waldemar Pabst, die am 15. Januar 1919 Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in ihre Gewalt brachte und brutal ermordete. Die Täter gingen vor dem Militärgericht straffrei aus bzw. entzogen sich ihrer geringen Freiheitsstrafe durch die Flucht.

Vom Verlust seiner beiden fähigsten Köpfe konnte sich der deutsche Kommunismus nie mehr erholen. Die KPD machte die MSPD für die Bluttat politisch verantwortlich; umgekehrt warf die MSPD der KPD vor, sie durch ihren sinnlosen Putschismus zum Militäreinsatz gezwungen zu haben. Aus Gegnerschaft wurde erbitterte Feindschaft. Nach der blutigen Niederwerfung des Januaraufstandes radikalisierte sich auch die USPD.

Die Revolution von 1918/19 im Urteil der Historiker

Die Revolution von 1918/19, aus der Weimar hervorgegangen ist, gehört zu den umstrittensten Ereignissen der deutschen Geschichte. Manche Historiker meinen, dass die erste deutsche Demokratie vielleicht nicht untergegangen und dann auch Hitler nicht an die Macht gekommen wäre, hätte es damals einen gründlichen Bruch mit der obrigkeitsstaatlichen Vergangenheit gegeben. Tatsächlich war der Handlungsspielraum der regierenden Mehrheitssozialdemokraten (also jenes Teils der alten SPD, der dem Reich bis zuletzt Kriegskredite bewilligt und seit 1917 eng mit den Parteien der bürgerlichen Mitte, dem katholischen Zentrum und den Linksliberalen, zusammengearbeitet hatte) in den entscheidenden Wochen zwischen dem Sturz der Monarchie am 9. November 1918 und der Wahl der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung am 19. Januar 1919 größer als die Akteure mit Friedrich Ebert, dem Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten, an der Spitze selbst meinten. Sie hätten weniger bewahren müssen und mehr verändern können. Es wäre, mit anderen Worten, möglich gewesen, in der revolutionären Übergangszeit erste Schritte zu tun auf dem Weg zu einer Demokratisierung der Verwaltung, der Schaffung eines republikloyalen Militärwesens, der öffentlichen Kontrolle der Macht – unter Umständen bis hin zu einer Vergesellschaftung des Bergbaus, einer Forderung, die nach der Jahreswende 1918/19 zu einer zündenden Streikparole wurde. [...]

Gegen eine Mehrheit Politik zu machen war für die Sozialdemokraten unvorstellbar. Es hätte auch dem bisherigen Gang der deutschen Verfassungsgeschichte widersprochen. [...] Deutschland war um 1918 bereits zu demokratisch, um sich eine revolutionäre Erziehungsdiktatur (sei es nach dem Vorbild der französischen Jakobiner von 1793 oder, was aktueller war, nach dem der russischen Bolschewiki von 1917) aufzwingen zu lassen.

Deutschland war auch zu industrialisiert für einen völligen Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse.

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[...] Für hochindustrialisierte Gesellschaften aber ist ein starker Bedarf an der Aufrechterhaltung der Dienstleistungen von Staat und Kommunen, das heißt an administrativer Kontinuität, kennzeichnend. Beide Faktoren, der Grad der Demokratisierung und der Grad der Industrialisierung, wirkten objektiv revolutionshemmend. Sie erklären, warum die deutsche Revolution von 1918/19 nicht zu den großen Revolutionen der Geschichte gerechnet werden kann.

Heinrich August Winkler, Weimar: "Ein deutsches Menetekel". In: Ders. / Alexander Cammann (Hg.), Weimar. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte 1918-1933. C. H. Beck, München 1997, S. 15 ff.

Ich will [...] nur auf die mir relativ der Wirklichkeit am nächsten kommende These von Heinrich August Winkler eingehen [...].

Bisher wurde noch nie der Versuch unternommen, einmal stundenweise diese zehn Wochen (9. November 1918 bis 19. Januar 1919 – Anm. d. Red.) zu untersuchen [...]. Dabei würde deutlich, dass den Mitgliedern des Rates der Volksbeauftragten ein Übermaß an Kraft und Ideen abverlangt worden ist. [...] Dennoch sind in diesen zehn Wochen über 130 Gesetze [...] geschaffen worden. [...]

Wenn man die zehn Wochen als Zeitbudget formal fasst, dann bleibt am Schluss eigentlich nur die Zeit zwischen dem 9. November und den Weihnachtstagen 1918 übrig, auch hier schon unterbrochen durch Rebellion von Kräften in Berlin, die sicherlich nicht bolschewistisch waren, [...] aber eine Lage herbeiführen halfen, in der radikale Kräfte auf beiden Seiten sich in die Hände spielen konnten. Diese "Weihnachtsunruhen" aber führten dann dazu, dass Ebert und Scheidemann, weil eben ein enormes Machtvakuumbestand, sich die Unterstützung der unter dem Befehl der Obersten Heeresleitung stehenden Freikorps sicherten, die allerdings ganz andere Ziele, nämlich solche der Rückeroberung der Macht für die reaktionäre Rechte vertraten.

Hier liegt in der Tat der große Fehler, dass es nicht gelungen ist, wie etwa in Österreich, für diese Regierung der Volksbeauftragten eine Truppe von mehreren tausend Mann zusammenzubringen, die in der Lage gewesen wäre, Putschgelüste von rechts und Aufstandsversuche von links [...] niederzuhalten oder [...] abschreckend zu wirken [...].Weshalb sage ich: nur bis Weihnachten 1918? Nach dieser ersten Auseinandersetzung, bei der es zahlreiche Tote gab, kam es zum Rückzug der USPD-Mitglieder aus dem Rat der Volksbeauftragten. Das heißt, das, was innerhalb der Regierung an Druck von links her ausgeübt hätte werden können, entfiel. Der folgende "außerparlamentarische" Druck der USPD führte im Grunde eher zur Verengung der Wahrnehmung und natürlich auch zur Verengung des Aktionsradius von Ebert und den Seinen.

Hartmut Soell, "Von der Machterschleichung zur Machtergreifung: Überlegungen zum Ende der ersten deutschen Republik".

In: Christoph Gradmann / Oliver von Mengersen (Hg.), Das Ende der Weimarer Republik und die nationalsozialistische Machtergreifung, Manutius, Heidelberg 1994, S. 9 ff.

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 72 Parlamentarische Demokratie

Am 19. Januar 1919 wurde die verfassunggebende Nationalversammlung gewählt. Nach dem reinen Verhältniswahlrecht entfiel auf je 150.000 Stimmen ein Mandat. Durch Senkung des Wahlalters von 25 auf 20 Jahre und Einführung des Frauenwahlrechts stieg die Zahl der Wahlberechtigten auf 36,7 Millionen (mehr als doppelt so viele wie bei den letzten Reichstagswahlen 1912). Im Hinblick auf die Verfassungsentwicklung war das Abschneiden der bürgerlichen Parteien, die sich im November/ Dezember 1918 neu formiert hatten, von besonderem Interesse. Zwischen den Parteien des Kaiserreiches und der Republik gab es eine bemerkenswerte Kontinuität.

Bürgerliche Parteien

Im Lager des bürgerlichen Liberalismus setzte sich die überkommene Spaltung fort. Die "Deutsche Demokratische Partei" (DDP) ging aus der "Fortschrittlichen Volkspartei" und dem linken Flügel der "Nationalliberalen Partei" hervor. Sie wurde getragen von eher linksliberal eingestellten Bildungsbürgern, leitenden Angestellten und Beamten, vorwiegend der Chemie- und der Elektroindustrie zugehörigen Industriellen, Mittelständlern und liberalen Juden. Die DDP war für die parlamentarisch-demokratische Republik und sagte deren "bolschewistischen" und "reaktionären" Gegnern den Kampf an. Für Sozialisierungen zeigte sich nur ein Teil ihrer Mitglieder und Anhänger aufgeschlossen. Dagegen führte die "Deutsche Volkspartei" (DVP) die Tradition des rechten Flügels der Natio-nalliberalen fort. Sie vertrat vor allem die wirtschaftsliberal, monarchistisch und antirevolutionär gesinnten Teile des Bildungsbürgertums, der Industrie (besonders der Schwerindus- trie) und des Mittelstandes.

Die "Deutsche Zentrumspartei" blieb eine Konfessionspartei für die Katholiken aller Gesellschaftsschichten, von adligen Großgrundbesitzern bis zu christlichen Gewerkschaftsangehörigen. Die Zusammenarbeit mit der "atheistischen" MSPD und der liberalen DDP auf dem Boden der Republik wurde besonders von dem durch die Revolution gestärkten Arbeitnehmerflügel des Zentrums getragen; der monarchistische Flügel sah in der Kooperation nur das kleinere Übel im Vergleich zu einer revolutionären Räterepublik. Die Sozialisierungsfrage war innerparteilich umstritten. Der bayerische Landesverband machte sich im November 1918 als "Bayerische Volkspartei" (BVP) selbstständig. Sie war dem Königshaus Wittelsbach verbunden, trat betont föderalistisch und antisozialistisch auf, bildete aber auf Reichsebene eine Fraktionsgemeinschaft mit dem Zentrum.

In der "Deutschnationalen Volkspartei" (DNVP) sammelten sich Anhänger der "Deutschkonservativen Partei", der "Reichspartei" und der 1917 gegründeten, 1918 gescheiterten imperialistischen "Vaterlandspartei". In erster Linie waren es Offiziere, Beamte und Angestellte, Akademiker, Mittelständler und Bauern; ostelbische Großagrarier und rheinisch-westfälische Schwerindustrielle gaben den Ton an. Die nationalkonservative und antisemitische DNVP, deren rechter Flügel die Grenze zum völkischen Rechtsradikalismus überschritt, lehnte Republik und Demokratie grundsätzlich ab. Ihr Hauptziel war die Wiedererrichtung der Hohenzollernmonarchie über Preußen und das Deutsche Reich.

Die Wahlbeteiligung betrug 83 Prozent, bei den Frauen sogar 90 Prozent. Von den 416 Abgeordneten stellten die Frauen aber nur 37 (= 8,9 Prozent). Die Stimmen der weiblichen Wähler kamen nicht etwa USPD und MSPD zugute, denen sie das Wahlrecht verdankten; vielmehr tendierten die Frauen in überwiegend protestantischen Gegenden zu DDP und DNVP, in überwiegend katholischen zum Zentrum bzw. zur BVP.

Eindeutige Wahlsieger waren die Mehrheitssozialdemokraten. MSPD, DDP und Zentrum brachten es gemeinsam auf 76,1 Prozent der Wählerstimmen, was Republik und Demokratie ein solides Fundament zu verleihen schien. Die beiden sozialdemokratischen Parteien blieben zusammen deutlich unter, die bürgerlichen Parteien über 50 Prozent. Insgesamt bedeutete das Wahlergebnis einen großen Sieg für die Anhänger der parlamentarischen Demokratie, eine klare Niederlage für deren linksradikale und

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 73 monarchistische Gegner und eine bittere Enttäuschung für alle Anhänger tiefgreifender Gesellschaftsreformen durch Sozialisierungen.

Nationalversammlung

Die Nationalversammlung trat am 6. Februar nicht im Berliner Reichstag, sondern im Weimarer Nationaltheater zusammen – einerseits, um nach dem Berliner Januaraufstand ungestört zu beraten, andererseits, um das republikanische Deutschland symbolisch mit den humanistischen, aufklärerischen und klassischen Traditionen der deutschen Kultur zu verbinden. Am 11. Februar wählten die Abgeordneten Friedrich Ebert zum ersten Reichspräsidenten; dieser beauftragte Philipp Scheidemann mit der Regierungsbildung. Am 13. Februar wurde die erste, vom ganzen deutschen Volk legitimierte, parlamentarisch-demokratische Regierung aus Ministern der "Weimarer Koalition" (MSPD, DDP, Zentrum) vereidigt. Danach begannen die Verfassungsberatungen und die allgemeine Gesetzgebung.

Frühjahrsunruhen

Nach den für die radikale Linke enttäuschenden Wahlen zur Nationalversammlung kam es zwischen Februar und Mai 1919 vielerorts zu lokalen Aufständen, "wilden" Streiks (das heißt ohne Beteiligung der Gewerkschaften) und Betriebsbesetzungen, letztere namentlich im mitteldeutschen Bergbau um Halle und Merseburg und im Ruhrgebiet. Dabei ging es um den Erhalt und Ausbau des Rätesystems, die Sozialisierung der Schlüsselindustrien und die Demokratisierung des Militärs sowie um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Die Massenbewegung dieser zweiten Phase der Revolution war im Umfang erheblich kleiner, aber in den Zielen bedeutend radikaler als die Volksbewegung vom November 1918. Die Mehrheit der Industriearbeiter stand jetzt im Lager der USPD.

Anfang März 1919 fand in Berlin ein von Anhängern aller Linksparteien organisierter Generalstreik für die Demokratisierung des Militärs statt. Die KPD betrieb jedoch die Umwandlung des Streiks in einen Aufstand, was zur Verhängung des Ausnahmezustandes über Berlin führte. Aufgrund der Falschmeldung, Kommunisten hätten 60 Polizisten ermordet, erließ Gustav Noske (inzwischen Reichswehrminister) als Inhaber der vollziehenden Gewalt am 9. März den Befehl: "Jede Person, die mit Waffen in der Hand gegen Regierungstruppen kämpfend angetroffen wird, ist sofort zu erschießen." Freikorps und Polizei machten daraufhin rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch. Die Berliner Märzkämpfe kosteten rund 1.000 Menschen das Leben.

In Bayern löste am 21. Februar 1919 die Ermordung des Ministerpräsidenten Kurt Eisner (USPD) durch einen monarchistischen Offizier große Empörung aus, die in linksradikale Versuche zur Gründung einer Räterepublik mündeten. Schließlich übernahm die KPD am 13. April mit Hilfe einer von ihr aufgestellten Miliz ("Rote Armee") in München die Macht. Daraufhin schickte Noske starke Freikorpsverbände, die die kommunistische Herrschaft in harten Kämpfen niederschlugen. Unter den insgesamt 606 Todesopfern befanden sich 335 Zivilisten.

Anfang Mai 1919 endete mit der Münchner Räterepublik, die die Kommunismusfurcht des Bürgertums nachhaltig schürte, auch die Revolution von 1918/19. Schon seit Januar übernahmen demokratisch gewählte Parlamente die Aufgaben der Arbeiter- und Soldatenräte. Die meisten Räte lösten sich im Frühjahr und Sommer 1919 auf, die letzten im Herbst und Winter 1919/20.

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 74 Weimarer Verfassung

Am 31. Juli 1919 nahm die Nationalversammlung mit überwältigender Mehrheit – gegen die Stimmen von USPD, DVP und DNVP – die Weimarer Verfassung an, die nach ihrer Unterzeichnung durch den Reichspräsidenten am 14. August in Kraft trat. Sie beruhte weitgehend auf dem Entwurf von Hugo Preuß. Bei den Nationalsymbolen kam es zu einem Kompromiss: Schwarz-rot-gold, die Farben der bürgerlich-demokratischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts, wurden die Reichsfarben der Republik. Die Handelsflagge behielt die schwarz-weiß-roten Farben des Kaiserreiches – mit einer kleinen schwarz-rot-goldenen Gösch in der inneren oberen Ecke. 1922 erklärte der Reichspräsident das "Lied der Deutschen" von Hoffmann von Fallersleben zur Nationalhymne.

Zentrale Verfassungsprinzipien waren die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung und die Grundrechte, darunter erstmals die staatsbürgerliche und familienrechtliche Gleichstellung der Frauen (Artikel 109, 119 und 128). Weitere Strukturelemente bildeten die repräsentative Demokratie mit einer dem Parlament verantwortlichen Regierung, die plebiszitäre Demokratie mit Volksabstimmungen (nach dem Vorbild der Schweiz) und die Präsidialdemokratie mit einem starken, direkt gewählten Präsidenten (wie in den USA und in Frankreich). Der deutsche Föderalismus wurde etwas abgeschwächt: Man erweiterte die Kompetenzen des Reiches und trennte das Amt des preußischen Ministerpräsidenten vom Vorsitz des Reichsrates (der Ländervertretung) und vom Amt des Reichskanzlers. Die Bismarcksche Sozialgesetzgebung wurde zum Sozialstaat ausgebaut. Die Mischung aus repräsentativen, plebiszitären und autoritären Verfassungselementen ergab jedoch kein harmonisches Ganzes.

Repräsentative, plebiszitäre und autoritäre Elemente

Die Grundrechte waren kein unmittelbares, die Gewalten (Legislative, Exekutive, Jurisdiktion) bindendes Recht (wie im Grundgesetz von 1949); sie galten nur nach Maßgabe der Gesetze. Eine dem heutigen Bundesverfassungsgericht vergleichbare Institution als Hüterin der Verfassung fehlte. Zwar war die Gesetzgebung Sache des vom Volk für vier Jahre gewählten Reichstages; auch ließen sich Einsprüche der Ländervertretung (anders als im Kaiserreich) mit einem Zweidrittelvotum des Parlamentes überstimmen. Aber ein Volksbegehren von zehn Prozent der Wahlberechtigten konnte den Reichstag dazu zwingen, einen ihm zugeleiteten Gesetzentwurf unverändert zu beschließen oder einem Volksentscheid zu überlassen (Artikel 73). Fünf Prozent der Wahlberechtigten vermochten unter bestimmten Bedingungen sogar einen Volksentscheid über ein vom Parlament bereits verabschiedetes Gesetz zu erzwingen (Artikel 72). Diese Möglichkeiten direkter Demokratie stellten die Kompetenz des Parlaments, mithin die repräsentative Demokratie als solche, infrage.

Der vom Volk für sieben Jahre direkt gewählte Reichspräsident besaß eine solche Machtfülle, dass man ihn auch als "Ersatzkaiser" bezeichnet hat. Der Präsident konnte die Volksvertretung fast beliebig ("nur einmal aus dem gleichen Anlass") auflösen (Artikel 25). Jedes vom Reichstag verabschiedete Gesetz, mit dem er nicht einverstanden war, durfte er einem Volksentscheid überantworten (Artikel 73) – eine nie praktizierte Regelung, die gleichwohl den Parlamentarismus latent bedrohte.

Der Reichspräsident ernannte und entließ den Reichskanzler und, auf dessen Vorschlag, die Reichsminister (Artikel 53). Alle Kabinettsmitglieder bedurften des Vertrauens des Reichstages. Dieses wurde vorausgesetzt, solange das Parlament kein Misstrauensvotum abgab, mit dem es den Kanzler oder einen Minister stürzen konnte (Artikel 54). Eine Kanzlerwahl durch den Reichstag, die das Parlament gegenüber der Regierung und beide zusammen gegenüber dem Reichspräsidenten gestärkt hätte, war jedoch nicht vorgesehen.

Ferner vertrat der Reichspräsident das Reich völkerrechtlich (Artikel 45) und hatte den Oberbefehl über die Streitkräfte (Artikel 47). Nach Artikel 48 Abs. 1 traf er allein Maßnahmen (notfalls auch militärische) gegen ein Land, das die Verfassung oder Reichsgesetze verletzte (sog. Reichsexekution). Vor allem entschied er über den "Ausnahmezustand": Stellte er fest, dass "die öffentliche Sicherheit

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 75 und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet" war, so durfte er gemäß Artikel 48 Abs. 2 quasi diktatorisch die "nötigen Maßnahmen" treffen, das heißt das Militär im Innern einsetzen und sogar die wichtigsten Grundrechte "vorübergehend" außer Kraft setzen, nämlich Freiheit der Person (Artikel 114), Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 115), Postgeheimnis (Artikel 117), freie Meinungsäußerung (Artikel 118), Versammlungsfreiheit (Artikel 123), Vereinsfreiheit (Artikel 124) und Eigentumsrecht (Artikel 153). Zwar konnte der Reichstag mit einfacher Mehrheit die Aufhebung dieser Maßnahmen verlangen (Artikel 48 Abs. 3). Aber das in Artikel 48 Abs. 5 vorgesehene Ausführungsgesetz, das die Gefahr willkürlicher Machtausübung hätte verringern können, kam nie zustande. Alle Anordnungen und Verfügungen des Reichspräsidenten bedurften der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler bzw. den zuständigen Reichsminister (Artikel 50); doch war auch dies kein zuverlässiges Kontrollinstrument, da der Präsident erheblichen Einfluss auf die Regierungsbildung besaß.

Gesellschaftspolitische Bestimmungen

Die Rätebewegung der Revolution fand in Artikel 165 einen gewissen Nachhall. Von Arbeitnehmern und Arbeitgebern paritätisch besetzte Bezirkswirtschaftsräte und ein Reichswirtschaftsrat sollten in erster Linie bei der Durchführung von Sozialisierungen mitwirken. Artikel 153 Abs. 2 erlaubte gesetzliche Enteignungen "zum Wohle der Allgemeinheit" gegen eine "angemessene" Entschädigung, "soweit nicht ein Reichsgesetz etwas anderes bestimmt". Da es für Sozialisierungen aber keine politischen Mehrheiten gab, haben diese Räte nie etwas bewirkt.

Im Vergleich zum Kaiserreich machte der Sozialstaat beträchtliche Fortschritte. Artikel 159 gewährleistete die Koalitionsfreiheit (das heißt die soziale und wirtschaftliche Vereinigungsfreiheit) und verlieh damit Gewerkschaften wie Unternehmerverbänden ein verfassungsmäßiges Existenz- und Betätigungsrecht. Artikel 161 verankerte das von Bismarck begründete Sozialversicherungswesen in der Verfassung. Darüber hinaus enthielt Artikel 163 einen Verfassungsauftrag zur Einrichtung einer staatlichen Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. Nicht zuletzt legte Artikel 146 erstmals die noch heute existierende vierjährige "für alle gemeinsame Grundschule" als Basis des darauf aufbauenden gegliederten Schulwesens fest – eine bildungspolitische Konstruktion, deren Vereinheitlichungstendenz konservativen Kritikern zu weit, linken dagegen nicht weit genug ging.

Trotz ihrer strukturellen Probleme bildete die Weimarer Verfassung ein tragfähiges Fundament für den Aufbau einer rechts- und sozialstaatlichen Demokratie. Welchen Belastungsproben sie ausgesetzt sein würde und ob sie ihnen standhalten konnte, musste sich freilich erst noch erweisen.

Ausgewählte Verfassungsartikel

Artikel 25

Der Reichspräsident kann den Reichstag auflösen, jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlass.

Die Neuwahl findet spätestens am sechzigsten Tag nach der Auflösung statt.

Artikel 48

Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten.

Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten

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Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.

Von allen gemäß Absatz 1 oder Absatz 2 dieses Artikels getroffenen Maßnahmen hat der Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstags außer Kraft zu setzen. [...]

Bei Gefahr im Verzuge kann die Landesregierung für ihr Gebiet einstweilige Maßnahmen der im Absatz 2 bezeichneten Art treffen. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichspräsidenten oder des Reichstags außer Kraft zu setzen. Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz.

Artikel 53

Der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister werden vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen.

Artikel 54

Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muss zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluss das Vertrauen entzieht.

Artikel 73

Ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz ist vor seiner Verkündung zum Volksentscheid zu bringen, wenn der Reichspräsident binnen eines Monats es bestimmt. Ein Gesetz, dessen Verkündung auf Antrag von mindestens einem Drittel des Reichstags ausgesetzt ist, ist dem Volksentscheid zu unterbreiten, wenn ein Zwanzigstel der Stimmberechtigten es beantragt.

Ein Volksentscheid ist ferner herbeizuführen, wenn ein Zehntel der Stimmberechtigten das Begehren nach Vorlegung eines Gesetzentwurfs stellt. Dem Volksbegehren muss ein ausgearbeiteter Gesetzentwurf zu Grunde liegen. Er ist von der Regierung unter Darlegung ihrer Stellungnahme dem Reichstag zu unterbreiten. Der Volksentscheid findet nicht statt, wenn der begehrte Gesetzentwurf im Reichstag unverändert angenommen worden ist. [...]

Artikel 153

Das Eigentum wird von der Verfassung gewährleistet. [...]

Eine Enteignung kann nur zum Wohle der Allgemeinheit und auf gesetzlicher Grundlage vorgenommen werden. Sie erfolgt gegen angemessene Entschädigung, soweit nicht ein Reichsgesetz etwas anderes bestimmt. [...]

Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste.

Artikel 156

Das Reich kann durch Gesetze, unbeschadet der Entschädigung, in sinngemäßer Anwendung der für Enteignung geltenden Bestimmungen, für die Vergesellschaftung geeignete private wirtschaftliche Unternehmungen in Gemeineigentum überführen. Es kann sich selbst, die Länder oder die Gemeinden an der Verwaltung wirtschaftlicher Unternehmungen und Verbände beteiligen oder sich daran in anderer Weise einen bestimmten Einfluss sichern. [...]

Artikel 165

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Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt.

Die Arbeiter und Angestellten erhalten zur Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen gesetzliche Vertretungen in Betriebsarbeiterräten sowie in nach Wirtschaftsgebieten gegliederten Bezirksarbeiterräten und in einem Reichsarbeiterrat.

Die Bezirksarbeiterräte und der Reichsarbeiterrat treten zur Erfüllung der gesamten wirtschaftlichen Aufgaben und zur Mitwirkung bei der Ausführung der Sozialisierungsgesetze mit den Vertretungen der Unternehmer und sonst beteiligter Volkskreise zu Bezirkswirtschaftsräten und zu einem Reichswirtschaftsrat zusammen. [...]

Sozialpolitische und wirtschaftspolitische Gesetzentwürfe von grundlegender Bedeutung sollen von der Reichsregierung vor ihrer Einbringung dem Reichswirtschaftsrat zur Begutachtung vorgelegt werden. Der Reichswirtschaftsrat hat das Recht, selbst solche Gesetzesvorlagen zu beantragen. [...]

Hermann Mosler (Hg.), Die Verfassung des deutschen Reichs vom 11. August 1919, Reclam, Stuttgart 1964, S. 18 ff.

Dieser Text ist zuerst in den Informationen zur politischen Bildung (http://www.bpb.de/ izpb/55949/vom-kaiserreich-zur-republik-1918-19) / Heft 261 erschienen.

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Kampf um die Republik 1919-1923

Von Reinhard Sturm 23.12.2011 Reinhard Sturm, geboren 1950, studierte von 1971 bis 1978 Geschichte, Politikwissenschaft und Anglistik an der Georg-August- Universität Göttingen. 1973/74 war er ein Jahr als German Assistant an einer Schule in England tätig. Nach dem Vorbereitungsdienst 1978 bis 1980 in Salzgitter arbeitete er als Gymnasiallehrer bis 1990 in Göttingen, seither in Hildesheim. Seit 1990 bildet er als Studiendirektor und Fachleiter für Geschichte am Studienseminar Hildesheim für das Lehramt an Gymnasien angehende Geschichtslehrer/innen aus. Er hat wissenschaftliche und didaktische Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, zur Weimarer Republik, zum Nationalsozialismus und zur deutschen Nachkriegsgeschichte sowie zur Geschichtsdidaktik veröffentlicht. Kontakt: [email protected] (mailto:[email protected])

Die parlamentarische Demokratie und die Weimarer Verfassung bringen die Nachkriegsgesellschaft nicht endgültig zur Ruhe. Besonders die harten Bedingungen des Friedensvertrags von Versailles führen zu Aufständen rechter und linker Kräfte. Höhepunkte der krisenhaften Entwicklung ist die Ruhrbesetzung.

Einleitung

Noch vor der Verabschiedung der Verfassung musste sich die Nationalversammlung mit dem Friedensvertrag befassen. Am 7. Mai 1919 erhielt die vom parteilosen Außenminister Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau geleitete deutsche Delegation den Entwurf, den die seit dem 18. Januar in Paris tagende Konferenz der Siegermächte – ohne Beteiligung der Besiegten – erarbeitet hatte. Er war letztlich das Werk der "Großen Drei": des US-Präsidenten Woodrow Wilson, des britischen Premierministers Lloyd George und des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau.

Der Friedensvertrag von Versailles

Die vorgesehenen Gebietsverluste, Souveränitätsbeschränkungen, Reparationen und vor allem die Zuweisung der Alleinschuld am Krieg lösten in ganz Deutschland, quer durch alle politischen Lager und sozialen Schichten, einen Entrüstungssturm aus. Fast alle deutschen Änderungswünsche (bis auf eine Abstimmung in Oberschlesien über die nationale bzw. staatliche Zugehörigkeit) wiesen die Alliierten ab. Daraufhin trat das Kabinett Scheidemann am 20. Juni zurück; die DDP schied vorläufig aus der Koalition aus (bis zum 3. Oktober 1919). Neuer Reichskanzler wurde Gustav Bauer (MSPD).

Am 23. Juni rief Reichspräsident Ebert bei der OHL in Kolberg an, um sich nach den Chancen eines militärischen Widerstandes zu erkundigen. Hindenburg überließ es Groener, Ebert mitzuteilen: "Die Wiederaufnahme des Kampfes ist [...] aussichtslos. Der Friede muss daher unter den vom Feinde gestellten Bedingungen abgeschlossen werden."

Da es keine verantwortbare Alternative gab, beschloss die Nationalversammlung am Nachmittag des 23. Juni 1919 mit großer Mehrheit die Annahme des Friedensvertrages, gegen die Stimmen von DNVP, DVP, der Mehrheit der DDP-Fraktion und einiger Zentrumsabgeordneter. Die Unterzeichnung fand am 28. Juni 1919 im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles statt – dem Ort, den die deutschen Fürsten 1871 gewählt hatten, um Wilhelm I. zum Kaiser auszurufen und gleichzeitig Frankreich zu demütigen. Der Vertrag von Versailles trat nach der Ratifizierung durch die Unterzeichnerstaaten am 10. Januar 1920 in Kraft.

Bestandteil des Vertrages war die Satzung des vor allem auf Betreiben Wilsons am 29. April 1919 in

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Versailles gegründeten Völkerbundes, dem Deutschland vorläufig nicht angehören durfte. Der US- Kongress verweigerte jedoch im November 1919 seine Zustimmung, weil er künftige Verwicklungen der USA in europäische Konflikte vermeiden wollte. Dadurch war der Völkerbund von vornherein geschwächt. Ein deutsch-amerikanischer Friedensschluss erfolgte am 25. August 1921.

Der Versailler Vertrag nahm Deutschland nicht nur sämtliche Kolonien, sondern auch 13 Prozent seines Territoriums und zehn Prozent seiner Bevölkerung, damit verbunden 50 Prozent der Eisenerzversorgung, 25 Prozent der Steinkohleförderung, 17 Prozent der Kartoffel- und 13 Prozent der Weizenernte. Der Großteil dieser Gebiete fiel an den nach 123-jähriger Teilung wieder gegründeten Staat Polen, den die Alliierten auch als Bollwerk gegen den russischen Bolschewismus betrachteten. Die neue Grenzziehung im Osten führte wegen der dortigen gemischtnationalen Siedlungsweise unvermeidlich zu neuen Minderheitsproblemen. Wo bisher Polen unter preußisch-deutscher Herrschaft lebten und nationalistische Diskriminierungen erdulden mussten, kehrten sich diese Verhältnisse jetzt um.

Im März 1918 hatte Deutschland dem Russischen Reich im "Diktatfrieden" von Brest-Litowsk annähernd ein Viertel seines europäischen Territoriums – das freilich von nach Unabhängigkeit strebenden Völkern bewohnt war – und damit ein Viertel seiner landwirtschaftlichen Nutzfläche sowie drei Viertel seiner Schwerindustrie und Kohleproduktion entzogen. Nun wurde es selbst in Versailles ähnlich hart behandelt. Gleichwohl blieb sein nationalstaatliches Gefüge weitgehend erhalten; auch eine Rückkehr in den Kreis der Großmächte war keineswegs ausgeschlossen.

Bestimmungen des Versailler Vertrages

Gebietsabtretungen

Elsass-Lothringen an Frankreich (ohne Abstimmung)

Saargebiet für 15 Jahre unter Völkerbundkontrolle, Kohlegruben an Frankreich, deutsches Rückkaufrecht (1935 Abstimmung)

Eupen und Malmedy an Belgien (nach umstrittener Abstimmung)

Nordschleswig an Dänemark (nach umstrittener Abstimmung)

Posen und Westpreußen ("Korridor") an Polen (ohne Abstimmung)

Südliche Teile Ostpreußens an Polen (dazu kam es nicht, weil bei der Abstimmung über 90 Prozent den Verbleib bei Deutschland wünschten)

Danzig mit Weichselmündung "Freie Stadt" unter Kontrolle des Völkerbundes, mit Sonderrechten für die polnische Minderheit

Memelgebiet 1923 an Litauen (ohne Abstimmung)

Ostoberschlesien an Polen (trotz Abstimmung in Oberschlesien, bei der 60 Prozent den Verbleib bei Deutschland wünschten)

Hultschiner Ländchen an die Tschechoslowakei (ohne Abstimmung)

Deutsche Kolonien als Mandatsgebiete an verschiedene alliierte Staaten

Souveränitätsbeschränkungen

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Auslieferung des Kaisers als Kriegsverbrecher (von den Niederlanden abgelehnt)

Verbot der Vereinigung mit Deutsch-Österreich

Eingeschränkte Lufthoheit

Internationalisierung der Flüsse Rhein, Donau, Elbe, Oder und Memel

Verbot der allgemeinen Wehrpflicht, Beschränkung des Heeres auf 100000 Mann und der Marine auf 15000 Mann

Verbot aller schweren Waffen (Kanonen, Panzer, Kampfflugzeuge, U-Boote, Großkampfschiffe)

Kontrolle durch eine alliierte Kommission

Besetzung des linken Rheinufers und rechtsrheinischer Brückenköpfe auf 15 Jahre, 50 km breite entmilitarisierte Zone rechts des Rheins

Reparationen

Als völkerrechtliche Grundlage aller Forderungen dient der Artikel 231 ("Kriegsschuldparagraph"):

"Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben."

Gefordert werden: umfangreiche Sachlieferungen

Ablieferung aller Handelsschiffe über 1600 Tonnen

Zahlungen in Goldmark (GM) in erst noch zu berechnender Höhe

Der Versailler Vertrag (Abriss)

Dennoch gelangte die deutsche Öffentlichkeit bei der Auseinandersetzung mit dem Vertrag von Versailles über eine leidenschaftliche Verdammung nicht hinaus. Zu groß war die Enttäuschung darüber, dass das von Wilson proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker zwar auf andere Nationen, aber kaum auf Deutschland angewandt wurde.

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 81 Finanzpolitik und Wirtschaftsentwicklung

Im Sommer 1919 waren die Umstellung der Kriegs- auf Friedenswirtschaft und die Wiedereingliederung der Kriegsteilnehmer in den Arbeitsprozess noch nicht abgeschlossen; hinzu kamen Flüchtlinge und Ausgewiesene aus den abgetrennten Ostgebieten. Die Binnenwirtschaftsbeziehungen zu diesen Territorien wurden gekappt. Der Staat war mit 153 Milliarden Mark verschuldet, seine Finanzmittel äußerst knapp. Die Reparationen – vorab bis zum 1. Mai 1921 Leistungen im Werte von 20 Milliarden Goldmark (eine inflationssichere Verrechnungseinheit; 1 GM entsprach dem Wert von rund 0,36 Gramm Feingold) – bedeuteten eine schwere Belastung. Da das Kaiserreich den Krieg von 1914 bis 1918 nicht nur mit Krediten finanziert hatte, sondern – bei rückläufigem Warenangebot – auch durch eine Vervierfachung der umlaufenden Bargeldmenge und des Giralgeldes (Buchgeld für den bargeldlosen Zahlungsverkehr), war eine erhebliche Nachkriegsinflation die Folge.

Für die Lösung dieser Probleme sowie den Aufbau des neuen Staates und seiner Sozialpolitik benötigte die Republik enorme finanzielle Mittel. Reichsfinanzminister Erzberger reformierte daher 1919/20 die Finanzverwaltung und das Steuersystem. 39 Prozent des gesamten Steueraufkommens erhielt künftig das Reich, 23 Prozent die Länder, 38 Prozent die Gemeinden. Die neu eingeführte Erbschaftssteuer sowie mehrere einmalige Abgaben für Vermögende sollten für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen.

Trotz der schwierigen Ausgangslage nahm die wirtschaftliche Entwicklung bis 1922 einen relativ günstigen Verlauf. Es kam zu einem Aufschwung der Friedensproduktion bei annähernder Vollbeschäftigung. Durch die – vorläufig beherrschbare – Inflation und niedrige Löhne konnte die Industrie kostengünstig produzieren und sich auf dem internationalen Markt Wettbewerbsvorteile verschaffen. Ging die Industrieproduktion 1920/21 weltweit um 15 Prozent zurück, was damals als starker Einbruch galt, so stieg sie in Deutschland um 20 Prozent an. Freilich erreichte sie 1921 erst wieder 66 Prozent des Vorkriegsniveaus. Die Arbeitslosigkeit fiel bis 1922 unter zwei Prozent, während sie im Ausland durchweg im zweistelligen Bereich lag.

Dolchstoßlüge

Am 18. November 1919 verlas Hindenburg – seit Juni im Ruhestand – vor dem Ausschuss der Nationalversammlung für die Schuldfragen des Weltkriegs eine Aussage über die "Ursachen des deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918", die in der Öffentlichkeit ungeheures Aufsehen erregte. Trotz der Überlegenheit des Feindes, so behauptete er, wäre der Krieg gewonnen worden, wenn "Heer und Heimat" zusammengestanden hätten. Stattdessen habe eine "heimliche planmäßige Zersetzung von Flotte und Heer" eingesetzt. "So mussten unsere Operationen misslingen, es musste der Zusammenbruch kommen; die Revolution bildete nur den Schlussstein. Ein englischer General sagte mit Recht: "Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden."

Damit machte sich Hindenburg – unter fälschlicher Berufung auf einen ungenannten englischen General – zum prominentesten Vertreter der sogenannten Dolchstoßlegende, treffender: Dolchstoßlüge. Denn niemand wusste besser als die kaiserlichen Generäle, dass unter ihrer Führung der Krieg bereits militärisch verloren war, bevor die Auflösungserscheinungen an der Westfront begannen; dass diese auf permanente Überforderung der Soldaten zurückzuführen waren; dass die OHL selbst ein sofortiges und deshalb kapitulationsähnliches Waffenstillstandsgesuch verlangt hatte; und dass die Revolution erst ausgebrochen war, nachdem sich der jahrelang propagierte "Siegfrieden " als bloße Illusion herausgestellt hatte.

Die republikanischen Parteien unterschätzten die politische Sprengkraft der Dolchstoßlüge. Sie unterließen es, die deutsche Öffentlichkeit ständig darüber aufzuklären, dass das Kaiserreich den Weltkrieg maßgeblich mitverschuldet hatte und allein das Regime Wilhelms II. für Kriegsniederlage und Friedensbedingungen verantwortlich war.

Dieses Versäumnis hatte fatale Folgen: Vor dem Hintergrund des als hart und demütigend empfundenen Versailler Vertrages, und während die regierungsoffizielle Propaganda aus Gründen der

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Staatsräson jede Kriegsschuld bestritt, wurde von prominenten kaiserlichen Militärs und Politikern, mit Unterstützung konservativer und rechtsradikaler Zeitungen, die Dolchstoßlüge unermüdlich verbreitet. Sie traf in breiten nationalbewussten Bevölkerungskreisen, die sich mit der Sinnlosigkeit ihrer Entbehrungen und Opfer im Krieg nicht abfinden mochten, auf Zustimmung. Dadurch wirkte sie ihrerseits wie ein Dolchstoß in den Rücken der Republik.

Radikalisierung

Rechtsradikalismus

Im Zuge des Kriegsendes und der Revolution von 1918/19 entstand ein rechtsradikales Lager, das sich aus zahlreichen konkurrierenden Parteien und Organisationen zusammensetzte. Die ideologischen Grenzen zwischen diesem offenen Rechtsradikalismus und dem besonders manifesten Natio-nalkonservatismus am rechten Rand der DNVP waren oft fließend.

Die Frühjahrsunruhen 1919 veranlassten überall in Deutschland Mittelständler und Bauern zur Bildung lokaler antirevolutionärer Selbstschutzverbände. Der Schwerpunkt dieser milizartigen bewaffneten " Einwohnerwehren" lag in Bayern, wo sie mehr als 350.000 Mitglieder hatten und zum Teil auch überregional organisiert waren.

Den besonders militanten, extremen Flügel des Rechtsradikalismus bildeten diverse "deutschvölkische " Geheimbünde, Gruppen, Kampfverbände und Parteien. Deren Mitgliederschaft bestand hauptsächlich aus entlassenen Soldaten und Freikorpsleuten, die der Krieg sozial entwurzelt und moralisch verwildert hatte. Zum vorläufigen Kristallisationskern entwickelte sich rasch – vor allem in Bayern – der "Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund" mit über 100.000 Mitgliedern. Aber auch die " Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei" (NSDAP) unter ihrem rednerisch begabten Vorsitzenden Adolf Hitler, einem österreichischen Gelegenheitsarbeiter und dekorierten Frontsoldaten, erregte bald über München hinaus Aufmerksamkeit. Ende 1920 besaß sie bereits eine eigene Zeitung, den "Völkischen Beobachter", seit August 1921 auch einen eigenen Kampfverband, die " Sturmabteilung" (SA). Ende 1922 hatte die NSDAP etwa 10.000 Mitglieder.

Aus der Sicht der deutschvölkischen Szene galt es KPD, USPD, MSPD, Gewerkschaften und bürgerliche Demokraten mit allen Mitteln zu bekämpfen, da ihnen die Schuld an allen gesellschaftlichen Übeln zugeschoben wurde. Der Krieg sei das Werk einer "jüdischen Weltverschwörung" gewesen, Waffenstillstand und Friedensvertrag die Folge des "Dolchstoßes" und der Revolution. Die parlamentarische Demokratie hielten die Deutschvölkischen für etwas "Undeutsches", von den Siegern Aufgezwungenes. Die Weimarer Republik hieß bei ihnen nur verächtlich "das System", ihre Repräsentanten beschimpften sie als "Novemberverbrecher". Sie erstrebten einen starken Staat, den sich nur wenige noch als Monarchie, die meisten dagegen als "Führerstaat" nach dem Vorbild des italienischen Faschismus unter Benito Mussolini vorstellten.

Antisemitismus

Der für die deutschvölkische Szene besonders charakteristische Judenhass (so wollte die NSDAP schon seit 1920 die Juden ausbürgern) wurzelte in Deutschland – wie in anderen europäischen Ländern auch – im jahrhundertealten christlichen Antijudaismus. Dieser hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Antisemitismus entwickelt. In ihm verbanden sich politische Bestrebungen, die Emanzipation der Juden (1869/71) rückgängig zu machen, und rückwärts gewandte Kritik an der industriellen Moderne, für die wirtschaftlich erfolgreiche Juden sinnbildlich standen, mit international verbreiteten pseudowissenschaftlichen Rassenlehren, in denen insbesondere die Juden zu einer minderwertigen Rasse mit ausschließlich negativen Eigenschaften erklärt wurden. Der europäische Antisemitismus steigerte sich bis zu der absurden Behauptung einer jüdischen Verschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft; den Beweis dafür sollten die 1919 (nicht nur) in deutscher Sprache gedruckten "Protokolle der Weisen von Zion" liefern. Dabei handelt es sich zweifelsfrei um eine

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 83 antisemitische Fälschung, die gleichwohl in der deutschvölkischen Szene weite Verbreitung fand; selbst heute noch wird ihr von Antisemiten Glauben geschenkt.

Linksradikalismus

Bei der politischen Linken trieb die Enttäuschung über die stecken gebliebene Revolution die Radikalisierung voran. Unter der Dominanz ihres linken Flügels näherte sich die USPD der KPD an: Im Dezember 1919 propagierte auch sie die "Diktatur des Proletariats" und beharrte auf dem Rätesystem als Form der "Organisation der sozialistischen Gesellschaft". Durch diese Fundamentalopposition gegen die Weimarer Republik blieb die Kluft zwischen USPD und MSPD unüberbrückbar.

1920 drängte der linke Flügel der USPD auf den Beitritt zur "Kommunistischen Internationale " (Komintern), dem von der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gesteuerten Dachverband der internationalen kommunistischen Parteien. Dadurch wurde eine Spaltung unvermeidlich. Im Dezember 1920 vereinigte sich die USPD-Linke mit der KPD, deren Mitgliederzahl dadurch sprunghaft anstieg. Im September 1922 schloss sich die Rumpf-USPD der MSPD an; die vereinigte Partei nannte sich ab 1924 wieder SPD. Künftig war das linke Lager durch den Gegensatz zwischen revolutionärer KPD und reformorientierter SPD geprägt.

Aufstände und Putschversuche

Im Frühjahr 1920 musste die Weimarer Republik ihre erste große Existenzkrise überstehen, die durch einen Rechtsputsch ausgelöst wurde, der einen Linksputsch nach sich zog.

Nach den Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrages sollten bis zum 31. März – nach einer Fristverlängerung bis zum Jahresende – das Heer auf 100.000, die Marine auf 15.000 Mann verkleinert werden. Rund 300.000 Reichswehrangehörige und Freikorpsleute standen vor der Entlassung. Die meisten klammerten sich an das Militär, das ihnen Halt gab. Zu den ersten Freikorps, deren Auflösung Reichswehrminister Noske am 29. Februar verfügte, gehörte die in Döberitz stationierte, 6.000 Mann starke, von dem Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt geführte Marinebrigade II. Am 12. März marschierte sie spätabends nach Berlin, um die Regierung zu stürzen.

Kapp-Lüttwitz-Putsch

Hinter diesem Putschversuch steckte die Verschwörergruppe "Nationale Vereinigung", die eine Militärdiktatur anstrebte, um den Versailler Vertrag auszuhebeln. Zu ihr zählten Ludendorff, General Walther von Lüttwitz, dem die mitteldeutschen und ostelbischen Reichswehrverbände sowie die meisten Freikorps unterstanden, Hauptmann Waldemar Pabst, der die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts zu verantworten hatte, Traugott von Jagow, der letzte kaiserliche Polizeipräsident von Berlin, und Wolfgang Kapp, ostpreußischer Generallandschaftsdirektor und Mitglied der DNVP.

Noske beriet sofort mit der Reichswehrführung über Gegenmaßnahmen. Doch nur der Chef der Heeresleitung, General Walther Reinhardt, forderte einen Truppeneinsatz gegen die Putschisten. Die übrigen Generäle, die der Republik fernstanden, rieten davon ab – im Raum Berlin stünden nicht genügend Soldaten zur Verfügung, und "Reichswehrtruppen (würden) niemals auf andere Reichswehrtruppen schießen", wie General Hans von Seeckt äußerte.

Der Regierung blieb nur die Flucht nach Stuttgart. Inzwischen besetzte die Brigade Ehrhardt, unterstützt von einem Reichswehrbataillon, das Berliner Regierungsviertel. Kapp rief sich selbst zum Reichskanzler aus und ernannte von Lüttwitz zum Oberbefehlshaber der Reichswehr.

Gerettet wurde die Republik durch einen Generalstreikaufruf aus der Reichskanzlei, der von den Gewerkschaften und der SPD sofort befolgt wurde. Die KPD, der die Weimarer Republik als "Noske-

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Demokratie" verhasst war, schloss sich nur zögerlich an. Vielerorts kam es zu bewaffneten Kämpfen mit Kapp-Lüttwitz-Anhängern.

Zum Glück für die Republik war der Putsch schlecht vorbereitet. Wirklichen Rückhalt besaß er nur bei den Großagrariern, Offizieren und Landräten östlich der Elbe. Am 17. März 1920 brach die Aktion landesweit zusammen. Lüttwitz floh nach Ungarn, Kapp nach Schweden, Ehrhardt tauchte in Bayern unter.

Tags darauf forderten die Arbeitnehmervertretungen – der "Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund " (ADGB), die ihm angeschlossene "Arbeitsgemeinschaft für Angestellte" (AfA-Bund) und der vor allem die untere Beamtenschaft vertretende "Deutsche Beamtenbund" (DBB) – die Bildung einer MSPD- USPD-Regierung unter einem Reichskanzler Carl Legien. Diese sollte endlich durch strukturelle Reformen die Demokratie wirkungsvoll schützen, u. a. durch Entlassung illoyaler Staatsdiener und durch Sozialisierungen. Doch im Reichstag war nur eine neue Weimarer Koalitionsregierung unter Hermann Müller (MSPD) durchsetzbar. Weil Noske, dessen Politik der Härte gegenüber dem Links- und Rechtsradikalismus an den Generälen gescheitert war, von Otto Geßler (DDP) abgelöst wurde, trat der republiktreue General Reinhardt zurück. Neuer Chef der Heeresleitung wurde ausgerechnet der zwar fähige, aber politisch unzuverlässige General von Seeckt. Unter seiner Amtsführung entwickelte sich die Reichswehr in den folgenden Jahren erst recht zu einer Art "Staat im Staate".

Aufstand der "Roten Ruhrarmee"

Noch während des Kapp-Lüttwitz-Putsches übernahmen in den größeren Orten des Ruhrgebietes spontan entstandene lokale "Vollzugsräte" der USPD und der KPD die politische Macht. Sie organisierten bewaffnete Arbeiterwehren, denen es in erbitterten Kämpfen gelang, die einmarschierenden aufständischen Freikorps zum Rückzug zu zwingen. Ein Teil dieser Arbeiterwehren formierte sich zu einer etwa 50.000 Mann starken revolutionären "Roten Ruhrarmee", die bis Ende März das gesamte Ruhrgebiet unter ihre Kontrolle brachte.

Unterstützung erhielt sie durch den Streik von mehr als 300.000 Bergarbeitern (rund 75 Prozent der Belegschaften). Der linksradikale Widerstand gegen den Kapp-Lüttwitz-Putsch verwandelte sich in einen Kampf für die Wiederbelebung und Vollendung der sozialen Revolution und des Rätesystems. Diese "Märzrevolution" war die größte bewaffnete Arbeiteraktion, die es in Deutschland je gab. Sie nährte, wie schon die Münchner Räterepublik, die Angst des Bürgertums vor dem Bolschewismus, zumal es, weil eine einheitliche, anerkannte Führung fehlte, örtlich immer wieder zu Ausschreitungen gegen tatsächliche oder vermeintliche Kapp-Lüttwitz-Anhänger kam.

Die Reichsregierung versuchte vergeblich, durch die Zusage politischer Reformen und einer Amnestie die Selbstauflösung der Roten Ruhrarmee zu erreichen. Schließlich erhielten Reichswehrtruppen und Freikorps (darunter auch ehemalige Kapp-Lüttwitz-Putschisten) freie Hand, die Rote Ruhrarmee mit allen Mitteln (auch mit standrechtlichen Erschießungen) zu bekämpfen. Diesmal ließ sich die Reichswehr bereitwillig einsetzen, ging es doch gegen "Bolschewisten", nicht gegen "Kameraden". Am Ende der Kämpfe hatten die Aufständischen weit mehr als 1000 Tote zu beklagen, Reichswehr und Freikorps etwa 250.

Reichstagswahlen 1920

Der Putschversuch von rechts und der Revolutionsversuch von links veranlassten die regierende Weimarer Koalition dazu, vorzeitig den ersten republikanischen Reichstag wählen und an die Stelle der Nationalversammlung treten zu lassen. Nach einer Wahlrechtsänderung entfiel jetzt auf 60.000 Stimmen ein Mandat. Die Wahlen vom 6. Juni 1920 endeten für MSPD, DDP und Zentrum mit einem Desaster: Zusammen rutschten sie unter die 50-Prozent-Marke. Dieses Bündnis zwischen sozialdemokratischer Arbeiterschaft, liberalem Bürgertum und politischem Katholizismus vermochte nie wieder eine Mehrheit zu erringen. Dagegen erzielten einerseits die USPD, andererseits DVP und

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DNVP beträchtliche Gewinne. Die starken Einbußen der Weimarer Koalition erklären sich aus der seit Sommer 1919 anhaltenden politischen Polarisierung, die – je nach Standort der Wähler – mit der Enttäuschung über die stecken gebliebene Revolution und ihre gescheiterte Fortsetzung oder mit der Empörung über den Versailler Vertrag und der Anziehungskraft der Dolchstoßlüge zusammenhing.

Tief enttäuscht wechselte die MSPD in die Opposition. Zentrum, DDP und DVP bildeten eine bürgerliche Minderheitsregierung unter Reichskanzler Konstantin Fehrenbach (Zentrum). Reformen stand die neue Regierung fern. Die Freikorps wurden jetzt aufgelöst, auf Druck der Alliierten auch die Einwohnerwehren (in Bayern im Sommer 1921). Viele ihrer Mitglieder wandten sich den deutschvölkischen Organisationen zu, darunter der NSDAP und der SA.

Zumindest in Preußen – hier regierte noch eine Weimarer Koalition – machte man jetzt ernst mit der Demokratisierung des öffentlichen Dienstes und entfernte in den folgenden Jahren viele republikfeindliche Beamte aus ihren Positionen. Preußen, das über 60 Prozent der Fläche und der Bevölkerung der Weimarer Republik umfasste, galt Republikanern bald als "Bollwerk der Demokratie ", Rechtsstehenden als "rote Festung". Demgegenüber entwickelte sich Bayern, der zweitgrößte Flächenstaat, in die entgegengesetzteRichtung. Die MSPD wurde schon während des Kapp-Lüttwitz- Putsches in die Opposition gedrängt; es etablierten sich rechtskonservative Regierungen, stets unter Beteiligung der BVP. Bayern erwarb sich – je nach politischer Perspektive – den Ruf einer " Ordnungszelle" bzw. eines "Hortes der Reaktion".

Politische Justiz

Um den politischen Frieden wiederherzustellen, verabschiedete der Reichstag am 2. August 1920 ein großzügiges Amnestiegesetz. Die Straftaten der am Kapp-Lüttwitz-Putsch oder am Aufstand im Ruhrgebiet Beteiligten sollten nur geahndet werden, wenn sie aus "Rohheit" oder "Eigennutz " begangen wurden. Lediglich die "Urheber" und "Führer" des Kapp-Lüttwitz-Putsches wollte man zur Rechenschaft ziehen.

Reichswehr- und Freikorpssoldaten unterstanden der Militärgerichtsbarkeit. Von 775 Verfahren wurden 486 eingestellt. 48 Offiziere wurden ihres Dienstes enthoben, sechs nahmen ihren Abschied, die übrigen erhielten geringfügige Disziplinarstrafen. Noch milder verfuhren die zivilen Gerichte. In 705 Verfahren kam es nur zu einer Verurteilung; die anderen Verfahren wurden aus vielerlei Gründen eingestellt. Selbst hochgestellten Persönlichkeiten billigte man zu, keine "Urheber" oder "Führer " gewesen zu sein, und amnestierte sie.

Demgegenüber verhängte die Justiz gegen die Mitglieder der "Roten Ruhrarmee" zahlreiche zum Teil hohe Haftstrafen. Dies war kein Zufall: Die vom Kaiserreich übernommene zivile und militärische Richterschaft neigte dazu, ihre Unabhängigkeit für politisch motivierte Urteile zu missbrauchen. Wie schon die Berechnungen des Statistikers Emil Julius Gumbel 1923 zeigten, kamen vor Gericht bei denselben Delikten rechte politische Straftäter im Durchschnitt mit viel geringeren Strafen davon als linke.

Terrorismus

In den ersten Jahren der Republik wurden auf zahlreiche prominente Kommunisten, Sozialdemokraten, liberale und katholische Demokraten politisch, zum Teil auch antisemitisch motivierte Mordanschläge verübt. Die Täter waren fast ausnahmslos ehemalige oder aktive junge Reichswehroffiziere bzw. Freikorpsleute und gehörten in der Regel zur deutschvölkischen Szene. Soweit sie gefasst werden konnten, kamen sie meist mit verhältnismäßig milden Strafen davon. Spätestens 1933 wurden sie vom NS-Regime amnestiert.

Zu den bekanntesten Todesopfern zählen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht (KPD-Führer, Januar 1919); Kurt Eisner (bayerischer USPD-Ministerpräsident, Februar 1919); Matthias Erzberger (Zentrum,

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Unterzeichner des Waffenstillstandes, früherer Reichsfinanzminister, August 1921); und Walther Rathenau (DDP, Außenminister, Juni 1922). Rathenaus Ermordung löste reichsweit Protestdemonstrationen aus.

Diese Attentatsserie war die extremste Folge der politischen Polarisierung. In der deutschvölkischen Szene und am rechten Rand der DNVP sowie der dazugehörigen Presse war ein Hass- und Gewaltklima entstanden, in dem die physische Vernichtung politischer Gegner sozusagen als salonfähig galt.

Zumindest die Mordanschläge auf Erzberger und Rathenau waren erwiesenermaßen nicht das Werk einzelner Fanatiker, sondern einer terroristischen Vereinigung. Die Täter hatten in der Marinebrigade Ehrhardt gedient; jetzt gehörten sie der "Organisation Consul" (O. C.) an. Dort erhielten sie ihre Befehle von ihrem alten und neuen Kommandeur: Kapitän Ehrhardt, der getarnt in Bayern lebte, wo er ausgezeichnete Verbindungen besaß. Der Münchner Polizeipräsident Pöhner zum Beispiel, ein NSDAP-Sympathisant, versorgte ihn mit falschen Pässen. In der Münchner Zentrale der O. C., deren Netz sich über ganz Deutschland erstreckte, arbeiteten zeitweise bis zu dreißig hauptamtliche Mitarbeiter. Nach dem Scheitern des Kapp-Lüttwitz-Putsches verfolgte Ehrhardt den abenteuerlichen Plan, durch eine Attentatsserie die politische Linke zu einem großen Aufstand zu verleiten. Dessen Niederschlagung durch Reichswehr, Polizei und deutschvölkische Kampfverbände sollte dann zur Errichtung einer Rechtsdiktatur führen.

Als Reaktion auf die Mordanschläge verabschiedete der Reichstag am 21. Juli 1922 das " Republikschutzgesetz". Vereinigungen, die es unternahmen, Regierungsmitglieder zu töten oder die republikanische Staatsordnung zu beseitigen, wurden mit hohen Strafen bedroht. Zuständig war ein neuer (1926 wieder aufgelöster) "Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik", der jedoch nur wenig bewirkte. Im Oktober 1922 verurteilte er zwar 13 Personen wegen Beihilfe zur Ermordung Rathenaus zu Freiheitsstrafen, erklärte jedoch eine Verschwörung für unbewiesen. Im Januar 1923 verbot er den Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund; aber dessen Mitglieder verteilten sich einfach auf andere völkische Organisationen, darunter die NSDAP. Als Ende 1924 doch noch ein Prozess gegen Mitglieder der O. C. stattfand, wurden diese "ehrenhaften, wahrheitsliebenden und unerschrockenen Männer " (so der Oberreichsanwalt als Anklagevertreter) freigesprochen.

Der Mordfall Luxemburg/Liebknecht

[...] Die Revolution stirbt im Januar 1919: mit der Niederschlagung des sogenannten Spartakus- Aufstands. [...] Am 12. Januar sind die Kämpfe erloschen, befinden sich alle strategisch wichtigen Punkte in der Hand regierungstreuer Truppen. Am 13. Januar marschieren Freikorps in die Stadt. Die Rache beginnt.

Liebknecht und Luxemburg sind auf der Flucht und wechseln ständig das Quartier. Mit Glück erreichen sie am 14. Januar in Berlin-Wilmersdorf ihr letztes Asyl: Mannheimer Straße 43, die Wohnung des Kaufmanns Siegfried Marcusson, eines USPD-Mitglieds. Hier schreiben sie ihre letzten Artikel für die Rote Fahne. Karl Liebknecht verfasst sein loderndes "Trotz alledem!", das die Niederlage als nötige Lehre eingesteht. Die Zeit sei nicht reif gewesen zur Revolution. [...] Rosa Luxemburgs letzter Text, geschichtsreligiös aufgeladen, schließt: "Ihr stumpfen Schergen! Eure Ordnung ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon rasselnd wieder in die Höh´ richten und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!"

In den Abendstunden des 15. Januar 1919 dringt ein Trupp der neu gegründeten Wilmersdorfer Bürgerwehr in die Wohnung ein. Liebknecht und Luxemburg werden verhaftet. [...] [M]an [...] schafft die Inhaftierten ins Nobelhotel Eden, das Stabsquartier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division. Diese ursprünglich kaiserliche Elitetruppe untersteht dem Hauptmann Waldemar Pabst. Er befiehlt die Morde.

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[...] Liebknecht wird im Eden bespuckt, bepöbelt, mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen. Um 22.45 Uhr fährt ihn eine Marine-Eskadron unter Führung des Kapitänleutnants Horst von Pflugk-Hartung mit einem offenen NSU in den Tiergarten. Am Neuen See täuscht man eine Panne vor und lässt Liebknecht aussteigen. Pflugk-Hartung schießt ihm in den Hinterkopf, dann feuern die anderen. Die Mörder fahren zurück und liefern den Leichnam um 23.15 Uhr in der Rettungswache am Zoo als "unbekannten Toten " ab.

Rosa Luxemburg sitzt derweil bei Pabst in dessen "Arbeitszimmer" und näht ihren beim Abtransport beschädigten Rocksaum. Sie liest in Goethes Faust, als der von Pabst zum Transportführer bestimmte Oberleutnant a. D. Kurt Vogel sie abholt und durch die Hotelhalle zum Ausgang führt. Der Jäger Otto Wilhelm Runge, der schon Liebknecht geschlagen hat, rammt auch ihr seinen Gewehrkolben ins Gesicht. Stark blutend, wird sie ins Auto geworfen. Nach kurzer Fahrt springt der Leutnant zur See Hermann Souchon aufs linke Trittbrett des offenen Phaeton und tötet Rosa Luxemburg durch einen Schuss in den Kopf.

Pabst hat geplant, den Mord als spontanen Übergriff empörter Volksmassen auszugeben. Vogel handelt weisungswidrig. Der Wagen fährt zum Landwehrkanal. An der Lichtensteinbrücke wirft Vogel die Leiche ins Wasser. Die "amtliche Darstellung" der Garde-Kavallerie- Schützen-Division behauptet, eine zweite erregte Menschenmenge habe Frau Luxemburg der Begleitmannschaft entrissen.

Ein riesiger Trauerzug geleitet am 25. Januar die Särge Liebknechts und Dutzender weiterer Opfer vom Bülow-, dem heutigen Rosa-Luxemburg-Platz, zum Friedhof nach Friedrichsfelde. Zwischenfälle bleiben aus. Die Absperrung untersteht dem Befehl des Hauptmanns Pabst. Einer der mitgeführten Särge ist leer. Erst viereinhalb Monate nach der Tat, am 31. Mai 1919, wird Rosa Luxemburgs stark verweste Leiche von dem Schleusenarbeiter Knepel in der Landwehrkanal- Schleuse zwischen Freiarchen- und S-Bahn- Brücke gefunden. [...]

Christoph Dieckmann, "Und ob wir dann noch leben werden...", in: Die Zeit Nr. 3 vom 10. Januar 2008

Reparationsprobleme

Nach langer Vorbereitung – ohne deutsche Beteiligung – entschieden die Alliierten am 29. Januar 1921 in Paris über die von Deutschland zu erbringenden Reparationen. Die deutsche Öffentlichkeit zeigte sich über das Ergebnis schockiert; die Regierung Fehrenbach erklärte die Forderungen für weder annehmbar noch erfüllbar. Denn ab 1. Mai 1921 sollten 226 Milliarden Goldmark (GM) gezahlt werden, verteilt auf 42 Jahre, in Jahresraten von anfangs zwei, später sechs Milliarden GM. Darüber hinaus waren im selben Zeitraum jährlich zwölf Prozent des Wertes der deutschen Ausfuhr (etwa 1-2 Milliarden GM) abzuführen. Frankreich sollte 52 Prozent, England 22 Prozent, Italien zehn Prozent und Belgien acht Prozent der Reparationen erhalten; die restlichen acht Prozent verteilten sich auf sonstige Kriegsgegner.

Die treibende Kraft hinter diesen harten Forderungen war der französische Vorsitzende der alliierten Reparationskommission, Raymond Poincaré. Mit Hilfe der deutschen Zahlungen wollte vor allem Frankreich seine Nachkriegskrise überwinden, Kriegsschulden bei amerikanischen Gläubigern (Banken) begleichen und Deutschland dauerhaft schwächen, um es kriegsunfähig zu machen. Damit verband sich auch die Idee einer territorialen Revision des Versailler Vertrages: Erfüllte Deutschland die hohen Forderungen nicht, konnten vertraglich festgelegte Sanktionen verhängt werden, nämlich die Besetzung von Teilen des Industriegebietes an Rhein und Ruhr durch alliierte bzw. französische Truppen. Darin sah Poincaré die Chance, Frankreichs Ostgrenze bis an den Rhein vorzuschieben und das Ruhrgebiet mit seiner Schwer- und Rüstungsindustrie zu kontrollieren.

Londoner Ultimatum

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Auf der folgenden Londoner Reparationskonferenz unterbreitete Deutschland am 1. März 1921 ein eigenes Angebot in Höhe von 50 Milliarden GM. Die Alliierten wiesen es jedoch zurück und beharrten auf der Annahme ihres Pariser Zahlungsplans. Am 8. März erhöhten sie den Druck auf die Reichsregierung durch die Besetzung der "Sanktionsstädte" Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort.

In Deutschland kam es zu einer wochenlangen Regierungskrise, die die KPD zu einem Umsturzversuch verführte. Ende März 1921 organisierte sie Arbeiteraufstände in Mitteldeutschland und in Hamburg, die jedoch von der Polizei niedergeschlagen wurden. Auch polnische Freiwilligenverbände hielten die Gelegenheit für günstig und rückten – mit Duldung der französischen Besatzungsmacht – am 2. Mai 1921 in Oberschlesien ein, das sich in einer Volksabstimmung am 20. März mit großer Mehrheit (60 Prozent) für den Verbleib bei Deutschland entschieden hatte. Sie wurden von deutschen Freiwilligen vertrieben. Dennoch musste Ostoberschlesien aufgrund eines Beschlusses des Völkerbundrates an Polen abgetreten werden, was in Deutschland neuerliche Verbitterung auslöste und dem Ansehen der Republik schadete.

Da die DVP die Übernahme der Reparationsverpflichtungen nicht mitverantworten wollte, trat die Regierung Fehrenbach am 4. Mai 1921 zurück. Am Tag darauf verlangten die Siegermächte die Annahme ihrer Forderungen, die sie aber inzwischen fast auf die Hälfte verringert hatten: 132 Milliarden GM, Jahreszahlungen für Zinsen und Tilgung in Höhe von etwa zwei Milliarden GM, ferner Abgabe von 26 Prozent des jährlichen Exportwertes – anderenfalls werde ab 12. Mai das Ruhrgebiet besetzt. Die am 10. Mai neu gebildete Weimarer (Minderheits-)Regierung unter Reichskanzler Joseph Wirth (Zentrum) sah sich gezwungen, dieses "Londoner Ultimatum" anzunehmen.

Die alliierten Reparationsbeschlüsse waren Wasser auf die Mühlen der konservativen und rechtsradikalen Gegner der Weimarer Republik; sie gaben der Dolchstoßlegende und der Kriegsunschuldspropaganda neue Nahrung. Aus der Sicht der Reichsregierung überforderten auch die Londoner Beschlüsse bei weitem die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und die Zahlungsfähigkeit des deutschen Staates. Daher rang die Regierung 1921/22 mit den Alliierten ständig um Zahlungsaufschübe und um die Umwandlung von Geldzahlungen in Sachlieferungen, damit Staatsverschuldung und Inflation nicht außer Kontrolle gerieten. Die französische Regierung argwöhnte hinter diesen Bemühungen, dass Deutschland seine Zahlungsverpflichtungen zu umgehen versuchte.

Deutsch-russisches Abkommen

Vom 10. April bis zum 19. Mai 1922 fand in Genua eine Weltwirtschaftskonferenz unter Beteiligung Deutschlands statt. Die USA und die Türkei blieben ihr fern, unter anderem, weil das bolschewistische Russland eingeladen war. Während die Konferenz ergebnislos endete, sorgten Deutschland und Russland für eine Überraschung. Am 16. April schlossen ihre Delegationen in Rapallo einen Vertrag über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, den gegenseitigen Verzicht auf die Erstattung von Kriegsschäden und Kriegskosten, den deutschen Verzicht auf Entschädigungen für sozialisiertes Eigentum in Russland und die Errichtung von Handelsbeziehungen nach dem Grundsatz der " Meistbegünstigung" (das heißt, die Vertragspartner wollten sich gegenseitig die vorteilhaftesten Handelsbedingungen einräumen, die sie bereits anderen Staaten gewährten).

Deutschland und die Sowjetunion überwanden in Rapallo ihre außenpolitische Isolation und erweiterten – ungeachtet ihrer ideologischen Gegensätze – ihre wirtschaftlichen Beziehungen. Sogar auf militärischem Gebiet kam es zu einer begrenzten (geheim gehaltenen) Zusammenarbeit: Beim Aufbau ihrer Rüstungsindustrie und bei der Entwicklung moderner schwerer Waffen (Panzer, Flugzeuge, Artillerie) konnte die Sowjetunion die Hilfe deutscher Experten in Anspruch nehmen. Im Gegenzug fuhren Reichswehroffiziere nach Russland zur Ausbildung an diesen Waffen, die Deutschland aufgrund des Versailler Vertrages weder besitzen noch herstellen durfte.

Die Reichsregierung versprach sich von der Verständigung mit Moskau auch eine Stärkung ihrer

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Verhandlungsposition gegenüber den Westmächten. Doch "Rapallo" verhärtete eher die Fronten, denn es stellte sich die Frage, ob das Abkommen eine allgemeine deutsche Option für den Osten und gegen den Westen bedeutete – und womöglich eine Gefährdung Polens. Tatsächlich löste Rapallo in der deutschen Rechten zum Teil abenteuerliche Spekulationen aus. General von Seeckt zielte in einer geheimen Denkschrift vom 11. September 1922 bereits auf die Wiederherstellung Deutschlands und Russlands "in den Grenzen von 1914", was eine neuerliche Aufteilung Polens bedeutet hätte. Mit Polen werde zugleich auch die "stärkste Säule des Versailler Vertrages" fallen: die "Vormachtstellung Frankreichs".

Ruhrbesetzung

"Nun geht das Krisenjahr zu Ende. Die inneren und äußeren Gefahren waren so groß, dass sie Deutschlands ganze Zukunft bedrohten", schrieb der britische Botschafter in Berlin, Viscount d'Abernon, am 31. Dezember 1923 in sein Tagebuch. Tatsächlich wurde die Republik in jenem Jahr heftiger denn je von einer ganzen Serie schwerer wirtschaftlicher und politischer Krisen geschüttelt.

Wegen der akuten wirtschaftlichen und finanziellen Probleme des Reiches (Verbrauch der Gold- und Devisenvorräte für die Reparationen, Staatsverschuldung, Währungsverfall) verzichteten die Alliierten im August 1922 vorläufig auf Geldleistungen. Zum Ausgleich verlangten sie eine Erhöhung der Sachlieferungen, unter anderem von Holz (Telegrafenstangen) und Kohle.

Als das Reich die Holz- und Kohlelieferungen bis Ende 1922 nicht erfüllen konnte, stellte die alliierte Reparationskommission mehrheitlich einen Verstoß gegen den Versailler Vertrag fest. Am 10. Januar wurde der Reichsregierung eine französisch-belgisch-italienische Ingenieurkommission angekündigt, die unter dem Schutz der dazu "erforderlichen Truppen" die Kohleproduktion kontrollieren werde. Tags darauf begann der Einmarsch von fünf französischen Divisionen und einer belgischen Division in Essen und . Die Besetzung wurde über Bochum und Dortmund nach Osten ausgedehnt; die Invasionstruppen erreichten im Laufe des Jahres eine Stärke von 100.000 Mann.

Ganz Deutschland wurde von einer nationalen Protestwelle erfasst. Sämtliche Reparationslieferungen wurden eingestellt und die Beamten angewiesen, jede Zusammenarbeit mit den Besatzern zu vermeiden. Reichspräsident Ebert rief am 13. Fe-bruar die Bevölkerung zum "passiven Widerstand " auf.

Die Invasionstruppen überwachten den Abtransport von Holz und Kohle, fanden aber bald kein mitarbeitsbereites Personal mehr. Daraufhin legten sie Zechen und Fabriken still, beschlagnahmten öffentliche Kassen und Firmenkassen und wiesen 180.000 Personen aus der Region aus. Von den Besatzern verursachte Gewaltakte und Unfälle forderten bis August 1924 137 Tote und 603 Verletzte.

Der volkswirtschaftliche Gesamtschaden der Ruhrbesetzung belief sich auf 3,5 bis vier Milliarden GM.

Entgegen den Appellen der Reichsregierung entwickelte sich auch ein aktiver Widerstand rechtsradikaler Sabotagetrupps. Diese sprengten einige Kanalbrücken und Gleise, um den Abtransport von Reparationsgütern zu verhindern; sie überfielen französische und belgische Posten und töteten mindestens acht Kollaborateure. Zur Märtyrerfigur des gesamten Widerstandes gegen die Ruhrbesetzung wurde der 29-jährige Albert Leo Schlageter, ehemaliger Freikorpssoldat, Mitglied der NSDAP und anderer deutschvölkischer Verbände. Nach mehreren Sabotageakten verurteilte ihn ein französisches Militärgericht zum Tode; trotz landesweiter und internationaler Proteste wurde er am 26. Mai 1923 hingerichtet.

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 90 Hyperinflation

Die durch Zinszahlung und Schuldentilgung bereits angespannte Haushaltslage des Reiches wurde durch die Produktions- und Steuerausfälle im Ruhrgebiet und durch die Unterstützung der Ausgesperrten und Ausgewiesenen dramatisch verschärft. Diese Kostenlawine versuchte die Regierung mit immer höheren Krediten der Reichsbank und durch immer häufigere Betätigung der Notenpresse zu bewältigen.

Aus der bereits galoppierenden Inflation wurde im Juni 1923 eine Hyperinflation. Das Giralgeld und das umlaufende Bargeld wuchsen je auf rund 500 Trillionen Mark an. Gemeinden und Großbetriebe gaben zusätzlich "Notgeld" in Höhe von 200 Trillionen Mark aus. Reichsbanknoten mit astronomischen Nennwerten zeugten vom Kaufkraftverfall der deutschen Währung; der Dollar-Kurs stieg steil an. Die Flucht in den Dollar, in Sachwerte und Immobilien beschleunigte sich. Den Preissteigerungen in immer kürzeren Abständen hinkten die Löhne hinterher. Schließlich traten Naturalien (beispielsweise Lebensmittel, Zigaretten, Kohle) als Zahlungsmittel an die Stelle des Bargeldes. Als der Einzelhandel seine Waren zu horten begann, kam es zu Hungerdemonstrationen und Plünderungen. Im Berliner Scheunenviertel, wo viele eingewanderte "Ostjuden" lebten, führte das Gerücht, die Brotversorgung werde von Juden manipuliert, am 5./6. November zu antisemitischen Ausschreitungen.

Gewinner der Inflation waren die Schuldner – vor allem viele Bauern, die sich von ihren Schulden aus der Vorkriegszeit befreiten, und der Staat, der seine Kriegsanleihen bei den Bürgern ablöste. Ferner profitierten Mieter und Pächter, besonders aber Exportunternehmer, die bei sinkenden Kosten für ihre Produkte im Ausland harte Dollars erhielten. Dem devisenstarken Großunternehmer und DVP- Reichstagsabgeordneten Hugo Stinnes war es schon 1920 bis 1922 gelungen, mit kreditfinanzierten Eigentumsanteilen an mehr als 1600 Betrieben die "Siemens-Rheinelbe-Schuckert-Union" zu gründen (nach seinem Tod 1924 löste sie sich wieder auf). Sein Geschäftspartner Friedrich Flick, ebenfalls DVP-Mitglied, erwarb durch geschickte Börsenspekulationen Industrieanteile im Werte von 100 Millionen GM.

Verlierer waren die Gläubiger, die für "gutes" verliehenes Geld jetzt wertloses zurückerhielten, ebenso die Bezieher fester Geldeinkommen (Arbeitnehmer, Rentner, Vermieter, Verpächter), mit denen man immer weniger kaufen konnte, und die Besitzer von Sparguthaben. Viele Menschen waren sowohl Gewinner als auch Verlierer – was überwog, zeigte erst ihre persönliche Bilanz.

Der Mittelstand erlebt die Inflation

Aus den Erinnerungen des Schriftstellers Rudolf Pörtner (geb. 1912)

Ich will nicht verschweigen, dass wir zunächst Nutznießer der fürchterlichen Geldvernichtung waren. Das Ehepaar Pörtner hatte sich 1922 kurzfristig entschlossen, ein im Entstehen begriffenes Haus in der Melberger Kronprinzenstraße, auf der Westseite von Bad Oeynhausen, zu kaufen. Kostenpunkt: 800000 Mark. Als wir am 1. April 1923 einzogen, war das ein Betrag, der selbst sensible Gemüter nicht mehr zu beunruhigen vermochte. Ein Griff in die Westentasche genügte, alle Verbindlichkeiten einschließlich der hypothekarischen Eintragungen aus der Welt zu schaffen.

Leider war das Haus erst halb fertig, als wir es übernahmen: halb fertig, miserabel gebaut, aus Altmaterialien zusammengeschustert. Inzwischen arbeiteten die Handwerker nur noch gegen Naturalien. Damit konnten wir natürlich nicht dienen, und dasGeld, das Vater ausbezahlt bekam, zuletzt zweimal täglich, reichte gerade für das nackte Leben. Noch im hohen Alter hat er häufig von dem defekten Ofenrohr in der Küche (also unserem Lebensraum) erzählt, aus dessen Löchern und Ritzen ein bronchien- und schleimhautfeindlicher Rauch quoll, ohne dass wir die Möglichkeit gehabt hätten, dem Übelstand abzuhelfen. Es gab ja keine Ofenknie und wenn, dann nicht für die lächerlichen Milliardenscheine, die acht Tage nach Erscheinen nicht einmal mehr das Papier wert waren, aus dem sie bestanden.

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 91

Was die Ablösung der homöopathisch ausgedünnten Währung durch die Rentenmark im November 1923 bedeutete, lässt sich heute nicht mehr ermessen. Es war, als wenn ein Ertrinkender, in einer Springflut von Papiergeld fast schon versunken, plötzlich Boden unter den Füßen verspürt hätte. Als mein Vater mit dem ersten wertbeständigen Zahlungsmittel heimkehrte, traten wir wie zur Besichtigung einer säkularen Kostbarkeit an, und es verschlug uns fast den Atem, als wir die erste Rentenmark zunächst beäugen, dann sogar wie eine wundertätige Reliquie in die Hand nehmen durften.

Die Stöße übrig gebliebenen Inflationsgeldes haben wir dann genutzt, die getünchten Wände unserer wenig einladenden Toilettenanlage zu tapezieren, unseren Lokus, mit Verlaub zu sagen, in ein Billionenkabinett zu verwandeln. Die Hauptattraktion war eine aus Millionenscheinen montierte Zahl mit sechsunddreißig Nullen, die in Worten auszudrücken uns nie gelungen ist. Wir hätten schon einen Astronomen zurate ziehen müssen.

Rudolf Pörtner (Hg.), Alltag in der Weimarer Republik. Erinnerungen an eine unruhige Zeit, Econ, Düsseldorf 1990, S. 360 f.

Aus den Erinnerungen des Buchautors Curt Riess (geb. 1902)

[...] Diejenigen aber, die alles verloren, waren in der großen Mehrheit. Was uns persönlich anging – mein Vater begriff erst, woran er war, als er feststellen musste, dass die Rechnung für 3,20 Meter Tuch, aus dem ein Anzug gemacht werden konnte, höher war als die Rechnung, die er einem Kunden für den Anzug ausstellen konnte. Von diesem Tag an fertigte er nur noch Anzüge gegen Dollar an. So blieb ihm sein Geschäft erhalten. Aber nicht jeder deutsche Kaufmann reagierte so schnell. Viele gingen zugrunde.

Und wie stand es um die so genannten kleinen Leute, die Gehaltsempfänger? Sie mussten am Ende des Monats feststellen, dass sie sich für den Lohn, den sie erhielten, so gut wie nichts mehr kaufen konnten. Um diesem Desaster abzuhelfen, wurde es zur Regel, dass Angestellte und Arbeiter nicht mehr monatlich bezahlt wurden, sondern wöchentlich, dann jeden dritten Tag, schließlich täglich. Dann sausten sie mit Erlaubnis der Geschäftsleitung oder auch der Betriebsleitung in die nahen Geschäfte und kauften ein. Und die Geschäftsinhaber brachten das eingenommene Geld so schnell wie möglich auf die Bank und kauften dafür, wenn irgend möglich, fremde Währungen, vor allem Dollar, Pfund oder Schweizer Franken.

Ich erinnere mich noch, wie grotesk die Zustände wurden, weil ich sie am eigenen Leib zu spüren bekam. Ich war krank geworden, und ich sollte zur Erholung in den "Weißen Hirsch", den damals noch feudalen Kurort oberhalb von Dresden. Mein Vater hatte mir für vierzehn Tage vierzehn Dollar mitgegeben, in Scheinen, die man in Mark umwechseln konnte. Er hatte mir eingeschärft, jeden Tag zu warten, bis der jeweils neue Dollarkurs verkündet wurde. Das war so um 15 Uhr.

Um 15 Uhr wechselte ich also einen Dollar und bekam dafür die entsprechende Marksumme und konnte die tägliche Pensionsrechnung bezahlen, auch die Straßenbahn nach Dresden, eine Karte für die Oper oder das Schauspielhaus und die Fahrt zurück. Und das alles für einen Dollar, wenn ich überhaupt den ganzen Dollar, will sagen die Unsummen an Mark, innerhalb von 24 Stunden ausgeben konnte.

[...] Natürlich erhöhte auch die Pension ihre Tagesrechnungen, die elektrische Straßenbahn ihre Gebühren, natürlich musste man auch für einen Platz im Opernhaus im Laufe von zwei Wochen mehr und mehr zahlen. Aber so schnell konnten die Behörden mit ihren Preisen gar nicht nachziehen, wie die Mark stürzte.

Freilich, ich war in einer bevorzugten Position. Wer konnte schon von Dollarscheinen leben?

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 92

Curt Riess, "Weltbühne Berlin" in: Rudolf Pörtner (Hg.), Alltag in der Weimarer Republik. Erinnerungen an eine unruhige Zeit, Econ, Düsseldorf 1990, S. 34 f.

Währungsreform

Die seit November 1922 amtierende DVP-Zentrum-DDP-Regierung unter dem parteilosen Reichskanzler Wilhelm Cuno musste erkennen, dass der Kampf gegen die Ruhrbesetzung in den wirtschaftlichen Ruin führte; am 12. August 1923 trat sie zurück. Gustav Stresemann (DVP) bildete ein Kabinett der "Großen Koalition" (SPD – DDP – Z – DVP), verkündete am 26. September das Ende des passiven Widerstandes und leitete eine Währungsreform ein. Die am 15. November übergangsweise eingeführte "Rentenmark" (1 Rentenmark = 1 Billion Papiermark [das heißt Inflationsgeld] bei 4,2 Rentenmark für den Dollar) wurde rasch als Zahlungs- und Wertaufbewahrungsmittel akzeptiert. Auch schuf sie die Voraussetzung für konstruktive Reparationsverhandlungen, die zum Dawes-Plan führten. Am 30. August 1924 erfolgte die Ablösung der Rentenmark durch die goldgedeckte, voll konvertierbare "Reichsmark".

Rechtsdiktatur in Bayern

Für einen politischen Schlag gegen die Weimarer Republik sorgte die rechtskonservative bayerische Staatsregierung unter Ministerpräsident Eugen Ritter von Knilling. Um in Bayern eine Diktatur zu errichten, berief sie sich am 26. September 1923 – ohne nachvollziehbare Voraussetzungen – auf Artikel 48 Abs. 4 WV, der auch einer Landesregierung Notstandsmaßnahmen erlaubte. Sie verhängte den Ausnahmezustand über Bayern, ernannte den Regierungspräsidenten von Oberbayern und früheren Ministerpräsidenten Gustav Ritter von Kahr zum "besonderen Generalstaatskommissar" und übertrug ihm die vollziehende Gewalt. Auf diesen offenkundigen Hochverrat reagierte Reichspräsident Ebert mit der Verhängung des Ausnahmezustandes über ganz Deutschland. Er übertrug die vollziehende Gewalt auf Reichswehrminister Geßler; de facto lag sie beim Chef der Heeresleitung, General von Seeckt.

Der mit diktatorischen Vollmachten ausgestattete Kahr bildete mit dem bayerischen Wehrkreiskommandeur, General Otto von Lossow, und dem Chef der bayerischen Landespolizei, Oberst Hans von Seißer, eine Art "Triumvirat" (Drei-Männer-Bündnis). In den folgenden Wochen wurde in Bayern unter anderem das Republikschutzgesetz außer Kraft gesetzt, linke Organisationen und Zeitungen verboten und mehrere hundert jüdische Familien, die vor Jahrzehnten aus Osteuropa eingewandert waren ("Ostjuden"), aus Bayern ausgewiesen. Das Triumvirat zielte auf eine reichsweite Diktatur mit Hilfe eines "Marsches auf Berlin" (nach dem Vorbild des "Marsches auf Rom" der italienischen Faschisten unter Benito Mussolini am 28. Oktober 1922); es hoffte dabei auf die Unterstützung des Chefs der Heeresleitung. Seeckt hegte zwar Sympathien für die neuen Münchner Machthaber und verhinderte eine Reichsexekution gegen das Land Bayern, getreu seiner Devise, Reichswehr schieße nicht auf Reichswehr. Mehr aber unternahm er nicht, sondern hielt sich geschickt im Hintergrund.

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 93 Kommunistische Umsturzversuche

Ende August 1923 beurteilte das Politbüro der KPdSU die krisenhafte Entwicklung in Deutschland als revolutionäre Situation und beschloss, eine "Oktoberrevolution" der KPD (nach dem Vorbild Russlands von 1917) mit allen Mitteln zu unterstützen. Es gab sogar Vorbereitungen für eine groß angelegte militärische Intervention. Denn im Falle einer deutschen Revolution mit sowjetischer Hilfe erwartete man einen Krieg zuerst mit dem Durchmarschland Polen, danach mit Frankreich, England und den baltischen Ländern. Nach einem Sieg der KPD würde das hoch industrialisierte "Sowjetdeutschland ", so kalkulierte man in Moskau, den wirtschaftlichen Aufbau der noch überwiegend agrarischen Sowjetunion unterstützen.

Im September begann die KPD mit der konkreten Vorbereitung revolutionärer Aktionen, die sie am 9. November, dem symbolträchtigen Jahrestag der Revolution von 1918/19, auslösen wollte. Moskau half mit Geld und Militärexperten bei der Aufstellung "Proletarischer Hundertschaften" (ca. 50.000-60.000 Mann, darunter auch Sozialdemokraten). Außerdem nutzte die KPD die Chance, durch den Eintritt in SPD-geführte Landesregierungen am 10. Oktober in Dresden, am 16. in Weimar in staatliche Machtpositionen zu gelangen. Von Sachsen und Thüringen sollte der "deutsche Oktober " seinen Ausgang nehmen. Die zum linken Flügel der SPD zählenden sächsischen und thüringischen Sozialdemokraten versprachen sich von einer Koalition mit den Kommunisten einerseits die Überwindung der Feindschaft zwischen den beiden Arbeiterparteien; andererseits wollten sie mit Hilfe der "Proletarischen Hundertschaften" den aus Bayern befürchteten "Marsch auf Berlin" stoppen. Die revolutionären Absichten der KPD nahmen sie nicht wahr.

Anders als in Bayern handelte es sich in Sachsen und Thüringen um legitime parlamentarische Mehrheitsregierungen. Jedoch verstießen die "Proletarischen Hundertschaften" gegen den Versailler Vertrag. Außerdem hielten Ebert und Stresemann Kommunisten in Staatsämtern für untragbar. Der Reichspräsident ordnete daher am 29. Oktober 1923 gegen Sachsen, am 6. November gegen Thüringen die Reichsexekution an. Reichswehrtruppen marschierten nach Dresden und Weimar; es gab mehrere Dutzend Tote und Verletzte. Die "Proletarischen Hundertschaften" wurden aufgelöst, die kommunistischen Minister entlassen (Sachsen), oder sie traten zurück (Thüringen).

Der "deutsche Oktober" war allerdings schon kurz vor den Reichsexekutionen wieder abgeblasen worden. Anders als bei früheren Aufständen scheute die KPD diesmal das Risiko, mit einer isoliert bleibenden Aktion zu scheitern. Daher versammelte sie am 21. Oktober in Chemnitz 450 Arbeiterdelegierte – Kommunisten, Gewerkschafter und einige Sozialdemokraten, hauptsächlich aus Sachsen und Thüringen. Die Konferenzteilnehmer lehnten revolutionäre Aktionen mehrheitlich ab. Trotzdem kam es noch zu einem Aufstand in Hamburg am 23. Oktober: Bewaffnete kommunistische Trupps – rund 300 Mann – überfielen wie geplant 17 Polizeistationen und besetzten öffentliche Gebäude. Die Hintergründe sind ungeklärt; entweder wollte die aktionistische Hamburger KPD-Leitung die vorsichtigere Parteiführung in Berlin doch noch zum Losschlagen zwingen, oder sie wurde von ihren Delegierten, die in Chemnitz erst nach der Konferenz eintrafen, irrtümlich falsch informiert. Die Polizei schlug den Aufstand binnen weniger Tage nieder; 24 Kommunisten und 17 Polizisten kamen bei den Kämpfen ums Leben.

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 94 Hitlerputsch

Im Laufe des Jahres 1923 konnte die NSDAP von der krisenhaften Entwicklung stark profitieren. Ihre Mitgliederzahl stieg sprunghaft auf 55000; sie hatte sich in Bayern zur aktivsten rechtsradikalen Kraft entwickelt. Die SA gehörte zum "Deutschen Kampfbund", einem Zusammenschluss der drei radikalsten (von Reichswehroffizieren ausgebildeten) Wehrverbände, der von Hitler und Ludendorff – inzwischen die Galionsfigur des deutschvölkischen Lagers – geleitet wurde. Hitler verkehrte in den besten Münchner Kreisen und galt in Bayern vielen bereits als "deutscher Mussolini", dem ein "Marsch auf Berlin" gelingen konnte.

Hitler beschloss, die Initiative an sich zu reißen und am 9. November – für die Rechtsradikalen ein Symbol der "nationalen Schmach" – den gegenrevolutionären Umsturz zu wagen. Vorher wollte er Kahr, Lossow und Seißer, die am Abend des 8. November im Münchner Bürgerbräukeller eine politische Versammlung abhielten, überrumpeln und mitreißen. Die SA umstellte das Lokal. Hitler ließ den Saal mit einem Maschinengewehr in Schach halten und verschaffte sich mit einem Pistolenschuss in die Decke Gehör. Er proklamierte die "nationale Revolution", erklärte die bayerische und die Reichsregierung für abgesetzt und kündigte die Bildung einer "nationalen Regierung" an. Anschließend beschworen in einem Nebenraum der NSDAP-Führer und der erst jetzt herbeigeholte Ludendorff das Triumvirat, den "Marsch auf Berlin" mitzuorganisieren und in eine Regierung Hitler einzutreten – scheinbar erfolgreich. Das Publikum bejubelte die Einigung; die SA nahm sicherheitshalber im Saal noch einige prominente Geiseln; dann löste sich die Versammlung auf.

Noch in der Nacht trafen Kahr, Lossow und Seißer Maßnahmen zur Unterdrückung des Putsches. Am Morgen des 9. November musste Hitler erkennen, dass sein Umsturzversuch isoliert bleiben würde. Daran konnte auch ein eilig improvisierter Demonstrationsmarsch des "Deutschen Kampfbundes" um die Mittagszeit nichts mehr ändern. An der Feldherrnhalle stieß der von Hitler und Ludendorff angeführte Zug von mehreren tausend Personen auf eine Absperrung der bayerischen Landespolizei. Es kam zu einem Handgemenge und zu einem kurzen Feuergefecht, bei dem 14 Demonstranten und drei Polizisten starben. Die Menge stob auseinander; Hitler floh zu einem Freund und wurde dort einige Tage später verhaftet. Der dilettantische Frühstart der NSDAP machte alle Pläne für einen "Marsch auf Berlin" zunichte.

Der anschließende Hochverratsprozess gegen Hitler, Ludendorff und andere geriet zu einer Farce. Die Angeklagten – in den Augen der Richter Männer von "rein vaterländischem Geist" und "edelstem selbstlosen Willen" – durften Propagandareden gegen die Republik und ihre Politiker halten; der Ankläger agierte eher wie ein Verteidiger. Am 1. April 1924 erhielten Hitler und drei weitere Angeklagte lediglich fünf Jahre (ehrenvolle) Festungshaft mit der Aussicht auf Begnadigung nach sechs Monaten; die übrigen kamen mit noch geringeren Strafen davon. Ludendorff wurde sogar freigesprochen. Das Gericht lehnte es ausdrücklich ab, auf "einen Mann, der so deutsch denkt und fühlt wie Hitler", die Bestimmungen des Republikschutzgesetzes anzuwenden und ihn als wegen Hochverrats verurteilten Ausländer nach Österreich abzuschieben.

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 95 Separatistenbewegungen

Seit Ende September 1923 verstärkten separatistische Bewegungen im preußischen Rheinland, in der bayerischen Pfalz und in Rheinhessen mit Unterstützung der französischen und belgischen Besatzungsmacht ihre Bestrebungen, diese Gebiete in selbstständige, eng mit Frankreich und Belgien zusammenarbeitende Territorien zu verwandeln. Poincaré – seit 1922 französischer Ministerpräsident – sah die Chance zur Schaffung eines unabhängigen rheinischen Staates und damit zur Abtrennung des Ruhrgebietes vom Deutschen Reich. Die Separatisten versprachen sich wirtschaftliche und politische Vorteile für die ausgegliederten Regionen. Am 21. Oktober riefen sie eine "Rheinische Republik" aus, am 12. November eine "Autonome Pfalz". In Aachen, Koblenz, Bonn, Wiesbaden, Trier und Mainz stürmten sie die Rathäuser. Die Reichsregierung war machtlos, da sie keine Truppen in die entmilitarisierte Zone schicken durfte. Die separatistischen Bewegungen, denen sich auch kriminelle Elemente anschlossen, scheiterten jedoch innerhalb weniger Monate einerseits am energischen Widerstand der Bevölkerung. Andererseits lehnten Großbritannien und die USA eine Loslösung des Ruhrgebietes von Deutschland wegen der unabsehbaren internationalen wirtschaftlichen und politischen Risiken ab. Im Februar 1924 ließ Poincaré die separatistischen Bewegungen fallen und besiegelte damit ihr Ende.

Sturz der Regierung

In der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion herrschte Empörung darüber, dass die (aufs Ganze gesehen erfolgreiche) Regierung Stresemann gegen die Rechtsdiktatur des Triumvirates in Bayern praktisch nichts unternahm, gegen die SPD-KPD-Regierungen in Sachsen und Thüringen dagegen die Reichswehr einsetzte. Am 2. November 1923 schieden die SPD-Minister aus der Reichsregierung aus. Als der Kanzler am 23. November bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage eine Niederlage erlitt, trat er zurück. Neuer Regierungschef einer bürgerlichen Minderheitsregierung (DDP, Zentrum/ BVP, DVP), der Stresemann als Außenminister angehörte, wurde der Zentrumsführer Wilhelm Marx.

Das Jahr 1923 markierte den Höhepunkt der krisenhaften Nachkriegsentwicklung in Deutschland. Die Hauptkrisen dieses Jahres waren die Ruhrbesetzung und die durch den passiven Widerstand verstärkte Währungszerrüttung. Sie wurden durch vernünftiges politisches Handeln gelöst: Frankreich blieb mit seiner überharten Deutschlandpolitik im Kreise der Siegermächte isoliert und musste schließlich einlenken. Die nach dem unvermeidlichen Abbruch des passiven Widerstandes durchgeführte Währungsreform, die Sozialdemokraten wie Deutschnationale mittrugen, wurde rasch zum Erfolg.

Bei den übrigen Gefahren handelte es sich um gezielt ausgelöste Nebenkrisen, die mehr oder weniger aus denselben Gründen scheiterten: Der "deutsche Oktober" musste bereits in Sachsen und Thüringen vorzeitig abgebrochen werden, der "Marsch auf Berlin" gelangte nicht einmal über München hinaus, und der rheinische Separatismus brach kläglich zusammen, nicht nur weil die Akteure dilettantisch vorgingen, sondern vor allem, weil eine "Diktatur des Proletariats" nach sowjetischem Muster, ein " Führerstaat" nach italienischem Vorbild oder eine Zerstörung der Reichseinheit jeweils nur einer kleinen Minderheit der Bevölkerung als erstrebenswert galt. Deshalb erreichten die Nachkriegskrisen 1923 mit ihrem Gipfel zugleich auch ihr Ende.

Dieser Text ist zuerst in den Informationen zur politischen Bildung (http://www.bpb.de/ izpb/55949/vom-kaiserreich-zur-republik-1918-19) Heft 261 erschienen.

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Zwischen Festigung und Gefährdung 1924-1929

Von Reinhard Sturm 23.12.2011 Reinhard Sturm, geboren 1950, studierte von 1971 bis 1978 Geschichte, Politikwissenschaft und Anglistik an der Georg-August- Universität Göttingen. 1973/74 war er ein Jahr als German Assistant an einer Schule in England tätig. Nach dem Vorbereitungsdienst 1978 bis 1980 in Salzgitter arbeitete er als Gymnasiallehrer bis 1990 in Göttingen, seither in Hildesheim. Seit 1990 bildet er als Studiendirektor und Fachleiter für Geschichte am Studienseminar Hildesheim für das Lehramt an Gymnasien angehende Geschichtslehrer/innen aus. Er hat wissenschaftliche und didaktische Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, zur Weimarer Republik, zum Nationalsozialismus und zur deutschen Nachkriegsgeschichte sowie zur Geschichtsdidaktik veröffentlicht. Kontakt: [email protected] (mailto:[email protected])

Außenpolitische Erfolge und ein wirtschaftlicher Aufschwung bescheren der Weimarer Republik eine vorübergehende Konsolidierungsphase mit sozialpolitischen Maßnahmen und einer kulturellen Blütezeit. Die innenpolitische Lage aber wird durch den Tod des Reichspräsidenten und die Wahl Hindenburgs zu seinem Nachfolger bestimmt.

Einleitung

Im Laufe des Jahres 1924 mehrten sich die Anzeichen für eine Stabilisierung der Weimarer Republik. Tatsächlich war das folgende Jahrfünft durch außen- und reparationspolitische Erfolge, wirtschaftlichen Aufschwung sowie gesellschafts- und sozialpolitische Fortschritte gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund beruhigte sich die innenpolitische Lage, während Kunst und Kultur eine Blütezeit erlebten. Diese erfreuliche Gesamtentwicklung wurde jedoch immer wieder durch gegenläufige Tendenzen infrage gestellt.

Außenpolitische Erfolge

Eine erste Entspannung in der Reparationsfrage brachte der von der alliierten Reparationskommission und Deutschland angenommene "Dawes-Plan". Seine wichtigsten, von dem US-Bankier Charles Dawes entwickelten Grundsätze lauteten:

• Die deutsche Wirtschaft sollte sich erholen, um die Reparationsleistungen an die Gläubiger zu gewährleisten – nur so konnten diese ihre Kriegsschulden an die USA zurückzahlen. Politisch motivierte Sanktionen wie die Ruhrbesetzung sollte es nicht mehr geben.

• Die jährliche Belastung sollte 1924 eine Milliarde Reichsmark (RM) betragen und bis September 1928 auf die "Normalrate" von 2,5 Milliarden RM ansteigen. Besaß Deutschland nicht genügend Devisen für die Umwandlung der Jahresrate in die Währungen der Empfängerländer, durfte die Zahlung niedriger ausfallen ("Transferschutz"). Als Starthilfe wurde ein US-Kredit über 800 Millionen RM gewährt, sodass von der ersten Jahressumme nur 200 Millionen RM aus Eigenmitteln aufgebracht werden mussten.

• Ein alliierter Reparationsagent mit Sitz in Berlin, der US-Finanzexperte Parker Gilbert, übernahm die Organisation der Reparationszahlungen.

Zeitliche Begrenzung und endgültige Höhe der Reparationen blieben weiterhin offen; dennoch waren die neuen Bedingungen wesentlich günstiger als die des Londoner Ultimatums vom Mai 1921. Am 1.

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September 1924 trat der Dawes-Plan in Kraft; die Ruhrbesetzung wurde bis September 1925 wieder aufgehoben.

Verträge von Locarno

Im Zuge der durch den Dawes-Plan bewirkten Verbesserung des politischen Klimas tagten vom 5. bis 16. Oktober 1925 in dem schweizerischen Kurort Locarno die Regierungschefs und Außenminister Deutschlands, Großbritanniens, Frankreichs, Belgiens, Italiens, Polens und der Tschechoslowakei, um Abkommen zur Stabilisierung des Friedens in Europa zu schließen – Voraussetzung für weitere amerikanische Kredite. In einem "Garantiepakt" erklärten Deutschland, Frankreich und Belgien sowie England und Italien (als Garantiemächte) die deutsche Westgrenze für "unverletzlich". Dafür war das Reich künftig gegen territoriale Sanktionen geschützt. Die Locarno-Verträge waren weitgehend das Werk der Außenminister Deutschlands und Frankreichs, Gustav Stresemann und Aristide Briand; sie wurden dafür am 10. Dezember 1926 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Freilich war Stresemann – wie andere europäische Staatsmänner seiner Zeit auch – stets beides: " ein kühl kalkulierender Realpolitiker und ein nationaler Machtpolitiker" (Eberhard Kolb). Zwar verpflichtete sich das Reich in Schiedsverträgen mit Polen und der Tschechoslowakei zum Verzicht auf gewaltsame Grenzveränderungen, aber eine Grenzgarantie wie im Westen lehnte Stresemann ausdrücklich ab. Ein "Ostlocarno" hätte seine Strategie gefährdet, Deutschland schrittweise wieder zur Großmacht werden zu lassen und zu gegebener Zeit Polen durch wirtschaftlichen Druck zu Grenzverhandlungen zu bewegen.

Locarno brachte eine spürbare Verbesserung der deutschen Position in der internationalen Politik. Greifbarstes Ergebnis war, neben dem Abzug der britischen Besatzungstruppen aus der Kölner Zone bis Januar 1926, die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund (mit ständigem Ratssitz) am 10. September 1926. Dennoch verweigerten Nationalkonservative und Rechtsradikale ebenso wie die radikale Linke ihre Zustimmung zu den Locarno-Verträgen. Wetterten DNVP und NSDAP gegen die Preisgabe deutscher Gebiete im Westen, so befürchtete die KPD die Einbeziehung Deutschlands in eine gemeinsame Front der kapitalistischen Länder gegen die Sowjetunion. Nach dem Austritt der DNVP aus der im Januar 1925 gebildeten "Bürgerblock"-Regierung Luther (Amtszeit: Januar 1925- Mai 1926) konnten die Locarno-Verträge nur mit Hilfe der oppositionellen SPD ratifiziert werden.

Als Ergänzung bzw. Gegengewicht zum Locarno-Pakt schloss Deutschland mit der Sowjetunion am 24. April 1926 den "Berliner Vertrag" über gegenseitige Neutralität im Falle eines Krieges mit dritten Staaten. Demzufolge durften bei einem russisch-polnischen Krieg französische Truppen Polen nicht über deutsches Territorium zu Hilfe kommen.

Stresemanns außenpolitische Ziele

Vertraulicher Brief Stresemanns an Kronprinz Wilhelm vom 7. September 1925 (1932 bekannt geworden).

[...] Die deutsche Außenpolitik hat nach meiner Auffassung für die nächste absehbare Zeit drei große Aufgaben: Einmal die Lösung der Reparationsfrage in einem für Deutschland erträglichen Sinne und die Sicherung des Friedens, die die Voraussetzung für eine Wiedererstarkung Deutschlands ist.

Zweitens rechne ich dazu den Schutz der Auslandsdeutschen, jener 10-12 Millionen Stammesgenossen, die jetzt unter fremdem Joch in fremden Ländern leben.

Die dritte große Aufgabe ist die Korrektur der Ostgrenzen: die Wiedergewinnung von Danzig, vom polnischen Korridor und eine Korrektur der Grenze in Oberschlesien.

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Im Hintergrund steht der Anschluss von Deutsch-Österreich [...]. Wollen wir diese Ziele erreichen, so müssen wir uns aber auch auf diese Aufgaben konzentrieren. Daher der Sicherheitspakt, der uns einmal den Frieden garantieren und England sowie, wenn Mussolini mitmacht, Italien als Garanten der deutschen Westgrenze festlegen soll. Der Sicherheitspakt birgt andererseits in sich den Verzicht auf [...] Rückgewinnung Elsass-Lothringens, [...] der aber insoweit nur theoretischen Charakter hat, als keine Möglichkeit eines Krieges gegen Frankreich besteht. [...] Zudem sind alle Fragen, die dem deutschen Volk auf dem Herzen brennen, [...] Angelegenheiten des Völkerbundes [...].

Die Frage des Optierens zwischen Osten und Westen erfolgt durch unseren Eintritt in den Völkerbund nicht. [...] Ich warne vor einer Utopie, mit dem Bolschewismus zu kokettieren.

[...] Das Wichtigste ist [...] das Freiwerden deutschen Landes von fremder Besatzung. Wir müssen den Würger erst vom Halse haben. [...] Deshalb wird die deutsche Politik [...] in dieser Beziehung zunächst darin bestehen müssen, zu finassieren (Tricks anzuwenden – Anm. der Red.) und den großen Entscheidungen auszuweichen.

Ich bitte E. K. H. (Eure Kaiserliche Hoheit – Anm. d. Red.), [...] diesen Brief selbst – den ich absichtlich nicht unterzeichne, damit er nicht, auch nur aus Versehen, in fremde Hände fällt – freundlichst unter dem Gesichtspunkt würdigen zu wollen, dass ich mir natürlich in allen meinen Äußerungen eine große Zurückhaltung auferlegen muss. [...]

Gustav Stresemann, Vermächtnis, Bd. II, hg. von Henry Bernhard, Ullstein, Berlin 1932, S. 553 ff.

Young-Plan

Auf der Basis des Dawes-Plans und der Locarno-Verträge kam es in den folgenden Jahren zu weiteren Verbesserungen des deutsch-französischen Verhältnisses, insbesondere der Handelsbeziehungen. Auch nahm das internationale Ansehen Deutschlands nach seinem Eintritt in den Völkerbund zu. Der " Briand-Kellogg-Pakt" – benannt nach den Außenministern Frankreichs und der USA – vom 27. August 1928 war auch Stresemanns Werk. Bis Ende 1929 traten bereits 54 Staaten diesem Abkommen zur Kriegsächtung bei.

Als sich Ende 1928 abzeichnete, dass die Umstellung der jährlichen Reparationszahlungen auf die " Normalrate" von 2,5 Milliarden RM die deutsche Zahlungsfähigkeit überforderte, drängte die seit Ende Juni amtierende Regierung der Großen Koalition unter Reichskanzler Hermann Müller (SPD) auf eine endgültige Regelung der Reparationsfrage zu erträglichen Bedingungen. Nach langen und schwierigen Verhandlungen legte der US-Wirtschaftsexperte Owen D. Young einen Plan vor, der folgende Neuerungen enthielt:

• Die Begrenzung der Reparationsleistungen auf 112 Milliarden RM, zahlbar innerhalb von 59 Jahren (das heißt bis 1988).

• Die Herabsetzung der Jahresraten: Sie sollten in den ersten 37 Jahren allmählich von 1,7 auf 2,1 Milliarden RM ansteigen und danach den jährlichen Kriegsschulden-Rückzahlungen der Alliierten an die USA angepasst werden. Grundsätzlich waren jährlich 600 Millionen RM in Devisen zu zahlen – das heißt ohne "Transferschutz".

• Die Abwicklung der Zahlungen in souveräner deutscher Verantwortung über eine "Bank für internationalen Zahlungsausgleich" in Basel. Die alliierte Reparationskommission und der Reparationsagent stellten ihre Tätigkeit ein.

• Die vorzeitige Räumung des Rheinlandes durch die Alliierten bis zum 30. Juni 1930 (statt 1935) –

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ein außenpolitischer Triumph, den Stresemann nicht mehr erlebte.

Mochte die Aussicht auf Reparationszahlungen bis 1988 zunächst erschrecken, so konnte doch kein Zweifel daran bestehen, dass der "Young-Plan" gegenüber allen bisherigen Regelungen eine weitere deutliche Verbesserung darstellte.

Wirtschaftsentwicklung

Währungsreform, Dawes-Plan und ausländische Kredite bewirkten einen beträchtlichen Wirtschaftsaufschwung. Produktion, Konsum und Volkseinkommen nahmen zwischen 1924 und 1929 stetig zu. Schwerindustrie (Bergbau, Eisen- und Stahlerzeugung), Maschinenbau und Textilindustrie, vor allem aber elektrotechnische, chemische und optische Industrie sowie neue Industriezweige wie Automobil- und Flugzeugbau, Messing-, Aluminium- und Kunstseideherstellung, Film und Rundfunk konnten ihre Produktion erheblich steigern. Technische Großprojekte wie das Luftschiff "Graf Zeppelin " oder das Verkehrsflugzeug "Dornier DO X" demonstrierten die Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie.

Bereits 1926 übertraf der Warenexport den von 1913. Da der Aufschwung den Verteilungsspielraum erweiterte, kam er auch Arbeitern, Angestellten und Beamten zugute. Dabei half die 1923 eingeführte, arbeitnehmerfreundlich gehandhabte staatliche Zwangsschlichtung als letzte Instanz bei Tarifkonflikten. 1928/29 erreichten Industrieproduktion und Löhne insgesamt wieder das Vorkriegsniveau – bei deutlich verringerter Wochenarbeitszeit. Der Reichshaushalt war, trotz der Reparationsbelastungen, stets annähernd ausgeglichen.

Konzentrationsbewegung

Die Ursache der bald nach dem Kriegsende in der deutschen Eisenindustrie einsetzenden Konzentrationsbewegung war Rohstoffmangel. Durch den Versailler Vertrag wurde mit einem Federstrich eine Strukturänderung geschaffen, die der deutschen eisenschaffenden Industrie mit einem Schlage ein anderes Gepräge gab: Die Verbindung der rheinisch-westfälischen Werke mit den lothringischen Betrieben, die in dem gegenseitigen Austausch von Ruhrkohle und Koks gegen lothringische Erze und Walzwerksprodukte zum Ausdruck kam, wurde aufgehoben; in Oberschlesien erstreckten sich die Zerstörungen durch die neuen Grenzziehungen sogar auf das Betriebsverhältnis der Werke, die in ihrer technischen Einheit auseinandergerissen wurden. [...]

Es mussten also neue Querverbindungen nach der Rohstoffseite wie nach der Seite der weiterverarbeitenden Industrie geschaffen werden. [...] Auch die Verarbeitungs- und Verfeinerungsindustrie, häufig sogar die Fertigungsindustrie, wurden in die Zusammenschlussbewegung einbezogen. Das größte Beispiel dieser vertikalen Konzernbildung ist die unter Führung von Hugo Stinnes erfolgte Gründung des Elektromontankonzerns, der Rhein-Elbe-Siemens-Schuckert-Union. Unter dem Druck der Rohstoffknappheit wurde der –in seinen Anfängen bis in die Vorkriegszeit zurückreichende – Typus des "gemischten Betriebes" in der Eisenindustrie vorherrschend. [...]

Während in den ersten Nachkriegsjahren Rohstoffsicherung die maßgebende Rolle bei der Konzernbildung gespielt hatte, war jetzt Rohstoff reichlich vorhanden. Der immer drückender werdende Absatzmangel forderte gebieterisch eine Verringerung der Gestehungskosten, um dem Weltmarkt gegenüber konkurrenzfähig zu werden; [...]. Die mit größter Energie aufgenommene technische Rationalisierung der einzelnen Betriebe erwies sich als nicht ausreichend [...]; aber auch der gewaltige Kapitalbedarf, der durch die technische Umstellung der Betriebe hervorgerufen wurde, zwang zu einer Verstärkung der Betriebsgrundlagen durch Zusammenfassung gleichartiger Produktionseinheiten, zu horizontalen Zusammenschlüssen im Wege der Fusion. [...]

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Die Angliederung gleichartiger Produktionsstätten gab den Großkonzernen die Möglichkeit, die Erzeugung auf die günstigst gelegenen und bestgeeigneten Betriebe zusammenzulegen und dafür weniger aussichtsreiche Betriebe durch Stilllegung aus dem Produktionsprozess auszuschalten. [...]

Wirtschaftsdienst, Heft 41 vom 10. Oktober 1930, S. 1746-1752 in: Werner Abelshauser/Anselm Faust/ Dietmar Petzina (Hg.), Deutsche Sozialgeschichte 1914-1945, C. H. Beck, München 1985, S. 25 ff.

Krisenanfälliger Aufschwung

Gleichwohl blieben die Wachstumsraten der Industrieproduktion und des Außenhandels hinter denen anderer Industrieländer zurück. Außerdem gab es eine Reihe bedenklicher Trends:

• Das Wirtschaftswachstum war ungleichmäßig verteilt; zum Beispiel konnte die Schwerindustrie mit der Chemie- und Elektroindustrie nicht Schritt halten.

• Die Wirtschaftskonzentration nahm weiter zu. Bereits 1926 entfielen auf 16 Prozent der Aktiengesellschaften 66 Prozent des Aktienkapitals. Im Bergbau und in der Stahlindustrie dominierten Konzerne. 1925 entstand der weltgrößte Chemiekonzern ("I. G. Farbenindustrie AG "), 1926 der größte europäische Montankonzern ("Vereinigte Stahlwerke"). Monopolpreise für Rohstoffe und Halbfabrikate machten der verarbeitenden Industrie zu schaffen.

• Wettbewerbsbedingte Rationalisierungen wie die Einführung der Fließbandarbeit nach dem Vorbild der Ford-Werke in den USA gefährdeten immer mehr Arbeitsplätze von Arbeitern und zunehmend auch von kleinen und mittleren Angestellten. Schon vor der Weltwirtschaftskrise lag die Zahl der Arbeitslosen durchschnittlich bei 1,4 Millionen (circa 6,5 Prozent).

• Die Landwirtschaft arbeitete vielfach unrentabel und war nach ihrer inflationsbedingten Entschuldung bald wieder verschuldet. Das galt sowohl für die Kleinbauern in Mittel-, Südwest- und Süddeutschland als auch besonders für die ostelbischen Großagrarier. Ab 1927 befand sich die Landwirtschaft infolge einer weltweiten Überproduktion, die mit einem anhaltenden Verfall der Erzeugerpreise (besonders für Schweine und Roggen) einherging, in einer Dauerkrise.

• Die Auslandsverschuldung (vor allem bei den USA) erreichte 1929 einen Gesamtumfang von 25 Milliarden RM; die kurzfristige Verschuldung betrug 12 Milliarden RM. Ein Abzug der kurzfristigen, von den deutschen Banken aber oft langfristig weitervergebenen Auslandskredite konnte verheerende Folgen haben.

• Die expansive Kreditpolitik der Großbanken und ihre oft riskanten Spekulationen mit Wertpapieren waren nicht ausreichend durch Eigenkapital und liquide Mittel abgesichert, denn private Haushalte und Unternehmen verspürten nach der Inflationserfahrung von 1923 wenig Neigung zum Sparen bzw. zur Kapitalbildung.

• Die Zentralbank (Reichsbank) konnte damals nur mittels Diskontpolitik (Verteuerung bzw. Verbilligung der Kredite, die sie den Privatbanken gewährte) das Wirtschaftsgeschehen beeinflussen. Über die Mindestreservenpolitik (Erhöhung bzw. Senkung der Geldschöpfung und Kreditgewährung der Geschäftsbanken) sowie die Offenmarktpolitik (An- und Verkauf von Wertpapieren zur Beeinflussung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage) verfügte sie noch nicht.

• Das Finanzgebaren der öffentlichen Hände gab Anlass zur Sorge. Von 1926 bis 1929 stiegen die jährlichen Ausgaben von Reich, Ländern und Gemeinden zusammen von 17,9 auf 24,3 Milliarden RM. Die Kommunen finanzierten bis zu zwei Drittel ihrer Infrastrukturmaßnahmen unsolide mit Hilfe der Auslandsanleihen.

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Demnach fand eine fundamentale wirtschaftliche Stabilisierung in den Jahren 1924 bis 1929 nicht statt; der Wirtschaftsaufschwung wurde mit einer erheblichen "hausgemachten" Krisenanfälligkeit erkauft.

Gesellschaft im Wandel

Nach den Einschnitten durch Kriegseinwirkungen und Gebietsverluste erhöhte sich die Bevölkerungszahl im Deutschen Reich zwischen 1925 und 1933 um etwa 2,8 Millionen, sodass sie am Ende wieder den Vorkriegsstand von rund 65 Millionen erreichte. Davon waren knapp zwei Drittel Protestanten und annähernd ein Drittel Katholiken; der Anteil der Juden sank von 0,9 auf 0,8 Prozent. Im selben Zeitraum hielten die für hochindustrialisierte Gesellschaften typische Landflucht und Verstädterung weiter an. Der Bevölkerungsanteil der Gemeinden mit weniger als 2.000 Einwohnern nahm von 35,6 auf 32,9 Prozent ab, während der der Großstädte (über 100.000 Einwohner) von 26,8 auf 30,4 Prozent anstieg. Parallel dazu vollzog sich ein Rückgang der Erwerbspersonen in der Landwirtschaft von 30,5 auf 28,9 Prozent, in Industrie und Handwerk von 42,1 auf 40,4 Prozent, während der Dienstleistungsbereich von 27,4 auf 30,7 Prozent zunahm.

Die Weimarer Republik erbte vom Kaiserreich eine hochdifferenzierte, hierarchisch gegliederte Industriegesellschaft mit ausgeprägten schicht-, geschlechts- und generationsspezifischen Strukturen sozialer Ungleichheit hinsichtlich Einkommens- und Vermögensverteilung, Berufsbedingungen und familiären Lebensverhältnissen. In manchen Bereichen vollzog sich jedoch in den 1920er Jahren ein beträchtlicher Wandel.

Oberschichten

Zur alten Oberschicht gehörten adlige und bürgerliche Großagrarier, Wirtschaftsbürgertum (darunter immer mehr angestellte "Manager" von Aktiengesellschaften), Bildungsbürgertum, (überwiegend adliges) höheres Beamtentum und Offizierskorps. Sie hatte durch die Revolution von 1918/19 ihren unmittelbaren Zugang zur politischen Macht weitgehend verloren. Unter dem aus ihren Reihen stammenden Reichspräsidenten, dem Generalfeldmarschall a. D. Paul von Hindenburg, gewann sie ihn nach 1925 allmählich zurück. Mit dem großagrarischen "Reichslandbund" und dem schwerindustriell dominierten "Reichsverband der deutschen Industrie" (RDI) verfügte sie über die beiden mächtigsten Interessenverbände. Politisch wurde der protestantische Teil der alten Oberschicht hauptsächlich durch DNVP, DVP und (in geringerem Maße) DDP vertreten; der katholische Teil orientierte sich am Zentrum.

Neben die traditionelle Elite schob sich eine durch die breite Einführung der parlamentarischen Demokratie erzeugte "neue politische Oberschicht" (Hagen Schulze): Regierungsmitglieder und Parlamentarier, von denen rund drei Viertel aus sozialen Aufsteigern vor allem aus den Mittel- und Unterschichten bestanden – einer der Gründe für die Verachtung, die die alte Oberschicht dem Parlamentarismus entgegenbrachte. Das bekannteste Beispiel ist Reichspräsident Friedrich Ebert, ein gelernter Sattler, der sich bis zum Staatsoberhaupt hocharbeitete. Vor allem aus den Reihen von SPD, DDP und Zentrum kam die neue politische Oberschicht.

Mittelschichten

Die Mittelschichten umfassten zum einen den "alten Mittelstand": selbstständige Handwerker und Einzelhändler, kleine und mittlere Unternehmer, freie (akademische) Berufe und Bauern, nebst ihren mithelfenden Familienangehörigen – überwiegend Kleinbetriebe mit weniger als fünf Beschäftigten. Die eigentumsorientierten, statusbewussten selbstständigen Mittelständler fühlten sich stets zwischen Kapital und Arbeit eingeklemmt, weil sie im Wettbewerb mit Großunternehmen standen und sich

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 102 gleichzeitig von den Lohnforderungen der Gewerkschaften bedrängt sahen. Der Verlust ihrer Ersparnisse durch die Inflation 1923 bedeutete für sie eine kollektive traumatische Erfahrung, die mehr noch als Versailler Vertrag und Dolchstoßlegende ihr Vertrauen in den demokratischen Staat untergrub.

Zum anderen hatte sich bereits im Kaiserreich ein "neuer Mittelstand" – mittlere und kleine Angestellte und Beamte – herausgebildet, der aufgrund der allgemeinen Bürokratisierungstendenz in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat zunahm. Die Berufssituation der Angestellten näherte sich im Gefolge der Rationalisierungswelle in der deutschen Industrie in den 1920er Jahren hinsichtlich der Arbeitsbedingungen (Großraumbüros) und der Arbeitsplatzsicherheit (wachsende Arbeitslosigkeit, besonders bei älteren Angestellten) derjenigen der Arbeiter immer stärker an. Umso verbissener jedoch grenzten sich die Angestellten von den Arbeitern ab, unter anderem durch eigene Versicherungen und durch Verbände, deren politisches Spektrum vom SPD-nahen AfA-Bund ("Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände") bis zum "Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband" (DNHV) reichte. Ihr eher an den Arbeitgebern als an der Arbeiterschaft orientiertes berufsständisches Sonderbewusstsein war in Deutschland ausgeprägter als in vergleichbaren Industrieländern.

Charakteristisch für alte und neue Mittelschichten war das breite Spektrum der von ihnen bevorzugten Parteien. Traditionell bildeten sie den Kern des politischen Liberalismus (auch Katholizismus); man wählte aber auch die Deutschnationalen, mittelständisch orientierte Kleinparteien oder regionale Parteien. Diese politische "Heimatlosigkeit" führte zum allmählichen Niedergang der beiden liberalen Kernparteien DDP und DVP.

Unterschichten

Zu den Unterschichten zählten Industrie- und Landarbeiter, Handwerksgesellen und Lehrlinge, Knechte und Mägde, Hausangestellte, Arbeitslose, Rentner und Invaliden. Indus-triearbeiter stellten gut drei Fünftel dieses Gesellschaftssegments. Katholische Arbeiter standen der Zentrumspartei und ihren christlichen Gewerkschaften nahe. Die von der Revolution 1918/19 kaum berührten Landarbeiter blieben eher konservativ orientiert. Die übrigen Unterschichten bildeten das soziale Fundament der Sozialdemokratie und des Kommunismus. Ältere Arbeiter und Facharbeiter fühlten sich eher der SPD und dem ihr nahe stehenden "Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund" (ADGB) verbunden, Jungarbeiter, ungelernte Arbeiter und Arbeitslose eher der KPD. SPD, KPD und Zentrum vermochten ihre Anhänger in ein dicht geknüpftes Netz aus Parteigliederungen, Selbsthilfeorganisationen, Sport- und Freizeitvereinen, Gaststätten, Bildungseinrichtungen und ein eigenes Pressewesen einzubinden. Sozialwissenschaftler sprechen daher von "sozialmoralischen Milieus" (Rainer M. Lepsius) oder politischen "Solidargemeinschaften" (Peter Lösche), beim kommunistischen Milieu sogar von einem abgedichteten "selbstständigen Lager innerhalb der Gesamtgesellschaft" mit einer ausgeprägten " Lagermentalität" (Oskar Negt/Alexander Kluge).

Frauen

Schicht- bzw. milieuspezifische Unterschiede wurden teilweise von geschlechts- und generationsspezifischen überlagert. Frauen blieben trotz Artikel 109 WV (staatsbürgerliche Gleichheit) und 119 WV (eheliche Gleichberechtigung) benachteiligt, da die Gesetzgebung nicht angepasst wurde. So durften verheiratete Frauen, wie schon im Kaiserreich, nur mit Genehmigung des Ehemannes einen Beruf ausüben. Die Erwerbstätigkeit einer Frau galt allgemein als Übergangsstadium bis zur Ehe, in der ihr dann die Hausarbeit und die Kindererziehung zufielen. 1925 waren nur 35,6 Prozent der Frauen erwerbstätig (Männer 68 Prozent), davon jede Zehnte als Hausgehilfin ohne soziale Sicherung und mit überlangen Arbeitszeiten. In der Industrie erhielten Hilfs- und Facharbeiterinnen im Durchschnitt nur zwei Drittel der Männerlöhne; in Krisenzeiten wurden sie stets als erste entlassen.

Über diese traditionelle Rollenvorstellung wies das von der Werbung propagierte Bild der "neuen Frau " – berufstätig, unabhängig, selbstbewusst, attraktiv, modisch gekleidet – bereits hinaus. Es bezog sich vor allem auf weibliche Angestellte, deren wachsender Anteil an der Angestelltenschaft 1925

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 103 bereits 12,6 Prozent betrug. Zwischen 1919 und 1932 stieg auch der Anteil der Studentinnen von sieben auf 16 Prozent. Leitende Positionen blieben Frauen aber in der Regel verwehrt. Weder die weiblichen Abgeordneten in den Parlamenten (durchweg weniger als zehn Prozent) noch die bürgerliche oder proletarische Frauenbewegung erreichten in den zwanziger Jahren nennenswerte Fortschritte.

Alltag einer Arbeiterin

Unter dem Motto "Mein Arbeitstag – Mein Wochenende" schrieb 1928 das Arbeiterinnensekretariat des Deutschen Textilarbeiterinnenverbandes einen Literaturwettbewerb aus, der sich an alle Verbandsmitglieder richtete. Authentisch und überzeugend sollten die Frauen ihren gewöhnlichen Tagesablauf schildern, für die beste Arbeit standen 30 Mark als Preis bereit. Eine 48-jährige Arbeiterin:

"Durch Arbeitslosigkeit meines Mannes bin ich zu der Erwerbstätigkeit gezwungen. Um nicht in allzu große Notlage zu geraten, muss ich zum Haushalt meiner Familie, welche aus meinem Mann, drei Kindern im Alter von 3 bis 13 Jahren und mir besteht, beitragen. Mein Wohnort liegt im Kreise Zeitz, die Arbeitsstelle ist eine Wollkämmerei, in welcher ich Putzerin bin. Da ich fast eine Stunde Bahnfahrt habe, stehe ich früh um 4.30 Uhr auf. Der Zug fährt um 5.10 Uhr ab, kommt 5.55 Uhr am Arbeitsort an. Da unsere Arbeitszeit um 6 Uhr beginnt, muss ich vom Bahnhof zur Fabrik einen Dauerlauf machen, um zur rechten Zeit zur Stelle zu sein. Dort putze ich bis 14.15 Uhr Krempelmaschinen. Der Zug, mit welchem ich fahren kann, fährt erst um 17.13 Uhr. Ich muss mich solange auf dem Bahnhof aufhalten und bin um 18 Uhr zu Hause. Nun gibt es noch daheim zu schaffen. Das Essen fertig zu kochen, für den nächsten Tag vorzubereiten, bei den Kindern die Sachen nachsehen, ob sie noch ganz und sauber sind. Wenn man den ganzen Tag nicht da ist, wird noch ein bisschen mehr gebraucht, weil die kleinen Schäden nicht so beachtet werden können. Am Abend ist man auch von der langen Zeit müde und abgespannt und die Sachen, Wäsche und Strümpfe, müssen sonntags ausgebessert werden. Manchmal muss ich noch meinen Schlaf opfern, da ich Partei- und Arbeiterwohlfahrtsversammlungen besuche und letztere sogar als Vorsitzende leiten muss. Am Sonnabend bin ich um dieselbe Zeit zu Hause. Da gehe ich erst einmal in den Konsumverein einkaufen, um für die ganze Woche Lebensmittel zu haben. Alle vier Wochen habe ich große Wäsche für meine Familie allein zu waschen. Am Abend vorher mache ich dazu alles fertig, um Sonntagmorgen beizeiten anfangen zu können. Sonst beginnt der Sonntag um 7 Uhr. Da gibt es zu tun mit dem Reinemachen der Wohnung und dem Ausbessern der Kleidungsstücke. Dabei wird das Mittagessen bereitet. Um 14 Uhr beginnt dann für mich der Sonntag. Er wird mit dem Besuch einer Arbeiterveranstaltung oder mit einem Spaziergang beendet [...]."

Kristine von Soden, "Frauen und Frauenbewegung in der Weimarer Republik", in: Die wilden Zwanziger. Weimar und die Welt 1919-33, Espresso, Berlin 1986, S. 112 f.

Jugend

Seit der Jahrhundertwende gab es in der Jugend Ansätze zur Entwicklung von Zusammenschlüssen mit eigenen Wertvorstellungen und Verhaltensweisen. Die naturverbundene bürgerliche "Wandervogel "-Bewegung wurde nach dem Krieg weitgehend von der gesellschaftlich orientierten "bündischen Jugend" abgelöst. In den 1920er Jahren bildeten erwerbslose Heranwachsende aus den Unterschichten in den Großstädten zuweilen "wilde Cliquen", die ihren Protest gegen Armut und Zukunftsunsicherheit "krass materialistisch und nicht selten jenseits der Legalität" (Heinrich August Winkler) auslebten. Nach dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 versuchte der Staat, durch Einrichtungen der Jugendfürsorge und Angebote der Jugendpflege die Entwicklung der Jugendlichen positiv zu beeinflussen. Doch blieb Unterschichtkindern der Zugang zu höheren Schulen – und damit der soziale Aufstieg – wegen des weiterhin erhobenen Schulgeldes in der Regel versperrt.

Anfang der 1930er Jahre gehörten von neun Millionen Jugendlichen knapp vier Millionen einer

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Jugendorganisation an. Am beliebtesten waren Sportvereine (zwei Millionen) sowie katholische und evangelische Jugendverbände (eine Million bzw. 600.000). Dahinter schob sich in weitem Abstand die "Hitler-Jugend" (HJ) (100.000) vor die – an Mitgliederschwund leidende – SPD-nahe "Sozialistische Arbeiterjugend" (SAJ) (90.000). Es folgten die "bündischen" Jugendgruppen (70.000) und der " Kommunistische Jugendverband Deutschlands" (KJVD) (55.000).

Gleichwohl verbrachten die meisten jungen Leute ihre Freizeit vorzugsweise im Freundeskreis, gingen auf Wanderfahrt und nutzten die Möglichkeiten der neuen "Massenkultur": Grammofon, Radio und Kino, Gaststätten und Tanzlokale.

Die Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen der Jahrgänge 1897 bis 1917 waren – je nach Geburtsjahr – durch einschneidende Erfahrungen geprägt: durch das seelisch verwüstende Kriegs- bzw. Fronterlebnis ("verlorene Generation"), das vaterlose Aufwachsen und die Entbehrungen während des Krieges, die Nachkriegskrisen (die eine hohe Jugendkriminalität erzeugten), die Stabilisierungsjahre oder schließlich den unmittelbaren Übergang von der Schule oder der Universität in die Arbeitslosigkeit infolge der Weltwirtschaftskrise ("überflüssige Generation").

Die soziale Unzufriedenheit vieler Jugendlicher äußerte sich nicht zuletzt in der Sehnsucht nach einem sinnerfüllten Dasein und nach Überwindung der gesellschaftlichen und politischen Gegensätze. Von der bürokratischen Politik in den Parlamenten und von den überalterten Parteien und ihren einflusslosen Jugendorganisationen fühlten sich vor allem die außerhalb des katholischen und des Arbeitermilieus stehenden Jugendlichen eher abgestoßen. Dies machte sich ab Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 die extreme Rechte mit wachsendem Erfolg zunutze: Hitler verstand es, die NSDAP als Partei der Jugend und des Aufbruchs zu einer nationalen "Volksgemeinschaft" unter seiner Führung darzustellen.

Sozialpolitik

Viele Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit wurden seit der Revolution von 1918/19 zwar nicht beseitigt, aber wesentlich stärker als früher sozialpolitisch abgemildert. Das in den 1880er Jahren von Bismarck eingeführte Sozialversicherungswesen (Kranken-, Unfall-, Invaliditäts- und Altersversicherung) wurde in der Verfassung verankert (Artikel 161 WV), die Rentensätze erhöht. Außerdem sorgte eine Vielzahl von größeren und kleineren Maßnahmen für mehr soziale Gerechtigkeit. Sie reichten von der Anerkennung neuer Berufskrankheiten, die zum Bezug einer Invalidenrente berechtigten, über die Steigerung der Zahl der Ärzte und der Krankenhausbetten bis zum sozialen Wohnungsbau: Zwischen 1925 und 1929 erhöhte sich die Zahl der jährlich fertiggestellten Wohnungen (in weiträumigen Siedlungen oder mehrstöckigen Mietshäusern ohne Hinterhöfe) von 106.502 auf 317.682; davon wurde jede zweite mit staatlichen Mitteln gefördert oder vom Staat selbst gebaut.

Arbeitslosenversicherung

Viele sozialpolitische Reformen waren, neben dem anhaltenden Druck der organisierten Arbeitnehmerschaft, dem tatkräftigen Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns (Zentrum) zu verdanken. Sein bedeutendstes Werk war das Gesetz über die Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 1. Oktober 1927, von der "Bürgerblock"-Regierung (Zentrum – BVP – DVP – DNVP) unter Reichskanzler Wilhelm Marx (Zentrum) eingebracht und vom Reichstag mit großer Mehrheit verabschiedet. Künftig übernahmen eine Reichsanstalt sowie regionale und lokale Arbeitsämter die Arbeitsvermittlung. Anspruchsberechtigte Arbeitslose konnten bis zu 39 Wochen ihren Unterhalt aus einer Versicherung beziehen, die zu gleichen Teilen durch Beiträge der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber finanziert wurde. Der Staat sollte im Notfall mit Darlehen einspringen. Somit wurde bei der sozialen Absicherung der Arbeitslosen das bisherige entwürdigende Fürsorgeprinzip durch das Versicherungsprinzip abgelöst. Weil Teile der Unternehmerschaft schon im Vorfeld heftig über die Erhöhung ihrer Soziallasten klagten, wurde die Beitragshöhe niedrig (auf drei Prozent des Grundlohns) angesetzt. Daher reichten die Finanzmittel vorläufig nur für etwa 700.000 Arbeitslose.

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Der Ausbau des Weimarer Sozialstaates

1918

Abschaffung der Gesindeordnung

Einführung des Frauenwahlrechts

Zulassung von Frauen zum Hochschullehrerberuf

Erwerbslosenfürsorge für entlassene Soldaten

1919

Grundrechte der Frauen auf staatsbürgerliche Gleichstellung und Gleichberechtigung in der Ehe

Grundrechte der Jugend auf Erziehung, Bildung, Schutz, Fürsorge und Pflege

Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie für Gewerkschaften und Unternehmerverbände

Verankerung des Sozialversicherungssystems in der Verfassung

1920

Betriebsrätegesetz

Grundschulgesetz

Versorgungsregelung für 1,5 Millionen Kriegsbeschädigte und 2,5 Millionen Hinterbliebene

1922

Jugendwohlfahrtsgesetz

Zulassung von Frauen zum Richteramt

Mietpreisbindung

Arbeitsnachweisgesetz (Ablösung der gewerblichen durch eine kommunale Arbeitsvermittlung)

Entsendung von Betriebsratsmitgliedern in die Aufsichtsräte

1923

Jugendgerichte

Gesetz über Mindestlöhne für Heimarbeiter

Förderung der Einstellung von Schwerbeschädigten

Mieterschutz gegen willkürliche Kündigungen

Knappschaftsgesetz (soziale Sicherung der Bergleute)

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Staatliche Zwangsschlichtung von Tarifstreitigkeiten

1924

Einheitliche staatliche Fürsorge (statt kommunaler Armenpflege)

1925

Wöchnerinnen- und Mutterschutz als Pflichtleistung der Krankenkassen

1926

Landesarbeitsgerichte, Reichsarbeitsgericht

1927

Besonderer Arbeits- und Kündigungsschutz für werdende und stillende Mütter

Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung

Mehrarbeitszuschläge für Überstunden

1928

Krankenversicherungspflicht für Seeleute

Zerwürfnis der Tarifvertragsparteien

1928 vertiefte sich die Kluft zwischen RDI und ADGB. Zunächst gingen die Gewerkschaften im September mit einem Programm für "Wirtschaftsdemokratie" in die Offensive. Ihre Forderungen lauteten:

• Ausbau des Arbeitsrechts, der Sozialpolitik und der innerbetrieblichen Mitbestimmungsrechte,

• Erleichterung des Bildungszugangs für Arbeiter,

• Vermehrung der "gemeinwirtschaftlichen" (das heißt der staatlichen und genossenschaftlichen) Betriebe,

• paritätische Besetzung der Handels-, Handwerks- und Landwirtschaftskammern,

• Kontrolle der Großunternehmen durch Kartellämter und durch Arbeitnehmervertreter in den Geschäftsleitungen.

Die Arbeitgeberverbände begriffen die "Wirtschaftsdemokratie" nicht zu Unrecht als Kampfansage an die freie Unternehmerinitiative; vor allem der RDI reagierte mit heftiger Kritik. Mehr noch: Beim " Ruhreisenstreit" im Oktober 1928, dem größten Arbeitskampf in der Geschichte der Weimarer Republik, lehnte die Arbeitgeberseite den eher maßvollen Schiedsspruch des staatlichen Schlichters ab, sperrte mehr als 230.000 Metallarbeiter aus, ließ es auf ein Arbeitsgerichtsverfahren ankommen und begann eine Kampagne gegen die staatliche Zwangsschlichtung bei Tarifkonflikten. Der Druck der Unternehmer führte am Ende zu einem zweiten, für sie günstigeren Schiedsspruch. Mit seiner Offensive

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 107 gegen Gewerkschaften und Zwangsschlichtung signalisierte der RDI, dass er die Flächentarifverträge durch betriebliche Einzelvereinbarungen zwischen Unternehmensleitung und Belegschaft (ohne gewerkschaftliche und staatliche Beteiligung) ersetzen wollte. So standen sich Ende 1928 Unternehmerverbände und Gewerkschaften unversöhnlich gegenüber – der Stinnes-Legien-Pakt vom November 1918, die "Sozialverfassung der Republik" (Hagen Schulze), war zerbrochen.

Innenpolitische Entspannung

Zwischen 1924 und 1929 blieb die innenpolitische Lage weitgehend stabil. Die Kommunisten konzentrierten sich wieder auf die legalen Formen der Parteiarbeit. Da sie bedingungslos der von der KPdSU vorgegebenen ideologischen und politischen Linie folgten, sprechen Historiker von einer " Stalinisierung" der KPD. Die radikale Rechte wirkte politisch gelähmt. Hitler saß bis Dezember 1924 in Festungshaft und schrieb sein Buch "Mein Kampf"; dem Zerfall der NSDAP musste er tatenlos zusehen. In Bayern führte ein erfolgreiches Volksbegehren für Landtagsneuwahlen im Februar 1924 zur Ablösung des regierenden Triumvirats Kahr – Lossow – Seißer und zur Wiederherstellung verfassungsmäßiger Verhältnisse.

Reichstagswahlen von 1924

Nach Ablauf der vierjährigen Legislaturperiode wurde der Reichstag am 4. Mai 1924 neu gewählt. Das Wahlergebnis war vom Krisenjahr 1923 und der aktuellen Diskussion über den Dawes-Plan geprägt. Mit Ausnahme von Zentrum und BVP mussten alle seit 1920 regierenden Parteien – SPD, DDP, DVP – zum Teil herbe Verluste hinnehmen. Demgegenüber verzeichneten die DNVP und die Splitterparteien beträchtliche Gewinne. Die von Reichskanzler Marx gebildete Minderheitsregierung (Zentrum – DDP – DVP) scheiterte, weil das Parlament Steuererhöhungen zum Ausgleich des Staatshaushalts ablehnte. Reichspräsident Ebert löste den Reichstag am 20. Oktober wieder auf.

Die Neuwahl vom 7. Dezember 1924 stand im Zeichen der allgemeinen Stabilisierung. Klare Wahlsiegerin wurde die SPD, gefolgt von der DNVP. Die bürgerlichen Mittelparteien konnten wieder leichte Gewinne verbuchen. Eindeutige Verlierer waren die KPD, Ludendorffs "Nationalsozialistische Freiheitsbewegung" und die Splitterparteien. Dieses Gesamtbild signalisierte den Beginn einer politischen Normalisierung, zumal sich die ehemals strikt nationalliberal-monarchistische DVP unter dem Einfluss ihres angesehenen Vorsitzenden, des früheren Reichskanzlers und jetzigen Außenministers Gustav Stresemann, zu einer Partei der "Vernunftrepublikaner" entwickelte. Das heißt, sie akzeptierte die von der Revolution 1918/19 geschaffenen Realitäten.

Wechselnde Mehrheiten

Die politischen Parteien taten sich jedoch weiterhin schwer mit der parlamentarisch-demokratischen Regierungsweise, das heißt mit der Bildung stabiler Koalitionsregierungen, der Bereitschaft zum politischen Kompromiss und dem Mut zu unpopulären Entscheidungen. Unter dem Einfluss ihres linken Flügels, der Koalitionen prinzipiell ablehnte, blieb die SPD in der Opposition. Die linksliberale DDP und die monarchistische DNVP waren nicht miteinander koalitionsfähig. Auch führten Spannungen zwischen den beiden katholischen Parteien dazu, dass die BVP nicht, wie die Zentrumspartei, allen, sondern nur einigen Regierungen der Weimarer Republik angehörte.

Vor diesem Hintergrund besaßen die Reichsregierungen der Jahre 1924 bis 1928 trotz mehrfacher Umbildungen keine oder nur eine unsichere Mehrheit. Denn mit Ausnahme der im Oktober 1925 gescheiterten breiten "Bürgerblock"-Regierung (von der DDP bis zur DNVP) amtierten entweder

• Minderheitsregierungen der bürgerlichen Mittelparteien (DDP – Zentrum – ggs. BVP – DVP), die auf Tolerierung in innenpolitischen Fragen meist von rechts, in außenpolitischen von links angewiesen waren, oder

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• "Bürgerblock"-Regierungen vom Zentrum bis zur DNVP, die zwar in der Innenpolitik weitgehend übereinstimmten, nicht aber in der Außenpolitik.

Diese Regierungen arbeiteten häufig mit wechselnden Mehrheiten, weshalb zwischen Regierungsfraktionen und Kabinett ein distanziertes Verhältnis bestand. Die SPD geriet dabei in eine politische Zwitterstellung: Obwohl linke Oppositionspartei, musste sie den bürgerlichen Regierungen immer wieder zur Mehrheit verhelfen, um wichtige außenpolitische Projekte wie Dawes-Plan, Locarno- Verträge oder Völkerbundsbeitritt nicht am "Nein" der DNVP scheitern zu lassen.

Der "Normalfall" einer klaren Minderheitsopposition und einer dauerhaften Mehrheitsregierung stellte sich nicht ein. Unter diesen Umständen blieb der Parlamentarismus instabil.

Reichspräsidentenwechsel

Am 28. Februar 1925 starb Reichspräsident Ebert überraschend im Alter von nur 54 Jahren. Er hatte eine nötige Operation zu lange aufgeschoben, um sich in einem langwierigen Gerichtsverfahren gegen die Verleumdung eines deutschvölkischen Journalisten zu wehren. Dieser hatte im Sinne der Dolchstoßlegende behauptet, Ebert habe im Januar 1918 als Mitorganisator mehrtägiger Streiks in Berlin und anderen Großstädten "Landesverrat" begangen. (Tatsächlich hatte sich Ebert mit anderen MSPD-Führern in die Leitung eines "wilden" – das heißt ohne Gewerkschaft begonnenen – Streiks wählen lassen, um diesen so schnell wie möglich zu beenden; Linksradikale warfen ihm daraufhin " Arbeiterverrat" vor). Friedrich Eberts früher Tod bedeutete einen herben Verlust für die Weimarer Republik. Seine Hauptverdienste bestanden in der Vermittlung des Konsenses zwischen sozialdemokratischer Arbeiterschaft, linksliberalem Bürgertum und politischem Katholizismus über die Gründung der Weimarer Republik sowie in seiner untadeligen verfassungstreuen und überparteilichen Amtsführung, die auch von seriösen politischen Gegnern anerkannt wurde. Jedoch hatte er sich durch sein unkritisches Vertrauen auf die "Fachleute" – konservative Generäle und Beamte – und durch seine Härte gegenüber Linksradikalen seiner eigenen Partei zunehmend entfremdet.

Bei der ersten Volkswahl des Reichspräsidenten lag nach dem ersten Wahlgang am 29. März 1925 Reichsinnenminister Karl Jarres (DVP), den auch die DNVP unterstützte, klar vor dem preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun (SPD) und den abgeschlagenen übrigen Bewerbern; er verfehlte jedoch die erforderliche absolute Mehrheit.

Vor dem zweiten Wahlgang, in dem die relative Mehrheit genügte, bildeten sich der "Reichsblock " (DVP, BVP, DNVP, Deutschvölkische) und der "Volksblock" (SPD, DDP, Zentrum), die jeweils einen Kandidaten unterstützten. Im Volksblock konnte die Zentrumspartei ihr Führungsmitglied Wilhelm Marx durchsetzen, was die SPD aus Sorge um die Weimarer Koalition in Preußen hinnahm. Der Reichsblock präsentierte überraschend den 77-jährigen Paul von Hindenburg, der das breite Spektrum der rechts stehenden Wähler hinter sich bringen sollte. Bevor er die Kandidatur annahm, holte er heimlich die Zustimmung "seines" Kaisers in Doorn ein. Politisch unerfahren, aber geschickt beraten, gab er sich im Wahlkampf ebenso vaterländisch wie verfassungstreu.

Am 26. April 1925 entschied Hindenburg den zweiten Wahlgang knapp für sich.

Der ehemalige OHL-Chef, prominente Monarchist und Miturheber der Dolchstoßlegende im höchsten Staatsamt der Republik – das war ein schwerer Schlag für die Demokratie. Was die begeisterte Rechte von Hindenburg erwartete, äußerte der DNVP-Fraktionsvorsitzende Kuno Graf Westarp unverblümt am 19. Mai 1925 im Reichstag: "Die 14,6 Millionen, die am 26. April unserer Parole gefolgt sind, haben damit ein Bekenntnis abgelegt, ein Bekenntnis zu dem Gedanken der Führerpersönlichkeit, ein Bekenntnis zu jener Vergangenheit, die vor 1918 lag."

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Hindenburg und die Monarchie

Aus einem Interview Hindenburgs mit einem US-Journalisten vom 21. April 1925

Frage: Im Ausland hat man den Gedanken aufgeworfen, ob durch Ihre Reichspräsidentschaft [...] eine Beunruhigung Europas eintreten könnte?

Antwort: Soweit dabei an militärische Dinge gedacht ist, kann ich versichern, dass mir als altem Soldaten die militärische Ohnmacht Deutschlands viel zu genau bekannt ist, als dass ich kriegerische Abenteuer irgendwie befürworten kann. [...]

Frage: Ihre Kandidatur wird vielfach als eine monarchistische aufgefasst. Wie denken Sie darüber?

Antwort: Einen plötzlichen Wandel der verfassungsmäßigen Grundlagen des Deutschen Reiches halte ich weder für möglich, noch für erwünscht; denn die dabei unvermeidliche Fehde würde dem Programm der inneren Eintracht widersprechen. Meine Herkunft aus einer monarchistischen Welt verleugne ich ebenso wenig, wie Herr Ebert seine Herkunft aus der alten sozialdemokratischen Kampf-atmosphäre verleugnet hat. Ein Reichspräsident, der allen Ständen und Gliedern des Volkes dienen muss, darf aber nicht Vertreter des Kampfgedankens irgendwelcher Klassen sein. Es ist völlig unwahr, dass ich mich mit Doorn über die Annahme meiner Kandidatur verständigt habe. Ich habe in dieser Frage keine Fühlung mit dem Hause Hohenzollern gehabt.

Aus einem Brief Hindenburgs an Wilhelm II. vom 27. November 1927

"Euer Majestät lege ich die inständige Bitte zu Füßen, davon überzeugt sein zu wollen, dass ich wie immer, so auch in den damaligen unglücklichen Tagen lediglich bemüht gewesen bin, Schaden und Nachteil vom Haupte meines Kaisers und Königs abzuwenden. Nur aus diesem Grunde musste ich nach gewissenhafter Prüfung schweren Herzens wohlgemeinten, aber nach Lage der Dinge unausführbaren Ratschlägen Anderer widersprechen und einen, wie ich glaubte, vorübergehenden Aufenthalt in Holland als bestes Mittel für oben erwähnten Zweck empfehlen. Von Euer Majestät missverstanden zu werden, ist mir altem Soldaten der größte Schmerz. Darum bitte ich vorbeugend daran erinnern zu dürfen, dass ich mein jetziges dornenvolles Amt nach langem Sträuben erst übernommen habe, nachdem man mich bei der Ehre fasste, und ich mich der Einwilligung Eurer Majestät versichert hatte. So verbleibe ich bis in ein nicht mehr fernes Grab in Treue und Ehrgefühl als Euer Kaiserlichen und Königlichen Majestät alleruntertänigster v. Hindenburg, Generalfeldmarschall."

Walther Hubatsch (Hg.), Hindenburg und der Staat, Musterschmidt, Göttingen 1965, S. 188 und 46

Hindenburgs Amtsführung

Die von manchen gehegte Hoffnung, der neue Reichspräsident werde zur Festigung der Demokratie beitragen, denn er könne wie kein anderer die Monarchisten mit der Republik versöhnen, erfüllte sich nicht. Im Gegensatz zu Stresemann war und wurde Hindenburg kein "Vernunftrepublikaner". Vielmehr verstand er sich als Statthalter und Interessenvertreter der Hohenzollernmonarchie. Dieses Selbstverständnis – zu dem er sich freilich nur im Kreise seiner Vertrauten bekannte – erschließt sich aus vielen Verhaltensweisen und Amtshandlungen. Drei Beispiele:

• Noch 1925 brachte Hindenburg einen Gesetzentwurf der SPD zur Beschränkung der Ansprüche der 1918 abgesetzten, aber nicht enteigneten Fürstenhäuser auf Rückgabe ihres Vermögens bzw. Entschädigung zu Fall, indem er das Gesetz für verfassungsändernd erklärte. Tatsächlich erlaubte Artikel 153 Abs. 2 WV auch entschädigungslose Enteignungen zum Wohle der Allgemeinheit

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mittels einfacher Gesetze.

• Ein Volksbegehren der KPD zur entschädigungslosen Enteignung der Fürsten, dem sich SPD und Gewerkschaften anschlossen und das in der Bevölkerung auf große Resonanz stieß, nannte der Reichspräsident einen "bedenklichen Verstoß [...] gegen die Grundlagen der Moral und des Rechts " und duldete die Verwendung dieses Zitats auf den Plakaten der Gegner des Volksbegehrens (DNVP, BVP, DVP, Zentrum und Kirchen), was einem Amtsmissbrauch gleichkam. Dennoch stimmten beim Volksentscheid am 20. Juni 1926 14,5 Millionen Bürger für die Fürstenenteignung. Die erforderlichen 21 Millionen Stimmen wurden aber nicht erreicht.

• Ende 1926 verhinderte Hindenburg ein Ausführungsgesetz zum Artikel 48 WV, das seine Diktaturvollmachten einschränken sollte. Gerade im Notfall, so schrieb er am 26. November an Reichskanzler Marx, sei es geboten, dem Reichspräsidenten "freie Hand zu lassen in der Wahl und in der Durchführung der [...] Abwehrmaßnahmen". Indem er vor "schweren Kämpfen im Reichstag" warnte, drohte er mit der Mobilisierung aller konservativ gesinnten Abgeordneten gegen den Gesetzentwurf.

Wenn Hindenburg es nicht für seine Aufgabe hielt, vorbehaltlos für die parlamentarisch-demokratische Republik einzutreten, so wurde er darin von seinen engsten Beratern bestärkt. Zu dieser "Kamarilla " gehörten u. a. Otto Meissner, Staatssekretär im Reichspräsidentenpalais, Elard von Oldenburg- Januschau, ein prominenter ostpreußischer Gutsbesitzer, und Hindenburgs Sohn Oskar, ein Reichswehroberst. Diese Präsidentenberater verfolgten gemeinsame politische Ziele: Überwindung des Versailler Vertrages (vor allem der Entwaffnungs- und Reparationsvorschriften), Wiederherstellung Deutschlands mindestens in den Grenzen von 1914, Beseitigung der Demokratie und des Einflusses der politischen Linken, Rückkehr zur Monarchie.

Dennoch schien die politische Stabilisierung weitere Fortschritte zu machen. So bekannte sich der angesehene Braunkohlen-Industrielle und stellvertretende Vorsitzende des RDI, Paul Silverberg, am 6. September 1926 in einer Aufsehen erregenden Rede auf einer RDI-Tagung klar zur Republik und empfahl sogar eine Regierungsbeteiligung der SPD.

Als aber der amtsmüde gewordene Reichswehrminister Geßler am 14. Januar 1928 zurücktrat, erlitt die Demokratie wieder einen Rückschlag: Als Nachfolger akzeptierte die amtierende Bürgerblock- Regierung Hindenburgs Wunschkandidaten, den parteilosen Generalquartiermeister a. D. Wilhelm Groener. Von jetzt an befanden sich das Reichspräsidentenamt und das Reichswehrministerium sozusagen in der Hand der letzten kaiserlichen Obersten Heeresleitung. Durch die Förderung seines alten und neuen Chefs Groener stieg der frühere Major im Hauptquartier der OHL, Oberst Kurt von Schleicher, innerhalb weniger Jahre militärisch zum Generalleutnant und Leiter des Ministeramts auf; politisch wurde er als Vertrauter Hindenburgs der strategische Kopf der "Kamarilla".

Reichstagswahl 1928

Bei den Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928 errangen die Sozialdemokraten einen klaren Wahlsieg, während die Deutschnationalen herbe Verluste erlitten. Dass die SPD als stärkste demokratische Partei in die Regierungsverantwortung zurückkehrte, während die stärkste republikfeindliche Partei, die DNVP, in die Opposition wechselte, schien die Republik zu festigen. Beunruhigend wirkten jedoch die beträchtlichen Einbußen der Mittelparteien, während die KPD und die Splitterparteien Mandate hinzugewannen. Die NSDAP, deren Parteiapparat Hitler nach seiner vorzeitigen Haftentlassung im Dezember 1924 wieder aufgebaut und reichsweit ausgedehnt hatte, erhielt nur zwölf Parlamentssitze.

Nach langwierigen Verhandlungen bildete der neue Reichskanzler Hermann Müller (SPD) eine "Große Koalition" (SPD, Zentrum/BVP, DDP, DVP). Zwar verfügte sie im Reichstag über eine breite Mehrheit, aber in die Zusammenarbeit der Regierungsparteien waren quasi mehrere "Soll-Bruchstellen

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" eingebaut:

• Die SPD-Minister hatten in ihrer eigenen Partei keinen leichten Stand. Im Kabinett beschlossen sie den von ihren Koalitionspartnern verlangten Bau des neuen Panzerkreuzers A mit; im Reichstag mussten sie am 16. November 1928 mit ihrer Fraktion sowie der KPD dagegen stimmen. (Der Bau wurde mit den Stimmen aller Mittel- und Rechtsparteien von der DDP bis zur NSDAP beschlossen.) Hinzu kamen immer heftigere Angriffe der Kommunisten: Seit 1929 versuchte die KPD, den ADGB durch eine "Revolutionäre Gewerkschafts-Opposition" (RGO) zu spalten; außerdem beschimpfte sie die in Preußen und im Reich regierenden Sozialdemokraten als " Sozialfaschisten" und erklärte sie zu ihrem "Hauptfeind". So geriet die SPD unter einen Rechtfertigungs- und Erfolgszwang; sie musste klar erkennbar die Interessen der Arbeitnehmer vertreten.

• Demgegenüber fühlte sich die DVP vorrangig den Interessen der Großindustrie verpflichtet – zum Leidwesen ihres Vorsitzenden Gustav Stresemann, der auf sozialen Ausgleich bedacht war. Nur mit großer Mühe hatte er die Widerstände in seiner Partei gegen eine Koalition mit der SPD überwunden. Als der überarbeitete und gesundheitlich angeschlagene Stresemann am 3. Oktober 1929 im Alter von nur 51 Jahren starb und Anfang Dezember der industrienahe Ernst Scholz an die Spitze der Partei rückte, verschärfte sich sogleich der wirtschafts- und sozialpolitische Streit im Kabinett.

• Auch im Zentrum hatte in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ein Rechtstrend eingesetzt, durch den der SPD-freundliche Arbeitnehmerflügel an Einfluss verlor. Deshalb konnte sich bei der Neuwahl des Parteivorsitzenden im Dezember 1928 der erzkonservative Prälat Ludwig Kaas gegen den christlichen Gewerkschafter Adam Stegerwald durchsetzen.

• Unauffälliger verlief das allmähliche Abdriften der DDP nach rechts, mit dem die Partei unter ihrem langjährigen Vorsitzenden Erich Koch-Weser auf ihren schleichenden Niedergang reagierte. Das Ausmaß der Rechtsentwicklung in der DDP wurde erst 1930 voll erkennbar.

Kampagne gegen den Young-Plan

Im Herbst 1929 entfesselte die deutsche Rechte, die die außenpolitischen Erfolge der Republik beharrlich ignorierte, gegen den Young-Plan die größte politische Propagandaaktion in der Geschichte der Weimarer Republik. Erstmals arbeitete dabei die seit Ende Oktober 1928 von dem Großverleger Alfred Hugenberg geführte DNVP mit Hitlers NSDAP zusammen. Hugenberg ließ seine auflagenstarken Zeitungen fast täglich Hetzartikel gegen den Young-Plan drucken – und immer öfter wohlwollende Berichte über die Nationalsozialisten. Auch finanzierte er den von DNVP, "Stahlhelm " (Bund der Frontsoldaten) und NSDAP gegründeten "Reichsausschuss" für ein Volksbegehren gegen den Young-Plan, der einen Entwurf für ein "Gesetz gegen die Versklavung Deutschlands" vorlegte.

Die erforderliche Unterschriftenzahl wurde knapp erreicht; beim Volksentscheid vom 22. Dezember 1929 stimmten dann nur 5,8 Millionen Wähler (statt der erforderlichen 21 Millionen) dafür. Die große Mehrheit der Bevölkerung sah infolge des wirtschaftlichen Aufschwungs seit 1924 die Reparationsfrage mittlerweile gelassen. Am 12. März 1930 wurden die Young-Plan-Gesetze – trotz anhaltender Kritik von rechts, die im demonstrativen Rücktritt des Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht gipfelte – von der Großen Koalition (mit Ausnahme der BVP) im Reichstag beschlossen.

Als Hauptnutznießerin der fehlgeschlagenen Anti-Young-Plan-Kampagne erwies sich die NSDAP. Mit Hugenbergs Hilfe hatte Hitler es verstanden, sich reichsweit ins Gespräch zu bringen und nationalistisch zu profilieren. Auch außerhalb Bayerns besaßen die NSDAP-Führer jetzt Zutritt zu den "besseren Kreisen".

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Kulturelle Blütezeit

Das Kriegs- und Revolutionserlebnis, der Durchbruch der Demokratie, aber auch der technische Fortschritt und nicht zuletzt amerikanische Einflüsse (Jazz-Musik, Filmkunst) gaben der kulturellen Entwicklung kräftige Impulse. Die Weimarer Republik setzte in der kurzen Zeit ihrer Existenz in beispielloser Weise künstlerische Energie und Kreativität frei. Kunsthistoriker zählen die Jahre zwischen 1918 und 1933 zur "Klassischen Moderne", denn die Vielfalt und Modernität ihrer Kunst- und Kulturformen – zwischenzeitlich vom NS-Regime unterdrückt – wirkten nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die Gegenwart hinein inhaltlich und formal anregend oder sogar prägend.

Die Weimarer Kultur blieb – bei fließenden Grenzen – stets mehrfach gespalten: in anspruchsvolle Kultur und Massenkultur, in avantgardistische und traditionalistische Strömungen, in proletarisch- revolutionäre, linksliberale, konservative und völkische bzw. nationalsozialistische Richtungen. Demzufolge wurden die politischen Auseinandersetzungen auch mit den Mitteln der Kunst ausgetragen.

Anspruchsvolle Kultur ereignete sich hauptsächlich auf den Feuilletonseiten der angesehenen liberalen, überregio-nalen Tageszeitungen ("Vossische Zeitung", "Frankfurter Zeitung"), in literarisch- politischen Zeitschriften ("Die Weltbühne", "Neue Rundschau", "Die Linkskurve"), in Malerei und Architektur, Sprech- und Musiktheater, Konzert, Revue und , Romanen und Gedichten. Expressionismus und Neue Sachlichkeit, aber auch klassische Traditionen und proletarisch- revolutionäre Kunst fanden dort ihr Publikum. Massenkultur fand vor allem im lokalen und regionalen Zeitungswesen, in Fortsetzungs- und "Groschenromanen", in den Fotoreportagen der neuartigen Illustrierten, in Schlager, Film und Rundfunk und in sportlichen Großveranstaltungen statt.

Den strahlenden Mittelpunkt des kulturellen Lebens bildete die Reichs- und preußische Landeshauptstadt Berlin, wo das Preußische Ministerium für Erziehung und Wissenschaft und die Preußische Akademie der Künste mit Kompetenz und Geld die moderne Kunst förderten.

Massenmedien

Unter den sich rasant entfaltenden Massenmedien behielt die Presse ihre Spitzenstellung: 1928 erschienen 3356 Tageszeitungen, davon 147 in Berlin. Nur 26 erreichten eine Auflage von mehr als 100.000 Exemplaren, die "Berliner Illustrierte Zeitung" ("B. I. Z.") dagegen 1930 fast 1,9 Millionen.

In der Herstellung und Verbreitung von Filmen aller Art wurde Deutschland in Europa führend. Zahlreiche deutsche Produktionen erlangten internationale Anerkennung. Das Kinopublikum bestand zum größten Teil aus Jugendlichen, Arbeitern und kleinen Angestellten. Bereits 1925 kauften täglich zwei Millionen Menschen eine Kinokarte. Im Zuge der Umstellung auf den Tonfilm ab 1929 gewannen die im Beiprogramm gezeigten "Wochenschauen" an Attraktivität.

Wirtschaftskonzentration und steigende Kosten spiegelten sich auch in der Filmproduktion wieder: Die Zahl der Filmgesellschaften ging von 1922 bis 1929/30 von 360 auf drei (Ufa, Tobis, Terra) zurück, die der jährlich gedrehten Filme von 646 auf etwa 120. Anders als Rundfunk und Printmedien unterlag der Film einer staatlichen Zensur (Reichslichtspielgesetz vom 12. Mai 1920); viele Weimarer Politiker misstrauten den suggestiven Wirkungen dieses Mediums.

Der Rundfunk brachte die Kultur sogar direkt ins Haus. Anfang 1924 gab es erst 10.000 Rundfunkteilnehmer, 1932 bereits über vier Millionen (etwa ein Viertel der Haushalte), denen die Sender der 1926 gegründeten "Reichs-Rundfunk-Gesellschaft" Musikprogramme, Vorträge, Reportagen und Dichterlesungen anboten. Hier entstand auch das Hörspiel als neue literarische Gattung, durch die zahlreiche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts erstmals bekannt wurden.

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Neue Sachlichkeit

Neue Sachlichkeit war eine für die zweite Hälfte der 1920er Jahre besonders typische Kunstrichtung, die – beeinflusst von der Massenkultur und den neuen technischen Medien Film und Rundfunk – das damalige Lebensgefühl der Menschen, ihr nüchternes Streben nach Bewältigung des Alltags, auszudrücken versuchte. Der Begriff geht auf eine Ausstellung moderner Malerei in Mannheim 1925 zurück. Künstler wie Max Beckmann, George Grosz, Otto Dix und andere präsentierten dort richtungweisende neue Arbeiten: gegenständliche Malerei mit alltäglichen Themen (oft Stillleben und Porträts). Darin zeigte sich eine Abkehr vom Expressionismus mit seinen Traum- und Phantasiewelten, verzerrten Formen und realitätsfernen Farbgebungen.

Da es zwischen den verschiedenen Sparten der Kunst strukturelle Entsprechungen – gemeinsame Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen – gibt, wurde Neue Sachlichkeit bald zum allgemeinen Begriff für eine konkrete, distanzierte künstlerische Auseinandersetzung mit der "greifbaren Wirklichkeit", die dem Inhalt den Vorrang vor der Form einräumte und das Schlichte gegenüber dem Ornamentalen bevorzugte.

Bauhaus

Zur führenden neusachlichen Künstlerschule wurde das 1919 in Weimar gegründete, 1925 nach Dessau umgezogene "Bauhaus". Es strebte eine Zusammenführung von Architektur, Malerei und angewandter handwerklicher Kunst an. Neben Architekten (Walter Gropius, Hannes Meyer, Ludwig Mies van der Rohe) gehörten ihm daher auch Maler (Wassily Kandinsky, Paul Klee, Lyonel Feininger) und Gebrauchsdesigner (Marcel Breuer, Marianne Brandt) an; der Komponist Paul Hindemith und andere Dozenten hielten Gastvorlesungen. Bauhaus-Architektur zeichnete sich durch schlichte, funktionale Form, Stahl und Beton, offenes Skelett und große Glasflächen aus. Beispiele sind der Bauhaustrakt in Dessau, die Weißenhofsiedlung in Stuttgart und die Hufeisensiedlung in Berlin-Britz. Bauhauskünstler entwarfen moderne, formschöne und funktionale Einrichtungs- und Gebrauchsgegenstände (zum Beispiel Sessel, Lampen, Küchenmöbel). Neusachliche Mode befreite die Frauen von Dutt, Korsett und fußlangen Röcken, die Männer von Stehkragen ("Vatermörder"), gestärkter Hemdbrust und Bart.

Theater und Literatur

Im Theater begann 1925 die Abkehr von expressionistischer Wirklichkeitsverzerrung und Sprachverstümmelung mit Carl Zuckmayers gefeiertem Volksstück "Der fröhliche Weinberg" (1925). Es entwickelte sich das neusachliche Zeit- oder Gesellschaftsstück, zum Beispiel Zuckmayers berühmte antimilitaristische Tragikomödie "Der Hauptmann von Köpenick" (1930).

Neusachliche Romane griffen historische Themen auf (Lion Feuchtwangers "Jud Süß" 1925), verarbeiteten kritisch das Weltkriegserlebnis (Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues" 1929) oder spiegelten soziale Probleme (Hans Falladas "Kleiner Mann, was nun?" 1932) wider. Auch Erich Kästners heiter-ernste Kinderbücher ("Emil und die Detektive" 1929, "Pünktchen und Anton" 1931) lassen sich hier anführen. In Alfred Döblins Großstadtroman "Berlin Alexanderplatz" vermischten sich Einflüsse des Expressionismus, der Neuen Sachlichkeit, amerikanischer Autoren (Upton Sinclair, John Dos Passos) und des Films (Schnitttechnik). Döblin nutzte beispielhaft alle Vermarktungsmöglichkeiten: 1929 erschien das Buch, 1930 das Hörspiel, 1931 der Film.

Die Lyrik der Neuen Sachlichkeit war vor allem "Gebrauchslyrik" (Kurt Tucholsky): Humorvolle, satirische Verse über Liebe, Alltag und Politik von Bertolt Brecht, Kästner, Walter Mehring, Joachim Ringelnatz, Kurt Tucholsky, Mascha Kaléko und Werner Finck; als Gedichte oder Lieder, Bänkelsänge oder Balladen, insbesondere für das Kabarett, das sich großer Beliebtheit erfreute.

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Musik und Film

Entsprechend handelte es sich bei neusachlicher Musik um "Gebrauchsmusik" (Hindemith): Antiromantisch, nüchtern bis verspielt, klar strukturiert, vom amerikanischen Jazz beeinflusst, meist geschrieben für Varieté, Kabarett, Kino und Revue. Besonders berühmt wurde die "Dreigroschenoper " (1928) von Bertolt Brecht (Text) und Kurt Weill (Musik). Im Bereich der musikalischen Massenkultur entstand der deutsche Schlager – zum Teil mit witzigen Nonsenstexten –, durch den besonders die seit 1928 auftretende Gesangsgruppe "Comedian Harmonists" ("Veronika, der Lenz ist da", " Wochenend´ und Sonnenschein") rasch populär wurde. Von den Kapellen und Grammofonen in Cafés, Tanzlokalen und Nachtklubs hörte man zunehmend Jazz-Musik; man tanzte Shimmy und Charleston.

Auch im Film vollzog sich ein Wandel von den düsteren Visionen und schrillen Kulissen des Expressionismus (wie im "Kabinett des Dr. Caligari" von Robert Wiene 1919/20) zur Neuen Sachlichkeit. Deren wichtigster Regisseur wurde Georg Wilhelm Pabst: "Die freudlose Gasse" (1925) schilderte den moralischen Verfall von Menschen durch das Inflationselend.

Proletarisch-revolutionäre Kunst

Eine linksradikale Variante der Neuen Sachlichkeit verkörperte die proletarisch-revolutionäre Kunst. Sie entstand vor allem im 1928 gegründeten KPD-nahen "Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands", der die Literaturzeitschrift "Die Linkskurve" herausgab. Ihm gehörten Brecht, Johannes R. Becher (später DDR-Kulturminister), Anna Seghers, Friedrich Wolf, Theodor Plivier und andere Autoren an. Neben reinen Propagandawerken zur Verherrlichung des Kommunismus entstanden künstlerisch beachtliche sozialkritische Werke, wie Seghers´ Erzählung " Aufstand der Fischer von St. Barbara" (1928) oder Pliviers Roman "Der Kaiser ging, die Generäle blieben" (1932). Brechts kapitalismuskritischer Film "Kuhle Wampe" (1932) wurde 1933 von den Nationalsozialisten sogleich verboten.

Konservativer Antimodernismus

Wie Nationalkonservative und Rechtsradikale die Weimarer Demokratie als "undeutsches", von den Siegermächten aufgezwungenes politisches System hassten und bekämpften, so lehnten sie die moderne Kunst als "Amerikanismus" ab oder brandmarkten sie gar als "Kulturbolschewismus". 1928 gründete die NSDAP einen "Kampfbund für deutsche Kultur", der eine Rückbesinnung auf deutsche Klassik, Heimatkunst und Volksmusik forderte. Wo Hitlers Partei an Landesregierungen beteiligt wurde, führte sie sogleich einen Kulturkampf. In Thüringen ließ sie Ende 1930 siebzig Werke der modernen Malerei aus dem Weimarer Schloss entfernen. In Anhalt vertrieb sie im September 1932 das Bauhaus aus Dessau; nach Berlin umgesiedelt, musste es sich 1933 selbst auflösen.

Konservative Intellektuelle traten mit einflussreichen antidemokratischen Schriften hervor. In Ernst Jüngers viel gelesenem Kriegstagebuch "In Stahlgewittern" (1920) wurde das Soldatentum als wahre Berufung des Mannes, der Krieg als schicksalhafte Prüfung eines Volkes hingestellt. Oswald Spenglers geschichtsphilosophisches Werk "Der Untergang des Abendlandes" (1918/1922), das in den meisten bildungsbürgerlichen Haushalten stand, deutete Kulturen als "höchste Lebewesen", zwischen denen es "immer nur um das Leben, den Triumph des Willens zur Macht" gegangen sei. Der prominente Staatsrechtler und Gegner des Parlamentarismus Carl Schmitt definierte Politik als kompromisslosen Kampf zwischen "Freund" und "Feind" ("Der Begriff des Politischen" 1927). Hans Grimms Roman " Volk ohne Raum" (1926) prägte und propagierte bereits mit seinem Titel nationalistisches und nationalsozialistisches Gedankengut. "Jungkonservative" Theoretiker entwickelten die Idee einer " konservativen Revolution": Da die Weimarer "Demoplutokratie" (Edgar Jung) die ewigen Werte des Zusammenhangs zwischen Mensch, Natur und Gott zerstört habe, müsse der Konservatismus selbst revolutionär werden, um eine bewahrenswerte Ordnung erst wiederherzustellen. Die ideologische Schnittmenge zwischen Rechtsintellektuellen, Jungkonservativen und Nationalsozialisten bestand vor allem in den gemeinsamen Zielbegriffen der ständisch gegliederten "Volksgemeinschaft", des

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 115 autoritären politischen "Führers" und des nichtmarxistischen "nationalen Sozialismus". Solches Ideengut erreichte einen beträchtlichen Teil der konservativen Oberschicht in Militär, Bürokratie, Hochschulen und Wirtschaft, der unter anderem im "Deutschen Herrenklub" organisiert war.

Zweifellos schlugen dem parlamentarisch-demokratischen System der Weimarer Republik und seinen Repräsentanten auch von links Abneigung und Hass entgegen. Priesen die Theoretiker und Propagandisten der KPD unermüdlich das Vorbild der Sowjetunion, so reimte man auf dem linken Flügel der SPD: "Die Republik, das ist nicht viel – der Sozialismus bleibt das Ziel!" Unabhängige Linksintellektuelle, namentlich der Kreis um die von Carl von Ossietzky herausgegebene Zeitschrift " Die Weltbühne", übten ätzende Kritik an politischen Missständen, persönlichen Unzulänglichkeiten einzelner Politiker und am demokratischen Kompromiss. Ihr Beitrag zur Destabilisierung der Republik war jedoch wesentlich geringer, da sie im Gegensatz zum Rechtsintellektualismus nicht das politische Denken derjenigen Kräfte beeinflussten, die ab 1930 die Regierungsgewalt zur Zerstörung der Demokratie missbrauchten.

Massenwirksamer als das Schrifttum der politischen Rechten wurden auffällige Veränderungen in der Filmkultur seit 1930. Zwar traten manche Filme nach wie vor für humane Werte ein, etwa "M – eine Stadt sucht einen Mörder" von Fritz Lang (1930/31) oder die (von der Zensur verbotene) deutsche Fassung der amerikanischen Remarque-Verfilmung "Im Westen nichts Neues" (1932). Aber zum einen wurden zunehmend reine Unterhaltungsfilme gedreht, allen voran "Der Blaue Engel" von Josef von Sternberg (1930), der Marlene Dietrich zum Weltstar machte. Zum anderen leisteten manche populäre Filme durch bestimmte Tendenzen dem Nationalsozialismus Vorschub: "Das Flötenkonzert von Sanssouci" (1930) und "Barberina, die Tänzerin von Sanssouci" (1931) verherrlichten den Krieg und den patriarchalischen Staatslenker. "Morgenrot" (1932/33), eine dramatische U-Boot-Episode aus dem Ersten Weltkrieg, feierte den soldatischen Heldentod.

Juden in Kultur und Wissenschaft

Das kulturelle Leben der Weimarer Republik war den von antisemitischen Ressentiments erfüllten Nationalkonservativen und Nationalsozialisten schon deshalb verhasst, weil es ihnen als von Juden beherrscht erschien. Richtig ist, dass sich die herausragenden Beiträge jüdischer Deutscher aus der Weimarer Kultur nicht wegdenken lassen. Josef von Sternberg, drei der sechs "Comedian Harmonists ", Arnold Schönberg und Kurt Weill, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Kurt Tucholsky und Carl Zuckmayer sind nur die prominentesten Namen. Auch in der Wissenschaft spielten sie eine große Rolle. Fünf von 15 deutschen Nobelpreisträgern waren Juden: Die Physiker Albert Einstein (1921), James Franck (1925) und Gustav Hertz (1925) sowie die Mediziner Otto Meyerhof (1922) und Otto H. Warburg (1931). Indem das NS-Regime fast alle jüdischen Künstler und Wissenschaftler – wie auch viele ihrer links stehenden nichtjüdischen Kollegen – ins Exil trieb, aus dem die meisten von ihnen nicht mehr zurückkehrten, fügte es der deutschen Kultur einen unermesslichen Verlust zu.

Republikferne des Bürgertums

Wir lebten im Widerspruch, ohne besondere Zuneigung zu der immer wieder gedemütigten Republik, aber voller Sehnsucht nach Würde, Größe und Lebenssinn. [...] Die Versuchung zum Selbstbetrug, zur Flucht ins Illusionäre war groß.

[...] Es war nicht leicht, sich in jenen chaotischen Jahren nach 1918 zu orientieren, einen verlässlichen Halt zu finden. Man war nicht mehr Untertan SM (Seiner Majestät – Anm. d. Red.), man war Bürger einer Republik. Der Pflichtmensch, der in unverbrüchlichem Gehorsam, in streng geregelter militärischer und ziviler Disziplin nach einem sakrosankten moralischen Kodex unter dem Doppelgestirn von Thron und Altar sein Lebenspensum absolvierte – dieser "Pflichtmensch" sah sich mit einem Mal einer Freiheit ausgesetzt, die ihm aus Willkür, Unordnung, Sittenlosigkeit zu bestehen schien.

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Das bis dahin in einem übersichtlichen sozialen Raster gegliederte Volk, das im Wesentlichen aus Herrschaften und "Leuten", aus Standespersonen und Dienstpersonal, aus privilegierten Befehlshabern und abhängigem Proletariat bestand, hatte sich in eine anscheinend diffuse Masse von "Stimmberechtigten" verwandelt, die nach dem Verständnis der "besseren" Gesellschaft doch nur "Stimmvieh" waren, nach wie vor unmündig, der Führung bedürftig. Aber wo waren die zur Führung Legitimierten, die Garanten einer restaurierten gesellschaftlichen und sittlichen Ordnung? SM, soviel man auch an ihm auszusetzen hatte, war immerhin "von Gottes Gnaden" gewesen. Wer von den neuen Männern hatte die "Gnade"? [...]

Man liebäugelte aber auch mit den aus dem Kriege übrig gebliebenen Freikorps und befreundete sich schließlich mit den neuen militanten Formationen der NSDAP. Auch die Putschisten im Stile von Kapp durften auf Wohlwollen in der bürgerlichen Gesellschaft rechnen. Man war primär an der Ordnung, am formalen Recht interessiert; Gerechtigkeit rangierte an zweiter Stelle und wurde zumeist als Gleichmacherei missverstanden, als Nivellierung, als Niedergang der bürgerlichen Kultur.

Ich selbst, gespeist von der geistigen Tradition der vorrevolutionären bürgerlichen Gesellschaft, ließ mich in jenen turbulenten Jahren allzu leicht bezaubern von formaler Größe, ästhetischer Ordnung, moralischer Disziplin. Von daher erklärt es sich wohl, dass ich, vorübergehend, vom Glanz des Stahlgewitters Ernst Jüngers geblendet und von seinen Mythologimena betört wurde. Ein Schulfreund hatte mich angesteckt. Wir schwafelten viel vom "Heldischen", vom "Heroischen". Der Krieg, die Niederlage wurde von uns nicht reflektiert, sondern als "nibelungischer" Untergang mythologisiert. Wir träumten vom verborgenen Reich und einem heimlichen geistigen Führer, der auf seine Stunde wartete. [...]

Mein politisches Interesse war unterentwickelt. In der Zeitung, der nationalliberalen Täglichen Rundschau, die damals zweimal am Tage erschien, interessierte mich ausschließlich der kulturelle Teil, das Feuilleton. Auch meinem Freundeskreis fehlte das politische Organ. Wir waren, unserer Herkunft nach, selbstverständlich "national", aber ohne bewusst staatsbürgerliche Gesinnung; zu fein für die banale Demokratie. Wir verkannten, um nicht zu sagen verachteten, die sich im Alltagsgeschäft beschmutzenden Demokraten. Man konnte damals wahrlich keinen Ruhm und nur wenig Ehre im Existenzkampf der von allen Seiten, von den radikalen Rechten wie von den extrem Linken, befehdeten Republik gewinnen. [...]

Heinz Flügel, "Wir träumten vom verborgenen Reich", in: Rudolf Pörtner (Hg.), Alltag in der Weimarer Republik. Erinnerungen an eine unruhige Zeit, Econ, Düsseldorf 1990, S. 175 ff.

Krieg als Bewährungsprobe?

Noch wuchtet der Schatten des Ungeheuren über uns. Der gewaltigste der Kriege ist uns noch zu nahe, als daß wir ihn ganz überblicken, geschweige denn seinen Geist sichtbar auskristallisieren können. Eins hebt sich indes immer klarer aus der Flut der Erscheinungen: Die überragende Bedeutung der Materie. Der Krieg gipfelte in der Materialschlacht; Maschinen, Eisen und Sprengstoff waren seine Faktoren. Selbst der Mensch wurde als Material gewertet. Die Verbände wurden wieder und wieder an den Brennpunkten der Front zur Schlacke zerglüht, zurückgezogen und einem schematischen Gesundungsprozeß unterworfen. "Die Division ist reif für den Großkampf."

Das Bild des Krieges war nüchtern, grau und rot seine Farben; das Schlachtfeld eine Wüste des Irrsinns, in der sich das Leben kümmerlich unter Tage fristete. Nachts wälzten sich müde Kolonnen auf zermahlenen Straßen dem brandigen Horizont entgegen. "Licht aus!" Ruinen und Kreuze säumten den Weg. Kein Lied erscholl, nur leise Kommandoworte und Flüche unterbrachen das Knirschen der Riemen, das Klappern von Gewehr und Schanzzeug. Verschwommene Schatten tauchten aus den Rändern zerstampfter Dörfer in endlose Laufgräben.

Nicht wie früher umrauschte Regimentsmusik ins Gefecht ziehende Kompagnien. Das wäre Hohn

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 117 gewesen. Keine Fahnen schwammen wie einst im Pulverdampf über zerhackten Karrees, das Morgenrot leuchtete keinem fröhlichen Reitertage, nicht ritterlichem Fechten und Sterben. Selten umwand der Lorbeer die Stirn des Würdigen.

Und doch hat auch dieser Krieg seine Männer und seine Romantik gehabt! Helden, wenn das Wort nicht wohlfeil geworden wäre. Draufgänger, unbekannte, eherne Gesellen, denen es nicht vergönnt war, vor aller Augen sich an der eigenen Kühnheit zu berauschen. Einsam standen sie im Gewitter der Schlacht, wenn der Tod als roter Ritter mit Flammenhufen durch wallende Nebel galoppierte. Ihr Horizont war der Rand eines Trichters, ihre Stütze das Gefühl der Pflicht, der Ehre und des inneren Wertes. Sie waren Überwinder der Furcht; selten ward ihnen die Erlösung, dem Feinde in die Augen blicken zu können, nachdem alles Schreckliche sich zum letzten Gipfel getürmt und ihnen die Welt in blutrote Schleier gehüllt hatte. Dann ragten sie empor zu brutaler Größe, geschmeidige Tiger der Gräben, Meister des Sprengstoffs. Dann wüteten ihre Urtriebe mit kompliziertesten Mitteln der Vernichtung.

Doch auch wenn die Mühle des Krieges ruhiger lief, waren sie bewundernswert. Ihre Tage verbrachten sie in den Eingeweiden der Erde, vom Schimmel umwest, gefoltert vom ewigen Uhrwerk fallender Tropfen. Wenn die Sonne hinter gezackten Schattenrissen von Ruinen versank, entklirrten sie dem Pesthauch schwarzer Höhlen, nahmen ihre Wühlarbeit wieder auf oder standen, eiserne Pfeiler, nächtelang hinter den Wällen der Gräben und starrten in das kalte Silber zischender Leuchtkugeln. Oder sie schlichen als Jäger über klickenden Draht in die Öde des Niemandslandes. Oft zerrissen jähe Blitze das Dunkel, Schüsse knallten, und ein Schrei verwehte ins Unbekannte. So arbeiteten und kämpften sie, schlecht verpflegt und bekleidet, als geduldige, eisenbeladene Tagelöhner des Todes. [...]

In Stahlgewittern. Vorwort, Hannover 1920, in: Ernst Jünger. Politische Publizistik 1919-1933. Hg., kommentiert und mit einem Nachwort von Sven Olaf Berggötz, Klett-Cotta, Stuttgart 2001, S. 9 f.

Dieser Text ist zuerst in den Informationen zur politischen Bildung (http://www.bpb.de/ izpb/55949/vom-kaiserreich-zur-republik-1918-19) Heft 261 erschienen.

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Zerstörung der Demokratie 1930-1933

Von Reinhard Sturm 23.12.2011 Reinhard Sturm, geboren 1950, studierte von 1971 bis 1978 Geschichte, Politikwissenschaft und Anglistik an der Georg-August- Universität Göttingen. 1973/74 war er ein Jahr als German Assistant an einer Schule in England tätig. Nach dem Vorbereitungsdienst 1978 bis 1980 in Salzgitter arbeitete er als Gymnasiallehrer bis 1990 in Göttingen, seither in Hildesheim. Seit 1990 bildet er als Studiendirektor und Fachleiter für Geschichte am Studienseminar Hildesheim für das Lehramt an Gymnasien angehende Geschichtslehrer/innen aus. Er hat wissenschaftliche und didaktische Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, zur Weimarer Republik, zum Nationalsozialismus und zur deutschen Nachkriegsgeschichte sowie zur Geschichtsdidaktik veröffentlicht. Kontakt: [email protected] (mailto:[email protected])

Der Börsencrash läutet das Ende der Weimarer Republik ein. 1928 noch eine Splitterpartei, wandelt sich die NSDAP unter der Führung Adolf Hitlers zur Massenbewegung, die 1933 die Macht in Deutschland übernimmt und fortan jede demokratische Grundlage vernichtet.

Wirtschaftskrise

Am 24. Oktober 1929 begann ein dramatischer Verfall der Aktienkurse an der New Yorker Börse (" Schwarzer Freitag"). Ursache waren jahrelange Überinvestitionen in der Industrie und damit ein Überangebot an Waren, mit dem die Nachfrage nicht Schritt gehalten hatte. Binnen kurzem weitete sich die amerikanische Krise aufgrund der internationalen Finanz- und Wirtschaftsverflechtungen zur größten Krise der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert aus. Sie hat die Errichtung der NS-Diktatur 1933 keineswegs verursacht, aber doch mit ermöglicht und beschleunigt.

Das Deutsche Reich war, nach den USA, am stärksten von der Krise betroffen. Trotz eines sich schon 1928 ankündigenden Nachfragerückgangs hatte die Industrie auch 1929 noch investiert. Dadurch entstanden Überkapazitäten, zumal bald alle Industrieländer die bereits bestehenden Zollschranken im Zuge der Krise erhöhten. Das Überangebot an Waren führte zu einer Produktionsdrosselung; Kurzarbeit und Entlassungen sowie Firmenzusammenbrüche waren die Folge. Von 1928 bis 1931 verdoppelte sich die Zahl der jährlichen Konkurse. Im Winter 1929/30 gab es bereits mehr als drei Millionen Arbeitslose, die materiell weitaus schlechter abgesichert waren als heute. Es entstand ein Teufelskreis aus sich verringernder Kaufkraft, zurückgehender Nachfrage, sinkender Produktion und weiteren Entlassungen. In der Landwirtschaft konnten viele kleine und mittlere Bauern ihre Schulden nicht mehr abbezahlen. Es kam zu Zwangsversteigerungen, gegen die sich ein verzweifelter bäuerlicher Protest formierte. Schon 1929 trat die schleswig-holsteinische "Landvolkbewegung" durch tätliche Angriffe auf Gerichtsvollzieher und Polizisten sowie durch Bombenattentate auf staatliche Gebäude in Erscheinung.

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 119 Bruch der Großen Koalition

Die Massenarbeitslosigkeit überforderte rasch die Finanzmittel der Arbeitslosenversicherung. In der Regierung kam es zu einem anhaltenden, erbitterten – durch die gemeinsame Verabschiedung des Young-Planes am 12. März nur kurz unterbrochenen – Koalitionsstreit über die Lösung des Problems. Im Kern ging es um die Frage: Sollten die Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern erhöht oder die Leistungen für die Arbeitslosen gekürzt werden? Die industrienahe DVP wollte zusätzliche Kosten der Arbeitgeber infolge erhöhter Beiträge vermeiden. Die Arbeitnehmerpartei SPD lehnte es ab, das ohnehin geringe Arbeitslosengeld zu kürzen.

Nach mehreren gescheiterten Lösungsansätzen unterbreitete schließlich der Zentrums- Fraktionsvorsitzende Heinrich Brüning am 27. März 1930 einen Kompromissvorschlag, der die Hauptentscheidung – Beitragserhöhungen oder Leistungskürzungen – vorläufig vertagte. Die DVP stimmte zu, während die SPD ablehnte, weil sie mit der Arbeitslosenversicherung die Substanz des Sozialstaates in Gefahr sah. So blieb dem Kabinett Müller am 27. März 1930 nur der Rücktritt.

Dem Anschein nach war die Große Koalition an der Unbeweglichkeit der SPD in einer an sich lösbaren Streitfrage zerbrochen. Als Hindenburg jedoch schon drei Tage später, ohne die üblichen Koalitionsverhandlungen, den neuen Reichskanzler – nämlich Heinrich Brüning – ernannte, lag der Rückschluss nahe, dass der Bruch der Großen Koalition auf langfristiger Planung beruhte, der die SPD allerdings mit ihrer kompromisslosen Haltung entgegengekommen war. Ihre bisherigen Koalitionspartner mussten eingeweiht gewesen sein, denn Brüning ersetzte lediglich die drei SPD- Minister durch Vertreter konservativer Kleinparteien sowie des gemäßigten Flügels der Deutschnationalen, der sich Ende Juli als "Konservative Volkspartei" (KVP) von der DNVP abspaltete. Die Bereitschaft der DDP zur Mitarbeit im Kabinett Brüning und bald darauf ihr Zusammenschluss mit dem antisemitischen "Jungdeutschen Orden" zur "Deutschen Staatspartei" im Juli 1930 offenbarten den Rechtstrend auch bei den Linksliberalen.

Übergang zum Präsidialregime

Die Regierung Brüning besaß keine Mehrheit. Wie der Kanzler trotzdem seine Politik durchzusetzen gedachte, teilte er dem Reichstag am 1. April 1930 in seiner Regierungserklärung mit: Sein Kabinett – so laute Hindenburgs Auftrag – sei "an keine Koalition gebunden" und werde "der letzte Versuch sein, die Lösung mit diesem Reichstage durchzuführen". Demnach wollte die neue Regierung notfalls ohne und gegen das Parlament arbeiten, und zwar mit Hilfe der Machtmittel des Reichspräsidenten: Notverordnungen nach Artikel 48 WV und Reichstagsauflösung nach Artikel 25 WV. Sie verstand sich als "Präsidialkabinett" oder "Hindenburg-Regierung".

An den Sondierungen und Planungen für diese autoritäre, in der Verfassung nicht vorgesehene Regierungsweise waren, außer Hindenburg, vor allem seine Berater Schleicher und Meissner sowie – neben Brüning – die Fraktionsvorsitzenden im Reichstag Ernst Scholz (DVP) und Graf Westarp (DNVP) beteiligt. Seinen Memoiren zufolge erfuhr Brüning schon kurz nach Ostern 1929 von Schleicher, der Reichspräsident sehe die Gefahr, "dass die ganze Innen- und Außenpolitik im Sumpfe verlaufe". Er wolle daher "das Parlament im gegebenen Augenblick für eine Zeit nach Hause schicken und in dieser Zeit mit Hilfe des Artikels 48 die Sache in Ordnung bringen". Weiter berichtet Brüning, Schleicher und er hätten sich damals auf das Ziel der Wiedereinführung der Monarchie verständigt; manche Historiker halten dies jedoch für eine nachträgliche Selbststilisierung.

Nach Meissners Erinnerungen ließ Hindenburg Ende Dezember 1929 Brüning mitteilen, er möge sich für das Amt des Reichskanzlers zur Verfügung stellen. Der angesehene Konservative galt in der Umgebung des Reichspräsidenten als möglicherweise sogar der SPD vermittelbare Integrationsfigur. Aus den Aufzeichnungen des Grafen Westarp vom 15. Januar 1930 gehen Hindenburgs Leitlinien für die Regierung Brüning hervor: "a) antiparlamentarisch, also ohne Koalitionsverhandlungen und Vereinbarungen, b) antimarxistisch [...]" (also ohne die SPD); "c) Wandlung in Preußen [...]" mit Hilfe des Zentrums – die in Preußen regierende Weimarer Koalition sollte ebenfalls gesprengt werden.

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Parallel zu diesen Planungen nahmen Wirtschaftskreise verstärkt Einfluss auf die industrienahe DVP unter ihrem Vorsitzenden Ernst Scholz, um deren Austritt aus der Großen Koalition zu erreichen. Im Dezember 1929 forderte der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) in einer Denkschrift mit dem Titel "Aufstieg oder Niedergang?" Steuererleichterungen für Unternehmer, Abschaffung der Zwangsschlichtung, Senkung der Staatsausgaben und Reform der Arbeitslosenversicherung durch " Ersparnismaßnahmen, nicht aber durch erhöhte Beiträge". Diesen SPD- und gewerkschaftsfeindlichen Kurs machte sich die DVP zu eigen. Am 5. Februar 1930 schrieb der DVP-Abgeordnete Erich von Gilsa dem Vorsitzenden des Verbandes Deutscher Stahlindustrieller, Paul Reusch, vertraulich, Scholz wolle "bewusst auf einen Bruch mit der Sozialdemokratie hinarbeiten".

Der Bruch der Großen Koalition erfolgte also im Zusammenspiel einflussreicher Vertreter autoritärer politischer – wenn nicht monarchistischer – Bestrebungen und wirtschaftlicher Interessen. Vor diesem Hintergrund erscheint Brünings Vermittlungsvorschlag vom 27. März 1930 in einem anderen Licht: der künftige Reichskanzler gedachte die Große Koalition "vor der Öffentlichkeit an der Kompromisslosigkeit der SPD und nicht an der Intransigenz des kommenden Koalitionspartners DVP zu Schanden gehen zu lassen" (Volker Hentschel).

Reichstagsauflösung

Die ersten Gesetzesvorlagen der neuen Regierung – Finanzhilfen für die ostelbische Großlandwirtschaft, Steuererhöhungen zur Deckung des Reichshaushaltes 1930 – wurden vom Reichstag mit knapper Mehrheit angenommen. Da die Arbeitslosigkeit weiter zunahm, beschloss die Regierung im Juni eine zusätzliche Deckungsvorlage: Reform der Arbeitslosenversicherung durch Beitragserhöhung auf 4,5 Prozent (der jetzt auch die DVP zustimmte) und Leistungskürzungen; Ledigensteuer; Notopfer für Beamte und Angestellte; einheitliche Kopfsteuer. Als der Reichstag Teile dieses sozial unausgewogenen Programms am 16. Juli ablehnte, setzte Brüning die gesamte Vorlage in Form zweier Notverordnungen des Reichspräsidenten nach Artikel 48 Abs. 2 WV in Kraft.

Die Umwandlung eines vom Reichstag abgelehnten Gesetzentwurfs in eine Notverordnung war eindeutig verfassungswidrig. Der Antrag der SPD-Fraktion vom 18. Juli, Brünings Notverordnungen nach Artikel 48 Abs. 3 WV aufzuheben, wurde daher vom Parlament mit großer Mehrheit (bei gespaltener DNVP) angenommen. Unmittelbar danach löste der Reichspräsident nach Artikel 25 WV den Reichstag auf. Die Notverordnungen wurden in einer sogar noch verschärften Fassung wieder in Kraft gesetzt. Bis zur Neuwahl nach 60 Tagen konnte jetzt mit Notverordnungen regiert werden.

Wahlsieg der NSDAP

Die Reichstagswahl vom 14. September 1930, an der sich 82 Prozent der Wähler beteiligten, endete mit einer Katastrophe für die Demokratie. Die NSDAP, noch 1928 mit 2,6 Prozent und zwölf Mandaten eine Splitterpartei, erzielte 18,3 Prozent, konnte die Zahl ihrer Sitze fast verneunfachen und stellte mit 107 Abgeordneten die zweitstärkste Fraktion (hinter der SPD, vor der KPD).

Die SPD verzeichnete erhebliche Verluste, die KPD starke Gewinne; Zentrum und BVP registrierten einen leichten Zuwachs. Auch der Anteil der "Sonstigen", das heißt der Kleinparteien, nahm etwas zu. Demgegenüber mussten DDP und DVP schwere Verluste hinnehmen; der Stimmenanteil der DNVP wurde sogar halbiert. Wenngleich Art und Ausmaß damaliger Wählerwanderungen nicht exakt bestimmbar sind, lässt sich schließen, dass überwiegend protestantische nationalkonservative und liberale Mittel- und auch Oberschichtwähler zur NSDAP gewandert waren. Besonders starken Anklang hatte Hitlers Partei offenbar bei den Mittelschichten ("alter" und "neuer Mittelstand") gefunden. Auch von der um sieben Prozent gestiegenen Wahlbeteiligung hatte sie stärker als andere Parteien profitiert, das heißt Jungwähler und bisherige Nichtwähler gewonnen.

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Dem entsprach die soziale Zusammensetzung der Mitgliederschaft der NSDAP: Arbeiter bildeten zwar die stärkste Einzelgruppe, waren jedoch im Vergleich zu ihrem Anteil an den Erwerbstätigen deutlich unterrepräsentiert, während die verschiedenen Mittelschichten einen überproportional hohen Anteil stellten. Ferner zog die NSDAP besonders die jüngere Generation an: Das Durchschnittsalter ihrer 130.000 Mitglieder und Funktionäre lag 1930 beträchtlich unter dem der übrigen Parteien.

Im Wahlergebnis vom 14. September 1930 spiegeln sich die materiellen und psychologischen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise wider. Bereits seit Jahresbeginn lag die Arbeitslosenquote über 14 Prozent; hinter dieser Zahl verbargen sich die Schicksale von mehr als drei Millionen schlecht versorgten Arbeitnehmern und ihren Familien. Die Folge war eine politische Polarisierung: Arbeitslose Arbeiter wählten zum Teil erstmals kommunistisch. Der "alte Mittelstand" hingegen, der die sinkende Kaufkraft seiner Kunden zu spüren bekam, sah sich nach 1923 ein weiteres Mal von Verarmung und sozialem Abstieg bedroht. Er reagierte darauf mit einer Radikalisierung nach rechts zur NSDAP. Vergleichbares gilt auch für den "neuen Mittelstand".

Denn Hitlers Partei war als einzige politisch unverbraucht – ihre Glaubwürdigkeit und Kompetenz hatten noch keinen Test bestehen müssen. In Programm und Propaganda ging sie geschickter als jede andere Partei auf die speziellen Nöte und Bedürfnisse der eigentumsorientierten, " standesbewussten" Mittelschichten ein. Entsprechend der doppelten Frontstellung des alten Mittelstandes gegen KPD/SPD/Gewerkschaften einerseits und Banken/Industrie/Warenhäuser andererseits enthielten die politischen Aussagen der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei " sowohl antimarxistische als auch antikapitalistische Elemente. Ihr begrenzter Antikapitalismus war – anders als der marxistische – für die Mittelschichten akzeptabel, weil "die NSDAP auf dem Boden des Privateigentums steht", wie Hitler 1928 öffentlich klarstellte. Er richtete sich nicht, wie es in der NS- Ideologie hieß, gegen das "schaffende", sondern nur gegen das "raffende Kapital", das heißt gegen Banken (zu hohe Kredit-, zu niedrige Sparzinsen), Börsen (undurchschaubare Gewinnchancen und Verlustrisiken) und Warenhäuser (bedrohliche Konkurrenz).

Hinter dem "raffenden Kapital" verbargen sich, so behauptete die NS-Propaganda, die Machenschaften eines "internationalen Finanzjudentums". Dadurch wurde der Antikapitalismus in die NS- Rassenideologie integriert und gegen die Juden als Sündenböcke gerichtet. Aber auch "der Marxismus " (das heißt Organisationen und Politik der kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeiterschaft) und die aus dem "Dolchstoß" hervorgegangene Weimarer Repu-blik galten den Nationalsozialisten als schändliche jüdische Machwerke. Wer die inneren und äußeren Bedrohungen von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft abwenden wolle, müsse die Juden bekämpfen – so lautete, zusammengefasst, die politische Botschaft der NSDAP. Wegen ihrer Einfachheit und Eingängigkeit fiel sie in Deutschland – einem der Länder mit langer antijudaistischer und antisemitischer Tradition – unter den Bedingungen der unbewältigten Kriegsniederlage und der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf fruchtbaren Boden.

Politik der Krisenverschärfung

Dass die KPD jetzt über 77, die NSDAP über 107 Reichstagssitze verfügte, hatte schwerwiegende wirtschaftliche Folgen. Ausländische Kapitalanleger, insbesondere die bereits unter der Krise leidenden amerikanischen und französischen Banken, die um die politische Stabilität der Weimarer Republik fürchteten, begannen mit dem Abzug ihrer kurzfristigen Kredite. Dadurch verschärfte sich die Wirtschaftskrise in Deutschland; die Arbeitslosigkeit nahm weiter zu.

Ein Versuch Brünings, die Nationalsozialisten zur Tolerierung seiner Politik zu bewegen und sich so eine parlamentarische Mehrheit zu verschaffen, scheiterte am Machtwillen Hitlers. Der NSDAP-Führer hatte aber aus seinem fehlgeschlagenen Münchner Putschversuch von 1923 gelernt: Als geladener Zeuge in einem Leipziger Reichsgerichtsprozess, in dem drei junge Offiziere wegen nationalsozialistischer Betätigung in der Reichswehr angeklagt wurden, erklärte er am 25. September 1930 unter Eid, seine Bewegung kämpfe "nicht mit illegalen Mitteln"; aber "noch zwei bis drei Wahlen

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", dann werde sie "in der Mehrheit sitzen" und "den Staat so gestalten, wie wir ihn haben wollen".

Tolerierungspolitik der SPD

Die oppositionelle SPD geriet durch das Wahlergebnis in ein Dilemma. Bekämpfte sie weiterhin Brünings autoritäre und unsoziale Politik, dann bestand die Gefahr einer erneuten Reichstagsauflösung und -neuwahl. Dabei konnte die NSDAP so stark werden, dass Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernennen würde. Was aber eine NS-Regierung bedeuten musste, hatte bereits das Beispiel des Faschismus in Italien gezeigt: ein schnelles Ende der Demokratie und des Rechtsstaates, der Linksparteien und der Gewerkschaften.

Vor diesem Hintergrund beschloss die SPD, Brüning als das kleinere Übel zu tolerieren. "Sie sagte nicht ja zu seinen Gesetzesvorschlägen und sagte nicht nein , wenn sie deshalb als Notverordnungen erlassen wurden." (Volker Hentschel) In den Augen der Öffentlichkeit galt sie bald als Teil des "Brüning- Blocks", der vom Zentrum bis zum gemäßigten Teil der DNVP reichte, aber keine Mehrheit besaß. Da die SPD weder sozialdemokratische Politik durchzusetzen noch sich als politische Alternative zu profilieren vermochte, wurden ihre Mitglieder und Wähler zunehmend unzufriedener.

Das Ansehen des Parlamentes nahm weiter ab. Denn es verlor nicht nur faktisch seine demokratische Kontrollfunktion gegenüber der Regierung, sondern wurde auch als Zentrum der Gesetzgebung zunehmend funktionslos. Das Präsidialregime griff immer öfter zu Notverordnungen, der Reichstag trat immer seltener zusammen. Diese Aushöhlung des Parlamentarismus hat der NSDAP 1933 die Errichtung der Diktatur wesentlich erleichtert.

Deflationspolitik und Massenarbeitslosigkeit

Die Regierung Brüning erhöhte die direkten Steuern (auf Löhne, Einkommen und Umsätze), besonders aber die indirekten (Massenverbrauchssteuern, unter anderem auf Zucker, Tabak und Bier). Sie baute die staatlichen Sozialausgaben ab und kürzte die Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst (mit Ausnahme der Reichswehr). Auf diese Weise wollte Brüning das krisenbedingte Sinken des Steueraufkommens abfangen, Einnahmen und Ausgaben des Staates im Gleichgewicht halten und die im Zuge des Produktionsrückganges überschüssig werdende Kaufkraft abschöpfen. Diese " Deflationspolitik" zielte vor allem auf die Sicherung der Geldwertstabilität, die nicht nur den Vorschriften des Young-Plans, sondern – nach der traumatischen Inflationserfahrung von 1923 – durchaus auch den Interessen der Bevölkerung entsprach.

Die Deflationspolitik war jedoch kein Mittel gegen die Krise, sondern verschärfte diese sogar noch. Denn durch Kürzung der Staatsausgaben und Senkung der privaten Einkommen verringerte sich die kaufkräftige Nachfrage; dadurch ging die Produktion noch weiter zurück, während die Arbeitslosigkeit rapide anstieg. Je länger die Krise anhielt, desto mehr Arbeitslose fielen spätestens nach 26, als über 40-jährige nach 39 Wochen aus der Arbeitslosenversicherung mit ihren bescheidenen, nach Lohnklassen gestaffelten Leistungen heraus. Danach erhielten sie bis zu 39 bzw. 52 Wochen deutlich geringere (bedürftigkeitsgebundene) Leistungen der Krisenfürsorge; schließlich noch knappere (rückzahlungspflichtige) Zuwendungen der kommunalen Wohlfahrtsunterstützung. Von den 4,7 Millionen Arbeitslosen im Frühjahr 1931 bezogen 43 Prozent Arbeitslosengeld, 21 Prozent Krisenfürsorge und 23 Prozent Wohlfahrtsunterstützung. Die übrigen 13 Prozent bekamen überhaupt keine Unterstützung. Demgegenüber wurde die ostelbische Großlandwirtschaft auf Wunsch Hindenburgs weiterhin subventioniert.

Im Verlaufe des Jahres 1931 führten zwei einschneidende Ereignisse zu einer weiteren Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage. Zunächst scheiterte am 18. Mai, vor allem am Einspruch Frankreichs, der Plan einer deutsch-österreichischen Zollunion, die für beide Länder wirtschaftlich vorteilhaft gewesen wäre. Ausländische Kapitalanleger riefen daraufhin zahlreiche fällige Kredite zurück, statt sie zu verlängern. In beiden Ländern gerieten viele Banken in Schwierigkeiten, zumal

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 123 viele in Panik versetzte Sparer ihre Einlagen abheben wollten. Am 13. Juli stellte eine renommierte Großbank, die "Darmstädter und Nationalbank", ihre Zahlungen ein.

Die deutschen Banken wurden für zwei Tage geschlossen; das Reich musste sie mit einer Milliarde RM stützen. Bankkunden konnten nur noch eingeschränkt über ihre Guthaben verfügen; die Kapitalknappheit der Unternehmen verschärfte sich. Da die Bankenkrise unabsehbare Gefahren barg, setzte der amerikanische Präsident Herbert Hoover durch, die deutschen Reparationszahlungen an die Siegermächte und ebenso die Rückzahlung der alliierten Kriegsschulden an die USA ab 6. Juli 1931 für ein Jahr zu unterbrechen ("Hoover-Moratorium"), um die betreffenden Länder zu entlasten.

Sodann koppelte Großbritannien am 21. September das Pfund Sterling vom Goldstandard ab und wertete es um 20 Prozent ab. Durch eine entsprechende Verbilligung seiner Waren auf dem Weltmarkt wollte das Land seinen Export fördern und den Arbeitsmarkt beleben. Zahlreiche Länder folgten dem Beispiel; das internationale Währungssystem mit festen Wechselkursen auf der Basis des Goldpreises brach zusammen. Der Wert der Reichsmark stieg; deutsche Produkte verteuerten sich auf dem Weltmarkt; die Auslandsnachfrage ging zurück. Brüning reagierte darauf mit einer weiteren Verschärfung der Deflationspolitik: Per Notverordnung vom 6. Oktober 1931 senkte er den Bezug des Arbeitslosengeldes von 26 auf 20 Wochen. Am 8. Dezember verordnete er allgemeine Lohn-, Miet-, Zins- und Preissenkungen, um die Wettbewerbsnachteile der deutschen Wirtschaft auszugleichen. Diese marktwirtschaftswidrige Maßnahme führte jedoch nur zu einer Verunsicherung von Herstellern und Verbrauchern; die Inlandsnachfrage nahm weiter ab.

Bankenkrise, Pfundabwertung und deflationspolitische Notverordnungen bewirkten einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit. Im Durchschnitt des Jahres 1932 gab es 5,6 Millionen registrierte Arbeitslose (29,9 Prozent). Ende Februar lag die Zahl der "sichtbaren" Arbeitslosen bei 6,1 Millionen; rechnet man schätzungsweise 1,5 Millionen "unsichtbare" (Menschen, die sich aus Scham über ihre Armut nicht meldeten) hinzu, so ist tatsächlich von 7,6 Millionen Beschäftigungssuchenden auszugehen.

Rolle Brünings

Manche Historiker sehen in Brüning den letzten Reichskanzler, der mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln versuchte, die Weimarer Republik durch die Weltwirtschaftskrise hindurchzusteuern. Brünings Politik lässt jedoch erkennen, dass er die Wirtschafts- und Finanzpolitik seinen außen- und innenpolitischen Plänen (Überwindung des Versailler Vertrages, autoritäre Umgestaltung des Staates, wenn nicht gar Rückkehr zur Monarchie) unterordnete. Sein erstes Etappenziel war die Aufhebung der Reparationsverpflichtungen. Brüning wollte den Siegermächten demonstrieren, dass das Reich trotz größter Anstrengungen die Auflagen des Young-Plans (Zahlung der Jahresraten bei stabiler Währung und ausgeglichenem Staatshaushalt) nicht erfüllen konnte. Neuverhandlungen sollten dann zu einer Abschlussregelung führen. Die Verschärfung der Wirtschaftskrise und die um sich greifende soziale Verelendung breiter Massen nahm Brüning bewusst in Kauf. Deshalb wies er auch alle Expertenvorschläge für eine aktive Konjunktur- und Arbeitsmarktpolitik zurück. Prompt machte sich die NSDAP diese Vorschläge zu eigen und betrieb damit 1932 eine geschickte und wirkungsvolle Wahlpropaganda.

Alternativen zu Brünings Deflationspolitik

Die Deflationspolitik der Jahre 1930 bis 1932 wird in der Geschichtsforschung kontrovers beurteilt.

Der Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt vertritt die Ansicht, dass Brüning unter den damaligen Bedingungen keine wesentlich andere Finanz- und Wirtschaftspolitik hätte betreiben können. Er argumentiert im Kern folgendermaßen:

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Die deutsche Wirtschaft befand sich schon vor 1929 infolge zu hoher Löhne, Steuern, Rohstoffpreise und Kreditkosten in einer Strukturkrise, die 1930 bis 1932 zunächst (wie von Brüning versucht) bereinigt werden musste, bevor an eine aktive Konjunkturpolitik zu denken war.

Zur Zeit der Kanzlerschaft Brünings war die mit dem Namen des britischen Wirtschaftswissenschaftlers John Maynard Keynes verbundene Theorie der "antizyklischen Wirtschaftspolitik" und des "deficit spending" (bei sinkender privater Nachfrage müsse der Staat mit kreditfinanzierten Aufträgen einspringen, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln) noch nicht ausreichend entwickelt und bekannt.

Die strengen Vorschriften des Reichsbankgesetzes und des Young-Planes erlaubten weder eine Kreditausweitung noch eine Abwertung der Reichsmark als konjunkturbelebende Maßnahmen.

Für eine Abwertung der Reichsmark und für ein "deficit spending" gab es damals bei Parteien und Verbänden wegen der verbreiteten Inflationsfurcht keine ausreichende Unterstützung.

Demgegenüber hat die Historikerin Ursula Büttner nachgewiesen, dass es sehr wohl Alternativen zur Deflationspolitik gegeben hat. Ihre Einwände gegen Borchardts Argumentation lauten zusammengefasst so:

Die schon vor 1929 entstandenen Strukturprobleme waren in einer wachsenden Wirtschaft sicher leichter zu lösen als in einer schrumpfenden.

Am erforderlichen Know-how für eine aktive Konjunkturpolitik fehlte es durchaus nicht. Keynes erläuterte 1930/32 in Deutschland in einer Reihe von Vorträgen und Zeitungsartikeln seine bereits ausgereifte Theorie der antizyklischen Wirtschaftspolitik und stieß dabei auf großen Widerhall. So legte der Oberregierungsrat im Wirtschafts-ministerium Wilhelm Lautenbach im September 1931 einen an Keynes orientierten Plan zur Ankurbelung der Wirtschaft (ohne inflatorische Auswirkungen) mittels kreditfinanzierter Staatsaufträge in Höhe von drei Milli-arden RM vor. Hans Schäffer, Staatssekretär im Finanzministerium, befürwortete den Lautenbach-Plan in seiner Denkschrift vom September 1931 nachdrücklich. Ernst Wagemann, Leiter des Statistischen Reichsamtesund des Instituts für Konjunkturforschung, veröffentlichte im Januar 1932 in hoher Auflage einen eigenen Plan zur Erhöhung des staatlichen Kreditrahmens um bis zu drei Milliarden RM für die Konjunkturbelebung.

In der Krise des Sommers 1931 verloren das Reichsbankgesetz und der YoungPlan an Bedeutung, da sie ohnehin nicht mehr einzuhalten waren. Die Vertragspartner hätten sich mit einer geringeren Deckung der Reichsmark abgefunden, deren Abwertung nach britischem Vorbild im Ausland allgemein erwartet wurde.

Der Wunsch nach einer Bekämpfung der Wirtschaftskrise mit den Mitteln der Finanz- und Geldpolitik breitete sich seit Herbst 1931 so stark aus, dass entsprechende Maßnahmen der Regierung – trotz der ablehnenden Haltung der Unternehmerverbände und der Parteiführungen – in der Bevölkerung breite Unterstützung gefunden hätten. Ein klares Indiz dafür ist insbesondere der vom ADGB im April 1932 beschlossene sog. WTB-Plan (benannt nach seinen Verfassern Wladimir Woytinski, Fritz Tarnow und Fritz Baade). Das Konzept sah vor, rund eine Million Arbeitslose mit öffentlichen Arbeiten zu beschäftigen; die dafür erforderlichen zwei Milliarden RM sollte der Staat durch Kredite aufbringen. Weil sich die Ausgaben für die Arbeitslosen entsprechend verringern, die Steuereinnahmen erhöhen würden, veranschlagte man die realen Kosten auf 1,2 Milliarden RM. Der WTB-Plan zielte auf eine Wiederbelebung der Konsumgüterindustrie mit weiteren positiven Beschäftigungseffekten, sodass eine inflatorische Wirkung vermieden würde. Die SPD-Führung lehnte jedoch eine Kreditfinanzie-rung ab, weil sie davon eine Inflation, nach den Erfahrungen von 1923 zumindest eine neuerliche Inflationsfurcht in der Bevölkerung erwartete.

Wie Schäffer am 29. Januar 1932 in seinem Tagebuch festhielt, empörte sich der Kanzler besonders über Wagemann: 1. erwecke Wagemann den Gewerkschaften gegenüber den Eindruck, "als ob es

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 125 noch andere Mittel gebe als die Deflationspolitik, um unsere Lage zu bessern". 2. könnten Wagemanns Vorschläge "in das Reparationsprogramm hineinhageln". 3. sei zu befürchten, dass die Nationalsozialisten, die "bisher vergeblich nach einem Währungsprogramm gesucht hätten", Wagemanns Plan übernehmen und daraus politische Vorteile ziehen würden.

Zusammenfassung von R. Sturm nach:

Knut Borchardt, "Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Wirtschaftskrise der frühen Dreißigerjahre.", in: Michael Stürmer (Hg.), Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas, Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion GmbH, Kettwig 2011, S. 318 bis 339. Ursula Büttner, "Politische Alternativen zum Brüningschen Deflationskurs," in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 37 (1989), H. 2, S. 209-251

Politische Radikalisierung

In dem Maße, wie sich die Talfahrt der Wirtschaft beschleunigte und Millionen Familien verarmten und verelendeten, eskalierten die politischen Auseinandersetzungen und kam es zu Zusammenstößen zwischen den Wehrverbänden der großen rechten und linken Parteien:

• Der "Stahlhelm – Bund der unbesiegt heimgekehrten Frontsoldaten" organisierte schon seit Ende 1918 bis zu eine Million Mitglieder und war der DNVP zuzurechnen.

• Die von der NSDAP 1921 geschaffene "Sturmabteilung" (SA) umfasste Anfang 1932 etwa 420.000 Mitglieder; ihr unterstand (bis 1934) die 1925 gebildete SS ("Schutzstaffel") mit rund 52.000 Mann.

• Das 1924 gegründete SPD-nahe "Reichsbanner Schwarz Rot Gold – Bund der republikanischen Frontsoldaten" war der einzige verfassungstreue Wehrverband und besaß ca. eine Million Mitglieder.

• Dem ebenfalls 1924 entstandenen "Roten Frontkämpferbund" (RFB) der KPD gehörten 1927 rund 130.000 Mitglieder an.

Alle Verbände waren mehr oder weniger uniformiert, traten militant auf und besaßen geheime Waffenlager. Während "Stahlhelm", SA und SS kooperieren konnten, waren "Reichsbanner" und RFB verfeindet. In den Jahren 1931 und 1932 führten zunehmend blutiger verlaufende Straßenkrawalle und Saalschlachten, vor allem zwischen SA und RFB, in den großen Städten nicht selten zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Auch politische Mordanschläge wurden wieder begangen, sowohl von Nationalsozialisten als auch von Kommunisten. Die Polizei erschien oft zu spät; auch sympathisierten immer mehr Polizisten mit den Rechtsverbänden.

Dass in Preußen noch immer der sozialdemokratische Ministerpräsident Otto Braun mit einer Weimarer Koalition regierte, war der politischen Rechten seit langem ein Dorn im Auge. Im Frühjahr 1931 leitete der "Stahlhelm" ein (auch auf Länderebene zulässiges) Volksbegehren für die sofortige Auflösung des Preußischen Landtages ein. Es wurde unterstützt von DNVP, NSDAP und KPD – die Kommunisten schreckten bei ihrem verblendeten Kampf gegen die Sozialdemokraten nicht einmal vor einem Bündnis mit den "Faschisten" zurück. Die Aktion schlug jedoch fehl: Beim Volksbegehren kam die erforderliche Mindestzahl von Unterschriften nur knapp zusammen; beim Volksentscheid am 9. August 1931 fehlten rund 3,4 Millionen Stimmen.

Am 7./9. Oktober 1931 wurden mehrere Minister der Regierung Brüning ausgetauscht. Der Reichskanzler übernahm selbst das Auswärtige Amt, Reichswehrminister Groener erhielt zusätzlich

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 126 das Innenministerium – eine gefährliche Machtkonzentration. Dieses zweite Kabinett Brüning sollte nach Hindenburgs Wunsch noch unabhängiger von den Parteien und vom Parlament sein; es signalisierte einen weiteren Rechtsruck bei den Machtträgern des Präsidialregimes.

Harzburger Front

Am 11. Oktober 1931 veranstaltete die nationalistische Rechte – NSDAP, DNVP, Stahlhelm, Reichslandbund und Alldeutscher Verband – in Bad Harzburg eine Tagung, verbunden mit einem Aufmarsch ihrer Verbände, um Stärke und Geschlossenheit zu demonstrieren. Prominenteste Gäste waren der Kaiser-Sohn und SA-Gruppenführer August Wilhelm Prinz von Preußen ("Auwi"), der frühere Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht und General a. D. von Seeckt. Ein Misstrauensvotum von DNVP und NSDAP gegen das zweite Kabinett Brüning, dem sich auch die DVP und die KPD anschlossen, scheiterte am 16. November 1931 knapp – ausschlaggebend waren die Gegenstimmen der SPD. Ende November wurden konkrete Umsturzpläne der hessischen NSDAP ("Boxheimer Dokumente") bekannt. Brüning spielte jedoch den Vorfall herunter, um mögliche Koalitionen des Zentrums mit der NSDAP nicht zu verbauen.

Als Antwort auf die "Harzburger Front" gründeten SPD, ADGB, AfA-Bund, "Reichsbanner" und Arbeitersportorganisationen am 16. Dezember 1931 gemeinsam die "Eiserne Front". Sie veranstaltete unter dem Fahnensymbol der drei Pfeile – als Gegensymbol zum Hakenkreuz – politische Umzüge und Kundgebungen und trat äußerlich militant auf, um Stärke zu demonstrieren und Gegner von Übergriffen abzuschrecken.

Reichspräsidentenwahl 1932

In dieser angespannten Situation ging Anfang 1932 die siebenjährige Amtsperiode des Reichspräsidenten zu Ende. Der mittlerweile 85-jährige Hindenburg stellte sich zur Wiederwahl. Anders als 1925 trat ein aussichtsreicher rechter Gegenkandidat an: Adolf Hitler, dem eine DNVP-NSDAP- Regierung in Braunschweig Ende Februar 1932 zu der für die Kandidatur notwendigen deutschen Staatsbürgerschaft verhalf. Hinzu kamen Theodor Duesterberg ("Stahlhelm"), Ernst Thälmann (KPD) sowie einige Kandidaten von Splitterparteien. Hindenburgs Wiederwahl wurde zunächst von Zentrum und BVP, DDP und DVP unterstützt. Da alles auf eine Entscheidung zwischen Hitler und Hindenburg hindeutete, hielt die SPD an ihrer Politik des kleineren Übels fest: Sie verzichtete auf einen eigenen Kandidaten und gab die Parole aus: "Schlagt Hitler! Darum wählt Hindenburg!" Für ihre Anhänger war das eine irritierende Zumutung, die sie aber überwiegend diszipliniert befolgten.

Im 1. Wahlgang am 13. März 1932 verfehlte Hindenburg mit 49,6 Prozent die erforderliche absolute Mehrheit nur knapp, in weitem Abstand gefolgt von Hitler (30,1 Prozent), Thälmann (13,2 Prozent), Duesterberg (6,8 Prozent) und den übrigen Kandidaten. Duesterberg gab auf und unterstützte Hindenburg. Im 2. Wahlgang am 10. April wurde der amtierende Reichspräsident mit 53 Prozent der Stimmen wieder gewählt. Hitler brachte es auf 36,8 Prozent, Thälmann nur noch auf 10,2 Prozent. Gemessen an der prahlerischen Ankündigung seines Wahlkampfleiters Joseph Goebbels "Hitler wird unser Reichspräsident!" hatte sich der NSDAP-Führer blamiert. Gleichwohl zeigte sein Abschneiden, dass das nationalsozialistische Wählerpotenzial seit September 1930 um fünf Millionen Stimmen angewachsen war.

Aber auch der Wahlsieger sah wenig Grund zur Freude. Der Reichspräsident empfand es als Schmach, dass er seine zweite Amtsperiode ausgerechnet seinen Gegnern von 1925, den Sozialdemokraten und den Katholiken, verdankte. Groteskerweise richtete Hindenburg seinen Groll gegen Brüning, der sich wie kein anderer im Wahlkampf für ihn engagiert und dabei auch die NSDAP scharf angegriffen hatte. Brünings Sturz war jetzt nur noch eine Frage der Zeit.

Brünings Entlassung

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Im Laufe seiner Kanzlerschaft hatte sich Brüning die Sympathien der Präsidentenberater und der hinter ihnen stehenden autoritär-monarchistisch gesinnten Teile der militärischen, bürokratischen und wirtschaftlichen Eliten immer mehr verscherzt, weil er sich nicht als Marionette benutzen ließ, sondern seinen eigenen politischen Kurs steuerte, noch dazu toleriert von der SPD, die diesen Eliten besonders verhasst war. Zum entscheidenden Konflikt kam es, als Brüning und Groener auf Wunsch zahlreicher Länder (darunter Bayern ebenso wie Preußen) beim Reichspräsidenten ein Verbot der SA und der SS erwirkten, um die Hauptursache der politischen Gewalt zu bekämpfen; es trat am 13. April 1932 in Kraft.

Der Reichspräsident und seine Berater störten sich daran, dass das (republiktreue) "Reichsbanner " nicht ebenfalls verboten werden sollte. Zudem sah Schleicher seine Planung in Gefahr, Brüning zu stürzen und die NSDAP entweder an der Regierung zu beteiligen oder zumindest für eine Tolerierungspolitik zu gewinnen. Am 7. Mai trafen Schleicher und Hitler eine geheime Absprache: Schleicher würde für Brünings Ablösung, die Wiederzulassung von SA und SS sowie Reichstagsneuwahlen sorgen. Im Gegenzug würde die NSDAP die nächste Präsidialregierung im Reichstag tolerieren.

Auf Betreiben Schleichers musste Groener am 12. Mai zurücktreten. Auch für Brünings Entlassung war bald ein Grund gefunden. Der Reichskanzler wollte im Mai den ostelbischen Gutsbesitzern eine weitere kräftige Finanzhilfe zukommen lassen. Jedoch sollte der Staat Güter, die nicht mehr sanierungsfähig waren, aufkaufen bzw. ersteigern und in Bauernstellen für Arbeitslose aufteilen. Es fiel der "Kamarilla" leicht, den Reichspräsidenten, der selbst Gutsbesitzer war, gegen diesen " Agrarbolschewismus" aufzubringen. Hindenburg entzog Brüning am 29. Mai das Recht auf Anwendung des Artikels 48 WV; daraufhin musste die Reichsregierung am nächsten Tag zurücktreten – nach Ansicht Brünings "hundert Meter vor dem Ziel", wie er schon am 11. Mai im Reichstag geäußert hatte.

Tatsächlich wurde bald darauf das Reparationsproblem in seinem Sinne gelöst. Die vom 16. Juni bis 9. Juli 1932 in Lausanne tagende Konferenz aller betroffenen Staaten einigte sich auf die völlige Streichung der deutschen Reparationsschuld; selbst eine eher symbolisch geforderte Abschlusszahlung wurde nicht mehr geleistet. Doch der Preis für diesen Erfolg war hoch: Er bestand in einer Aushöhlung des Parlamentarismus, einer Verschärfung der Wirtschaftskrise, einer Steigerung des sozialen Elends von Millionen Familien und einer bis dahin nicht gekannten politischen Radikalisierung. Brünings Politik beschleunigte den Aufstieg der rechtsextremen, gewaltbereiten NSDAP zu einer staatsgefährdenden Massenbewegung.

Regierung von Papen

Neuer Reichskanzler wurde überraschend der katholisch-westfälische Adelige, monarchistische Zentrumspolitiker und preußische Landtagsabgeordnete Franz von Papen. Er verfügte als Hauptaktionär und Aufsichtsratsvorsitzender der Zentrumszeitung "Germania" sowie als Mitglied des konservativ-elitären Berliner "Herrenklubs" über gute Kontakte zu Industrie, Großlandwirtschaft, Banken und Bürokratie. Da er gegen den Willen der über Brünings Sturz verärgerten Zentrumsführung die Kanzlerschaft annahm, musste er aus der Partei austreten. Auf den Vorwurf "Der Papen ist doch kein Kopf!" antwortete Schleicher ungerührt: "Das soll er ja auch nicht sein. Aber er ist ein Hut." Papen gewann jedoch rasch das Vertrauen Hindenburgs und entzog sich Schleichers Bevormundung.

Dem am 1. Juni 1932 vereidigten Kabinett gehörten sieben adlige und nur drei bürgerliche, nationalkonservative, aber überwiegend parteilose Minister an. Schleicher trat erstmals selbst als Reichswehrminister ins politische Rampenlicht. Dieses "Kabinett der Barone" unter "Herrenreiter " Papen, wie seine Kritiker spotteten, repräsentierte überwiegend die Interessen der ostelbischen Großagrarier und der militärischen Führungsschicht; die Industrie war nur durch Wirtschaftsminister Warmbold vertreten, Mittelschichten und Arbeitnehmerschaft überhaupt nicht. Die Öffentlichkeit traute der Regierung Papen eine Überwindung der Wirtschaftskrise noch weniger zu als dem Kabinett Brüning; prompt fielen die Aktienkurse.

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Parlamentarische Unterstützung erhielt Papen lediglich von der DVP und der DNVP. Die SPD beendete sofort ihre Tolerierungspolitik und plante einen Misstrauensantrag, dem die Regierung jedoch zuvorkam: Am 4. Juni 1932 löste der Reichspräsident – wie zwischen Schleicher und Hitler besprochen – den Reichstag auf, denn dieser entspreche nicht mehr "dem politischen Willen des deutschen Volkes". Damit spielte Hindenburg darauf an, dass die NSDAP am 24. April bei den Landtagswahlen in Preußen, Württemberg, Hamburg und Anhalt stärkste, in Bayern zweitstärkste Partei geworden war.

Im Juni und Juli 1932 fand, nachdem Schleicher die Wiederzulassung von SA und SS durchgesetzt hatte, der blutigste Wahlkampf in der deutschen Geschichte statt. Zwischen rechten und linken Wehrverbänden kam es zu Straßenkrawallen, Schießereien, Saalschlachten und Mordanschlägen, bei denen etwa 300 Menschen starben und über 1100 verletzt wurden. Allein am 17. Juli, dem "Altonaer Blutsonntag", gab es 18 Tote und 68 zum Teil schwer Verletzte, als ein nationalsozialistischer Demonstrationsmarsch durch die kommunistischen Wohnviertel von Altona zu einem stundenlangen Feuergefecht zwischen RFB und SA ausartete.

Unterdessen nahmen die in der Umgebung des Reichspräsidenten gehegten autoritären Verfassungspläne konkrete Gestalt an. Papen entwickelte die Idee eines "Neuen Staates" mit folgenden Prinzipien:

• Vereinigung der Ämter des Reichskanzlers und des preußischen Ministerpräsidenten,

• Unabhängigkeit des Reichskanzlers vom Vertrauen des Reichstages,

• Einrichtung eines dem Parlament übergeordneten, aristokratisch und berufsständisch zusammengesetzten "Oberhauses", dessen Mitglieder vom Reichspräsidenten ernannt wurden.

Die Ähnlichkeit mit den Strukturen des Kaiserreiches ist unübersehbar – am Ende der Entwicklung sollte denn auch die Rückkehr zur Monarchie stehen. Der erste Schritt auf dem Weg zum "Neuen Staat" lag nahe: die Ausschaltung der "roten Festung" Preußen. Denn die Regierung Braun hatte in der Landtagswahl vom 24. April 1932 ihre Mehrheit verloren. Die neue Sitzverteilung im preußischen Landtag (KPD 57, SPD 94, Zentrum 67, DVP 7, DNVP 31, NSDAP 162) ergab eine "negative Mehrheit " der rechts- und linksradikalen Parteien. Da eine Zentrum-NSDAP-Koalition nicht zustande kam, blieb das bisherige Kabinett als "geschäftsführende Regierung" mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit im Amt. Braun war überdies gesundheitlich angeschlagen und besaß keinen Kampfgeist mehr.

Absetzung der preußischen Regierung

Als Vorwand diente der "Altonaer Blutsonntag". Am 20. Juli 1932 erließ Hindenburg zwei Notverordnungen "zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" in Preußen. Durch die erste trat Papen als "Reichskommissar" an die Stelle des Ministerpräsidenten; er übertrug dem rechtsstehenden (parteilosen) Essener Oberbürgermeister Franz Bracht die Geschäfte des Innenministers. Durch die zweite Verordnung wurde die vollziehende Gewalt in Groß-Berlin und Brandenburg auf die Reichswehr übertragen.

Die Reichsexekution gegen Preußen war ein reiner Willkürakt und sogar ein "Staatsstreich" (Heinrich August Winkler). Die Regierung Braun protestierte und klagte gegen ihre Absetzung mit Unterstützung der süddeutschen Länder, die den Föderalismus verletzt sahen, vor dem Staatsgerichtshof. Im Oktober 1932 erklärte das Gericht eine vorübergehende Einsetzung von Reichskommissaren für zulässig, deren Beauftragung mit der Vertretung Preußens im Reichsrat hingegen für verfassungswidrig. An der Absetzung der Regierung Braun änderte das Urteil also nichts. Demokraten, insbesondere SPD- Mitglieder, hatte Papen bereits aus allen Führungspositionen des preußischen Staatsapparates

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Durch den "Preußenschlag", in den man Hitler vorher eingeweiht hatte, erhielt die an die Macht strebende NSDAP starken Auftrieb. Denn die Sozialdemokratie hatte vor einem scheinlegalen Angriff auf ihre letzte Machtbastion im Weimarer Staat quasi kapituliert; SPD und KPD blieben zerstritten. Demnach war auch gegen die Errichtung einer Diktatur, die sich rechtmäßig gab, kein kämpferischer Widerstand der Linken zu erwarten. So schrieb die NSDAP-Zeitung "Völkischer Beobachter" am 21. Juli 1932 auf ihrer Titelseite: "Liquidierung der Novemberherrschaft!" – "Der Anfang ist gemacht, wir werden sie zu Ende führen." In den folgenden Wochen begann Hitler mit der Planung eines " Ermächtigungsgesetzes", das einer von ihm geführten Regierung die allgemeine und die verfassungsändernde Gesetzgebung übertragen sollte.

Wegen dieser strategischen Bedeutung des "Preußenschlages" im Prozess der Demokratiezerstörung stellt sich die Frage, ob am 20. Juli 1932 ein erfolgreicher Widerstand der demokratischen Kräfte – in erster Linie der SPD, der Gewerkschaften und der "Eisernen Front" – möglich gewesen wäre. Sie wird von den Historikern überwiegend verneint. In den Reihen der "Eisernen Front", insbesondere im " Reichsbanner", existierte eine beträchtliche Kampfbereitschaft, doch war sie regional unterschiedlich ausgeprägt. Auch bedeutete Kampfbereitschaft nicht schon Bürgerkriegsfähigkeit. Denn ein Konzept für bewaffnete Aktionen zur Rettung der Demokratie hatten SPD und Gewerkschaften – trotz Gründung des Reichsbanners und der "Eisernen Front" – nie entwickelt. Schon gar nicht besaßen sie die skrupellose Gewaltbereitschaft der NSDAP oder der KPD. Vielmehr hatte die sozialdemokratische Führung aus dem abschreckenden Beispiel der Russischen Revolution und aus ihren eigenen Erfahrungen die Lehre gezogen, ihre Politik an den Prinzipien Legalität, Humanität und Gewaltlosigkeit auszurichten.

Einen Generalstreik, wie ihn vor allem die KPD forderte, lehnten die Gewerkschaften ab. Anders als beim Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920 hielten sie ihn diesmal für eine stumpfe Waffe, denn mehr als sechs Millionen Arbeitslose standen bereit, um die Plätze der Streikenden einzunehmen. So beschränkte sich die Sozialdemokratie auf Proteste und konzentrierte sich auf den Reichstagswahlkampf.

Reichstagswahlen 1932

Am 31. Juli 1932 gingen mehr Bürgerinnen und Bürger zur Wahl als je zuvor (84,1 Prozent). Die SPD verlor abermals Stimmen an die KPD. Zwei Jahre Tolerierungspolitik gegenüber Brüning, der Ausschluss prominenter linker Kritiker des Parteikurses (im September 1931), die Mitwahl Hindenburgs und das Stillhalten in Preußen hatten Teile der SPD-Wählerschaft enttäuscht.

Während Zentrum und BVP leichte Gewinne erzielten, wurden die protestantischen bürgerlichen Mittelparteien fast völlig aufgerieben. Auch die DNVP musste erneut – diesmal leichtere – Verluste hinnehmen. Überragender Wahlsieger wurde erwartungsgemäß die NSDAP. Weil sie wohl allen Parteien, außer KPD und Zentrum, in unterschiedlichem Umfang Wähler abspenstig machte, konnte sie ihren Anteil an Stimmen (13,7 Millionen = 37,3 Prozent) und Mandaten (230) mehr als verdoppeln. Damit stellte sie die weitaus stärkste Reichstagsfraktion – und nach parlamentarischem Brauch den Reichstagspräsidenten (Hermann Göring). Die anhaltende krisenbedingte Polarisierung und Radikalisierung großer Teile der Bevölkerung und ein überaus geschickter, moderner (vorwiegend aus Eigenmitteln, zum Teil auch aus Wirtschaftsspenden finanzierter) Wahlkampf hatten der NSDAP neue Wählermassen zugeführt. Hitler hatte als erster deutscher Politiker ein Flugzeug benutzt, um möglichst viele Wahlreden halten zu können.

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Aus taktischen Gründen – man wollte seriöser wirken als bisher – war der Antisemitismus im Wahlkampf in den Hintergrund getreten. Hitlers Partei bildete jetzt "das große Auffangbecken für alle Gegner des demokratischen Systems, für alle Enttäuschten, Verbitterten und Fanatisierten" (Eberhard Kolb), soweit diese nicht der KPD zuneigten. Nach wie vor kamen bei der NSDAP etwa 60 Mittelschichtwähler auf 40 Wähler aus Arbeiterhaushalten (Jürgen W. Falter). Manche Historiker sehen in ihr die erste moderne "Volkspartei" unter den Weimarer Klassen-, Interessen- und Konfessionsparteien; dafür fehlten ihr jedoch wichtige Merkmale wie innerparteiliche Demokratie und konstruktive politische Ziele. Sie blieb eine rechtsextreme "schichtenunspezifische Protestbewegung mit Mittelschichtenschwerpunkt " (Helga Grebing).

Wie im Preußischen Landtag gab es jetzt auch im Reichstag eine "negative Mehrheit" der radikalen Flügelparteien. Gestützt auf seinen Wahlerfolg, widerrief Hitler seine Tolerierungszusage. Schleichers Angebot, die NSDAP an der Regierung Papen zu beteiligen, schlug er aus und verlangte für seine Partei am 13. August 1932 von Hindenburg "die Führung einer Regierung und die Staatsführung in vollem Umfange". Der Reichspräsident erteilte ihm eine öffentliche Abfuhr: Er könne es nicht verantworten, "die gesamte Regierungsgewalt ausschließlich der nationalsozialistischen Bewegung zu übertragen, die diese Macht einseitig anzuwenden gewillt sei".

Da der Regierung ein Misstrauensvotum des neuen Reichstages bevorstand, Papen aber längere Zeit im Amt bleiben sollte, ermächtigte Hindenburg den Kanzler am 30. August 1932 zur Auflösung des Parlamentes ohne fristgemäße Neuwahl. Vor einem derart schweren Verfassungsbruch schreckte Papen jedoch zurück. So sprach ihm der Reichstag in seiner ersten Arbeitssitzung mit 512 gegen 42 Stimmen das Misstrauen aus. Noch während der Abstimmung löste Papen durch eine bereits vorbereitete Order des Reichspräsidenten den Reichstag wieder auf.

Hatte die Regierung Papen anfänglich die Brüningsche Deflationspolitik noch verschärft (weitere Beschneidungen des Arbeitslosengeldes, der Krisen- und der Wohlfahrtsunterstützung), so setzte sie bis zur Neuwahl noch einige kräftige wirtschaftspolitische Akzente. Im Juli gründete sie einen " Freiwilligen Arbeitsdienst", dem Ende 1932 bereits 250000 Arbeitslose angehörten. Am 4. September 1932 stellte sie 135 Millionen RM für staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bereit. 700 Millionen RM sollten in Form von beleihbaren Steuergutscheinen in die Unternehmen fließen und der Finanzierung von Investitionen und Neueinstellungen dienen. Mit weiteren Steuergutscheinen im Umfang von 1,5 Milliarden RM sollten die Betriebe in den kommenden Jahren einen Teil ihrer Steuern und Zölle bezahlen können. Unternehmen, die Arbeitslose einstellten, durften die Tariflöhne teilweise um bis zu 20 Prozent unterschreiten. Die staatliche Zwangsschlichtung war bereits am 15. Juni 1932 abgeschafft worden. Insgesamt bedeuteten diese Maßnahmen (die zunächst eher zur Längerbeschäftigung von Kurzarbeitern als zu Neueinstellungen führten) den vorsichtigen Übergang zu einer aktiven Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Papens Programm fand große Zustimmung in der Industrie, während die geplanten Tarifunterschreitungen bei Gewerkschaften und Arbeitnehmern auf heftige Kritik stießen.

Vom 3. bis 7. November kam es bei den Berliner Verkehrsbetrieben zu einem "wilden" Streik, der den gesamten öffentlichen Nahverkehr der Hauptstadt lahmlegte. Organisiert wurde er von Kommunisten und Nationalsozialisten (zum Teil gemeinsam!). Auseinandersetzungen mit der Polizei forderten drei Tote.

Aus dem Ergebnis der Reichstagswahl vom 6. November 1932 schöpften die Demokraten erstmals wieder Hoffnung. Zwar erzielte die KPD wiederum einen beträchtlichen Stimmenzuwachs auf Kosten der SPD und brachte es auf 100 Mandate; auch war die Lage der bürgerlichen Mittelparteien (mit Ausnahme des Zentrums) weiterhin desolat; aber im rechten Lager gab es eine beträchtliche Veränderung. Die "Papen-Parteien" DVP und DNVP verzeichneten leichte Gewinne, während die NSDAP erstmals seit 1928 Verluste hinnehmen musste: Sie verlor gut zwei Millionen Stimmen (4,2 Prozent) bzw. 34 Mandate. Die nationalsozialistische Welle hatte ihren Höhepunkt erreicht und begann

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 131 wieder abzuflauen – so urteilte die seriöse Presse. In der Tat setzte sich der Abwärtstrend der NSDAP am 4. Dezember bei den Kommunalwahlen in Thüringen fort.

Wo lagen die Ursachen für die Stimmenverluste der NSDAP? Offenbar war ein Teil ihrer Wählerschaft mit Hitlers erfolgloser Alles-oder-nichts-Strategie und mit der punktuellen Zusammenarbeit zwischen NSDAP und KPD unzufrieden. Darüber hinaus hatte Hitlers öffentliche Solidarisierung mit brutalen Mördern auf rechtsstaatlich gesinnte Bürger abstoßend gewirkt. Am 10. August 1932 hatten fünf angetrunkene SA-Leute im oberschlesischen Dorf Potempa einen KPD-nahen Arbeitslosen brutal getötet. Als die Täter am 22. August zum Tode verurteilt wurden, schickte Hitler ihnen ein Telegramm: " Meine Kameraden! Angesichts dieses ungeheuerlichen Bluturteils fühle ich mich mit euch in unbegrenzter Treue verbunden. Eure Freiheit ist von diesem Augenblick an eine Frage unserer Ehre, der Kampf gegen eine Regierung, unter der dieses möglich war, unsere Pflicht!" Papen, der als Reichskommissar in Preußen auch das Begnadigungsrecht ausübte, wandelte am 2. September das Todesurteil in eine lebenslängliche Zuchthausstrafe um. Im März 1933 wurden die Täter auf freien Fuß gesetzt.

Rücktritt der Regierung Papen

Am 17. November 1932 trat die Regierung Papen zurück, blieb jedoch geschäftsführend im Amt. Ihre politische Lage war aussichtslos geworden. Auch der neue Reichstag würde ihr das Misstrauen aussprechen oder ihre Notverordnungen aufheben. Schließlich wurde im Kabinett ein "Kampfplan " erwogen: Auflösung des Reichstages ohne Neuwahlen, Ausschaltung der Parteien mit Hilfe von Polizei und Reichswehr, autoritärer Umbau der Verfassung und spätere Billigung dieser Maßnahmen durch eine Volksabstimmung oder eine Nationalversammlung. Hindenburg gefiel der Plan; er akzeptierte aber Schleichers Warnung vor einem Bürgerkrieg. Am 21./22. November bot er Hitler die Bildung einer parlamentarischen Mehrheitsregierung an; der NSDAP-Führer forderte jedoch erneut die Präsidialkanzlerschaft, die ihm Hindenburg abermals verweigerte. In einem Brief an Staatssekretär Meissner vom 23. November 1932 skizzierte Hitler unverblümt seine politischen Absichten: "Es ist daher in der Zukunft die Aufgabe eines Kanzlers, der [...] die Schwerfälligkeit des parlamentarischen Vorgehens als gefährliche Hemmung ansieht, sich eine Mehrheit für ein aufgabenmäßig begrenztes und zeitlich fixiertes Ermächtigungsgesetz zu sichern. Die Aussicht auf den Erfolg eines solchen Versuchs wird umso größer sein, je autoritärer auf der einen Seite die Position dieses Mannes ist und je schwerer auf der anderen die [...] schon in seinen Händen befindliche parlamentarische Macht in die Waage fällt." Am 2. Dezember entließ Hindenburg die Regierung mit großem Bedauern und ernannte Schleicher zum neuen Reichskanzler. Papen blieb aber ein enger Vertrauter des Reichspräsidenten.

Reichskanzlerschaft Schleichers

Schleicher behielt auch als Kanzler das Amt des Reichswehrministers und tauschte lediglich zwei Minister aus. Mit der Ernennung eines "Reichskommissars für Arbeitsbeschaffung" setzte er jedoch einen arbeitnehmerfreundlichen Akzent. Dies veranlasste den Reichstag, der vorläufig keine erneute Auflösung befürchten musste, auf ein sofortiges Misstrauensvotum zu verzichten. Vom 6. bis 9. Dezember 1932 beschloss er die Aufhebung der von Papen ermöglichten Tarifunterschreitungen sowie eine dem sozialen Frieden dienliche Amnestie für politische Straftaten, ausgenommen für Tötungsdelikte. Außerdem änderte er Artikel 51 WV dahingehend, dass künftig nicht der Reichskanzler, sondern der Präsident des Reichsgerichts den Reichspräsidenten vertrat. Starb der greise Hindenburg, so sollte Schleicher nicht die drei mächtigsten Staatsämter auf sich vereinigen. Danach vertagte sich das Parlament.

Scheiternde Bündnispläne

Mit seiner Regierungserklärung vom 15. Dezember 1932 sorgte Schleicher für eine Überraschung,

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 132 indem er sich vom Kapitalismus ebenso distanzierte wie vom Sozialismus. Er sei der "überparteiliche Sachwalter der Interessen aller Bevölkerungsschichten", ein "sozialer General". Er kenne nur ein Ziel: " Arbeit schaffen!" Senkungen der Arbeitseinkommen werde es nicht geben. Im Rahmen einer " Winterhilfe" sollten Fleisch und Kohle billiger werden (was einer Forderung der SPD entsprach). Mit " allen gutwilligen Kräften" im Parlament wolle er zusammenarbeiten. Der Drahtzieher der "Kamarilla " war offenbar zu der Einsicht gelangt, dass die bisherige Regierungsweise mit dem Artikel 48 WV in eine Sackgasse geführt hatte. Stabile autoritäre Verhältnisse hatten sich nicht eingestellt. Die Unzufriedenheit der Bürger mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Präsidialkabinette war bei den in immer kürzeren Abständen abgehaltenen Reichstagswahlen allein der NSDAP und der KPD – zuletzt sogar nur noch den Kommunisten – zugute gekommen.

Deshalb warb Schleicher jetzt bei den Arbeitnehmerflügeln von SPD, Zentrum, DNVP und NSDAP um eine parlamentarische (Tolerierungs-)Basis in Form einer "Querfront". Dafür stellte er eine stärkere Berücksichtigung der Interessen von Arbeitern, Angestellten und Beamten in Aussicht. Hinsichtlich der Nationalsozialisten lief dieser Vorstoß auf eine Abspaltung ihres "linken" Flügels um den Reichsorganisationsleiter und "zweiten Mann" der NSDAP, Gregor Strasser, hinaus. Tatsächlich war Strasser dazu bereit, als Vizekanzler in die Regierung Schleicher einzutreten. Als Hitler jedoch – mit großer Mühe – die Mehrheit der Parteifunktionäre hinter sich brachte, musste Strasser am 8./9. Dezember 1932 von allen Ämtern zurücktreten.

Auch bei den Gewerkschaften aller Richtungen hatte die "Querfront" Interesse geweckt. Aber die SPD, die Schleicher stark misstraute, brachte den ADGB Anfang Januar 1933 von einer Zusammenarbeit mit dem General ab. Dabei vertieften sich die bereits in der Frage der Arbeitsbeschaffungspolitik eingetretenen politischen Spannungen zwischen SPD und Gewerkschaften. Die Linke war jetzt gewissermaßen doppelt gespalten und demzufolge noch mehr geschwächt.

Den großagrarischen Reichslandbund enttäuschte Schleicher, indem er nur die Milchwirtschaft förderte: Per Notverordnung vom 23. Dezember 1932 wurden die Hersteller von Margarine zur Beimischung von Butter gezwungen. Es folgten heftige Proteste: Kritisierten SPD und Gewerkschaften die absehbare Verteuerung des billigen pflanzlichen Grundnahrungsmittels, so bemängelten RDI und DVP die Bevorzugung der Landwirtschaft und fürchteten Lohnforderungen der Gewerkschaften.

Allgemein begrüßt wurde dagegen ein außenpolitischer Fortschritt: Am 11. Dezember 1932 erkannten die USA, Großbritannien, Frankreich und Italien Deutschlands militärische Gleichberechtigung im Grundsatz an – nach der Lösung des Reparationsproblems zeichnete sich eine weitere Teilrevision des Versailler Vertrages ab.

Den breiten Protesten gegen seine Margarineverordnung zufolge musste Schleicher bei der nächsten Reichstagssitzung Anfang Januar mit einem Misstrauensvotum rechnen. Jetzt wollte er denselben verfassungswidrigen Weg beschreiten, den er Papen noch verbaut hatte. Unter strenger Geheimhaltung ließ Schleicher eine Serie von Notverordnungen für den "Staatsnotstand" vorbereiten: Reichstagsauflösung ohne Neuwahl; Verhängung des Ausnahmezustandes und Übertragung der vollziehenden Gewalt auf die Reichswehr im Falle eines Generalstreiks; Streikverbot für den öffentlichen Dienst sowie für lebenswichtige Betriebe unter Androhung harter Strafen; Unterdrückung der Gewerkschaften; Verstärkung des Katastrophenschutzverbandes "Technische Nothilfe", einer bewährten Streikbrecherorganisation. Dies alles lief auf eine befristete Militärdiktatur bis zum Abflauen der Wirtschaftskrise und des politischen Extremismus hinaus.

Ob das die letzte Chance der Weimarer Republik war, Hitler zu vermeiden, ist unter Historikern umstritten und wegen der schillernden, politisch fragwürdigen Figur Schleicher zumindest zweifelhaft. Der Reichspräsident lehnte den Staatsnotstandsplan ab, denn er wollte keine Anklage vor dem Staatsgerichtshof wegen Amtsmissbrauchs riskieren. Auch eine Reichstagsauflösung mit verfassungsgemäßer Neuwahl (sie hätte der NSDAP – ohne den Kanzlerbonus – weitere Verluste beschert) genehmigte er nicht. Am 28. Januar 1933 blieb Schleicher nur noch der Rücktritt. Letztlich

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 133 scheiterte er an den politischen Folgen des Präsidialregimes, das er selbst in hohem Maße mitzuverantworten hatte. Sein Nachfolger stand schon kurz vor der Ernennung: Adolf Hitler, der die " Querfront"-Strategen Schleicher und Strasser 1934 ermorden ließ.

Regierungsübertragung auf die NSDAP

"Das Jahr 1932 war eine ewige Pechsträhne", schrieb Joseph Goebbels am 25. Dezember 1932 in sein (1934 veröffentlichtes) Tagebuch, "man muss es in Scherben schlagen [...]. Die Zukunft ist dunkel und trübe; alle Aussichten vollends entschwunden." Nach drei großen Anläufen – Reichspräsidentenwahl im April, Reichstagswahlen im Juli und November – stand die NSDAP wegen Hitlers Alles-oder-nichts-Politik noch immer vor den Toren der Macht. Ihr Massenanhang hatte abzubröckeln begonnen; die Parteikasse war leer. Schleichers Spaltungsversuch und Gregor Strassers Rücktritt hatten die NSDAP so schwer erschüttert, dass Hitler sich vorübergehend mit Selbstmordgedanken trug. Goebbels besaß also allen Grund zum Pessimismus. Nur fünf Wochen später jedoch, am 30. Januar 1933, notierte er begeistert: "Es ist fast wie ein Traum. Die Wilhelmstraße gehört uns. Der Führer arbeitet bereits in der Reichskanzlei." Diese erstaunliche Wendung lässt sich nur erklären, wenn man die Ziele und Aktivitäten derjenigen Teile der Eliten in Militär, Bürokratie und Wirtschaft in den Blick nimmt, die sich 1932/33 für Hitler einsetzten.

Befürworter Hitlers

Einzelne Schwerindustrielle wie Emil Kirdorf (Rheinisch-Westfälisches Kohlensyndikat) und Fritz Thyssen (Vereinigte Stahlwerke) unterstützten bereits seit 1927 bzw. 1929 die NSDAP. Am 27. Januar 1932 hielt Hitler im Düsseldorfer Industrie-Club einen Vortrag, mit dem er die meisten anwesenden Wirtschaftsvertreter stark beeindruckte.

Denn er verglich die auf das Privateigentum gegründete freie Unternehmerinitiative in der Wirtschaft mit dem nationalsozialistischen Führerprinzip in der Politik und führte beide auf das Leistungsprinzip zurück. Den Zuhörern wurde klar, dass die "sozialistischen" Forderungen im Parteiprogramm der NSDAP von 1920 (Gewinnbeteiligung der Arbeiter in Großbetrieben, Bodenreform, Kommunalisierung der Warenhäuser) lediglich die Partei auch für Arbeiter und kleine Mittelständler wählbar machen sollten, während Hitler in Wirklichkeit nicht daran dachte, die Stellung der Unternehmer oder gar das Privateigentum an Produktionsmitteln anzutasten. Seither flossen der NSDAP auch von dieser Seite erhebliche Spenden zu.

Hitler und seine Vertrauten Hermann Göring und Heinrich Himmler bemühten sich um gute Beziehungen zu Unternehmerkreisen, weil sie wussten, dass die NSDAP ohne Zustimmung zumindest eines Teils der Wirtschaft nicht an die Macht gelangen konnte. Ihre Kontakte führten im Juni 1932 zur Bildung zweier Arbeitsstäbe, in denen einige einflussreiche Bankiers, Industrielle und Großagrarier als wirtschaftspolitische Berater der NSDAP mitarbeiteten: Der ehemalige Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht leitete die nach ihm benannte "Arbeitsstelle Dr. Schacht", der Chemie-Industrielle Wilhelm Keppler den "Studienausschuss für Wirtschaftsfragen". Vor allem der "Keppler-Kreis" bildete im Herbst und Winter 1932 die "Keimzelle für wichtige Grundsatzentscheidungen nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik, und zwar im Sinne der Großwirtschaft" (Dirk Stegmann).

Als das Institut für Konjunkturforschung Ende Oktober erste Anzeichen für eine konjunkturelle Besserung meldete und die NSDAP bei der Novemberwahl erhebliche Verluste erlitt, schien eine Regierung Hitler in weite Ferne zu rücken. Dies veranlasste 22 NSDAP-nahe Vertreter von Schwerindustrie, Großlandwirtschaft, Handel, Schifffahrt und Banken (darunter acht Mitglieder des Keppler-Kreises) am 19. November 1932 zu einer Eingabe an den Reichspräsidenten. Darin forderten sie, endlich "dem Führer der größten nationalen Gruppe" die "Leitung eines mit den besten sachlichen und personellen Kräften ausgestatteten Präsidialkabinetts" zu übertragen. Die Eingabe blieb jedoch erfolglos.

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Im Dezember 1932 alarmierte Schleichers "Querfront"–Politik vollends diejenigen nationalkonservativen Kreise in Wirtschaft, Militär und Bürokratie, die glaubten, ihre antidemokratisch-monarchistischen Ziele nur noch mit Hilfe der nationalsozialistischen Massenbewegung verwirklichen zu können. Schleicher wirkte auf sie wie ein verkappter "Sozialist in Generalsuniform" (Eberhard Kolb). Dass Hitler keine Monarchie, sondern einen "Führerstaat" anstrebte, und dass auch er sozialpolitische Interessen der Arbeitnehmer nicht gänzlich ignorieren konnte, nahmen sie in Kauf. Sie glaubten, die NSDAP so " einrahmen" und "zähmen" zu können, dass sie im Sinne ihrer konservativen Bündnispartner regieren und sich selbst dabei politisch "abnutzen" musste.

Bündnis zwischen Papen und Hitler

Hitlers Fürsprecher besaßen keinen direkten Zugang zum Reichspräsidenten. Dieses Problem lösten sie mit Hilfe Papens, der als einziger in der Lage war, Hindenburgs Misstrauen gegenüber Hitler zu zerstreuen. Trotz seiner schlechten Erfahrungen mit dem NSDAP-Führer wechselte Papen nach dem Ende seiner Kanzlerschaft in das Lager der Hitler-Befürworter, weil er darin eine Chance sah, in die Regierung zurückzukehren. Umgekehrt überwand Hitler jetzt seine Abneigung gegen Papen, da er erkannte, dass sich die NSDAP in einer desolaten Lage befand und er taktische Kompromisse machen musste, wenn er noch an die Macht gelangen wollte.

Mitte Dezember 1932 bot der Kölner Bankier Kurt Freiherr von Schröder, Mitglied des "Keppler-Kreises " und der "Arbeitsstelle Dr. Schacht", Papen die Vermittlung eines Gesprächs mit Hitler an. Am 4. Januar 1933 trafen sich Papen und Hitler in Schröders Privathaus zu einer Unterredung, die als " Geburtsstunde des Dritten Reiches" (Karl Dietrich Bracher) gelten kann. Denn wie Schröder 1947 im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess eidesstattlich erklärte, erzielten der NSDAP-Führer und der Hindenburg-Vertraute "ein prinzipielles Abkommen" über Personal und Politik einer Regierung Hitler- Papen-Hugenberg (letzterer musste dafür erst noch gewonnen werden), die möglichst schnell das Kabinett Schleicher ablösen sollte. Als Reichskanzler wollte Hitler unter anderem für "die Entfernung aller Sozialdemokraten, Kommunisten und Juden von führenden Stellungen" und für die " Wiederherstellung der Ordnung im öffentlichen Leben" sorgen. Papen sollte Vizekanzler werden. Einzelheiten sollten in weiteren Besprechungen geklärt werden.

Folgt man Schröder, so zielten zu diesem Zeitpunkt die "allgemeinen Bestrebungen der Männer der Wirtschaft" auf einen "starken Führer", der dauerhaft regieren, ihnen die "Angst vor dem Bolschewismus " nehmen und eine "beständige politische und wirtschaftliche Grundlage in Deutschland" schaffen sollte. Auch seien von ihm umfangreiche Staatsaufträge erwartet worden. Demgegenüber hat die neuere historische Forschung ergeben, dass Ende 1932/Anfang 1933 keineswegs die gesamte Wirtschaft hinter Hitler stand. Während sich große Teile der besonders krisengeschüttelten Schwerindustrie an Rhein und Ruhr (Bergbau, Eisen- und Stahlerzeugung) der NSDAP zuwandten, stimmten die übrigen Industrien (Maschinenbau, Elektrotechnik, Optik, Chemie, Pharmazie und andere) weitgehend der Politik des Reichskanzlers Papen zu. Auch die Banken nahmen keine einheitliche Haltung ein. Hitlers Ernennung zum Regierungschef erfolgte also "bei gespaltener Industriefront" (Reinhard Neebe).

Sondierungsgespräche

Am 9. Januar 1933 erteilte Hindenburg (hinter dem Rücken des Kanzlers Schleicher) Papen die Genehmigung, Verhandlungen über eine von ihm geführte Regierung unter Beteiligung der NSDAP aufzunehmen. In diversen Sondierungsgesprächen, unter Mitwirkung einiger Industrieller, kam es in dem machtstrategischen Dreieck NSDAP – Papen/Hindenburg/"Kamarilla" – DNVP/Stahlhelm schrittweise zu einer politischen Verständigung. Gleichzeitig wandten sich immer mehr Personen, die Hindenburg persönlich schätzte – darunter der ehemalige Kronprinz Wilhelm, Gutsnachbar Oldenburg- Januschau und der alte Regimentskamerad General Werner von Blomberg – an den Reichspräsidenten und empfahlen ihm die Bildung einer von Hitler geführten Regierung aus Stahlhelm, DNVP und NSDAP.

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Strittig zwischen NSDAP und DNVP blieb Hitlers Forderung nach einem nationalsozialistischen Reichskommissar im preußischen Innenministerium (um die preußische Polizei zu kontrollieren) und nach Reichstagsneuwahlen im Anschluss an die Regierungsbildung (um mit dem Kanzlerbonus eine Mehrheit für das geplante "Ermächtigungsgesetz" zu erhalten). Währenddessen wurde Schleichers politische Stellung immer schwächer: Da er im Osten ähnliche Siedlungspläne wie Brüning hegte, geriet er in Konflikt mit Hindenburg und verlor die parlamentarische Unterstützung der DNVP; am 28. Januar musste er zurücktreten. Der Reichspräsident erwog jetzt ernsthaft eine Kanzlerschaft Hitlers; seine Bedingung, Blomberg müsse Reichswehrminister werden, war dem NSDAP-Führer nur recht, denn der General stand (ohne Hindenburgs Wissen) schon seit längerem den Nationalsozialisten nahe.

Hitler wird Reichskanzler

Am Vormittag des 29. Januar 1933 einigten sich Hitler, Göring und Papen darauf, dass Papen Reichskommissar für Preußen, Göring kommissarischer preußischer Innenminister werden sollte. Der frühere thüringische NSDAP-Minister Wilhelm Frick war als Reichsinnenminister vorgesehen. Am Nachmittag sprach Papen mit Hugenberg und den Stahlhelm-Führern Seldte und Duesterberg. Hugenberg war noch immer gegen Neuwahlen; aber das Angebot Hindenburgs, Doppelminister für Wirtschaft und Landwirtschaft im Reich und in Preußen zu werden, fand er verlockend. Seldte wünschte sich das Arbeitsministerium; Duesterberg blieb distanziert. Nachdem auch mehrere Mitglieder des Schleicher-Kabinetts ihre Mitarbeit angeboten hatten, war die Ministerliste fast komplett.

Zwei Ereignisse beschleunigten die Entwicklung. Zum einen wünschte Hindenburg eine rasche Regierungsbeteiligung der Zentrumspartei, damit diese nicht länger im Haushaltsausschuss die Untersuchung des peinlichen "Osthilfe-Skandals" forcierte. Ostelbische Gutsbesitzer, darunter Hindenburgs Freund Oldenburg-Januschau, hatten offenbar mehr wirtschaftliche Subventionen erhalten, als ihnen zustanden, und diese zum Teil für private Zwecke ausgegeben. Mit der Zusicherung, den Eintritt des Zentrums in eine parlamentarische Mehrheitsregierung Hitler-Papen-Hugenberg (ohne den Artikel 48 WV) anzustreben, kam Papen Hindenburgs Vorstellungen entgegen und zerstreute zugleich dessen letzte Bedenken gegen Hitlers Kanzlerschaft. Für die Zentrumspartei wurde das Justizressort offen gehalten.

Zum anderen führten am Abend des 29. Januar 1933 verbreitete Gerüchte über einen bevorstehenden Militärputsch Schleichers dazu, dass der am nächsten Morgen in Berlin eintreffende designierte Reichswehrminister Blomberg sofort zu Hindenburg gebracht und noch vor dem Reichskanzler vereidigt wurde – ein verfassungswidriger Vorgang.

Die künftigen Regierungsmitglieder waren um 10.45 Uhr zum Reichspräsidenten bestellt. Noch immer wehrte sich Hugenberg gegen eine Reichstagsauflösung. Papen verwies eindringlich auf den (angeblich) drohenden Militärputsch; Hitler versprach, auch nach Neuwahlen keinen Minister zu entlassen. Hugenberg blieb bei seinem Nein, ging aber doch mit den anderen mit, als Meissner drängte, man könne den Reichspräsidenten nicht länger warten lassen. Um 11 Uhr leisteten Hitler, Göring und Frick, Papen, Hugenberg, Seldte und weitere vier (parteilose) konservative Minister den Amtseid auf die Weimarer Verfassung.

Oberflächlich betrachtet waren die drei Nationalsozialisten in der Regierung tatsächlich "eingerahmt ": durch den Reichspräsidenten, Vertreter des Stahlhelm (Seldte), der DNVP (Hugenberg) und durch die parteilosen Fachminister. Aber die NSDAP besaß strategisch wichtige Schlüsselstellungen: Reichskanzler Hitler leitete die Kabinettssitzungen und bestimmte die "Richtlinien der Politik" (Art. 56 WV), Innenminister Frick war unter anderem für die Vorbereitung und Durchführung von Gesetzen bzw. Notverordnungen zur inneren Sicherheit (zum Beispiel Zeitungs-, Versammlungs- und Parteienverbote) zuständig. Dem Minister ohne Geschäftsbereich Göring unterstand als Reichskommissar das preußische Innenministerium – und demzufolge die größte deutsche Landespolizei. Hinzu kam die NSDAP-Nähe des Reichswehrministers von Blomberg. Es zeugt daher

bpb.de Dossier: Weimarer Republik (Erstellt am 03.06.2021) 136 von einem beträchtlichen Realitätsverlust, wenn Papen gegenüber einem konservativen Kritiker äußerte: "Was wollen Sie denn? Ich habe das Vertrauen Hindenburgs. In zwei Monaten haben wir Hitler so in die Ecke gedrückt, dass er quietscht."

Tatsächlich konnte die NSDAP ihre "Einrahmung" schon am nächsten Tag durchlöchern, als Reichskanzler Hitler die ihm auferlegten Verhandlungen mit dem Zentrumsführer Kaas mit seiner unannehmbaren Forderung nach einer einjährigen Vertagung des Reichstages absichtlich zum Scheitern brachte. Danach bat er Hindenburg um Auflösung des Parlamentes, da er mit dem gegenwärtigen Reichstag nicht regieren könne. Der Präsident möge sich keine Sorgen machen – diese Neuwahlen, so versprach er doppeldeutig, würden "die letzten" sein. Hindenburg stimmte zu und erteilte am 1. Februar 1933 die Auflösungsorder.

Ohnmacht der Hitler-Gegner

Die Gegner der NSDAP waren über Hitlers Ernennung zum Reichskanzler bestürzt, aber eine gemeinsame Aktion brachten sie nicht zustande. Die KPD rief zum Generalstreik auf und schlug der SPD die Bildung einer "Einheitsfront" vor. Doch die Sozialdemokraten sahen auch jetzt keine Basis für eine Zusammenarbeit – frühere kommunistische Einheitsfrontangebote hatten stets das erklärte Ziel verfolgt, die sozialdemokratischen Arbeiter von ihrer "sozialfaschistischen" Führung zu trennen; auch kämpfte die KPD nach wie vor für ein "Sowjetdeutschland". Die SPD beschränkte sich darauf, ihre Mitglieder und Anhänger zur Bewahrung von "Kaltblütigkeit, Entschlossenheit, Disziplin und Einigkeit" aufzurufen und die neue Regierung vor Verfassungsbrüchen zu warnen.

Für die Gewerkschaften kam ein Generalstreik so wenig infrage wie im Juli 1932. Von der Zentrumspartei, die ja Koalitionen mit der NSDAP durchaus wünschte, war Widerstand nicht zu erwarten. Die bürgerlich-liberalen Parteien spielten aufgrund ihrer Schwäche kaum noch eine Rolle.

Vor allem zahlte sich jetzt Hitlers Legalitätstaktik aus. Die NSDAP hatte die politische Macht nicht erobert, sondern sie war ihr, scheinbar verfassungskonform, in die Hände gelegt worden. Stattgefunden hatte keine "Machtergreifung", wie die NS-Propaganda später prahlte, sondern eine begrenzte Machtübertragung, nämlich die Beauftragung Hitlers mit der Führung einer parlamentarischen Regierung. Wenn es der NSDAP gelang, binnen eineinhalb Jahren ihre Gegner auszuschalten, ihre Koalitionspartner abzuschütteln und einen diktatorischen "Führerstaat" zu errichten, so vor allem deshalb, weil sie – im Sinne der Lehren des "Preußenschlages" – diesen Prozess als eine "legale Revolution" inszenierte: nämlich als "tiefgreifende Änderung aller Dinge", die aber "im Rahmen von Recht und Verfassung" erfolgte – freilich kombiniert mit kaum verhülltem Terror. Das hat "jeden Widerstand rechtlicher, politischer oder auch geistiger Art so schwierig, ja – wie viele meinen – praktisch fast unmöglich gemacht" (Karl Dietrich Bracher). Denn wer die Entwicklung zur Diktatur aufhalten wollte, musste sich in die Illegalität begeben – das schreckte ab. Als aber das "Dritte Reich" errichtet war und die Unmenschlichkeit seiner Herrschaftsziele und -methoden alles Dagewesene in den Schatten stellte, war es für einen breiten, erfolgreichen Widerstand zu spät.

Die Weimarer Republik aus der Sicht der Geschichtswissenschaft

[...] Die Historiker sind sich heute zumindest darin einig, dass das Scheitern der Republik und die nationalsozialistische "Machtergreifung" nur durch die Aufhellung eines sehr komplexen Ursachengeflechts plausibel erklärt werden können. Dabei sind vor allem folgende Determinanten zu berücksich-tigen: institutionelle Rahmenbedingungen, etwa die verfassungsmäßigen Rechte und Möglichkeiten des Reichspräsidenten, zumal beim Fehlen klarer parlamentarischer Mehrheiten; die ökonomische Entwicklung mit ihren Auswirkungen auf die politischen und gesellschaftlichen Machtverhältnisse; Besonderheiten der politischen Kultur in Deutschland (mitverantwortlich zum Beispiel für die Republikferne der Eliten, die überwiegend der pluralistisch-parteienstaatlichen Demokratie ablehnend gegenüberstanden); Veränderungen im sozialen Gefüge, beispielsweise

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Umschichtungen im "Mittelstand" mit Konsequenzen, unter anderem für politische Orientierung und Wahlverhalten mittelständischer Kreise; ideologische Faktoren (autoritäre Traditionen in Deutschland; extremer Nationalismus, verstärkt durch Kriegsniederlage, Dolchstoß-Legende und Kriegsunschuldspropaganda; " Führererwartung" und Hoffnung auf den "starken Mann", wodurch einem charismatischen Führertum wie dem Hitlers der Boden bereitet wurde); massenpsychologische Momente, zum Beispiel Erfolgschancen einer massensuggestiven Propaganda infolge kollektiver Entwurzelung und politischer Labilität breiter Bevölkerungssegmente; schließlich die Rolle einzelner Persönlichkeiten an verantwortlicher Stelle, in erster Linie zu nennen sind hier Hindenburg, Schleicher, Papen.

Die Antwort, die auf die Frage nach dem Scheitern der Weimarer Demokratie und der Ermöglichung Hitlers gegeben wird, hängt in ihrer Nuancierung wesentlich davon ab, wie die verschiedenen Komponenten gewichtet und dann zu einem konsistenten Gesamtbild zusammengefügt werden, denn Gewichtung und Verknüpfung sind nicht durch das Quellenmaterial in einer schlechthin zwingenden Weise vorgegeben, sie bilden die eigentliche Interpretationsleistung des Historikers. [...]

Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik, Oldenbourg, München 2002, S. 250 f.

[...] Woran ist also Weimar gescheitert? Die Antwort ist nicht mit letzter wissenschaftlicher Präzision zu geben, aber einiges lässt sich doch ausmachen: die wichtigsten Gründe liegen auf dem Feld der Mentalitäten, der Einstellungen und des Denkens. In der Mitte des Ursachenbündels finden sich eine Bevölkerungsmehrheit, die das politische System von Weimar auf die Dauer nicht zu akzeptieren bereit war, sowie Parteien und Verbände, die sich den Anforderungen des Parlamentarismus nicht gewachsen zeigten. Die Ursachen für diese Defekte dürften überwiegend in langfristigen, aus den besonderen Bedingungen der preußisch-deutschen Geschichte zu erklärenden Zusammenhängen zu suchen sein, verstärkt durch die Entstehungsbedingungen des Weimarer Staatswesens und seiner außenpolitischen Belastungen. Die Übertragung dieser ungünstigen Gruppenmentalitäten auf das Weimarer Regierungssystem wurde durch den Wahlrechtsmodus erheblich begünstigt. [...] Die antirepublikanischen Tendenzen in Armee, Bürokratie und Justiz waren grundsätzlich beherrschbar, eine Frage des Machtbewusstseins von Parteien und Regierung. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen waren hauptsächlich langfristig wirksam, indem sie auf die Mentalitäten von Bevölkerung und einzelnen Gruppen einwirkten; aktuelle ökonomische Krisen verstärkten die destabilisierenden Momente, verursachten sie aber nicht.

Lapidar lässt sich also schließen: Bevölkerung, Gruppen, Parteien und einzelne Verantwortliche haben das Experiment Weimar scheitern lassen, weil sie falsch dachten und deshalb falsch handelten. [...]

Hagen Schulze, Weimar. Deutschland 1917-1933, Siedler Verlag /Random House, Berlin 1994, S. 425

[...] Die Reichstagswahl im Mai 1928 schien die Konsolidierung der Republik zu bestätigen. Allerdings bezahlten alle bürgerlichen Parteien ihre zeitweilige Regierungsbeteiligung mit Wählerverlusten, und in allen kam es daraufhin zu einer Kräfteverschiebung nach rechts. In der DNVP setzte sich der radikale, strikt antiparlamentarische alldeutsche Flügel durch. Auch die Haltung der Unternehmerverbände verhärtete sich wieder.

Doch erst unter dem Druck der beginnenden Weltwirtschaftskrise fielen jene fatalen politischen Entscheidungen, durch die sich die offene Situation immer mehr zu einer schlechten, wenn auch bis zum Ende nie aussichtslosen Zukunftsperspektive für die Republik verengte. Erst jetzt entstand jenes Machtvakuum, das die Verächter der Demokratie in der Umgebung des Reichspräsidenten für ihre Zwecke ausnutzen konnten. Der NSDAP gelang ihr grandioser Aufstieg von der politischen Sekte zur mächtigen "Volkspartei des Protests" vor allem aus zwei Gründen: Die eine Ursache war, daß breite Bevölkerungsschichten den Staat für die Verletzung ihrer elementaren Interessen verantwortlich machten, die soziale Gerechtigkeit grob mißachtet sahen und sich von den etablierten Parteien nicht mehr repräsentiert fühlten. Dazu kam als zweite Ursache, daß die politischen und gesellschaftlichen Eliten die rechtsradikalen Staatsfeinde in Dienst zu stellen hofften, statt sie energisch zu bekämpfen.

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Bereits in der Agrarkrise der späten zwanziger Jahre zeichnete sich ab, daß die politische Mobilisierung der empörten Landbewohner überwiegend der NSDAP zugute kam. In der Weltwirtschaftskrise bestätigte sich dieser Trend in den Städten. Je mehr sich die sozialen Spannungen verschärften, desto attraktiver wurden die ideologischen Angebote der NSDAP: Wiederherstellung der "Volksgemeinschaft " unter einem starken, gerechten "Führer", Zähmung der Kapitalisten und Vernichtung der " Bolschewisten". Die Widersprüchlichkeit der Parolen bot den verschiedenen Schichten An- knüpfungspunkte für ihren Protest. Angstgeplagten Bürgern machte die bei Demonstrationen und Aufmärschen zur Schau gestellte Durchsetzungskraft der Nationalsozialisten Mut. Junge Menschen wurden durch die Dynamik der "Bewegung" in besonderer Weise angezogen, und dies wiederum schien der NSDAP in den Augen vieler Älterer die Zukunft zu verheißen.

1930, als der schwere Konjunkturrückschlag harte finanz- und sozialpolitische Einschnitte erzwang, sich jedoch noch nicht zu einer fundamentalen Wirtschaftskrise ausgeweitet hatte, kündigte sich die Gefährdung der Republik von rechts bei der Septemberwahl in der sprunghaften, gewaltigen Zunahme der NSDAP-Stimmen an. Aber noch stand weniger als ein Fünftel der Wähler im nationalsozialistischen Lager. Die Bildung einer parlamentarisch verankerten Mehrheitsregierung unter Ausschluß der extremen Flügelparteien NSDAP, DNVP und KPD war weiterhin möglich [...]. Dieser Weg setzte allerdings einen über alle Interessengegensätze hinwegreichenden Konsens voraus, die demokratische Verfassung unbedingt zu erhalten, und diesen Konsens gab es nicht. Vielmehr entschlossen sich die konservativen Machteliten jetzt, dauerhaft gegen die stärkste demokratische Partei, die SPD, zu regieren und vom parlamentarischen zum autoritären System überzugehen. [...]

Die Weimarer Republik mußte in der kurzen Zeit ihres Bestehens mit enormen Schwierigkeiten fertig werden. Wegen ihrer großen strukturellen "Vorbelastungen", der vielfältigen sozialen Spannungen, der Schwächen ihrer Eliten und der überzogenen Erwartungen ihrer Bürger war sie dafür schlecht gerüstet. Den letzten Stoß aber erhielt sie durch den revisionistischen Ehrgeiz einer konservativen politischen Führung, die seit der Ära Brüning inmitten einer dramatischen Wirtschafts- und Staatskrise danach strebte, die außen- und innenpolitische Niederlage von 1918 zu überwinden.

Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918-1933, Klett-Cotta, Stuttgart 2008, S. 507 ff.

Dieser Text ist zuerst in den Informationen zur politischen Bildung (http://www.bpb.de/ izpb/55949/vom-kaiserreich-zur-republik-1918-19) Heft 261 erschienen.

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27.9.2018

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