Plenarprotokoll 15/135

Deutscher

Stenografischer Bericht

135. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Inhalt:

Begrüßung des Parlamentspräsidenten aus – zu dem Antrag der Abgeordneten Ina Norwegen, Herrn Kosmo ...... 12325 B Lenke, Klaus Haupt, , wei- terer Abgeordneter und der Fraktion Begrüßung der neuen Abgeordneten der FDP: Solides Finanzierungskon- Hildegard Wester ...... 12279 A zept für den Ausbau von Kinderbe- treuungsangeboten für unter Drei- Benennung der Abgeordneten Kerstin jährige Andreae als ordentliches Mitglied und der Abgeordneten als stellvertre- (Drucksachen 15/3488, 15/3512, 15/4045) 12280 D tendes Mitglied für den Verwaltungsrat bei c) Beschlussempfehlung und Bericht des der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungs- Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen aufsicht ...... 12279 B und Jugend Benennung des Abgeordneten Dr. Hans- – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Krüger als Schriftführer ...... 12279 B Caren Marks, Christel Humme, Sabine Bätzing, weiterer Abgeordneter und Erweiterung der Tagesordnung ...... 12279 B der Fraktion der SPD sowie der Abge- Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 12280 B ordneten Ekin Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, Jutta Dümpe-Krüger, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Tagesordnungspunkt 3: NEN: Ausbau von Förderungsange- a) Zweite und dritte Beratung des von der boten für Kinder in vielfältigen Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Formen als zentraler Beitrag öffent- eines Gesetzes zum qualitätsorientierten licher Mitverantwortung für die Bil- und bedarfsgerechten Ausbau der Ta- dung, Erziehung und Betreuung von gesbetreuung und zur Weiterentwick- Kindern lung der Kinder- und Jugendhilfe (Ta- – zu dem Antrag der Abgeordneten gesbetreuungsausbaugesetz – TAG) Ingrid Fischbach, Maria Eichhorn, Dr. (Drucksachen 15/3676, 15/3986, 15/4045) 12280 C Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Aus- b) Beschlussempfehlung und Bericht des bau und Förderung der Tagespflege Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen als Form der Kinderbetreuung in und Jugend der Bundesrepublik Deutschland – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. – zu dem Antrag der Abgeordneten Ina Maria Böhmer, , Lenke, Rainer Brüderle, Angelika Maria Eichhorn, weiterer Abgeordne- Brunkhorst, weiterer Abgeordneter ter und der Fraktion der CDU/CSU: und der Fraktion der FDP: Tages- Elternhaus, Bildung und Betreuung pflege als Baustein zum bedarfsge- verzahnen rechten Kinderbetreuungsangebot – II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Bessere Rahmenbedingungen für b) Antrag der Fraktionen der SPD und des Tagesmütter und -väter, Eltern und BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Kinder Türkeipolitik der EU verlässlich fort- – zu dem Antrag der Abgeordneten führen und den Weg für Beitrittsver- Klaus Haupt, Ina Lenke, Cornelia handlungen mit der Türkei frei machen Pieper, weiterer Abgeordneter und der (Drucksache 15/4031) ...... 12307 C Fraktion der FDP: Faire Chancen für jedes Kind – Für eine bessere Bil- in Verbindung mit dung, Erziehung und Betreuung von Anfang an (Drucksachen 15/2580, 15/2651, 15/1590, Zusatztagesordnungspunkt 6: 15/2697, 15/3036) ...... 12281 B Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang d) Beschlussempfehlung und Bericht des Gerhardt, Dr. , Dr. Werner Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Frak- und Jugend zu dem Antrag der Abgeord- tion der FDP: Zu der Empfehlung der EU- neten Maria Eichhorn, Dr. Maria Böhmer, Kommission über Beitrittsverhandlungen , weiterer Abgeordneter der Europäischen Union mit der Türkei und der Fraktion der CDU/CSU: Frauen (Drucksache 15/4064) ...... 12307 C und Männer beim Wiedereinstieg in Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU) ...... 12307 C den Beruf fördern (Drucksachen 15/1983, 15/3035) ...... 12281 B (SPD) ...... 12310 B , Bundesministerin Dr. Guido Westerwelle (FDP) ...... 12312 D BMFSFJ ...... 12281 C (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ Maria Eichhorn (CDU/CSU) ...... 12284 A DIE GRÜNEN) ...... 12314 B Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU) . . . . . 12315 C DIE GRÜNEN) ...... 12285 C Dr. Gerd Müller (CDU/CSU) ...... 12316 C Ina Lenke (FDP) ...... 12288 A Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ Nicolette Kressl (SPD) ...... 12289 B DIE GRÜNEN) ...... 12318 A Maria Eichhorn (CDU/CSU) ...... 12289 C Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD) ...... 12318 D Peter Götz (CDU/CSU) ...... 12291 D (fraktionslos) ...... 12321 B Christel Humme (SPD) ...... 12292 D Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 12322 B Caren Marks (SPD) ...... 12294 B (CDU/CSU) ...... 12325 C Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 12295 A Dr. Guido Westerwelle (FDP) ...... 12326 B Maria Eichhorn (CDU/CSU) ...... 12295 C Klaus Haupt (FDP) ...... 12296 C Günter Gloser (SPD) ...... 12328 C Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . 12297 C Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU) ...... 12330 B (CDU/CSU) ...... 12298 C Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12332 C Maria Eichhorn (CDU/CSU) ...... 12300 A Dr. (FDP) ...... 12333 C Dr. (CDU/CSU) ...... 12300 B Christel Humme (SPD) ...... 12302 B Tagesordnungspunkt 27: Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 12303 B a) Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung Ingrid Fischbach (CDU/CSU) ...... 12304 B des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristi- Tagesordnungspunkt 4: sche Angriffe gegen die USA auf a) Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Grundlage des Art. 51 der Satzung der Schäuble, Dr. Friedbert Pflüger, Peter Vereinten Nationen und des Art. 5 des Hintze, weiterer Abgeordneter und der Nordatlantikvertrags sowie der Resolu- Fraktion der CDU/CSU: Für ein glaub- tionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des würdiges Angebot der EU an die Türkei Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (Drucksache 15/3949) ...... 12307 B (Drucksache 15/4032) ...... 12334 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 III b) Erste Beratung des von der Bundesregie- zungsprotokoll vom 14. Mai 2003 rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zwischen der Bundesrepublik Deutsch- zes zur Änderung von wegerechtlichen land und der Republik Polen zu dem Vorschriften Vertrag vom 10. November 1989 zwi- (Drucksache 15/3982) ...... 12334 D schen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die c) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Förderung und den gegenseitigen brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Schutz von Kapitalanlagen Änderung des Gesetzes über das Woh- (Drucksache 15/3885) ...... 12335 C nungseigentum und das Dauerwohn- recht j) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 15/3423) ...... 12335 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Vertrag vom 27. März 2003 d) Erste Beratung des von der Bundesregie- zwischen der Bundesrepublik Deutsch- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- land und der Republik Tadschikistan zes zu den Änderungsurkunden vom über die Förderung und den gegenseiti- 18. Oktober 2002 zur Konstitution und gen Schutz von Kapitalanlagen zur Konvention der Internationalen (Drucksache 15/3886) ...... 12335 C Fernmeldeunion vom 22. Dezember 1992 Drucksache 15/3879) ...... 12335 A k) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- e) Erste Beratung des von der Bundesregie- zes zur Änderung des Ehe- und Lebens- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- partnerschaftsnamensrechts zes zu dem Abkommen vom 30. Sep- (Drucksache 15/3979) ...... 12335 D tember 2003 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und l) Erste Beratung des von der Bundesregie- der Regierung der Republik Bulgarien rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- über die Zusammenarbeit bei der Be- zes zum internationalen Familienrecht kämpfung der organisierten und der (Drucksache 15/3981) ...... 12335 D schweren Kriminalität m) Antrag der Abgeordneten Günther (Drucksache 15/3880) ...... 12335 A Friedrich Nolting, Helga Daub, Jörg van f) Erste Beratung des von der Bundesregie- Essen, weiterer Abgeordneter und der rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Fraktion der FDP: Angleichung der Ost- zes zu dem Abkommen vom 14. Mai Besoldung an Westniveau 2003 zwischen der Bundesrepublik (Drucksache 15/589) ...... 12335 D Deutschland und der Republik Indone- n) Antrag der Abgeordneten Hans-Michael sien über die Förderung und den gegen- Goldmann, (Münster), Horst seitigen Schutz von Kapitalanlagen Friedrich (Bayreuth), weiterer Abgeordne- (Drucksache 15/3882) ...... 12335 B ter und der Fraktion der FDP: Bessere g) Erste Beratung des von der Bundesregie- Möglichkeiten im Kampf gegen Trun- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- kenheitsfahrten in der Seeschifffahrt zes zu dem Änderungsprotokoll vom schaffen 26. August 2003 zu dem Vertrag vom (Drucksache 15/3725) ...... 12335 D 28. Februar 1994 zwischen der Bundes- republik Deutschland und der Republik Moldau über die Förderung und den Zusatztagesordnungspunkt 2: gegenseitigen Schutz von Kapitalanla- a) Erste Beratung des von der Bundesregie- gen rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Drucksache 15/3883) ...... 12335 B zes zu dem Dritten Zusatzprotokoll vom h) Erste Beratung des von der Bundesregie- 4. Juni 2004 zum Abkommen vom rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- 16. Juni 1959 zwischen der Bundesre- zes zu dem Abkommen vom 10. Juli publik Deutschland und dem König- 2000 zwischen der Regierung der Bun- reich der Niederlande zur Vermeidung desrepublik Deutschland und der Paläs- der Doppelbesteuerung auf dem Ge- tinensischen Befreiungsorganisation zu- biete der Steuern vom Einkommen und gunsten der Palästinensischen Behörde vom Vermögen sowie verschiedener über die Förderung und den gegenseiti- sonstiger Steuern und zur Regelung an- gen Schutz von Kapitalanlagen derer Fragen auf steuerlichem Gebiete (Drucksache 15/3884) ...... 12335 B (Drucksache 15/4026) ...... 12336 A i) Erste Beratung des von der Bundesregie- b) Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe Küster, rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Dirk Manzewski, Jörg Tauss, weiterer zes zu dem Änderungs- und Ergän- Abgeordneter und der Fraktion der SPD IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, tung durch die Bundesregierung: Entwurf , (Köln), weite- Gesamthaushaltsplan der Europäischen rer Abgeordneter und der Fraktion des Gemeinschaften für das Haushaltsjahr BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Wett- 2005 bewerb und Innovationsdynamik im Ratsdok. 11445/04 Softwarebereich sichern – Patentie- (Drucksachen 15/3779 Nr. 1.57, 15/3874) 12338 C rung von Computerprogrammen effek- tiv begrenzen h) Beschlussempfehlung und Bericht des (Drucksache 15/4034) ...... 12336 A Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- nungswesen Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) (zur Geschäftsordnung) ...... 12336 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Weis, Siegfried Scheffler, Sören (Wiesloch) (SPD) Bartol, weiterer Abgeordneter und der (zur Geschäftsordnung) ...... 12337 A Fraktion der SPD, der Abgeordneten Günter Nooke, Dirk Fischer (Ham- burg), , weiterer Abge- Tagesordnungspunkt 28: ordneter und der Fraktion der CDU/ CSU, der Abgeordneten Franziska a) Zweite und dritte Beratung des von der Eichstädt-Bohlig, Irmingard Schewe- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Gerigk, Volker Beck (Köln), weiterer eines Gesetzes zur Umsetzung gemein- Abgeordneter und der Fraktion des schaftsrechtlicher Vorschriften über die BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN so- grenzüberschreitende Prozesskosten- wie der Abgeordneten Joachim hilfe in Zivil- und Handelssachen in den Günther (Plauen), Mitgliedstaaten (EG-Prozesskostenhil- (Bayreuth), Eberhard Otto (Godern), fegesetz) weiterer Abgeordneter und der Frak- (Drucksachen 15/3281, 15/4057) ...... 12337 B tion der FDP: Planung und städte- b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung bauliche Zielvorstellungen des Bun- des von der Bundesregierung eingebrach- des für den Bereich beiderseits der ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Be- Spree zwischen Marschallbrücke schluss der im Rat der Europäischen und Weidendammer Brücke vorle- Union vereinigten Vertreter der Regie- gen rungen der Mitgliedstaaten vom – zu dem Antrag der Abgeordneten 28. April 2004 betreffend die Vorrechte Günter Nooke, Dirk Fischer (Ham- und Immunitäten von ATHENA burg), Eduard Oswald, weiterer Abge- (Drucksachen 15/3787, 15/4058) ...... 12337 C ordneter und der Fraktion der CDU/ c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung CSU: Planung und städtebauliche des von der Bundesregierung einge- Zielvorstellungen des Bundes für brachten Entwurfs eines Gesetzes zum den Bereich beiderseits der Spree EU-Truppenstatut vom 17. November zwischen Marschallbrücke und Wei- 2003 dendammer Brücke vorlegen (Drucksachen 15/3786, 15/4059) ...... 12337 D (Drucksachen 15/2981, 15/2157, 15/3939) 12338 D d) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs i) – m) eines Gesetzes zur Anpassung von Ver- Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- jährungsvorschriften an das Gesetz zur schusses: Sammelübersichten 153, 154, Modernisierung des Schuldrechts 155, 156 und 157 zu Petitionen (Drucksachen 15/3653, 15/4060) ...... 12338 A (Drucksachen 15/3961, 15/3962, 15/3963, e) Zweite und dritte Beratung des von der 15/3964, 15/3965) ...... 12339 B Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Ausschluss von Dienst-, Amts- und Versorgungsbezü- Tagesordnungspunkt 5: gen von den Einkommensanpassungen 2003/2004 (Anpassungsausschlussge- a) Erste Beratung des von der Bundesregie- setz) rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Drucksachen 15/3783, 15/3985, 15/4044) 12338 B zes zur Reform der beruflichen Bildung (Berufsbildungsreformgesetz – BerBi- g) Beschlussempfehlung und Bericht des RefG) Haushaltsausschusses zu der Unterrich- (Drucksache 15/3980) ...... 12339 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 V b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: ordneten und der Fraktion der SPD sowie den Berufsbildungsbericht 2004 Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, (Drucksache 15/3299) ...... 12339 D Jerzy Montag, Hans-Christian Ströbele, wei- teren Abgeordneten und der Fraktion des , Bundesministerin BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- BMBF ...... 12340 A brachten Entwurfs eines … Strafrechts- (CDU/CSU) ...... 12342 B änderungsgesetzes – §§ 180 b, 181 StGB (StrÄndG) Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 15/3045, 15/4048) ...... 12368 D DIE GRÜNEN) ...... 12344 C , Bundesministerin BMJ . . . . 12369 A (Homburg) (FDP) . . . . . 12346 B Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) Dieter Grasedieck (SPD) ...... 12347 D (CDU/CSU) ...... 12370 A Werner Lensing (CDU/CSU) ...... 12348 D Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ Petra Pau (fraktionslos) ...... 12350 D DIE GRÜNEN) ...... 12371 A (SPD) ...... 12351 C Jörg van Essen (FDP) ...... 12372 C (CDU/CSU) ...... 12354 A Erika Simm (SPD) ...... 12373 B Jörg Tauss (SPD) ...... 12354 D Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (FDP) ...... 12355 A (CDU/CSU) ...... 12374 A (CDU/CSU) ...... 12374 C Tagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Karl-Josef Tagesordnungspunkt 8: Laumann, Dagmar Wöhrl, , weiterer Abgeordneter und der Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Fraktion der CDU/CSU: Reibungslose Um- schusses für Verbraucherschutz, Ernährung setzung von Hartz IV im Interesse der Be- und Landwirtschaft troffenen sicherstellen – zu dem Antrag der Abgeordneten (Drucksache 15/3803) ...... 12356 A Dr. Christel Happach-Kasan, Hans- (CDU/CSU) ...... 12356 B Michael Goldmann, Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion , Parl. Staatssekretär BMWA . . . 12357 D der FDP: Projekt des Umweltbundesam- Dr. (CDU/CSU) ...... 12358 D tes zur so genannten verdeckten Feldbe- obachtung stoppen Dirk Niebel (FDP) ...... 12360 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Gitta Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ Connemann, Peter H. Carstensen (Nord- DIE GRÜNEN) ...... 12361 D strand), Dr. , weiterer Abgeord- Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU) ...... 12362 C neter und der Fraktion der CDU/CSU: Vertrauensvolle und konstruktive Zu- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ sammenarbeit zwischen Landwirtschaft DIE GRÜNEN) ...... 12363 C und Umweltschutz stärken Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU) ...... 12364 B (Drucksachen 15/2668, 15/2969, 15/3545) 12375 D Johannes Singhammer (CDU/CSU) ...... 12364 C Renate Jäger (SPD) ...... 12376 A Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 12377 A DIE GRÜNEN) ...... 12364 C (BÜNDNIS 90/ Veronika Bellmann (CDU/CSU) ...... 12364 D DIE GRÜNEN) ...... 12378 C Karin Roth (Esslingen) (SPD) ...... 12366 B Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 12379 D Dirk Niebel (FDP) ...... 12368 A Simone Probst (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12381 B Tagesordnungspunkt 11: Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 12381 C Zweite und dritte Beratung des von den Abge- (SPD) ...... 12381 C ordneten Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing, weiteren Abge- (CDU/CSU) ...... 12383 A VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Tagesordnungspunkt 9: Christian Müller (Zittau) (SPD) ...... 12393 B a) Zweite und dritte Beratung des von der Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) ...... 12394 A Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Deut- Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/ sche-Welle-Gesetzes DIE GRÜNEN) ...... 12395 A (Drucksachen 15/3278, 15/4046) ...... 12384 A Dr. Klaus Rose (CDU/CSU) ...... 12395 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. Werner Hoyer (FDP) ...... 12396 D Ausschusses für Kultur und Medien (SPD) ...... 12397 C – zu dem Antrag der Abgeordneten , Eckhardt Barthel Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) ...... 12398 D (Berlin), Detlef Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/ SPD sowie der Abgeordneten DIE GRÜNEN) ...... 12399 D Dr. , Claudia Roth (Augsburg), Volker Beck (Köln), wei- terer Abgeordneter und der Fraktion Tagesordnungspunkt 7: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: 50 Jahre Deutsche Welle – Zukunft a) Erste Beratung des von der Bundesregie- und Modernisierung des deutschen rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- Auslandsrundfunks ten Gesetzes zur Neuregelung des Ener- giewirtschaftsrechts – zu dem Antrag der Abgeordneten (Bremen), Günter (Drucksache 15/3917) ...... 12400 C Nooke, , weiterer Abge- b) Antrag der Abgeordneten Dagmar Wöhrl, ordneter und der Fraktion der CDU/ Karl-Josef Laumann, Dr. , CSU: 50 Jahre Deutsche Welle – weiterer Abgeordneter und der Fraktion Perspektiven für die Zukunft der CDU/CSU: Klaren und funktionsfä- (Drucksachen 15/1214, 15/1208, 15/4046) 12384 A higen Ordnungsrahmen für die Strom- und Gasmärkte schaffen Dr. Christina Weiss, Staatsministerin BK . . . . 12384 C (Drucksache 15/3998) ...... 12400 C Bernd Neumann (Bremen) (CDU/CSU) . . . . 12385 C c) Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD) ...... 12387 B Rainer Brüderle, Birgit Homburger, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) ...... 12388 C FDP: Für mehr Wettbewerb und Trans- Monika Griefahn (SPD) ...... 12389 C parenz in der Energiewirtschaft durch klare ordnungspolitische Vorgaben Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) . . . . 12390 B (Drucksache 15/4037) ...... 12400 D Dr. Klaus Rose (CDU/CSU) ...... 12391 D in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 10: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Zusatztagesordnungspunkt 4: schusses für Wirtschaft und Arbeit zu dem Antrag der Abgeordneten , Erste Beratung des von der Bundesregierung Dr. Werner Hoyer, Sabine Leutheusser- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und Änderung des Erneuerbare-Energien-Ge- der Fraktion der FDP: Gegen eine Aufhe- setzes bung des EU-Waffenembargos gegenüber (Drucksache 15/3923) ...... 12400 D der Volksrepublik China Wolfgang Clement, Bundesminister BMWA . 12401 A (Drucksachen 15/2169, 15/4047) ...... 12393 A Dr. (CDU/CSU) ...... 12402 D in Verbindung mit Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12404 C

Zusatztagesordnungspunkt 3: Gudrun Kopp (FDP) ...... 12406 B Antrag der Fraktionen der SPD und des Michael Müller (Düsseldorf) (SPD) ...... 12407 C BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: EU-Waf- Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU) ...... 12409 B fenembargo gegenüber der Volksrepublik China Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 15/4035) ...... 12393 A DIE GRÜNEN) ...... 12411 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 VII

Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU) ...... 12411 C Tagesordnungspunkt 28: Rolf Hempelmann (SPD) ...... 12412 A f) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Joachim Stünker, Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU) ...... 12413 C Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion der SPD sowie den Abgeordneten Tagesordnungspunkt 12: Jerzy Montag, Irmingard Schewe- Gerigk, Hans-Christian Ströbele, Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Volker Beck (Köln), Katrin Göring- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Eckardt, und der Fraktion Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN 2002/87/EG des Europäischen Parlaments eingebrachten Entwurfs eines Geset- und des Rates vom 16. Dezember 2002 zes über die Rechtsbehelfe bei Ver- (Finanzkonglomeraterichtlinie-Umsetzungs- letzung des Anspruchs auf rechtli- gesetz) ches Gehör (Anhörungsrügengesetz) (Drucksachen 15/3641, 15/4049) ...... 12415 D (Drucksachen 15/3706, 15/4061) . . . . 12425 B – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Tagesordnungspunkt 13: wurfs eines Gesetzes über die Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Rechtsbehelfe bei Verletzung des desregierung eingebrachten Entwurfs eines Anspruchs auf rechtliches Gehör Gesetzes zur Umsetzung der EG-Richtlinie (Anhörungsrügengesetz) über die Bewertung und Bekämpfung von (Drucksachen 15/3966, 15/4061) . . . . 12425 B Umgebungslärm Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär (Drucksachen 15/3782, 15/3921, 15/4024) . . 12416 A BMJ ...... 12425 C Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 12426 C Tagesordnungspunkt 14: Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Zweite und dritte Beratung des vom Bundes- DIE GRÜNEN) ...... 12428 B rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Rainer Funke (FDP) ...... 12429 B zur Vereinfachung und Vereinheitlichung der Verfahrensvorschriften zur Wahl und Dirk Manzewski (SPD) ...... 12430 A Berufung ehrenamtlicher Richter (Drucksachen 15/411, 15/4016) ...... 12416 C Tagesordnungspunkt 17:

Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Für eine Zweite und dritte Beratung des von der Bun- konsequente und vollständige Umsetzung desregierung eingebrachten Entwurfs eines des Ohrid-Abkommens in Mazedonien Gesetzes zur Umsetzung von EU-Richtli- (Drucksache 15/4033) ...... 12431 A nien in nationales Steuerrecht und zur Än- derung anderer Vorschriften (Richtlinien- Umsetzungsgesetz – EURLUmsG) Tagesordnungspunkt 16: (Drucksachen 15/3677, 15/3789, 15/3922, 15/4050, 15/4065) ...... 12416 D Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Lydia Westrich (SPD) ...... 12417 A Fortentwicklung der Berufsaufsicht über Abschlussprüfer in der Wirtschaftsprüfer- (CDU/CSU) ...... 12418 C ordnung (Abschlussprüferaufsichtsgesetz – APAG) (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 15/3983) ...... 12431 A DIE GRÜNEN) ...... 12420 A

Dr. Volker Wissing (FDP) ...... 12421 C Nächste Sitzung ...... 12431 C Gabriele Frechen (SPD) ...... 12422 B Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 12423 C Anlage 1 Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) ...... 12424 B Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 12433 A VIII Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Anlage 2 Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des des Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfa- Deutsche-Welle-Gesetzes chung und Vereinheitlichung der Verfahrens- vorschriften zur Wahl und Berufung ehren- – Antrag: 50 Jahre Deutsche Welle – Zu- amtlicher Richter (Tagesordnungspunkt 14) kunft und Modernisierung des deutschen Auslandsrundfunks Joachim Stünker (SPD) ...... 12442 D – Antrag: 50 Jahre Deutsche Welle – Per- (CDU/CSU) ...... 12443 C spektiven für die Zukunft Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ (Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b) DIE GRÜNEN) ...... 12445 C Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/ Rainer Funke (FDP) ...... 12446 B DIE GRÜNEN) ...... 12433 B Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ ...... 12446 D Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Anlage 6 des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2002/87/EG des Europäischen Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Parlaments und des Rates vom 16. Dezember des Antrags: Für eine konsequente und voll- 2002 (Finanzkonglomeraterichtlinie-Umset- ständige Umsetzung des Ohrid-Abkommens zungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 12) in Mazedonien (Tagesordnungspunkt 17) Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD) ...... 12434 A Uta Zapf (SPD) ...... 12447 B (CDU/CSU) ...... 12435 B Siegfried Helias (CDU/CSU) ...... 12448 D Jutta Krüger-Jacob (BÜNDNIS 90/ Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12436 C DIE GRÜNEN) ...... 12450 A Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 12437 B Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 12450 D Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin BMF ...... 12438 A Anlage 7 Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwick- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung lung der Berufsaufsicht über Abschlussprüfer des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung in der Wirtschaftsprüferordnung (Abschluss- der EG-Richtlinie über die Bewertung und prüferaufsichtsgesetz – APAG) (Tagesord- Bekämpfung von Umgebungslärm (Tagesord- nungspunkt 16) nungspunkt 13) Christian Lange (Backnang) (SPD) ...... 12451 C (SPD) ...... 12439 B (CDU/CSU) ...... 12440 A (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 12452 D Franz Obermeier (CDU/CSU) ...... 12440 C (Berlin) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12454 B (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12441 B Rainer Funke (FDP) ...... 12454 D (FDP) ...... 12442 C Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMWA . . . 12455 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12279

(A) (C) Redetext

135. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die (Ergänzung zu TOP 27) Sitzung ist eröffnet. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Dritten Zusatzpro- Zunächst eine ganze Reihe von Mitteilungen: Der tokoll vom 4. Juni 2004 zum Abkommen vom 16. Juni 1959 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Kollege Jochen Welt hat am 22. Oktober 2004 auf seine dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Nachfolgerin hat die Abgeordnete Hildegard Wester am Einkommen und vom Vermögen sowie verschiedener 25. Oktober 2004 die Mitgliedschaft im Deutschen Bun- sonstiger Steuern und zur Regelung anderer Fragen destag erworben. Ich begrüße die Kollegin, die uns bereits auf steuerlichem Gebiete aus früheren Wahlperioden bekannt ist, sehr herzlich. – Drucksache 15/4026 – Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Finanzausschuss (B) DIE GRÜNEN) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe Küster, (D) Dirk Manzewski, Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat mit- der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje geteilt, dass die Kollegin Antje Hermenau als ordentli- Bettin, Jerzy Montag, Volker Beck (Köln), weiterer Ab- ches Mitglied aus dem Verwaltungsrat bei der Bundesan- geordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE stalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ausscheidet. Als GRÜNEN: Wettbewerb und Innovationsdynamik im Softwarebereich sichern – Patentierung von Compu- Nachfolgerin wird die Kollegin Kerstin Andreae, die terprogrammen effektiv begrenzen bisher stellvertretendes Mitglied war, vorgeschlagen. Neues stellvertretendes Mitglied soll die Kollegin Anja – Drucksache 15/4034 – Hajduk werden. Sind Sie damit einverstanden? – Ich Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) höre keinen Widerspruch. Dann sind die Kollegin Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Andreae als ordentliches Mitglied und die Kollegin Ausschuss für Bildung, Forschung und Hajduk als stellvertretendes Mitglied für den Verwal- Technikfolgenabschätzung tungsrat bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungs- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen aufsicht benannt. Union Ausschuss für Kultur und Medien Sodann teile ich mit, dass die Fraktion der SPD als ZP 3Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des Nachfolger für den ehemaligen Kollegen Ernst Küchler BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: EU-Waffenembargo ge- den Kollegen Dr. Hans-Ulrich Krüger als Schriftführer genüber der Volksrepublik China benannt hat. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre – Drucksache 15/4035 – auch hier keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege ZP 4 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Dr. Hans-Ulrich Krüger als Schriftführer gewählt. Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare- Energien-Gesetzes Interfraktionell wurde vereinbart, die verbundene Ta- – Drucksache 15/3923 – gesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführ- Überweisungsvorschlag: ten Punkte zu erweitern: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Innenausschuss ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Haltung der Bundesregierung zur Einhaltung des europäi- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und schen Stabilitätspakts und des Grundgesetzes angesichts Landwirtschaft neuer Finanzlöcher im Bundeshaushalt und in der Ren- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen tenkasse sowie berichtete Begehrlichkeiten von Minister Ausschuss für Bildung, Forschung und Eichel auf die höheren Einnahmen der Krankenkassen in- Technikfolgenabschätzung folge der Gesundheitsreform (siehe 134. Sitzung) Ausschuss für Tourismus 12280 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Präsident Wolfgang Thierse (A) ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Stünker, Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? – (C) Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing, weiterer Abgeordneter Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Jerzy Montag, Volker Beck (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf: DIE GRÜNEN: Anwendung internationaler Rechnungsle- gungsstandards in Deutschland sachgerecht und transpa- a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- rent fortentwickeln regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes – Drucksache 15/4036 – zum qualitätsorientierten und bedarfsgerech- (Aufruf Freitag, mit TOP 24) ten Ausbau der Tagesbetreuung und zur Wei- Überweisungsvorschlag: terentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe Rechtsausschuss (f) (Tagesbetreuungsausbaugesetz – TAG) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit – Drucksachen 15/3676, 15/3986 – Ferner soll auch noch der Antrag der FDP-Fraktion auf (Erste Beratung 123. Sitzung) Drucksache 15/4064 aufgesetzt und mit der Türkei- Erste Beschlussempfehlung und erster Bericht debatte aufgerufen werden. Von der Frist für den Beginn des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen wer- den. und Jugend (12. Ausschuss) Des Weiteren sind folgende Änderungen vorgesehen: – Drucksache 15/4045 – Tagesordnungspunkt 7 soll mit Tagesordnungspunkt 11, Berichterstattung: Tagesordnungspunkt 24 mit 26 sowie Tagesordnungs- Abgeordnete Caren Marks punkt 16 mit 17 getauscht werden. Nach Tagesordnungs- Marlene Rupprecht (Tuchenbach) punkt 15 soll der bisher ohne Debatte vorgesehene Maria Eichhorn Punkt 28 f – Anhörungsrügengesetz – mit 30 Minuten Ekin Deligöz beraten werden. Bei Tagesordnungspunkt 10 wird statt Jutta Dümpe-Krüger des vorgesehenen Berichts gemäß § 62 Abs. 2 der Ge- Ina Lenke schäftsordnung die nunmehr vorliegende Beschlussemp- fehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit bera- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ten. richts des Ausschusses für Familie, Senioren, Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisun- Frauen und Jugend (12. Ausschuss) gen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: (B) – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Maria (D) Der in der 132. Sitzung des Deutschen Bundestages Böhmer, Gerda Hasselfeldt, Maria Eichhorn, überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich weiterer Abgeordneter und der Fraktion der dem Ausschuss für Tourismus zur Mitberatung über- CDU/CSU wiesen werden. Elternhaus, Bildung und Betreuung ver- Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen zahnen vom 18. November 2002 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Ge- – zu dem Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, meinschaft und ihren Mitgliedstaaten einer- Klaus Haupt, Otto Fricke, weiterer Abgeord- seits und der Republik Chile andererseits neter und der Fraktion der FDP – Drucksache 15/3881 (neu) – Solides Finanzierungskonzept für den Aus- überwiesen: bau von Kinderbetreuungsangeboten für Auswärtiger Ausschuss (f) unter Dreijährige Der in der 133. Sitzung des Deutschen Bundestages – Drucksachen 15/3488, 15/3512, 15/4045 – überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Berichterstattung: zur Mitberatung überwiesen werden. Abgeordnete Caren Marks Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Antrag der Abgeordneten Reinhold Hemker, Maria Eichhorn Dr. , Dr. Herta Däubler-Gmelin und Ekin Deligöz der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ina Lenke Ulrike Höfken, Thilo Hoppe, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Ernäh- richts des Ausschusses für Familie, Senioren, rung als Menschenrecht Frauen und Jugend (12. Ausschuss) – Drucksache 15/3956 – – zu dem Antrag der Abgeordneten Caren überwiesen: Marks, Christel Humme, Sabine Bätzing, Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Landwirtschaft (f) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und SPD sowie der Abgeordneten Ekin Deligöz, Entwicklung Irmingard Schewe-Gerigk, Jutta Dümpe- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12281

Präsident Wolfgang Thierse (A) Krüger, weiterer Abgeordneter und der Frak- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt Ausbau von Förderungsangeboten für Kin- [Salzgitter] [SPD]: Herr Präsident, Sie hätten der in vielfältigen Formen als zentraler sich in den Fraktionssitzungen dazu einmal Beitrag öffentlicher Mitverantwortung für melden sollen!) die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich – zu dem Antrag der Abgeordneten Ingrid höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Fischbach, Maria Eichhorn, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Frak- Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundes- tion der CDU/CSU ministerin Renate Schmidt das Wort. Ausbau und Förderung der Tagespflege als (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Form der Kinderbetreuung in der Bundes- DIE GRÜNEN) republik Deutschland Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, – zu dem Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, Senioren, Frauen und Jugend: Rainer Brüderle, , weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren! Meine sehr geehrten Damen! Wir wollen den Tagespflege als Baustein zum bedarfsge- Ausbau der Tagesbetreuung nicht weiter verzögern. Des- rechten Kinderbetreuungsangebot – Bes- halb haben wir den Teil der Reform des SGB VIII vor- sere Rahmenbedingungen für Tagesmütter gezogen, der den Ausbau der Betreuung für die unter und -väter, Eltern und Kinder Dreijährigen sicherstellt, der die Tagesmütter besser ab- sichert, ausbildet und damit aufwertet, der Kleinstkinder – zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus auch unterhalb des dritten Lebensjahres ergänzend zur Haupt, Ina Lenke, , weiterer Familie besser fördert und die Vereinbarkeit von Familie Abgeordneter und der Fraktion der FDP und Beruf erleichtert. Faire Chancen für jedes Kind – Für eine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bessere Bildung, Erziehung und Betreu- DIE GRÜNEN) ung von Anfang an (B) Wir haben diesen Teil vorgezogen, damit die Kommu- (D) – Drucksachen 15/2580, 15/2651, 15/1590, nen Planungssicherheit haben und dieses Gesetz gleich- 15/2697, 15/3036 – zeitig mit Hartz IV in Kraft treten kann. Berichterstattung: Im Bundesrat standen und stehen die Signale auf Ver- Abgeordnete Caren Marks hinderung. Wir wollen den Bundesrat nicht umgehen. Ingrid Fischbach Aber wir können auch nicht zulassen, dass die Familien Ekin Deligöz in Westdeutschland in puncto Kinderbetreuung weiter- Ina Lenke hin in einem Entwicklungsland leben. d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ richts des Ausschusses für Familie, Senioren, DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ina Lenke Frauen und Jugend (12. Ausschuss) zu dem An- [FDP]) trag der Abgeordneten Maria Eichhorn, Dr. Maria Böhmer, Antje Blumenthal, weiterer Abgeordne- Das sind wir nämlich mit einer Versorgungsquote von ter und der Fraktion der CDU/CSU 2,7 Prozent bei Plätzen in Einrichtungen und von rund 4,5 Prozent in Tagespflege. Frauen und Männer beim Wiedereinstieg in den Beruf fördern Der Versorgungsgrad hat sich im Zeitraum von 1994 bis 2002, also in acht Jahren, um 1,5 Prozent verbessert. – Drucksachen 15/1983, 15/3035 – Wenn wir keinen gesetzlichen Druck machen, würde es 120 Jahre dauern, um den französischen, 160 Jahre, um Berichterstattung: den ostdeutschen, und 304 Jahre, um den dänischen Ver- Abgeordnete Christel Humme sorgungsgrad in den alten Ländern zu erreichen. Maria Eichhorn Irmingard Schewe-Gerigk (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ina Lenke DIE GRÜNEN) Zu dem Entwurf eines Tagesbetreuungsausbaugeset- Einer der Sachverständigen fand, dass das im TAG zes liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der zum Ausdruck gebrachte Misstrauen, dass ein bedarfs- CDU/CSU vor. – Wieso heißt das eigentlich nicht Gesetz gerechter Ausbau von selbst vonstatten gehe, mehr als zum Ausbau der Tagesbetreuung? Es wäre schöner, berechtigt sei. In Westdeutschland wurden drei Jahr- wenn wir es so nennen würden; das könnte jeder sofort zehnte lang Prioritäten zugunsten von Mehrzweckhallen verstehen. und nicht zugunsten von Infrastrukturen für Kinder ge- 12282 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Bundesministerin Renate Schmidt (A) setzt. Dies rächt sich heute in den auch für Kommunen auf Westdeutschland, wahrscheinlich sogar noch ein we- (C) finanziell angespannten Zeiten. Dennoch kann und darf nig niedriger ausfallen, als von uns berechnet. Ich gebe das Thema nicht wieder vertagt werden. In der Experten- Ihnen dazu ein Beispiel. Sie, meine sehr geehrten Herren anhörung wurde ein eventuelles Scheitern als fatal be- und Damen von der Union, sagen in Ihrem Entschlie- zeichnet. ßungsantrag, die Investitionskosten für einen neuen Krippenplatz beliefen sich auf 42 000 Euro. Das stimmt Deshalb bitte ich herzlich darum, den Ausbau der Ta- für eine neue Kinderkrippe mit einer Gruppe. Bei zwei gesbetreuung nicht zu einer reinen Finanzfrage verkom- Gruppen betragen sie 36 000 Euro, bei der Erweiterung men zu lassen. um eine Gruppe in einer bestehenden Einrichtung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 30 000 Euro. Wir haben einen vernünftigen Mittelwert DIE GRÜNEN) von 36 750 Euro angesetzt. Sie werden doch nicht ernst- haft behaupten, dass westdeutschlandweit nur noch ein- Es geht nämlich um weitaus mehr: Es ist eine wichtige gruppige neue Krippen geschaffen werden. Das ist ein gesellschaftspolitische, eine zentrale familienpolitische, absoluter Unsinn. eine wichtige gleichstellungs- und bildungspolitische und nicht zuletzt eine ökonomische Frage. Denn nied- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rige Geburtenraten bedeuten schon heute ein geringe- DIE GRÜNEN) res Wirtschaftswachstum. Das jüngste Gutachten des So viel zur Seriosität Ihrer Berechnungen. Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung macht den wirtschaftlichen Nutzen des TAG für Kommunen und Die gesetzlichen Änderungen zur Weiterentwicklung die öffentliche Hand deutlich. der Jugendhilfe, die wir nicht auf die lange Bank schie- ben wollen, Es ist ein wichtiges bildungspolitisches Thema; denn eine unterbliebene frühe Förderung von Kindern, ergän- (Ina Lenke [FDP]: Das Gesetz haben Sie doch zend zur Familie, bedeutet, dass bei uns weiterhin die getrennt!) Herkunft eines Kindes mehr als irgendwo sonst in Eu- werden den Kommunen noch einmal rund 220 Millionen ropa über seine künftigen Bildungschancen entscheidet. Euro bringen. Insgesamt werden sie ab dem nächsten Ich will natürlich auch etwas zu den Finanzen sagen. Jahr durch bundesgesetzliche Maßnahmen um 7 Milliar- Bitte strapazieren Sie ein klein wenig Ihre Erinnerung, den Euro entlastet – und dies mit steigender Tendenz in wenn es um diesen Bereich geht. Beim Rechtsanspruch den Folgejahren. Hätten Sie bei unserer Gemeinde- auf einen Kindergartenplatz hat die damalige Regierung finanzreform mitgemacht, dann wäre diese Entlastung auf die Anfrage der damaligen Opposition, wie sie die deutlich höher. (B) (D) Kosten, die daraus entstehen, ausgleichen wolle, geant- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wortet – ich zitiere –: DIE GRÜNEN) Die Mehrbelastung der Kommunen muss nach der Deshalb ist die Forderung nach einer umfassenden Ge- Kostenaussage im Gesetzentwurf in die Neurege- meindefinanzreform in Ihrem Antrag schlicht und ein- lung des Finanzausgleichs zwischen Bund und Län- fach scheinheilig. dern einfließen. Den Entlastungen von 7 Milliarden Euro stehen im Ich betone: muss. ersten Jahr 620 Millionen Euro für den Ausbau der Be- (Beifall bei der SPD) treuung der unter dreijährigen Kinder gegenüber. Das müsste doch wirklich zu schaffen sein – auch vor dem Bis heute behaupten die Kommunen, damals nicht einen Hintergrund, dass wir zwar bis zum Jahr 2010 230 000 Pfennig davon und auch weitestgehend nicht von dem zusätzliche Plätze für die unter Dreijährigen erreichen vorher beschlossenen höheren Mehrwertsteueranteil ge- wollen, gleichzeitig aber bis 2010 aufgrund der niedri- sehen zu haben. gen Geburtenrate 320 000 Plätze für die Drei- bis Sechs- Sie behaupten nun, das sei heute genauso wie zu Ihrer jährigen entfallen. Es ist doch absolut unseriös, die Ent- Regierungszeit. Ich sage: Das stimmt nicht. Es stimmt lastung durch die entfallenden Plätze nicht zu dann nicht, wenn die Länder ihre Zusage einhalten, ihre berücksichtigen und sich dann darüber zu beklagen, dass Einsparungen durch Hartz IV, insbesondere beim Wohn- das TAG unfinanzierbar sei. geld, an die Kommunen weiterzugeben. Von dieser Zu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sage wollen sie jetzt nichts mehr wissen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich bin überzeugt: Wir werden es schaffen, dass West- DIE GRÜNEN) deutschland nicht Entwicklungsland in Sachen Kinder- Man kann doch nicht dem Bund anlasten, dass Abspra- betreuung bleibt, und den guten Versorgungsstand in chen auf der Länderseite nicht eingehalten werden. Ostdeutschland erhalten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ An erster Stelle ist das TAG aber für die Kinder wich- DIE GRÜNEN) tig. Die dort verankerten Mindestbedarfe werden dazu führen, dass Kinder, deren Wohl es erfordert, eine Die Kosten sind im Übrigen seriös berechnet. Sie bessere Förderung erhalten werden. Wir geben in werden nach einem Gutachten der TU Dresden, bezogen Deutschland nicht nur zu wenig für Bildung aus, sondern Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12283

Bundesministerin Renate Schmidt (A) wir geben das Wenige auch noch falsch aus, nämlich vor präsentieren mehr als 15 Millionen Einwohner und Ein- (C) allen Dingen für die Oberstufen der Gymnasien und am wohnerinnen in Deutschland. Familienfreundliche wenigsten für den vorschulischen Bereich. Arbeitsbedingungen und mehr Familien- und Kinder- freundlichkeit vor Ort, das ist der zweite Baustein für (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eine erfolgreiche Familienpolitik. DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ina Lenke [FDP]) Sie, meine sehr geehrten Herren und meine sehr ge- ehrten Damen von der Union, glauben aber nach wie vor Aber in diesem Alter sind die Kinder am bildungsfähigs- an das Allheilmittel Geld. Natürlich sind weiterhin ge- ten. Das ist kein Plädoyer – da sind wir uns fraktions- zielte finanzielle bzw. materielle Leistungen notwendig, übergreifend einig – für eine Verschulung des Alltags zum Beispiel unser Kinderzuschlag für Geringverdie- von Kleinstkindern. ner. Solche gezielten materiellen Leistungen sind der (Beifall der Abg. Jutta Dümpe-Krüger dritte Baustein für eine erfolgreiche Familienpolitik. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Bei den materiellen Leistungen sehen wir aber im eu- ropäischen Vergleich im Gegensatz zu den Kinderbe- Wir wollen, wie es im TAG verankert ist, die Trias Be- treuungseinrichtungen, bei denen wir Schlusslicht sind, treuung, Bildung und Erziehung zum Nutzen der Kin- gar nicht so schlecht aus; wir befinden uns im europäi- der und der Familien praktizieren und mit Leben erfül- schen Vergleich im oberen Drittel. Wir geben mehr Geld len. als andere aus und sind dennoch weniger erfolgreich, Ich möchte heute einmal mehr den Vorwurf zurück- weil wir zu sehr auf materielle Leistungen und zu wenig weisen, wir sähen das Allheilmittel der Familienpolitik auf den Ausbau der Infrastrukturen gesetzt haben. in der Kleinstkinderbetreuung. Diese schlichten Strick- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ muster haben wir doch eigentlich nicht mehr nötig. DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dass Kinderbetreuung hilft, Kinderwünsche zu erfül- Wir sollten in Deutschland endlich mit der Diskussion len, belegen diverse Umfragen, unter anderem die reprä- über die einerseits angeblich verantwortungslose er- sentative Onlineumfrage „Perspektive Deutschland“ mit 450 000 Teilnehmern und Teilnehmerinnen. All diese werbstätige Rabenmutter und andererseits die angeblich Umfragen kommen mit Zweidrittelmehrheiten der Be- etwas depperte Nur-Hausfrau Schluss machen. Dies fragten zu dem Ergebnis, dass Deutschland mehr Betreu- dient den Betroffenen nicht, sondern nur denjenigen, die ungsmöglichkeiten für die unter Dreijährigen brauche mit Familie nichts im Sinn haben. und dies die Entscheidung für Kinder erleichtern würde. (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ihre Aussage, Sie stimmten unserem Anliegen zu, (D) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der könnten aber – ohne eine Alternative aufzuzeigen – un- CDU/CSU und der FDP) serem Gesetzentwurf nicht zustimmen, stellt Sie zu allen Für uns gilt: Die Politik hat den Menschen nicht vor- gesellschaftlich relevanten Gruppen in einen Gegensatz. zuschreiben, wie sie leben sollen, sondern hat ihnen zu Sie ist nicht nur fantasielos, sondern sie widerspricht ermöglichen, dass sie so leben können, wie sie es wol- auch den Interessen von Kindern und Familien. len. Deshalb nehmen wir die Wünsche junger Menschen Wir werden Schritt für Schritt – das TAG ist ein wich- ernst, die in ihrer erdrückenden Mehrheit eines wollen: tiger und großer Schritt – erreichen, dass sich auch bei Sie möchten Erfolg im Beruf haben und sie möchten uns junge Menschen ihre vorhandenen Kinderwünsche Kinder haben. Das gilt für Männer und Frauen gleicher- erfüllen. maßen. Zum Schluss meiner Rede mache ich eines deutlich: Deshalb ist das TAG ein wichtiger – aber nicht der Unabhängig von all dem, was wir uns in der Familienpo- einzige – Baustein, um diesen Wunsch zu erfüllen. Er ist litik vornehmen, bedarf es im Hinblick auf Kinder der nicht der einzige, weil kein Elternpaar der Welt sein Zuversicht und des Optimismus. Wenn im Zusammen- Kind nach der Geburt in einer Krippe oder bei einer Ta- hang mit Kindern auch in der Politik nahezu ausschließ- gesmutter abgeben will, um es dann mit 18 Jahren mit lich von materieller Last, von Armutsrisiko sowie von den vorher vereinbarten Qualitätsmerkmalen aus einer Mühsal und Plage geredet wird, dann dürfen wir uns Ganztagsschule abzuholen. nicht wundern, wenn vernünftige Menschen diese Las- ten und Risiken nicht auf sich laden wollen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) (Beifall des Abg. Klaus Haupt [FDP]) Eltern wollen Zeit mit ihren Kindern verbringen und Kinder brauchen Zeit mit ihren Eltern. Daher appelliere ich an uns alle, die wir Kinder ha- ben, ein bisschen häufiger von Kindern als denen zu re- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den, die sie für mich und für uns alle an erster Stelle DIE GRÜNEN) sind: eine Freude, für die es sich lohnt, zu leben, zu ar- beiten und Politik zu machen. Deshalb gibt es die von mir gegründete Allianz für die Familie mit der Zielsetzung einer besseren Balance (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ von Beruf und Familie. Deshalb gibt es meine Initiative DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der „Lokale Bündnisse für Familien“. Das 100. Bündnis CDU/CSU und der FDP und der Abg. wird im November gegründet werden. Diese 100 re- Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos]) 12284 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

(A) Präsident Wolfgang Thierse: dertagespflege und der Kindertagesstätten bestätigen (C) Ich erteile Kollegin Maria Eichhorn, CDU/CSU-Frak- das. tion, das Wort. Unionsregierte Bundesländer wie Bayern, Hessen (Beifall bei der CDU/CSU) und Niedersachsen haben im Bildungsbereich eine Vor- reiterrolle eingenommen. Sie haben zum Teil bereits vor den Ergebnissen von PISA Bildungs- und Erziehungs- Maria Eichhorn (CDU/CSU): pläne entwickelt, die derzeit in der Erprobung sind. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Auch beim Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten ren! Ihr Umgang mit der Opposition ist unerträglich, sind unionsregierte Länder vorbildlich. meine Damen und Herren von Rot-Grün. In einer Nacht- und Nebelaktion haben Sie das ursprüngliche Gesetz in Wir wollen Paaren die Entscheidung für Kinder er- zwei Teile aufgeteilt, um das Verfassungsorgan Bundes- leichtern. Deshalb unterstützt die Union Eltern bei der rat auszuhebeln. Wahrnehmung ihrer Erziehungsaufgaben und fördert die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Damit kann (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abgeord- dem Wunsch insbesondere von Müttern nach Erwerbstä- neten Ina Lenke [FDP]) tigkeit besser entsprochen werden. Sie, Frau Ministerin, haben bereits am Dienstagnach- Wir haben mit der Einführung des Erziehungsgeldes, mittag Interviews gegeben. Der Opposition, die am Mitt- der Erziehungszeit und der Anrechnung der Kindererzie- woch im Ausschuss darüber beraten sollte, ist die verän- hungszeiten in der Rentenversicherung bereits 1986 derte Sachlage jedoch erst nach 20 Uhr über einen neue Weichen gestellt und diese Leistungen 1992 erheb- Änderungsantrag per E-Mail mitgeteilt worden. So kann lich ausgebaut. Auch die finanziellen Leistungen in un- man mit uns nicht umgehen; unter Demokraten ist so et- serer Regierungszeit können sich sehen lassen. Wir ha- was nicht üblich. ben sie in diesen Jahren auf rund 77 Milliarden DM (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – verdreifacht. Sie haben, als Sie an die Regierung kamen, Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wenn das Kindergeld abgeschafft. Sie sonst keine Sorgen haben, Frau Eichhorn, (Widerspruch bei der SPD) dann kommen Sie doch mal zur Sache!) Der Ausbau von Betreuungsangeboten ist notwendig Frau Ministerin, dies ist keine Basis für eine gute Zu- und richtig. Aus persönlicher Erfahrung weiß ich, dass sammenarbeit. der Beruf, wenn man kleine Kinder hat, nur dann unbe- sorgt ausgeübt werden kann, wenn man die Kinder in (B) Meine sehr geehrten Damen und Herren, bereits im (D) Jahre 1996 hat die unionsgeführte Bundesregierung den guten Händen weiß. Ich habe immer Beruf, Familie und Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz durch- Politik miteinander verbinden können und mich nie als gesetzt. Für uns war und ist wichtig, allen Kindern ab Rabenmutter gefühlt. Ich hatte dabei allerdings das drei Jahren einen Platz in einer Kinderbetreuungsein- Glück, auf Großeltern zurückgreifen zu können, die so- richtung zu sichern. Bereits damals hatten wir zusätzlich gar zu mir ins Haus kamen. Heute können sich die Eltern formuliert, dass ein bedarfsbezogenes Angebot an Plät- nicht von vornherein auf ein familiäres Netz verlassen. zen für Kinder unter drei Jahren und für Kinder im Daher ist ein vielfältiges flexibles Angebot an Kinderbe- schulpflichtigen Alter in Tageseinrichtungen vorzuhal- treuungen vom Kleinstkindalter an erforderlich. Dafür ten sei. stehen wir als Union. Wir stehen für Kinderbetreuung, wir wollen sie. Im Familienkonzept von CDU und CSU, das wir 2001 verabschiedet haben, heißt es: (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Um Familie und Erwerbsleben besser miteinander NEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: zu harmonisieren, wollen wir ein bedarfsgerechtes, Dann gibt es eine einfache Antwort: Stimmen flexibles, qualitativ hochwertiges und bezahlbares Sie zu!) Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen für alle Altersstufen … Die Betreuung durch Tagesmütter hat in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen. Gerade für Dieses Angebot soll nach unserer Auffassung bis hin zu die ganz Kleinen ist dies die ideale Form der Betreuung. Ganztagsangeboten gehen. Dabei ist uns der Bildungs- Sie ist flexibel und kann individuell nach den Wünschen und Erziehungsaspekt ganz besonders wichtig. Großen der Eltern gestaltet werden. Wert legt unser Konzept auf die Ausweitung von Betreu- ungsangeboten durch Tagesmütter sowie auf deren Qua- Zur Verwirklichung des Kinderwunsches sind jedoch lifikation und soziale Absicherung. neben dem Ausbau der Kinderbetreuung auch die finan- zielle Förderung von Familien sowie die Stärkung der PISA hat bestätigt, wie wichtig die frühkindliche Elternkompetenz unverzichtbar. Diese drei Säulen – Ver- Förderung ist. Daher ist neben dem quantitativen Aus- einbarkeit von Familie und Beruf, finanzielle Förderung bau der Tagesbetreuung ein Ausbau qualifizierter Ange- und Stärkung der Elternkompetenz – haben wir in dem bote dringend erforderlich. Dies hat nicht nur die Anhö- bereits erwähnten Familienkonzept von 2001 festgelegt. rung Ende September gezeigt, sondern auch zahlreiche Dieses Familienkonzept ist nach wie vor aktuell und gül- Gespräche mit Fachkräften aus Einrichtungen der Kin- tig. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12285

Maria Eichhorn (A) Eine aktuelle Studie von Allensbach belegt: Fast die Wir wollen eine quantitativ und qualitativ bessere Be- (C) Hälfte der Kinderlosen gibt die hohen Kosten als Grund treuung, die Eltern nicht über Gebühr finanziell belastet. für ihren Verzicht auf Kinder an. Genauso viele haben Voraussetzung hierfür ist eine verlässliche Finanzie- das Gefühl, dass sie den Anforderungen als Vater oder rungsgrundlage, die Sie, Frau Ministerin, im Ausschuss Mutter nicht gewachsen sind. Deshalb dürfen wir nicht zwar versprochen, aber nicht sichergestellt haben. Auch beim Ausbau von Betreuungsangeboten stehen bleiben. wenn Sie es noch so oft sagen: Es wird nicht wahrer. Die Finanzierung ist nicht gesichert. Sie sagen jedes Mal, sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sei gesichert. Der Kollege Götz wird Ihnen nachher ge- Die Unterstützung von Frauen und Männern bei der Ver- nau vorrechnen, dass dem nicht so ist. einbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit muss wei- (Beifall bei der CDU/CSU) tergehen. Dabei müssen wir die Eltern im Blick haben, die wegen der Kinder zunächst einige Zeit aus dem Be- Sie haben Ihr Wort gebrochen. Letztlich geht Ihr Finan- ruf aussteigen, später aber an ihre berufliche Karriere an- zierungsdefizit zulasten der Eltern; denn diese müssen schließen wollen. Dafür müssen wir genauso viel tun; dann über höhere Beiträge die Zeche zahlen. das dürfen wir nicht vergessen. Wir wollen den Ausbau der Kinderbetreuung. Sie ist (Beifall bei der CDU/CSU) notwendig. Deswegen fordern wir Sie, Frau Ministerin, auf, ein solides Finanzierungskonzept vorzulegen; denn Gerade vor dem Hintergrund der demographischen Kinder sind die nachhaltigste Zukunftsinvestition, die es Entwicklung und dem sich abzeichnenden Fachkräfte- überhaupt gibt mangel kann man auf die gut ausgebildeten Frauen nicht verzichten. Wir sind auf sie angewiesen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Präsident Wolfgang Thierse: Notwendig sind daher nicht nur flexible Arbeitszeiten, Ich erteile der Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Frak- sondern auch die Möglichkeiten für Arbeitnehmer, wäh- tion des Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort. rend der Elternzeit Kontakt zum Betrieb zu halten. El- tern brauchen individuelle Zeitsouveränität. Daher müs- Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sen innovative, maßgeschneiderte Konzepte in NEN): Zusammenarbeit mit Arbeitgebern entwickelt und geför- dert werden, damit der Wiedereinstieg gelingt. Wir war- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ten auf Vorschläge von Ihnen, wie Sie Eltern beim Wie- Herren! Liebe Frau Eichhorn, ich habe mir gerade vor- gestellt, wie sich wohl Mütter und Väter, die am Fernse- (B) dereinstieg helfen wollen. Wir haben Ihnen unsere (D) Vorschläge dazu in unserem Antrag vorgelegt. Sie brau- her oder hier oben auf der Tribüne Ihre Rede gehört ha- chen sie nur umzusetzen. ben, gefühlt haben. (Beifall bei der CDU/CSU) (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das war gut!) Sie haben gesagt, was Sie alles schon gemacht haben. Kernpunkt unserer Familienpolitik ist die Wahlfrei- Sie haben ein bisschen kleinkrämerisch darüber geredet, heit. In der Begründung des Gesetzentwurfes reden Sie was wir getan haben, damit dieses Gesetz besonders viel davon und verweisen auf Urteile des Bundesverfas- schnell in Kraft tritt. sungsgerichts. Im Gesetzentwurf selber jedoch richten Sie den Betreuungsbedarf einseitig auf Erwerbstätigkeit (Ina Lenke [FDP]: Das ist Ihre Bewertung! – aus. Nicolette Kressl [SPD]: Ein bisschen kleinkrä- merisch?) (Nicolette Kressl [SPD]: Quatsch! Das ist eine Unterstellung!) Sie haben hier heute eine der üblichen Sonntagsreden gehalten. Sie hatte mit der Lebensrealität derjenigen in Aus unserer Sicht ist dies zu eng ausgelegt und schränkt unserem Land, die Kinder und insbesondere kleine Kin- die Wahlfreiheit in erheblichem Maße ein. der haben, überhaupt nichts zu tun. Ein Ehepaar – er Arzt, sie Architektin – mit einem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kind hat nach Ihrem Gesetzentwurf einen Anspruch auf und bei der SPD – Maria Eichhorn [CDU/ ein Angebot zur Kinderbetreuung. So weit, so gut. Das CSU]: Sie wissen doch, dass das so nicht ist! – Facharbeiterehepaar jedoch mit fünf kleinen Kindern, Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Unfug!) bei dem die Frau zu Hause die Erziehungsarbeit leistet und natürlich sehr belastet ist, hat nach Ihrem Gesetzent- Ich meine, wir sollten eines ganz klar sagen: Heute ist wurf keinen entsprechenden Anspruch. Das ist keine ein guter Tag für die Eltern und Familien, für die Kinder Verwirklichung des Anspruchs auf Wahlfreiheit. in Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Hoffent- [SPD]: Gibt es wohl!) lich!) Deswegen haben wir im Ausschuss einen entsprechen- Daran gibt es nichts zu deuteln. Das ist ein Tag, auf den den Änderungsantrag eingebracht, den Sie jedoch abge- ich lange gewartet habe und auf den viele viel zu lange lehnt haben. warten mussten. 12286 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Katrin Göring-Eckardt (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN muss beendet werden. Dabei müssen wir bei den ganz (C) und bei der SPD – Ina Lenke [FDP]: Auch un- kleinen Kindern ansetzen. ter Ihrer Regierung!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ja, auch unter unserer Regierung. Das ist völlig richtig, und bei der SPD) Frau Lenke. Sonst wäre es nämlich wieder nichts gewor- den; sonst hätten wir uns wieder Jahr für Jahr die Sätze Wir wissen längst, dass bereits ganz kleine Kinder von Frau Eichhorn anhören müssen. Sprachkompetenz, motorische Kompetenz und Sozialkompetenz sehr früh einüben müssen. Natürlich (Ina Lenke [FDP]: Was haben Sie für Wahlver- – in diesem Punkt stimme ich vielem, was hier gesagt sprechen gemacht, die Sie nicht eingehalten wurde, zu – geschieht dies am allerbesten innerhalb ei- haben!) ner Familie. Aber das Leben ist leider nicht so, dass das Das ist ein Tag, der in eine Reihe von anderen Tagen in allen Familien funktioniert. Deswegen ist es für meine passt, an denen wir wichtige Dinge gemacht haben. Seit Begriffe eine zutiefst soziale Aufgabe, diese Chancen 1998 geben wir 20 Milliarden Euro mehr als 1980 für auch denen zu geben, die sie von zu Hause nicht mitbe- Kinder aus. kommen. Daher ist die Betreuung der unter Dreijährigen so wichtig. Dass viele bzw. immer mehr Kinder in (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Wir haben 1996 Deutschland von Armut betroffen sind, hat auch damit den Rechtsanspruch auf einen Kindergarten- zu tun, dass wir ihnen zu wenig Bildungschancen geben. platz eingeführt! Sie hätten das alles schon Wir müssen aus dem Teufelskreislauf „Armut, zu wenig zwei Jahre danach haben können!) Bildung, Entstehung neuer Armut“ heraus. Mit diesem Gesetz zum Ausbau der Betreuung der unter Dreijähri- Das bedeutet durchschnittlich etwa 1 000 Euro mehr pro gen wollen wir ihn durchbrechen. Kind im Jahr. Das ist auch unter Berücksichtigung der finanziellen Transferleistungen eine große Leistung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deswegen lassen wir uns in dieser Hinsicht auch keine und bei der SPD) Vorwürfe von Ihnen machen; Nun zum lieben Geld. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Ina Lenke [FDP]: Ach ja! Jetzt ist es aber gut! es wird auch nicht dabei bleiben. Sie sagen: Wir machen ein Gesetz, aber das Geld kommt woanders her!) Warum haben wir diesen Gesetzentwurf auf den Weg (B) gebracht? Was ist eigentlich das Problem? Die Gebur- Es ist richtig, dass die Opposition dieses Thema an- (D) tenrate in Deutschland ist eine der niedrigsten. Die Er- spricht. Seit 1991 ist das Recht auf Betreuung von unter werbsquote von Frauen ist extrem niedrig. 1 Million Dreijährigen Bestandteil des Kinder- und Jugendhilfege- Kinder lebt in Deutschland immer noch von der Sozial- setzes. Wir haben sehr lange darauf gewartet, dass dieses hilfe. Schauen wir uns nur die Situation in Berlin an: Recht in die Realität umgesetzt wird. Sie haben es da- Dort ist im letzten Jahr ein Schultest durchgeführt wor- mals eingeführt und die entsprechende Kompetenz den den. Dabei kam heraus, dass ein Viertel der Kinder auf- Kommunen und Ländern zugewiesen. Was passiert ist, grund mangelnder Sprachkompetenz nicht fähig war, die wissen wir. Die Realität zeigt uns: In Westdeutschland Schule zu besuchen und dem Unterricht zu folgen. beträgt die Betreuungsquote 2,7 Prozent. Renate Schmidt hat in einem Interview darauf hingewiesen, (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das durfte dass es beim gegenwärtigen Tempo 175 Jahre dauern man ja jahrelang nicht ansprechen!) würde, bis wir eine bedarfsgerechte Betreuung erreicht Die Betreuungsquote von unter Dreijährigen stagniert hätten. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Das dauert mir zu in Westdeutschland bei 2,7 Prozent. In Ostdeutschland lange. ist sie von 50 Prozent auf 37 Prozent gesunken. Um (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diese Situation zu ändern, haben wir diesen Gesetzent- NEN und bei der SPD) wurf erarbeitet. Sie sagen zwar, dass er nicht helfen wird. Aber ich sage Ihnen: Doch, er wird helfen. So lange, bis das erreicht ist, können auch wir weiß Gott nicht regieren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir wollen, dass jedes Kind eine Chance hat, egal woher (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN es kommt und wie dick das Portemonnaie der Eltern ist. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gemäß der Verabredung im Bundesrat sind 1,5 Mil- und bei der SPD sowie der Abg. Ina Lenke liarden Euro für den Ausbau der Betreuung der unter [FDP]) Dreijährigen zur Verfügung gestellt worden. Dieser Be- trag von 1,5 Milliarden Euro steht allerdings nicht auf Es kann nicht sein – ich finde, das muss man wiederho- dem Papier. len –, dass in Deutschland nur 10 Prozent der Kinder aus Arbeiterfamilien, aber 70 Prozent der Kinder aus Akade- (Ina Lenke [FDP]: Doch! Auf dem Papier! mikerfamilien Abitur machen können. Dieser Zustand Aber natürlich!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12287

Katrin Göring-Eckardt (A) Vielmehr heißt es in der Revisionsklausel, dass der (Nicolette Kressl [SPD]: Genau! – Zuruf von (C) Bund, wenn es zu höheren Ausgaben kommt, mehr Mit- der CDU/CSU: Das haben die Fachleute aber tel bereitstellen muss. komischerweise anders ausgelegt! Die sind an- derer Meinung als Sie!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Selbstverständlich sollen auch Familien mit fünf Kin- dern und einer Mutter, die nicht berufstätig ist, Plätze in Das ist gerade in diesem Fall auch richtig. einer Kinderbetreuungseinrichtung zustehen. Es geht uns ja gerade darum, dass alle diese Möglichkeit bekom- (Ina Lenke [FDP]: Aber doch nicht für die Kinder- men. Wir haben so hart gearbeitet und das Geld bereitge- betreuung! Das ist doch ein Popanz!) stellt, damit im Jahr 2010 bedarfsgerecht Plätze für die Betreuung unter Dreijähriger vorhanden sind. 300 000 Kindergartenplätze werden frei. Schauen Sie sich einmal an, was die Länder tatsächlich unternehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich muss Ihnen sagen: Wir können wirklich nicht auch und bei der SPD) noch dafür verantwortlich sein, dass dieses Geld in vie- len Ländern nicht weitergegeben wird. Das ist das Pro- Man kann es auch ganz ökonomisch sehen. Schauen blem, vor dem wir stehen. Frau Eichhorn, kümmern Sie Sie sich die Länder an, in denen die Quote der Frauen, sich darum, dass dieses Geld in den Ländern weitergege- die erwerbstätig sind, höher ist als bei uns: Dort gibt es ben wird; ein höheres Wachstum. Sie sagen ja immer, wir bräuch- ten Wachstum, damit Arbeitsplätze geschaffen werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn die Quote der Frauen, die erwerbstätig sind, steigt und bei der SPD – Maria Eichhorn [CDU/ und Arbeitsplätze geschaffen werden, steigt auch das CSU]: Kümmern Sie sich darum!) Wachstum. Auch deswegen rechnet es sich. denn in Thüringen und vielen anderen Ländern geschieht In Ostdeutschland steuern Frauen 50 Prozent zum Fa- das bisher nicht. Wenn die Länder das Geld weitergeben, milieneinkommen bei, in Westdeutschland sind es wird es auch bei den Kommunen ankommen. 30 Prozent. Ich finde, da könnte sich der Westen einmal dem Osten angleichen. Eines muss ich direkt an die Adresse der Kommunen sagen: Ich glaube, es geht auch um Prioritätensetzung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das DIW hat ausgerechnet, dass es sich für die Kommu- und bei der SPD sowie der Abg. Ina Lenke nen auch in finanzieller Hinsicht lohnt, in die Kinderbe- [FDP]) treuung zu investieren, weil dann in vielen anderen Be- Zum Schluss: Auch wenn sie ein bisschen nach Zu- (B) reichen weniger Geld ausgegeben werden muss. Im kunftsmusik klingt, möchte ich Ihnen eine Geschichte (D) Grunde genommen wissen wir das. Auch in den Kom- erzählen, die ich neulich in Bielefeld gehört habe. Da hat munen sollte man das wissen. Man sieht zwar landauf, eine berufstätige Mutter in der Kindertagesstätte angeru- landab überall neue Feuerwehrhäuser. Aber es wäre ganz fen und gesagt: Entschuldigung, ich werde mich etwas schön, wenn nebenan auch einmal ein neuer Kindergar- verspäten. Ich habe hier noch Stress und muss noch ein ten oder eine neue Kinderkrippe entstehen würde. paar wichtige Telefonate führen. Aber ich komme in ei- ner Viertelstunde. – Die Erzieherin am anderen Ende der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Leitung sagte zu der Mutter: Wissen Sie was? Gehen Sie Ina Lenke [FDP]: Das ist doch bloß wieder noch in Ruhe einkaufen und kommen Sie dann ungehetzt Polemik!) hierher. Ich lese Ihrem Sohn so lange noch etwas vor. – Der dritte Grund, aus dem wir diesen Gesetzentwurf Sie fand die beiden in trauter Eintracht auf dem Sofa erarbeitet haben, ist die Verbesserung der Vereinbarkeit beim Vorlesen. Mutter und Sohn hatten noch einen sehr von Familie und Beruf. Es geht doch vor allen Dingen schönen, sehr entspannten Abend. um die Wahlfreiheit. Niemand möchte den Eltern vor- (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Volker schreiben, was sie tun sollen und wie sie leben sollen. Kauder [CDU/CSU]: Wunderbar!) (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das habe Ich glaube, das ist keine Zukunftsmusik, sondern das, ich aber schon ganz anders gehört!) was wir anstreben sollten, nämlich dass es unseren Kin- dern tatsächlich gut geht – in der Familie und in der Kin- 90 Prozent der Mütter sagen: Wir wollen berufstätig derbetreuungseinrichtung. Sie sollten aufhören, hier ge- sein. Bei den Vätern sind es 100 Prozent. Die Wahlfrei- schäftsmäßig darüber zu reden, ob die Finanzierung heit, das tun zu können, was man möchte, und Beruf und stimmt oder nicht, sondern sich mit uns anstrengen und Familie tatsächlich zu verbinden, sollten wir endlich her- vor allen Dingen eines klar machen: Kinderbetreuung ist stellen. Deswegen ist dieses Gesetz so wichtig. wichtig für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands, sie ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine der zentralen Zukunftsaufgaben. Machen Sie mit und bei der SPD) und hören Sie auf, herumzumäkeln und vergangenheits- gerichtete Reden zu halten! Sie haben von der Ungleichbehandlung geredet und Vielen Dank. die Facharbeiterfamilie mit fünf Kindern erwähnt. Sie müssen das Gesetz noch einmal lesen, den Passus, in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem es um das Kindeswohl geht. und bei der SPD) 12288 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Rahmenbedingungen für Tagesmütter, -väter und -eltern (C) Ich erteile das Wort Kollegin Ina Lenke, FDP-Frak- vorzulegen. tion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ina Lenke (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Die FDP hat hier und heute einen Antrag vorgelegt. Ich Göring-Eckardt, seit 1998 sind Sie an der Regierung, bitte Sie – das habe ich im Ausschuss schon gesagt –, doch erst heute, im Jahr 2004, legen Sie diesen Gesetz- sich den Antrag noch einmal sehr genau anzuschauen entwurf vor. Von daher haben Sie das verzögert und nie- und in Ihrem Ministerium mit ihm etwas anzufangen. mand anders. Sie haben die Mehrheit hier im Haus. Erstens wollen wir für die Tagesmütter klare, einfa- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – che, unbürokratische und bundeseinheitliche steuer- und Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dann sozialversicherungsrechtliche Regelungen. Zweitens stimmen Sie doch zu!) wollen wir die Befreiung von der gesetzlichen Renten- versicherungspflicht, aber eine Pflicht zur Versicherung. Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion will Frau Ministerin, drittens wollen wir, dass Sie die Förder- mehr Bildung, Betreuung und Erziehung von Anfang an. lücke zwischen dem zweiten und dem dritten Lebensjahr Zustimmen werden wir dem Gesetz von Rot-Grün nicht, schließen. Weder von den Grünen noch von der SPD weil die Finanzierung fehlt. Wir alle wissen, der Bedarf habe ich irgendetwas dazu gehört. an Betreuung unter Dreijähriger in den Städten und Ge- meinden hätte nach dem KJHG, dem Kinder- und Ju- (Klaus Haupt [FDP]: Ja!) gendhilfegesetz, gedeckt werden müssen. Aber noch ist Bis zum zweiten Lebensjahr des Kindes gibt es Erzie- Bedarf vorhanden, er ist nicht gedeckt. hungsgeld. Einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung Wer hat heute als Mutter oder Vater schon das Glück gibt es aber erst ab dem dritten Lebensjahr. – sei es in Schleswig-Holstein, sei es in Hamburg oder Bayern –, einen Krippenplatz zu ergattern? (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das machen wir doch gerade!) (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Was ist mit Niedersachsen?) – Nein, das tun Sie nicht. – Viertens wollen wir – davon habe ich heute auch nichts gehört – die Anerkennung der Die Chancen dafür stehen ziemlich schlecht. Dies zu än- Kinderbetreuungskosten für Arbeitnehmerinnen und Ar- dern ist Aufgabe von CDU- und SPD-geführten Bundes- beitnehmer als Werbungskosten, wenn die Frauen bzw. ländern; das muss man ganz deutlich sagen. (B) Männer berufstätig sind. Schreiben Sie von uns ab und (D) (Beifall bei der FDP) übernehmen Sie die guten Vorschläge der FDP! Viele Eltern, insbesondere Alleinerziehende und Akade- (Beifall bei der FDP) mikerinnen, die ihren Kinderwunsch realisieren wollen, Meine Damen und Herren, die Bildung im vorschuli- erwarten von uns eine bessere Infrastruktur. Kinderbe- schen Bereich hat für die FDP eine große Bedeutung. treuungsangebote – das wissen wir alle, darüber sind wir Mein Kollege Klaus Haupt wird gleich noch darüber re- uns einig – sind der Schlüssel für die bessere Vereinbar- den. Auch Kinder, die zu Hause gut gefördert werden, keit von Familie und Beruf. profitieren nachweislich von einer qualitativ hochwerti- Ein gezielter Ausbau der Kinderbetreuung bringt gen außerfamiliären Betreuung. Ich habe selbst drei En- langfristig ökonomisch mehr ein, als er kostet. Er bringt kelkinder und kann sehr gut nachvollziehen, dass das so Vorteile für Mütter und Väter, hinsichtlich der demogra- ist. Die FDP will deshalb bundesweit Mindeststandards phischen Entwicklung, für die Unternehmen und für den für Bildung und Betreuung. Ich glaube, wir alle sind uns Staat, der Mehreinnahmen an Steuern und Sozialversi- einig, dass wir das nicht den Ländern und Kommunen cherungsbeiträgen hat, wenn Mütter berufstätig sind. überlassen sollten. Wir wollen, dass die Kinder beim Diese Mittel fehlen heute in unseren Kassen. Die FDP Schuleintritt die gleichen Bildungschancen haben. will ganz besonders viele allein erziehende Frauen mit Warum stimmen wir dem TAG nicht zu, obwohl es Kindern, die bisher auf Sozialhilfe angewiesen waren, inhaltlich von uns sehr begrüßt wird und wir in vielen dabei unterstützen, ihren Lebensunterhalt für sich und Teilen Gemeinsamkeiten haben? ihr Kind eigenverantwortlich zu verdienen, damit sie nicht mehr von der Sozialhilfe abhängig sind. (Nicolette Kressl [SPD]: Ja, das frage ich mich auch!) Das Ministerium hat errechnet, dass 230 000 Betreuungsplätze für unter Dreijährige fehlen. – Ich erkläre es Ihnen, da Sie es noch nicht wissen. – Die 160 000 Krippenplätze sollen entstehen und 68 500 Plätze von der Regierung konstruierte Finanzierung der durch sollen durch Tagesmütter und -väter angeboten werden. das Tagesbetreuungsausbaugesetz anfallenden Kosten Frau Ministerin, diese Aufteilung ist sehr vernünftig; über die erwarteten Einsparungen durch die Zusammen- denn im ländlichen Raum werden wir kaum viele Krip- legung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Rahmen pengruppen einrichten können. von Hartz IV ist für uns unseriös und unglaubwürdig. Sie binden die Tagesmütter zwar in ihr Konzept ein, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten haben es aber bis heute nicht geschafft, verlässliche der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12289

Ina Lenke (A) Die erforderlichen 1,5 Milliarden Euro werden nämlich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) nicht aus dem Bundeshaushalt bezahlt, sondern über DIE GRÜNEN) Hartz IV; viele Bürgerinnen und Bürger wissen das Ich will Ihnen noch etwas zu dem sagen, was mir bei nicht. Heute weiß aber niemand, ob den Kommunen Ihrer Rede aufgefallen ist. Sie haben sich hier hingestellt Geld in der Höhe übrig bleibt, die Sie errechnet haben. und erklärt, Wahlfreiheit würde vor allem durch mate- Das ist so, auch wenn Sie von der Regierungsbank sich rielle Leistungen geschaffen, die Sie in Ihrer Regierungs- noch so sehr weigern, das anzuerkennen. zeit auf den Weg gebracht hätten. Habe ich mich verhört Erinnern wir uns: SPD und Grüne haben vor der oder verlesen? Hat es nicht mehrere Urteile des Verfas- Bundestagswahl 2002 wie 1998 auch mit dem Verspre- sungsgerichtes gegeben, die sich auf die materiellen De- chen Hunderttausender neuer Betreuungsplätze ge- fizite in Ihrer Regierungszeit bezogen und die wir jetzt glänzt. Hier reden Sie die Frage der Finanzierung he- umsetzen müssen? Wo bin ich eigentlich? runter. Das finde ich nicht in Ordnung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP) DIE GRÜNEN) Wer den Kommunen hier aus dem Bundestag konkrete Aufgaben zuweist, der muss auch dafür sorgen, dass die Präsident Wolfgang Thierse: Finanzierung sichergestellt ist. Das ist der große Pferde- Kollegin Kressl, gestatten Sie eine Zwischenfrage der fuß des Gesetzes. Diese Milchmädchenrechnung geht Kollegin Eichhorn? nicht auf. Deshalb machen wir nicht mit. Nicolette Kressl (SPD): Obwohl ich die Ministerin wirklich bei jeder Aus- Aber natürlich. schusssitzung und bei jedem Gespräch gefragt habe, wo die nachprüfbaren Berechnungen sind, hat sie sie bisher (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE nicht vorgelegt. Sie hat immer nur gesagt, sie könne die GRÜNEN]: Das verlängert die Redezeit! Das Kosten quantifizieren, sie könne mir ganz genau sagen, ist gut!) wie viel es kostet. Nun, das eine ist die Kostenseite und das andere ist die Seite, wie die Kosten bezahlt werden. Maria Eichhorn (CDU/CSU): Ich fasse zusammen: Inhaltlich stimmt die FDP dem Frau Kollegin Kressl, würden Sie zur Kenntnis neh- TAG zu. Da die Finanzierung nicht gesichert ist, werden men, dass es in meiner Rede beim Thema Wahlfreiheit wir uns bei der Abstimmung aber enthalten. überhaupt keine Unterschiede zu dem gibt, was Sie ge- sagt haben? Sie unterstellen mir, dass es unterschiedliche (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Ernst (B) Ansichten gibt. Lesen Sie bitte unsere Konzepte nach! (D) Hinsken [CDU/CSU]) Wir gehen von der Wahlfreiheit für alle Familien aus. Das bedeutet, dass diejenigen, die einer Erwerbstätigkeit Präsident Wolfgang Thierse: nachgehen wollen, diese Möglichkeit auch erhalten sol- Ich erteile das Wort Kollegin Nicolette Kressl, SPD- len. Daher setzen wir uns für eine bedarfsgerechte Kin- Fraktion. derbetreuung ein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aber wir wollen auch, dass diejenigen, die sich dafür des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) entscheiden, eine gewisse Zeit zu Hause zu bleiben, ähn- liche Möglichkeiten haben und dafür die entsprechenden Nicolette Kressl (SPD): Voraussetzungen geschaffen werden. Daher brauchen Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir wir den Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten und entscheiden heute darüber, ob Eltern in Zukunft endlich finanzielle Förderung. Genau das ist unser Konzept. Wahlfreiheit haben werden, ob sie Berufstätigkeit und Dem können Sie nicht widersprechen; denn das können Familie miteinander vereinbaren oder für eine gewisse Sie jederzeit nachlesen. Zeit zu Hause bleiben wollen. Nicolette Kressl (SPD): Frau Eichhorn, Sie haben in Ihrem Redebeitrag be- Sehr geehrte Frau Eichhorn, lassen Sie mich zu Ihrer hauptet, wir täten das Gegenteil. Was für eine veraltete Frage einige Bemerkungen machen: Vorstellung von Wahlfreiheit haben Sie denn? Erstens. Wahlfreiheit für Eltern entsteht dann, wenn (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des wirklich etwas getan wird und es nicht nur in Konzepten BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) steht. Das aber erleben wir bei Ihnen nicht. Wahlfreiheit heißt, dass Eltern, wenn sie sich für die Ver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einbarkeit von Familie und Beruf entscheiden, ein ent- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Maria sprechendes Angebot erhalten. Für uns heißt das, dass Eichhorn [CDU/CSU]: Wer war denn in den wir für die Bereitstellung des Angebots sorgen müssen. letzten Jahren an der Regierung?) Das bedeutet aber nicht, dass wir den Eltern die Ent- scheidung aus der Hand nehmen. Für mich ist es die Zweitens. Sie haben in Ihrer Rede behauptet, mit un- Aufgabe der Politik, ein Angebot zu machen. Behaupten serem Konzept würden wir die Wahlfreiheit einschrän- Sie nicht, wir würden uns nicht um die Wahlfreiheit ken. Ich habe nur klargestellt, dass für uns die Wahlfrei- kümmern. heit nur dann gegeben ist, wenn beides vorhanden ist: 12290 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Nicolette Kressl (A) die materielle Unterstützung, die wir in unserer Regie- Für uns bedeutet dieser Weg einen gesellschaftlichen (C) rungszeit von 1998 bis 2002 in einem Maße ausgebaut Fortschritt. Lassen Sie uns ehrlich sein: Es ist nicht so, haben, an das Sie nie gedacht haben, und die Infra- dass wir vorneweg marschieren, sondern wir erkennen struktur. die gesellschaftlichen Veränderungen bei uns und bewe- gen uns endlich politisch. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – (Ina Lenke [FDP]: „Endlich“! Da haben Sie Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Bitte? Das Recht!) stimmt doch gar nicht!) – Frau Lenke, wenn Sie „endlich“ sagen, dann muss ich Wahlfreiheit entsteht dann, wenn wir Eltern tatsächlich darauf hinweisen, dass wir vier Jahre lang Ihre materiel- beide Alternativen anbieten. Seien Sie so gut und reden len Defizite ausgleichen mussten. Sie nicht immer nur von Ihren Parteitagsbeschlüssen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sondern sagen Sie Ihren Kollegen in den Ländern, dass des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wi- sie dem Ausbaukonzept zustimmen sollen! derspruch bei der CDU/CSU und der FDP) (Ina Lenke [FDP]: Sie aber auch!) Es gab ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, auf- Dann können wir miteinander darüber reden, wer wirk- grund dessen wir das Kindergeld erhöhen mussten. Wir lich etwas für Familien tut. mussten auch bei den Freibeträgen nachbessern. Wir müssen dies Schritt für Schritt abarbeiten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgit- Wir entscheiden im Übrigen heute auch darüber, dass ter] [SPD]: Vielen Dank für die Frage!) wir nicht immer nur über Vereinbarkeit von Familie und Beruf reden, sondern dass endlich auch die gesetzlichen Wir wissen, dass frühkindliche Förderung ein ganz Rahmenbedingungen geschaffen werden. wichtiger Bestandteil von Kinder- und Jugendhilfe so- wie von Betreuungskonzepten ist. Auch da, Frau (Ina Lenke [FDP]: Die fehlen!) Eichhorn, will ich auf einen Punkt eingehen, den Sie Frau Ministerin Schmidt hat schon darauf hingewiesen, vorhin angesprochen haben. Sie haben behauptet, mit wie langsam sich ohne gesetzlichen Druck die Rahmen- unserem Konzept sei es nicht möglich, dass Eltern von bedingungen zum Positiven verändern. Weil wir nicht fünf Kindern Tagesbetreuungsangebote für unter Drei- immer nur reden wollen, haben wir uns für die Auftei- jährige in Anspruch nehmen können. lung des Gesetzes entschieden. (Markus Grübel [CDU/CSU]: Das haben Sie (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Ina Lenke (B) doch gestern abgelehnt!) (D) [FDP]: Ach Gott!) Haben Sie vielleicht übersehen, dass als drittes Bedarfs- – Was erstaunt Sie eigentlich daran? Was erstaunt Sie kriterium das Kindeswohl im Vordergrund steht? Selbst- daran, wenn uns in Meldungen angekündigt wird, dass verständlich wollen wir den Kommunen diesen Freiraum die Union im Bundesrat verzögern und blockieren wird? geben. Ich bin davon überzeugt, dass in ganz vielen Kommunen in diesem Fall für das Kindeswohl entschie- (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Unsinn! – den wird. Ich habe sehr viel Vertrauen in das, was die Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Wie Sie Kommunen tun werden. Wenn Sie das nicht haben, ist mit Geld umgehen, spottet jeder Beschrei- das Ihr Problem. Diese Freiheit wollen wir den Kommu- bung!) nen geben; das Kindeswohl steht im Mittelpunkt. Wir sind verpflichtet, uns darum zu kümmern, dass die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Eltern die gesetzlichen Rahmenbedingungen bekom- DIE GRÜNEN) men. Das ist Verpflichtung und keine Trickserei. Drittens. Wir entscheiden heute auch darüber, dass in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zukunft Alleinerziehende eine echte Chance haben wer- DIE GRÜNEN) den, einen Arbeitsplatz anzunehmen, weil sie die Kin- Hätten Sie die Ablehnung nicht angekündigt, dann derbetreuung erhalten. hätten wir dieses Gesetz nicht aufteilen müssen. (Zuruf von der CDU/CSU: Wer entscheidet (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das stimmt nicht, das?) Frau Kressl! Das ist eine Unterstellung!) Schauen Sie sich den Armuts- und Reichtumsbericht an! Ich will den Kommunen deutlich sagen: Es war nicht Dort wird deutlich, dass die Armutsfalle, in der Allein- unser Wunsch, das Gesetz aufzuteilen. Wir hätten das erziehende häufig sind, nicht darauf beruht, dass wir zu Zusammenfügen der beiden Teile für sinnvoll gehalten, wenig soziale Transferleistungen haben, sondern darauf, weil darin auch die Entlastung der Kommunen im Be- dass die Alleinerziehenden keine Erwerbstätigkeit auf- reich des Kinder- und Jugendhilfegesetzes enthalten ist. nehmen können. Wir müssen einen entscheidenden Der zweite Teil des Gesetzes, der den Bereich des Kin- Schritt in diese Richtung tun. Auch darüber entscheiden der- und Jugendhilfegesetzes betrifft, wird von uns wei- wir heute mit den Bedarfskriterien des Gesetzes. ter verfolgt werden. Sowohl die Weiterentwicklung in (Beifall bei der SPD – Dr. Maria Flachsbarth dem Bereich als auch die finanzielle Entlastung der [CDU/CSU]: Das ist völlig unstrittig!) Kommunen ist uns wichtig. Wir werden das nicht liegen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12291

Nicolette Kressl (A) lassen, sondern nach ausführlicher Beratung weiter da- Wir reden schon sehr lange über die Notwendigkeit (C) ran arbeiten. Wir hoffen, die Zustimmung des Bundesra- der Kinderbetreuung; einige von Ihnen haben es auch tes zu erhalten. schon angesprochen. Für mich ist es eine Frage der Glaubwürdigkeit, die gesetzlichen Rahmenbedingungen Lassen Sie mich noch die Finanzierung ansprechen. auf den Weg zu bringen. Die Entlastung in Höhe von 2,5 Milliarden Euro steht nicht nur auf dem Papier; vielmehr hat der Vermittlungs- (Ina Lenke [FDP]: Das wird Zeit!) ausschuss eine Revisionsklausel beschlossen, mit deren Hilfe sichergestellt wird, dass die Nettoentlastung tat- Wir haben vier Jahre lang dem Kindergeld Priorität ein- sächlich bei den Ländern ankommt. Die Länder müssen geräumt; jetzt gilt unsere Priorität der Infrastruktur. diese Entlastung an die Kommunen weitergeben. Wir le- Sie müssen uns erklären, wie sich Folgendes mitei- gen Wert darauf, dass das geschieht; denn die Länder ha- nander vereinbaren lässt: Sie stellen auf der einen Seite ben sich im Vermittlungsausschuss dazu verpflichtet. fest, dass Sie die Kinderbetreuung ausbauen wollen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kündigen aber auf der anderen Seite an, dass Sie unse- DIE GRÜNEN) rem Gesetzentwurf nicht zustimmen können. Heute Morgen konnten wir verfolgen, wie Frau Böhmer den Besonders interessant ist, dass sich die Vertreterinnen Hasenpreis fürs Hakenschlagen verdient hat, als sie er- und Vertreter der Union hier hinstellen und uns etwas klärte, warum ihre Fraktion unserem Gesetzentwurf von unseriöser Finanzierung erzählen. nicht zustimmen kann. Das ist völlig absurd. (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: So ist es!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich erwarte von allen, dass sie sich einmal das Ge- DIE GRÜNEN) samtkonzept der CDU/CSU anschauen: Wenn wir wissen, dass der Ausbau der Kinderbetreu- (Zuruf von der SPD: Welches?) ung notwendig ist, dann sollten wir auch das Nötige tun und dem Gesetzentwurf zustimmen. Ich denke, Deutsch- Steuerentlastung, Streichung der Gewerbesteuer, Finan- land hat eine solche Haltung nach dem Motto „Eigent- zierung der geplanten Kopfpauschale im Gesundheitsbe- lich wollen wir ja, aber wir können trotzdem nicht!“ reich über Steuern in Höhe von 30 Milliarden Euro. nicht verdient. Das haben die Familien nicht verdient. (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Wer fährt den Bringen Sie die von Ihnen regierten Länder dazu, dem Haushalt denn ständig an die Wand?) Gesetzentwurf zuzustimmen! Geben Sie sich einen Ruck und stimmen Sie ebenfalls zu! Alle werden es Ihnen dan- (B) Ich erwarte, dass sich Ihre Familienpolitiker und Famili- ken. (D) enpolitikerinnen, statt Insellösungen zu fordern, vor Au- gen führen, was Ihr Gesamtkonzept für die Kommunen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bedeutet. Ich kann mir nicht vorstellen, wie Herr Götz DIE GRÜNEN) – er ist der nächste Redner – den Kommunen die massi- ven milliardenhohen Steuerausfälle erklären will, zumal Präsident Wolfgang Thierse: gleichzeitig die Kinderbetreuung ausgebaut werden soll. Ich erteile Kollegen Peter Götz, CDU/CSU-Fraktion, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das Wort. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie sollten an dieser Stelle nicht heucheln. Wir wollen wissen, wie Ihr Gesamtkonzept aussehen soll. Peter Götz (CDU/CSU): Ich möchte noch einen Punkt ansprechen. Hinsicht- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! lich der Gewerbesteuer und der Finanzierung der Kom- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach sechs munen wird deutlich, welche Entlastungen unsere Refor- Jahren Regierung hat Rot-Grün jetzt auch die Kinder men in diesem Bereich auf den Weg bringen. entdeckt. (Ina Lenke [FDP]: Ach nee! Erst belasten, (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dann entlasten!) DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgit- ter] [SPD]: Jetzt machen Sie sich doch nicht In meinem Wahlkreis habe ich kürzlich eine Zeitungs- lächerlich! – Zuruf von der SPD: Wo waren meldung über eine Stadt gelesen, die deutlich steigende Sie denn in den sechs Jahren?) Gewerbesteuereinnahmen zu verzeichnen hat. Die Mel- dung trug die Überschrift: Wir dürfen nicht zu schnell Der gesellschaftliche Wandel hat das Leben der Familien euphorisch werden. Das ist sicherlich richtig – wir müs- in Deutschland geändert. Das hat auch Einfluss auf die sen das in der Tat beobachten –, aber die Behauptung, Familienpolitik. Es ist unstrittig, dass in Deutschland auf dass hier alles den Bach heruntergeht, ist absolut un- vielen Gebieten Handlungsbedarf besteht. Das gilt auch wahr. Ich bitte Sie, im Interesse der Familien bei der für den wichtigen Bereich der Erziehung, Bildung und Wahrheit zu bleiben, um diese nicht zu verunsichern. Betreuung unserer Kinder. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf von der SPD: 16 Jahre haben Sie die DIE GRÜNEN) Familien vergessen!) 12292 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Peter Götz (A) Wie wir alle wissen, ist eine gute Erziehung im Eltern- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (C) haus die beste Grundlage für eine positive Entwicklung Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Noch so unserer Kinder. eine Nummer!) (Beifall bei der CDU/CSU) Die Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpoliti- ker, die viel enger und direkter mit den Bürgerinnen und Sie ist durch nichts zu ersetzen. Durch eine frühzeitige Bürgern im Austausch stehen, würden gerne eine quali- gute Erziehung und Bildung wird der Grundstein für das tätsorientierte Betreuung der Kinder anbieten. Aber sie spätere Leben gelegt. können es einfach nicht mehr. Meine Damen und Herren Unstrittig ist auch, dass in einigen Bundesländern von der Regierungskoalition, Sie haben innerhalb von beim Ausbau der Kinderbetreuungsangebote Nachholbe- sechs Jahren den Kommunen durch Ihre Politik die Luft darf besteht. Die Anhörung im zuständigen Fachaus- zum Atmen genommen. schuss des Deutschen Bundestags hat aber deutlich ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zeigt, dass einige Länder der Meinung sind, keine bundeseinheitliche Regelung zu brauchen, da sie bereits Seit sechs Jahren verteilt die Bundesregierung Wahlge- eigene Programme aufgelegt haben. schenke im sozialen Bereich und lässt andere dafür be- (Nicolette Kressl [SPD]: Sie waren doch gar zahlen. nicht da!) (Zurufe von der SPD: Was? – Wilhelm Wir sollten in der Diskussion berücksichtigen, welche Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch un- Unterschiede zwischen Ihrem Gesetzentwurf und unse- glaublich! Dann sagen Sie doch mal, wo wir rem Ansatz bestehen. was streichen sollen!) (Nicolette Kressl [SPD]: Was für ein Ansatz?) Das ist unanständig, um mit den Worten Ihres Bundes- kanzlers zu reden. Sie setzen auf eine institutionelle Lösung, die auf Bun- desebene organisiert und dann von den Kommunen um- (Beifall bei der CDU/CSU) gesetzt werden soll. Wir hingegen wollen individuelle Wir wollen, dass der Grundsatz, der im „normalen“ Le- Lösungen mit einer großen Wahlfreiheit für die Men- ben gilt, auch in der Politik gilt: Wer bestellt, der be- schen, die Familie und Beruf vereinbaren wollen. zahlt. (Zuruf von der SPD: Der Garant dafür, dass (Beifall bei der CDU/CSU) nichts passiert!) (B) Wir wollen aber auch die Familien stärken, die ihre klei- Präsident Wolfgang Thierse: (D) nen Kinder zu Hause erziehen wollen. Für uns steht ohne Kollege Götz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frage das Wohl des Kindes im Mittelpunkt. Kollegin Humme? (Beifall bei der CDU/CSU) Peter Götz (CDU/CSU): Sie versuchen, mit dem Gesetzentwurf auf untaugli- Ja. che Weise Symptome zu kurieren, (Nicolette Kressl [SPD]: Das ist doch nicht zu Präsident Wolfgang Thierse: fassen!) Frau Humme, bitte. ohne die Ursache für die fehlenden Betreuungsangebote anzugehen. Frau Ministerin, die Fragen, die wir uns Christel Humme (SPD): vorab stellen müssen, lauten deshalb: Welches ist die Herr Götz, da Sie kommunalpolitischer Sprecher Ih- Ursache? Wo liegt die Wurzel für den unbefriedigenden rer Fraktion sind, verwundert mich besonders Ihre Aus- Zustand der Kinderbetreuung? Viele Städte und Gemein- sage, wir hätten sechs Jahre lang nichts für die Kommu- den engagieren sich seit Jahren im Rahmen ihrer finan- nen getan. Ich nenne Ihnen einmal ein paar Zahlen. ziellen Möglichkeiten für eine bessere Kinderbetreuung. Warum verschweigen Sie, dass wir die Kommunen durch die Reform der Gewerbesteuer um 3 Milliarden (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Viele? Euro entlasten? Warum verschweigen Sie, dass wir die Viel zu wenige!) Kommunen durch Hartz IV um 2,5 Milliarden Euro ent- Dort ist schon sehr viel geschehen, aber ohne Zweifel lasten? noch lange nicht genug. Wir wollen familienfreundliche (Widerspruch bei der CDU/CSU und der Kommunen. Aber die Kommunen stehen finanziell mit FDP – [CDU/CSU]: Das ist dem Rücken an der Wand. Durch Ihre kommunalfeindli- überhaupt nicht wahr!) che Politik seit sechs Jahren Warum verschweigen Sie, dass die Kommunen im (Widerspruch bei der SPD – Wilhelm Schmidt [Salz- nächsten Jahr insgesamt um 7 Milliarden Euro entlastet gitter] [SPD]: Immer die gleiche Leier!) werden? Warum verschweigen Sie – das scheint mir viel befinden sich die Kommunen in ihrer schwersten Fi- wichtiger zu sein –, dass Sie es waren, die im Vermitt- nanzkrise seit Bestehen der Bundesrepublik Deutsch- lungsausschuss verhindert haben, dass den Kommunen land. Das können Sie nicht leugnen. durch eine Mindestgewinnbesteuerung mehr Geld zuge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12293

Christel Humme (A) führt wird? Last, not least: Wenn wir zusammen mit Ih- Ich gehe nun auf eine Bemerkung von Frau Kressl ein (C) nen das Steuervergünstigungsabbaugesetz im Vermitt- – vielleicht ist das eine Ergänzung meiner Antwort auf lungsausschuss durchbekommen hätten, hätten Bund, Ihre Frage, Frau Humme –, die die Stadt Gaggenau als Länder und Kommunen 25 Milliarden Euro mehr. Wa- Beispiel genannt hat. Zufälligerweise kenne ich die Situa- rum sollen wir es sein, die die Kommunen mit unserer tion dieser Stadt. Das hängt auch damit zusammen, dass Politik alleine lassen? Wie sieht denn Ihre Politik aus? ich vor meiner Zeit im Deutschen Bundestag dort Bür- germeister war und insofern die Details ein bisschen (Beifall bei der SPD) kenne. (Andreas Scheuer [CDU/CSU], an Abg. Peter Götz (CDU/CSU): Nicolette Kressl [SPD] gewandt: Das war ein Ich gebe Ihnen gerne eine Antwort. Die Kommunen Schuss in den Ofen!) sind im Augenblick dabei, ihre Haushalte für das Jahr 2005 aufzustellen. Die Ausgaben für soziale Leistungen Sie haben in Ihrem Beispiel verschwiegen, dass ein steigen im kommunalen Bereich dramatisch, großes Unternehmen dieser Stadt über viele Jahre Ver- lustvorträge in Anspruch nehmen konnte und dass das (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Leider wahr!) nun beendet ist. Jetzt bekommt diese Stadt wieder Ein- und zwar auf ein Niveau, das es in Deutschland noch nie nahmen aus der Gewerbesteuer. Viele Jahre gab es von gegeben hat, nämlich auf 30 Milliarden Euro in diesem diesem Unternehmen keine Gewerbesteuer. Das zeigt ei- Jahr, Tendenz weiter steigend. In diesem Jahr haben die nes der Kernprobleme der Gewerbesteuer: Wir brauchen kommunalen Kassenkredite das Rekordniveau von im Bereich der Kommunalfinanzen Veränderungen, die 18 Milliarden Euro erreicht, das heißt also, dass die eine nachhaltige, verlässliche Finanzierung der Kommu- Kommunen in diesem Jahr ihr Konto um diesen Betrag nen ermöglichen. Wenn das der Fall ist, haben die Kom- munen eine Chance, die Kinderbetreuung auf den Weg überziehen. Wenn Sie angesichts dessen behaupten, dass zu bringen. das eine Ihrer tollen Leistungen sei, dann kann zumin- dest ich das nicht nachvollziehen. Das ist die erste Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – merkung. Volker Kauder [CDU/CSU], an Abg. Christel Humme [SPD] gewandt: Frau Kollegin, ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- senkt!) neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Irgendwie haben Sie die Frage nicht Die Grenze zur Handlungsfähigkeit ist in vielen Städ- verstanden! Beantworten Sie doch einmal die ten und Gemeinden schon lange überschritten: Schäden Frage! – Zurufe von der CDU/CSU: Frau an Schulen werden nicht mehr repariert – ich weiß nicht, (B) Humme, stehen bleiben!) wo Sie in Ihren Wahlkreisen unterwegs sind –, (D) Schwimmbäder werden geschlossen, das mittelständi- – Frau Humme, bitte bleiben Sie stehen. Ich möchte Ihre sche Handwerk bricht weg. Es ist für Wirtschaftsent- Frage vollständig beantworten. Sie müssen Geduld ha- wicklung unseres Landes dringend notwendig, dass sich ben. hier etwas verändert, damit die Kommunen wieder in die (Christel Humme [SPD]: Bis jetzt habe ich Lage versetzt werden, ihre Aufgaben eigenverantwort- noch keine Antwort!) lich wahrzunehmen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zweite Bemerkung, zu der von Ihnen angesprochenen Gewerbesteuer. Es ist richtig, dass wir nicht wollen, dass Das ist die Realität vor Ort, mit der wir uns auseinander diejenigen Unternehmen, die Probleme haben, die Kre- setzen. dite aufnehmen müssen, weil sie kurz vor der Insolvenz (Nicolette Kressl [SPD]: Sagen Sie einmal was stehen, die Zinsen für diese Kredite bei der Gewerbe- zum Thema Kinder! Was ist eigentlich mit den steuerschuld zusätzlich versteuern müssen. Das wollten Kindern?) Sie, aber nicht wir. Deshalb haben wir das abgelehnt. Die Union will die Kinderbetreuung verbessern. Das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ist die einhellige Meinung unserer Fraktion, in unseren Wir wollten auch nicht – deshalb haben wir das ebenfalls Parteien, in CDU und CSU, abgelehnt –, dass Freiberufler zur Gewerbesteuerzah- (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt lung herangezogen werden. Das hätte nur dazu geführt, [Salzgitter] [SPD]: Das spürt man aber leider dass die Freiberufler Steuerberater beauftragt hätten, um nicht!) dafür zu sorgen, dass keine Gewerbesteuer gezahlt wer- den muss. und auf allen politischen Ebenen, angefangen im kleins- ten Rathaussaal über die Landtage bis in dieses Hohe (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist im- Haus. mer noch nicht eine Antwort auf die Frage!) Nur: Die kommunalen Haushalte müssen die kommu- Das wäre ein Nullsummenspiel bzw. ein Beschäfti- nalen Aufwendungen und Aufgaben bewältigen können. gungsprogramm für Steuerberater gewesen. Sie haben Ein erneuerter Verschiebebahnhof zulasten der Kommu- sich in diesem Bereich oft selbst widersprochen. nen löst das Problem nicht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- neten der FDP) NEN]: Revisionsklausel!) 12294 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Peter Götz (A) Die Folge der Umsetzung Ihrer unseriösen Finanzie- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C) rungsangebote wäre, dass die Kommunen gezwungen wären, die Betreuungskosten auf die Eltern abzuwälzen, Bei diesem so wichtigen Thema versuchen Sie, sich aus- weil sie das nötige Geld nicht haben. schließlich hinter der Finanzfrage zu verstecken, (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: So ist es!) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Spielt das Geld keine Rolle? Eichel hat doch nichts!) Die Konsequenz wäre: Kinderbetreuung würde zu einem Luxusgut privilegierter Besserverdiener. Wenn das Ihre und Sie schlagen mehr Haken, als es jemals ein Hase ge- Politik ist, kann ich dies in keiner Weise nachvollziehen, tan hat. Nachdem Sie hier ausschließlich die Finanzfrage Frau Ministerin. Wir von CDU und CSU wollen das angesprochen haben, möchte ich einmal wissen, warum nicht. Wir wollen einen Ausbau der Kinderbetreuung für Sie nicht von Studien berichten – auch Sie kennen sie si- alle und nicht nur für Besserverdiener. cherlich –, wonach sich jeder in den Ausbau der Kinder- betreuung investierte Euro drei- bis vierfach rentiert, und (Beifall bei der CDU/CSU) zwar durch höhere Steuer- und Sozialversicherungsein- Die Menschen in unserem Land erwarten von uns al- nahmen, durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze, insbe- len zu Recht, dass wir ihre Bedürfnisse erkennen und sondere für Frauen, und durch eine bessere Integration diese Erkenntnisse in politisches Handeln umsetzen. Sie der Kinder und Jugendlichen in diesem Land. Ich denke, erwarten auch seriöse Berechnungen und sie erwarten Sie sollten auch dieses Thema einmal behandeln. keine Tricksereien. Mehr Ehrlichkeit im Umgang mit Danke. Zahlen, aber auch im Umgang untereinander schadet niemandem in diesem Hause. Ihr Gesetzentwurf gaukelt (Beifall bei Abgeordneten der SPD) den Menschen eine Problemlösung bei der Kinderbe- treuung vor. Ohne eine seriöse Finanzierung machen Sie Peter Götz (CDU/CSU): die Rechnung allerdings ohne den Wirt. Die Kommunen, die Eltern und die allein erziehenden Frauen zahlen letzt- Frau Kollegin, ich bin für Ihre Frage dankbar. lich die Zeche. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Weil Sie Wir haben eine andere Vorstellung von Politik. nun endlich zum Thema reden können!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich weiß sehr wohl, dass Finanzierung bei Ihnen nicht zum Thema gehört. Wir wollen starke Städte und Gemeinden, die in der Lage sind, eigenverantwortlich zu entscheiden. Wir wol- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (B) len eine starke kommunale Selbstverwaltung, und zwar neten der FDP) (D) ohne bürokratische Vorgaben aus Berlin. Wir setzen auf Ihr Kernproblem ist, dass Sie über Finanzierung nicht re- die Menschen, die vor Ort kommunalpolitische Verant- den wollen. wortung tragen. Ich teile Ihre Einschätzung; die Ergebnisse dieser Un- Präsident Wolfgang Thierse: tersuchungen sind so, wie sie sind. Auch ich sehe die Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage Auswirkungen dieses Verhältnisses von eins zu drei. der Kollegin Marks von der SPD-Fraktion? Deshalb sind wir ja für den Ausbau der Kinderbetreu- ung. Aber Sie müssen denjenigen, die den Ausbau der Kinderbetreuung vorantreiben sollen, zunächst einmal Peter Götz (CDU/CSU): die Chance geben, diesen einen Euro in die Hand zu neh- Herr Präsident, ich würde meinen Gedanken gern men, damit er 3 Euro auslöst. noch zu Ende bringen. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Menschen vor Ort sind sehr wohl in der Lage, die Prioritäten richtig zu setzen und bei Bedarf Tagesbetreu- Sie haben die Kommunen so weit gebracht, dass sie ung für Kinder anzubieten. Sie tun es schon heute. heute dazu nicht mehr in der Lage sind. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deshalb ist unser politischer Ansatz – das gehört sehr Jetzt bitte ich um die Zwischenfrage. wohl zum Thema –: Ja zur Kinderbetreuung, aber auch Ja zur Verbesserung der kommunalen Finanzausstattung, damit die Kommunen wieder in die Lage kommen, diese Präsident Wolfgang Thierse: Aufgabe eigenverantwortlich vernünftig und angemes- Kollegin Marks, bitte. sen wahrzunehmen. Das ist unsere Zielvorgabe. Wenn (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Bitte auch so Sie es mit dem Ausbau der Kinderbetreuung ernst und eine schöne Zwischenfrage wie die von der ehrlich meinen, dann sollten Sie auf unsere Vorschläge Kollegin Humme!) eingehen. ( [SPD]: Sie machen keine Vor- Caren Marks (SPD): schläge! Welche denn? – Gegenruf der Abg. Herr Kollege Götz, Sie verfehlen das Thema der heu- Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Wir haben tigen Debatte: Es geht um die Kinder in unserem Land. Anträge vorgelegt!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12295

Peter Götz (A) – Doch. Ich habe Ihnen vorgeschlagen, die Kommunalfi- Es geht um Integration von sozial Schwachen. Es geht (C) nanzen zu verbessern. Sie müssen zuhören und dürfen schließlich um Menschen in der Ausbildungssituation. nicht weghören. Dazu gab es einen Vorschlag von der Opposition, den wir aufgenommen haben. Heute sind Sie nicht einmal in (Beifall bei der CDU/CSU) der Lage zuzustimmen. Es geht selbstverständlich auch Lassen Sie uns gemeinsam die Situation der Städte um Verbindlichkeit für Eltern. und Gemeinden verbessern! Dann verbessern wir – die Wenn ich mir Ihre heutigen Debattenbeiträge vor Au- Prognose wage ich – auch die Kinderbetreuung in unse- gen führe, dann muss ich feststellen, dass Sie immer rem Land. wieder die Finanzen ansprechen, aber in Wirklichkeit Herzlichen Dank. meinen, dass der Bund in diesem Bereich eigentlich kei- nerlei Kompetenzen hat und nichts tun sollte. Sie wissen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina dass es kein reguläres Verfahren gibt, nach dem der Lenke [FDP]) Bund direkt Mittel auf die Kommunen übertragen kann. Finanzzuweisungen gehen nur über die Länder. Die Präsident Wolfgang Thierse: Länder, gerade die, in denen Sie regieren, wehren sich Ich erteile Kollegin Ekin Deligöz, Fraktion Bündnis 90/ aber mit Händen und Füßen dagegen, überhaupt irgen- Die Grünen, das Wort. detwas zu tun. Das ist die Realität. (Abg. Maria Eichhorn [CDU/CSU] meldet Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sich zu einer Zwischenfrage) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Götz, Sie waren in der Anhörung im Fachausschuss – Bitte schön. leider nicht dabei. Wären Sie dabei gewesen, hätten Sie zur Kenntnis nehmen können, (Zuruf von der CDU/CSU: Frau Präsidentin!)

(Peter Götz [CDU/CSU]: Aber ich kann le- Präsident Wolfgang Thierse: sen!) Frau Kollegin nimmt mir die Arbeit ab. – Bitte schön, dass sowohl Bürgermeister Schimke als auch die Vertre- Frau Kollegin Eichhorn. ter der Kommunalverbände sehr wohl gesagt haben, sie wollten die Kinderbetreuung, Maria Eichhorn (CDU/CSU): (Peter Götz [CDU/CSU]: Aber wir doch Frau Kollegin Deligöz, würden Sie zur Kenntnis neh- men, dass gerade in meinem Heimatland Bayern – die (B) auch! – Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Ja (D) natürlich! – Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Alle Situation dort kennen Sie vielleicht auch – seit dem Jahr wollen die Kinderbetreuung! – Weitere Zurufe 2002 313 Millionen Euro ausgegeben werden, um jähr- von der CDU/CSU: Wo ist der Widerspruch?) lich 1 000 Krippenplätze und 5 000 Betreuungsplätze im Schulbereich neu zu schaffen? Und da sagen Sie, in den sie wollten alles tun, damit das Kinderbetreuungsgesetz unionsregierten Ländern geschehe nichts! in Kraft tritt. Sie sehen es als einen Standortfaktor. Es ist wichtiger denn je, dass dieses Gesetz so schnell wie Sie werden gleich auf die Ausgangssituation hinwei- möglich in Kraft tritt. sen. Dazu kann ich Ihnen sagen, dass in Bayern die Be- treuungsquote der unter Dreijährigen um 2 Prozent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN punkte höher ist als in Nordrhein-Westfalen, Frau und bei der SPD) Deligöz. Nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis, dass die Gewer- (Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es! – Elke besteuereinnahmen in Deutschland im ersten Halb- Wülfing [CDU/CSU]: Nordrhein-Westfalen ist jahr 2004 um 1,5 Milliarden Euro gestiegen sind. Damit auch pleite!) sind wir voll im Plan. Das ist die Wahrheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und bei der SPD) Frau Kollegin, Ihr Heimatland Bayern ist auch mein Die Eltern wollen, dass wir die Kinderbetreuung aus- Heimatland; ich komme aus Bayern. Ich muss aber fest- bauen. Sie wollen es für sich. Sie wollen es für ihre Kin- stellen, dass die Realität wohl doch eine andere ist. Ich der und es geht auch um Hartz IV. Wir wollen Armut in sehe jeden Samstag in München und Nürnberg die El- diesem Land bekämpfen. Wir wollen, dass auch Mütter ternverbände auf der Straße demonstrieren, weil die und Väter arbeiten können. Eine Grundvoraussetzung Ausgaben für die Jugendhilfe und für die Schulen dafür ist die Betreuung der unter Dreijährigen. Wir kön- (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Thema!) nen nicht von den Menschen verlangen, erwerbstätig zu sein, ohne ihnen die dafür notwendigen Rahmenbedin- immer weiter gekürzt werden. gungen zu bieten. (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Thema!) (Rita Pawelski [CDU/CSU]: Richtig!) Es ist bei dem bayerischen Modell der Kinderbetreuung Es geht um Förderung und um Bildung von Kindern. davon die Rede, dass mehr Betriebswirtschaftlichkeit in Es geht auch um Vereinbarkeit von Beruf und Familie. die Strukturen muss. 12296 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Ekin Deligöz (A) (Ina Lenke [FDP]: Das ist wichtig!) (Zuruf von der CDU/CSU: In unseren Bundes- (C) ländern passiert dieses! In Nordrhein-Westfa- Es ist davon die Rede, dass in Bayern innerhalb der len zum Beispiel nicht!) nächsten zehn Jahre 9 000 Plätze in der Kinderbetreuung eingespart werden sollen, weil es sich nicht mehr be- Sie tun damit eher etwas für die Eltern in diesem Land, triebswirtschaftlich rechnet. als wenn Sie auf irgendwelche fiktiven Konzepte ver- weisen, die ich Ihnen nicht abnehmen kann. (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Nein! 1 000 Plätze mehr!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Das ist doch die Realität: Die Eltern in Bayern gehen auf die Straße! Präsident Wolfgang Thierse: (Zuruf von der CDU/CSU: Wo denn?) Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Haupt, FDP- Fraktion. Sie wollen in Bayern die Lehrmittelfreiheit abschaf- fen. Sie wollen die Eltern zur Kasse bitten. Sie sagen, die (Zuruf von der CDU/CSU: Klaus, sage Ihnen Eltern sollen es selber finanzieren, wenn sie Geld haben. die Wahrheit! – Gegenruf der Abg. Nicolette All das läuft gerade in Bayern ab. Auch das sollten Sie Kressl [SPD]: In Wahrheit würde er gern zu- zur Kenntnis nehmen. stimmen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Klaus Haupt (FDP): Es gibt zufriedene Menschen in Bayern!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich erhöhe die Männerquote. Gehen Sie einmal nach München, gehen Sie einmal nach Nürnberg! Dann werden Sie sehen: Die Eltern in Bayern (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der gehen auf die Straße für die Rechte ihrer Kinder. CDU/CSU) Bezüglich des Ausbaus der Kindertagesbetreuung Bildung von Anfang an muss das Motto sein, wenn wir möchte ich festhalten: Die Länder hatten die Kompetenz die Zukunftsfähigkeit der hier in Deutschland aufwach- dazu; sie hätten schon längst etwas tun können. Es ist senden Kinder sichern wollen. Die wichtigste Botschaft aber nichts passiert. Weil nichts passiert ist, bringen wir der Expertenanhörung lautete für mich: Wir sind es un- jetzt dieses Gesetz ein. Weil die Quote im Westen nur bei seren Kindern schuldig, endlich die frühkindliche För- 2,7 Prozent liegt – das ist verdammt wenig, meine derung in unserem Land zu verbessern. (B) Damen und Herren –, bringen wir das Gesetz ein. Wir (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der (D) wollen für Verbindlichkeit sorgen, indem es eine gesetz- SPD) lichen Verpflichtung, öffentliche Debatten und regel- mäßige Berichterstattung darüber gibt. Für uns ist es Faire Chancen für jedes Kind – darum geht es in erster wichtig, dass dabei am Ende Kinderbetreuungsplätze he- Linie. rauskommen. Das ist unsere Botschaft. Das Thema ist vor allem und zuallererst aus der Sicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN des Kindes zu sehen. Es geht um einen umfassenden und bei der SPD) Prozess der Entwicklung und Entfaltung der dem Kind eigenen Fähigkeiten. Die Weichen für den Bildungs- und Wenn der Bund keine Kompetenzen in diesem Be- Berufsweg werden früh gestellt, das Fundament für reich hätte, gäbe es kein Recht auf einen Kindergarten- Lernmotivation und -fähigkeit wird in den ersten Le- platz. Mit dem TAG haben wir unseren Willen demons- bensjahren gelegt. Kindliches Lernen beginnt nicht mit triert, dass mehr Krippenplätze eingerichtet werden vier Jahren und auch nicht mit drei, sondern sofort ab der sollen. Sie sollten hier keine Krokodilstränen über das Geburt. Verfahren oder Ähnliches vergießen; das ist gar nicht notwendig. In Wahrheit wissen Sie doch, wie notwendig (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten das TAG ist. Es stellt einen wichtigen Bestandteil der der SPD) Familienpolitik dar. Sie selbst sprechen sich ja für mehr Eines der dramatischsten Ergebnisse der internationa- Kinderbetreuungsplätze aus. Sobald es aber darum geht, len Vergleichsstudien der jüngsten Vergangenheit ist für das Ganze anzupacken, ducken Sie sich weg; dabei wol- mich die Tatsache, dass in Deutschland wie in keinem len Sie nicht mitmachen und schieben irgendwelche Ar- anderen Land Europas die soziale Herkunft über die gumente vor. Lebens- und Zukunftschancen eines Kindes entscheidet. Wir vernachlässigen frühkindliche Bildung, zementieren (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Sie sind seit so soziale Ungleichheiten und verengen damit die Zu- sechs Jahren an der Regierung, Frau Deligöz! kunftsperspektiven unserer Kinder. Seit sechs Jahren haben Sie Verantwortung!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich halte das nicht für ehrlich von Ihnen. Ich kann dazu der SPD) nur sagen: Sie sollten aufhören, darüber zu reden. Sie sollten es zusammen mit uns anpacken. Darauf kommt Kinder, die schon durch die Hypothek schlechterer es nämlich an. Sie sollten etwas tun, um die Chancen Startchancen belastet sind, dürfen nicht durch die von Kindern in diesem Land zu verbessern. Schwerpunktsetzung staatlicher Bildungspolitik noch Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12297

Klaus Haupt (A) mehr belastet werden. Hier geht es um die Grundkompe- Ich sage ganz deutlich: Angesichts der gesellschaftlichen (C) tenz gesellschaftlicher Teilhabe. Alle Kinder müssen die Bedeutung der Thematik bedaure ich dieses Vorgehen Chance haben, sich zu einer eigenständigen, selbstver- zutiefst. antwortlichen und autonomen Persönlichkeit zu entwi- ckeln. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Denn es bleibt dabei: Faire Chancen für jedes Kind, ins- (Beifall bei der FDP) besondere durch Bildung von Anfang an, sind entschei- Dazu bedarf es neben dem liebevoll fördernden Eltern- dend für die Lösung der Zukunftsfragen unserer Gesell- haus gerade angesichts der zunehmenden Zahl von Ein- schaft. Kind-Familien auch der Sozialerfahrung im Kreis ande- Danke. rer Kinder in Tagespflegegruppen, Krippen oder Kinder- gärten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) In diesem Zusammenhang gilt der Satz, den auch Pro- fessor Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut in Präsident Wolfgang Thierse: der Anhörung zitierte und den ich zum goldenen Satz der Anhörung erkläre: Vom Osten lernen heißt siegen ler- Ich erteile das Wort Kollegin Marlene Rupprecht, nen. SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Bei der Tagesbetreuung für unter Dreijährige müssen wir Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! im ganzen Land die quantitativen Ausstattungsstandards Heute Morgen haben alle zumindest verbal bestätigt: erreichen, die wir im Osten früher einmal hatten und Kinderbetreuung ist notwendig. Ich finde, das ist schon zum Teil auch noch haben. In Europa einmalig ist die ein Fortschritt. Betreuungssituation in Sachsen-Anhalt, wo ein entspre- chender Rechtsanspruch für Kinder von null bis (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Daran hat es 14 Jahren besteht. nie Zweifel gegeben!) Im letzten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts konnte (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten man da noch ganz andere Töne hören. der CDU/CSU – Marlene Rupprecht [Tuchen- (B) bach] [SPD]: Unter einer SPD-Regierung ein- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Da sind Kinder (D) geführt!) doch auch betreut worden!) Dieser ist vor 14 Jahren auf Initiative der FDP entstan- Deshalb ist das ein Fortschritt. den. Ich denke, einige von Ihnen haben § 1 des SGB VIII (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Warum gelesen: haben Sie das in der bundespolitischen Regie- Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung rungszeit nicht wiederholt?) seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer ei- Das heißt, das TAG könnte ein Startschuss für die westli- genverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen chen Bundesländer sein, ohne den östlichen Ländern zu Persönlichkeit. schaden. Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürli- che Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen ob- (Nicolette Kressl [SPD]: Also stimmt die FDP liegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die zu!) staatliche Gemeinschaft. Den mit dem TAG angestrebten quantitativen Ausbau So weit haben Sie gelesen; das waren die Aussagen und die qualitative Verbesserung der Kindertagesbetreu- heute Morgen. Weiter haben Sie allerdings nicht gelesen. ung unterstützen wir; das hat meine Kollegin Lenke sehr Durchhalten beim Lesen scheint nicht mehr modern zu ausführlich und charmant dargestellt. Dass die FDP den- sein; das zeigen auch die PISA-Ergebnisse. In § 80 noch nicht zustimmt, liegt allein an der aus unserer Sicht SGB VIII, der sich mit der Jugendhilfeplanung befasst, ungelöst scheinenden Finanzierung. heißt es nämlich: Liebe Kolleginnen und Kollegen, an dieser Stelle Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe haben im hätte ich gern auch etwas Freundliches zu den übrigen Rahmen ihrer Planungsverantwortung … den Be- vorgesehenen Änderungen des KJHG gesagt. Leider ha- stand an Einrichtungen und Diensten festzustellen, ben Sie, Frau Ministerin, das ursprüngliche Gesetzespa- … den Bedarf unter Berücksichtigung der Wün- ket jetzt über Nacht aufgeschnürt. Das erweckt den Ein- sche, Bedürfnisse und Interessen der jungen Men- druck, als hätten diese Gesetzesteile nur als taktische schen und der Personensorgeberechtigten für einen Manövriermasse gedient. mittelfristigen Zeitraum zu ermitteln … (Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!) Und so fort. 12298 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (A) Dafür hat es anscheinend nicht mehr gereicht; denn Andreas Scheuer (CDU/CSU): (C) sonst müssten wir heute nicht über Kinderbetreuung re- Verehrte Kollegin, herzlichen Dank, dass Sie mir den, sondern würden uns auf diesen Paragraphen über diese Möglichkeit geben. Sie reden gerade über die Kin- die Kinder- und Jugendhilfe im SGB VIII beziehen – das der- und Jugendhilfe, einen Bereich, den Sie selber ein sehr modernes Gesetz ist. durch Tricksen, Tarnen und Täuschen von dem TAG ab- gespalten haben. (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Wer hat das Ge- setz gemacht? Wir haben es gemacht!) (Zurufe von der SPD: Oh!) Aus meiner Sicht haben Sie somit in Ihrer Rede das – Das ist unter Ihrer Regierung entstanden. Meine Hoch- Thema völlig verfehlt. Würden Sie mir also zustimmen, achtung; da ist Ihnen ausnahmsweise einmal etwas wirk- dass Sie in den letzten Minuten über ein Thema reden, lich gut gelungen. Da stimme ich Ihnen voll und ganz das gar nicht Gegenstand dieser Debatte ist? zu. Ich bin inzwischen so weit, dass ich das Gesetz adop- tiert habe und es als meines ansehe. Deswegen kämpfe (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt ich auch dafür. Aber dieser Paragraph zur Kinderbetreu- [Salzgitter] [SPD]: Er hat nicht zugehört!) ung wird eben nicht umgesetzt. Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Wir wissen, dass Kinderbetreuung für die Familien, Herr Scheuer, ich finde Ihre Frage wunderbar. Ich die Wirtschaft und den Standort Deutschland von Bedeu- wollte nämlich gerade auf den Punkt zu sprechen kom- tung ist; das ist bereits gesagt worden. Wichtig ist die men, dass Sie mit Zahlen, die Sie nicht nachweisen kön- Kinderbetreuung aber vor allem für die Kinder. Als Kin- nen, argumentieren. Sie müssen private Unternehmen, derbeauftragte meiner Fraktion muss ich das ganz deut- die Statistiken erstellen, fragen, wie es mit der Intensiv- lich herausstellen. Kinder brauchen Kinder. Denn unsere pädagogik in Bayern aussieht; denn bis jetzt liegen keine Familienstrukturen und auch die gesellschaftlichen entsprechenden Zahlen vor. Sowohl das betreffende Mi- Strukturen haben sich verändert. Kinder müssen unter nisterium als auch das Landesjugendamt haben sich von Kindern aufwachsen, um sprechen zu lernen und soziale irgendwoher irgendwelche Zahlen beschaffen müssen, Kompetenz zu bekommen. weil sie nicht genau wissen, was Fakt ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Haben Sie Ihre DIE GRÜNEN) Rede schon vor der Aufteilung geschrieben?) Sie sollten einerseits nicht so wie Erwachsene reden; sie Weil wir diese Krux sehen – das Gesetz, das Sie da- mals gemacht haben, ist in diesem Punkt nachbesse- (B) kommen nämlich nicht mit dem Abitur zur Welt. Wenn (D) sie andererseits nur vor die Glotze gesetzt werden, kön- rungsbedürftig und muss präzisiert werden –, müssen nen sie das Sprechen nicht lernen. Kinder müssen also wir die Fälle statistisch genau erfassen. Dann können wir mit anderen Kindern aufwachsen, damit sie emotional zielgenau handeln. In Bayern darf keine polemische reifen und damit sie, wie es in § 1 SGB VIII heißt, ge- Politik auf Kosten derer betrieben werden, die entspre- meinschaftsfähige Persönlichkeiten werden. chende Leistungen brauchen. Aus dem Grund – aus kei- nem anderen – haben wir das Thema Kinder- und Ju- Studien aus den USA, von denen wir in letzter Zeit gendhilfe abgespalten. Kenntnis bekommen haben, haben bestätigt, dass sich (Beifall bei der SPD) die Folgen der Betreuung noch nach drei Jahrzehnten nachweisen lassen. Kinder, die eine qualitativ gute Be- Alle Untersuchungen zeigen: Starke Eltern werden treuung erfahren hatten, hatten bessere Schulchancen, starke Kinder haben und starke Kinder werden starke Er- haben weniger in der Schule versagt, sind im Jugendalter wachsene werden. Das trägt sehr zur Stabilität der Kom- weniger strafanfällig geworden, hatten eine bessere Be- munen und der gesamten Gesellschaft bei. Es ist die rufsausbildung und eine größere Kontinuität in der Er- beste Investition, die man machen kann. Dazu müssen werbstätigkeit, waren seltener Bezieher von Transfer- wir nach intelligenten Lösungen suchen. Es muss ein leistungen und – wenn wir schon über Geld reden – Umdenken stattfinden. Die Kommunen müssen vom an- stellten damit einen geringeren Kostenfaktor für die gebotsorientierten Handeln weg und hin zum nachfrage- Kommunen dar. orientierten Handeln kommen. Wir müssen überlegen, was Kinder und Eltern brauchen. Man darf aber nicht einfach irgendein Angebot unterbreiten, egal ob es passt Präsident Wolfgang Thierse: oder nicht. Das ist eine Herausforderung an die kommu- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des nale Ebene. Ich denke aber, dass es sehr viele intelli- Kollegen Scheuer von der CDU/CSU-Fraktion? gente Kommunalpolitiker gibt, die diese Herausforde- rung meistern können. (Nicolette Kressl [SPD]: Die vorherigen Zwi- schenfragen von Ihrer Seite waren nicht so er- Weil wir die finanziellen Belastungen der Kommunen folgreich! Ich würde es unterlassen! sehen, haben wir eine Aufteilung des Gesetzes vorge- nommen. Genau das war der Grund. Sie könnten endlich einmal aufhören, das Schauermärchen im Lande zu er- Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): zählen, die Kinder und Jugendlichen würden dank der Ja natürlich. Kinder- und Jugendhilfe nur auf Kosten anderer leben Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12299

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (A) und die Betreuung sei ein Luxus. Kehren Sie zu einer 2. Entlastung. (C) sachlichen Diskussion zurück! Die Einschränkung der Förderpflicht auf bedarfs- notwendige Kindergärten führt zu Entlastungen bei (Beifall bei der SPD) den Gemeinden. Darüber werden wir uns, nachdem dieses Kinderbetreu- – Aha. ungsgesetz verabschiedet worden ist, noch heftig ausei- nander setzen. Der Ausbau integrativer Kindergartenplätze führt zu einer Reduzierung der Nachfrage nach teuren (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Das ist prak- Plätzen in heilpädagogischen Tagesstätten und dem tisch schon die übernächste Debatte!) Wegfall der Fahrtkostenerstattung. Was machen Sie denn, Herr Scheuer? Im Bundesrat wurde ein Gesetzentwurf eingebracht, das „KEG“ – das Zuerst habe ich mir gedacht: Mensch, „integrativ“ ist be- ist wirklich keck –, stimmt etwas Tolles. Aber dann habe ich festgestellt: So intelligent sind sie auch wieder nicht; sie haben es nur (Volker Kauder [CDU/CSU]: Hier aber „keck“ besser verklausuliert, dass sie eigentlich den Kommunen mit „ck“!) ans Leder wollen und denjenigen, die Hilfe bräuchten, nichts geben. „Kommunales Entlastungsgesetz“, heißt. Was steht da- rin? Dass Sie nur noch dann Leistungen gewähren wol- Dass es Sie jetzt ärgert, dass wir etwas machen, was len, wenn das die jeweilige Kommune bezahlen kann. Sie nicht zusammengebracht haben, verstehe ich. Im Umkehrschluss heißt das: Wenn in einer Kommune, in der es viele soziale Probleme gibt, kein Geld vorhan- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker den ist, bekommen die Betroffenen nichts und werden Kauder [CDU/CSU]: Oje!) dahinvegetieren. Genauso läuft es bei Ihnen. Dieser Ge- Sie können dem ja fachlich nichts dagegenhalten, son- setzentwurf ist übrigens von der Bayerischen Staatsre- dern sprechen nur von den Finanzen. Wenn ich kein Ar- gierung und nicht vom bayerischen Volk in den Bundes- gument mehr habe, dann führe ich das Totschlagargu- rat eingebracht worden. ment der Finanzen an. (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Aber ge- (Ina Lenke [FDP]: Das ist doch Quatsch!) wählt ist sie schon, oder?) Der Herr Präsident hat vorhin unseren Gesetzentwurf Dazu sage ich Ihnen: Die Leute sind nicht so blöd, dass sie Ihren Gesetzentwurf in Bayern nicht durch- vom Titel her als umfangreich bezeichnet. Es gibt in (B) schauen und sehen, was dahintersteckt: Diejenigen, die (D) Bayern seit September einen Entwurf, der folgenderma- ßen lautet: „Bayerisches Gesetz zur Bildung, Erziehung Hilfe bräuchten, werden nicht entlastet und diejenigen, die dies bezahlen müssen, werden belastet. Aber uns und Betreuung von Kindern in Kindertageseinrichtungen werfen Sie vor, wir würden die Kommunen belasten, ob- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Nicht vorlesen!) wohl wir 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Das ist heuchlerisch. und in Tagespflege und zur Änderung anderer Gesetze – Bayerisches Gesetz für Kindertageseinrichtungen und (Beifall des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgit- Tagespflege und Änderungsgesetz (BayKiTaG)“. Ich ter] [SPD] – Abg. Maria Eichhorn [CDU/ kürze diesen Gesetzentwurf im Folgenden wie vorgese- CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage) hen ab. Was haben Sie denn im BayKiTaG vor? Im BayKiTaG haben Sie das vor, was wir mit dem TAG, Präsident Wolfgang Thierse: dem Tagesbetreuungsausbaugesetz, umsetzen wollen. Ich finde es schön, dass Sie in diesem Punkt lernfähig Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? sind. Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Als ich dann aber zu Punkt D „Kosten und Nutzen“ kam, fand ich folgenden Satz: „Die Umstellung des För- Ich bin gleich am Schluss meiner Rede, danach gern. dersystems erfolgt kostenneutral.“ Die Menschen glauben Ihnen nicht, wenn Sie sagen: (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aha!) Kinder sind unsere Zukunft. Im Abschlussdokument des Weltkindergipfels haben die Kinder gesagt: Ihr sagt im- Da habe ich mir gedacht: Menschenskind, die Bayern mer, wir sind eure Zukunft. Aber wir sind auch eure Ge- sind intelligent. Wie machen die das? Die wollen das genwart. Schreibt euch das ins Stammbuch! umsetzen, ohne einen Cent auszugeben, während wir 1,5 Milliarden Euro dazugeben und es Ihnen hier immer Ich denke, das ist heute das Wichtigste. noch nicht reicht. Ich verstehe das nicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – DIE GRÜNEN) Volker Kauder [CDU/CSU]: Dann macht nicht so viele Schulden!) Dann habe ich weitergelesen – denn Lesen habe ich gelernt –: – Die haben wir von euch übernommen. 12300 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Akademikerinnen und 59 Prozent der Akademiker zwi- (C) Frau Kollegin, wollen Sie zum Schluss Ihre Redezeit schen 30 und 35 Jahren haben keine eigenen Kinder. Bei verlängern, indem Sie in diesem Fall eine Nachfrage zu- einem Vergleich der Geburtenraten durch die Weltbank lassen? belegt Deutschland den 185. Platz unter 190 Staaten, ob- wohl die 14. Shell-Jugendstudie aus dem Jahr 2002 auf- Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): zeigt, dass es für eine Mehrheit der Jugendlichen erstre- Gern. benswert sei, sowohl erwerbstätig zu sein als auch eigene Kinder zu haben. Maria Eichhorn (CDU/CSU): Eine in der vergangenen Woche veröffentlichte Um- Frau Kollegin, ich muss etwas richtig stellen; denn of- frage des Allensbach-Institutes belegt, dass bei der Le- fensichtlich haben Sie diesen Gesetzentwurf aus Bayern bensplanung der jungen Menschen in Deutschland nicht richtig gelesen. heute ein Dreistufenmodell vorherrschend ist. Die erste Phase beinhaltet die Lebens- und Berufsplanung sowie (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie die Ausbildung, die zweite Phase den Einstieg ins Be- müssen eine Frage stellen!) rufsleben; erst die dritte Phase ist die Familienphase. Tatsache ist, dass Bayern gerade im Rahmen des von Ih- 85 Prozent der Befragten geben an, man solle zunächst nen zitierten Gesetzes 313 Millionen Euro zusätzlich die Ausbildung abschließen, danach einige Jahre Berufs- aufwenden will. Die dargestellte Kostenneutralität be- erfahrung sammeln und sodann Kinder bekommen. Die zieht sich lediglich auf die Berechnung des für die neue Familienphase kommt hierbei oft deutlich zu kurz. Das kindbezogene Förderung maßgebenden Basiswerts. Da- Zeitfenster für eigene Kinder wird immer kleiner und die bei geht es also um die Betriebskosten. Nur dies ist kos- biologische Uhr ist insbesondere bei uns Frauen oftmals tenneutral und nicht die Auswirkungen des Gesetzes als schon weit fortgeschritten. solche. Bayern gibt 313 Millionen Euro zusätzlich aus. Die Studie ergab aber zugleich, dass die Frage der Bitte nehmen Sie das zur Kenntnis! Kinderbetreuung trotz ihrer Wichtigkeit nicht allent- (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das ist scheidend ist. schon etwas anderes!) (Zuruf der Abg. Nicolette Kressl [SPD])

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): – Frau Kollegin, ich danke Ihnen für diese Zwischen- Frau Eichhorn, diese Mehrkosten sind für die Bildung frage. Wir leiden in diesem Hohen Hause nicht an einem und Fortbildung derer vorgesehen, die unterrichten und Überangebot von Frauen und vor allem nicht an einem Überangebot von Frauen mit Kindern, die noch in der (B) für Bildung, Erziehung und Betreuung sorgen, nicht aber (D) für Betreuungsplätze und für Kommunen. Deswegen Schule sind bzw. die ganz klein sind. kann man diese Summe in diesem Zusammenhang ver- (Renate Gradistanac [SPD]: Es gab gar keine nachlässigen. Wenn Sie den Kommunen nichts geben, Zwischenfrage!) dann ist Ihre „intelligente Lösung“ für uns nicht geeig- net. Wir spielen gern mit offenen Karten, nicht mit ge- Deshalb hat mich meine Fraktion gebeten, in dieser De- zinkten Karten. batte Stellung zu nehmen. Ich bitte Sie, den parlamenta- rischen Anstand aufzubringen, anzuhören, was ich Ihnen Ich danke Ihnen. aus Sicht einer Frau sage, die weiß, was sie dazu zu sa- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen hat. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Wolfgang Thierse: Die von mir eben genannte Studie zeigte im Einzel- Ich erteile das Wort Kollegin Maria Flachsbarth, nen, dass nur für 14 Prozent der kinderlosen Frauen die CDU/CSU-Fraktion. unzureichenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten der (Beifall bei der CDU/CSU) Grund sind, auf eigene Kinder zu verzichten. Zudem ga- ben 61 Prozent der Eltern an, dass sie das derzeitige An- gebot an Kinderbetreuungsmöglichkeiten für ausrei- Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): chend hielten. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist eines der Was sind nun laut Allensbach-Studie die Gründe für brennendsten Probleme unserer Zeit. Dies gilt zum einen eine Kinderlosigkeit? Die Mehrheit gab an, dass man vor dem Hintergrund, dass Gleichberechtigung nicht nur sich für Kinder zu jung fühle, dass Kinder mit den beruf- auf dem Papier stehen darf, zumal wir gerade den zehn- lichen Plänen unvereinbar seien und dass Kinder einfach ten Jahrestag der Festschreibung der Gleichberechtigung zu teuer seien. Erlauben Sie mir dazu eine persönliche als Staatsziel im Grundgesetz begehen. Nach wie vor ist Bemerkung: die tatsächliche Beteiligung von Frauen, zudem von (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ihre Frauen mit Kindern, bei der Besetzung von Führungspo- ganze Rede ist doch sehr persönlich!) sitionen in Politik, Wirtschaft und Forschung noch völlig unzureichend. Zum anderen gibt die demographische Wir brauchen neben vielen sinnvollen Lenkungsver- Entwicklung Anlass zu ernster Sorge: 52 Prozent der suchen durch die Politik auch in unserer Gesellschaft Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12301

Dr. Maria Flachsbarth (A) wieder eine neue Einstellung zum Kind. Kinder sind hungswissenschaften, der Hirnforschung und der Lern- (C) nicht nur künftige Beitragszahler in die sozialen Siche- psychologie belegen die große Bedeutung früher Lern- rungssysteme. Ich kenne keinen Vater und keine Mutter, und Bildungsprozesse. Deshalb haben wir in unserem die sich aus diesem Grunde zu ihrem Kind entschlossen Antrag, der Ihnen vorliegt, dazu aufgefordert, eine Ge- hätten. Kinder und Jugendliche sind – weit über die samtstrategie vorzulegen, die die Bereiche Bildung und materiellen Aspekte hinaus – unsere Zukunft. Erziehung stärker verzahnt, Kinder früher und intensiver fördert und fordert. (Beifall bei der CDU/CSU) Die B-Länder kommen dieser Aufforderung nach. Kinder geben dem eigenen Leben eine neue Perspektive, Unter dem Motto „Auf den Anfang kommt es an“ erar- Kinder öffnen die Augen für Fragen, die eigentlich beitet zum Beispiel Niedersachsen derzeit einen Orien- schon längst beantwortet waren, und Kinder stecken mit tierungsplan für Bildung und Erziehung im Elementar- ihrem Wissensdurst und ihrer Lust auf Zukunft an. Ge- bereich für spielerisches Lernen und lernendes Spielen. nau dies brauchen wir in unserer Gesellschaft. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Förderung (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt der Sprachkompetenz. Niedersachsen hat die Vorreiter- [Salzgitter] [SPD]: Vielleicht stimmen Sie rolle bei der Sprachförderung ausländischer Kinder dann unserem Gesetz zu!) übernommen. Die Diskussion über den Geburtenrückgang darf da- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Darum her, wie die Studie zeigt, nicht nur auf das Thema Kin- sind dort die Integrationsmittel so gestrichen derbetreuung verengt werden. Vielmehr geht es auch um worden, oder was?) eine wirtschaftliche Besserstellung von Familien im Das Land fördert mit fast 8 Millionen Euro die Sprach- Rahmen des Familienlastenausgleichs. Daher sieht die förderung in Kindertagesstätten mit hohem Migranten- von uns vorgeschlagene Steuerreform die Einführung ei- anteil. nes Grundfreibetrags von 8 000 Euro pro Person – also auch für jedes Kind – vor. Besonders geeignet für die Betreuung von Kleinkin- dern ist nach unserer Auffassung die Tagespflege. Sie ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: kommt der familiären Betreuung am nächsten. Es gibt Wie wollen Sie das bezahlen?) konstante Betreuungspersonen und individuelle Gestal- Es geht ferner um die Erleichterung des Wiederein- tungsmöglichkeiten für die Eltern. Wir haben unsere stiegs von Männern und Frauen in den Beruf durch bes- konkreten Vorstellungen dazu ebenfalls in einem eige- sere Teilzeitangebote, flexible Arbeitszeiten oder be- nen Antrag vorgelegt. Bayern hat als unionsgeführtes triebsspezifische Weiterbildungsangebote. Dazu haben Bundesland ein Modellprojekt mit Tagespflegestütz- (B) (D) wir einen Antrag vorgelegt. punkten aufgelegt. Kernstück unserer Familienpolitik ist die Wahlfreiheit Meine Damen und Herren von der Regierungskoali- der Eltern. Wir müssen aufhören, den Eltern vorschrei- tion, wir sind inhaltlich eigentlich gar nicht so weit aus- ben zu wollen, wie sie ihr Familienleben zu gestalten ha- einander, sondern eher nahe beisammen, aber wir kön- ben. nen Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen, weil wir auf gar keinen Fall die völlig unseriöse Finanzierung ak- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Will zeptieren können. Das ist bereits mehrfach gesagt wor- doch gar keiner!) den. Sie versprechen eine Entlastung in Höhe von Weder die Vollzeitarbeit von Berufstätigen noch die sich 2,5 Milliarden Euro, davon sollen 1,5 Milliarden Euro in ganz ihrer Familie widmenden Mütter und Väter sollten den Ausbau der Kinderbetreuung fließen. Nach überein- zum Idealbild erhoben werden. Wir sollten aufhören, die stimmenden Schätzungen der kommunalen Spitzenver- Lebensentscheidung von Eltern mit Ausdrücken wie bände und der Konferenz der Landesjugendminister ist „Rabenmutter“ oder „Nur-Hausfrau“ oder „Hausmann“ die Summe von 1,5 Milliarden Euro völlig unzurei- zu diskreditieren. chend. Das hat auch die Anhörung im Ausschuss ge- zeigt. Aufgabe des Staates ist es, den Eltern möglichst viele Handlungsoptionen für ihre Lebensgestaltung und für (Nicolette Kressl [SPD]: Nein! – Christel Humme die Erziehung ihrer Kinder zu eröffnen. Dabei steht es [SPD]: Nein! Sie waren nicht da!) für uns außer Zweifel, dass Eltern die Erst- und Haupt- – Ich kann aber lesen. – Die Revisionsklausel, die Sie verantwortung für die Erziehung, Betreuung und Bil- mehrfach genannt haben, gilt ausdrücklich nicht für den dung ihrer Kinder haben. Bereich Kinderbetreuung. Selbst das SPD-regierte (Beifall bei der CDU/CSU) Schleswig-Holstein hat gemeinsam mit NRW in seinem Antrag im Bundesrat die fehlende verlässliche Finanzie- Wir wollen keine „Lufthoheit des Staates über den Kin- rung kritisiert und betont, dass Länder und Kommunen derbetten“, sondern wir sehen den Staat in der Pflicht, angesichts der angespannten Haushaltslage keine weite- Eltern zu beraten und bedarfsgerechte und bezahlbare ren Mehrbelastungen verkraften könnten. Angebote in der Kinderbetreuung zu bieten. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Kinderbetreuung darf nicht eine bloße Verwah- rung von Kindern sein. Zahlreiche Studien wie TIMSS, Was wir unseren Kindern nun wirklich nicht weiter PISA und IGLU sowie neue Erkenntnisse der Erzie- antun dürfen, sind noch größere Schuldenberge für die 12302 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Dr. Maria Flachsbarth (A) Steuerzahler von morgen. Ein solches Vorgehen ist über- nah – veröffentlicht. Dort wird belegt, dass Investitionen (C) haupt nicht nachhaltig, es ist in keinem Fall generatio- in den Ausbau der Kinderbetreuung Gewinn für die nengerecht. Kommunen bringen. Jeder Cent, den die Kommune in- vestiert, wird drei- bis viermal zurückkommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD – Dr. Maria Flachsbarth Wenn Sie schon unseren Warnungen keinen Glauben [CDU/CSU]: Das ist ja prima!) schenken, dann setzen Sie sich doch mit den Bedenken der SPD-geführten Bundesländer auseinander, damit Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen von der Opposi- Kinderbetreuung nicht ausschließlich eine Sache für tion, an anderer Stelle engagieren Sie sich zum Beispiel Reiche wird. So ist es beispielsweise in Berlin, wo ein stark für einen flexiblen Ladenschluss. Ihre Devise lau- Kita-Platz schon bis zu 460 Euro kostet und die Gefahr tet: Einkaufen am besten rund um die Uhr. besteht, dass Eltern aus Kostengründen ihre Kinder aus (Beifall bei Abgeordneten der FDP) der Betreuung abmelden. Aber was sagen Sie den Frauen und Männern, die wäh- (Beifall bei der CDU/CSU) rend ihrer Arbeitszeit verlässliche Kinderbetreuung Damit allerdings stünde die Regierung vor einem wirkli- brauchen? chen Fiasko. Ein solches Verfahren auf dem Rücken der (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Wir for- Familien auszutragen ist schlechterdings ein Skandal. dern das!) Insgesamt stellt der vorliegende Gesetzentwurf keine Ist etwa die von der baden-württembergischen CDU-ge- seriöse Basis für eine Verbesserung der Kinderbetreuung führten Landesregierung in Auftrag gegebene Umfrage in Deutschland dar. Die Chance hierfür wurde vertan. Ihre Antwort darauf? Frau Eichhorn und auch Frau Wir können dem Gesetzentwurf daher nicht zustimmen Flachsbarth, Sie haben diese Studie zitiert. Dort wird und werden uns aufgrund der Vielzahl gemeinsamer suggeriert, Eltern bräuchten persönliche, berufliche und Ziele und respektabler Handlungsansätze – wenn man finanzielle Sicherheit, um sich für ein Kind zu entschei- von der Finanzierung absieht – bei der Abstimmung ent- den. Betreuung spielt dort kaum eine Rolle. Ich sage Ih- halten. nen: Genau umgekehrt wird ein Schuh daraus. Erst wenn Vielen Dank. die Betreuung gesichert ist, bedeutet das berufliche und daraus folgend finanzielle Sicherheit für die Familien. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Maria Eichhorn [CDU/ Präsident Wolfgang Thierse: (B) CSU]: Wir brauchen finanzielle Sicherheit und (D) Ich erteile das Wort der Kollegin Christel Humme, Betreuung! – Dr. Maria Flachsbarth [CDU/ SPD-Fraktion. CSU]: Und berufliche Weiterbildung und Teil- zeit!) Christel Humme (SPD): Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Kolle- Ich glaube, dass Sie eine solche Umfrage benutzen, um ginnen! Wer die heutige Debatte verfolgt hat, muss ei- Ihr eigentliches Ziel, nämlich die Betreuungsangebote gentlich ratlos sein und feststellen, dass Sie, meine Da- nicht auszubauen, zu verstecken. men und Herren von der Opposition, auf keinen Fall in (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das ist der Lage sind, die Zukunftsaufgaben unseres Landes zu doch nicht wahr!) lösen. Was eindeutig fehlt – das haben wir heute von allen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Seiten gehört –, sind familienfreundliche Strukturen DIE GRÜNEN) vor Ort. Da könnten wir in der Tat, Herr Götz, schon viel Sie sind offensichtlich nicht regierungsfähig; denn klar weiter sein; denn das KJHG schreibt seit 1991 vor, dass Farbe zu bekennen ist nicht Ihre Stärke. Bei Hartz IV ha- Kommunen zum bedarfsgerechten Ausbau verpflichtet ben Sie sich in die Büsche geschlagen und jetzt, beim sind. In Westdeutschland hat sich da – das wissen wir Ausbau der Tagesbetreuung, schlagen Sie sich ebenfalls und das haben wir heute Morgen gehört – leider viel zu in die Büsche. Bei der Gesundheitsreform schlagen Sie wenig getan. Im Interesse der Kinder und jungen Fami- sich die Köpfe ein. Ich denke, das ist keine zukunftswei- lien müssen wir und werden wir daher handeln. Das ist sende Politik. der eigentliche Grund, warum wir das TAG geteilt ha- ben. Der Beratungsbedarf, den wir bei der Jugendhilfe (Beifall bei der SPD) haben, darf nicht zu einer Verzögerung des Ausbaus des Betreuungsangebotes führen. Ich habe kein Verständnis Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, wir handeln und dafür, meine Kollegen und Kolleginnen von der Opposi- geben die richtigen Antworten für mehr Bildung und Be- tion, wenn Sie das als ein unseriöses parlamentarisches treuung von Anfang an – das haben wir heute gehört –, Verfahren bezeichnen. Wir haben das Bundesverfas- für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und für den sungsgericht voll auf unserer Seite; Wirtschaftsstandort Deutschland. Herr Götz, das alles ist solide finanziert. Ich freue mich auf das Ende des Mo- (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Es war nats. Dann nämlich wird eine Studie des Deutschen In- eine Nacht-und-Nebel-Aktion, hat das Bun- stituts für Wirtschaftsforschung – sicherlich nicht SPD- desverfassungsgericht gesagt!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12303

Christel Humme (A) denn im Falle des Lebenspartnerschaftsgesetzes hat das und Kindergartenplätzen gab und gibt. Das soll auch so (C) Bundesverfassungsgericht die Trennung ausdrücklich bleiben. Meine Heimatstadt, das rot-rot regierte Berlin, begrüßt und festgestellt – hören Sie an dieser Stelle ge- kann in diesem Jahr fast jedem zweiten Kind unter drei nau zu –: Der Bundesgesetzgeber soll Gesetze trennen, Jahren einen Krippenplatz anbieten. Das ist in Anbe- wenn er Regelungen in eigener Zuständigkeit umsetzen tracht der katastrophalen Finanzlage der Stadt Berlin kann und ansonsten befürchten muss, dass aufgrund ei- eine wirklich bemerkenswerte Leistung. ner Blockade im Bundesrat nichts passiert. Ich denke, wir haben hier die richtige Entscheidung getroffen. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schade ist allerdings, dass die Bundesregierung mit DIE GRÜNEN) ihrem Gesetzentwurf hinter ihrer eigenen Koalitionsver- einbarung zurückbleibt. Sie hatten sich doch eigentlich Sie haben bisher nur Widersprüchliches von sich ge- vorgenommen, Quoten hinsichtlich der Versorgung mit geben. Herr Kauder sagt: ablehnen. Krippenplätzen gesetzlich zu fixieren. Jetzt verzichten (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Nein, Sie darauf, weil Versorgungsquoten angeblich den unter- nicht zustimmen, hat er gesagt!) schiedlichen regionalen Verhältnissen nicht gerecht wer- den. Wir finden es schade, dass Sie sich nicht für Versor- Frau Böhmer sagt: Enthaltung, aber eigentlich doch Zu- gungsquoten entschlossen haben. stimmung. Ebenso hätten wir höhere Erwartungen gehabt, was (Kerstin Griese [SPD]: Die wollen echt gern die Qualität der Bildungsangebote betrifft. So wurde zustimmen, dürfen aber nicht!) zum Beispiel in Berlin ein Bildungsprogramm für Kin- dergärten entwickelt, das durch eine Qualitätsentwick- Glauben Sie denn wirklich, meine Kollegen und Kolle- lungsvereinbarung mit den freien Trägern in allen Berli- ginnen von der Opposition, dass Ihre Politik von den ner Kindergärten verbindlich eingeführt werden soll. jungen Menschen noch verstanden wird? – Mit Sicher- Dieses Programm, das bundesweit Anerkennung findet, heit nicht. Die jungen Männer und Frauen wollen Lösun- legt einen besonderen Schwerpunkt auf die so bitter nö- gen sehen und wissen, dass sie von Ihnen, der CDU/ tige Sprachförderung. CSU, nichts erhalten. Im Gegenteil. Von Ihnen, Frau Eichhorn, hören wir wirre Vorwürfe, von Ihnen, Frau (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Flachsbarth, „Nacht-und-Nebel-Aktion“, von Ihnen, Herr Götz, „unseriöse Trickserei“. Wiederholt unterstel- Meine Damen und Herren, der Bundesrat wollte die- len Sie unseriöse Kostenrechnung. sen Gesetzentwurf ablehnen. Daraufhin haben Sie ihn geteilt und den zustimmungspflichtigen Teil zurückge- (B) (Peter Götz [CDU/CSU]: Das ist leider so!) stellt. Das ist zwar keine besonders elegante, aus unserer (D) Gebetsmühlenartig kritisieren Sie die Finanzierung, ob- Sicht aber eine akzeptable Lösung, um ein vernünftiges wohl Sie es besser wissen müssten. Ziel zu erreichen. Allerdings hatten Sie, Frau Ministerin, dem Bundesrat wirklich eine Steilvorlage für eine Ab- Ich sage Ihnen: Der Ausbau der Betreuungsangebote lehnung geliefert. Denn Sie forderten in Ihrem Gesetz- kann nicht länger warten. Tragen Sie, meine Damen und entwurf, dass die Finanzierung der fehlenden Krippen- Herren von der Opposition, unser Projekt mit und schla- plätze aus den Einsparungen erbracht werden soll, die gen Sie sich an dieser Stelle nicht wieder in die Büsche! sich aus der Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Schönen Dank. Sozialhilfe ergeben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Auf einen solchen Kuhhandel kann man sich, glaube DIE GRÜNEN) ich, nicht einlassen. Wer weiß denn, ob aus der Zusam- menlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe wirk- lich 2,5 Milliarden Euro jährlich in die Kassen der Län- Präsident Wolfgang Thierse: der fließen werden? Ich erinnere mich noch gut an die Ich erteile der Kollegin Gesine Lötzsch das Wort. Einnahmeerwartungen, die mit der Erhöhung der Tabak- steuer verbunden waren: Diese Gelder hatte man bei der Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Gesundheitsreform vereinnahmt; die Erwartungen sind Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- bekanntlich in blauem Dunst aufgegangen. ren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS. Darüber hinaus riecht die Verknüpfung von Krippen- Frau Ministerin Schmidt möchte die Länder und plätzen und Hartz IV nach Wahlkampf. So entstand der Kommunen im Westen der Bundesrepublik dazu bewe- fatale Eindruck, dass es Ihnen nicht nur um die Schaf- gen, mehr Krippenplätze für Kinder unter drei Jahren an- fung von Krippenplätzen, was ein gutes und richtiges zubieten. Das ist gut und richtig. Denn alle, wirklich alle Ziel ist, ging, sondern auch darum, die CDU/CSU als Bundesregierungen haben die Kinderbetreuung in den kinderunfreundlich vorzuführen. Mit diesem Verket- letzten 55 Jahren sträflich vernachlässigt. Ein Frauen- tungskonzept sind Sie schon bei der Eigenheimzulage bild, das von den drei K – Kirche, Küche, Kinder – ge- gescheitert. Hier wollten Sie das eingesparte Geld in die prägt war, trug zu dieser Situation bei. Forschung stecken. Seit 1990 steht die Bundesrepublik etwas besser da, (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Eine da es im Osten eine sehr gute Ausstattung mit Krippen- super Koalition!) 12304 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Dr. Gesine Lötzsch (A) – Bleiben Sie doch ruhig und warten Sie auf das Ende hätten uns in die Büsche geschlagen! Ich muss es ver- (C) meiner Rede, Herr Schmidt. passt haben, als Sie sagten, wann wir wieder herausge- kommen sein sollen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ich bin immer ruhig!) (Christel Humme [SPD]: Sie sind ja immer noch drin!) Wenn wir als PDS Vorschläge machen, zum Beispiel die Friedensdividende für die Bildung zu nutzen, dann – Geht doch nicht: Ich kann doch nur einmal hinein- erklären Sie uns gerne und oft, dass solche Verknüpfun- springen, ohne wieder herauszukommen. Sie versuchen gen haushaltstechnisch nicht möglich seien und dass un- eine Aufteilung in Gut und Böse: Die einen sind für Kin- ser Vorschlag ohnehin populistisch sei. Ich würde vor- derbetreuung, die anderen sind dagegen. Das ist absolut schlagen, meine Damen und Herren von Rot-Grün: falsch. Messen wir mit gleicher Elle. Unterstützen Sie unseren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vorschlag, das Geld, das zum Beispiel für die nicht flug- neten der FDP) tauglichen Eurofighter bereitgestellt wird, lieber in die Bildung unserer Kinder zu stecken. Die Eurofighter sind Die familien- und kinderfreundlichen Entscheidungen bekanntlich nicht einsatztauglich. Sie sind vielleicht ge- bisher sind unter der CDU/CSU/FDP-Regierung einge- rade noch gut genug, um terroristische Schläfer aus dem führt worden. Das können Sie drehen und wenden, wie Schlaf zu schrecken. Dafür sind diese Geräte allerdings Sie wollen; Sie können es abstreiten, aber es ist so. Wir wirklich zu teuer. haben diese Politik nicht kontinuierlich fortgeschrieben, da gebe ich Ihnen Recht. Aber die gute gesetzliche (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Grundlage etwa für den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz geht auf uns zurück, nicht auf Sie. Das Geld wäre, wenn wir es in Bildung investierten, we- sentlich besser angelegt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Meine Damen und Herren, trotz unserer Kritik wer- den wir diesem Gesetzentwurf unsere Zustimmung nicht Frau Ministerin, ich hätte mich gefreut, wenn wir uns verweigern und Ja sagen. Diese Zustimmung verbinde wirklich einmal in der Sache auseinander gesetzt und ge- ich allerdings mit der Hoffnung, dass die Regierungs- schaut hätten, wo wir zusammenkommen, wo wir den fraktionen bald unsere Konversions- bzw. Abrüstungs- Problemen der Frauen und der Familien gerecht werden vorschläge aufgreifen werden. und uns zusammenfinden können; denn das wäre wich- tig gewesen. Die Leute draußen, die Zuschauer und Zu- Vielen Dank. hörer in diesem Raum wollen nicht hören, was Sie uns (B) (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) vorwerfen und was wir Ihnen vorwerfen. Sie wollen wis- (D) sen, welche Vorteile ihnen das bringt, die wollen Lösun- gen sehen. Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Ingrid Fischbach, CDU/ (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr CSU-Fraktion. gut, darum machen wir ja das Gesetz!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Dann gehe ich jetzt im Folgenden einmal auf eine Ihrer angeblichen Lösungen ein. Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Sie sagen: Wir streben – das ist heute mein Haupt- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und thema – einen Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder Kollegen! Wenn man als Letzte in einer so enorm langen an. Frau Humme, ich weiß nicht, wie Sie durchs Leben Liste von Rednern das Wort bekommt, hat man einen laufen, durch Ihren Wahlkreis, aber wie stellen Sie sich Vorteil: Man hat alle Reden gehört. Ich hätte mich ge- denn die Realisierung des Ausbaus und die Weiterent- freut, jetzt sagen zu können: Es ist alles gesagt worden. wicklung der Tagespflege ohne finanzielle Grundlagen vor? (Peter Dreßen [SPD]: Aber nicht von mir!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- – Dumme Zwischenrufe kommen von Ihnen immer, neten der FDP – Christel Humme [SPD]: Hat Herr Kollege Dreßen; das weiß ich, damit kann ich le- keiner gesagt! – Zuruf von der SPD: Das ist ben. Wenn wir in Ihren Redebeiträgen wenigstens hören schwarz-weiß!) würden, welche Antworten Sie geben, wenn es um die notwendigen Bedürfnisse, die Familien heute haben, die Mein Wahlkreis liegt in einer Kommune, in der man Frauen heute haben, geht, dann würde ich es noch ver- schon ziemlich weit ist, aber trotzdem brauchen wir zur stehen. Aber wir haben keine Antworten gehört. Akquirierung, zur Begleitung und zur Ausbildung der Tagesmütter und zur Weiterentwicklung der Tagespflege (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- finanzielle Grundlagen. Die sind nötig. Deswegen ist es neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] unseriös, so zu tun, als würden wir nur auf die Finanzen [SPD]: Dann waren Sie irgendwie nicht ganz schauen. Es ist unseriös, den Leuten etwas zu verspre- präsent!) chen, was gar nicht finanziert ist; das muss man ehrlich sagen können. Sie haben leider – das macht mich betroffen – in allen Ihren Redebeiträgen nur versucht, schwarz-weiß zu ma- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- len. Frau Humme, wie oft haben allein Sie gesagt, wir neten der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12305

Ingrid Fischbach (A) Es besteht doch allseits Konsens darüber, dass die – Frau Streb-Hesse, davon steht doch nichts drin. (C) frühkindliche Förderung wichtig ist; darüber sind wir (Rita Streb-Hesse [SPD]: Doch! Rentenversi- uns einig. Wir wissen auch, dass wir mehr Betreuungs- cherung! Unfallversicherung) angebote brauchen; darüber sind wir uns ebenfalls einig. Denn es nützt nichts, den Eltern ein paar Mark mehr zu – Sie werden doch gar nicht konkret. „Vertiefte Kennt- geben, wenn entsprechende Angebote nicht vorhanden nisse“ – das kann alles und nichts heißen. Werden Sie sind. Genauso nützt es nichts, Frau Ministerin, zu sagen, doch konkret! man wolle jetzt Infrastrukturangebote schaffen, wenn man diese nicht bezahlen kann; das ist genauso unseriös. Ich gehe auf den nächsten Punkt ein, bei dem Sie nicht konkret werden, nämlich auf die Sozialversiche- (Zuruf von der CDU/CSU: Das weiß sie auch rungs- und Steuerpflicht. Sie kennen die unterschiedli- ganz genau!) che Behandlung der Tagesmütter, die davon abhängig ist, ob sie im öffentlichen Auftrag oder privat arbeiten. Deswegen gehört beides zusammen: die Finanzen und die Angebote. Das müssen wir hier ganz deutlich artiku- Wo ist denn hier Ihr Angebot? Wo gehen Sie denn auf lieren. die Bedürfnisse der arbeitenden Tagesmütter vor Ort ein? Dies wird unterschiedlich gehandhabt. Die Tages- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mütter sind nicht alle sozialversicherungspflichtig. neten der FDP) Sie können doch nicht von einem gleichwertigen An- Wenn wir den Schwerpunkt auf Tagesmütter setzen, gebot sprechen und gleichzeitig sagen: Das interessiert darf ich an dieser Stelle auch ganz deutlich sagen: Tages- uns nicht, das sollen die klären, die es tun, das ist nicht mütter sind nicht zum Nulltarif zu haben. Tagesmütter unsere Aufgabe. – Hier muss Tacheles geredet werden. leisten eine ganz wichtige Aufgabe im Rahmen der Be- Das Problem muss gelöst werden. Hier erwarte ich von treuung, Erziehung und Bildung von Kindern. Diese drei Ihnen detaillierte Lösungen für die Probleme, die es vor Dinge gehören zusammen. Es geht nicht um das reine Ort gibt. Verwahren, es geht darum, Kinder zu bilden, sie zu er- ziehen, sie sich zu gemeinschaftsfähigen Persönlichkei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ten entwickeln zu lassen. Frau Ministerin, es reicht nicht, dass Sie sagen, bei Da klaffen in Ihrem Gesetz, Frau Ministerin, An- der Unfallversicherung werde ein bestimmter Betrag er- spruch und Wirklichkeit leider auseinander. stattet. Sie wissen doch, dass man heute mit einem Jah- resbeitrag von 75 Euro dabei ist. Die Übernahme dieser (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Kosten nützt wenig. (B) Solms) (D) Wenn wir wollen, dass Frauen die Tagespflege nicht Sie wollen mit Ihrem Gesetz die Ausbildung von Tages- nur in Anspruch nehmen, um die Familie und ihre Er- müttern fördern. Dafür bedarf es aber natürlich entspre- werbsarbeit besser vereinbaren zu können, sondern dass chender Angebote. Das heißt, das, was Sie zu den Tages- sie dies auch als Berufsangebot ansehen, dann müssen einrichtungen schreiben, § 22 a – „Die Träger der wir natürlich auch dafür sorgen, dass ihre Altersversor- öffentlichen Jugendhilfe sollen die Qualität der Förde- gung gesichert wird. Hier müssen wir wirklich Antwor- rung in ihren Einrichtungen durch geeignete Maßnah- ten auf die Fragen vor Ort finden. men sicherstellen und weiterentwickeln“ –, müsste auch für die Kindertagespflege, § 23, gelten. Hier sagen Sie Sie haben davon gesprochen, dass von den Vorsorge- über die Tagespflegepersonen aber nur – ich zitiere jetzt beiträgen für die Rente, die die Tagesmütter privat zah- Ihren Gesetzentwurf –: len, die Hälfte erstattet wird. Das ist ein richtiger Schritt, er reicht aber nicht aus. In den Ausschusssitzungen hätte Sie sollen über vertiefte Kenntnisse hinsichtlich der ich mir eine intensive Diskussion über diese Sachfragen Anforderungen der Kindertagespflege verfügen, die gewünscht. Stattdessen wurde nur gesagt, dass die einen sie in qualifizierten Lehrgängen erworben oder in was wollen und die anderen nicht. Es ist ganz wichtig: anderer Weise nachgewiesen haben. Wir beide wollen qualifizierte und ergänzende Ange- Was heißt denn „vertiefte Kenntnisse“? Das kann al- bote. les und nichts heißen. Wenn man die Ausbildung wirk- (Christel Humme [SPD]: Dann stimmen Sie lich verbessern will, dann braucht man Standards, dann dem Gesetz doch zu!) muss man über Qualität, Angebote und Geeignetheit re- den. – Frau Humme, ich gehe jetzt auf Ihren Zuruf, dass wir doch zustimmen sollen, ein. Vielleicht unterscheiden wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) beide uns in der Auffassung darüber, wie wir hier Politik Die Tagespflege kann nur dann gleichwertig sein, machen und mit welcher Verantwortung wir politische wenn dort auch Standards ähnlich denen der öffentli- Entscheidungen nach außen hin zu vertreten haben. Ich chen Einrichtungen eingeführt werden. Die Tagespflege unterschreibe keine Gesetzesvorlage, von der ich weiß, ist – ich sage es zum zweiten Mal – keine Billigversion dass deren Umsetzung schon jetzt gefährdet ist. des Kinderbetreuungsangebots. Frau Humme, lassen Sie uns jetzt doch einmal über (Rita Streb-Hesse [SPD]: Deshalb verbessern Nordrhein-Westfalen reden. Sie haben im Ausschuss wir sie doch auch!) doch selbst schon vor Wochen mitbekommen, dass unser 12306 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Ingrid Fischbach (A) beider Bundesland bezüglich der Herunterbrechung der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) Finanzen, das heißt bei der Weitergabe des Geldes an die DIE GRÜNEN) Kommunen, im Moment ganz anders argumentiert als früher. Nur dadurch, dass wir beide wach waren und uns Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- in die Gespräche eingemischt haben – ich habe gehört, schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf dass Sie das genauso wie ich getan haben –, überlegen Drucksache 15/4063. Wer stimmt für diesen Entschlie- die Länder, wie sie das Geld an die Kommunen weiter- ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält geben. sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der CDU/ Ich kann dem Kollegen Götz wirklich nur Recht ge- CSU-Fraktion und Enthaltung der FDP-Fraktion abge- ben: Es kann nicht sein, dass wir Gesetze verabschieden lehnt. und den Kommunen sagen, dass sie zusehen sollen, wie sie umgesetzt werden. Das geht nicht. Sie wissen, dass Wir setzen die Abstimmungen zur Beschlussempfeh- das eine Totgeburt ist. Frau Ministerin, Sie wollen das lung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und nicht und die CDU/CSU-Fraktion will das auch nicht. Jugend auf Drucksache 15/4045 fort. Unter Nr. 2 seiner Wir wollen Lösungen und Angebote für die Menschen. Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss den übri- Diese müssen seriös finanziert sein. Das sind sie nicht. gen, heute nicht abgestimmten Teil des Gesetzentwurfs Deswegen können und werden wir nicht zustimmen. einer späteren Beschlussfassung vorzubehalten. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- Frau Lenke hat es Ihnen bei dem qualifizierten Antrag lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen der FDP zur Tagespflege angeboten und wir bieten es Ih- die Stimmen von CDU/CSU-Fraktion und FDP-Fraktion nen auch an: Sie dürfen ruhig aus unseren Vorlagen ab- angenommen. kupfern. Schreiben Sie ab, übernehmen Sie unsere Vor- Tagesordnungspunkt 3 b: Der Ausschuss empfiehlt schläge! Sie tun Ihnen gut. Wir werden keine unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung Plagiatsklage einreichen. Wir würden uns freuen und des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf wären zufrieden, wenn Sie das anwenden würden; denn Drucksache 15/3488 mit dem Titel „Elternhaus, Bildung bereits Neil Postman sagte: und Betreuung verzahnen“. Wer stimmt für diese Be- Kinder sind die lebenden Botschaften, die wir einer schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Zeit übermitteln, an der wir selbst nicht mehr teil- hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- haben werden. men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion (B) (D) Lassen Sie uns die bestmöglichen Botschaften über- angenommen. mitteln! Tun Sie es für uns, unsere Kinder und die Zu- kunft unserer Kinder! Dann haben Sie uns im Boot. Unter Nr. 4 empfiehlt der Ausschuss die Ableh- nung des Antrags der Fraktion der FDP auf Druck- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sache 15/3512 mit dem Titel „Solides Finanzierungs- konzept für den Ausbau von Kinderbetreuungsange- Vizepräsident Dr. : boten für unter Dreijährige“. Wer stimmt für diese Ich schließe die Aussprache. Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen desregierung eingebrachten Entwurf eines Tagesbetreu- von CDU/CSU-Fraktion und FDP-Fraktion angenom- ungsausbaugesetzes, Drucksachen 15/3676 und 15/3986. men. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Tagesordnungspunkt 3 c: Wir kommen nun zur Be- Drucksache 15/4045, den Gesetzentwurf in der Aus- schlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senio- schussfassung mit der neuen Überschrift „Entwurf eines ren, Frauen und Jugend auf Drucksache 15/3036. Der Gesetzes zum qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp- Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder“ anzunehmen. fehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck- schussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- sache 15/2580 mit dem Titel „Ausbau von Förderungs- chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der angeboten für Kinder in vielfältigen Formen als zentraler Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen Beitrag öffentlicher Mitverantwortung für die Bildung, der Koalitionsfraktionen und der beiden fraktionslosen Erziehung und Betreuung von Kindern“. Abgeordneten bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer und der FDP-Fraktion angenommen. stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- Dritte Beratung empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- nen gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem FDP-Fraktion angenommen. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge- genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen angenommen. des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12307

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) 15/2651 mit dem Titel „Ausbau und Förderung der Ta- b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD (C) gespflege als Form der Kinderbetreuung in der Bundes- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN republik Deutschland“. Wer stimmt für diese Beschluss- Die Türkeipolitik der EU verlässlich fortfüh- empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält ren und den Weg für Beitrittsverhandlungen sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der mit der Türkei frei machen Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU- Fraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. – Drucksache 15/4031 – Weiterhin empfiehlt der Ausschuss für Familie, Se- ZP 6Beratung des Antrags der Abgeordneten nioren, Frauen und Jugend unter Nr. 3 seiner Beschluss- Dr. , Dr. Guido Westerwelle, empfehlung auf Drucksache 15/3036 die Ablehnung des Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1590 Fraktion der FDP mit dem Titel „Tagespflege als Baustein zum bedarfsge- Zu der Empfehlung der EU-Kommission über rechten Kinderbetreuungsangebot – Bessere Rahmenbe- Beitrittsverhandlungen der Europäischen dingungen für Tagesmütter und -väter, Eltern und Kin- Union mit der Türkei der“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- – Drucksache 15/4064 – empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für nen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion bei Enthaltung die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- der CDU/CSU-Fraktion angenommen. nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 4 seiner Be- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- ner dem Kollegen Dr. Wolfgang Schäuble von der CDU/ tion der FDP auf Drucksache 15/2697 mit dem Titel CSU-Fraktion das Wort. „Faire Chancen für jedes Kind – Für eine bessere Bil- dung, Erziehung und Betreuung von Anfang an“. Wer Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gegen- lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen stand unserer heutigen Debatte ist in erster Linie eigent- die Stimmen der FDP-Fraktion bei Enthaltung der CDU/ lich nicht die Türkei, sondern die Europäische Union CSU-Fraktion angenommen. oder genauer die Vorstellung, die wir mit der politischen Einigung Europas verbinden. Die europäische Einigung (B) (D) Tagesordnungspunkt 3 d: Abstimmung über die Be- befindet sich in einer schwierigen Phase. Das Ringen um schlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senio- die institutionelle Vertiefung, die Erweiterung auf ren, Frauen und Jugend auf Drucksache 15/3035 zu dem 25 Mitgliedstaaten, der Bruch des beim Start der euro- Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel päischen Währung gegebenen Stabilitätsversprechens, „Frauen und Männer beim Wiedereinstieg in den Beruf die tief greifenden Meinungsunterschiede in zentralen fördern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf außen- und sicherheitspolitischen Fragen – dies alles und vieles mehr hat die Einstellung weiter Teile der Bevölke- Drucksache 15/1983 abzulehnen. Wer stimmt für diese rung in den meisten Mitgliedstaaten zur europäischen In- Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer tegration nicht eben gestärkt. Ich fürchte, dass auch die enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Auseinandersetzungen um die Bestätigung der Kommis- Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen sion im Europäischen Parlament in diesen Tagen daran der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion ange- wohl nichts verbessern werden. nommen. Das europäische Einigungswerk bleibt aber auf die Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie Zustimmung der Bevölkerung angewiesen. Wenn die Zusatzpunkt 6 auf: Europäische Union eine handlungsfähige politische Ein- heit werden soll, dann geht das nicht ohne das Vertrauen 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten der Menschen. Sie müssen sich dieser neuen, allmählich Dr. Wolfgang Schäuble, Dr. Friedbert Pflüger, entstehenden Einheit anvertrauen. Das setzt ein Gefühl Peter Hintze, weiterer Abgeordneter und der der Zusammengehörigkeit und der Zugehörigkeit zu Eu- Fraktion der CDU/CSU ropa voraus, eine europäische Identität. Für ein glaubwürdiges Angebot der EU an die ( [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Türkei Europäische Identität entsteht aus Gemeinsamkeit in Ge- – Drucksache 15/3949 – schichte und Kultur wie auch aus gemeinsamer Verant- wortung in einer Welt der Globalisierung. Wer das ver- Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) nachlässigt, der gefährdet die Vision eines politisch Innenausschuss geeinten und handlungsfähigen Europas. Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union neten der FDP) 12308 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Dr. Wolfgang Schäuble (A) Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in (Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!) (C) Deutschland, Bischof Huber, hat vor kurzem darauf hin- gewiesen, dass ein Europa, bei dem die Erweiterung so nämlich den Fehler, in der Türkei den Eindruck aufrecht- eindeutig den Vorrang vor der Vertiefung bekomme und zuerhalten, dass die Frage einer EU-Mitgliedschaft nur bei dem die Frage nach dem Verhältnis von kulturellen in der Türkei zu entscheiden sei, als ob es nicht auch auf Orientierungen zu politischen Mechanismen nicht mehr die Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union selbst gestellt werde, die Menschen nicht erreichen könne. entscheidend ankäme. Die Türkei ist seit langem verlässlicher Partner des (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Westens und sie ist mit Europa eng verbunden. Die Mit- neten der FDP) bürger türkischer Abstammung in unserem Land sind zu Man sollte das übrigens auch in Frankreich beden- einem großen Teil gut integriert und sie bereichern uns ken. Die französische Bevölkerung äußert sich mit noch vielfältig. Die Türkei hat große Fortschritte in wirt- viel größerer Mehrheit als die deutsche gegen eine Mit- schaftlicher und politischer Hinsicht, als demokratischer gliedschaft der Türkei. In der französischen Nationalver- Rechtsstaat und in der Wahrung der Menschenrechte ge- sammlung plädieren Regierung wie Opposition für unser macht. Auch wenn vor allem beim Schutz der Minder- Modell einer privilegierten Partnerschaft. Der Präsident heiten noch nicht alle Probleme gelöst sind, sollten wir der Französischen Republik hat angekündigt, dass er der die erreichten Fortschritte und die Ernsthaftigkeit der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zustimmen Bemühungen nicht in Zweifel ziehen. werde, dass aber am Ende der Verhandlungen eine Zutreffend ist auch, dass die Türkei seit den 60er- Volksabstimmung in Frankreich über eine Mitglied- Jahren nach der Mitgliedschaft in den Europäischen schaft der Türkei entscheiden werde. Ob es für die Tür- Gemeinschaften strebt und dass solchen Erwartungen kei wirklich besser sein wird, wenn nach weiteren zehn, vonseiten Europas nicht wirklich widersprochen wurde. 15 Jahren ein Verhandlungsergebnis plötzlich abgelehnt Es wurde aber auch immer gesagt, dass es keinen Auto- würde? matismus gebe, dass also die endgültige Entscheidung (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Sehr offen bleibe. Auch jetzt übrigens werden unterschiedli- wahr!) che Botschaften ausgesandt. In die Türkei wird vermit- telt, dass beim Europäischen Rat im Dezember die end- Wäre dann nicht die Gefahr eines Bruchs viel größer, gültige Entscheidung falle, auch wenn es bis zum den zu vermeiden im Interesse der Türkei genauso wie Vollzug noch dauern werde, im Interesse Europas liegt? (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE (B) (Beifall bei der CDU/CSU – Krista Sager (D) GRÜNEN]: Die Verhandlungen beginnen!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie wenn man nicht schon die Empfehlung der Kommission wollen den gerade jetzt!) als die eigentliche Entscheidung ausgegeben hat. Aber – Frau Kollegin Sager, ich finde, wir schulden der Tür- genau dieser Kommissionsbericht legt dar, dass es sich kei Offenheit. Dies heißt, dass wir unsere Überzeugung gerade nicht um Beitrittsverhandlungen in der bisherigen nicht verschweigen, dass eine privilegierte Partnerschaft Routine handeln könne, dass viele Fragen offen und Pro- die richtige Lösung ist. bleme noch nicht gelöst seien und dass das Ergebnis der Verhandlungen offen bleiben müsse. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Denn eine solche Partnerschaft gefährdet nicht die Chan- cen einer politischen Einheit durch Überdehnung der Klaus Hänsch, Sozialdemokrat und vor wenigen Jah- Grenzen und ermöglicht zugleich eine enge Verbindung ren allseits geschätzter Präsident des Europäischen Par- der Türkei mit Europa. Das ist unsere Überzeugung. laments, hat Ende August in einem Vortrag in Schloss Auch darüber muss verhandelt werden, nicht nur über Neuhardenberg ausgeführt: den Wunsch der Türkei nach voller Mitgliedschaft. Die Fähigkeit der Union, neue Mitglieder aufzu- nehmen, dabei jedoch die Stoßkraft der europäi- Natürlich gehört die Türkei zu einem Teil zu Europa, schen Integration zu erhalten, stellt … einen sowohl aber zu einem weitaus größeren Teil eindeutig nicht. Eu- für die Union als auch für die Beitrittskandidaten ropa reicht nicht bis an die Grenzen des Irans oder des wichtigen Gesichtspunkt dar, hat der Europäische Iraks. Keiner von uns würde sich dort in Europa fühlen. Rat 1993 in Kopenhagen festgelegt. Dieses Krite- Auch die Menschen in diesem Teil der Türkei glauben rium hat 1997 beim Beschluss über die Aufnahme selbst nicht, dass sie in Europa sind. Russland gehört von Beitrittsverhandlungen mit den mittel- und ost- übrigens zu einem größeren Teil zu Europa und gewiss europäischen Staaten noch eine Rolle gespielt. Aus in einem größeren Maße zur europäischen Geschichte. den Beschlüssen der Regierungschefs 1999 und Dennoch ist wohl eine Europäische Union, die bis Wla- 2002 zur Türkei ist es jedoch verschwunden. Das diwostok reicht, als gelingende politische Einheit nicht ist ein Fehler. vorstellbar. Ich denke, die Antwort, die wir heute für die Türkei finden, muss auch halten, wenn eines Tages (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Russland einen entsprechenden Wunsch äußern sollte. Wir sollten diesen Fehler nicht fortsetzen, (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12309

Dr. Wolfgang Schäuble (A) Deshalb müssen wir für Staaten, die nur teilweise zu Eu- (Nina Hauer [SPD]: Das stimmt doch nicht!) (C) ropa gehören und teilweise eben nicht, andere Lösungen einer institutionellen Verbindung mit Europa finden als – Hören Sie genau zu! die volle Mitgliedschaft. In jedem Falle werde eines Tages eine europareife Türkei leichter mit der Entscheidung umgehen kön- Das so oft angeführte Argument der Brücke, die die nen, ob ein Beitritt vollzogen werden könne oder Türkei zwischen Europa und der islamischen Welt bil- nicht. den soll, spricht ebenfalls für eine privilegierte Partner- schaft. Eine Brücke gehört eben nicht nur zu einem Ufer. Ihr Kollege Cohn-Bendit, Mitglied der Fraktion der Wer auf die Wirkung der Türkei in der islamischen Welt Grünen im Europäischen Parlament, nennt dies – aller- als Vorbild auf dem Weg zu Demokratie, Rechtsstaat- dings bezogen auf Frankreich – eine „demagogische lichkeit, zur Achtung der Menschenrechte, zum Aufbau Haltung“. Wo er Recht hat, hat er Recht. von Zivilgesellschaften und dergleichen mehr setzen möchte, sollte einmal darüber überlegen, ob durch eine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union neten der FDP) eine solche Wirkung in der islamischen Welt nicht Dialog der Kulturen und Religionen, Partnerschaft eher geschwächt als gefördert wird; denn wenn die Tür- mit den verantwortlichen Kräften in der islamischen kei Teil Europas ist, wird sie in der islamischen Welt we- Welt, Stärkung multilateraler Entscheidungsstrukturen, niger als Vorbild angesehen werden, als wenn sie es all das ist richtig und wichtig; aber es kann doch nicht nicht ist. die Einverleibung in Europa zur Voraussetzung haben. Nein, von strategischer Bedeutung in Europa ist das Ge- (Beifall bei der CDU/CSU) lingen der politischen Einigung. Sie wird durch eine Im Übrigen muss man bei diesem Argument zwi- Überdehnung der Grenzen eher gefährdet als gefördert. schendurch daran erinnern, dass die Türkei dies alles Die Entwicklung einer einigen und handlungsfähigen – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Achtung von Men- Europäischen Union ist für uns Europäer unser entschei- schenrechten, Aufbau von Zivilgesellschaften – im dender Beitrag zu mehr Stabilität, mehr Frieden und wohlverstandenen Eigeninteresse leistet und eben nicht mehr Entwicklung in dieser enger zusammenwachsen- nur, um sich die Mitgliedschaft in der Europäischen den und vernetzten Welt. Daran hat die Türkei ein wohl- Union zu verdienen. Das gilt genauso für alle anderen verstandenes Eigeninteresse. Besser ist, wenn die Türkei Staaten, auch in der islamischen Welt: Demokratie, mit einem politisch geeinten Europa eng verbunden ist, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Aufbau von Zivil- als dass sie Mitglied in einer politisch handlungsunfähi- gesellschaften sind aus Eigeninteresse richtig und nicht gen Europäischen Union ist. (B) (D) nur, um dadurch Mitglied in der Europäischen Union Ich zitiere noch einmal Klaus Hänsch: werden zu können. Wenn die Mitgliedschaft der Türkei mit der Erosion Übrigens, wenn auch die anderen Staaten der islami- der Union bezahlt würde, wäre das ein zu hoher schen Welt dem Vorbild der Türkei folgten, könnten sie Preis – übrigens nicht nur für die Union, sondern deswegen wohl nicht Mitglied der Europäischen Union auch für die Türkei – und der darf nicht gezahlt werden. Die Argumente sollten also ein bisschen ge- werden. nauer auf ihren logischen Gehalt überprüft werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Beifall bei der CDU/CSU) Joachim Günther [Plauen] [FDP]) Nun wird gesagt, in Zeiten der Bedrohung durch den „Abschied von Europa“ hat Stefan Ulrich in der „Süd- internationalen Terrorismus könne die Europäische deutschen Zeitung“ am Dienstag seinen Leitartikel zu Union aus strategischen Gründen gar nicht groß genug diesem Thema überschrieben. Die Europäische Union sein. Der Außenminister hat von seiner europapoliti- wächst in der Fläche und schrumpft in der Tiefe. Egon schen Rede an der Humboldt-Universität sogar aus- Bahr schrieb vor kurzem im „Spiegel“: drücklich Abstand genommen. Damals, als Herr Fischer diese Rede hielt, war er noch eher gegen eine Mitglied- Bayern Ministerpräsident Edmund Stoiber hat schaft der Türkei. Das war übrigens ausdrücklich auch Recht, wenn er erklärt: Nimmt man die Türkei auf, Herr Verheugen noch im November 2002. Wie unsicher dann ist das das Ende der Vision von der politischen unser Außenminister in Wahrheit noch immer ist, hat er Union Europas. in einem Gespräch, das in der „Frankfurter Allgemeinen (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Zeitung“ vom 7. September 2004 wiedergegeben wurde, GRÜNEN]: Das ist ein solcher Schmarren!) verraten. Ich zitiere: – Das hat Egon Bahr geschrieben. Er (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE – Fischer – GRÜNEN]: Ja, aber deswegen ist es nicht richtig!) beteuerte ein weiteres Mal, die Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen sei nicht – Ja, gut, ist ja in Ordnung. Frau Kollegin Roth, ich gleichbedeutend mit der Entscheidung über den glaube, Sie machen einen schweren Fehler, wenn Sie Beitritt selbst. Vertiefung gegen Erweiterung austauschen. 12310 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Dr. Wolfgang Schäuble (A) (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) GRÜNEN]: Das tun wir doch gar nicht!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Eine handlungsunfähige Europäische Union dient der Es liegt in unserem Interesse, dass die EU glaubwürdig Türkei nicht, dient Europa nicht und dient der Stabilität bleibt. Es liegt in unserem Interesse, dass der Verände- in der globalisierten Welt nicht. Deswegen ist das der rungsprozess in der Türkei unumkehrbar gemacht und falsche Weg. im Zuge des Verhandlungsprozesses konsequent fort- gesetzt wird. Es liegt in unserem Interesse, dass die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gesicherte Beitrittsperspektive den wirtschaftlichen Auf- neten der FDP) schwung dieses für Deutschland so wichtigen Wirt- Aus all diesen Gründen stellen wir, die CDU/CSU- schaftspartners verstetigt und beschleunigt. Es liegt in Fraktion, heute erneut, wie schon am 2. Dezember 2002 unserem Interesse, dass die 4 Millionen Türken in der EU, vor dem Kopenhagener Gipfel, den Antrag, sich bei Ver- von denen 2,5 Millionen in Deutschland leben, mit der handlungen mit der Türkei nicht auf die Frage einer Beitrittsperspektive ihre Integrationsbemühungen vertie- Vollmitgliedschaft zu beschränken, sondern auch die fen und verstärken. bessere Lösung einer privilegierten Partnerschaft einzu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten beziehen. Nur ein solches Verhandlungsmandat ist wirk- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lich ergebnisoffen. Ein solches Verhandlungsmandat weist die Türkei nicht ab, beschädigt die Türkei nicht, Es liegt in unserem Interesse – Herr Kollege Schäuble, bewahrt aber Europa zugleich die Chance, sich zu einer ich glaube, da haben Sie mit dieser Brücke etwas falsch wirklichen politischen Einheit zu entwickeln. Darum verstanden –, dass die Türkei als eine große islamisch geht es. Es geht um die Zukunftsfähigkeit Europas und geprägte Gesellschaft vor aller Welt den Beweis dafür es geht um die Zustimmung der Menschen zu diesem eu- erbringt, dass Islam und westliche Werte miteinander ropäischen Projekt. vereinbar sind, weil dies die denkbar beste und wirk- samste Antwort auf jene blutigen Strategen des Terroris- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU) mus ist, die den Kampf der Kulturen predigen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Wort hat der Kollege Gernot Erler von der SPD- Fraktion. Ich möchte etwas zum Stichwort Glaubwürdigkeit sagen. Seit 81 Jahren gibt es die moderne, von Kemal (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Atatürk gegründete Türkei. Ich möchte schon jetzt von des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) dieser Stelle aus der türkischen Republik zum morgigen (D) Nationalfeiertag, der in Berlin bereits heute gefeiert Gernot Erler (SPD): wird, im Namen des ganzen Hauses herzlich gratulieren. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt die Absicht des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bundeskanzlers, am 17. Dezember in Brüssel für die DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu CDU/CSU und der FDP) stimmen, und sie tut dies einmütig. Seit 41 Jahren hat die Türkei ein Assoziationsabkom- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten men mit Beitrittsperspektive. Seit neun Jahren hat die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Türkei eine Zollunion mit der EU. Seit fünf Jahren ist die Türkei offizielle Beitrittskandidatin. Vor zwei Jahren Wir wünschen uns, dass diese Verhandlungen, die hat der Europäische Rat klare Bedingungen für die Auf- lange dauern werden, erfolgreich sind. Ziel der Verhand- nahme von Verhandlungen formuliert. Das hat ein- lungen kann nur der Beitritt der Türkei zur EU sein. drucksvolle Reformbemühungen in Ankara ausgelöst. Über etwas anderes, Herr Kollege Schäuble, wird am Ich bin Ihnen dankbar, Herr Kollege Schäuble, dass auch 17. Dezember nicht entschieden. Sie das anerkennen. Die Türkei hat in kürzester Zeit acht Reformpakete auf den Weg gebracht. Sie hat die Todes- Eine Automatik auf dem Weg zu diesem Ziel – auch strafe abgeschafft. Sie hat Folter und andere Menschen- das steht im Bericht der Kommission – kann es in der Tat rechtsverletzungen verboten und verfolgt Verstöße dage- nicht geben. Der Entscheidung der europäischen Staats- gen, die es nach wie vor gibt. Die Türkei hat die und Regierungschefs am 17. Dezember werden Tau- Staatssicherheitsgerichte abgeschafft. Die Türkei hat den sende von Einzelentscheidungen sowohl in der Türkei Einfluss des Militärs auf Politik und Gesellschaft spür- als auch in der EU folgen. Jetzt wird ein langer Prozess bar reduziert. Sie hat angefangen, Kurden und anderen der Abwägung und der Vorbereitung abgeschlossen, zu- Minderheiten kulturelle Rechte zu geben, und sie hat Be- gleich aber ein langer und anstrengender Prozess von schränkungen bei der Meinungs- und Versammlungsfrei- Reform und Transformation eröffnet. Er birgt nicht uner- heit aufgehoben. hebliche Risiken, aber auch große Chancen für die EU und für Deutschland. (Michael Glos [CDU/CSU]: Ist ja toll! Das sind Selbstverständlichkeiten!) Wir wollen, dass der Weg für diese Beitrittsverhand- lungen frei gemacht wird, weil diese Entscheidung im Natürlich kann man sagen: Das reicht alles nicht. Na- Interesse Deutschlands und im Interesse der EU liegt. türlich kann man sagen: Da fehlt noch etwas. Natürlich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12311

Gernot Erler (A) kann man sagen: Erlass eines Gesetzes bedeutet nicht Ihrem Antrag für ein glaubwürdiges Angebot heißt es (C) gleich Umsetzung. All das ist zulässig. So ist die Euro- dazu – ich darf das zitieren –: päische Kommission auch an die Sache herangegangen; sie hat all das berücksichtigt und sorgfältig abgewogen. Seitens der EU sollte … auf dem Gipfel im Dezem- Das Ergebnis ist in dem einen entscheidenden Satz der ber der Türkei das Angebot einer privilegierten Kommissionsempfehlung festgehalten, den ich hier zi- Partnerschaft mit der Europäischen Union gemacht tieren möchte. Da heißt es: werden. Der Europäische Rat sollte der Europäi- schen Kommission den Auftrag erteilen, in Kürze In Anbetracht der allgemeinen Fortschritte im Re- Möglichkeiten und Wege zu präsentieren, wie ein formprozess und unter der Voraussetzung, dass die solches besonderes Verhältnis der Türkei und ande- Türkei die oben genannten, noch ausstehenden Ge- rer Länder zu Europa in eine angemessene Form setze in Kraft setzt, ist die Kommission der Auffas- gebracht werden kann. Dabei können konzeptio- sung, dass die Türkei die politischen Kriterien in nelle Vorarbeiten aus den Reihen der EVP-Fraktion ausreichendem Maß erfüllt, und empfiehlt die Er- des Europäischen Parlaments entsprechend berück- öffnung von Beitrittsverhandlungen. sichtigt werden. (Beifall bei der SPD) Was heißt das? Wir sagen: Ja, das überzeugt uns. Das ist eine verantwor- (Franz Müntefering [SPD]: Dünnbrettbohrer!) tungsvolle und faire Empfehlung am Ende einer Vorbe- reitungszeit von 41 Jahren. Deswegen wollen und wer- Das heißt auf Deutsch: Die CDU/CSU sagt, sie wolle den wir dieser Empfehlung folgen. keine Beitrittsverhandlungen und keinen Beitritt der Türkei, sondern stattdessen die privilegierte Partner- Wenn die EU nach dieser endlosen Reihe des Aufzei- schaft. Man wisse zwar nicht, was das ist, aber es soll gens von Perspektiven, der Unterbreitung von Zusagen gefälligst die Europäische Kommission definieren, was und des Erhebens von Forderungen und nach den ein- das eigentlich ist. drucksvollen Bemühungen von türkischer Seite, diesen langen Weg mitzugehen und alle Forderungen zu erfül- (Dr. [CDU/CSU]: Stimmt ja len, im letzten Moment sagen würde: „Nein, Entschuldi- gar nicht!) gung, jetzt treffen wir eine grundsätzlich völlig andere Also etwas, von dem wir nicht wissen, was es ist, sollen Entscheidung“, dann stellt sich doch die Frage, wer die europäischen Staats- und Regierungschefs am künftig dieser EU noch trauen und vertrauen soll. 17. Dezember der Türkei empfehlen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) (D) Ich denke dabei nicht nur an die Türkei, deren Empö- Meine Damen und Herren, der Volksmund hat für ein rung dann alle verstehen würden, sondern an alle Län- solches Angebot einen trefflichen Begriff: Mogelpa- der, denen die EU in der letzten Zeit Zusagen gemacht ckung. hat: an die zehn neuen Beitrittsländer, an Bulgarien und Rumänien, denen schon ein Beitrittstermin genannt (Beifall der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/ wurde, an Kroatien, mit dem ab 2005 verhandelt werden DIE GRÜNEN]) soll, an die vier anderen Westbalkanstaaten, denen eine Das Hantieren mit einer Mogelpackung passt zu allem, Perspektive eröffnet wurde, sowie an die Ukraine und was Sie in letzter Zeit im Zusammenhang mit der Tür- 13 andere Staaten, denen mit dem neuen Nachbar- keifrage tun. schaftskonzept auch bestimmte Zusagen gemacht, wenn auch keine Beitrittsperspektiven eröffnet wurden. Wer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ also sollte bei so einem Nein in letzter Minute nach DIE GRÜNEN) 41 Jahren Vorbereitung der EU überhaupt noch etwas Am vorletzten Wochenende war dem Kollegen Glos glauben? Aber genau das, einen solchen Schwenk in – was manchmal passiert – wohl langweilig. Deshalb hat letzter Minute, Herr Kollege Schäuble, empfiehlt die er eine Kugel ins Rollen gebracht: das Thema Unter- CDU/CSU der EU. schriftenaktion gegen den Türkeibeitritt. Parteichefin Da gibt es ein neues Zauberwort – auch Sie haben es Merkel traute sich nicht, dieses Spiel mit dem Feuer hier mehrfach bemüht –: privilegierte Partnerschaft. gleich zu unterbinden, und erklärte es erst einmal für Im Antrag der CDU/CSU, der ausgerechnet den Titel eine ganz gute Idee. Dann brach quer durch die Repu- „Für ein glaubwürdiges Angebot der EU an die Türkei“ blik, auch in Ihren Reihen, ein Sturm der Entrüstung los trägt, sucht man vergeblich nach einer Definition oder und nach drei Tagen war der ganze Spuk vorbei. Das ist wenigstens einer Beschreibung von privilegierter Part- wahrlich Führungsfähigkeit, auf die Deutschland und nerschaft. Soll sie das umfassen, was die Türkei mit dem Europa warten. Assoziationsabkommen seit 41 Jahren hat? Soll sie das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ umfassen, was mit der Zollunion ausgedrückt wird, die DIE GRÜNEN) mit der Türkei seit neun Jahren besteht? Soll es das sein, was im Rahmen des neuen Nachbarschaftskonzeptes an- Das ist ein wirklich verantwortungsvoller Umgang mit geboten wird? In Ihrem Antrag findet man dazu keinerlei einer Schicksalsfrage, wie Sie es neuerdings nennen. Auskunft. Stattdessen machen Sie es sich ganz leicht. In Man kann ja mal etwas andeuten, ins Rohr schieben, um 12312 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Gernot Erler (A) zu testen, wie die Reaktionen sind. Weltpolitik als Über- Dritter Satz: (C) raschungsei, das ist Ihr Umgang mit der Europäischen Am Ziel darf es keinen Zweifel geben: Es ist vor al- Union. lem im deutschen Interesse, die Türkei in Europa zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sehen! DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Peter Jetzt hat sich Herr Glos etwas Neues ausgedacht, Hintze [CDU/CSU]: Das stimmt doch alles!) gestern nachzulesen in der „FAZ“. Die neue Parole heißt: Bei einem EU-Beitritt der Türkei wird Deutsch- Sie waren also offenbar schon einmal weiter als land von Türken überschwemmt und dabei untergehen, heute. Sie brauchten bloß Ihren eigenen Empfehlungen allerdings nicht aus Versehen, sondern ganz absichts- zu folgen. Lassen Sie das Übertaktieren mit der privile- voll, weil die Linken, die jetzt Deutschland führen, das gierten Partnerschaft, machen Sie sich Ihren eigenen Rat so wollen. Wörtlich, Herr Kollege Glos, werden Sie so zu Eigen, dann sind Sie unterwegs und wir können noch zitiert – ich darf das hier vortragen; Sie werden ja gern Hoffnung haben! zitiert –: Auf jeden Fall, meine Damen und Herren, gehen wir mit den unbestreitbaren Risiken dieses Integrationspro- Diejenigen, die derzeit Deutschland führen, haben zesses und den daraus abgeleiteten Sorgen und Beden- mit Deutschland überhaupt nichts am Hut. Man ken vieler Menschen anders um. Wir und auch die EU- macht Deutschland für einmalige Verbrechen in der Kommission nehmen sie ernst. Das ist der Grund dafür, Vergangenheit als Land verantwortlich. Daher rührt dass die Kommission für eine neue Konzeption der Ver- auch so eine Art Deutschenhaß in manchen Krei- handlungen eintritt, mit einer viel strengeren Über- sen, weshalb man in Teilen der Linken hofft, daß es prüfung der Reformfortschritte als bisher, mit Sonder- Deutschland nicht mehr gibt. regelungen bis hin zu eventuellen unbefristeten Schutzklauseln etwa bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – ja sogar mit der Perspektive einer Aussetzung der Ver- Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE handlungen bei ernsthaften Rückschritten bei den Zielen GRÜNEN]: Unglaublich! – Zurufe von der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Men- SPD: Pfui! – Unverschämte Frechheit!) schenrechte. Wenn schon keine Unterschriftenaktion, dann malt Das ist die seriöse Antwort auf die Fragen besorgter man wenigstens die Pantürkisierung ganz Europas und Menschen in unserem Land. Das sind genügend Leit- den Untergang Deutschlands als Folge des Selbsthasses planken, um zu verhindern, dass der Integrationsgeleit- (B) der linken Verhandlungsbefürworter an die Wand. Das zug vom Wege abkommt. Wir werden dafür sorgen, dass (D) ist auch für Ihre Verhältnisse, Herr Glos, eine unglaubli- diese Empfehlungen auch Beachtung finden. che Entgleisung, die eigentlich Klärung fordert. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir teilen auch die Meinung der Kommission: Bei aller Schwierigkeit Sonst müssen Sie sich nicht wundern, wenn man Sie des Weges, den wir die nächsten anderthalb Jahrzehnte demnächst fragt, ob mit Ihnen noch alles in Ordnung ist. gemeinsam mit der Türkei gehen werden – die Chancen und Vorteile für die EU und für unser Land überwiegen. Oder, Herr Glos, liegt das etwa daran, dass Sie Ihre Das muss den Ausschlag geben, wenn die europäischen eigene Vergangenheit aufarbeiten müssen? Manchmal Staats- und Regierungschefs am 17. Dezember ihre Ent- hilft ja ein gutes Archiv, um etwas zu erklären. Jeden- scheidung treffen werden. falls haben Sie am 17. Dezember 1997, direkt nach dem Europäischen Rat von Helsinki, eine interessante Pres- Wir unterstützen mit allem Nachdruck ein Ja für einen seerklärung herausgegeben. Aus dieser möchte ich drei Beginn der Beitrittsverhandlungen im Jahr 2005. Sätze zitieren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Erster Satz: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Es ist nicht nur im deutschen, sondern im europäi- schen Interesse, die Türkei an Europa zu binden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der SPD) Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Guido Westerwelle von der FDP-Fraktion. Zweiter Satz: Es dient nicht europäischen Interessen, wenn die Dr. Guido Westerwelle (FDP): Türkei auf ihrem Weg nach Europa durch Übertak- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- tieren vor den Kopf gestoßen wird. ren! Die EU-Kommission hat für Beitrittsverhandlungen mit der Türkei plädiert und sie im Charakter als ergeb- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des nisoffen beschrieben. Diesem Vorschlag sollte sich der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutsche Bundestag aus Sicht der Freien Demokraten Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12313

Dr. Guido Westerwelle (A) anschließen. Wir sollten die Kommission beim Wort Die Europäische Union ist in ihrer gegenwärtigen (C) nehmen. Verfassung nicht aufnahmefähig. Die Türkei ist in ihrer gegenwärtigen Verfassung nicht beitrittsfähig. Auch das (Beifall bei der FDP) gehört zur Wahrheit. Wir wollen aber fairerweise fest- Es geht gegenwärtig um eine Entscheidung über Bei- halten, dass ein sofortiger Beitritt nicht die Erwartungs- trittsverhandlungen und nicht – diesen Eindruck haltung der türkischen Regierung ist. konnte man nach den beiden vorherigen Reden bekom- Wir haben Gelegenheiten gehabt, das Gespräch mit men – um einen Beitritt selbst. Erst am Ende der Ver- der türkischen Seite – zuletzt in der vergangenen Woche handlungen kann die Entscheidung über die Aufnahme, mit dem türkischen Außenminister – zu führen. Nie- die Ablehnung oder auch eine differenzierte Position ste- mand in der Türkei, aber auch niemand in der Europäi- hen. schen Union geht davon aus, dass es um eine Beitritts- Wir sind mit beiden Haltungen, die bisher in den Re- entscheidung geht, die heute getroffen werden müsste. den zum Ausdruck gebracht worden sind, nicht einver- Es geht auch nicht darum, dass die Türkei in ihrer gegen- standen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen gibt letzt- wärtigen Verfassung schon beitrittsfähig wäre. Die Tür- endlich eine Tendenz vor. Nach diesem Antrag sind die kei, wie sie heute ist, könnte nicht beitreten. Müssten wir Beitrittsverhandlungen quasi eine Übergangsstufe zu ei- heute über den Beitritt abstimmen, würden wir als Freie nem Ergebnis, das – politisch gewollt – schon jetzt for- Demokraten mit Nein votieren. Aber es geht heute eben muliert wird. Die Unionsfraktion spricht sich in ihrem nicht um den Beitritt der Türkei zum jetzigen Zeitpunkt, Antrag gegen Beitrittsverhandlungen aus und unterstützt sondern um einen ergebnisoffenen Verhandlungsprozess. von vornherein ein anderes Modell. Auch sie hat sich Deswegen ist es aus Sicht der Freien Demokraten ein schon ihre politische Meinung gebildet und das Ergebnis Fehler, dass das Wort der Ergebnisoffenheit im Antrag vorweggenommen. der Koalitionsfraktionen überhaupt nicht mehr vor- kommt. Wir Freien Demokraten sind der Überzeugung, dass wir nur dann dem Votum der Europäischen Kommission (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gerecht werden, wenn wir sie beim Wort nehmen. Ergeb- der CDU/CSU) nisoffen heißt, dass am Ende eines Verhandlungsprozes- Wir begrüßen es ausdrücklich, dass die Türkei ent- ses ein Ja, ein Nein oder auch eine differenzierte Posi- sprechende politische Entwicklungen und Reformen tion, also vielleicht eine privilegierte Partnerschaft, eingeleitet und durchgesetzt hat. Wer wollte denn die stehen kann. Aber niemand ist heute in der Lage, seriö- Fortschritte der Türkei ernsthaft bestreiten? Die eingelei- serweise vorauszusagen, wie die Türkei in 15 Jahren teten Reformen dürfen aber nicht nur auf dem Papier ste- (B) aussehen wird oder wie die Europäische Union in hen, sondern müssen auch gesellschaftliche Realität (D) 15 Jahren aussehen wird. werden. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Markus (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Meckel [SPD]) GRÜNEN]: Richtig!) Wir haben von Ihnen, Herr Kollege Schäuble, eine Es ist zwar gut, wenn das Parlament der Türkei ein Ver- bemerkenswerte Rede gehört. Auch das, was Sie, Herr bot der Diskriminierung von Minderheiten verabschiedet Kollege Erler, gesagt haben, ist in weiten Teilen, was die und dies formale Rechtslage ist. Es ist zwar gut, wenn Analyse angeht – das ist oft so –, mit dem Wertekom- das Folterverbot formale Rechtslage in der Türkei ist. pass, den wir gemeinsam in diesem Hause haben, de- Aber das reicht nicht aus. Nicht die formale Rechtslage ckungsgleich. Letzten Endes geht es um die politischen ist das Kriterium. Vielmehr muss die gesellschaftliche Schlussfolgerungen an dieser Stelle. Es wird niemanden Realität das Kriterium für eine Überprüfung der Bei- in diesem Hause geben, der beispielsweise die Men- trittsentscheidung in zehn oder 15 Jahren sein. schenrechte in der Türkei nicht genauso einfordern würde wie Verbesserungen hinsichtlich der ökonomi- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schen Entwicklung. Selbstverständlich wird auch die der SPD und der CDU/CSU) Lösung der Zypernfrage eine Rolle spielen. Das alles Deswegen legen wir Wert darauf, dass die Ausgestal- sind Punkte, die wir gemeinsam in diesem Hause bespre- tung eines Verhandlungsmandates die Ergebnisoffenheit chen. betont, so wie es übrigens ausdrücklich auch in den Wir Freien Demokraten warnen aber vor Folgendem. Schlussfolgerungen der Europäischen Kommission vorge- Herr Kollege Schäuble, wenn Sie sagen, die Erweite- sehen ist. Dass dies so ist, wird ja regelmäßig unter den rung dürfe nicht gegen die Vertiefung ausgetauscht Teppich gekehrt. Es wird nachinterpretiert, was die Euro- werden, dann haben Sie nach unserer Auffassung Recht. päische Kommission gemacht hat, um der eigenen Ten- Wir fügen aber hinzu: Die Erweiterung darf auch nicht denz Vorschub und Nachdruck zu verleihen. Tatsächlich gegen die Vertiefung ausgespielt werden. hat die Europäische Kommission eine sehr differenzierte Position bezogen und ausdrücklich den ergebnisoffenen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Charakter von Beitrittsverhandlungen unterstrichen. Das der SPD) ist auch aus unserer Sicht richtig und notwendig. Beides muss uns gelingen, wenn wir den europäischen Ich will noch auf das zu sprechen kommen, was im Weg erfolgreich weitergehen wollen. Vorfeld dieser Debatte gesagt worden ist. Ich will 12314 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Dr. Guido Westerwelle (A) niemanden darüber im Unklaren lassen, dass wir Freien land wir leben und ob wir unsere multikulturelle und (C) Demokraten es ausdrücklich begrüßen, dass die Unions- multireligiöse Realität akzeptieren oder uns ihr verwei- parteien von den Überlegungen einer Unterschriftenak- gern. Sie ist in der Tat eine Debatte über die Glaub- tion Abstand genommen haben. würdigkeit deutscher und europäischer Außenpolitik. Außerdem ist sie – dies sage ich gerade vor dem Hinter- (Beifall bei der FDP) grund von populistischer Stimmungsmache und Brand- Ich will hier aber genauso klar sagen: Heute wird auch stifterei – eine Debatte über die politische Kultur und eine Debatte darüber geführt – sie wird in Wahrheit ge- den politischen Anstand in unserem Land. führt, um die Innenpolitik zu prägen, und nicht, um über (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den europa- und außenpolitisch richtigen Weg zu und bei der SPD) diskutieren –, ob ein Referendum bzw. Volksabstim- mungen beschlossen werden sollten. Wenn dies heute Ich zitiere: die konkrete Forderung ist, dann sagen wir Freien De- mokraten dazu: Das ist aus unserer Sicht nicht möglich Die Türkei gehört zu Europa. Die Türkei soll voll- und in Wahrheit nur der innenpolitischen Auseinander- berechtigtes Mitglied der Gemeinschaft sein. Dieser setzung geschuldet. Niemand ist heute seriöserweise in Wunsch und die Tatsache, dass wir in ihm mit unse- der Lage, die Entscheidung, die in zehn oder 15 Jahren ren türkischen Freunden einig sind, sind der ansteht, vorwegzunehmen. Niemand kann heute sagen, stärkste Ausdruck unserer Gemeinsamkeit. wie der konkrete Entscheidungsvorgang verfassungs- Dies sagte nicht Romano Prodi vor zwei Wochen, son- rechtlich in zehn oder 15 Jahren stattfinden soll. Hier dern Walter Hallstein, der damalige Kommissionspräsi- findet also in Wahrheit eine innenpolitische Auseinan- dent, anlässlich der Unterzeichnung des Ankara-Abkom- dersetzung und nicht eine Betrachtung der europäischen mens am 12. September 1963. Damit war Europa klar Materie statt, um die es hier tatsächlich geht. definiert. (Beifall bei der FDP) Gernot Erlers Zitaten, mit denen er in Erinnerung ge- Sie als Regierung werden – auch das müssen wir hier rufen hat, was Herr Glos dereinst sagte, füge ich einen festhalten – dem Antrag der Koalitionsfraktionen folgen; Satz hinzu, nämlich die Überschrift seiner Presseerklä- Sie haben sich dazu erklärt und festgelegt. Dies ist rung vom 17. Dezember 1997: Regierungshandeln. Sie als demokratisch legitimierte Die Türkei darf auf dem Weg nach Europa nicht Bundesregierung werden im Dezember – daran gibt es diskriminiert werden. keinen ernsthaften Zweifel – der Aufnahme von Bei- (B) trittsverhandlungen zustimmen. Eines will ich dazu klar Herr Hintze, dazu müssten Sie jetzt auch klatschen. – (D) sagen: Ganz egal wie man dann zu dieser Entscheidung Aber genau dies tun Sie jetzt: Sie diskriminieren die Tür- steht, diese Entscheidung bindet jede nachfolgende Re- kei. gierung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Zurufe von der SPD: Ja!) und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist sieben Jahre her!) Das sage ich deshalb, weil ich es für völlig falsch hielte, wenn in Wahlkämpfen Nachhutgefechte stattfinden wür- Herr Glos, erlauben Sie mir folgenden Satz – ich den. Wenn Europa entschieden hat, dass es Beitrittsver- komme ja auch aus Bayern –: Sie machen Politik nach handlungen gibt, dann ist jede nachfolgende Regierung dem Motto „Was schert mich mein Geschwätz von ges- daran gebunden und dann können noch so viele Unter- tern?“. schriften gesammelt oder Proteste organisiert werden. (Beifall der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/ Dann gilt die Zuverlässigkeit der deutschen Außenpoli- DIE GRÜNEN]) tik, für die die Freie Demokratische Partei steht. Heute hört sich nämlich alles, was Sie sagen, ganz an- Vielen Dank. ders an. Die CDU/CSU definiert die EU geographisch (Beifall bei der FDP) und kulturell ausgrenzend. Sie spricht von der nicht kompatiblen Türkei. Aber die politischen Werte der Eu- ropäischen Union sind nicht an eine bestimmte Religion Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: oder Kultur gebunden, sondern an die Achtung der Men- Das Wort hat jetzt die Kollegin Claudia Roth, Bünd- schenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechts- nis 90/Die Grünen. staatlichkeit sowie die Wahrung der Menschenrechte und der Minderheitenrechte. Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Im EU-Verfassungsvertrag, Herr Glos und Herr NEN): Schäuble – Herr Schäuble weiß dies, er hat es heute nur Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die nicht zitiert –, heißt es: Türkeidebatte, die wir gegenwärtig führen, ist im Kern – hier gebe ich Herrn Schäuble Recht – eine Debatte Die Union steht allen europäischen Staaten offen, über die Frage, in welchem Europa wir leben wollen und die diese genannten Werte achten und sich ver- auf welche gemeinsamen Werte dieses Europa gründet. pflichten, ihnen gemeinsam Geltung zu verschaf- Sie ist eine Debatte über die Frage, in welchem Deutsch- fen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12315

Claudia Roth (Augsburg) (A) (Michael Glos [CDU/CSU]: Ja, europäischen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) Staaten! Das ist kein europäischer Staat!) Frau Kollegin Roth, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schäuble? Also muss die Union auch einer demokratischen Türkei offen stehen. Genau dies wollen und unterstützen wir. Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN): und bei der SPD) Ja, gern. Über 40 Jahre dauert der lange Weg der Türkei in die EU. Immer wieder wurde versichert, bestätigt, beschlos- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sen und bekräftigt, dass das Ziel die Vollmitgliedschaft Bitte schön, Herr Schäuble. sei. Was aber ist heute? War alles nicht so gemeint? War es etwa nur so lange gemeint, wie die konkrete Perspek- Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): tive in weiter Ferne lag? Ihre privilegierte Partnerschaft, Würden Sie mir bitte eine Stelle nennen, die belegt, Frau Merkel und Herr Bosbach, ist kein Angebot an die wo ich in irgendeiner Weise etwas von dem gesagt habe, Türkei, sondern eine Worthülse, wie Herr Rühe zu Recht was Sie mir unterstellen? Nach meinem sicheren Wissen gesagt hat. Sie bedeutet Stillstand und die Festschrei- habe ich nie etwas Derartiges gesagt. bung des Status quo. Aus diesem Grunde kann die Tür- kei diese Perspektive nicht ernsthaft akzeptieren. Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN): sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich kann Ihnen das gern sagen. Es ist eine Agentur- meldung nach einer Fernsehsendung bei Frau Illner, in Die Empfehlung der Kommission, Beitrittsverhand- der Sie über die Türkei gesprochen haben. lungen aufzunehmen, ist dagegen ein historisches Si- gnal, dem der Europäische Rat am 17. Dezember hof- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ich fentlich zustimmen wird. Sie ist das wichtige Signal, habe es nicht gesagt!) dass die EU der Türkei die Tür nicht vor der Nase zu- – Wenn es nicht stimmt, Herr Schäuble, können Sie es schlagen und die ungeheure Dynamik der Veränderung gern dementieren. nicht abbrechen darf. Dies riskieren Sie mit Ihrer privile- gierten Partnerschaft ganz bewusst. Wir wollen diese (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Nein! Dynamik fortsetzen, die natürlich vor allem etwas mit Ich habe es nicht gesagt! Das ist eine Verleum- einer glaubwürdigen Beitrittsperspektive zu tun hat. Die dung! Sie können es nicht belegen! – Weitere (B) Aufnahme von Verhandlungen, die zum Erfolg geführt Zurufe von der CDU/CSU) (D) werden sollen, ist ein wichtiger Schritt; dies wissen Sie – Ich kann es Ihnen belegen. Ich reiche es Ihnen unmit- ganz genau. Aber es gibt keinen Beitrittsautomatismus. telbar nach der Debatte nach, Herr Schäuble. Das haben wir immer gesagt und dabei bleiben wir auch. (Michael Glos [CDU/CSU]: Sie sehen eine Lassen Sie uns wirklich von unseren deutschen Inte- Frau, die mit Unwahrheiten arbeitet! – ressen sprechen. [CDU/CSU]: Nehmen Sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – zurück, was Sie gesagt haben! Was soll das Michael Glos [CDU/CSU]: Jawohl, von deut- denn?) schen Interessen!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – Ja, Herr Glos, Pawlow; wir reden jetzt von deutschen Kolleginnen und Kollegen, bitte, Frau Kollegin Roth Interessen. – Wir haben ein ganz vitales Interesse an ei- hat das Wort. ner demokratischen Türkei. Wenn wir dieses Interesse haben, dann dürfen wir den Reformprozess doch nicht (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja das abbrechen, wir dürfen kein Risiko eingehen, Schlimme!) (Michael Glos [CDU/CSU]: So ein Quatsch!) Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sondern wir müssen die Dynamik fortsetzen. NEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Was ist daran schlimm? Was regen Sie sich auf? Ich und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: werde es belegen. Es ist umso besser, wenn Herr So ein Unsinn!) Schäuble sagt, es ist keine Show. Dann muss man aber auch diesen Prozess fortsetzen. Genau das wollen wir Vor kurzem – nicht heute –, Herr Schäuble, haben Sie auch, im Fernsehen von den Reformen in der Türkei als reine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Show gesprochen. Ich halte das für Zynismus, Herr und bei der SPD) Schäuble. Ich finde es zynisch, davon zu sprechen, dass die Abschaffung der Todesstrafe, das Folterverbot, das und zwar in dem Sinne, wie es Guido Westerwelle ge- Zurückdrängen des Militärs, der Beginn der Anerken- sagt hat. Nicht die Papierform der Gesetze entscheidet, nung der kurdischen Realität – all das, wovon Gernot sondern das, was implementiert wird. Weil wir imple- Erler gesprochen hat – Show sein soll. mentieren wollen, unterstützen wir die Empfehlung der 12316 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Claudia Roth (Augsburg) (A) Kommission, in der gesagt wird, der Verhandlungspro- Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) zess verstärkt den Reformprozess und sichert die Demo- NEN): kratisierung der Türkei ab. Es liegt genau in unserem In- Sie betreiben nicht Integration, sondern Ausgrenzung. teresse, den Demokratisierungsprozess unumkehrbar zu Sie können noch so viel hier herumschreien, das macht gestalten. Ihre Politik keinen Deut besser. Wir sprechen von unseren Interessen. Ein fundamen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tales deutsches Interesse ist gerade nach dem und bei der SPD) 11. September der Dialog der Kulturen und Religionen. Eine demokratische, säkulare, pluralistische Türkei mit Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: einer muslimischen Mehrheitsbevölkerung, die in die Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gerd Müller von Europäische Union integriert ist, ist natürlich ein welt- der CDU/CSU-Fraktion. weites Signal, dass Islam und Demokratie kein Wider- spruch sind. Sie wäre damit auch für uns ein enormer Si- Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): cherheitszugewinn. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Schreien, Kreischen und Verleumden, Frau Kollegin (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Roth, sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Jetzt möchte ich noch etwas zum Wirtschaftsflügel in der Union sagen. Die Heranführung der Türkei an die werden wir der historischen Bedeutung der Entschei- Europäische Union liegt im unmittelbaren Interesse auch dung nicht gerecht, die hier zu treffen ist. Ich würde Ih- und gerade der deutschen Wirtschaft. Es ist die deut- nen zurufen: Mehr Kompetenz und weniger Emotionen! sche Wirtschaft, die einen weiteren Ausbau der Bezie- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und hungen, strategische Partnerschaften und die Öffnung der FDP – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE von neuen Märkten erwartet. Die deutsche Wirtschaft GRÜNEN]: Ihre Kollegen haben doch die sagt: Eine integrierte Türkei ist ein stabiler und sicherer ganze Zeit gebrüllt wie die Affen!) Ort für Investitionen. Hier liegt das Interesse der deut- schen Wirtschaft. Ihre Ablehnung, werte Kollegen von Hans-Ulrich Wehler, ein Historiker aus Bielefeld, der Union, ist ein dramatischer politischer Fehler. Ich schreibt in der letzten Ausgabe der Zeitschrift „Aus Poli- halte Ihre Position nicht nur für außenpolitisch ignorant, tik und Zeitgeschichte“ unter der Überschrift „Verblen- sondern auch für innenpolitisch polarisierend. Sie bringt detes Harakiri“: „Der Türkei-Beitritt zerstört die EU“. (B) nicht ein Mehr an Sicherheit, sondern sie gefährdet im Professor Heinrich August Winkler spricht von „Selbst- (D) Kern Ihre eigenen ökonomischen Interessen. zerstörung durch Überdehnung“. (Michael Glos [CDU/CSU]: Jawohl!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Jochen Hoenig ruft im „Handelsblatt“ dazu auf, das An- Ich sage ihnen noch eines zum Abschluss: Herr Glos gebot zu widerrufen, den Beschluss zu korrigieren. von heute verbreitet den Mythos von der Andersartigkeit und benutzt das bitterböse Bild der Überschwemmung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Schäuble, wenn Herr Glos solche Positionen äu- Stefan Ulrich spricht vom „Abschied von Europa“. Wir ßert, lassen uns nicht in eine Ecke drängen, in die wir nicht gehören, wie Sie das eben versucht haben, Frau Kollegin (Michael Glos [CDU/CSU]: Wo habe ich das Roth. schon wieder gesagt? Bringen Sie eine Fund- stelle!) (Beifall bei der CDU/CSU) ist das nicht das Ernstnehmen der Ängste der Menschen, CDU und CSU sind gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union; denn ein solcher (Michael Glos [CDU/CSU]: Bringen Sie dafür Beitritt würde Europa und die Türkei überfordern. Nicht einen Beleg! Sie sind eine Verleumderin!) nur wir, sondern auch Egon Bahr, Helmut Schmidt und viele andere prominente Sozialdemokraten im Land, in sondern das bewusste Schüren von Ängsten und Sorgen. Europa und in der Welt warnen vor dieser Entwicklung. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist die Un- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wahrheit!) Ihr Eintreten für den EU-Beitritt der Türkei, Herr Kol- lege Fischer, ist der Ausstieg aus der Integration, ist der Das ist das Gegenteil von verantwortlicher Politik. Abschied von der Humboldt-Rede: Humboldt ade. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU) und bei der SPD) Welche Auswirkungen oder Folgen hat die Aufnahme der Türkei für die Europäische Union? Vertiefung und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Erweiterung, wie Sie es hier verkündet haben, gemein- Frau Kollegin Roth, kommen Sie bitte zum Schluss. sam voranzutreiben, ist eine politische Lebenslüge. Sie Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12317

Dr. Gerd Müller (A) können nicht beides haben: die Erweiterung der Europäi- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE (C) schen Union bis nach Kleinasien und die Vertiefung der GRÜNEN]: Also, was ist das denn anderes?) politischen Strukturen hin zu einer politischen Union, zu Frau Roth, Ankara missachtet die Menschenrechte. einer politischen Regierung, zu einem politischen Sys- tem, wie wir uns das vorstellen. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von Ihnen muss ich mir nichts Professor Heinrich August Winkler bringt dies in ei- über Menschenrechte sagen lassen! Sie sind nem Aufsatz auf den Punkt – Sie wissen, er ist der Lieb- der Allerletzte, der mir etwas über Menschen- lingshistoriker von Bundeskanzler Schröder und seit rechte erzählt!) 40 Jahren SPD-Mitglied –: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Wer glaubt, die EU könne neben dieser historischen Türkei diese Woche in drei Fällen verurteilt. Liebe Frau Herausforderung Kollegin Roth, ich erinnere mich noch daran, wie Sie vor – gemeint ist die Integration der neuen mittelosteuropäi- einigen Jahren vor türkischen Gefängnissen geweint ha- schen Beitrittsstaaten – ben. auch noch die Integration der Türkei bewältigen, (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE gibt sich einer Illusion hin. Ein Großeuropa von GRÜNEN]: Sie waren nie dabei!) Lappland bis zu Euphrat und Tigris wäre ein Koloss Angesichts der Berichte von Amnesty International wäre auf tönernen Füßen, räumlich groß, aber politisch diese Empörung jetzt angemessen. handlungsunfähig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU) neten der FDP) Sie sehen, international ist Ihr Kurs in Politik und Wis- Lesen Sie das Interview, das die Generalsekretärin senschaft höchst umstritten und umkämpft. von Amnesty International, Frau Lochbihler, in dieser Woche gegeben hat. Darin wurde Sie gefragt, in wel- Die Türkei ist unser Freund und Partner. Wir wollen chem Ausmaß in türkischen Gefängnissen gefoltert diese Freundschaft zu einer privilegierten Partner- wird. Herr Außenminister, dazu haben Sie gesagt, dass schaft weiterentwickeln. Wir wollen den Ausbau der es in diesem Bereich wirklich große Erfolge gegeben Wirtschaftsbeziehungen, den kulturellen Dialog, wir habe; denn es sei keine Systematik der Folter mehr er- wollen den Ausbau der Sicherheitspartnerschaft. Mit der kennbar. Die Antwort von Frau Lochbihler allerdings Türkei als NATO-Partner gibt es überhaupt keine Pro- lautete: (B) bleme. (D) (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Außenminister, Sie haben ein neues Hilfsar- Das hat Sie doch sonst nie interessiert!) gument, den D-Day. Ich denke bei D-Day an etwas an- deres. Nach dem 11. September nehmen Sie jetzt den „Da gibt es nur Schätzungen. Aber wir von Amnesty In- D-Day als Sicherheitsargument. Es gibt überhaupt ternational wissen von 600 Fällen allein im vergangenen keine Probleme bei der Zusammenarbeit mit der Türkei Jahr.“ Meine sehr verehrten Damen und Herren, über bezüglich der Bekämpfung des Terrorismus im Inneren diese Zustände sollten Sie sich empören! und Äußeren. Dazu ist eine Vollmitgliedschaft nicht not- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – wendig. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür hat sich die CDU/CSU doch sonst nie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – engagiert!) Gernot Erler [SPD]: Er hat es auch nicht ver- standen!) Nun komme ich auf einen weiteren Punkt zu spre- chen. Seit dem Jahr 2003 kommen die meisten Asylbe- Die Türkei erfüllt weder heute noch morgen die poli- werber in Deutschland aus der Türkei. Nach Auskunft tischen Kriterien, des Bundesinnenministeriums haben vom Jahr 2003 bis (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Aber zum August dieses Jahres 12 000 Menschen aus der Tür- vielleicht übermorgen!) kei Asyl in Deutschland beantragt. Ich frage Sie: Warum ist das so? Lehnen Sie diese Asylanträge ab? Schicken die in Kopenhagen festgelegt worden sind. Wir haben Sie die türkischen Asylbewerber ab Dezember zurück? uns eigentlich vorgegeben, dass es erst nach Erfüllen dieser Kriterien zu Beitrittsverhandlungen kommen (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: So ein wird. Die für die Währungsunion vorgegebenen Krite- Quatsch!) rien brechen Sie im Nachhinein. Hier brechen Sie die Wenn es die von mir angesprochenen Verhältnisse nicht Kriterien bereits im Vorhinein. gibt, dann bedarf es hier in Deutschland auch keiner (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Asylgewährung. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- GRÜNEN]: Wo denn? In welchem Punkt?) neten der FDP) Die Türkei gehört weder geographisch noch kulturell Herr Außenminister, Sie haben nicht verhindert, dass zur Europäischen Union. es durch die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft 12318 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Dr. Gerd Müller (A) dazu kam, dass heute 50 000 Türken illegal einen deut- Beitrittsverhandlungen kann somit schon deshalb nicht (C) schen Pass besitzen. im Dezember erfolgen, weil das Kriterium der Einhal- tung der Menschenrechte nicht erfüllt ist. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU – Krista Sager Herr Kollege Müller, einen Moment bitte. Frau Kolle- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist keine gin Roth möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. Er- Antwort!) lauben Sie das? Es ist der SPD zu trivial, über die Kosten des Bei- tritts zu sprechen, die auf 30 bis 40 Milliarden Euro pro Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Jahr geschätzt werden. Aber die Menschen in unserem Ja, bitte schön. Land erwarten eine Antwort auf die Frage: Wer soll ei- nen möglichen Beitritt der Türkei bezahlen? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Frau Roth. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Dr. [CDU/CSU]: Aber an- Darüber hinaus müssen wir auch die Migrationsängste ständig! Nicht so bissig!) der Menschen berücksichtigen. Zum Schluss möchte ich noch einen anderen Punkt Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ansprechen. Herr Außenminister, es ist eine Legende NEN): – an der Sie bereits heute im zuständigen Ausschuss stri- Wir kennen uns ja schon lange. – cken und an der Sie auch in Zukunft stricken werden –, wenn Sie vor die deutsche Bevölkerung treten und sa- Herr Kollege Müller, haben Sie gehört, dass ich ge- gen, dass lediglich ein Beschluss zur Aufnahme von Bei- sagt habe, dass es zwar große Reformen gibt, dass sie trittsverhandlungen getroffen worden sei. Meine Damen aber nicht ausreichen, wenn sie nur auf dem Papier ste- und Herren, im Jahre 1999 hat der Europäische Rat der hen? Jetzt geht es darum, sie auch zu implementieren. Staats- und Regierungschefs innerhalb von nur drei Mi- Das Folterverbot muss bis in die letzte kleine Polizeista- nuten – das stelle man sich einmal vor, Herr Bundes- tion mit null Toleranz umgesetzt werden. kanzler – den Beschluss gefasst, der Türkei den Status Ist Ihnen, Herr Kollege Müller, bekannt, dass sämtli- eines Beitrittskandidaten zu verleihen. che Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen – die (Michael Glos [CDU/CSU]: Weil es Schröder Menschenrechtsstiftung, der Menschenrechtsverein, gewollt hat!) Amnesty International und andere – der Auffassung (B) sind, dass der weitere Prozess der Integration der Türkei Mittlerweile sind fünf Jahre vergangen. Im Dezember (D) in die Europäische Union im Sinne einer Verbesserung wird man nun den nächsten Schritt machen und dem der Menschenrechtssituation dringend notwendig ist, deutschen Volk verkünden: Es wird fünf, es wird zehn, dass sie also genau das Gegenteil von dem sagen, was es wird 15, es wird 20 Jahre dauern, bis wir diesen Sie hier behauptet haben? Wechsel einlösen wollen und müssen. Sie stricken da an einer Legende! Wenn wir den nächsten Schritt gehen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dann müssen wir auch glaubwürdig gegenüber der Tür- sowie bei Abgeordneten der SPD) kei bleiben; Herr Westerwelle hat dies angesprochen. (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Glaubwürdigkeit hat Sie in dieser Frage doch Frau Kollegin Roth, ich habe Sie an Ihre Vergangen- gar nicht interessiert!) heit erinnert, Dann steht in fünf oder in acht Jahren der Beitritt bevor. (Gernot Erler [SPD]: Sehr ehrenvoll, diese Vergan- Sie können diesen Irrweg jetzt im Dezember noch stop- genheit! Das haben Sie nicht gesagt!) pen. Gehen Sie diesen Weg nicht! als Sie vor türkischen Gefängnissen zu Recht geweint Herzlichen Dank. haben. (Beifall bei der CDU/CSU – Günter Gloser (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: [SPD]: Immer noch nichts verstanden!) Das ist keine Antwort! Antworten Sie mal!) Ich würde mir wünschen, dass Sie auf die Wirklichkeit Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: in der Türkei, die ich beschrieben habe, auch heute auf- Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Angelica Schwall- merksam machen. Düren. (Beifall des Abg. Michael Glos (CDU/CSU) – (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das darf BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) doch nicht wahr sein!) Eines der Kopenhagener Kriterien ist die Einhaltung Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): der Standards der in der Europäischen Union gültigen Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Menschenrechte. Dieses Kriterium ist eindeutig und Herren! Die Koalitionsfraktionen begrüßen die Absicht nachhaltig verletzt. Der Beschluss zur Aufnahme von der Bundesregierung, am 17. Dezember 2004 im Euro- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12319

Dr. Angelica Schwall-Düren (A) päischen Rat für den Beginn von Beitrittsverhandlungen Verhandlungen im Sinne der Empfehlung der EU-Kom- (C) mit der Türkei zu stimmen, Beitrittsverhandlungen mit mission ausdrücklich ergebnisoffen geführt werden“. dem eindeutigen Ziel, sie zum Erfolg zu führen. Genau das ist doch der Punkt. Deswegen ist das, was Sie vorschlagen, nämlich von vornherein eine Alternative Wie ist die Haltung der CDU/CSU in dieser Frage? anzubieten, ein billiger Trick, den die Türkei durch- Sie bieten ein beschämendes Bild: widersprüchlich, po- schaut und was Sie mit diesem unausgefüllten Begriff ja pulistisch, unverantwortlich. auch zum Ausdruck bringen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Trotz weitgehender Übereinstimmung in der strategi- Meine Kollegen und Kolleginnen, ich muss noch ein- schen Begründung für einen möglichen Beitritt der Tür- mal auf Herrn Glos zurückkommen. Herr Glos hält eine kei hat die CDU/CSU aus innen- und parteipolitischen Volksabstimmung zu diesem Thema für nötig, Gründen den gemeinsamen Weg verlassen. Der entschei- dende Dissens besteht zwischen Vollmitgliedschaft und (Michael Glos [CDU/CSU]: Ja!) dieser nebulösen „privilegierten Partnerschaft“. Dieser weil er meint, es handele sich um die Preisgabe dessen, Meinungswandel seitens der CDU/CSU ist nicht nur be- was wir unter Deutschland verstanden haben und verste- dauerlich, er bedeutet auch die Aufkündigung des inner- hen. halb der Bundesrepublik bislang herrschenden europa- (Michael Glos [CDU/CSU]: Wir wollen Hilfe politischen Grundkonsenses. Die CDU/CSU untergräbt vom deutschen Volk!) die Glaubwürdigkeit deutscher und europäischer Politik, und das in einer Zeit, in der der wirtschafts- und gesell- Deutschtümelnd malt er eine riesige Einwanderungs- schaftspolitische Wandel der Türkei so stark ist wie nie welle an die Wand und prophezeit eine noch raschere seit der Gründung der modernen Türkei durch Kemal Verlagerung von Arbeitsplätzen in die Türkei. Atatürk. (Michael Glos [CDU/CSU]: Ich habe Helmut Schmidt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zitiert; ich kann auch andere zitieren!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist eine Politik, die zur Verunsicherung führt und die Die CDU/CSU verabschiedet sich endgültig von der mit der Angst der Menschen arbeitet. Herr Glos, das überzeugenden europapolitischen Argumentation des müssen wir ganz entschieden zurückweisen. ehemaligen Bundeskanzlers Kohl, der 1997 zum Ab- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schluss des Sondergipfels des Europäischen Rates in Lu- DIE GRÜNEN) (B) xemburg ausführte – ich darf zitieren –, (D) Der Kollege Erler ist auf diese Passage ja schon einge- dass wir, die Bundesrepublik Deutschland, sehr da- gangen. mit einverstanden sind, dass die Türkei in der Per- In diesen Minuten ging eine Ticker-Meldung über den spektive der Zukunft eine Chance hat, der Europäi- Äther, in der sich Herr Glos zur morgigen Unterzeich- schen Union beizutreten. nung des Verfassungsvertrages äußert. Heute stößt die CDU/CSU ausgerechnet die türkische (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Partei zurück, die die größten Reformschritte innerhalb GRÜNEN]: Oh, jetzt wird es hart!) kürzester Zeit vollzogen hat und die als konservative Partei der CDU/CSU nahe steht. Auch hier formuliert er: Ich will nicht verhehlen, dass die CDU/CSU in ihrem Es ist beschämend, dass die Bundesregierung prak- Antrag auch auf Risiken aufmerksam gemacht und tisch keinerlei deutsche Interessen in die Verhand- durchaus berechtigte Sorgen ausgedrückt hat. Bei nähe- lungen eingebracht hat. rer Betrachtung können sie aber ausgeräumt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Denn wenn man Risiken zu sehr betont, verhindert man, Michael Glos [CDU/CSU]: Lesen Sie weiter! dass man die Chancen nutzt. Die CDU/CSU vergisst die Lesen Sie alles vor!) Chancen. Der Antrag der CDU/CSU weist zudem Wi- dersprüche auf. Aus Sicht der Opposition ist die Türkei Sie behaupten, der größte Mangel dieses Verfassungs- ein bedeutender und verlässlicher Partner des Westens, vertrages bestehe darin, dass unklar sei, für wen er gelten ein wichtiges Mitglied der NATO und bereits heute eng solle. mit der EU verbunden, gleichzeitig eine wichtige Brücke (Michael Glos [CDU/CSU]: Jawohl!) zur islamischen Welt und zum Nahen und Mittleren Os- Herr Glos sagte weiter: ten. Wenn die Türkei … tatsächlich Mitglied der EU Es scheint die CDU/CSU gar nicht zu interessieren, wird, würde der Grundgedanke Europas verraten … was sie in ihrem eigenen Antrag geschrieben hat. Sie fordert, dass die Türkei anstelle der Vollmitgliedschaft (Michael Glos [CDU/CSU]: Richtig!) diese „privilegierte Partnerschaft“ bekommen soll. Wo Ein EU-Beitritt der Türkei wäre der Untergang der ist da die Logik? „Für den Fall, dass der Europäische Rat Europäischen Union, wie wir sie bisher kennen. die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen dennoch be- schließen sollte“ – so die CDU/CSU –, sollen „diese (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 12320 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Dr. Angelica Schwall-Düren (A) Herr Glos, das was Sie hier machen, ist unanständig und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) schürt die Fremdenfeindlichkeit. Das ist Wasser auf die DIE GRÜNEN) Mühlen der Rechtsradikalen. Die von der CDU/CSU anfänglich zögerlich, mittler- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ weile aber brutal vorgetragene Ablehnung eines Türkei- DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine beitritts verhindert mehr und mehr die Herausbildung ei- Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau nes politischen Wir-Gefühls. Dies kann aber nur [fraktionslos]) entstehen, wenn große Herausforderungen gemeinsam angenommen werden. Frau Merkel, Herr Stoiber, Herr Was hat dagegen die Kommission getan? Die Kom- Glos: Stehlen Sie sich nicht aus dieser Verantwortung! mission hat genau das getan, wozu sie beauftragt war. Ich glaube, wir sollten dem Kommissar Verheugen für (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ seine intensive Arbeit danken. Er hat den Fortschritts- DIE GRÜNEN – Dr. Angela Merkel [CDU/ prozess in der Türkei mit seinen Mitarbeiterinnen und CSU]: Nein, das tun wir nicht!) Mitarbeitern sorgfältig überprüft und ein sehr differen- ziertes und abgewogenes Urteil zum Ausdruck gebracht. Auf das große deutsche und europäische Interesse Deswegen ist der qualifizierte Ja-Vorschlag der EU- an einem Türkeibeitritt haben verschiedene Kollegen Kommission zu begrüßen, der drei Säulen beinhaltet. und Kolleginnen schon hingewiesen. Ich will noch ei- nige wenige Punkte nennen. Der Beginn der Beitrittsver- Ich meine, dass insbesondere die dritte Säule sehr handlungen würde durch seine inklusive und nachbar- wichtig ist, nämlich die Einbeziehung der türkischen und schaftliche Symbolik auch den politischen Extremismus der europäischen Gesellschaft in den wirtschaftlichen, schwächen, sowohl bei uns wie in der Türkei. Er würde sozialen und kulturellen Dialog; denn die bevorstehende durch die ökonomische und soziale Entwicklung an Ort Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhand- und Stelle den Migrationsdruck senken; denn bisher lungen bringt auch die Frage nach den Konturen und der haben alle Beitrittsperspektiven regelmäßig eher zu Substanz der Europäischen Union auf die politische Rückwanderungs- als zu weiteren Zuwanderungstenden- Agenda. zen geführt. Diese Entwicklung würde dem Entwest- lichungstrend in Gestalt des neoosmanischen Islamismus Herr Schäuble, die Kommission trägt mit ihrer Vor- durch Stärkung des laizistischen Staates entgegenwir- lage den Bedenken einer Überforderung seitens der EU ken. Rechnung. Worauf kommt es nämlich an? Es kommt in der Tat nicht nur darauf an, dass die Türkei ihre Refor- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) men durchführt, sondern es geht auch darum, dass die (B) EU unverzichtbare Veränderungen durchlaufen muss. In diesem Zusammenhang ist Dan Diner zuzustim- (D) Die Kopenhagen-Kriterien schließen ja die Stoßkraft der men, der 2002 formuliert hat: europäischen Integration ebenfalls mit ein. Zudem würden mit dem Beitritt der Türkei jene Es ist aber auch wichtig, zu sagen: Die Verstärkung Elemente miteinander verwoben, für die das föde- der Integration der Europäischen Union ist zunächst völ- rierte Europa einmal stehen dürfte: Für die Säkula- lig unabhängig von einem möglichen Beitritt der Türkei risierung historischer, einer kulturellen Tradition zu sehen; denn die Handlungsfähigkeit nach innen und verpflichteter Gemeinwesen auf der Grundlage uni- nach außen muss auch im Rahmen der jetzigen verseller Menschenrechte, Pluralismus und Demo- 25 Mitglieder gestärkt werden. kratie; für eine sich zunehmend als unteilbar erwei- sende Sicherheit; und natürlich für den alles (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE miteinander verknüpfenden Wohlstand. GRÜNEN]: Richtig!) Unsere Bevölkerung fragt sich, ob die Probleme mit Deshalb brauchen wir die Ratifizierung des Verfassungs- der Größe der Türkei, ihrer finanziellen Leistungsfähig- vertrages unbedingt. keit und ihrer Fremdheit größer sind als die, die es im Umgang mit den jetzt beigetretenen Staaten zu lösen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gilt. DIE GRÜNEN) Die Verfassung ist aber nur die Grundvoraussetzung. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie allein entscheidet nicht darüber, ob es zu einer weite- Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. ren Integration kommt, geschweige denn, ob sich die EU zu einer politischen Union weiterentwickelt. Wir stehen nach 50 Jahren vor der Aufgabe, auf dem Weg zu einer Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): erneuten Erweiterung wieder eine Vertiefung zustande Ich komme zum Schluss. – Das ist natürlich heute zu bringen. Das wird uns sehr viel Kraft abverlangen. noch nicht zu sagen. Aber die Mitgliedstaaten entschei- Wir werden diesen Weg im klugen Handeln Schritt für den entgegen dem, was Sie immer wieder behaupten, ge- Schritt gehen müssen. Dazu braucht es die ungeteilte meinsam, wie viele Finanzmittel sie zur Verfügung stel- Kraft der Europäischen Union und eines jeden Mit- len können und wollen, um die Türkei weiter an die EU gliedstaates. Die Bundesregierung handelt hier in hohem heranzuführen und die Unterschiede im Lebensstandard Maße verantwortungsbewusst und zukunftsorientiert. abzubauen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12321

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Hinzu kommt: Wer A sagt, muss auch B sagen. Man (C) Frau Kollegin, ich hatte Sie gebeten, zum Schluss zu kann nicht einerseits Volksabstimmungen in der Bun- kommen. desrepublik ablehnen und zugleich andererseits eine Volksabstimmung über den Beitritt der Türkei zur Euro- Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): päischen Union fordern. Ich bin wirklich bei meinem letzten Satz, Herr Präsi- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- dent. tionslos] – Michael Glos [CDU/CSU]: Warum (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Aber das denn nicht?) schon seit langem!) Die PDS im Bundestag fordert seit langem mehr De- mokratie. Insofern sind wir allerdings auch gespannt, ob Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Rot-Grün mit seinen jüngsten Ankündigungen zu diesem Sagen wir einmal, dem auf der vorletzten Seite. Thema diesmal Ernst machen wird. Nun zurück zum Thema der heutigen Debatte: Es ist Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): politisch legitim und auch üblich, dass die einen für ei- Die Türkei ihrerseits springt auf einen fahrenden Zug nen EU-Beitritt der Türkei plädieren – jedenfalls unter auf. Am 17. Dezember wird zwar nicht die Entscheidung bestimmten Bedingungen – und dass andere – ebenfalls über einen Beitritt fallen. Aber wir wollen, dass die Bei- begründet – dagegen sind. Nur eines geht nicht: Man trittsverhandlungen erfolgsorientiert geführt werden. kann nicht alle Vierteljahre die Argumente wechseln, mit Auf diesem Weg muss viel geleistet werden, in der Tür- denen man dagegen ist. Genau das aber machen CDU kei und in der EU. und CSU. Einmal ist die Türkei nicht europäisch genug, (Michael Glos [CDU/CSU]: Sie hört nicht dann ist sie nicht christlich; einmal sind die türkischen auf!) Werte falsch, ein anderes Mal die Geschichte. So ver- heddern Sie von der Union sich immer wieder in Wider- Machen wir uns an die Arbeit! sprüche. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Erinnern wir uns: Als die Bundesrepublik schnell bil- DIE GRÜNEN) lige Arbeitskräfte brauchte, da konnten die Türken nicht schnell genug kommen. Als aber später die Ostdeut- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schen dazukamen, wurden die hier lebenden Kurden und Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau. Türken in die dritte Reihe geschickt. Wenn es um die NATO geht, dann ist die deutsch-türkische Wertege- (B) (D) meinschaft so groß und so inniglich, dass es völlig egal Petra Pau (fraktionslos): ist, nach welcher Konfession die jeweiligen Militärseel- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sorger predigen. reden heute über einen möglichen EU-Beitritt der Tür- kei. Wenn überhaupt, dann steht er real irgendwann zwi- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- schen 2015 und 2020 auf der Tagesordnung, also in tionslos]) 15 Jahren. In 15 Jahren kann sehr viel passieren. Wer das nicht glaubt, schaue doch einfach einmal 15 Jahre zu- Wenn es aber um die EU geht, dann scheinen die kul- rück. Damals entfaltete die so genannte Wende im Osten turellen Differenzen unüberwindbar. Deutschlands ihre Wirkung. Das war kaum vorhersehbar (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- und somit auch schwer kalkulierbar. Ein Beitritt der Tür- tionslos]) kei zur EU aber wäre kalkulierbar und er wäre auch ge- staltbar. Diese Doppelzüngigkeit der CDU/CSU schafft nicht nur außenpolitische Verstimmungen. Sie belastet auch (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- das Miteinander hierzulande. Sie signalisiert Millionen tionslos]) türkischen Bürgern – mit deutschem oder ohne deut- Deshalb verstehe ich auch gar nicht die künstliche schen Pass –: Ihr gehört eigentlich nicht dazu. Genau das Aufregung, die von der CDU/CSU derzeit verbreitet findet bei jenen Beifall, die Deutschland ohnehin über wird. allen und allem wähnen, schon wieder oder immer noch. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Natürlich gibt es handfeste Gründe, mit Skepsis auf tionslos]) die Türkei zu schauen. Die Missachtung von Bürger- rechten gehört nach wie vor dazu, ebenso die vielfache Ich bin erleichtert, dass Sie von der Union wenigstens Geringschätzung von Frauenrechten oder ungelöste die Unterschriftenaktion gegen den Beitritt der Türkei Konflikte mit dem kurdischen Volk. Ich finde, wir alle, abgeblasen haben. Aber wir wissen auch alle: Die CDU auch Rot-Grün, müssen uns davor hüten, diese Probleme gehört zu den Rückfalltätern, wenn es darum geht, gegen kleinzureden. Ausländer Stimmung zu machen. Insofern stehen Sie un- ter Bewährung. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos]) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos] sowie bei Abgeordneten der SPD und Aber man darf nicht mit zwei Maßstäben wägen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn es hierzulande um Bürger- und Frauenrechte geht, 12322 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Petra Pau (A) dann sieht man die CDU/CSU ganz selten vorantraben, Kommissar, Günter Verheugen, auch namens der Bun- (C) übrigens auch in der EU nicht. Im Gegenteil! Im Übri- desregierung nochmals unsere Hochachtung und unseren gen hatte die Bundesrepublik einen CDU-Kanzler, als Dank aussprechen. vor nunmehr 40 Jahren der Türkei eine mögliche Mit- gliedschaft in der EU zugesagt wurde. Auch damals lag (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Istanbul am Bosporus und nicht irgendwo. und bei der SPD) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Wenn man der Debatte sorgfältig folgt und die Pole- tionslos]) mik beiseite lässt – auch wenn sich dazu vieles anmer- ken ließe –, wird deutlich, dass es einen Konsens über Wenn die Opposition zur Rechten nun sagt „Nicht mit die Bedeutung des Themas, unbeschadet der Frage nach uns!“, dann wird sie wortbrüchig und schlägt ohne Not möglichen Konsequenzen, gibt. Eigentlich bin ich davon eine historische Tür zu. Das will die PDS im Bundestag ausgegangen, dass es auch mit der CDU/CSU einen nicht. Konsens über die Bedeutung der Türkei für Europa und die europäische Sicherheit gibt. Bleibt noch das Angebot der privilegierten Partner- schaft. Die CDU bietet sie der Türkei als Ersatz für eine (Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Natürlich! EU-Mitgliedschaft an. Seit sie damit hausieren geht, Trotzdem!) stelle ich mir allerdings die simple Frage: Für welches Land haben eigentlich CDU und CSU eine unprivile- Diese Bedeutung war die Grundlage für die 1963 in gierte Partnerschaft in petto? Wie soll es also in den Be- der Regierungszeit von Konrad Adenauer getroffene ziehungen zu den Nachbarn weitergehen, ganz egal, ob Entscheidung von Walter Hallstein – sie wurde damals sie in der EU sind, hineinstreben oder auch nicht? in einer beeindruckenden Rede dargelegt –, der Türkei langfristig auch die Vollmitgliedschaft in der damali- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- gen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu ver- tionslos]) sprechen. Es war Michael Glos, der 1997 darauf hinge- Außerdem hätte ich heute gern einmal gehört, wie die wiesen hat, dass sich nach dem Ende des Kalten Krieges privilegierte Partnerschaft eigentlich aussehen soll. nichts an dieser strategischen Bedeutung geändert hat. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE (Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Das ist rich- GRÜNEN]: Das wissen sie auch nicht!) tig!) Frau Merkel, wenn dieses Modell wirklich so gut ist, wa- Nach dem 11. September 2001 bin ich davon ausge- rum probieren Sie es nicht einfach aus und leben es uns gangen, dass wir gemeinsam die Position vertreten, dass (B) vor, zum Beispiel mit Herrn Stoiber oder Ihrer Schwes- im Kampf gegen den Terrorismus nicht nur die Zerstö- (D) terpartei CSU? rung seiner Netzwerke im Zentrum stehen sollte, son- dern dass es vor allem um die Transformation der (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- muslimisch-arabischen Welt geht, damit sie an den tionslos] – Heiterkeit und Beifall bei der SPD Grundwerten der Moderne und an der sich globalisieren- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – den Weltwirtschaft teilhat und – statt sie als von außen Peter Hintze [CDU/CSU]: Das war mal wit- übergestülpt zu empfinden – einen eigenen Modernisie- zig!) rungsweg einschlagen kann. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Das Wort hat jetzt der Bundesminister Joseph Fischer. Ich war auch der Meinung, dass wir unbeschadet der Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: Entscheidung über die Vollmitgliedschaft hinsichtlich der Bedeutung der zukünftigen Entwicklung der Türkei Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun- eine gemeinsame strategische Position vertreten haben. desregierung begrüßt den Bericht und die Empfehlung Wenn dies aber der Fall ist, dann müssen Sie sich fragen der EU-Kommission, zu klar definierten Bedingungen lassen, meine Damen und Herren von der Union und die Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei zur Frau Vorsitzende Merkel, warum Sie jetzt, nach Europäischen Union aufzunehmen. Die Bundesregie- 40 Jahren, in dem Wissen um die Konsequenzen eines rung wird auf dem Europäischen Rat im Dezember der Nein – ungeachtet dessen, wie Sie dieses Nein verpa- Aufnahme der Verhandlungen über den Beitritt der Tür- cken werden; ob als privilegierte Partnerschaft oder wie kei zustimmen. auch immer – diese Wende vornehmen, nachdem Ihre Wer den Bericht gelesen hat, weiß, dass dieser Bericht Partei vier Jahrzehnte lang eine ganz andere Politik ver- allen Bedenken – vor allen Dingen, was die Schlussfol- folgt hat. gerungen über das weitere Verfahren betrifft – Rechnung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN trägt. und bei der SPD) (Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist doch so Lassen Sie mich auf die Konsequenzen dieser Hal- bestellt worden! Ein Auftragsgutachten!) tung eingehen. Kollege Schäuble hat sinngemäß ausge- Ich meine, dass die Kommission damit hervorragende führt – ich teile diese Auffassung nicht, aber ich akzep- Arbeit geleistet hat, und möchte dem verantwortlichen tiere, dass sie durchaus ernst gemeint ist –: Die Türkei Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12323

Bundesminister Joseph Fischer (A) gehört nicht zu Europa; sie gehört weder kulturell noch mission die Mitteilung über eine „Europäische Strategie (C) politisch und historisch zu Europa. für die Türkei“, in der nochmals unterstrichen wird, was letztendlich in der Kontinuität aller Bundesregierungen (Michael Glos [CDU/CSU]: Geographisch!) steht. In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates – Meinetwegen auch geographisch. – Das ist doch der heißt es: Kern Ihrer Position. Ich teile sie nicht, aber sie muss Der Europäische Rat bekräftigt, daß die Türkei für ernsthaft diskutiert werden. einen Beitritt zur Europäischen Union in Frage (Michael Glos [CDU/CSU]: Vor allem über kommt. Das Beitrittsersuchen der Türkei wird auf die Geographie!) der Grundlage derselben Kriterien untersucht wie im Falle anderer Bewerberstaaten. Obwohl die poli- Herr Kollege Schäuble, Sie wissen doch genau, wel- tischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen, auf che Konsequenz es hätte, wenn wir Ihnen folgen wür- Grund deren Beitrittsverhandlungen in Betracht ge- den: Wir würden die Verhandlungen nicht aufnehmen. zogen werden können, nicht gegeben sind, hält es Deswegen frage ich Sie noch einmal: Warum vertreten der Europäische Rat für wichtig, eine Strategie zur Sie diese Position jetzt, nach 40 Jahren? Sie sprechen da- Vorbereitung der Türkei auf den Beitritt festzule- von, dass es jetzt ein glaubwürdiges Angebot geben gen, und zwar durch eine Annäherung an die Euro- sollte. Haben denn Konrad Adenauer und Helmut Kohl päische Union in allen Bereichen. keine glaubwürdigen Angebote vorgelegt? Daraufhin verfasste Herr Glos eine nun wirklich histo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN risch zu nennende Presseerklärung: Die Türkei darf auf und bei der SPD) dem Weg nach Europa nicht diskriminiert werden. Lassen Sie mich noch einmal auf die Geschichte zu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) rückkommen. Gerade die politische Geschichte, die im Wesentlichen durch die Kontinuität der Haltung der Wortwörtlich heißt es in der Presseerklärung von Bundesregierungen geprägt wurde, spielt in diesem Zu- Michael Glos: sammenhang eine entscheidende Rolle. Walter Hallstein hat am 12. September 1963 gesagt: Es ist nicht nur im deutschen, sondern im europäi- schen Interesse, die Türkei an Europa zu binden. Getragen von den gleichen Vorstellungen, werden An der Schwelle Europas, im Schnittpunkt der Kri- sie senregionen des Nahen und Mittleren Ostens, war die Türkei über Jahrzehnte ein verlässlicher Partner – die beiden Parteien, nämlich die Europäische Wirt- und Freund der Deutschen. (B) schaftsgemeinschaft und die Türkei – (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gemeinsam überlegen, wie sie diese im Rahmen der Assoziation verwirklichen können. Und eines Tages – Sehr gut! Klatschen Sie ruhig weiter. soll der letzte Schritt vollzogen werden: Die Türkei soll vollberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft Weiter heißt es: sein. Dieser Wunsch und die Tatsache, daß wir in Die Bedeutung der Türkei für die Sicherheit Euro- ihm mit unseren türkischen Freunden einig sind, pas besteht über das Ende des Ost-West-Konflikts sind der stärkste Ausdruck unserer Gemeinsamkeit. hinaus. Es dient nicht europäischen Interessen, Nun kommt das Argument, die heutige Europäische wenn die Türkei auf ihrem Weg nach Europa durch Union sei eine andere. So wurde das von der Kollegin Übertaktieren vor den Kopf gestoßen wird. Merkel vorgetragen, wenn ich mich richtig entsinne. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Kollegin Merkel, ich weiß zwar im Moment nicht, ob SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Sie damals ad personam in der Regierung waren – das kann durchaus sein –, aber es war die Regierung Kohl, in Gleich werden Sie, meine Damen und Herren von der deren 16 Jahren der Übergang von der EWG zur EU Ge- CDU/CSU, hoffentlich wieder klatschen, wenn es heißt: stalt angenommen hat und wesentlich geprägt wurde. Für Europa und die Türkei muss klar sein, dass ein Herr Schäuble war dabei in wechselnden Funktionen tä- türkischer Beitrittsantrag grundsätzlich an den glei- tig. Hat dieser Übergang zu einer Änderung Ihrer Hal- chen Kriterien gemessen wird wie der jedes ande- tung geführt? Definitiv: Nein. ren europäischen Staates. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Wolfgang Schäuble und bei der SPD – Krista Sager [BÜND- [CDU/CSU]: Rabulistik! – Lachen bei der NIS 90/DIE GRÜNEN]: Europäischen Staa- SPD) tes!) – Nein, das ist keine Rabulistik. Weiter heißt es: (Zuruf von der SPD: Unbequem!) Angesichts der Dimensionen ist die Heranführung Nach Aufforderung durch den Europäischen Rat von der Türkei an Europa sicher eine größere und Luxemburg vom Dezember 1997 – das fällt also noch in schwierigere Aufgabe als in jedem anderen Fall. die Zeit der Regierung Kohl – verabschiedete die Kom- Das kann aber nur bedeuten, dass die Anstrengungen 12324 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Bundesminister Joseph Fischer (A) größer, die Fristen großzügiger bemessen sein müs- heitspolitische und strategische Konsequenzen. Das (C) sen. Am Ziel darf es keinen Zweifel geben. ist der entscheidende Punkt. (Beifall der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN]) und bei der SPD) Es ist vor allem im deutschen Interesse, die Türkei Frau Merkel, Sie könnten mit dem Vorschlag, den die in Europa zu sehen. Kommission gemacht hat, eigentlich leben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Zuruf von der SPD: Genau!) und bei der SPD) Sie können lediglich nicht damit leben, dass, was das Ziel angeht, nicht ergebnisoffen verhandelt werden soll. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Dass der Entscheidung kein Automatismus zugrunde Herr Minister Fischer, darf ich Sie darauf hinweisen, liegt, steht im Kommissionsbericht. Es sind genügend dass die vereinbarte Redezeit abgelaufen ist? Nach der Safeguards eingebaut. Sie wissen: Es geht nicht nur um Verfassung und der Geschäftsordnung dürfen Sie natür- das Verhandeln, sondern auch um das Umsetzen, das Im- lich länger reden. Dann haben aber die Fraktionen das plementieren, das heißt um reale Veränderungen in den Recht, die Debatte wieder zu eröffnen. Köpfen und in der gesellschaftlichen Realität. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: und bei der SPD) Herr Präsident, ich weiß das. Sie wissen: Es sind genügend Benchmarks eingebaut. Das heißt in Bezug auf die Finanzfragen: Es ist doch Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: völlig klar, dass man keine Eins-zu-eins-Übertragung Ich wollte Sie nur darauf hinweisen. vornehmen kann, und das weiß die türkische Seite ange- sichts der Größe der Herausforderung. Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: Es wird jährlich einen Bericht zur Erfüllung der Herr Präsident, vielen Dank für diesen Hinweis. Kopenhagener Kriterien geben. Durch diesen Bericht wird bei der Umsetzung ein permanenter Druck, vor al- Es geht aber weiter, len Dingen was die Bereiche Menschenrechte, Gleich- (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stellung der Frauen, Justiz und gesellschaftliche Praxis NEN und bei der SPD) angeht, ausgeübt. Es gibt also, was das Ergebnis angeht, (B) keinen Automatismus; aber im Hinblick auf das Ziel (D) weil die Geschichte wichtig ist. Die „FAZ“ hat Bundes- sind wir einig: Die Verhandlungen werden in Richtung kanzler a. D. Dr. Helmut Kohl in einem Interview am Beitritt und nicht in Richtung privilegierte Partnerschaft 22. Januar 2004 gefragt: geführt. So steht es im Bericht der Kommission. Die eigentliche Frage aber bleibt die geographische Wir haben diese Debatte oft genug geführt. Ich ver- Grenze. Sie sagen, die Türkei könne Mitglied der stehe, dass es ernsthafte Einwände gibt. Ich teile diese EU werden, vorausgesetzt, sie erfüllt die Kriterien. Einwände zwar nicht; aber man muss sich mit ihnen aus- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Heute ist Vor- einander setzen. Sie können es sich allerdings nicht so lesetag!) einfach machen. Wenn ich die „FAZ“ heute richtig gele- sen habe, dann sehe ich ein neues Problem auf Sie zu- Antwort: kommen. Das haben wir immer gesagt. (Peter Hintze [CDU/CSU]: Auf Sie!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und – Nicht auf uns. bei der SPD – Unruhe bei der CDU/CSU) (Peter Hintze [CDU/CSU]: Warten Sie einmal – Ich sehe, dass Sie, meine Damen und Herren von der ab!) CDU/CSU, unruhig sind. Es bleibt aber dabei: Das sind Wir werden für die Ratifizierung der EU-Verfassung vier Jahrzehnte kontinuierlicher Türkeipolitik von CDU/ eine Zweidrittelmehrheit brauchen. Die Kollegin Merkel CSU und den von ihr gestellten Bundesregierungen. hat diese Verfassung und vor allen Dingen den Beitrag, Herr Kollege Schäuble, das ist keine Rabulistik. Viel- den Ministerpräsident Teufel und Herr Altmaier dazu ge- mehr haben Sie die Voraussetzungen dafür geschaffen leistet haben, hier in verschiedenen Reden sehr gelobt. – das ist wichtig –, dass die Türkei zu Recht die Frage stellt: Wenn wir alle Bedingungen – die beiden Teile der (Peter Hintze [CDU/CSU]: Zu Recht!) Kopenhagener Kriterien – erfüllen, haben wir dann ei- Auch Sie – auch Herr Altmeier – haben diese Verfassung nen Anspruch auf Vollmitgliedschaft oder nicht? Die Zu- gelobt. Heute hören wir plötzlich, dass ein weiterer sagen, die Sie gemacht haben, können Sie nicht einfach Kurswechsel – sozusagen aus dem Überraschungsei – zurücknehmen. Das geht vielleicht in der Opposition. bevorsteht. Das werden wir uns in Ruhe anschauen. Wenn aber die Bundesregierung und die sie tragende Mehrheit dies machen würden, dann würde das Nein be- Ich kann Ihnen an diesem Punkt nur sagen: Vertie- deuten. Das hätte – das wissen Sie auch – fatale sicher- fung und Erweiterung, das ist keine Frage des Entwe- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12325

Bundesminister Joseph Fischer (A) der-oder. Die Tatsache, dass sich die gesellschaftliche Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen nun mittei- (C) Realität im internationalen Staatensystem mit dem len, dass von den Fraktionen der CDU/CSU und der 11. September 2001 grundsätzlich verändert hat, ist jetzt FDP beantragt worden ist, die Debatte noch einmal auf- offensichtlich geworden. Wir stehen vor einer großen zunehmen. Ich schlage vor, dass jede Fraktion zusätzlich Bedrohung durch den internationalen Terrorismus. einen Redner mit fünf Minuten Redezeit stellen kann. Nimmt man sämtliche Faktoren wie die Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten – im Iran droht eine neue (Widerspruch – Jörg Tauss [SPD]: Herr Glos Krise – und die Entwicklung des Terrorismus im Irak zu- soll mal seine Pressemitteilung vorlesen!) sammen, erkennt man, dass ein Nein zum Beitritt der – Ich höre gerade, dass dies nicht auf die Zustimmung Türkei in dieser Situation extrem kurzsichtig und gegen der Geschäftsführer trifft. Dann bitte ich die Geschäfts- die Interessen, auch die Sicherheitsinteressen, unseres führer, eine Redezeitvereinbarung zu treffen. Landes und Europas gerichtet wäre. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Die Frage, ob Europa dies aushalten wird, werden wir dann zu entscheiden haben, wenn wir die Integrations- Ich kann das nicht von mir aus tun. Ich habe einen Vor- fortschritte Europas tatsächlich sehen. Eines ist aber schlag gemacht. Er wurde nicht akzeptiert. klar: Wenn Sie der Verfassung nicht zustimmen, dann Wir fahren dann zunächst in der Debatte fort. Das werden Sie sich schon von einer Perspektive der Integra- Wort hat der Kollege Peter Hintze von der CDU/CSU- tion der EU der 25 verabschieden. Deswegen glaube ich Fraktion. Bitte schön, Herr Hintze. nicht, dass Sie dieser Verfassung nicht zustimmen wer- den. Die Fragen, die Sie hier aufwerfen, betreffen nicht (Beifall bei der CDU/CSU) die Türkei, sondern die EU der 25. Sie müssen in diesem Rahmen beantwortet werden. Peter Hintze (CDU/CSU): Wie eine europafähige Türkei aussieht, ob die Ängste Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- von Herrn Glos, die er in maßloser Überziehung dar- ren! Die Rede des Herrn Bundesaußenministers war stellt, noch vorhanden sein werden, ob die Türkei zu Eu- heute in jeder Hinsicht aufschlussreich. ropa passen wird und wie dieses Europa aussehen wird, (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE diese Fragen sind genau dann zu beantworten, wenn sie GRÜNEN]: Wie immer!) sich stellen. Es gibt keinen Automatismus. Wir reden hier über eine Perspektive von zehn bis 15 Jahren. Man Am interessantesten fand ich die Zitate über unseren wird dann mit kühler Vernunft und auch auf der Grund- Kollegen Michael Glos; lage der europäischen Zusagen zu entscheiden haben. (B) (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE (D) Ich persönlich bin mir sicher – das ist meine Überzeu- GRÜNEN]: Wir auch!) gung –: Wenn die Türkei diese Reformfortschritte macht, dann wird es am Ende ein Ja geben. Wenn der denn das, was Sie uns hier heute ausführlich vorgelesen Prozess stagniert, dann kann die Kommission mit Mehr- haben, lieber Herr Bundesaußenminister, dokumentiert heit beschließen, die Verhandlungen zu unterbrechen. nichts anderes als die Europa- und Türkeifreundlichkeit Wenn der Prozess in die Gegenrichtung läuft, dann kön- unseres Kollegen Michael Glos; die haben Sie damit nen die Verhandlungen sogar abgebrochen werden. Frau nachgewiesen. Merkel, unterm Strich könnten Sie diesem Beschluss (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der doch klar zustimmen. Allerdings würde dann Ihr Laden SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – auseinander fliegen und deswegen tun Sie es nicht. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich danke Ihnen. Das glauben Sie ja selber nicht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es geht also in der Debatte nicht um die Frage, ob je- und bei der SPD) mand europafreundlich ist oder nicht, es geht nicht um die Frage, ob jemand türkeifreundlich ist oder nicht, son- dern es geht um die Frage: Wie können wir für die Tür- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: kei und für Europa den besten Weg zu einer guten Zu- Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Tribüne hat sammenarbeit, zu einer guten Partnerschaft finden? soeben Herr Parlamentspräsident Kosmo aus Norwe- Darüber streiten wir uns, liebe Kolleginnen und Kolle- gen mit seiner Delegation Platz genommen. gen. (Beifall) (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Präsident Kosmo, wir begrüßen Sie und Ihre Dele- Nun hat der Kollege Westerwelle eine interessante gation sehr herzlich, wünschen Ihnen einen aufschluss- Einschätzung gegeben, die ich Ihrer Aufmerksamkeit reichen Besuch im Deutschen Bundestag, auch wenn anempfehle. Er hat hier vorgetragen, die Türkei sei heute dieser nur kurz sein wird, darüber hinaus einen schönen nicht beitrittsfähig und die EU sei heute nicht aufnahme- Aufenthalt in Berlin und alles Gute für Ihr parlamentari- fähig, aber man solle Beitrittsverhandlungen eröffnen. sches Wirken in der Zukunft. Vielen Dank für Ihren Be- Er hat damit die Hoffnung verbunden, dass sich das zum such. Positiven ändern werde. Habe ich Sie da richtig verstan- (Beifall) den, Herr Kollege? 12326 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Peter Hintze (A) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Fast!) Peter Hintze (CDU/CSU): (C) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ihr jubelt zu früh, – Gut. bleibt einmal ganz entspannt. Wenn aber die Türkei heute nicht beitrittsfähig ist und (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE wenn die Europäische Union heute nicht aufnahmefähig GRÜNEN]: Wir sind nicht beim Du!) ist, Der Kollege Westerwelle hat sich nämlich leider verhört. (Jörg Tauss [SPD]: Eier, eier, eier!) Ich habe gesagt, die Aufnahmefähigkeit ist die Grundvo- dann fehlt nach Geist und Buchstaben des EU-Vertrags raussetzung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlun- jede, aber auch jede Begründung dafür, sich in dieser Si- gen. Als wir mit Polen, Estland, Lettland, Slowenien und tuation in Beitrittsverhandlungen hineinzustürzen; Ungarn verhandelt haben, war die Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union für diese Länder voll gegeben. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Wolfgang (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gerhardt [FDP]: Das stimmt nicht! – Krista Gernot Erler [SPD]: Woher wissen Sie das? – Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Widerspruch bei Abgeordneten des BÜND- Unsinn! Sie müssen doch wenigstens ein Ziel NISSES 90/DIE GRÜNEN) definieren! – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was war mit Heute sagen selbst Sie mit Blick auf die Türkei, die Auf- den anderen Kandidaten?) nahmefähigkeit sei noch nicht gegeben. Genau da liegt der Unterschied, Herr Kollege Westerwelle. denn, verehrte Zwischenruferinnen Roth und Sager, die Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union ist abso- (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der lut Voraussetzung für die Aufnahme von Beitrittsver- SPD: Konfusion pur!) handlungen. Es wäre ein gefährliches politisches Experi- Jetzt kommt der Bundesaußenminister und beschwört ment mit den Gefühlen der Türken und mit der realen die Kontinuität. Er hat uns dazu viel vorgelesen und sagt Situation der Europäischen Union, wenn man sich in in Richtung unserer Vorsitzenden, wir hätten eine Wende eine Verhandlung hineinbegäbe, an deren Anfang noch vollzogen. nicht einmal die Grundvoraussetzung, nämlich die prin- zipielle Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union, (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) stünde. Meine Damen und Herren, wenn eine politische Kraft in (Beifall bei der CDU/CSU – Peter Dreßen diesem Hause in der Türkeifrage eine Wende vollzogen (B) [SPD]: Das stimmt so nicht!) hat, dann ist das Rot-Grün, niemand anders. Das will ich (D) jetzt erläutern. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Herr Kollege Hintze, erlauben Sie eine Zwischen- Gernot Erler [SPD]: Ihr habt eine Rolle rück- frage des Kollegen Westerwelle? wärts gemacht!) Es wurden Adenauer und Kohl zitiert und es wurde auf Peter Hintze (CDU/CSU): jahrzehntelange Kontinuität der Bundespolitik verwie- Gern. sen. Herr Schäuble, Frau Merkel und andere sind ge- nannt worden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Zuruf von der SPD: Herr Glos auch!) Bitte schön, Herr Westerwelle. Was haben denn alle früheren Regierungen gemacht? All diese Regierungen haben erkannt, dass wir gute und Dr. Guido Westerwelle (FDP): freundschaftliche Beziehungen zur Türkei benötigen, Herr Kollege Hintze, Sie waren so freundlich, auf dass aber eine Vollmitgliedschaft eine Überdehnung dar- meine Ausführungen Bezug zu nehmen. Sie haben ge- stellen würde. sagt, wenn heute die Beitrittsfähigkeit nicht gegeben sei, (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- so dürften auch die Beitrittsverhandlungen nicht aufge- NIS 90/DIE GRÜNEN) nommen werden. Da Sie das in einen Zusammenhang mit meinen Ausführungen gestellt haben, erlaube ich Deswegen gilt von Adenauer bis Kohl und von Merkel mir, in einer Frage einen Widerspruch anzumelden. Kön- bis Schäuble – – nen Sie mir irgendein Land nennen, das der EU beigetre- ten ist, zum Beispiel in diesem Jahr, das bereits zum (Zurufe von der SPD: Wo denn? – Wider- Zeitpunkt der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen bei- spruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ trittsfähig war? DIE GRÜNEN) – Ehe Sie hier schreien „Wo denn?“, lassen Sie mich erst (Beifall bei der FDP, der SPD und dem einmal die Frage beantworten. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In all den Jahrzehnten, die Sie für Ihre These der Kon- Jetzt muss er überlegen!) tinuität anführen, sind andere Formen der Zusammenar- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12327

Peter Hintze (A) beit gewählt worden, nämlich von der Assoziierung bis Wenn man nämlich die Brücken hinter sich abreißt, muss (C) zur Zollunion, man sich fragen, wer in den Graben fällt, falls doch ein Rückzug fällig ist. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit dem Ziel der Vollmitglied- (Beifall bei der CDU/CSU – Krista Sager schaft!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie reißen und eben nicht die Vollmitgliedschaft. Die Ergebnisse doch Brücken ab! – Jörg Tauss [SPD]: Sie des Luxemburger Gipfels, die Herr Fischer zitiert hat, hocken schon im Graben!) hat er, wie bei ihm üblich, unvollständig zitiert. In Lu- Ihre Rede, Frau Kollegin Roth, fand ich übrigens sehr xemburg wurde 1997 ein Aufnahmeantrag in die Euro- interessant. In früheren Zeiten haben Sie in diesem päische Union aus dem Jahre 1987 ablehnend beschie- Hause, wie ich finde, zu Recht darauf hingewiesen, dass den, genau wie im Jahre 1963 der Mitgliedsantrag aus sich die Gesellschaft, die uns in der Türkei gegenüber- dem Jahre 1957 abgelehnt wurde. tritt, und die Gesellschaft, die wir in Europa kennen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – grundlegend voneinander unterscheiden. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war 1989, Herr Hintze!) (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von Gesellschaft habe ich nicht – Frau Roth, zu Ihnen komme ich auch noch. – Die Kon- gesprochen!) tinuität deutscher Politik bestand darin, dass alle Regie- rungen – Bundeskanzler Helmut Schmidt hat uns ja noch Ich bin auch sehr erstaunt darüber, dass heute über all einmal daran erinnert, ihr Lieben – das, worüber immerhin die Medien in Deutschland noch dankenswerterweise berichten, also über Zwangsverhei- (Zurufe von der SPD: Na, na! – Lachen bei der ratungen, Ehrenmorde, über die Situation und die Stel- SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lung der Frau, die Zahl der Folterungen auf Polizeistatio- erkannt haben, dass eine Vollmitgliedschaft Europa nen und andere Dinge – Kollege Müller hat hierzu überfordert und dass eine gute Partnerschaft auf anderem interessante Ausführungen gemacht –, praktisch gar Wege zu suchen ist. nicht mehr gesprochen wird. Das Modell einer privilegierten Partnerschaft – die (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Kollegen von der SPD und den Grünen wollten ja wis- GRÜNEN]: Das ist nicht wahr! Das Gegenteil sen, wie das aussieht; diesen Wissensdurst will ich gerne ist wahr!) stillen – liegt von uns übrigens ausbuchstabiert bis ins Letzte vor, Herr Kollege Erler. Noch ein kurzer Hinweis zu dem Missverständnis des (B) Kollegen Westerwelle: Die Beitrittsfähigkeit im wirt- (D) (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE schaftlichen Sinne muss nach den vertraglichen Grund- GRÜNEN]: Das muss ein kurzer Text sein! – lagen natürlich erst am Ende da sein; aber die Demokra- Widerspruch bei der SPD) tiefähigkeit muss schon am Anfang vorhanden sein. – Da brauchen Sie doch nicht zu schreien. Erst zitiert (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Roth Herrn Schäuble falsch, In diesem Zusammenhang spielt eine Rolle, dass es (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE bei uns Tausende von Anträgen türkischer Staatsbürger GRÜNEN]: Das wird geklärt!) auf Asyl gibt. dann schreien Sie, wenn ich es Ihnen richtig darstelle. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: 11 000 im letz- (Gernot Erler [SPD]: Weil Sie gar nicht wis- ten Jahr!) sen, was das ist! Denn Sie wissen nicht, was Sie tun!) Für die, die sich nicht ständig damit beschäftigen: Asyl wird als Schutz vor staatlicher Verfolgung gewährt. Wir haben in unserem Antrag die privilegierte Partner- schaft als Verhandlungsziel genannt, aber darauf ver- Außerdem gibt es andere Punkte, die in anderen De- zichtet, dem Europäischen Rat ein bestimmtes Modell batten in diesem Haus angesprochen werden. Wir befin- vorzuschreiben, dass er eins zu eins übernehmen muss. den uns zum ersten Mal in der Geschichte der Europäi- schen Union in der Situation, dass ein Staat Mitglied der Sie können doch nicht übersehen, dass in vielen Staa- Europäischen Union werden will, der mit seinen Solda- ten Europas mittlerweile sogar Teile der politischen Lin- ten und seinen Truppen völkerrechtswidrig einen Teil ei- ken sagen: Das, was die CDU/CSU in Deutschland vor- nes anderen Staates der Europäischen Union besetzt hält. geschlagen hat, ist für Europa und für die Türkei gut. Wenn sich der Herr Bundeskanzler beim Besuch von (Beifall bei der CDU/CSU) Herrn Erdogan hinstellt und ausdrücklich jede andere Form der politischen Zusammenarbeit ausschließt und Wenn die Türkei Mitglied der Europäischen Union wer- beschwörungshaft formuliert, es dürfe nur um den Bei- den will, müsste das erste Kooperationszeichen der Ab- tritt und um nichts anderes gehen, dann handelt er unver- zug der Truppen aus Nordzypern sein. antwortlich und schadet Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Gernot Erler [SPD]: Hat er gar nicht neten der FDP – Dr. Wolfgang Gerhardt gemacht!) [FDP]: Das ist richtig!) 12328 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Peter Hintze (A) – Ich freue mich, dass auch der Kollege Gerhardt im Na- Auch in einer emotionalisierten Debatte sollte man sich (C) men der FDP diesen Gedanken unterstützt. an den parlamentarischen Sprachgebrauch halten. (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das hätten sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des schon längst tun sollen!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Krista Meine Damen und Herren, vielleicht kann ich ja im Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch zweiten Teil der Debatte den zweiten Teil meiner Rede wenn man Glos heißt!) vortragen. Das gehört nun einmal zu der Disziplin, der wir uns alle (Jörg Tauss [SPD]: Nein! Nichts Neues! – zu unterwerfen haben. Ich bitte, das damit zu beenden. Gernot Erler [SPD]: Sagen Sie es doch bitte noch mal!) Jetzt setzen wir die Debatte fort. Der nächste Redner ist der Kollege Günter Gloser von der SPD-Fraktion. – Die SPD hat es offenbar noch nicht verstanden. Das ist auch nicht verwunderlich. – Aber ich hoffe, schon im Günter Gloser (SPD): ersten Teil meiner Rede ist deutlich geworden, dass wir – – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Hintze, wie hoch muss Ihnen das Wasser stehen, dass Sie eine solche Debatte nutzen, um Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: derartige Drohszenarien zu entwerfen und mit Verun- Herr Kollege Hintze, Ihre Redezeit ist aber abgelau- glimpfungen und Unterstellungen zu arbeiten! Ich kann fen. das einfach nicht nachvollziehen. (Beifall der Abg. Claudia Roth [Augsburg] (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Peter Hintze (CDU/CSU): Wenn ich die Vorsitzende Ihrer Partei und Fraktion Dann, Herr Präsident, danke ich denen, die mir zuge- sehe, wie sie da neben ihren Männern sitzt, habe ich hört haben, manchmal den Eindruck, dass sie denkt: Was soll ich da eigentlich? Was geht da für ein Spiel ab? (Gernot Erler [SPD]: Das machen wir immer, Herr Hintze!) Das möchten wir heute demaskieren. Ich möchte hier namens der SPD noch einmal Folgendes deutlich ma- und den anderen empfehle ich dringend, meine Rede (B) chen. Wir haben – wie bei allen anderen Prozessen der (D) nachzulesen. EU-Erweiterung in der Vergangenheit – gesagt: Am An- Schönen Dank. fang können noch nicht alle Bedingungen erfüllt sein; es ist ein Prozess, in dem sich die Dinge entwickeln. So (Beifall bei der CDU/CSU) war es auch bei den osteuropäischen Ländern. In der Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle ist das vorhin Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: erwähnt worden. Sie erinnern sich, glaube ich, nicht Zunächst weise ich Sie darauf hin, liebe Kolleginnen mehr an Nizza. In Nizza wollten wir eine nicht nur gra- und Kollegen, dass die Debatte um eine halbe Stunde duelle, sondern eine sehr intensive Vertiefung erreichen. verlängert wird, wobei die Redezeitverteilung wie üblich Zu dem damaligen Zeitpunkt haben wir das leider nicht ist. Allerdings verzichtet die Union auf zwei Minuten geschafft. Trotzdem haben wir den osteuropäischen Län- zugunsten der FDP, die dann fünf Minuten Redezeit hat. dern, um sie nicht länger hinzuhalten, eine Perspektive aufgezeigt und ihnen als Datum das Jahr 2004 genannt. (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: So liberal Dadurch ist der Prozess beschleunigt worden. Das war sind wir! – Gernot Erler [SPD]: Das spenden die richtige Strategie. wir der Europäischen Kommission!) (Beifall bei der SPD) Zweitens muss ich aufgrund des Protokolls feststel- len, dass der Kollege Michael Glos die Kollegin Claudia Alle hier im Hause – zumindest wir von der Koali- Roth während ihres Debattenbeitrages als „Verleumde- tion – warten auf die Vorstellung des Modells einer pri- rin“ bezeichnet hat. vilegierten Partnerschaft. (Zuruf von der SPD: Was? – Michael Glos (Zuruf von der SPD: Ja!) [CDU/CSU]: Jawohl, dazu stehe ich!) Ich sehe mich gezwungen, darauf hinzuweisen, dass es Was ist das eigentlich? Sie reden immer nur in Versatz- unparlamentarisch ist, eine Kollegin oder einen Kolle- stücken. In einem Autohaus kann ich mir Modelle an- gen des Hauses direkt herabzusetzen. schauen. Sie aber stellen uns Ihr Modell nicht vor. Sie reden nur über den Begriff „privilegierte Partnerschaft“. (Michael Glos [CDU/CSU]: Auch wenn sie es Die Kollegin Pau hat vorhin zutreffend gesagt, dass Sie vorher tut? – Gegenruf der Abg. Krista Sager mit diesem Ausdruck vielleicht nur Ihre Beziehung un- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt reißen tereinander beschreiben wollen, aber nicht das, was Sie Sie sich mal zusammen, Herr Glos!) in Bezug auf die Türkei konkret vorhaben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12329

Günter Gloser (A) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Claudia her getan hat, kann von keiner Seite geleugnet werden. (C) Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir hoffen, dass das weiterhin so bleibt. Es sind sicher- NEN]) lich noch weitere Zeichen der türkischen Regierung möglich. Ich denke, die Türkei ist flexibel genug, dies zu Ich wiederhole die Frage: Warum gab es während der tun. 16-jährigen Regierungszeit von Herrn Kohl zu keinem Zeitpunkt eine Veränderung Ihrer Position? All das, was Es besteht weiterhin die Notwendigkeit, über die tür- wir heute diskutieren, hat es damals in ähnlicher Form kischen Truppen auf Nordzypern zu sprechen. Ich will gegeben. Plötzlich – aufgrund einer für Sie anderen Si- an dieser Stelle auch die Frage aufgreifen – diese Frage tuation – greifen Sie dieses Thema auf. spielt weniger bei uns eine Rolle als bei unserem Partner (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) Frankreich –, wie sich die Türkei bezüglich der Verfol- gung der Armenier und des Genozids an den Arme- Wir sagen ganz bewusst – ich will das deutlich he- niern verhält. Dies ist ein wichtiges Thema. Angesichts rausstreichen –: Wir wollen, dass die Türkei auf dem der Tatsache, dass sich in Kürze Vertreter der Türkei mit eingeschlagenen Weg vorangeht und den Prozess der Gruppen von Armeniern treffen werden, um über dieses Demokratisierung fortführt. Es kann von Ihnen doch in Thema zu sprechen, muss ich fragen: Was wollen wir ei- keiner Weise geleugnet werden, dass sich im politischen gentlich mehr, als dass man sich zusammensetzt und sich und im gesellschaftlichen Bereich vieles verändert hat. der historischen Verantwortung bewusst wird? Wenn Herr Müller immer davon spricht – Herr Müller beschreibt sozusagen von der Alm aus bestimmte Szena- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rien; so kennen wir ihn mittlerweile des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Ich möchte in diesem Haus für das werben – man GRÜNEN]: Nichts gegen die Alm! Da gibt es muss die betreffende Stelle im Protokoll einmal nachle- auch andere!) sen, weil sie im Beifall vielleicht untergegangen ist –, was Herr Schäuble vorhin gesagt hat. Ich habe seine Äu- – nein, nichts gegen die Alm im Allgemeinen, aber ge- ßerung so verstanden, dass auch er eine Beitrittsperspek- gen seine Alm –, was da alles noch passieren kann, dann tive sieht. Er hat nur die Schlussfolgerung gezogen, dass muss ich Sie fragen: Haben Sie nicht einmal zur Kennt- es möglicherweise eine wie auch immer ausgestaltete nis genommen, wie viele positiven Veränderungen es privilegierte Partnerschaft zwischen der Türkei und der etwa im Bereich des Strafrechts in der Türkei gegeben Europäischen Union geben kann, wenn diese Verhand- hat? lungen nicht zum Erfolg führen. Diese Haltung, den er- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gebnisoffenen Prozess mitzugestalten, unterscheidet sich (B) meines Erachtens wohltuend von den Äußerungen, die (D) Es hat in den letzten Monaten auch positive Veränderun- von der CSU verbreitet worden sind. gen hinsichtlich der Rolle der Frau und der Sanktionen bei Ehrenmorden gegeben. Herr Glos, abgesehen von Ihrem Ausrutscher und der Verleumdung in der gestrigen „Frankfurter Allgemeinen Wir sind uns doch alle darin einig, dass es in diesen Zeitung“ frage ich mich manchmal: Warum haben Sie Bereichen eine Nachhaltigkeit geben muss. Es kann denn heute nicht das Wort ergriffen und verkündet: „Ich nicht sein, dass man zu einem bestimmten Zeitpunkt ein stehe zu dem, was ich 1997 gesagt habe“? Das ist näm- Gesetz beschließt und vielleicht auch kommentiert, es lich genau die Politik, die heute von dieser Koalition auf aber nicht in die Praxis umsetzt. Ich denke, die Türkei den verschiedensten Ebenen gemacht wird. Sie aber wird daran gemessen werden. Wir setzen die Hoffnung wollen vergessen machen, was Sie vor wenigen Jahren darauf, dass es einen nachhaltigen Prozess gibt. gesagt haben. Es wäre natürlich ein Zeichen von Füh- Ich kann Ihnen auch aufgrund von Gesprächen mit rung, wenn die Fraktionsvorsitzende sagen würde: Ich türkischen Kolleginnen und Kollegen berichten – auch will, dass meine Fraktion bei diesem Thema einmütig ist mit Kolleginnen und Kollegen Ihrer vielleicht künftigen und sich zu einem solchen Prozess bekennt, wie ihn die Schwesterpartei AKP –, dass sie immer wieder betonen: Europäische Union begonnen hat. Aber dazu ist Frau Wir gestalten den Prozess in Richtung mehr Menschen- Merkel nicht in der Lage. rechte für die Menschen in unserem Land und nicht in erster Linie deswegen, um gewisse Kriterien der Europäi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schen Union zu erfüllen. Denn auch die Bürgerinnen und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bürger in der Türkei sollen Grundrechte besitzen. – Das Ich glaube, der Prozess, den die Europäische Union ist ein ganz wichtiger Fortschritt. der 25 am 17. Dezember dieses Jahres eröffnen wird, ist (Beifall bei der SPD) ein wichtiges Zeichen für die Türkei. Wir sollten, wie wir das auch bei der letzten Erweiterung um zehn Länder Ich möchte noch auf einen Bereich zu sprechen kom- getan haben, innenpolitische Ängste – diese gibt es na- men, der nicht nur bei uns, sondern auch in benachbarten türlich – und Hinweise auf Risiken ernst nehmen. Aber Ländern eine Rolle spielt. Wir verbinden mit diesem es ist Aufgabe der Politik, diese Ängste nicht noch durch Prozess eben auch die Hoffnung – das ist seit Helsinki nicht vorhandene Argumente zu verstärken, sondern klar und Kopenhagen deutlich geworden –, dass die Regie- zu sagen, was durch die Politik leistbar ist. rung der Türkei auch im Hinblick auf die Zypernfrage weiterhin eine aktive Rolle einnimmt. Dass sie das bis- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 12330 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Günter Gloser (A) Herr Müller, Sie können noch so häufig in diesem Es war versteckt; niemand wusste davon. Die Gespräche (C) Parlament von Mehrbelastungen des EU-Haushaltes in wurden aufgezeichnet. Höhe von 40 Milliarden bzw. 50 Milliarden Euro spre- chen. Eindeutig ist – das wird immer wieder gefordert –, (Peter Dreßen [SPD]: Das ist sehr dass sich die finanzielle Vorausschau der Europäischen fragwürdig!) Union für die Zeit nach 2006 verändern wird, dass die Als der Beitrag darüber 2003 im dänischen Fernsehen Sachpolitiken, zum Beispiel die Landwirtschafts- und lief, war die Aufregung groß. Denn in dieser Fernsehsen- die Strukturpolitik, überprüft und andere Schwerpunkte dung fragt der dänische Außenminister Møller seinen gesetzt werden müssen. Die Zahlen, die vorhin von der Chef Rasmussen: Habe ich dir schon gesagt, dass CDU/CSU genannt worden sind, werden dann nicht zu- innerhalb von zwölf Stunden zum treffen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Thema Türkei/EU drei verschiedene Meinungen verkün- Sicherlich müssen wir auch unseren türkischen det hat? Freunden sagen – denn Sie schüren hier Zuwanderungs- (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört! – angst –: Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Michael Glos [CDU/CSU]: Das schürt doch Das meint Herr Møller!) Helmut Schmidt!) Weiter erfuhr die Öffentlichkeit, dass Fischer – jeden- falls zeitweise – die Auffassung vertreten habe, dass un- Ihr müsst die Binnenwanderung im eigenen Land in den bedingt die eine oder andere Form der Angliederung un- Griff bekommen und genauso, wie wir es getan haben, terhalb der EU-Mitgliedschaft – wir nennen das bestimmte Regionen, die heute unterentwickelt sind, för- privilegierte Partnerschaft – gefunden werden müsse. dern, damit die Wanderung innerhalb der Türkei nicht nur in Richtung Westen, nach Ankara und Istanbul, von- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: So ist statten geht. Das ist eine wichtige Aufgabe. Dem ist das!) nicht mit Drohszenarien, Verleumdungen, Unwahrheiten und Unterstellungen zu begegnen, sondern mit Informa- Herr Fischer, wenn wir heute eine privilegierte Part- tion und Aufklärung. Dazu wollen die SPD und die Ko- nerschaft verkünden, Sie aber ausweislich des Mikro- alition auf jeden Fall ihren entscheidenden Beitrag leis- fons ten. (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Michael Glos [CDU/CSU]: Aber Sie sind Das ist doch gar nicht wahr, was Sie hier er- dazu ungeeignet!) zählen! Das ist kein Nachweis! Das Mikro war (B) doch bei Herrn Møller und nicht bei Herrn (D) – Sie, Herr Glos, haben nur eines im Sinn: zu vernebeln. Fischer angebracht!) Das liegt Ihnen besonders. diese Aussagen damals gemacht haben, dann kann das, Danke. was wir heute in dieser Debatte vertreten, nicht so ganz dumm sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, es ist doch eindeutig – da- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: rüber besteht nirgendwo im Haus Streit; wir sollten ge- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Friedbert Pflüger. genüber der Türkei auch nicht so tun, als gäbe es darüber (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Streit –: Wir alle wollen, dass die Türkei unser Freund Zuruf von der SPD: Der hat ja noch gar nichts und Partner ist. Wir alle würdigen, was sie für uns in der gesagt!) Zeit des Kalten Krieges, aber auch jetzt bei der Stabili- sierung des Südostens von Europa geleistet hat. Wir alle wollen und müssen hier mit den Türken friedlich zusam- Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): menleben. Sie bereichern uns auf vielfältige Weise. Wir Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir wis- wollen nicht polarisieren, sen vom dänischen Ministerpräsidenten Rasmussen, dass auch Joschka Fischer lange Zeit gegen eine türki- (Lachen bei der SPD) sche Vollmitgliedschaft in der EU war. wir wollen die Türkei nicht wegstoßen, sondern wir wol- (Peter Dreßen [SPD]: Das halte ich für ein len sie im Gegenteil an uns, an Europa, anbinden, weil Gerücht!) die geopolitische Stabilität, die von einer solchen Anbin- dung ausgeht, für uns alle wichtig ist. Darüber besteht in Ohne die übrigen EU-Partner zu informieren, hatte diesem Hause Einigkeit. Versuchen Sie nicht, hier einen Rasmussen während der dänischen Präsidentschaft im künstlichen Streit über Dinge vom Zaun zu brechen, bei zweiten Halbjahr 2002 einem Fernsehteam erlaubt, bei denen wir alle einer Meinung sind! Diesen Eindruck der allen Gelegenheiten zu filmen. Fast immer trug er ein Türkei zu vermitteln ist eine falsche Politik. kleines Mikrofon an seinem Revers. (Beifall bei der CDU/CSU – Krista Sager (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Hört! [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das schaffen Hört!) Sie schon alleine!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12331

Dr. Friedbert Pflüger (A) Wir alle wollen freundschaftliche Beziehungen mit wicht haben wollen. Tun wir dies? Wir tun es schon jetzt (C) der Türkei. Die Frage ist nur, ob es der Maßstab einer kaum. ehrlichen Freundschaft ist, (Jörg Tauss [SPD]: Mit „wir“ meinen Sie die (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Union!) Dass man ehrlich ist, ja!) Schon jetzt gibt es in der EU überall Desintegrations- dass man möglichst bald für Verhandlungen über eine und Überdehnungstendenzen. Der Stabilitätspakt wird Vollmitgliedschaft der Türkei eintritt. Dies scheint mir nicht mehr eingehalten. Es ist fraglich, ob wir den Ver- nicht der Fall zu sein. Vielmehr heißt der Maßstab, ob fassungsvertrag in Europa unter Dach und Fach bekom- man der Türkei ehrliche, überschaubare und präzise An- men. So vieles ist inzwischen in der EU fragil geworden! gebote für die nächsten Jahre macht. Jetzt anzubieten, Wir haben noch überhaupt keine Erfahrungswerte, wie dass man verhandelt und abwartet, wie es in 15 Jahren sich die Aufnahme der zehn neuen Länder auf den Inte- aussehen wird, ist keine faire Politik gegenüber der Tür- grationsprozess auswirkt. kei. Dann werden nämlich 15 Jahre lang Erwartungen aufgebaut. (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die werden wir in 15 Jahren aber haben!) (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch die ganze Zeit Erwartungen In einer so unklaren Situation nicht einem Land wie aufgebaut! – Claudia Roth [Augsburg] Litauen oder Luxemburg, sondern einem riesigen, stolzen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist der Land wie der Türkei ein immerhin sehr weit reichendes Status quo!) Angebot zu machen scheint mir eine nicht verantwort- bare Politik und ein schwerer Fehler zu sein. Anschließend gibt es in Frankreich ein Referendum und die ganze Sache stürzt ab. (Günter Gloser [SPD]: Als ob nicht auch Luxemburg stolz ist!) Wir haben demgegenüber ein Modell entwickelt, das neben dem Scheitern und der von Ihnen angestrebten Wahrscheinlich helfen Sie damit Herrn Erdogan in Vollmitgliedschaft auch das Angebot einer privilegierten den nächsten ein, zwei Jahren. Es ist ein gutes Motiv, Partnerschaft enthält. Warum nehmen Sie dieses Modell ihm bei seinem Reformprozess zu helfen. Aber wir ha- nicht an? Nur, weil es von der CDU/CSU kommt? ben die Sorge, dass sich die Türken langfristig enttäuscht fühlen werden – spätestens nach dem französischen Re- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE ferendum – und wir damit islamistischen Tendenzen in GRÜNEN]: Weil Sie von Anfang an sagen: Ihr der Türkei Vorschub leisten werden. Der gesamte gut ge- könnt euch noch so anstrengen, ihr habt keine (B) meinte Prozess würde kontraproduktiv, wenn die Isla- (D) Chance!) misten in der Türkei gestärkt und nicht geschwächt wer- Inzwischen wird doch in ganz Europa darüber diskutiert. den sollten. Die gesamte französische Nationalversammlung ist da- (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: für. Schreiben Sie diesen Vorschlag doch in das Papier Sie stärken die doch jetzt schon!) hinein und machen Sie ihn sich zu Eigen. Sie wollen mit dem Prozess der Integration in die EU (Beifall bei der CDU/CSU) den Reformprozess in der Türkei stabilisieren. Das ist Es ist wichtig, dass wir die Türkei nicht irgendwann für sich genommen ein gutes Argument, natürlich wol- scheitern lassen. Vielmehr müssen wir sie auffangen. len wir das alle. Ist es aber auch ein ausreichendes Argu- Dafür brauchen wir Institutionen. Hierfür ist der Ge- ment für die Vollmitgliedschaft? Müssen wir nicht auch danke der privilegierten Partnerschaft genau der richtige. an unsere Interessen und an die Handlungsfähigkeit der Warum sind denn die französischen Sozialisten dafür? Union denken? Haben Sie vielleicht einmal darüber Warum können nicht auch Sie dafür sein? Diese Politik, nachgedacht, ob der Integrationsprozess auch dazu füh- die Türkei nicht ins Leere stürzen zu lassen, wird viel- ren kann, Destabilisierungstendenzen in der Türkei zu leicht einmal sehr wichtig sein, wenn wir nicht wollen, fördern? dass sie sich den Islamisten zu- und von Europa abwen- Ich habe bei meinem Besuch in der Türkei im Mai det. Daher sollten Sie die privilegierte Partnerschaft in auch mit Islamisten gesprochen. den Beschluss des Rates hineinschreiben. (Jörg Tauss [SPD]: Nein! Unglaublich!) Meine Damen und Herren, nicht nur wir von der Union stellen kritische Fragen im Hinblick auf den bal- Die Islamisten in der Türkei haben sehr klar gesagt: Wir digen Verhandlungsbeginn. Giscard, Egon Bahr, Helmut wollen alle, dass die Türkei in die EU kommt, damit wir Schmidt, Hänsch sowie aus Ihrer Fraktion Klose und endlich den Kemalismus und das Kopftuchverbot in der Meckel haben völlig legitime und wichtige Fragen ge- Türkei überwinden können. Herr Gül, der Außenminis- stellt: Überfordern wir die EU mit dem, was wir hier ter, verkündet das im türkischen Fernsehen und führt tun? Wolfgang Schäuble, Peter Hintze und Gerd Müller aus: Wenn wir Verhandlungen mit der EU führen, kann haben dies vorhin schon zum Ausdruck gebracht. uns niemand mehr eine islamistische Partei in der Türkei verbieten. Die EU muss in der globalisierten Welt handlungsfä- hig sein. Wir wollen und müssen doch mit einer Stimme Das heißt, es könnte – natürlich ungewollt – umge- sprechen, wenn wir in der internationalen Politik Ge- kehrt ablaufen. Der EU-Integrationsprozess könnte in 12332 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Dr. Friedbert Pflüger (A) der Türkei Auswirkungen haben, die wir nicht wollen, er Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) könnte den alten Laizismus in der Türkei, die Trennung Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und von Staat und Religion, erst infrage stellen. Deswegen, Herren! Wir, SPD und Grüne, haben in den 80er- und glaube ich, ist es völlig legitim, dass wir besorgte und 90er-Jahren alles daran gesetzt, die Regierung Helmut kritische Fragen an Sie richten und nicht einfach sagen: Kohl abzulösen. Wir wollten Helmut Kohl ablösen, weil Wir sind gute Menschen, wir wollen die Türkei und wir er reformunfähig war, wollen Stabilität, deswegen nehmen wir sie auf. Wir müssen sehr vorsichtig und verantwortungsvoll mit die- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ser äußerst wichtigen Sache umgehen. SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (Jörg Tauss [SPD]: Machen Sie es mal!) weil er Probleme ausgesessen hat und weil er eine rie- sige Staatsverschuldung aufgehäuft hat. Das tut meine Fraktion und ich denke, das ist eine Auf- gabe für uns alle in diesem Parlament. (Peter Hintze [CDU/CSU]: Davon musst du reden! Das war ein Eigentor!) Die Türkei ist unser Freund; daran wird nicht gerüt- telt. Deshalb sollten Sie in Ihrem eigenen Interesse oder Wir freuen uns darüber, dass wir dies 1998 geschafft ha- in dem Interesse, das Sie zu haben vorgeben, ben. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN GRÜNEN]: Haben wir es oder geben wir es und bei der SPD) vor?) Wir haben trotz der Fehler, die Helmut Kohl aus unse- nicht die Mär verbreiten, dass wir irgendjemanden weg- rer Sicht gemacht hat – die Ablösung der Regierung stoßen und in Europa nicht dabeihaben wollen. Kohl war historisch überfällig –, eines immer anerkannt: Er war ein großer Europäer. (Jörg Tauss [SPD]: Unterschriftensammlung!) Das ist Unsinn, dagegen verwahren wir uns. Wir wollen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine stabile, gute und europaorientierte Türkei. Deswe- und bei der SPD) gen machen wir das Angebot der privilegierten Partner- Wir haben die Leistungen Helmut Kohls für Europa als schaft. historische Leistungen anerkannt. Die Türkeipolitik, (Peter Dreßen [SPD]: Warum werden dann über die wir heute sprechen, war Teil der europäischen Unterschriften gesammelt?) Politik Helmut Kohls. (B) Schreiben Sie es doch einfach hinein und tun Sie das, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (D) was die Europäische Kommission sagt. Die Europäi- SES 90/DIE GRÜNEN) sche Kommission gibt Ihnen in ihrem Bericht eine gute Deshalb reden wir heute auch über das Vermächtnis Vo r l ag e . von Helmut Kohl und ich kann die heutige Debatte nur (Jörg Tauss [SPD]: Legendenbildung!) in einem Sinne begreifen: Die CDU/CSU erbt den nega- tiven Anteil der Ära Kohl, nämlich die Reformfeindlich- Sie schreibt: Selbst wenn die Verhandlungen mit der keit, und Rot-Grün erbt den positiven Anteil, nämlich Türkei scheitern sollten, muss die Türkei in europäi- die vorwärts weisende Europapolitik. schen Strukturen aufgefangen werden. Diese Aussage kann man ebenfalls in privilegierte Partnerschaft über- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzen. Die Türkei muss aufgefangen werden. Tun wir und bei der SPD) das doch! Bereiten wir das jetzt schon für den Fall des Dies ist eine der Lehren dieser Debatte. Scheiterns vor, sodass wir in diesem Fall ein eigenes Modell haben. In diesem Sinne bitten wir Sie herzlich Ich frage mich, warum es jetzt zu diesem Kurswech- darum, nicht zu polarisieren, sel innerhalb der Union kommt. Er ist angesichts der In- (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tensität, mit der die Union 40 Jahre lang die richtige Po- DIE GRÜNEN – Claudia Roth [Augsburg] litik betrieben hat, eigentlich gar nicht zu begreifen. Ich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das richtet kann mir das nur psychologisch erklären, sich an die rechte Seite des Hauses!) (Jörg Tauss [SPD]: Tiefenpsychologisch!) sondern ganz vernünftig und sachlich das Thema zu be- nämlich in dem Sinne, dass der Übervater in jeder Hin- raten. sicht in den Hintergrund gedrängt werden und man sich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg damit auch krampfhaft von den Politiken absetzen muss, Tauss [SPD]: Biedermann und Brandstifter! – die eigentlich richtig gewesen sind. Warum geben Sie Gegenruf des Abg. Michael Glos [CDU/CSU]: das positive historische Vermächtnis von Helmut Kohl Das verdient einen Ordnungsruf, Frau Präsi- preis und betreiben diese – letztlich auch innenpolitisch dentin!) motivierte – Politik gegen die Türkei? Das ist völlig un- verständlich. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludger Volmer. sowie bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12333

Dr. Ludger Volmer (A) Sie geben sie preis unter dem Scheinargument, mehr Op- Wenn wir die Türkei heute brüskieren, wie die Union (C) tionen und mehr Verhandlungsoffenheit haben zu wol- das mit ihrem Nein machen will, treiben wir sie ins Nie- len. mandsland. Wir Rot-Grünen werden verhindern, dass die Ängste, die hier geschürt werden, dazu führen, dass Es mag ja sein – wir wissen um die Risiken des man die Chancen aus dem Auge verliert. Wir finden, ge- Verhandlungsprozesses –, dass sich zu irgendeinem Zeit- rade angesichts des internationalen Terrorismus ist es punkt herausstellt, dass es nicht geht. Dann sind viel- höchste Zeit, dass wir die Chancen ergreifen, die zum leicht Notlösungen gefragt. Wenn man aber bereits heute Dialog der Kulturen wirklich bestehen. Das ist der Fall über Notlösungen und Trostpreise redet, ist das nichts und dafür setzt sich Rot-Grün ein. anderes, als dass man eine sich selbst erfüllende Prophe- zeiung in Gang setzt, und zwar mit dem heimlichen Wil- Danke. len, dass die Verhandlungen scheitern. Ich unterstelle Ih- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nen: Sie wollen, dass der Verhandlungsprozess scheitert. und bei der SPD) Deshalb reden Sie sein Scheitern heute herbei. Deshalb reden Sie heute über Notlösungen und Trostpreise und Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tun so, als seien dies positive Perspektiven. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Hoyer für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die FDP-Fraktion. sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Werner Hoyer (FDP): Wir werden uns dieser sich selbst erfüllenden Prophe- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zeiung entgegenstellen. Wir sind für einen hinsichtlich Ich möchte, da wir schon die Gelegenheit haben, einige des Ergebnisses festgelegten Prozess. Wir wollen, dass Minuten länger darüber zu diskutieren, auf einige Punkte die Türkei Mitglied der Europäischen Union wird. Wir eingehen, die in dieser Debatte eine Rolle gespielt ha- wissen aber um all die Risiken. Darüber braucht uns nie- ben. Es ist über die Beitritt- und Aufnahmefähigkeit ge- mand zu belehren. Gerade wir Grünen haben uns mit der sprochen worden. Wer würde behaupten wollen, dass die Menschenrechtslage in der Türkei in den letzten Türkei heute beitrittsfähig wäre? Das ist weder unter 20 Jahren, seit wir im Bundestag sind, sehr intensiv und politischen noch unter wirtschaftlichen Kriterien der kritisch auseinander gesetzt. Wir haben aber auch ge- Fall. lernt: Es bringt nichts, ein solches Land in die Isolation zu treiben. Betrachten wir die letzte Erweiterungsrunde, als zehn Länder der Europäischen Union beitraten, und seien wir (B) Es ist das Ergebnis einer integrativen Außenpolitik, ehrlich: Waren wir uns, aus heutiger Perspektive, zu Be- (D) dass die Türkei dabei ist, sich mit außerordentlich be- ginn der Verhandlungen immer sicher, dass die Beitritts- merkenswerten Schritten in Richtung Demokratie zu kandidaten alle politischen und wirtschaftlichen Krite- entwickeln. Diese Tendenz wollen wir weiter unterstüt- rien erfüllen? Die wirtschaftlichen Kriterien waren zen. Wir wollen dies auch im Hinblick auf Sicherheitsin- sowieso nicht immer erfüllt, die politischen allerdings teressen, die nach dem 11. September 2001 stärker ge- auch nicht immer. worden sind. Dies ist nicht das prioritäre Motiv für den Zur Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union Beitritt der Türkei; aber es ist eine zusätzliche Motiva- – auf dieses Kriterium hat auch mein Kollege tion. Wir können doch nicht über die desaströse Lage im Westerwelle aufmerksam gemacht – ist zu sagen, dass Irak, über die Gefährdungen, die vom Iran ausgehen, die Europäische Union heute insbesondere aus zwei über den immer noch ungelösten Nahostkonflikt reden, Gründen zweifellos nicht aufnahmefähig ist: Erstens. ohne uns Gedanken darüber zu machen, ob nicht die Eu- Wir arbeiten noch immer auf der Basis des Vertrages von ropäische Union endlich eine dritte Dimension, eine Nizza. Auf dieser Basis ist eine Mitgliedschaft der Tür- strategische Dimension braucht, die sie in die Lage ver- kei eindeutig nicht möglich. Deswegen – nicht nur, aber setzt, als strategisch handelnder Akteur Einfluss auf auch deswegen – brauchen wir die Verfassung. Zwei- diese Regionalkonflikte zu nehmen. Wenn man über tens. Ohne eine Reform der Europäischen Union an diese dritte Dimension der europäischen Politik nach- Haupt und Gliedern, insbesondere hinsichtlich der Ge- denkt, über die strategische Dimension, begreift man so- meinschaftspolitiken, ist die Europäische Union nicht fort, dass der Türkei dabei eine Schlüsselrolle zukommt. aufnahmefähig. Deshalb gehört es zu den Schlüsselprojekten auch der (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Michael deutschen Sicherheitspolitik, die Türkei so weit in den Glos [CDU/CSU]) europäischen Kontext bis hin zur Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union zu integrieren, dass sie ihre Daher müssen wir diese Reform der Europäischen Union mit Engagement, Kraft und Ambition angehen. Scharnierfunktion, nämlich ein laizistischer, gleichwohl islamisch geprägter Staat und eine entsprechende Gesell- Meine Damen und Herren, wenn man Beitrittsver- schaft zu sein, zwischen dem so genannten Westen und handlungen aufnimmt, muss man ehrlich sein. Wenn die der arabisch-islamischen Welt wahrnehmen kann. Eine Bedingungen, die man selbst stellt, erfüllt sind, und Türkei an unserer Seite, eine Türkei eng verzahnt mit wenn die Verhandlungskapitel erfolgreich abgeschlossen uns, hat für uns unschätzbare sicherheitspolitische Vor- werden können – es mag viel Skepsis geben, ob das gelin- teile. gen wird –, dann darf man nicht die mentale Reservation 12334 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Dr. Werner Hoyer (A) haben, dass man den Beitritt trotzdem nicht will. Aus (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) diesem Grunde heißen die Verhandlungen Beitrittsver- der SPD und des Abg. [CDU/ handlungen und nicht etwa Sondierungsverhandlungen CSU]) über die zukünftige Zusammenarbeit. Ich glaube, wir müssen unseren türkischen Freunden (Beifall des Abg. [SPD]) klar machen, dass sie, wenn sie Mitglied der Europäi- schen Union werden, wenn also alle Bedingungen erfüllt Jetzt ist es entscheidend, wie das Verhandlungsman- sind und wenn wir glauben, einen Beitritt der Türkei ver- dat ausgestaltet wird. Ich hätte mir gewünscht, die Bun- antworten zu können, Mitglied in einem Prozess sind, desregierung könnte uns dazu schon etwas mehr sagen, der seit den Römischen Verträgen als „ever closer union“ denn das Verhandlungsmandat wird diesen Prozess in beschrieben wird. Wir wollen nicht, dass dieser Prozess den nächsten 15 Jahren bestimmen. Wir werden uns da- aufgrund der Aufnahme eines einzelnen Mitglieds ab- ran orientieren müssen, wenn wir diesen Prozess beglei- bricht. Diese Erwartung sollten wir gegenüber unseren ten. türkischen Freunden, mit denen wir ergebnisoffen ver- In diesem Zusammenhang sind mir folgende Aspekte handeln sollten, klar zum Ausdruck bringen, damit es wichtig: Es müssen einige Bedingungen erfüllt sein, die nicht eines Tages auf der türkischen Seite unangenehme selbst dann relevant sind, wenn alle Verhandlungskapitel Überraschungen gibt. abgeschlossen sind. Die Themen Verfassung und Ge- Herzlichen Dank. meinschaftspolitiken habe ich bereits genannt. Aus- drücklich nenne ich auch das Thema Zypern; denn es ist (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten völlig undenkbar, dass ein Land Mitglied der Europäi- der SPD) schen Union wird, das in einem anderen Mitgliedsland gegen dessen Willen militärisch präsent ist. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Damit schließe ich die Aussprache. der SPD und der CDU/CSU) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Ich glaube, in diesem Punkt sind wir uns völlig einig. Drucksache 15/3949 an die in der Tagesordnung aufge- Das müssen die Türken wissen. Die Türkei kann sich führten Ausschüsse vorgeschlagen. Interfraktionell wird noch so demokratisch und marktwirtschaftlich entwi- auch Überweisung der Vorlagen auf den Druck- ckeln, aber solange sie die völkerrechtswidrige Beset- sachen 15/4031 und 15/4064 an dieselben Ausschüsse zung Nordzyperns nicht aufgibt, wird es keinen Beitritt wie bei Tagesordnungspunkt 4 a vorgeschlagen. Sind Sie zur Europäischen Union geben. mit diesen Überweisungen einverstanden? – Das ist der (B) Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. (D) (Peter Hintze [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 n sowie Zusätzlich zur Erfüllung dieser Bedingungen brau- die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf: chen wir einen Prozess des Monitoring. Mir reichen die 27 a) Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortschrittsberichte der Kommission, die eher ein Routi- neprozess sind, nicht aus. Das hat nichts mit ungleicher Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deut- Behandlung zu tun; denn der Gleichheitsgrundsatz be- scher Streitkräfte bei der Unterstützung der sagt, dass Ungleiches auch ungleich behandelt werden gemeinsamen Reaktion auf terroristische An- muss. Ich wünsche mir, dass das Europäische Parlament griffe gegen die USA auf Grundlage des und die Parlamente der Mitgliedstaaten in einen solchen Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen Monitoringprozess einbezogen werden, damit wir am und des Art. 5 des Nordatlantikvertrags sowie Ende der Verhandlungen nicht plötzlich vor unangeneh- der Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001) men Überraschungen stehen. des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen Lassen Sie mich noch etwas zur Ergebnisoffenheit – Drucksache 15/4032 – sagen. Auf die Türkei kommen, wie auf jeden Beitritts- Überweisungsvorschlag: kandidaten, erhebliche Herausforderungen zu. Diese He- Auswärtiger Ausschuss (f) rausforderungen sind auch dann noch vorhanden, wenn Rechtsausschuss man eines Tages Mitglied der Europäischen Union ist. Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ich glaube, darauf müssen wir die Beitrittsländer besser Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und vorbereiten. Das ist auch beim Beitritt der letzten zehn Entwicklung neuen Mitgliedstaaten nicht immer gut gelungen; das ha- Haushaltsausschuss ben wir im letzten Jahr, als es um die Verfassung ging, gemäß § 96 GO gemerkt. b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Meine Damen und Herren, die Europäische Union de- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- finiert sich nicht als ein Endzustand, in den man eintritt, rung von wegerechtlichen Vorschriften sondern als ein Prozess, der weitergeht. Ein neues Mit- – Drucksache 15/3982 – gliedsland darf sich selbst daher nicht als Garantie zur Überweisungsvorschlag: Blockade der Vertiefung der Integration in der Europäi- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) schen Union verstehen. Rechtsausschuss Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12335

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten die Förderung und den gegenseitigen Schutz (C) Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ge- von Kapitalanlagen setzes über das Wohnungseigentum und das Dauerwohnrecht – Drucksache 15/3884 – Überweisungsvorschlag: – Drucksache 15/3423 – Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Auswärtiger Ausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) i) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Rechtsausschuss gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Än- d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- derungs- und Ergänzungsprotokoll vom gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Än- 14. Mai 2003 zwischen der Bundesrepublik derungsurkunden vom 18. Oktober 2002 zur Deutschland und der Republik Polen zu dem Konstitution und zur Konvention der Interna- Vertrag vom 10. November 1989 zwischen der tionalen Fernmeldeunion vom 22. Dezember Bundesrepublik Deutschland und der Volksre- 1992 publik Polen über die Förderung und den ge- genseitigen Schutz von Kapitalanlagen – Drucksache 15/3879 – – Drucksache 15/3885 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Auswärtiger Ausschuss gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- j) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- kommen vom 30. September 2003 zwischen gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- der Regierung der Bundesrepublik Deutsch- trag vom 27. März 2003 zwischen der Bundes- land und der Regierung der Republik Bulga- republik Deutschland und der Republik rien über die Zusammenarbeit bei der Be- Tadschikistan über die Förderung und den ge- kämpfung der organisierten und der schweren genseitigen Schutz von Kapitalanlagen Kriminalität – Drucksache 15/3886 – – Drucksache 15/3880 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss (f) (B) Rechtsausschuss k) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (D) f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- derung des Ehe- und Lebenspartnerschafts- kommen vom 14. Mai 2003 zwischen der Bun- namensrechts desrepublik Deutschland und der Republik – Drucksache 15/3979 – Indonesien über die Förderung und den ge- Überweisungsvorschlag: genseitigen Schutz von Kapitalanlagen Rechtsausschuss (f) Innenausschuss – Drucksache 15/3882 – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag: l) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Auswärtiger Ausschuss gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum inter- nationalen Familienrecht g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Än- – Drucksache 15/3981 – derungsprotokoll vom 26. August 2003 zu dem Überweisungsvorschlag: Vertrag vom 28. Februar 1994 zwischen der Rechtsausschuss (f) Bundesrepublik Deutschland und der Repu- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend blik Moldau über die Förderung und den ge- m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther genseitigen Schutz von Kapitalanlagen Friedrich Nolting, Helga Daub, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP – Drucksache 15/3883 – Angleichung der Ost-Besoldung an West- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) niveau Auswärtiger Ausschuss – Drucksache 15/589 – h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Überweisungsvorschlag: gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Innenausschuss (f) kommen vom 10. Juli 2000 zwischen der Re- Verteidigungsausschuss gierung der Bundesrepublik Deutschland und Haushaltsausschuss der Palästinensischen Befreiungsorganisation n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- zugunsten der Palästinensischen Behörde über Michael Goldmann, Daniel Bahr (Münster), 12336 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Horst Friedrich (Bayreuth), weiterer Abgeordne- scher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsa- (C) ter und der Fraktion der FDP men Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA vorzulegen; die Präsidentin hat es ja schon vorgetragen. Bessere Möglichkeiten im Kampf gegen Trun- Wir, die PDS im Bundestag, beantragen eine Debatte kenheitsfahrten in der Seeschifffahrt schaffen über die Verlängerung dieses Mandats. – Drucksache 15/3725 – Ich gehe davon aus, dass gestern im Bundeskabinett Überweisungsvorschlag: eine sehr gründliche und ausführliche Debatte über diese Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Angelegenheit stattgefunden hat. Allerdings war diese Innenausschuss Rechtsausschuss Debatte nicht öffentlich. Ich denke, es ist die Pflicht des Deutschen Bundestages, diese Debatte auch hier, vor der ZP 2a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Öffentlichkeit der Bundesrepublik, zu führen; denn es gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem geht schließlich darum, Menschen in sehr gefährliche Si- Dritten Zusatzprotokoll vom 4. Juni 2004 zum tuationen zu schicken mit einem Auftrag, dessen Ende Abkommen vom 16. Juni 1959 zwischen der nicht abzusehen ist. Bundesrepublik Deutschland und dem König- reich der Niederlande zur Vermeidung der (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen Erinnern Sie sich bitte mit mir gemeinsam: Als im sowie verschiedener sonstiger Steuern und zur Jahr 2001 auf Antrag der Bundesregierung zum ersten Regelung anderer Fragen auf steuerlichem Mal über den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen des Gebiete Mandates, das jetzt verlängert werden soll, abgestimmt wurde, gab es eine breite öffentliche Debatte in Funk, – Drucksache 15/4026 – Fernsehen und vor allen Dingen selbstverständlich im Überweisungsvorschlag: Deutschen Bundestag, in den Fraktionen. In der SPD- Finanzausschuss Fraktion gab es Widerstände. Der Bundeskanzler, Gerhard Schröder, sah sich gezwungen, diese Abstim- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe mung sogar mit einer Vertrauensfrage zu verbinden. Küster, Dirk Manzewski, Jörg Tauss, weiterer Nach Meinung der PDS im Bundestag ist es erforderlich, Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie über die Mandatsverlängerung wiederum öffentlich zu der Abgeordneten Grietje Bettin, Jerzy Montag, debattieren, damit sich in dieser Angelegenheit keine Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und Abstimmungsroutine einschleicht. der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- (B) NEN (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) (D) Wettbewerb und Innovationsdynamik im Soft- Nun werden vielleicht einige Kolleginnen und Kolle- warebereich sichern – Patentierung von Com- gen einwenden, dass der Bundesminister der Verteidi- puterprogrammen effektiv begrenzen gung, Herr Dr. Peter Struck, gestern im Rahmen der Re- gierungsbefragung über die Kabinettsitzung berichtet – Drucksache 15/4034 – habe. Ich denke, zumindest diejenigen, die sich an der Überweisungsvorschlag: Sitzung gestern beteiligt haben, werden mir aber zustim- Rechtsausschuss (f) men können, dass die Fragen und die spärlichen Antwor- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Bildung, Forschung und ten darauf gerade die Notwendigkeit einer öffentlichen Technikfolgenabschätzung Debatte deutlich gemacht haben. Insbesondere die Kol- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union legen von der CDU/CSU, die ja zahlreiche Fragen hat- Ausschuss für Kultur und Medien ten, müssten unserem Antrag auf Debatte zustimmen. Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) ten Verfahren ohne Debatte. Übrigens: Selbst die Fragerunde gestern blieb der Öf- Die Kolleginnen Petra Pau und Dr. Gesine Lötzsch fentlichkeit weitgehend verborgen. Sie wurde wegen der haben zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortset- Unstimmigkeiten in Brüssel nicht auf Phoenix übertra- zung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte gen – das nur nebenbei, sozusagen als Klammerbemer- bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf kung. Ich bitte Sie also herzlich: Stimmen Sie unserem terroristische Angriffe gegen die USA auf Druck- Antrag auf Durchführung einer Debatte zu, damit sich sache 15/4032 gemäß § 80 Abs. 4 der Geschäftsordnung bezüglich der Einsätze der Bundeswehr im Ausland beantragt, vor der Ausschussüberweisung eine Ausspra- keine Abstimmungsroutine einschleicht! che durchzuführen. Zu diesem Antrag erteile ich der Ab- geordneten Dr. Gesine Lötzsch das Wort. Vielen Dank. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat gestern in ihrer Kabi- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nettsitzung beschlossen, dem Bundestag einen Antrag Zur Antwort auf diese Antragstellung erteile ich dem über die Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deut- Abgeordneten Gert Weisskirchen das Wort. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12337

(A) Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): mit in zweiter Beratung einstimmig angenommen (C) Frau Präsidentin! Liebe Kollegin, Sie haben gestern worden. an der Fragestunde teilgenommen und mit dem Verteidi- gungsminister diskutiert. Im Namen des Hauses kann ich Dritte Beratung sagen: Natürlich werden wir eine solche Debatte führen, und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn und zwar in der übernächsten Sitzungswoche, auch im Sie dem Gesetzentwurf in der dritten Beratung zustim- Ausschuss. Wir laden noch einmal ausdrücklich dazu men wollen. – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltun- ein. Sie haben für Ihre Gruppe im Ausschuss teilnehmen gen? – Der Gesetzentwurf ist damit auch in dritter Bera- können. Ich bin überzeugt: Wenn Sie es möchten, wer- tung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen den wir Sie sicher im Auswärtigen Ausschuss und auch worden. im Verteidigungsausschuss anhören. Hier findet also nichts im Geheimen statt und es gibt keinen Schleier, der Tagesordnungspunkt 28 b: vor Enduring Freedom gezogen wird. Wir werden diese Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Debatte führen, aber nicht heute. Darauf haben wir uns von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs verständigt. eines Gesetzes zu dem Beschluss der im Rat (Beifall bei der SPD) der Europäischen Union vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 28. April 2004 betreffend die Vorrechte und Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Immunitäten von ATHENA Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Dann kommen wir zur Abstimmung über den Antrag – Drucksache 15/3787 – auf Aussprache. Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – (Erste Beratung 129. Sitzung) Gibt es Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der Abgeordne- Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti- ten Petra Pau und Dr. Gesine Lötzsch abgelehnt worden. gen Ausschusses (3. Ausschuss) Somit können die Vorlagen wie interfraktionell vorge- – Drucksache 15/4058 – schlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- Berichterstattung: schüsse überwiesen werden. Sind Sie mit diesen Über- Abgeordnete Markus Meckel weisungen einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind Dr. die Überweisungen so beschlossen. Marianne Tritz (B) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 e und Dr. Rainer Stinner (D) 28 g bis 28 m auf. Es handelt sich um die Beschlussfas- Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese- Drucksache 15/4058, den Gesetzentwurf anzunehmen. hen ist. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen Tagesordnungspunkt 28 a: wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- angenommen worden. gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Vor- Tagesordnungspunkt 28 c: schriften über die grenzüberschreitende Prozess- kostenhilfe in Zivil- und Handelssachen in den Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Mitgliedstaaten (EG-Prozesskostenhilfegesetz) von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum EU-Truppenstatut vom – Drucksache 15/3281 – 17. November 2003 (Erste Beratung 114. Sitzung) – Drucksache 15/3786 – Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- (Erste Beratung 129. Sitzung) schusses (6. Ausschuss) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti- – Drucksache 15/4057 – gen Ausschusses (3. Ausschuss) Berichterstattung: – Drucksache 15/4059 – Abgeordnete Dirk Manzewski Michael Grosse-Brömer Berichterstattung: Jerzy Montag Abgeordnete Uta Zapf Rainer Funke Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg Marianne Tritz Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Dr. Rainer Stinner empfehlung auf Drucksache 15/4057, den Gesetzent- wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Druck- diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- sache 15/4059, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen- diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da- sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – 12338 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hau- sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen- (C) ses angenommen worden. stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da- mit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Tagesordnungspunkt 28 d: Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- der CDU/CSU angenommen worden. regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Verjährungsvorschriften Dritte Beratung an das Gesetz zur Modernisierung des Schuld- und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, rechts wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Ge- – Drucksache 15/3653 – genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen von SPD, (Erste Beratung 126. Sitzung) Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- schusses (6. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 28 g: – Drucksache 15/4060 – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Berichterstattung: richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) Abgeordnete Dirk Manzewski zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Michael Grosse-Brömer Jerzy Montag Entwurf Gesamthaushaltsplan der Europäi- Rainer Funke schen Gemeinschaften für das Haushaltsjahr 2005 Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/ Ratsdok. 11445/04 4060, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzu- nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in – Drucksachen 15/3779 Nr. 1.57, 15/3874 – der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- Berichterstattung: zeichen. – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Abgeordnete Bartholomäus Kalb Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ein- Dr. Heinz Köhler stimmig angenommen worden. Dritte Beratung Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich- tung durch die Bundesregierung eine Entschließung an- (B) und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung (D) Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Gibt es Ge- des Ausschusses? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen damit auch in dritter Lesung einstimmig angenommen worden. worden. Tagesordnungspunkt 28 h: Tagesordnungspunkt 28 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Wohnungswesen (14. Ausschuss) zum Ausschluss von Dienst-, Amts- und Ver- sorgungsbezügen von den Einkommensanpas- – zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Weis, sungen 2003/2004 (Anpassungsausschlussge- Siegfried Scheffler, Sören Bartol, weiterer Ab- setz) geordneter und der Fraktion der SPD, der Ab- geordneten Günter Nooke, Dirk Fischer (Ham- – Drucksachen 15/3783, 15/3985 – burg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter (Erste Beratung 129. Sitzung) und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeord- neten Franziska Eichstädt-Bohlig, Irmingard Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln), weiterer schusses (4. Ausschuss) Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- – Drucksache 15/4044 – SES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordne- ten Joachim Günther (Plauen), Horst Friedrich Berichterstattung: (Bayreuth), Eberhard Otto (Godern), weiterer Abgeordnete Hans-Peter Kemper Abgeordneter und der Fraktion der FDP Planung und städtebauliche Zielvorstellun- Dr. gen des Bundes für den Bereich beiderseits der Spree zwischen Marschallbrücke und Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Weidendammer Brücke vorlegen empfehlung auf Drucksache 15/4044, den Gesetzent- wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte – zu dem Antrag der Abgeordneten Günter diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- Nooke, Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12339

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Oswald, weiterer Abgeordneter und der Frak- Wer stimmt dafür? – Gibt es Gegenstimmen? – Ent- (C) tion der CDU/CSU haltungen? – Die Sammelübersicht 155 ist einstimmig angenommen worden. Planung und städtebauliche Zielvorstellun- gen des Bundes für den Bereich beiderseits Tagesordnungspunkt 28 l: der Spree zwischen Marschallbrücke und Weidendammer Brücke vorlegen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksachen 15/2981, 15/2157, 15/3939 – Sammelübersicht 156 zu Petitionen Berichterstattung: Abgeordnete Petra Weis – Drucksache 15/3964 – Günter Nooke Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- Enthaltungen? – Die Sammelübersicht 156 ist mit den schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak- Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen tionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 15/2981 mit worden. dem Titel „Planung und städtebauliche Zielvorstellun- Tagesordnungspunkt 28 m: gen des Bundes für den Bereich beiderseits der Spree zwischen Marschallbrücke und Weidendammer Brücke Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- vorlegen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- ausschusses (2. Ausschuss) lung? – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen wor- Sammelübersicht 157 zu Petitionen den. – Drucksache 15/3965 – Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Fraktion der CDU/CSU, Drucksache 15/2157, der den gen? – Die Sammelübersicht 157 ist mit den Stimmen gleichen Titel trägt wie der Antrag, über den zuvor abge- von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die stimmt wurde, für erledigt zu erklären. Wer stimmt für Stimmen der CDU/CSU angenommen worden. diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent- haltungen? – Auch diese Beschlussempfehlung ist ein- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: stimmig angenommen worden. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (B) Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen des gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform (D) Petitionsausschusses. der beruflichen Bildung (Berufsbildungs- Tagesordnungspunkt 28 i: reformgesetz – BerBiRefG) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 15/3980 – ausschusses (2. Ausschuss) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Sammelübersicht 153 zu Petitionen Technikfolgenabschätzung (f) Innenausschuss – Drucksache 15/3961 – Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wer stimmt dafür? – Stimmt jemand dagegen? – Ent- haltungen? – Die Sammelübersicht 153 ist einstimmig b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- angenommen worden. regierung Tagesordnungspunkt 28 j: Berufsbildungsbericht 2004 Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 15/3299 – ausschusses (2. Ausschuss) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Sammelübersicht 154 zu Petitionen Technikfolgenabschätzung (f) – Drucksache 15/3962 – Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Tourismus gen? – Die Sammelübersicht 154 ist ebenfalls einstim- mig angenommen worden. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Wi- Tagesordnungspunkt 28 k: derspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst ausschusses (2. Ausschuss) für die Bundesregierung die Frau Bundesministerin Sammelübersicht 155 zu Petitionen Edelgard Bulmahn. – Drucksache 15/3963 – (Beifall bei der SPD) 12340 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

(A) Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung dungsplätze erhöht. Dafür stellt mein Haus rund 95 Mil- (C) und Forschung: lionen Euro zur Verfügung. Die Bundesministerien und Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten die Bundesbehörden werden ihre Ausbildungsleistung Herren und Damen! Heute debattieren wir die umfas- um circa 20 Prozent ausbauen. sendste Modernisierung des Berufsbildungsgesetzes seit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mehr als 30 Jahren. Wir stellen damit die berufliche Bil- DIE GRÜNEN) dung auf eine neue Grundlage, die die Berufsausbildung qualitativ verbessert und sie zukunftssicher macht. Auch die Bundesagentur für Arbeit bietet 500 Ausbil- dungsplätze mehr an. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die Bundesregierung unterstützt das neue Instrument der Einstiegsqualifizierung durch einen Zuschuss zum Eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Aufga- Lebensunterhalt der Jugendlichen und die Übernahme ben ist es, jungen Menschen eine qualifizierte Erstaus- des pauschalierten Gesamtsozialversicherungsbeitrages bildung zu ermöglichen. mit rund 270 Millionen Euro während der dreijährigen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ausbildungszeit. Darüber hinaus verdoppeln wir die För- DIE GRÜNEN) derung des Programms „STARegio“, mit dem wir regio- nale Initiativen zur Verbesserung der Ausbildungsstruk- Nur so sichern wir Jugendlichen gute Beschäfti- turen und des Angebots betrieblicher Ausbildungsplätze gungschancen und eine Teilhabe am Arbeitsleben. Eine in den besonders schwierigen Regionen unterstützen. qualifizierte Berufsausbildung ist aber auch deshalb so Dafür stellt mein Haus eine ganze Menge Mittel zur Ver- wichtig, weil sich Unternehmen nur mit gut ausgebilde- fügung. ten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im internatio- nalen Wettbewerb behaupten können. (Beifall bei der SPD) Wir müssen schon heute aufgrund der demographi- Die Kammern – hier geht es um die beiden großen schen Kerndaten davon ausgehen, dass uns in zehn bis Ausbildungsbereiche Industrie und Handel, aber auch 15 Jahren bis zu 3,5 Millionen Fachkräfte fehlen wer- um das Handwerk – haben im Vergleich zum September den, wenn wir nicht gegensteuern. Das heißt, die Ju- 2003 rund 13 200 Ausbildungsverträge mehr registriert. gendlichen, über die wir heute sprechen, spielen für den Das ist ein Plus von 3,1 Prozent. Erhalt der Innovationsfähigkeit unserer Wirtschaft eine (Jörg Tauss [SPD]: Immerhin!) ganz besonders wichtige Rolle. Das zeigt, dass der Ausbildungspakt bereits in diesem (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Jahr eine erhebliche Dynamik entfaltet hat und erste (D) DIE GRÜNEN) wichtige Erfolge erzielt werden konnten. Daher haben sich die Bundesregierung und die Wirt- (Werner Lensing [CDU/CSU]: Weil er frei- schaft im nationalen Ausbildungspakt verpflichtet, zu- willig war!) sätzliche Ausbildungsplätze für junge Menschen in Deutschland bereitzustellen und ihnen damit die Chance Ich will an dieser Stelle ausdrücklich das außerge- zu eröffnen, eine gute Ausbildung zu erhalten. wöhnliche Engagement der Wirtschaftsverbände, insbe- sondere der Kammern, und der Unternehmen sowie der Angesichts der zum 30. September dieses Jahres noch Ausbildungsverantwortlichen vor Ort anerkennen. fehlenden 31 000 Ausbildungsplätze steht der Pakt jetzt vor der entscheidenden Bewährungsprobe. Es müssen (Beifall bei der SPD und der FDP) nun alle Potenziale für die Nachvermittlung genutzt wer- Sie haben gezeigt, dass es möglich ist, einen negati- den, ven Trend umzukehren und deutlich mehr Ausbildungs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ plätze zu mobilisieren, wenn wirklich alle engagiert mit- DIE GRÜNEN) machen und an einem Strang ziehen. damit es uns bis zum Jahresende gelingt, wirklich allen (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Die Gesell- Jugendlichen ein Ausbildungsplatzangebot machen zu schaften sehen das etwas anders!) können, ihnen so eine qualifizierte Ausbildungschance Die aktuellen Probleme auf dem Ausbildungsmarkt be- zu ermöglichen. Die Wirtschaft – ich will das noch ein- deuten nicht, dass sich das System der dualen beruf- mal ausdrücklich sagen – ist auch in ihrem eigenen Inte- lichen Ausbildung überlebt hat. Ganz im Gegenteil. resse gefordert, alles dafür zu tun, damit dieses Ziel er- reicht wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das System der dualen beruflichen Bildung ist weltweit zu Recht anerkannt. Es bietet im Kern allen jungen Men- Die Bundesregierung hat ihrerseits erhebliche An- schen die Chance, eine qualifizierte Beschäftigung auf- strengungen unternommen, um die Ausbildungschancen zunehmen und damit ihr Leben selbstverantwortlich zu der Jugendlichen zu erhöhen. Speziell für die neuen gestalten. Gleichzeitig sichert das System der dualen Be- Länder haben wir gemeinsam mit den Ländern das Aus- rufsausbildung der Wirtschaft die Fachkräfte der Zu- bildungsplatzprogramm Ost 2004 auf 14 000 Ausbil- kunft und trägt damit wiederum entscheidend zur Wett- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12341

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) bewerbsfähigkeit und zum Wohlstand Deutschlands bei. Die zügige Modernisierung der Ausbildungsberufe (C) Damit das so bleibt, muss sich die duale Berufsausbil- ist ein Herzstück der Berufsbildungspolitik der Bundes- dung den neuen Herausforderungen stellen. Der Gesetz- regierung. Wir haben seit 1999 rund 160 Berufsbilder entwurf, den wir heute in erster Lesung beraten, tut ge- modernisiert bzw. neu geschaffen. Allein 2004 sind nau dieses. mehr als 30 neue Berufsbilder entstanden; im Jahr 2005 werden es 21 sein. (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Da fällt selbst dem Tauss nichts mehr ein!) Die Hälfte aller Jugendlichen wird mittlerweile in modernisierten oder neu geschaffenen Berufsbildern Ziel der Reform ist es, die Verbesserung der Ausbil- ausgebildet. Ich denke, das zeigt nachdrücklich, wie ak- dungschancen der Jugendlichen sicherzustellen sowie tuell und modern eine berufliche Ausbildung ist und wie eine hohe Qualität der beruflichen Ausbildung für alle wichtig und erfolgreich sie sowohl für Unternehmen als Jugendlichen unabhängig von ihrer sozialen oder regio- auch für Jugendliche ist. nalen Herkunft zu gewährleisten. (Beifall des Abg. Dieter Grasedieck [SPD]) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Das neue Berufsbildungsgesetz unterstützt die rasche Modernisierung durch die Verringerung der Zahl der ge- Wir geben mit diesem Gesetzentwurf keine Königs- setzlichen Beratungsgremien. Zudem wird mit einer mo- wege vor, sondern wir bauen Flexibilität aus und ver- difizierten Stufenausbildungsregelung zum Beispiel die stärken sie. Diesem Leitgedanken folgt der von uns vor- Fortsetzung einer zweijährigen Berufsausbildung in an- gelegte Entwurf. In Zukunft können die Akteure vor Ort spruchsvolleren Ausbildungsberufen ohne Zeitverlust eine stärkere Kooperation der betrieblichen und der erleichtert. Diesem Ziel dient auch die in dem Gesetz schulischen Systeme vereinbaren, um die Ausbildungs- ausdrücklich verankerte Möglichkeit, einschlägige Vor- qualität zu steigern, alle Ausbildungskapazitäten optimal qualifikationen berufsspezifisch anzurechnen. zu nutzen und damit auch strukturellen Veränderungen in der Wirtschaft besser gerecht zu werden. Wir wollen Ausbildungschancen für alle schaffen. Mit neuen Förderstrukturen und einer stufenweisen Qua- Durch die neue Kombination von betrieblicher und lifizierung in anschlussfähigen Ausbildungsangeboten schulischer Ausbildung kann sowohl ein regionaler verbessern wir aus diesem Grund gezielt die Chancen Mangel an betrieblichen Ausbildungsplätzen besser aus- auch für benachteiligte Jugendliche. geglichen werden als auch auf den in vielen Ausbil- dungsberufen steigenden Theorieanteil angemessener re- Mit der letzten Novelle haben wir bereits vor einein- agiert werden. Dies wird dadurch möglich, dass das neue halb Jahren die Möglichkeit geschaffen, Jugendlichen (B) Gesetz den Ländern die Möglichkeit eröffnet, sicherzu- mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen beispiels- (D) stellen, dass schulische Berufsausbildungszeiten in aner- weise über Praktika oder sechsmonatige Qualifikations- kannten Ausbildungsberufen genauso zählen wie be- bausteine auch unterschiedliche Einstiegswege in eine triebliche Ausbildungszeiten. erfolgreiche berufliche Ausbildung zu eröffnen. Wir ver- bessern zudem die Chancen für differenzierte Wege in (Beifall bei der SPD) der Berufsausbildung durch klarere Regelungen zur Stu- Das entspricht im Übrigen auch dem Wunsch der Lan- fenausbildung und zur Anrechnung einer zweijährigen desregierungen, und zwar unabhängig von der Parteizu- Berufsausbildung auf eine anschließende Ausbildung in gehörigkeit. Von einem Paradigmenwechsel weg von der einem Beruf mit dreijähriger Ausbildung. Inzwischen betrieblichen hin zur schulischen Ausbildung, wie es ei- gibt es vier neue Berufe mit zweijähriger Ausbildung, nige von Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren die diesem Modell bereits entsprechen. von der Opposition, gelegentlich unterstellen, kann hier Dieser von uns beschrittene Weg wird sowohl den Ju- nicht die Rede sein. gendlichen mit ihren unterschiedlichen Voraussetzun- (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Das ist die gen und Anforderungen als auch der Wirtschaft gerecht. nackte Wahrheit, keine Unterstellung!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ein solcher Paradigmenwechsel findet nicht statt. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Das neue Berufsbildungsgesetz sieht außerdem vor, dass Ausbildungsabschnitte, die im Ausland absolviert Rund 500 000 Jugendliche befinden sich in schuli- werden, zu einem integralen Bestandteil der Berufsaus- schen Berufsausbildungsmaßnahmen, davon rund bildung im dualen System werden. 200 000 in vollzeitschulischen Berufsbildungsgängen, (Beifall bei der SPD) die zu einem beruflichen Abschluss führen. Das ist die logische Konsequenz der Entwicklung Euro- Mit der Novelle des Berufsbildungsgesetzes eröffnen pas zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum. Deshalb wir den Ländern die Option, diesen Jugendlichen über müssen wir auch dafür Sorge tragen, dass die Anteile der Vereinbarungen mit den Kammern die Zulassung zur Berufsausbildung, die im Ausland absolviert werden, in Kammerprüfung zu erleichtern. Denn die Kammerprü- vollem Umfang anerkannt werden. fung ist eine wichtige Voraussetzung für einen erfolgrei- chen Berufseinstieg. Die Länder haben diese Überlegun- Ebenfalls neu ist die Möglichkeit, Zusatz- oder Auf- gen im Bundesrat ausdrücklich begrüßt. stiegsqualifikationen in Zukunft bereits während der 12342 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Erstausbildung zu erwerben. Damit eröffnen wir leis- Fast 70 Prozent aller Schulabgänger wünschen sich eine (C) tungsstarken jungen Menschen neue Perspektiven für ihr duale Ausbildung. Die Union hat – um sie zu stärken – berufliches Fortkommen und reagieren zugleich auf die im Frühjahr 2003 als erste Fraktion Eckpunkte für eine steigenden Qualifikationsanforderungen in einer globali- Modernisierung der Berufsausbildung in den Deutschen sierten Welt. Bundestag eingebracht. Wir haben im März dieses Jah- res eine entsprechende Gesetzesnovelle nachgereicht. Die Neuerungen im Bereich des Prüfungswesens Ich begrüße, dass Sie heute nachkommen. ermöglichen nunmehr die Durchführung von Abschluss- prüfungen in zwei Teilen. Prüfungsleistungen aus der (Jörg Tauss [SPD]: Na ja!) Berufsschule können in die Bewertung der Prüfung mit Über das Thema können wir sicherlich streitig disku- einfließen. tieren, aber Sie haben ein halbes Jahr durch die unsin- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nige Debatte über eine Ausbildungsplatzabgabe vertan. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- Die neu gestaltete Erprobungsklausel eröffnet außerdem ten der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Umlage!) Wege, Ausbildungsberufe an aktuelle Entwicklungen zü- – Was Sie umlegen wollen, müssen Sie den Betrieben giger anzupassen. erst einmal abnehmen. Deshalb handelt es sich um eine Das neue Berufsbildungsgesetz knüpft an die bewähr- Abgabe. ten Strukturen des Berufsbildungsgesetzes von 1969 an. Die Zeit, die Sie vertan haben, hätten wir mit einer Es integriert aber auch die neuen und modernen Erkennt- schnelleren Berufsbildungsreform besser genutzt. Die nisse der Berufsbildungsforschung und passt den ord- 31 200 Schulabgänger, die momentan unversorgt sind, nungsrechtlichen Rahmen an die Entwicklung der Be- also keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, sind die rufsausbildung in den letzten Jahren an. Kurz gesagt: Leidtragenden einer Politik der langen Bank, auf die Sie Die gesetzliche Grundlage stimmt also endlich mit den die Novelle zum Berufsbildungsgesetz erst einmal ge- Anforderungen und Zielstellungen in der beruflichen schoben haben. Ausbildung vollständig überein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der SPD) neten der FDP) Wir haben zudem die Regelungen zur fachlichen Eig- Bereits 1998 kündigte Bundeskanzler Schröder in sei- nung in einem einheitlichen und transparenten System ner Regierungserklärung eine Initiative zur Flexibilisie- für alle zusammengefasst. rung und Modernisierung der Berufsausbildung an. (B) (D) Zusammenfassend kann ich sagen, dass die Sicherung (Jörg Tauss [SPD]: Damals schon!) einer hochwertigen beruflichen Bildung eine wichtige Aufgabe bleibt. Mit der heute von uns vorgelegten No- Sechs Jahre ist nichts passiert. Nachdem wir mit unseren velle machen wir in diesem Sinne einen weiteren wichti- Initiativen das Tempo beschleunigt haben, können wir gen Schritt. Ich möchte alle – die Betriebe, die Regio- nun produktiv diskutieren. Doch der Ausbildungspakt nen, aber auch die Länder sowie die jungen Frauen und bedarf der Ergänzung durch ein modernisiertes Berufs- Männer – auffordern, sich dieser Aufgabe, dieser He- bildungsgesetz. Das ist die andere Seite der Medaille. rausforderung kreativ und mit Mut zur Verantwortung zu Die Reform muss vor allem die weitere Verschulung stellen. Das gilt natürlich genauso für den Deutschen stoppen und stattdessen die betriebliche Ausbildung stär- Bundestag. ken. Die Erosion der betrieblichen Ausbildung muss be- endet werden. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wie des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Jörg Tauss DIE GRÜNEN) [SPD]: Die Wirtschaft!) Selbst ein mäßiger betrieblicher Ausbildungsplatz ist Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: besser als die schönste Ersatzmaßnahme. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uwe Schummer. (Jörg Tauss [SPD]: Wunderbar!)

Uwe Schummer (CDU/CSU): Das Berufsbildungsgesetz war 1969 – Herr Tauss, Sie Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine wissen das sicherlich aus Ihrem reichhaltigen Leben – Herren! Die duale Ausbildung ist ein Standortvorteil eines der letzten Projekte der großen Koalition von Deutschlands. Sie ist eng an der betrieblichen Praxis Union und SPD. Wir haben in letzter Zeit oft eine partei- orientiert und ein idealer Einstieg in die Arbeitswelt. So übergreifende Regelung angeboten. Sie wäre auch in der ist die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland um etwa Tradition des Berufsbildungsgesetzes. Wir wollen sehr 6 Prozent geringer als in den Ländern der Europäischen sachlich eine gemeinsame Linie herstellen. Aber Sie Union, die eine verschulte Berufsausbildung haben. Das müssen sich erst einmal bewegen und vor allem Wider- bedeutet, die praktische Ausbildung ist von großem Vor- sprüche in Ihrem Gesetzentwurf beseitigen. So fordern teil. Sie in Ihrem Gesetzentwurf die Verschlankung von Gre- mien und Bürokratieabbau. Gleichzeitig fordern Sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD) jedoch die flächendeckende Gründung regionaler Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12343

Uwe Schummer (A) Berufsbildungskonferenzen ein. Wie Sie beide Ziele Nichts stehen. Das ist nicht nur eine Vergeudung von (C) – Entbürokratisierung und neue Strukturen – gleichzeitig wirtschaftlichen Ressourcen, sondern auch zutiefst un- erreichen wollen, bleibt ein Mysterium Ihrer Politik. menschlich. So grenzen Sie praktisch Begabte systema- tisch aus. (Jörg Tauss [SPD]: Subsidiarität, Herr Kol- lege! Regionale Verantwortung!) (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Herr Schummer, wir würden Sie nie ausgren- Erst gestern schrieb Ihnen der Hauptausschuss des zen!) Bundesinstitutes für Berufsbildung folgenden Beschluss ins Stammbuch – ich zitiere –: Wir wollen deshalb, dass die Stufenausbildung von Die im Gesetzentwurf vorgesehenen regionalen der Ausnahme zur Regel wird. In der Bauwirtschaft hat Bildungskonferenzen sind nicht erforderlich, da de- sie nicht zur Schmalspurausbildung geführt, sondern ren Aufgaben von bestehenden Gremien und Insti- dazu, dass ein Einstiegskorridor für praktisch Begabte tutionen … wahrgenommen werden können. geschaffen wurde. Das saarländische Beispiel der Stu- fenausbildung im Pflegebereich zeigt ebenso, dass über Auch das Stimmrecht der Lehrerseite in den Berufsbil- 90 Prozent der Auszubildenden auch die zweite Stufe er- dungsausschüssen lehnt der Hauptausschuss, bestehend folgreich abschließen. Wer die erste Stufe schafft, der aus Vertretern des Bundes, der Länder, der Wirtschaft, kommt automatisch in die zweite Stufe und hat am Ende der Wissenschaft und der Gewerkschaften, mit dem ges- seinen Vollabschluss. Hauptschüler würden auch dort trigen Beschluss eindeutig und klar ab. Es würde die Pa- wieder zugelassen, wo heute die mittlere Reife oder das rität zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern Abitur zwingend gefordert werden. Uns geht es hier um zu einer Drittelparität verändern. Differenzierung und Flexibilisierung. (Werner Lensing [CDU/CSU]: Genau das ist (Werner Lensing [CDU/CSU]: Die sind drin- die Wahrheit!) gend erforderlich!) Wenn 50 Prozent von Politik und Wirtschaft Psycho- Nötig ist, eine stärkere Betrachtung des Menschen so, logie ist, dann frage ich, ob es klug ist, dass bei der be- wie er ist, und nicht, wie er nach Ihrem Bild sein sollte. trieblichen Ausbildung die Arbeitgeberseite – zumindest theoretisch – weitgehend ausgehebelt werden kann. Die Über Ausbildungsmodule könnte die zweite Stufe Motivation zur Ausbildung wird hierdurch in den Betrie- – das ist ein weiteres Charakteristikum – auch zu einem ben sicher nicht steigen. späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Eine stärkere Vernetzung von Aus- und Weiterbildung ist überfällig. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Im Zusammenhang mit dem europäischen Ausbildungs- (D) Es macht Sinn, die Berufsschulergebnisse beim theo- pass, der ab 2005 in den Staaten der Europäischen Union retischen Teil der Kammerprüfung zu berücksichtigen eingeführt werden soll, würden diese Module auch die gegenseitige Anerkennung der Berufsausbildung in der (Jörg Tauss [SPD]: Ach ja!) Europäischen Union erleichtern. oder zu überlegen, ob die Berufsschule den Theorieteil Ihr Entwurf hat die berufliche Weiterbildung kaum ganz übernimmt. Nötig ist eine Langzeitbewertung, die gestreift. Frau Bulmahn, ich habe das Gefühl, Sie haben nicht nur die dreitägige Kammerprüfung, sondern auch in diesem Punkt vor Herrn Clement, der im Kabinett für die drei Jahre in der Berufsschule berücksichtigt. die Weiterbildung zuständig ist, kapituliert. Wir sind Ob und wie dies geschehen kann, das sollten wir nach gern bereit, Sie zu unterstützen, wenn auch bei der Wei- der Expertenanhörung besprechen. terbildung endlich neue Prioritäten gesetzt werden sol- len. Beraten Sie ruhig weiter; auch im Kabinett muss Ei- (Jörg Tauss [SPD]: Machen Sie mal einen Vor- nigkeit erzielt werden. schlag!) Wir sind ebenfalls dafür, die Probezeit auf sechs Mo- Baden-Württemberg hat dank seiner Abstimmung mit nate zu verlängern, wenn es gewünscht wird. Das wäre den Kammern die größte gemeinsame Prüfungserfah- ein gegenseitiger Schutz vor den Folgen einer Fehlent- rung. Generell gilt, dass die Prüfungen insgesamt ver- scheidung. Nach dem Berufsbildungsbericht gibt es schlankt und auch entrümpelt werden müssen. 25 Prozent Ausbildungsabbrecher. Ein Drittel dieser Per- Frau Bulmahn, bei der Stufenausbildung haben Sie sonen nennt für den Abbruch persönliche Gründe: Man sich bewegt, aber leider zu wenig. habe den falschen Beruf oder den falschen Betrieb ge- wählt. Der Zeitraum der Probezeit von drei Monaten (Beifall der Abg. [CDU/ – wobei in dieser Zeit noch ein sechswöchiger Block- CSU]) unterricht absolviert werden muss – kann für beide Sei- Vor dem Hintergrund von 1,2 Millionen Schulabgängern ten zu kurz sein, um zu entscheiden, ob die Ausbildung bis 29 Jahre, die keine berufliche Ausbildung haben, ist bzw. der Auszubildende richtig ist. eine Zwischenzertifizierung überfällig. Wir, die Union, Zwei Drittel der Betriebe, die nicht ausbilden, tun sagen ein klares Ja zum Berufskonzept und zur dafür dies aus Kostengründen. Der größte Kostenfaktor sind notwendigen Breitenausbildung. Wer sagt: „Drei Jahre die Ausbildungsvergütungen. oder kein Abschluss, alles oder nichts“, der lässt zu, dass jährlich 100 000 junge Menschen vor dem beruflichen (Jörg Tauss [SPD]: Na, na, na!) 12344 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Uwe Schummer (A) Es gibt eine große Spannweite: Während beim Friseur- parteiübergreifend mit Ihnen etwas zu bewegen, aber da- (C) handwerk in Sachsen monatlich 250 Euro Ausbildungs- für müssen Sie sich bewegen. vergütung gezahlt werden, werden beim Bankgewerbe in (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hessen 900 Euro Ausbildungsvergütung gezahlt. Die Christoph Hartmann [Homburg] [FDP]) durchschnittliche Ausbildungsvergütung im Monat liegt bei 600 Euro. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ( [Starnberg] [SPD]: Da sehen Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Grietje Bettin. Sie, wie flexibel das ist!) Das zeigt, dass der größte Teil der Ausbildungsvergü- Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tungen im oberen Segment liegt. Die Definition einer Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- „angemessenen Ausbildungsvergütung“ soll den Gestal- legen! Nach den langen und hitzigen Debatten über die tungsspielraum für Tarif- und Betriebsparteien vergrö- Ausbildungsplatzumlage bin ich ganz froh darüber, dass ßern, Bündnisse für mehr Ausbildung einzugehen; Ab- wir mit der Modernisierung des Berufsbildungsgesetzes weichungen von einem Drittel nach unten sollen und dem vorliegenden Berufsbildungsbericht heute zu- möglich sein. Richterrecht erlaubt den Tarifpartnern und mindest zwei politisch weniger umstrittene Punkte zum Betriebsparteien heute schon, um bis zu 20 Prozent ab- Thema Ausbildung auf der Tagesordnung haben. zusenken. Wir wollen den Tarif- und Betriebsparteien (Ulrike Flach [FDP]: Gott sei Dank!) letztlich mehr Spielraum geben. Das geschieht allerdings in einer Zeit, in der sich das Es gibt ähnliche Tarifverträge in der Chemieindustrie, Kompetenzgerangel um Bildungszuständigkeiten auf ei- im Bauhauptgewerbe sowie im Metall- und Elektrobe- nem Höhepunkt befindet. Ich hoffe, dass die Macht- reich, die die Schaffung von weit über 1 500 neuen kämpfe um Kompetenzen in diesem Bereich nicht zulas- Ausbildungsplätzen angereizt haben. Wer an die Kosten ten der Jugendlichen in unserem Land gehen. herangeht, sorgt also letztlich dafür, dass mehr Ausbil- dungsplätze bereitgestellt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Ute Kumpf [SPD]: Man muss auch die Schule ändern!) Genauso wenig dürfen Partikularinteressen der Ar- beitnehmer- oder der Arbeitgeberseite für unsere Reform Wir wollen den Tarif- und Betriebsparteien etwas ausschlaggebend sein. Deswegen begrüße ich, dass die mehr Spielraum einräumen, als Sie das derzeit wollen. rot-grüne Bundesregierung an dem politischen Ziel fest- gehalten hat, das Berufsbildungsgesetz zu modernisie- (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) ren. Ich appelliere an die Länder, Jugendliche und Be- Letztlich nehmen wir an den Tarifen Maß – das ist triebe nicht als Faustpfand zu benutzen, wie sie es entscheidend –, aber Spielraum muss auch sein, damit derzeit mit den Hochschulen machen. verstärkt betriebliche Bündnisse für Ausbildung ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaffen werden. und bei der SPD) (Jörg Tauss [SPD]: Sie haben den Spielraum Sie von der Opposition wollen den Hochschulen lieber doch gerade geschildert!) Investitionen vorenthalten, als die Eigenheimzulage ab- Der Regierungsentwurf macht aus der Not eine Tu- zuschaffen. Diese Blockadepolitik kann ich beim besten gend. Sie setzen damit im Kern auf eine stärkere Ver- Willen nicht verstehen. schulung der Berufsausbildung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Jörg Tauss [SPD]: Quatsch! – Alexander und bei der SPD) Dobrindt [CDU/CSU]: Leider wahr!) Wie dringend Reformen sind, zeigt die Lage auf dem Das Gegenteil ist notwendig. Wir brauchen eine stärkere Ausbildungsmarkt. Der Ausbildungsbericht weist ein- Konzentration, um neue betriebliche Ausbildungsplätze deutig darauf hin, dass immer weniger Jugendliche einen zu schaffen. Hier müssen Sie nacharbeiten. Platz in der dualen Berufsausbildung, einen Platz in ei- nem Betrieb mit begleitendem Berufsschulunterricht, (Ute Kumpf [SPD]: Das sehen die Handels- finden. Ein modernisiertes Berufsbildungsgesetz soll kammern aber etwas anders! – Alexander hier Entlastung und mehr Flexibilität bringen. Dobrindt [CDU/CSU]: Herr Tauss muss nach- sitzen!) Auch benachteiligte Jugendliche – sie sind mir in dieser Diskussion ganz besonders wichtig – sollen durch Wenn Sie nicht auf uns hören wollen oder dürfen, die Reform eine Chance erhalten. Sie sollen mit Teilqua- liebe Kolleginnen und Kollegen, dann hören Sie zumin- lifikationen Schritt für Schritt in ihrem individuellen dest auf den Hauptausschuss des Berufsbildungsinstituts. Tempo einen vollen Beruf erlernen können. Das Institut hat in ähnlicher Form wie wir argumentiert. (Beifall des Abg. Hans-Josef Fell [BÜND- Gestern hat man einen Beschluss im Hauptausschuss her- NIS 90/DIE GRÜNEN]) beigeführt. Die Vertreter von Wissenschaft, Gewerk- schaften, Wirtschaft, Bund und Ländern in diesem Insti- Eine weitere Leitfrage ist dabei für uns: Wie kann die tut haben den richtigen Weg gewiesen. Wir sind bereit, schleichende Auswanderung aus dem dualen System Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12345

Grietje Bettin (A) beendet werden? Der freiwillige Pakt könnte ein Bau- Auch dürfen wir auf keinen Fall einen Rückfall in die (C) stein dazu sein. Er muss aber erst noch Erfolg zeigen. Kleinstaaterei zulassen. Daher bleibt für uns Grüne weiterhin die „Stiftung Be- triebliche Bildungschance“, kurz „StiBB“ genannt, ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wichtiges Angebot, das kreative und unbürokratische und bei der SPD) Lösungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern Das würde der Qualität der Ausbildungen massiv scha- ermöglichen soll. Wir wollen eine solche Stiftung im den und die Mobilität einschränken. Auf mittlere Sicht Rahmen des Pakts gründen. Sie soll nach unserer Auf- wäre dies das sichere Aus für die duale Ausbildung. fassung besonders regionale und branchenspezifische Ini- tiativen unterstützen und in einem modernisierten Be- Um es zu klar zu sagen: Ich finde es gut, wenn sich rufsbildungsgesetz integrieren. die Spielräume der Länderparlamente vergrößern. Schu- lische Modellversuche zum Beispiel sollten nicht mehr (Beifall des Abg. Hans-Josef Fell [BÜND- von der KMK abgesegnet werden müssen. Auch die NIS 90/DIE GRÜNEN]) Ausgestaltung der Ausbildung zwischen Betrieb und Unsere Ziele dabei sind für die Auszubildenden nicht Schule kann in den Ländern geregelt werden. Unabding- nur mehr, sondern auch bessere Ausbildung. Für die bar sind für mich nur bundeseinheitlich gestaltete Be- Ausbilder und Ausbilderinnen an beiden Lernorten wol- rufsbilder. len wir Unterstützung bieten. Wir wollen sie praktisch Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Grüne wollen in unterstützen, ihnen Fortbildungsmöglichkeiten eröffnen Sachen Ausbildungsplatzlücke endlich eine dauerhafte und damit ihren Beruf grundsätzlich attraktiver machen. Lösung finden. Der Vorschlag, nur vorübergehend schu- Unser Ziel für die Arbeitgeber ist ganz klar: Sie sollen lische Ausbildungsgänge zu stärken, indem man die geschulte und motivierte Auszubildende bekommen. Kammerprüfung befristet zulässt, ist meiner Meinung Auch dem Standort hilft es: Wir wollen alle motivierten nach nicht zielführend. Es ist nicht etwa so, dass es nur und fähigen Menschen in Bildung und Beruf bringen. vorübergehend einen Berg von Ausbildungswilligen Ein weiteres wichtiges Element für uns Grüne ist gibt, den wir in den nächsten Jahren mit besonderen – das war ein Problem beim Umlagegesetz – die Koope- Maßnahmen untertunneln könnten, um danach wieder in ration zwischen den Lernorten Betrieb und Schule. den alten Trott zu verfallen. Die Geburtenrate allein ist Diese Zusammenarbeit muss gerade auf regionaler nämlich kein Maßstab für den Bedarf an Ausbildung in Ebene erleichtert und verbessert werden. Auch Berufs- Deutschland. Wir müssen umgekehrt schauen, wie viele schulen müssen die notwendige Autonomie erhalten, um gut ausgebildete Menschen uns fehlen. Da müssen wir mit den Betrieben und den Jugendlichen vor Ort mög- nacharbeiten und sowohl die Weiterbildung im Beruf (B) lichst optimale Lernbedingungen schaffen zu können. stärken, als auch junge Menschen aus den unsäglichen (D) Warteschleifen holen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) In den letzten Jahren – wenn nicht Jahrzehnten – ha- ben Zehntausende von Jugendlichen keine qualifizierte Wie auch in allen anderen Bildungsbereichen wollen wir Berufsausbildung bekommen. Das müssen wir jetzt so für die Berufsschulen Erfolgsorientierung statt Input- schnell wie möglich nachholen – ohne Abstriche bei der steuerung. Bildungsstandards müssen in diesem Bil- Qualität. Deswegen halten wir die im Gesetzentwurf dungsbereich eingeführt, genauso muss eine Qualitätssi- vorgesehene dauerhafte Zulassung vollzeitschulischer cherung etabliert werden. Bildungsgänge zur Kammerprüfung für einen wichtigen Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen außer- und richtigen Schritt, der vor allem auch der Durchläs- dem eine stärkere Einbindung der Lehrerinnen und Leh- sigkeit unseres Bildungssystems dient. rer als Ausbildungsbegleiter. Der Übergang von der Schule in Betrieb und Berufsschule oder schulische Aus- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen von bildung muss, auch im Interesse der jungen Menschen, Anfang an unsere Reform einer strengen Überprüfung fließender gestaltet werden. Eine positive Grundeinstel- unterziehen. Das Bundesinstitut für Berufsbildung soll lung zum Lernen, eine Bereitschaft, sich mit verändern- nach unserer Vorstellung die Folgen für Jugendliche, Be- den Arbeitsbedingungen permanent weiterzuentwickeln – triebe und das gesamte System kritisch bewerten, am das ist das, was unser Bildungs- und Ausbildungssystem besten noch unterstützt durch eine internationale Institu- der jüngeren Generation unbedingt vermitteln muss. tion. Wir als Grüne wollen die Akzeptanz des dualen Systems in Deutschland dadurch bewahren und europa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tauglich machen, dass wir – wie ich schon gesagt habe – sowie bei Abgeordneten der SPD) Berufsbilder auch zukünftig bundesweit einheitlich re- geln. Neue Berufsbilder müssen schneller als bisher ent- Bedingung dafür ist für uns, dass gleiche Qualität und wickelt werden. Daher muss das bisherige Anerken- bundesweite Einheitlichkeit der Qualifikationen gesi- nungsverfahren verschlankt werden. Gleichzeitig darf es chert bleiben. Es spricht hier einiges dafür, eine natio- nach unserer Vorstellung nicht zu einer schleichenden nale Qualitätsagentur einzurichten, aber bitte nicht an Entschulung der Ausbildung kommen. Die Forderung den Parlamenten vorbei. Diese Aufgabe per Staatsver- nach mehr Flexibilität und Eingehen auf betriebliche Er- trag der KMK, die sich doch gerade verschlanken will, fordernisse darf nicht zu Schmalspurausbildungen füh- aufs Auge zu drücken, halten wir für keine gute Idee. ren. Auch die Unternehmen profitieren doch von einer (Heiterkeit des Abg. Jörg Tauss [SPD]) soliden betrieblichen und schulischen Berufsausbildung. 12346 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Grietje Bettin (A) Das kann man, wie ich finde, gar nicht oft genug wieder- Ihren Gesetzentwurf erst jetzt ein, und zwar deswegen, (C) holen. weil Sie sich im ersten Halbjahr lieber mit der Ausbil- dungsplatzabgabe als mit der Modernisierung des Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rufsbildungsrechts beschäftigt haben. sowie bei Abgeordneten der SPD – Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Das schließt sich doch (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – gar nicht aus!) Werner Lensing [CDU/CSU]: Außerdem ha- ben sie unserer Anregung bedurft!) Wir hoffen, dass die guten Ansätze des Entwurfs nun nicht durch Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Der Weg war falsch; das wussten Sie damals schon. Sie Ländern ausgebremst werden, sind nach dem Motto vorgegangen: Der Weg ist zwar falsch, aber wir gehen ihn konsequent bis zum Ende. – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es wäre besser gewesen, Sie hätten sich wirklich um die und bei der SPD) Modernisierung des Berufsbildungsrechts gekümmert, sondern dass sich alle miteinander in einen konstrukti- statt Populismus zu betreiben. ven Wettbewerb zur Verbesserung der betrieblichen Bil- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jörg dung stürzen, sodass mehr Jugendliche eine bessere Tauss [SPD]: Das haben wir parallel ge- Ausbildung bekommen. macht! – Dirk Niebel [FDP]: Außerdem kön- Danke schön. nen die nicht so schnell abschreiben wie wir!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der Gesetzentwurf ist nicht ausreichend, weil er zu und bei der SPD) kurz greift. Er erlaubt richtigerweise die Stufenausbil- dung. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Jörg Tauss [SPD]: Das war schon 69 drin!) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christoph Hartmann, und zwar zu seiner vorerst letzten Rede hier, Er erlaubt; es ist eine Kannbestimmung. Warum machen weil er ins Saarland zurückgeht. Sie die Stufenausbildung, wenn sie richtig ist, nicht zur Regel? (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Wenn wir jetzt klatschen, ist es seine letzte (Jörg Tauss [SPD]: Herr Niebel will drei Jahre, Rede! – Gegenruf des Abg. Dirk Niebel finanziert durch die Bundesagentur!) [FDP]: Der kommt wieder, keine Sorge!) – Herr Tauss, nun hören Sie doch wenigstens ein einzi- (B) ges Mal zu, und wenn es bei meiner letzten Rede ist! (D) Christoph Hartmann (Homburg) (FDP): (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Drei Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Jahre!) Herren! Ich freue mich, heute hier über ein Thema reden zu können, bei dem weitgehend Einigkeit herrscht: die Die regionalen Berufsbildungskonferenzen führen zu Notwendigkeit der Modernisierung des Berufsbil- mehr Bürokratie statt zu weniger. Sie führen theoriege- dungsrechts. Deswegen bin ich dankbar, dass es diesen minderte Berufe ein, aber das sind bisher nur Trippel- Gesetzentwurf gibt. Er ist angesichts einer Lehrstellenlü- schritte, denn das betrifft nur etwas mehr als 10 Prozent cke von über 31 000 notwendiger denn je. Es ist richtig, der Berufe. Das ist zu wenig. Gerade schwächere Ju- dass die Bundesregierung diesen Gesetzentwurf vorlegt. gendliche brauchen eine Chance. Da müsste die Bundes- regierung schneller und konsequenter vorgehen als bis- (Beifall des Abg. Dr. her. [SPD]) Wir brauchen einen Bildungspass für jeden Auszubil- Teile des Gesetzentwurfes gehen folglich in die rich- denden, in dem lebenslang die Berufsbildung und die tige Richtung. Erleichterung von Teilen der Ausbildung Weiterbildung erfasst werden. Diesen Bildungspass for- im Ausland, Möglichkeit gestreckter Abschlussprüfun- dern übrigens nicht nur wir Liberale, sondern auch das gen, verbesserte Verwertbarkeit von erreichten Teilquali- Bundesinstitut für Berufsbildung. fikationen und nicht zuletzt die Ermöglichung, die Aus- bildung in aufbauenden Stufen zu absolvieren – all das Es fehlt der eindeutige Vorrang der betrieblichen sind richtige und überfällige Schritte. Ausbildung. Im Gesetzentwurf ist vorgesehen, dass Ab- solventen vollzeitschulischer Ausbildung sogar einen (Jörg Tauss [SPD]: Bleiben Sie doch mal ver- Rechtsanspruch auf die Zulassung zur Kammerprüfung söhnlich zum Abschluss!) erhalten sollen. Das ist äußerst bedenklich, auch im Hin- Aber, lieber Herr Tauss, Sie müssen sich ins Stamm- blick auf die mögliche Abwertung der dualen Ausbil- buch schreiben lassen, dass dieser Gesetzentwurf zu spät dung. Unsere Meinung wird auch in diesem Fall vom kommt und dass er nicht weit gehend genug ist. Bundesinstitut für Berufsbildung geteilt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP) der CDU/CSU) Es gibt Ausbildungshemmnisse, an die Sie nicht he- Bereits vor Monaten hat es einen Entwurf der CDU/CSU rangehen. Ein Beispiel ist die Angemessenheit der Aus- und einen Entwurf der FDP gegeben, aber Sie bringen bildungsvergütung. Tarifungebundene Betriebe und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12347

Christoph Hartmann (Homburg) (A) Auszubildende sollen die Vergütung doch, bitte, frei ver- (Jörg Tauss [SPD]: Sie können hier bleiben!) (C) einbaren können. Denn – ich bleibe bei meiner Mei- Ich bin gerne Bundestagsabgeordneter gewesen. Ich nung – es ist besser, für 500 Euro ausgebildet zu werden, bedanke mich herzlich für die gute Zusammenarbeit, als für 700 Euro nicht ausgebildet zu werden. insbesondere bei den Mitgliedern des Ausschusses. Ob- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wohl wir teilweise große inhaltliche Differenzen gehabt haben, ist es immer fair zugegangen. Ich bedanke mich Es gibt auch Ausbildungshemmnisse außerhalb des auch ganz herzlich bei meiner Fraktion, die mir zwei Berufsbildungsrechts, an die wir heranmüssen: die Jahre lang politische Heimat gewesen ist. Pflicht zur Übernahme von Angehörigen der Jugend- und Auszubildendenvertretung, die mangelnde Flexibili- Jetzt will ich im Saarland mit meinen Kolleginnen sierung der Beschäftigungszeiten, insbesondere im Hin- und Kollegen dafür sorgen, dass es etwas mehr Farbe blick auf das Hotel- und Gaststättengewerbe. und eine etwas bessere Politik gibt. Herr Tauss, jetzt dür- fen Sie klatschen. (Jörg Tauss [SPD]: Ach!) (Beifall bei der SPD – Heiterkeit und Beifall Die Bildungspolitik, lieber Herr Tauss, muss verbessert bei der FDP) werden. Jedes Jahr gibt es 90 000 Schüler ohne Ab- schluss, selbstverständlich auch im Saarland. Nach Aus- – Danke schön. sage des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (Jörg Tauss [SPD]: Aber ob ihr es schafft, ist sind 15 Prozent eines Jahrgangs nicht in der Lage, die eine andere Frage!) Grundvoraussetzungen wie Lesen, Schreiben und Rech- nen zu erfüllen. Ich habe jetzt die Aufgabe, eine Drei-Mann-Land- tagsfraktion zu führen. Ich drohe hiermit eines an: Wenn (Dirk Niebel [FDP]: Wie die Regierung! Zu- mir das zu unübersichtlich oder zu schwierig wird, dann mindest was das Rechnen angeht!) komme ich wieder. Ihnen alles Gute. Nicht zuletzt muss auch die Wirtschaftspolitik verbessert Vielen Dank. werden, vor allem angesichts des drohenden Rekords bei (Beifall im ganzen Hause) den Insolvenzen im dritten Jahr hintereinander. Da kann ich nur sagen: Wer pleite ist, kann nicht ausbilden. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der FDP) Ich wünsche Ihnen auch im Namen des Hauses alles Es wäre fatal, wenn man der Meinung wäre, mit der Gute für Ihre Zukunft. Wir wissen, dass drei Liberale (B) Modernisierung des Berufsbildungsrechtes hätte man schwieriger zu regieren sind als andere. (D) seine Hausaufgaben gemacht und den Jugendlichen bzw. (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND- den Auszubildenden geholfen. Nein, das reicht nicht. NIS 90/DIE GRÜNEN) Die Modernisierung des Berufsbildungsrechts kann nur ein Schritt sein, jedem Jugendlichen in Deutschland eine Alles Gute für Sie. Ausbildungsstelle zu verschaffen. (Beifall) Die FDP-Bundestagsfraktion hat einen eigenen Ge- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dieter setzentwurf vorgelegt, der die Mängel Ihres Gesetzent- Grasedieck. wurfs behebt und in dem weitere Vorschläge gemacht werden. Wir werden am 22. November eine Expertenan- (Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Das hörung haben. Die Experten werden Ihnen sagen, dass es ist nicht mehr zu toppen!) gut ist, dass Ihr Gesetzentwurf vorliegt, dass es aber deutliche Nachbesserungen im Sinne und im Interesse Dieter Grasedieck (SPD): der Auszubildenden und der Ausbildung geben muss. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Hartmann, auch ich wünsche (Beifall bei der FDP – Dr. Ernst Dieter Ihnen alles Gute für Ihre Arbeit in der Dreierfraktion. Rossmann [SPD]: Warten wir doch erst die Anhörung ab!) Herr Schummer, Sie haben in Ihrer Rede viele Berei- che aufgezeigt, in denen wir mit Ihnen übereinstimmen Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Frau und in denen die großen Fraktionen den gleichen Weg Präsidentin hat es bereits gesagt: Dies ist heute meine gehen. Aber man muss doch feststellen, dass Sie etwas vorerst letzte Rede im Deutschen Bundestag. Am schwarz gemalt haben. 5. September gab es Landtagswahlen im Saarland. Die FDP hat den Wiedereinzug in den Landtag geschafft. Zum einen lehnen Sie das Stimmrecht der Berufs- schullehrer im Berufsbildungsausschuss ab. Sprechen (Jörg Tauss [SPD]: Da klatschen wir nicht!) Sie einmal mit Ihren Kolleginnen und Kollegen vom Bundesrat, die bekanntlich dort die Mehrheit haben! Sie – An dieser Stelle brauchen Sie auch nicht zu unterstützen diesen Vorschlag ausdrücklich und haben Ja klatschen. – Wenn man gewählt ist, dann muss man den dazu gesagt. nächsten Schritt gehen. Deswegen nehme ich das Man- dat an, auch wenn es mir – das gebe ich gerne zu – Zum anderen fordern Sie bei der Festlegung der Aus- schwer fällt. bildungsvergütung mehr Spielraum für die Tarifpartner. 12348 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Dieter Grasedieck (A) Herr Schummer, die Tarifpartner haben bei uns den Jahren gab es eine zweijährige Ausbildung; Teilezurich- (C) größten Spielraum. Sie bestimmen das ganz alleine. ter war zum Beispiel ein solcher Ausbildungsberuf. Da- mit haben wir eigentlich eine gute Erfahrung gemacht. (Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Jeden Die Menschen, die in diesen Berufen arbeiten, haben Spielraum!) eine gute Basis, um sich weiterzubilden. Wir wollen die Tarifhoheit natürlich nicht abbauen. Ich begrüße es deshalb, dass wir neue Ansätze schaf- Jeffrey Immelt, der Chef-Manager von General Elec- fen. Fachlagerist, Maschinenführer und Änderungs- tric, sagte in der Fernsehsendung „Christiansen“: schneiderin sind einige Beispiele für interessante Berufe. Wir brauchen eben auch Angebote für leistungsschwä- Unsere Firma ist nach Deutschland gekommen, chere Jugendliche. weil die Deutschen sehr gut ausgebildet und inno- vativ sind. (Jörg Tauss [SPD]: Gibt es heute schon!) Ferner sagte er, dass er hier gut ausgebildete IT-Fach- Schon heute haben wir hier einige Veränderungen. leute findet. Deshalb sei seine Firma nach Deutschland gekommen. Zum anderen brauchen wir natürlich auch für Leis- tungsstärkere gute Angebote. Vieles haben wir im Laufe (Beifall bei der SPD) der letzten Jahre verändert; Herr Tauss hat vorhin darauf Das sind natürlich positive Aussagen. Das ist eine Re- hingewiesen. Neue Ausbildungsberufe wie Elektroniker, klame von einem Amerikaner. Auch die Opposition Systeminformatiker und IT-Kauffrau bzw. -Kaufmann sollte das einmal zur Kenntnis nehmen. sind in der letzten Zeit hinzugekommen. Hier haben Abiturienten sowie gute Realschüler und Gesamtschüler (Beifall bei der SPD) eine Chance. Das Institut der deutschen Wirtschaft ergänzt diese (Beifall bei der SPD) Aussage. Das duale Ausbildungssystem ist absolute Spitze, so schreibt es. Betrachten Sie einmal die Un- Aber eines ist ganz sicher interessant: Auch der Über- terschiede: 70 Prozent in der Altersgruppe der 20- bis gang zur zweiten Schwelle ist hier bei uns in Deutsch- 30-Jährigen haben entweder eine Berufsausbildung ab- land äußerst günstig. Fast 80 Prozent der Auszubilden- geschlossen oder das Abitur. In Amerika sind es 47 und den erhalten im Ausbildungsbetrieb eine Chance und in Spanien 28 Prozent. Das sind natürlich enorme Unter- arbeiten dort weiter. Das gibt es natürlich in ganz Europa schiede. Genau deshalb sieht bei uns die Lehrstellen- nicht. 80 Prozent sind eigentlich der beste Beweis dafür, und Arbeitsmarktsituation der Jugendlichen besser aus dass wir ein gutes Ausbildungssystem haben. (B) als die in anderen europäischen Staaten. Herr Schummer, Dieses Ausbildungssystem soll durch den vorliegen- (D) genau darauf haben Sie hingewiesen. Bei uns ist die den Gesetzentwurf gestärkt und verbessert werden. Wie Jugendarbeitslosigkeit am geringsten. Man muss zu- flexibel wir arbeiten, um Ausbildungsplätze zu schaffen, dem feststellen: Seit 1998 wird sie geringer. Die Situa- macht die Verschiebung der Ausbildungseignungsprü- tion heute ist besser als die vor 1998. fung besonders deutlich. Denn viele Kleinunternehmer (Beifall bei der SPD) haben sich beklagt und gesagt: Es ist auf der einen Seite zu teuer und auf der anderen Seite zu problematisch und Diesen Standortvorteil will die Frau Ministerin mit zu aufwendig, eine solche Prüfung vor der Industrie- und ihrem Gesetzentwurf ausbauen. Denn jeder von uns Handelskammer oder der Handwerkskammer machen zu weiß: Der Beruf ist das Rückgrat des Lebens. Gerade lassen. Die Bundesregierung hat ganz flexibel reagiert deshalb brauchen wir in einer globalisierten Welt gute und den Nachweis der Ausbildungseignungsprüfung für Angebote sowohl für leistungsschwächere Jugendliche fünf Jahre ausgesetzt. als auch für leistungsstärkere Auszubildende. Daran sollte die Industrie ein starkes Interesse haben. Durch all diese Maßnahmen der Bundesregierung soll der Standort Deutschland gestärkt werden. Die Men- (Beifall bei der SPD) schen in Deutschland sind innovativ und sehr gut ausge- Wir brauchen die Facharbeiter, heute und in der Zukunft. bildet, sagte der von mir bereits zitierte amerikanische Die Industrie müsste das begleiten und weiter unterstüt- Unternehmer. Unser Gesetz fördert und unterstützt diese zen; denn der demographische Wandel – die Frau Minis- Aussage. Lasst uns gemeinsam zu einer guten Lösung terin hat es vorhin angesprochen – wird sich auch in kommen! diesem Bereich auswirken. Die Zahl der sozialversiche- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rungspflichtig Beschäftigten nimmt dramatisch ab. Das DIE GRÜNEN) muss gesehen werden. Genau deshalb ist unsere duale Ausbildung eine Zukunftsinvestition in die Industrie, aber natürlich auch in unsere Gesellschaft. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Lensing. (Beifall bei der SPD) Ich sagte es vorhin schon: Angesichts steigender Qua- Werner Lensing (CDU/CSU): lifikationserfordernisse – nicht jeder Jugendliche schafft Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und das – brauchen wir ein gutes Angebot auch für die leis- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den tungsschwachen Auszubildenden. Schon in den 70er- Ausführungen, die heute gemacht worden sind, beginne Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12349

Werner Lensing (A) ich mit einer persönlichen Bemerkung. Frau Ministerin in einer Stellungnahme formuliert. Ich zitiere aus ihr (C) Bulmahn – entschuldigen Sie, dass ich Ihren Dialog jetzt nicht im Einzelnen, zumal Herr Kollege Schummer störe –, es wird Sie vermutlich nicht treffen, aber es trifft darauf verwiesen hat. Für besonders wichtig halte ich es und betrifft mich: Ich bin traurig. aber, die „Empfehlung zur Schaffung neuer anerkannter Ausbildungsberufe mit weniger komplexen Anforderun- (Ute Kumpf [SPD]: Sie sehen aber gar nicht so gen für qualifizierte Fachkräfte“ dieses Instituts aufzu- aus!) greifen. Hierbei handelt es sich um eine Forderung, die Jawohl, ich bin traurig über das, was Sie heute in Ihrem die Union schon seit Jahren stellt und mit dem eigenen Gesetzentwurf nach unserer Vorgabe vorgelegt und Gesetzentwurf zur Reform der Berufsbildung bereits vor mündlich dargestellt haben. längerer Zeit in den Bundestag eingebracht hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Von Ihnen, meine Damen und Herren der Regierungs- Jörg Tauss [SPD]: Dann können Sie ja zustim- fraktionen, kam, wie Sie zugeben müssen, jahrelang men!) nichts. Es reicht einfach nicht, um den aktuellen Herausforde- (Jörg Tauss [SPD]: Was?) rungen gerecht zu werden. Dies nenne ich einen Dornröschenschlaf im traumatisch (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ihre Vor- bestimmten Märchenland rot-grüner Bildungspolitik. lage reicht nicht, ja!) Falls der heute von Ihnen eingebrachte Entwurf Ihre tatsächliche Auffassung zu einer Ausbildungsoffensive Die Novellierungsvorschläge von CDU/CSU und FDP darstellen sollte, werden wir die vermeintlichen Früchte boten Ihnen Anlass, unser gutes Gedankengut in den Ge- der von Ihnen propagierten Innovationsoffensive ver- setzentwurf einzubringen. Was jetzt allerdings im Detail mutlich erst mit den Kindern unserer Enkel genießen daraus geworden ist, reicht – zumindest zum Teil – nicht können. aus. (Jörg Tauss [SPD]: Das sind die Urenkel!) Ich nenne einen weiteren Grund, warum ich unter die- ser Situation leide: Bereits vor 2 200 Tagen haben wir Zu unserem eigenen Entwurf möchte ich Folgendes erfahren, dass die SPD „in einer Ausbildungsoffensive sagen: Wenn dieser Entwurf, der bei der ersten Lesung so manchen Zuspruch gefunden hat, Einfluss auf Ge- die Modernisierung und Verbesserung der Attraktivität spräche zwischen unseren Fraktionen nehmen kann und der beruflichen Bildung vorantreiben“ will. Zuvor wollte wenn das, was Frau Bettin soeben im Sinne der Annähe- Kanzlerkandidat Schröder sogar ein „Deutschland als rung Ideenfabrik durch Verdoppelung der Investitionen in Bil- (B) dung, Forschung und Wissenschaft“. (Ute Kumpf [SPD]: Was? Sie nähern sich an?) (D) (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) verdeutlich hat, ebenfalls Niederschlag findet, sollten wir uns Gedanken darüber machen, wie wir vor oder Was ist daraus geworden? Gerade so viel, dass ein nach der Anhörung zu einem bestimmten Abgleich zwi- Mitglied des Bundestages, das die wesentlichen Aussa- schen den Entwürfen kommen könnten. gen meistens nicht versteht, an dieser Stelle noch klatscht. Für uns ist aber wichtig, dass folgende Punkte aus un- serem eigenen Antrag anerkannt werden: Erstens. (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Lachen bei der Schnellere Berufsbildung durch ein Schlichtermodell. SPD) Zweitens. Gestreckte Abschlussprüfung als Regel bei Es gibt keine ausreichende Handlungsoption, lediglich dreijährigen Ausbildungen. Drittens. Ausbildungsver- viel Gejammer in hoher Tonlage und immer wiederkeh- ordnungen auf dem Boden des Hauptschulabschlusses, rende Versuche, eigene Verantwortung auf andere abzu- deswegen – viertens – die Stufenausbildung als Regel- schieben. ausbildung. Fünftens. Unmittelbare Aufnahme der Be- rufsschulleistungen in das Abschlusszeugnis. Dokument dieses augenscheinlichen Versagens, meine Damen und Herren, ist der jährlich wiederkeh- Dies sind allesamt Punkte, die seit langem bekannt rende und uns gerade vorgelegte Berufsbildungsbe- sind und den ausbildenden Betrieben, aber auch den richt, der auf entlarvende Weise dokumentiert, dass auf- Schulen weiterhin auf den Nägeln brennen. Eines ist grund der inzwischen sechs Jahre andauernden sonnenklar: Die Verzögerungstaktik von Rot-Grün ver- hinderte während der letzten Jahre die Schaffung neuer Politikpleite der rot-grünen Bundesregierung die Wirt- Ausbildungsplätze schaft – hier vor allem der Mittelstand – trotz größter Anstrengungen nicht mehr in der Lage ist, eine ausrei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- chende Zahl von Ausbildungsplätzen für die Jugend zur neten der FDP – Nicolette Kressl [SPD]: Oh, Verfügung zu stellen. Dies ist nicht allein eine Frage gu- nein!) ten Willens. und verbaute so vielen jungen Menschen den Zugang zu (Nicolette Kressl [SPD]: Wir sind auch traurig, einer ordentlichen Ausbildung. Ich nenne das unverant- aber wegen Ihrer Rede!) wortlich und traurig. Der Hauptausschuss des Bundesinstituts für Berufs- (Jörg Tauss [SPD]: Das glauben nicht mal bildung hat nicht von ungefähr dies in aller Deutlichkeit Sie!) 12350 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Werner Lensing (A) Ich gebe Dieter Grasedieck, dem Kollegen der SPD, struktive Zusammenarbeit nicht staatlich verordnet wer- (C) Recht, der gesagt hat, dass eine solide Ausbildung die den. Deswegen bleiben wir auch hier bei unserer Kritik, Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Teilhabe am die wir aber im Einzelnen gerne bereit sind, im Rahmen Arbeitsmarkt darstellt. der Anhörung, vor allen Dingen aber in den Ausschuss- beratungen zu aktualisieren. (Jörg Tauss [SPD]: Hätten Sie mal eine Lehre gemacht!) Einen bestehenden Konsens möchte ich auch nicht leugnen. Ich gestehe Ihnen zu, dass wir in einigen Punk- Sie, Frau Ministerin Bulmahn, haben seinerzeit er- ten nicht total auseinander liegen. Drei nenne ich exem- klärt, unser Gesetzentwurf sei zu „schlicht“. Das mag plarisch: zum Ersten die Anrechnung beruflicher Quali- aus Ihrer Perspektive so richtig sein, gleichwohl ist es fizierung auf die Ausbildungszeit, zum Zweiten die falsch, und zwar total falsch; denn wer wie Rot-Grün al- gesetzlichen Grundlagen verschiedener Verbundausbil- les nur von oben regeln will, dem ist unser kompakter, dungen und zum Dritten die Zertifizierung von Teilqua- auf Eigenverantwortung gestützter und an der konkreten lifikationen. Basis orientierter Entwurf natürlich zu schlicht. Meine Herren und Damen von der Koalition, wenn Welche Überregulierung hingegen der Regierungs- das alles so bleiben sollte, wie Sie glauben, dass es auf- entwurf betreibt, kann ich Ihnen mindestens anhand von grund Ihrer Gesetzesvorlage bleiben könnte, muss ich al- drei Punkten nachweisen. Ich mache das aber in aller lerdings feststellen: Wieder einmal haben Sie sich von Kürze, weil wir auf diese Themen schon im Laufe dieser Umverteilungsgedanken leiten lassen, wo Werteschöp- Debatte zwangsläufig eingegangen sind. Es geht zum fung hingehört. Wieder einmal verordneten Sie staat- Ersten um die Kammerprüfung. Dazu will ich nur zi- liche Kontrolle und verhindern damit sinnvolle Eigen- tieren, was der Hauptausschuss des Bundesinstitutes für verantwortung. Wieder einmal setzten Sie auf Berufsbildung gestern in einer gemeinsamen Stellung- Meinungsbildung im Kollektiv, statt persönlichen Initia- nahme von Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Vertretern tiven zu vertrauen. der Länderseite formuliert hat – der Kollege Schummer hat bereits darauf hingewiesen –: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Entscheidungen über die Gleichstellung von Bil- Das Ergebnis liegt auf der Hand: mehr Staat, weniger dungsgängen müssen im Einvernehmen mit den zu- Ausbildung. Ich bedauere das. Das ist traurig. ständigen Stellen und Sozialpartnern getroffen wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den. Entscheidend sind die inhaltliche und zeitliche Gleichwertigkeit des schulischen Bildungsganges Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (B) mit einem anerkannten Beruf und die Einbeziehung (D) der betrieblichen Praxis. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau. Wenn das keine neutrale Stellungnahme ist! Genau das war auch immer unsere Auffassung. Petra Pau (fraktionslos): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein zweites Thema ist der Gestaltungsspielraum bei Wir diskutieren über ein Berufsbildungsreformgesetz. Es der Vergütung. Dieses Thema taucht wiederholt auf, geht um Jugend und Bildung, also um die Zukunft der weil es existenziell notwendig ist. Dazu möchte ich sa- Gesellschaft insgesamt. Das Gesetz war überfällig, denn gen, dass der meist verehrte – nicht: der am meisten ver- das alte hat 35 Jahre auf dem Buckel. Die Reform war ehrte, sondern: der ab und zu verehrte – Kollege Brase übrigens auch schon lange versprochen und die Verspre- das letzte Mal erklärt hat: Er glaube nicht daran, dass die chen waren sehr anspruchsvoll. Die PDS im Bundestag Ausbildungsvergütungen einen Einfluss auf die Anzahl begrüßt, dass es nun endlich konkret wird, und wir be- der zur Verfügung stehenden Ausbildungsplätze hätten. dauern, dass die Reformen nicht weiter gehen als von (Jörg Tauss [SPD]: Das hat die Anhörung er- Rot-Grün beschrieben. geben!) Bevor ich über einige Pro und Kontra spreche, nenne Das ist ein Irrtum. ich einen zentralen Punkt in diesem Zusammenhang: das duale Ausbildungssystem. Alle Beteiligten gehen da- (Jörg Tauss [SPD]: Ergebnis der Anhörung!) von aus, dass es eine bewährte Marke made in Germany ist. Es soll gestärkt werden. So steht es auch als Ziel im Das ist deswegen ein Irrtum, weil sich nach der Befra- Gesetzentwurf. gung vieler Betriebe dieses herausgestellt hat: Grund für die rückläufigen Ausbildungsstellenangebote sind für Praktisch erleben wir seit Jahren jedoch eine andere 73 Prozent der Betriebe die hohen Ausbildungskosten. Entwicklung: Immer mehr Betriebe, insbesondere große, Deswegen müssen wir an dieser Stelle etwas machen. bilden immer weniger aus. Immer mehr Jugendliche weichen auf schulische Ausbildungsgänge, oft ohne (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vollwertigen Berufsabschluss, aus Das gilt natürlich, drittens, auch für die regionalen (Jörg Tauss [SPD]: Müssen!) Bildungskonferenzen. Warum eigentlich? Diese sind unsinnig, weil sich die jeweils relevanten Akteure in den – müssen, weil eben nicht ausgebildet wird –, werden in Regionen bereits kennen und ohnehin seit langem er- berufsvorbereitende Maßnahmen gedrängt, die für viele folgreich zusammenarbeiten. Darüber hinaus kann kon- nur Warteschleifen sind, oder werden gar nicht ausgebil- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12351

Petra Pau (A) det. Deshalb bleiben wir dabei: Wer das duale System Anreize schaffen. Es darf aber nicht dazu führen, dass (C) stärken will, muss es vor dem weiteren Verfall retten. Generationen von Teilgebildeten ausgebildet werden, die zwar zwei oder drei Module absolviert, aber keine voll- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- ständige Berufsausbildung erhalten haben. tionslos]) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Auch deshalb waren wir übrigens für eine gesetzliche tionslos]) Ausbildungsumlage und nicht für einen fragwürdigen Ausbildungspakt. Das betrifft übrigens auch die praxisnahe Vorberei- tung auf die Berufsausbildung. Auch hier wünschen sich (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- die Bildungspolitikerinnen und -politiker der PDS weiter tionslos]) gehende Reformen. Das betrifft übrigens auch die Wenn wir nun den gesetzlichen Rahmen für die Be- Gleichbehandlung spezifischer und dennoch beachtli- rufsausbildung erneuern, dann natürlich mit klaren An- cher Gruppen. Ich nenne nur Jugendliche mit Migra- sprüchen. Wir wollen Chancengleichheit für alle Ju- tionshintergrund oder Jugendliche mit Behinderungen. gendlichen, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Der DGB hat den Gesetzentwurf in diesen Fragen als Konfession oder ihrer sozialen Lage. Wir wollen eine enttäuschend bezeichnet. Es bleibt also noch viel zu tun; qualifizierte Grundausbildung, die gute Arbeitschancen denn, wie eingangs gesagt, mit der Umsetzung dieses und Weiterbildungswege eröffnet. Wir wollen Fachleute, Gesetzentwurfs geht es um die Jugend, um Bildung und die im Leben bewandert, sozial kompetent und demokra- damit um Zukunft. tisch engagiert sind. Wir wollen schließlich Abschlüsse, die in allen Regionen – daheim, aber auch in anderen (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Ländern Europas – anerkannt werden. tionslos])

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tionslos]) Danke schön. – Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Davon sind wir in der Bundesrepublik bisher weit ent- Willi Brase. fernt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Der DGB spricht sogar von einer Ausbildungskrise. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Er meint damit nicht nur die fehlenden Ausbildungs- plätze und die damit fehlende Chancengleichheit für viel Willi Brase (SPD): zu viele Jugendliche. Er meint auch die inhaltlichen Sei- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! (B) ten der Berufsausbildung. Ich finde, zu Recht. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Berufsbildungs- (D) Das führt uns zwangsläufig zu der Frage, ob die vor- gesetz, über das wir heute reden, ist 35 Jahre alt. Alle geschlagenen Reformen gut und weit reichend genug Redner haben betont, dass seitdem einiges passiert ist. sind, um aus der Krise herauszukommen. Die PDS im Wir begrüßen ausdrücklich die Novellierung des BBiG. Bundestag glaubt, dass das nicht der Fall ist. Das will ich Ebenso ausdrücklich begrüßen wir, dass die Bundesre- zum Schluss an einem Streit illustrieren, der im Bundes- gierung dies zu einem bildungspolitischen Schwerpunkt rat stattgefunden hat. So reklamieren die Bundesländer gemacht hat. mehr Kompetenzen für sich. Zugleich wollen sie die Ko- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ordinierungsrechte des Bundes beschneiden. Vielfalt DIE GRÜNEN) kann gut und förderlich sein. Sie kann aber auch zu ei- nem babylonischen Sprachgewirr verkommen, das nie- Das duale System ist immer noch eine Erfolgsstory. mand mehr versteht. Ich will, dass ein Ausbildungsab- Alle EU-Länder mit dualer Berufsausbildung können auf schluss aus Mecklenburg-Vorpommern auch in Bayern eine niedrige Jugendarbeitslosigkeit verweisen. gilt und dass ein Zeugnis aus Bremen auch „sachsen- Deutschland ist hier durchaus Vorbild. Ganz kurz sei er- tauglich“ ist. Das gehört zur angestrebten Chancen- wähnt: In Ländern mit dualer Ausbildung gibt es weni- gleichheit. ger arbeitslose Jugendliche und diese sind zudem we- sentlich kürzer arbeitslos. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Derselbe Anspruch hat auch seine internationale Ent- sprechung. Es ist gut, wenn Ausbildungsabschlüsse Trotzdem führen wir eine Debatte, in der von einer wechselseitig anerkannt werden und wenn Jugendliche Krise und von Symptomen der negativen Veränderung Teile ihrer Berufsausbildung auch im Ausland absolvie- des dualen Systems gesprochen wird. Seine Attraktivität ren können. Aber die Angleichung internationaler hat teilweise gelitten. Welche Symptome sind also zu be- Standards darf nicht nach unten erfolgen. Sie muss mo- obachten? Nur noch 25 Prozent aller Unternehmen bil- dernen Anforderungen genügen. den aus. Vor 20 Jahren waren es noch 35 Prozent. Ge- statten Sie mir die Randbemerkung: Es war durchaus Ausbildungsabschnitte sollen künftig als Module an- richtig, dass wir über diese Frage im Frühjahr an anderer geboten werden, die sich zu einer Komplettausbildung Stelle intensiver diskutiert haben. summieren. Das kann gut sein und Jugendlichen, denen ihre Ausbildung schwerer als anderen fällt, zusätzliche (Beifall bei der SPD) 12352 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Willi Brase (A) Die Ausbildungsquote ist auf 5 Prozent gesunken. Berufsbildungsbericht nachlesen, dass wir wesentlich (C) Wenn wir uns den Berufsbildungsbericht 2004 ansehen, mehr Unternehmen haben, die ausbilden könnten, dies können wir das nachlesen. Das Durchschnittsalter der aber nicht tun. Das rechtfertigt unser Handeln vom Früh- Jugendlichen im dualen System hat sich von 16 auf jahr. 19 Jahre erhöht. Die Konjunkturabhängigkeit der beruf- lichen Bildung ist in den letzten Jahren ständig gestie- (Beifall bei der SPD) gen. Das, was man als „Krise der dualen Ausbildung“ Zur Funktion der vollzeitschulischen Ausbildungs- beschreibt, hat also konjunkturelle und strukturelle Ursa- gänge findet nun eine durchaus heftige Debatte statt. chen. Dazu einige Bemerkungen: Peter Glotz hat den Spruch Lassen Sie mich etwas zu den strukturellen Ursachen formuliert – ich zitiere –: sagen: Erstens. Es findet eine Spezialisierung der Be- 5 Prozent Wissensarbeiter sind die, die den Kapita- rufe statt. Die Folge ist, dass die Breite der Ausbildungs- lismus am Laufen halten. berufe abnimmt. Es gibt immer mehr überspezialisierte Ausbildungsberufe. Ich glaube, dass solche Berufe nicht Im Gegensatz zu diesem Elitenkonzept hat Horst die Zukunft haben, die wir dringend brauchen. In einem Neumann, Personalvorstand bei Audi, vor wenigen Ta- für das Bundeswirtschaftsministerium erstellten Gutach- gen berichtet, dass in seinem Unternehmen in den letzten ten wurde eine Liste von 30 neuen Berufen dargestellt, 20 Jahren der Facharbeiteranteil von 20 auf 70 Prozent zum Beispiel der Beruf der Fachkraft für Sonnenstudios. angestiegen ist; dies sei zugleich mit einem starken An- stieg ihres Qualifikationsniveaus verbunden. Ich halte dies nicht für zielführend und meine, wir müssen die Vielzahl von Ausbildungsberufen reduzieren (Beifall bei der SPD) und schrittweise moderne – weil flexible und dynami- Damit berühre ich die Grundsatzfrage bezüglich der sche – Kernmodule schaffen, mit einer hinlänglichen Zukunft des dualen Systems: Ist der Übergang zur so ge- Bandbreite der Kompetenzen. Ich glaube, das ist wichtig nannten postindustriellen Gesellschaft, zur Wissensge- für die Wirtschaft und für die Jugendlichen. sellschaft, zwangsläufig mit einem Rückgang der Zahl Zweitens. Nicht zuletzt aufgrund des internationalen der dual ausgebildeten Facharbeiter, Fachangestellten, Konkurrenzdrucks konnten vor allem kleine und mittel- Meister und Techniker zugunsten der Beschäftigten mit ständische Betriebe immer häufiger das notwendige schulischem oder akademischem Abschluss verbunden? Ausbildungsspektrum nicht mehr vollständig anbieten. Mit dem IAB halte ich dagegen, dass sich der Anteil der Das ist der tiefere Grund, warum wir viel stärker als bis- dual ausgebildeten Mittelqualifizierten bis 2010 stärker her Verbundausbildung und Ausbildungspartnerschaften erhöhen wird als der Anteil der Hochqualifizierten. (B) fördern müssen. Ich plädiere dafür, diesen kooperativen In der wissenschaftlichen Debatte über die Berufsbil- (D) Formen der Ausbildung im BBiG einen eigenen Stellen- dung ist die Rede vom notwendigen Paradigmenwechsel wert beizumessen. Wir brauchen eine Offensive für Ver- vom dualen zu einem pluralen Berufsbildungssystem, bundausbildung, für Ausbildungsmanagement und Aus- von einem Trend zur Modernisierung der Berufsbildung bildungspartnerschaften, und zwar über die gesamte durch Akademisierung und Verschulung. Ich kann vor Breite der Akteure, nicht nur aufseiten des Bundes, der ja einem solchen Systemwechsel nur warnen. Wer diesen mit dem STARegio-Programm den Startschuss dazu ge- Systemwechsel will, betreibt nach meiner Auffassung geben hat. Standortschädigung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Er gefährdet außerdem die berufliche Zukunft des wich- Drittens. Der große Vorteil des dualen Systems, die tigsten Teils unserer Arbeitnehmerschaft. Wenn man Nähe zum Arbeitsprozess, wird in doppelter Weise ge- heute richtig zugehört hat, kann man, glaube ich, festhal- fährdet. Einerseits durch stärker verschulte Elemente in ten: Er wird keine Mehrheit im Deutschen Bundestag der betrieblichen Ausbildung selbst: Das Lernen im Ar- finden. beitsprozess ist auch im Betrieb in der Defensive. Ich verweise hier nur auf die wachsende Kritik an den Aus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) bildungs- und Lehrwerkstätten, die von den konkreten Die Alternative kann nur gehen einerseits in Richtung Arbeits- und Geschäftsprozessen weitgehend losgelöst der arbeitsorientierten Wende, in Richtung der Stärkung sind. Andererseits durch die wachsende Konkurrenz des Arbeitsprozesswissens der Ausbildung und entlang vollzeitschulischer Ausbildung: Die staatliche Form der konkreter Arbeits- und Geschäftsprozesse, sowie ande- Berufsausbildung hat in den letzten Jahren drastisch zu- rerseits in Richtung dynamischer Kernberufe, also der genommen. Reduzierung der Zahl der Ausbildungsberufe; darüber (Zuruf von der CDU/CSU: Leider!) haben wir hier in der Vergangenheit schon debattiert. Dies ist meist nur eine Reaktion auf fehlende Ausbil- Duale Berufsausbildung zeichnet sich, im Unter- dungsplätze in den Betrieben schied zur schulischen Berufsbildung, wesentlich da- durch aus, dass sie zur Berufsfähigkeit führt. Bewirkt (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wird dies durch das Zusammenspiel reflektierter Ar- und – ich will es deutlich sagen – auf eine mangelnde beitserfahrung in beruflichen Arbeitszusammenhängen Ausbildungsleistung der Unternehmen. Sie können im und einer darauf bezogenen systematischen Vertiefung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12353

Willi Brase (A) und Verallgemeinerung des beruflichen Arbeitsprozess- pakt. Es scheint sich aber doch abzuzeichnen, dass bei (C) wissens in der Berufsschule. der Einstiegsqualifizierung – so eine Pressemitteilung der Bundesagentur für Arbeit vor zwei Tagen – einiges Ich glaube, dass die Vorschläge der KMK für den bewegt wurde. Ich glaube, dass wir mit den Einstiegs- Ausbau der dynamischen Kernberufe und gegen noch qualifizierungen den richtigen Weg in die zukünftige be- mehr Spezialberufe, gegen die weitere Verstaatlichung triebliche Berufsausbildungsvorbereitung gehen. Das des dualen Systems richtig sind und dass wir zukünftig wollten die Koalitionsfraktionen ebenso wie die Bundes- diese Berufsfähigkeit der jungen Menschen brauchen. regierung ausdrücklich. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ In diesem Zusammenhang will ich den schon mehr- DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Dank Um- fach zitierten Beschluss des Hauptausschusses des Bun- lagegesetz!) desinstitutes für Berufsbildung noch einmal bemühen. Darin sprechen sich die Sozialpartner und eine klare Mit Blick auf die Attraktivität des Berufsbildungssys- Mehrheit der Länder im Verhältnis von 38 zu 22 Stim- tems für die Jugendlichen geht es schließlich auch um men für eine sehr restriktive Ausdehnung der Verschu- eine wesentlich verbesserte Durchlässigkeit des Systems lung aus, die im Übrigen im Einvernehmen mit den zu- nach oben. Hier sind wir ganz originär auch auf die Län- ständigen Stellen und den Sozialpartnern zu regeln ist. der angewiesen. Herr Schummer, wenn wir es schaffen, hier im Bundestag gemeinsam zu beschließen, dass diese (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) Durchlässigkeit des dualen Systems gerade auch für die Facharbeiterinnen und Facharbeiter und für die ausgebil- Ich fürchte auch, dass durch die im vorliegenden Ge- deten jungen Menschen gilt, dann müssen wir auch setzentwurf enthaltene Öffnung des dualen Systems für Druck auf die Länder machen, dass sie das entsprechend vollzeitschulische Ausbildungsgänge und seine beab- umsetzen. sichtigte gleichberechtigte Stellung neben der dualen Ausbildung die strukturellen Probleme noch verschärft Bildung und Forschung sind die zentralen Standort- werden könnten. Ich wünsche mir, dass wir im Gesetz- qualitäten im Hochlohnland Deutschland. Deshalb gebungsverfahren hierüber gemeinsam zu einer Vertie- muss die Auszehrung des dualen Systems gestoppt wer- fung der Diskussion gelangen. Richtig ist das Bemühen den. Das duale System ist kein Relikt der Industriege- der Bundesregierung, eine Lösung für die Jugendlichen sellschaft und schon gar nicht der korporatistischen Inte- in den Warteschleifen zu finden. ressen der Sozialpartner. Bei allen notwendigen Für mich macht ein anderer Weg allerdings ebenfalls Anstrengungen im Bereich Hochschulen und Forschung: (B) Sinn, um diesen Jugendlichen zu helfen, nämlich die Wenn wir der weiteren Verlagerung von Betriebsstand- (D) stärkere Dualisierung der vollzeitschulischen Ausbil- orten ins Ausland begegnen wollen, dann müssen wir die dungsgänge. Hier sollten noch weitere Ideen entwickelt Qualifikation der so genannten Mittelqualifizierten kräf- werden, nicht zuletzt mit Blick auf die dazu notwendi- tig ausbauen und der Ausbildung im Arbeitsprozesswis- gen Ressourcen aufseiten der Länder. Das sollten wir sen sowie der Durchlässigkeit des dualen Systems nach nicht vergessen. oben eine viel größere Bedeutung zuweisen. (Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Und der Wirtschaft!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, Sie denken bitte an die Redezeit. – Und der Wirtschaft. Lassen Sie mich noch drei kurze Bemerkungen ma- Willi Brase (SPD): chen. Zum Stichwort Föderalismus nur dies: Wer die Herr Präsident, ich denke daran. – Die Modernisie- Zuständigkeit für die berufliche Bildung sozusagen auf rung der beruflichen Bildung muss zentrales Moment dem Basar den Ländern übergeben will, muss mit ent- der Innovationsoffensive der Bundesregierung werden. schiedenem Widerstand der Koalitionsfraktionen rech- nen. Ich hoffe, dass wir uns in der kommenden Anhörung im Ausschuss und mit dem Bundesrat darüber austau- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schen können und dass wir zu einem Gesetz kommen, DIE GRÜNEN) das den Innovationsanforderungen in unserem Lande ge- Man kann nicht auf der einen Seite bei den Bundeskom- recht wird und den Jugendlichen eine vernünftige Zu- petenzen in Bildungsfragen nichts abgeben wollen und kunftsperspektive bietet. auf der anderen Seite den Ländern die Regelung der vollzeitschulischen Ausbildung übertragen. Ich finde, es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ würde Sinn machen, nach der Anhörung in Ruhe darüber DIE GRÜNEN) zu diskutieren, wie wir damit umgehen. (Ulrike Flach [FDP]: Wer will das denn?) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Zur Berufsausbildungsvorbereitung und damit zum Kollege Alexander Dobrindt, CDU/CSU-Fraktion. Thema Warteschleifen. Hier haben wir ebenfalls Diskus- sionsbedarf. Manche stehen kritisch zum Ausbildungs- (Beifall bei der CDU/CSU) 12354 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

(A) Alexander Dobrindt (CDU/CSU): cher Bürokratie, zusätzlichen Kosten, einer Verschulung (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge- der Berufsausbildung und zwangsläufig zu steigender ehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Jugendarbeitslosigkeit führen wird. Das sind die Realitä- Bulmahn, lassen Sie mich Ihnen erst einmal dafür dan- ten der Politik, die Sie vertreten und die wir zur Kenntnis ken, dass Sie heute die richtigen Worte gewählt und der nehmen müssen. Wirtschaft sowie den Unternehmen für die Ausbil- Das eigentlich ausschlaggebende Qualitätsmerkmal dungsleistung und die Nachbesetzung der Ausbildungs- des deutschen Bildungssystems und der entscheidende plätze gedankt haben. Vorteil gegenüber anderen Systemen ist die Integration (Jörg Tauss [SPD]: Teile der Wirtschaft!) in die berufliche Praxis. Die duale Ausbildung lebt da- von, dass die Ausbildung in den Betrieben stattfindet, Diese wichtige Leistung müssen wir hier immer wieder also praxisbezogen und anwendungsorientiert ist. Die in hervorheben. Als wir vor einiger Zeit über die Ausbil- Ihrem Gesetzentwurf vorgesehene Gleichstellung zwi- dungsplatzabgabe diskutiert haben, schen der dualen und der schulischen Berufsausbildung (Jörg Tauss [SPD]: Umlage!) wird die Qualität der Ausbildung in Deutschland dauer- haft gefährden. Sie beklagen in diesem Hause regelmä- hat es sich noch etwas anders angehört. Wir sind daher ßig, dass zu wenig Betriebe ausbilden. Sie machen den auf einem halbwegs guten Weg. Unternehmern und Handwerkern pauschale Vorhaltun- (Jörg Tauss [SPD]: Schon damals hatten wir gen, dass diese zu wenig Ausbildungsplätze bereitstel- die, die ausbilden, und die, die nicht ausbilden, len. Stattdessen sollten Sie sich die spezielle Situation also die Anständigen und die Trittbrettfahrer!) dieser Betriebe einmal ansehen. – Ich hoffe, dass auch Sie froh sind, Herr Tauss, dass die (Jörg Tauss [SPD]: Siemens mache ich Vorhal- Wirtschaft tungen! Dazu können Sie auch einmal etwas sagen!) (Jörg Tauss [SPD]: Teile der Wirtschaft!) Jetzt wollen Sie den Weg gehen, die schulische Be- unter großen Anstrengungen noch immer bereit ist, Aus- rufsausbildung zur Kammerprüfung zuzulassen. Ich bildungsplätze bereitzustellen. sage Ihnen: Das ist der Anfang vom Ende des dualen (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Bildungssystems. Das führt zu einer fortlaufenden Aus- Viel zu wenig!) höhlung dieses Systems. Im Ergebnis machen Sie es den Betrieben leicht, ihre Verantwortung, die die Betriebe in Hätten Sie sich schon vor Monaten mehr an das ge- Deutschland zweifelsohne in hohem Maße für unsere (B) halten, was wir Ihnen gesagt haben, dann wären wir ei- jungen Menschen haben und der sie auch nachkommen (D) nen großen Schritt weiter. Das wäre auch für die Wirt- wollen, Zug um Zug an den Staat abzugeben. schaft und die Ausbildungsplätze in Deutschland gut gewesen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der CDU/CSU – Werner Lensing Herr Kollege Dobrindt, der Kollege Tauss möchte [CDU/CSU]: Das ist die Wahrheit!) Ihre Redezeit durch eine Zwischenfrage gerne verlän- gern. Wir haben Ihnen schon vor Monaten gesagt, dass die Schaffung von Ausbildungsplätzen allein nicht ausrei- chen wird. Wir müssen die Rahmenbedingungen ent- Alexander Dobrindt (CDU/CSU): sprechend gestalten, das Berufsausbildungsgesetz än- Darüber freue ich mich. dern und es an die Anforderungen der Wirtschaft anpassen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Mehr Ausbildungsplätze für die jungen Menschen in Bitte schön, Herr Tauss. Deutschland zu schaffen ist die Aufgabe, die wir erledi- gen müssen. Das heißt in erster Linie: Die Ausbildung Jörg Tauss (SPD): muss in hohem Maß flexibler und kostengünstiger wer- Herr Kollege, Sie tun gerade so, als ob es für den den. Neue Berufsbilder müssen schneller entwickelt Staat ein Vergnügen wäre, 200 000 Jugendliche in über- werden. Auch muss die Anzahl der ausbildungsfähigen betrieblichen Ausbildungsgängen zu schulen. Würden Betriebe gesteigert werden. Das sind die richtigen Lö- Sie freundlicherweise zur Kenntnis nehmen, dass es mir sungsansätze, um aus der Ausbildungsmisere herauszu- und, wie ich hoffe, allen hier im Raum am allerliebsten kommen. Die Forderung, die die IG Metall und Verdi wäre, wenn der Staat überhaupt keine schulische Ausbil- heute wieder vertreten, die Ausbildungsumlage einzu- dung anbieten müsste, aber dass denjenigen, die aufgrund führen, hilft uns nicht weiter. der Verantwortungslosigkeit von Teilen der Wirtschaft (Dirk Niebel [FDP]: Wie ist denn da die Aus- – ich rede nicht von denen, die ihrer Verantwortung bildungsquote?) nachkommen – keinen Ausbildungsplatz haben und in solchen Ausbildungsgängen sind, keine Steine in den Anstatt die von uns dargelegten Maßnahmen zu prü- Weg gelegt werden sollten? Würden Sie nicht auch die fen, legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der zu nachhalti- Auffassung teilen, dass wir uns gemeinsam bemühen gen Qualitätsverlusten in der Berufsausbildung, zusätzli- sollten, für diese Jugendlichen etwas zu tun? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12355

(A) Alexander Dobrindt (CDU/CSU): Alexander Dobrindt (CDU/CSU): (C) Herr Tauss, Sie machen nicht das, was Sie hier for- Ausbildung muss für unsere Unternehmen wieder at- dern. Sie fördern die schulische Berufsausbildung und traktiver werden. Das heißt im Besonderen, dass wir die weigern sich, festzustellen, dass Sie dadurch eine klare Bedingungen für die Ausbildung deutlich verbessern Fehlsteuerung innerhalb des Wirtschaftssystems verursa- müssen. Es muss auch möglich sein, dass eine Abwei- chen. chung vom Ausbildungsplan erfolgen kann, wenn die zuständigen Stellen zustimmen und wenn es für den Be- (Jörg Tauss [SPD]: Wer macht das denn? Herr trieb notwendig ist. Das heißt auch, dass die Ausbildung Kretschmer fordert doch ständig mehr!) kostengünstiger werden muss. Wir haben das mehrmals Die Menschen werden nach einer solchen Ausbildung angesprochen. Bei der Ausbildungsvergütung müssen keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben und müssen Einschränkungen vorgenommen werden können. Sie ist danach von der Bundesagentur für Arbeit für viel Geld heute ein entscheidender Kostenfaktor. weitergebildet oder umgeschult werden. (Jörg Tauss [SPD]: Lehrgeld!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Frau Ministerin Bulmahn, bei der letzten Debatte über unseren Vorschlag zur Novellierung des Berufsbildungs- gesetzes haben Sie uns vorgeworfen, dass unser Gesetz- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: entwurf viel zu bürokratisch ist. Ich darf Sie wörtlich zi- Darf nun auch der Kollege Niebel eine Zwischenfrage tieren: „Wir brauchen nicht mehr Bürokratie, sondern stellen? mehr Flexibilität in der beruflichen Bildung.“ Darüber sind wir uns relativ einig. Über Entbürokratisierung kön- Alexander Dobrindt (CDU/CSU): nen wir uns jederzeit verständigen. Besser wäre es aller- Bitte schön. dings gewesen, Sie hätten Ihre Ratschläge selber in Ih- rem Gesetzentwurf befolgt. Ich darf aus dem Entwurf Dirk Niebel (FDP): des Berufsbildungsreformgesetzes zitieren. Dort heißt es Vielen Dank. – Nachdem der Kollege Tauss, der frü- in § 82 – Herr Tauss, es rentiert sich zuzuhören –: her hauptamtlich bei der IG Metall gearbeitet hat, über In jedem Bezirk der Agentur für Arbeit wird eine Anspruch und Wirklichkeit gesprochen hat, regionale Berufsbildungskonferenz … errichtet … (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) frage ich Sie: Wenn Sie die Ausbildungsquote des DGB In § 83 heißt es: (B) von 0,3 Prozent, von Verdi von 0,4 Prozent und IG Me- (D) tall von 0,9 Prozent zur Kenntnis nehmen, sind Sie dann Der regionalen Berufsbildungskonferenz gehören mit mir der Meinung, dass Anspruch und Wirklichkeit an: zwischen der Forderung und der praktischen Wahrneh- 1. acht Beauftragte der Arbeitgeber, acht Beauf- mung der Ausbildungsverpflichtung etwas auseinander tragte der Arbeitnehmer und acht Lehrkräfte an be- klaffen, selbst wenn wir uns nicht unbedingt wünschen rufsbildenden Schulen … sollten, dass die jungen Menschen bei den Gewerkschaf- ten ausgebildet werden? (Jörg Tauss [SPD]: Fachleute!) (Widerspruch bei der SPD – Klaus Barthel 2. vier Beauftragte der Gemeinden …, vier Beauf- [Starnberg] [SPD]: Was wollen Sie denn tragte sonstiger Berufsbildungseinrichtungen … so- jetzt?) wie ein Beauftragter … der Agentur für Arbeit … Ich erspare mir jetzt das weitere Zitieren. Man muss Alexander Dobrindt (CDU/CSU): sich direkt wundern, dass es berufliche Bildung in Herr Niebel, das klafft nicht nur etwas auseinander, Deutschland überhaupt gegeben hat, bevor Sie die ge- sondern eklatant. Sie haben ebenso wie ich die Gewerk- setzlichen Regelungen zur regionalen Bildungskonfe- schaftsfunktionäre in der Diskussion über die Ausbil- renz geschaffen haben. dungsplatzabgabe gehört. Damals hieß es: Wir sind keine Unternehmen, wir müssen uns daran nicht beteili- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen. Für uns gilt das alles nicht. – Das ist die Wirklich- neten der FDP) keit derer, die dort drüben sitzen. Sie schaffen überflüssige Bürokratie. Die Betroffe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg nen arbeiten in aller Regel hervorragend zusammen, und Tauss [SPD]: Sie haben den Gewerkschaften zwar besser, als wenn Sie dies gesetzlich verordnen. erspart, eine Umlage zahlen zu müssen!) Ich fordere Sie deswegen auf: Prüfen Sie doch ein- mal, ob Sie wirklich das wollen, was in diesem Gesetz- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: entwurf steht. Herr Tauss, ein Wunsch an Sie persönlich: Ab sofort hat hauptsächlich der Kollege Dobrindt das Holen Sie doch die Ministerin aus diesem Bürokratie- Wort. dschungel heraus! (Jörg Tauss [SPD]: Okay, soll er machen, aber (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: auf höherem Niveau!) Das ist Subsidiarität, Herr Kollege!) 12356 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Alexander Dobrindt (A) Es reicht schlichtweg nicht, immer wieder zu sagen, Nicht nur von den Spitzen der Bundesagentur und (C) dass die nicht vorhandenen Ausbildungsplätze von heute von Verbänden, sondern auch von den Aufsichtsgremien die nicht vorhandenen Fachkräfte von morgen sind. Die werden zunehmend Zweifel daran geäußert, ob alle rot- Bundesregierung hat die Verantwortung dafür, dass die grünen Zeitpläne eingehalten werden können. Ich zitiere jungen Menschen in Deutschland eine Zukunft und eine beispielsweise den Chef des Aufsichtsgremiums der BA, Chance auf Ausbildung und Arbeit haben. Dazu gehört des Verwaltungsrates, Herrn Clever der Ausbildungspakt. Das ist richtig. Dazu gehören aber vor allem ausreichende Rahmenbedingungen. Die Ände- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rung des Berufsbildungsgesetzes ist eine der notwendi- NEN]: Ihr Parteifreund!) gen Rahmenbedingungen. Gehen Sie einen gemeinsa- – hören Sie zu, Frau Dückert! –, der vor zwei Wochen men Weg mit uns! Dann haben wir eine echte Chance, erklärt hat, Flexibilisierung, weniger Bürokratie und mehr Lehrstel- len in Deutschland zu schaffen. (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ich weiß, was er erklärt hat! Das ist Ihr Danke schön. Parteifreund!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) über die Software sei eine richtige Ausrechnung der An- sprüche auf das Arbeitslosengeld II derzeit nicht mög- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: lich. Ich schließe die Aussprache. Andere Mitglieder dieses Aufsichtsgremiums äußern Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf sich ähnlich. Selbst der Chef der Bundesagentur, Herr den Drucksachen 15/3980 und 15/3299 an die in der Ta- Weise, räumt mittlerweile nicht nur ein, dass andere Re- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. formbaustellen – er meint beispielsweise Hartz III – erst Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich einmal zu kurz kommen, sondern auch, dass die Vermitt- der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. lungsquoten Anfang nächsten Jahres zurückgehen wer- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: den. Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl- In diesen Zusammenhang passt eine Agenturmel- Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, Veronika dung, die uns vor wenigen Stunden erreicht hat. Danach Bellmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- sagte ein Sprecher der Bundesagentur für Arbeit am heu- tion der CDU/CSU tigen Donnerstag, die Hälfte der 180 Arbeitsagenturen Reibungslose Umsetzung von Hartz IV im In- habe am Mittwoch nicht mehr auf die Datenbank zugrei- (B) teresse der Betroffenen sicherstellen fen können. Das Computerprogramm sei erstmals abge- (D) stürzt. Die Computerexperten der Bundesagentur hätten – Drucksache 15/3803 – den Fehler allerdings in einer Nachtschicht beheben kön- Überweisungsvorschlag: nen. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Finanzausschuss (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend NEN]: Erzählen Sie doch einmal, dass es wie- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung der läuft! Das ist die Meldung von heute!) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss Von Sozialamtschefs werden bereits Notfallpläne Nach einer Vereinbarung der Fraktionen ist für die diskutiert. In Berlin beispielsweise spricht der Neuköll- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazu ner Sozialstadtrat Michael Böge von Notfallplänen, nach gibt es offensichtlich keinen Widerspruch. Dann haben denen die künftigen Hilfeempfänger möglicherweise wir das so vereinbart. Abschlagszahlungen bekommen könnten. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Fast 3,5 Millionen Menschen sind in Sorge, ob sie tat- Kollegen Johannes Singhammer für die CDU/CSU- sächlich zum 1. Januar Arbeitslosengeld II erhalten wer- Fraktion. den. Viele verzweifeln beim Ausfüllen des 16-seitigen Fragebogens, der völlig missglückt ist. Zudem hat die (Beifall bei der CDU/CSU) unsägliche Diskussion zwischen Rot und Grün darüber, ob im Januar kommenden Jahres bei der Auszahlung ein Johannes Singhammer (CDU/CSU): Monat übersprungen werden soll, das Vertrauen man- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- cher in die Umsetzung des Programms erschüttert. ren! Wir, die Union, wünschen dem Großprojekt der Zu- sammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe viel Vor diesem Hintergrund frage ich die Bundesregie- Erfolg. Deshalb haben wir dieser Reform zugestimmt. rung, Herr Staatssekretär – die Menschen in Deutschland wollen das wissen –: Erstens. Besteht die Gefahr einer (Gerd Andres, Parl. Staatssekretär: Sehr gut!) Bruchlandung, ja oder nein? Ich fordere Sie auf, heute hier im Deutschen Bundestag eine Garantieerklärung Für die pünktliche und gerechte Umsetzung dieses Vor- abzugeben: Können die 3,5 Millionen betroffenen Men- habens trägt allerdings alleine die Bundesregierung die schen und ihre Familienangehörigen damit rechnen, dass Verantwortung. sie zum 2. Januar kommenden Jahres die Auszahlungen (Gerd Andres, Parl. Staatssekretär: Falsch!) erhalten? Welche Einschätzungen lassen die Erfahrun- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12357

Johannes Singhammer (A) gen mit dem neuen Computerprogramm zum gegenwär- schine nicht in Gang bringen, dann wird Hartz IV kein (C) tigen Zeitpunkt – Ende Oktober – zu? Trifft es beispiels- Erfolg. weise zu, dass statt der 40 000 Mitarbeiter der Ich nenne Ihnen ein Beispiel. In der Arbeitsagentur Bundesagentur, die eigentlich Zugriff auf das neue Sys- Stralsund in Mecklenburg-Vorpommern wird derzeit mit tem haben sollten, derzeit nur 16 000 darauf Zugriff ha- rund 21 000 Arbeitslosengeld-II-Empfängern allein aus ben, weil das Programm immer noch nicht in der Lage der bisherigen Arbeitslosenhilfe gerechnet. Hinzu kom- ist, größere Kapazitäten zu bewältigen? Wie viele An- men die Empfänger von Arbeitslosengeld I. Voraussicht- träge sind derzeit gestellt worden? Wie viele Anträge lich wird es im Januar kommenden Jahres insgesamt müssten in der verbleibenden Zeit – das sind 47 Arbeits- rund 55 000 Arbeitsuchende im Bereich der Arbeits- tage – bis zum Januar kommenden Jahres täglich bear- agentur Stralsund geben. Dem stehen derzeit etwa beitet und beschieden werden, um alle Anträge abzu- 1 200 offene Stellen gegenüber. Das heißt, auf jede of- arbeiten? fene Stelle kommen mittlerweile fast 44 Arbeitsuchende. Zweitens. Kann die Bundesregierung garantieren, Das ist die Realität. Solange jeden Tag in Deutschland dass den Kommunen und den Landkreisen alle zuge- 1 000 Arbeitsplätze abgebaut anstatt neue geschaffen sagten Finanzmittel auch tatsächlich zur Verfügung ge- werden, werden die mit dem gesamten Programm stellt werden? Hartz IV verbundenen Erwartungen kaum zu erfüllen sein; denn die Haupterwartung der Arbeitsuchenden ist, (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Die stellen dass die Arbeitsagentur sie an die Hand nimmt, betreut ja keine Haushalte auf!) und hilft, einen Job zu bekommen. Aber wo es keine Drittens. Hat die Bundesregierung alles getan, damit Jobs gibt, wo die Zahl der Jobs Tag für Tag abnimmt, die Zusammenarbeit zwischen den Kommunen, Land- kann die Rechnung nicht aufgehen. kreisen und der Arbeitsverwaltung reibungslos funktio- (Beifall bei der CDU/CSU) nieren kann? Es gibt zunehmend Meldungen, dass es um die Zusammenarbeit nicht zum Besten bestellt ist. Zum Herr Bundesminister Clement hat wiederholt sein po- einen sollen die Landkreise unter Druck gesetzt werden, litisches Schicksal mit der erfolgreichen Einführung des sich den von den Arbeitsagenturen zentral gesteuerten Arbeitslosengeldes II verknüpft. Er hat gesagt: Arbeitsgemeinschaften zu unterwerfen. Zum anderen er- Ich habe dafür den Kopf hinzuhalten, dass am reichen uns Meldungen, dass die Zugriffsmöglichkeiten 2. Januar die Auszahlung fristgerecht erfolgt. der Sozialverwaltungen auf die Datensätze der Arbeits- agenturen nicht gegeben seien, dass Stellungnahmen der (Dirk Niebel [FDP]: Das ist ein Sonntag! Dann Datenschutzbeauftragten geltend gemacht würden, dass muss er schon einmal die Koffer packen!) (B) dies alles zu einer Verzögerung des Abgleichs der Daten- (D) Ich fordere die Bundesregierung auf: Sorgen Sie dafür, sätze führe und dass letztlich die Arbeit nicht in dem ge- dass das Arbeitslosengeld II pünktlich im Januar kom- wünschten Maße vorankomme. menden Jahres ausgezahlt wird! Stellen Sie den Kom- An dieser Stelle möchte ich den Mitarbeiterinnen und munen und den Kreisen die zugesagten Finanzmittel zur Mitarbeitern der Arbeitsagenturen, der Arbeitsgemein- Verfügung! Sorgen Sie für eine reibungslose Koopera- schaften und der Sozialbehörden, die mit der Umsetzung tion der Arbeitsagenturen mit den Kommunen und den von Hartz IV, diesem gewaltigen Programm, beschäftigt Kreisen! Kümmern Sie sich vor allem darum, dass die sind, ein großes Kompliment für ihre Einsatzbereit- Arbeitslosen endlich wieder eine Chance auf einen Job schaft, für den Verzicht auf Urlaub und für viele Über- haben! stunden aussprechen. An den Mitarbeitern all dieser (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ämter und ihrer Einsatzbereitschaft liegt es nicht, wenn neten der FDP) es zu Problemen bei der Umsetzung kommt.

Nun komme ich zum entscheidenden Punkt. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Gerd Andres, Parl. Staatssekretär: Oh! Erst Für die Bundesregierung hat nun das Wort der Parla- jetzt?) mentarische Staatssekretär Gerd Andres. – Es gibt viele Punkte. – Können den erwerbsfähigen Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Anspruchsberechtigten tatsächlich Jobangebote unter- minister für Wirtschaft und Arbeit: breitet werden? Das ist das eigentliche Anliegen von Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Hartz IV und der Ausgangspunkt der ganzen Reform. Es Herren! Herr Singhammer, der von Ihnen vorgelegte An- soll ja besser werden. Mehr Menschen sollen die Chance trag „Reibungslose Umsetzung von Hartz IV im Inte- haben, wieder in Arbeit zu kommen. resse der Betroffenen sicherstellen“ stellt eines klar – das (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Christoph finde ich gut –: Die größte Oppositionsfraktion steht Bergner [CDU/CSU]: Auch im Osten!) ohne jeden Vorbehalt hinter dieser Reform. Es ist wich- tig, das festzuhalten, weil es im Sommer schon einmal Hartz IV kann nur gelingen, wenn es auch Jobs gibt, in anders klang. die Arbeitslose vermittelt werden können. Wenn zwar die Mitarbeiter der Arbeitsagenturen künftig wie die ( [CDU/CSU]: Es haben mehr Weltmeister vermitteln, aber die politischen Akteure der von Ihren Leuten dagegen demonstriert, als Bundesregierung amateurhaft vorgehen und die Jobma- von uns dabei gewesen sind!) 12358 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) Zu Ihrer Rede möchte ich Ihnen noch sagen: Wir wer- Peter-Spielen und Schuldzuweisungen verharren. Herr (C) den am 2. Januar keine Leistungen auszahlen, weil das Singhammer, wenn Sie meinen, Sie könnten hier mit ein Sonntag ist. Ich möchte noch etwas klarstellen Wasserstandsmeldungen, die sich auf irgendwelche – dazu brauchen wir weder diese Debatte noch eine Ak- Pressemeldungen beziehen, Stimmung machen, dann tuelle Stunde noch Ihre, wie ich persönlich finde, etwas entgegne ich Ihnen: Auch das gehört dazu. Sie tragen dürftige Rede –: Die Bundesregierung wird sicherstel- eine ähnliche Verantwortung wie wir und die sollten Sie len, dass jeder seine Leistung erhält. Ich sage es ganz auch wahrnehmen. drastisch – ich habe es schon gestern in einer anderen Veranstaltung so gesagt –: Notfalls zahlen wir die Leis- Angesichts der Größe dieses Projektes kann ich auf- tungen per Hand oder mit dem Hammer aus. kommende Sorgen darüber verstehen, dass die Umstel- lungsphase ungewünschte Nachteile für die Betroffenen (Dirk Niebel [FDP]: Wie zahlt man mit dem mit sich bringt. Wir nehmen das ernst und wir wollen so Hammer aus?) etwas ausschließen. Jeder bekommt seine Leistung. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ich halte es für angemessen, mich mit einigen Positio- des Kollegen Dr. Bergner? nen dieses Antrages auseinander zu setzen. Dieser An- trag ist eigentlich überholt. Wenn man sich ihn einmal genauer anschaut, erkennt man, dass er außerordentlich Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes- dürftig ist. minister für Wirtschaft und Arbeit: Herr Präsident, wenn Sie meine Redezeit anhalten, Erstens: der Zeitdruck. Für den von Ihnen angeführ- gerne. ten Zeitdruck trägt nicht allein die Bundesregierung die Verantwortung. Wir sitzen hier alle im gleichen Boot. Letztlich waren zwei Vermittlungsverfahren notwendig, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: um die gesetzlichen Voraussetzungen für die von Ihnen Wie immer. gewünschte kommunale Option zu schaffen. Deshalb lag die Einigung erst Ende Juni, Anfang Juli vor. Seitdem ist Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes- die Umsetzung in vollem Gang. minister für Wirtschaft und Arbeit: Sie haben gesagt, bei uns liege die alleinige Verant- Gut, allerdings lief die Uhr weiter, während Sie frag- wortung. Daher will ich gleich hinzufügen: Auch das ist ten. Es ging also schon etwas von meiner Redezeit ab. (B) Unsinn. (D) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Doch, das stimmt!) Herr Bergner, bitte. Manche Kommunen – es sind genau 69 – haben sich ent- Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): schieden, dieses Vorhaben allein zu schultern. Dement- sprechend liegt die Verantwortung nur bei ihnen. Gerade Herr Staatssekretär, Sie unterstellen uns, dass wir Ih- weil ich weiß, was das im Einzelnen bedeutet und was nen den schwarzen Peter zuspielen wollen. Außerdem das mit sich bringt, nötigt mir diese Entscheidung gro- werfen sie uns vor, dass wir uns vor der Übernahme von ßen Respekt ab. Ich wiederhole: Ich habe großen Re- Verantwortung drücken. Das verführt mich dazu, Ihnen spekt vor denen, die optiert haben. eine Frage zu stellen, die mir von vielen, die vor Ort mit der Umsetzung beschäftigt sind, gestellt wird. In Anerkennen möchte ich auch den Einsatz von Kom- § 13 SGB II wird der Bundesregierung hinsichtlich der munen und von den örtlichen Arbeitsagenturen zur Bil- Kostenberechnung und der Kostenerstattung eine um- dung von Arbeitsgemeinschaften. Sie alle wissen, dass fängliche Verordnungsermächtigung erteilt. Ich werde im Regelfall örtliche Arbeitsagenturen und die Kommu- immer wieder mit der Frage konfrontiert: Wann wird die nen in Form von so genannten Arbeitsgemeinschaften Bundesregierung diese Verordnungsermächtigung end- kooperieren. Vielleicht ist dieses Vorhaben sogar noch lich wahrnehmen und wann ist damit zu rechnen, dass schwieriger als die Option; denn es geht hier um die Fu- wir mit verbindlichen Verordnungen rechnen können? sion zweier völlig unterschiedlicher Kulturen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zur reibungslosen Umsetzung sind wir also alle auf- einander angewiesen. Wir alle stehen in der Verantwor- Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes- tung. Gerade Sie, die Unionsparteien, waren es doch, die minister für Wirtschaft und Arbeit: für eine eigene Verantwortung der Kommunen gestritten haben: eine eigene Verantwortung, die wir jetzt in Form Herr Abgeordneter, ich war gerade dabei, klarzustel- von Arbeitsgemeinschaften und zugelassenen kommu- len, dass das ein enorm wichtiges und gewaltiges Re- nalen Trägern verwirklichen. formprojekt ist. Wir arbeiten eine Position nach der an- deren ab. Ich kann Ihnen hier ganz verbindlich sagen Damit das – Zitat aus Ihrem Antrag – „enorm wich- – wir haben mit den Kommunen lange verhandelt –: Die tige Reformprojekt“ gelingt, sollten wir alle Kraft auf Kosten, die der Bund zu tragen hat, wird er tragen. Die die Umsetzung konzentrieren und nicht in Schwarzer- Kosten, die die Kommunen zu tragen haben, werden sie Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12359

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) tragen. Wir arbeiten die Verordnung gegenwärtig Punkt schäftigt, seit dem 18. Oktober unter Einsatz der neuen (C) für Punkt ab. Auch diese Verordnung wird kommen. Software A2LL. Natürlich wird es knirschen im Gebälk. Das ist im Damit bin ich beim nächsten Punkt – dazu haben Übrigen nicht anders als bei jeder derartigen Umstellung Sie auch die Wasserstandsmeldung bemüht, Herr in der freien Wirtschaft. Schon jetzt aber das Scheitern Singhammer –: A2LL ist nicht mehr und nicht weniger an die Wand zu malen, wie es Herr Singhammer – er te- als das bisher größte E-Government-Projekt in Europa. lefoniert gerade interessiert – eben getan hat, ist eher ein Natürlich wird dabei wie bei der Einführung jeder neuen Beispiel für Wankelmütigkeit als für Standfestigkeit. Software nicht alles glattlaufen können. Systemausfälle müssen einkalkuliert werden und dürfen nicht für Panik- (Dirk Niebel [FDP]: Er fragt nach, wann die mache und Verunsicherung benutzt werden. Verordnung kommt!) – Er schaut gerade im Kalender nach, ob der 2. Januar Ich will hier einmal klarstellen, dass die Umsetzung wirklich ein Sonntag ist. Ich traue ihm auch das zu. eines solchen Vorhabens Mut braucht, Mut nämlich, in kalkuliertem Rahmen den Fachleuten etwas zuzutrauen. Zum Punkt 2: Zusammenarbeit mit den Kommu- Diese Bereitschaft der öffentlichen Verwaltung zum kal- nen. Viele notwendige Dinge sind auf den Weg ge- kulierten Risiko entspricht modernen unternehmerischen bracht. Ich habe bei der Beantwortung der Zwischen- Führungsmethoden. Angesichts der Verantwortung, die frage gerade einiges genannt. Für die zugelassenen wir gemeinsam tragen, gehört dazu natürlich auch das kommunalen Träger haben wir verlässliche Rahmenbe- Vorhalten von Rückfallpositionen. Bisher jedoch war dingungen geschaffen, um eine reibungslose Zusammen- das Vertrauen in die Fachleute gerechtfertigt. Auch wenn arbeit zwischen Kommunen und Arbeitsverwaltung si- es gestern gehakelt hat – Sie haben darauf hingewie- cherzustellen. Per Rechtsverordnung wurden Ende sen –, läuft die Software allen Unkenrufen zum Trotz re- September die kommunalen Träger zugelassen. Im Rah- lativ geräuschlos, übrigens auch bei der Eingabe von men einer Informationsveranstaltung in der vorigen Wo- komplexeren Fällen. Dieses Vertrauen in die Fachleute che in unserem Ministerium wurde mit ihnen über alle würde ich mir manchmal von einigen Vertretern von offenen Fragen diskutiert. Wir leisten alle Unterstützung. Verbänden der deutschen Wirtschaft erhoffen, auch et- 77 Prozent der Kommunen wollen eine Arbeitsge- was deutlicher, und ganz besonders von denen – Herr meinschaft gründen und 25 Prozent haben dies zusam- Singhammer, das will ich Ihnen sagen –, die im Verwal- tungsrat der BA sitzen. Sie haben Herrn Clever ange- men mit der Bundesagentur bereits schriftlich fixiert. sprochen, der Ihr Parteibuch hat und früher Mitarbeiter Punkt 3. Das ist auch Gegenstand Ihres Antrags und von Herrn Blüm war. Was er und einige Mitglieder der war ebenfalls Gegenstand der Rede vorhin. Wir sind bei Verwaltungsorgane öffentlich bekunden, um gegen die (B) (D) der Bereitstellung der zugesagten Sach- und Verwal- eigene Institution Stimmung zu machen, tungskosten auf einem guten Weg. Die notwendige Ver- ordnung soll nach Verabschiedung des Haushalts end- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das gültig in Kraft treten. Auch was die Kosten der stimmt doch nicht!) Unterkunft angeht, ist gewährleistet, dass sich der Bund halte ich für unter aller Würde; das sage ich Ihnen hier mit mindestens 29,1 Prozent beteiligt. Wohlgemerkt: Die ganz offen. Kommunen bleiben hierfür selbst zuständig. Über die Beteiligung wollen wir aber sicherstellen, dass die Kom- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ munen die zugesagte Entlastung von 2,5 Milliarden Euro DIE GRÜNEN – Johannes Singhammer pro Jahr auch wirklich erhalten. Wir haben zwei Revi- [CDU/CSU]: Nehmen Sie die Warnungen sions- oder Überprüfungstermine für das kommende ernst!) Jahr vorgesehen. Zur rechtzeitigen Auszahlung habe ich schon etwas Ich will gleich hinzufügen: Auch die Länder sind ver- gesagt. pflichtet, ihre Entlastungen beim Wohngeld an die Kom- Jetzt komme ich zum letzten Punkt, weil ich nur noch munen weiterzugeben. Sie hier können sich darum küm- eine Minute Zeit habe. – Ihren Antrag müsste man in al- mern, dass das auch in den von Ihnen regierten Ländern len Zeitungen abdrucken. geschieht. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die übliche Masche, Steuergelder!) DIE GRÜNEN) Er ist so was von dürftig! Er ist von Frau Merkel, Herrn Die Mittel stehen bereit. Gleiches gilt auch für das Glos und anderen unterschrieben. Man muss sich ihn ge- Personal. Es gibt keine Defizite bei der Personalbereit- nau anschauen. Er ist sozusagen nicht mehr up to date. stellung zur Organisation der Datenerhebung, wie im Man benutzt ihn, um hier eine Debatte zu veranstalten. Antrag behauptet wird. Ich kann Ihnen sagen: Vorhin waren der Vorstand, der (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch nicht Minister, eine ganze Riege von Leuten im Haushaltsaus- wahr!) schuss und haben über alles berichtet, was mit der Um- setzung zusammenhängt. Uns liegen keine Anfragen nach zusätzlichem Personal vor. Die seit langem eingeplanten Zusatzkräfte sowie das (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Der hätte Stammpersonal sind längst mit der Dateneingabe be- kurz herüberkommen können!) 12360 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) Wir berichten regelmäßig, wir berichten immer, wenn Die Zeitverzögerung hat in erster Linie diese Bundes- (C) Sie das möchten. regierung zu vertreten. Wir haben im Dezember 2003 ei- nen klassischen Kompromiss im Vermittlungsverfahren (Manfred Grund [CDU/CSU]: Was blasen Sie gefunden: Grundsätzlich ist die Bundesagentur zustän- sich hier denn so auf?) dig und es sollen dazu Arbeitsgemeinschaften gebildet Wir führen hier auch jeden Tag eine Parlamentsdebatte. werden; die Kommunen jedoch, die es möchten und es Ich würde Ihnen nur empfehlen, das mit besseren Argu- sich zutrauen, bekommen die Möglichkeit, diese Auf- menten als denen zu tun, die Sie hier vorgetragen haben gabe eigenständig durchzuführen. Dann kam ein Satz und die, wie ich finde, außerordentlich dürftig waren. – ich werde in keinem Vermittlungsverfahren mehr zu- lassen, dass so etwas durchgeht –, der da lautete: Das Herzlichen Dank. Nähere regelt ein Bundesgesetz. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das entsprechende Bundesgesetz, das erst im Mai DIE GRÜNEN – Manfred Grund [CDU/ – Herr Staatssekretär Andres, ich bitte um Aufmerksam- CSU]: Er bläst sich auf, das ist ja unglaub- keit – lich! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU – Gegenruf des Parl. Staatssekretärs Gerd (Gerd Andres, Parl. Staatssekretär: Ich kann Herrn Andres: Ich weiß, wovon ich rede – im Gegen- Niebel zuhören und mit anderen reden!) satz zu Ihnen!) – ich traue Ihnen nicht zu, Herr Andres, dass Sie multi- taskingfähig sind; Ihnen nicht, dem Rest der Regierung Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: vielleicht – von der Bundesregierung diesem Hause vor- Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel für die FDP- gelegt wurde, hat kein Optionsgesetz beinhaltet. Es han- Fraktion. delte sich um ein Organleihegesetz, auf dessen Grund- lage die Kommunen, die optieren wollen, als Organ, also als Bestandteil der Bundesagentur, diese Aufgabe hätten Dirk Niebel (FDP): durchführen sollen. Als kommunaler Mandatsträger, der Vielen Dank, Herr Präsident. Meine sehr verehrten ein bisschen was auf sich hält, sage ich Ihnen: Kein Damen und Herren! Lieber Herr Staatssekretär Andres, kommunaler Mandatsträger, der ein bisschen was auf Sie hätten gestern von den Vorgängen im Europäischen sich hält, würde sich freiwillig in die Fänge der Bun- Parlament lernen können, dass nur ein begrenztes Maß desagentur begeben und sich von ihr sagen lassen, wann an Arroganz gegenüber einem Parlament sinnvoll und der Laden auf- bzw. zugemacht werden müsste. Deswe- hilfreich ist, um zum Ziel zu kommen. gen hatte dieses Bundesgesetz im parlamentarischen (D) (B) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Verfahren keine Chance. Es kam ein neues Vermittlungsverfahren, für das Sie Die Freien Demokraten haben bereits vor vier Jahren die Verantwortung tragen, weil Sie den Vermittlungs- hier in diesem Hause die Zusammenlegung von Arbeits- spruch nicht umgesetzt hatten. In diesem neuen Vermitt- losen- und Sozialhilfe beantragt, weil es aus vielen guten lungsverfahren hat die Union – deswegen sagte ich zu Gründen, über die wir oftmals diskutiert haben, sinnvoll Beginn, sie stiehlt sich klammheimlich aus der Verant- ist, diese beiden steuerfinanzierten Leistungen zusam- wortung für dieses Optionsgesetz – wider besseres Wis- menzulegen. Das Entscheidende an dieser notwendigen sen einem billigen Kompromiss zugestimmt. Wir alle, Reform ist aber, dass sie funktioniert. Deswegen sage auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der ich mit gutem Recht: Alle Risiken, die im Antrag der Union, wissen, dass die Bundesagentur nicht geeignet Union aufgeführt werden, sind durchaus realistisch und und nicht kompetent genug ist, um Aufgaben für Sozial- ernst zu nehmen. hilfeempfänger wahrzunehmen – das hat selbst der ehe- ( [FDP]: Leider wahr!) malige Vorstandsvorsitzende Herr Gerster im Vermitt- lungsverfahren gesagt –, nicht etwa, weil die Mitarbeiter Ich sage dazu aber auch: Die Einzigen, die sich hier da- dumm wären, sondern weil sie noch nie zuvor diesen rüber aufregen könnten, sind die Freien Demokraten. Personenkreis betreuten. Hierbei sind nämlich Dinge zu Dass die Union versucht, sich klammheimlich aus der beachten, die über Fragen des Verlustes des Arbeitsplat- Verantwortung zu stehlen, ist nämlich überdeutlich. zes hinausgehen. Sie von der Union haben diesen Kom- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten promiss mitgemacht. Jetzt haben wir ein Sammelsurium: der SPD – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/ auf der einen Seite Arbeitsgemeinschaften und auf der DIE GRÜNEN]: Richtig!) anderen Seite Kommunen, die im Rahmen einer Experi- mentierlösung dafür optiert haben, in alleiniger Träger- Die einzige Partei, die dem Optionsgesetz in diesem schaft ihre eigenen Aufgaben wahrzunehmen. Hause nicht zugestimmt hat, ist die Freie Demokratische Partei gewesen. Wir waren und sind nämlich überzeugt, Es gibt ein EDV-Programm, Herr Staatssekretär, bei dass dieses so genannte Kommunale Optionsgesetz in dem von den geplanten 40 000 Zugriffen gerade nur ma- der jetzigen Form nicht greifen kann. Genau dieses Pro- ximal 16 000 gleichzeitig möglich sind. Ich bin Stadtrat blem werden die Menschen im nächsten Jahr ausbaden in Heidelberg. Wir streben eine Arbeitsgemeinschaft an. müssen. Wir wollen, dass diese notwendige Reform umgesetzt wird. Wenn wir aber von 35 beantragten Zugriffsberech- (Beifall bei der FDP) tigungen, um die Daten einzupflegen, nur acht aus der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12361

Dirk Niebel (A) Angst heraus genehmigt bekommen, dass das System (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (C) abstürzen könnte, dann bekommen wir allein aufgrund Sie sollten darüber nachdenken, ob Sie Ihrer Verantwor- der Zahlen bis zum 31. Dezember die Daten nicht in die tung damit nicht eher gerecht werden würden. EDV eingepflegt, selbst wenn wir im Zweischichtver- fahren und am Wochenende arbeiten. Deswegen wird Vielen Dank. unser Sozialamt wie auch andere Sozialämter nach ei- nem Notplan vorgehen. Auch die Bundesagentur wird (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nach Notplänen vorgehen müssen. Der Staatssekretär sagt dazu: Zur Not zahlen wir bar aus oder mit dem Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Hammer. Ich würde gerne einmal sehen, wie Sie, Herr Das Wort hat die Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/ Staatssekretär, mit dem Hammer auszahlen. Auf solche Die Grünen. Weise ist kein geordnetes Verfahren mehr möglich. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der CDU/CSU) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben es hier mit einem Unionsantrag zu tun. Ich sage Ihnen Es geht hier um die Existenz von Millionen von Men- ganz ehrlich: Nur der Respekt vor diesem Hause nötigt schen. Das Problem ist doch nicht, dass der politische uns, uns mit diesem Antrag eine Weile zu beschäftigen. Wille zu dieser Reform fehlt; das Problem ist, dass diese Ihr Antrag ist schlichtweg inhaltsleer und auch die Rede, Regierung die Menschen von Anfang an nicht anständig die Herr Singhammer hier abgeliefert hat, ist im Grunde informiert hat, obwohl sie in anderen Fragen die Propa- nicht der Auseinandersetzung wert. gandamaschine sofort anwirft. Das Problem ist, dass ein Wust an Anträgen, die eine Vielzahl von Menschen aus Ich finde, Sie hätten sich das sparen können. Stattdes- dem betroffenen Personenkreis gar nicht verstehen sen hätten Sie sich an eine Ratschlag von Weihbischof konnten, viel zu spät verschickt wurde. Hengsbach – der Ihnen näher stand als mir – orientieren sollen, der Folgendes kundgetan hat – ich zitiere mit der Sie haben auch andere Fragen nicht geklärt. Ich be- Erlaubnis des Präsidenten –: kam vom Wirtschaftsministerium die Auskunft, ich solle Habe ich ohne wichtigen Grund durch eine Wort- in zwei Wochen noch einmal anrufen, weil man sich bis meldung dahin vielleicht eine Meinung gebildet habe. Wie verhält es sich denn mit den über 58-Jährigen, mit denen Sie – man könnte auch sagen: einen Antrag – einen Vertrag geschlossen haben, dass sie nicht mehr ar- eine Sitzung verlängert und somit mich und andere beiten müssen und ihre Arbeitslosenhilfe bis zum Ren- von der Familie ferngehalten? Lieber Gott, hilf mir, (B) teneintritt bekommen? Sie müssen zwar auch in Zukunft (D) meinen Mund zu halten, bis ich weiß, worüber ich nicht mehr arbeiten, bekommen aber dann nur das rede! ALG II. Als sie den Vertrag geschlossen haben, sind sie von einem Betrag in Höhe der Arbeitslosenhilfe ausge- (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ gangen. Das Bundeswirtschaftsministerium sagt, dazu DIE GRÜNEN und bei der SPD) habe man sich abschließend noch keine Meinung gebil- det; rufen Sie doch in zwei Wochen noch einmal an. So Das trifft genau auf Ihren Antrag zu. kann ich in diesen schwierigen Fragen doch nicht mit den Menschen umgehen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin, darf ich nur der Vollständigkeit halber (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten hinzufügen, dass es sich bei dem zitierten Herrn der CDU/CSU) Hengsbach nicht um einen Weihbischof, sondern einen Die Menschen haben Angst, was ich auch verstehe. Wir leibhaftigen Kardinal gehandelt hat, was man an der haben die Aufgabe, ihnen diese Angst zu nehmen. Das Qualität des Zitats auch mühelos erkennen kann. können wir nur, indem wir den Verfahrensablauf ver- (Heiterkeit im ganzen Hause – Beifall beim nünftig gestalten und zumindest alle möglichen techni- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der schen Fehler und Gefahrenpunkte von vornherein aus- SPD) merzen. Deshalb glaube ich immer noch: Wenn Sie es nicht Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schaffen, Herr Staatssekretär, dafür zu sorgen, dass das Ich danke, Herr Präsident. Ich weiß, dass ich Ihnen Ganze reibungslos funktioniert – es wird irgendwo ha- nicht widersprechen darf, obwohl es natürlich darauf an- ken, das ist klar, aber zumindest im Großen und Ganzen kommt, wann er diese Worte gesagt hat. reibungslos funktioniert –, sollten Sie überlegen, ob es (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ nicht gefährlicher und auch demokratiegefährdender ist, DIE GRÜNEN und bei der SPD) ein schlechtes System einzuführen, das die Reformbe- reitschaft breiter Bevölkerungsschichten auf lange Zeit Ich will aber zu dem Antrag kommen, denn wir müs- gen null tendieren lässt, als drei oder sechs Monate zu sen uns damit auseinander setzen. Was wird dort festge- warten, bis alle personellen, technischen und rechtlichen stellt? Erste Feststellung: Die Zusammenlegung von Voraussetzungen für die Umsetzung dieser Reform ge- Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ist ein notwendiger schaffen sind. Schritt. – Das ist richtig. Guten Morgen, meine Damen 12362 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Dr. Thea Dückert (A) und Herren von der Union! Dass dieses Hartz-Gesetz, wurde, ihnen würde ihre Wohnung weggenommen wer- (C) diese Zusammenlegung eine der größten Sozialreformen den und sie müssten in ihre alten Wohnblocks zurück- und Arbeitsmarktreformen ist, das wissen wir doch alle. kehren? Wir haben lange darüber diskutiert. Es war notwendig (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wegge- – das haben wir über Jahre gesagt –, die Betreuung der duckt haben sie sich! So sind sie!) Langzeitarbeitslosen in eine Hand zu legen, es ist wich- tig, dass die Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfe- Herr Milbradt wollte sogar noch an diesen Demonstra- empfänger bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik nicht tionen teilnehmen. Sie machen sich einen schlanken weiterhin außen vor bleiben, und viele andere Dinge. Fuß. Auch das ist richtig. Ich bin froh, dass Sie das merken. Sie stellen zweitens fest, dass eine große Mehrheit die- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sem Gesetz zugestimmt habe. Auch das ist richtig; es Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Kollegin? musste ja im Bundesrat und im Bundestag verabschiedet werden. Der Zwang, es mit Ihnen zusammen zu verab- Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schieden, hatte allerdings seinen Preis für die Langzeit- Ja, gerne. Bitte schön. arbeitslosen. Zum Beispiel wurden die Zumutbarkeitsre- gelung und die Zuverdienstmöglichkeiten verschlechtert. Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Davon liest man in Ihrem Antrag nichts. Frau Kollegin, ehe Sie sich jetzt in Ihrer Schelte gegen Ich denke, dass der Hinweis auf die große Mehrheit die Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer, die be- etwas ganz anderes bedeuten soll: Er soll wieder einmal kanntermaßen ein unterschiedliches Parteibuch haben – verschleiern und einen schwarzen Mantel des Schwei- gens über die Tatsache decken, dass Ihre Ministerpräsi- Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): denten, zum Beispiel Herr Milbradt oder auch Herr Herr Platzeck hat es anders gemacht. Böhmer, im Sommer durch die Lande gezogen sind und glauben machen wollten, dass sie nicht zugestimmt hät- Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): ten. – und die im Bundesrat aus guten Gründen dem Kom- (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Haben munalen Optionsgesetz nicht zugestimmt haben, weiter sie ja auch nicht!) ereifern, möchte ich Sie fragen: Wie gehen Sie eigentlich – Sehen Sie, da bekommen wir diese Fehlmitteilung mit den Gegnern der Hartz-IV-Reform in Ihren eigenen Reihen um? (B) schon wieder! (D) (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Die ha- Der Kollege Ströbele hat an der Montagsdemonstra- ben genauso wie Herr Niebel nicht zuge- tion in meinem Wahlkreis in Halle nicht teilgenommen. stimmt!) Ich weiß zwar nicht, warum das so gewesen ist. Aber der Slogan „Hartz IV muss weg“ ist verglichen mit seinen Sie haben im Dezember, als es um die Verabschiedung Äußerungen, die im Vorfeld kolportiert wurden und die der Zumutbarkeitsregelung, der Zuverdienstregelung eine fundamentale Kritik an der Hartz-IV-Reform waren, usw. ging, zugestimmt. Im Juli, als es um die Finanzver- ein zahmer Ausdruck. Da Sie sich in Ihrer Kritik an den teilung ging, haben sie allerdings dagegen gestimmt. Ge- gewählten Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer nau das ist Ihre Politik und das machen Sie auch in Ih- so ereifern, würde mich einfach einmal interessieren, rem Antrag: Sie stehlen sich aus der Verantwortung. wie Sie mit den Leuten in Ihren eigenen Reihen umge- hen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schlimmer noch: In Ihrem Antrag unterstellen Sie Wie gesagt, Herr Platzeck hat sich anders verhalten, zum Beispiel – lesen Sie es einmal nach; man glaubt es was sich übrigens im Wahlergebnis niedergeschlagen kaum –, dass die Wahlerfolge der Rechtsextremisten hat. direkt von der Informationspolitik der Bundesregierung abzuleiten seien. Angesichts der Wahlergebnisse für die (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Ich habe Rechtsextremisten – 9,2 Prozent für die NPD in Sachsen nach Herrn Ströbele gefragt!) und 6,1 Prozent für die DVU in Brandenburg – frage ich – Gemach, gemach. Ich bedanke mich ausdrücklich für Sie: Wo waren Ihre Oberwahlkämpfer, Herr Milbradt Ihre Frage. Ich will Ihnen gerne schildern, wie ich zum und Herr Schönbohm, als es darum ging, gegen die Paro- Beispiel mit meinem Kollegen Christian Ströbele oder len „Hartz muss weg“ und „Hartz ist ein Griff in die Ta- auch mit Montagsdemonstranten umgehe. Ich habe mit sche von jedem“ Stellung zu beziehen? ihnen geredet und diskutiert. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Herr Ströbele (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ah ja!) hat das Plakat herumgetragen! Wo waren da Ihre eigenen Leute?) – Hören Sie zu! Seien Sie nicht so aufgeregt! – Christian Ströbele hat mir versichert, dass er erstens mit den Men- Ich frage Sie: Wo waren Sie, als den Menschen Angst schen auf den Montagsdemonstrationen darüber geredet gemacht wurde, indem ihnen beispielsweise gesagt hat, dass die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12363

Dr. Thea Dückert (A) und Sozialhilfe kommen muss. Er hat ihnen zweitens Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) dargelegt, dass sich unsere gesamte Fraktion und auch Schönen Dank, Herr Präsident. Das ist sehr geschickt. der Koalitionspartner mit Schwierigkeiten und Proble- men bei der Umsetzung auseinander zu setzen haben. Ich komme zum Schluss. Auf eines möchte ich noch Wir mussten beispielsweise auf die verschärften Zumut- hinweisen: Wenn Sie von uns fordern, dafür zu sorgen, barkeitsregeln, die Ihre Partei und Ihre Fraktion ins Ge- dass die Kommunen ihr Geld bekommen, setz hineingebracht haben, Antworten finden, damit die (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Langzeitarbeitslosen darunter nicht leiden müssen. NEN]: Ja! Sehr guter Punkt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dann kann ich dazu nur sagen: Wir haben eine Revi- und bei der SPD – Dr. Christoph Bergner sionsklausel eingebaut. Sie ist sicher; das haben Ihre ei- [CDU/CSU]: Da bin ich aber anderer Mei- genen Leute gesagt. Bitte sorgen Sie dafür, dass die von nung!) der Union geführten Landesregierungen in Baden- Ich möchte noch auf andere Punkte Ihres Antrages Württemberg, Niedersachsen und Sachsen – und wo sie eingehen. Sie haben zum Beispiel die Verunsicherung sonst noch alle sind – nicht ihre klebrigen Finger auf das der Menschen beklagt. Es ist richtig, dass dies ein großes Wohngeld halten und es den Kommunen nicht zukom- Problem gewesen ist. Aber wir haben eine sehr intensive men lassen! Informationsarbeit geleistet. Was Herr Singhammer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eben gesagt hat und was man in Ihrem Antrag nachlesen und bei der SPD) kann, ist nichts anderes als eine Fortsetzung der Verunsi- cherung der Menschen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Ströbele. Sie, Herr Singhammer, sprechen hier und heute davon, dass Millionen von Menschen damit rechnen müssen, im Januar ihre Leistungen nicht zu bekommen. Sie wissen, Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE dass das falsch ist. GRÜNEN): Herr Kollege Bergner, erstens bestätige ich, dass die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kollegin Thea Dückert weder gesagt noch gemeint hat, und bei der SPD) dass in unserer Fraktion Auseinandersetzungen per Ba- Sie wissen auch, dass nur Menschen, die ihre Anträge ckenstreich ausgetragen werden. nicht rechtzeitig abgeben, Probleme bekommen können. (B) (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) An dieser Stelle möchte ich Sie, Herr Singhammer und NEN und bei der SPD) viele andere Kollegen von der CDU/CSU, fragen: Wo waren Sie in den letzten Monaten, als Initiativen Sozial- Zweitens möchte ich mich noch einmal beim DGB hilfeempfänger aufgefordert haben, ihre Anträge nicht Halle dafür bedanken, dass ich zur Montagsdemonstra- abzugeben, obwohl es sich um Menschen handelt, die tion eingeladen war. Ich bin deshalb nicht hingegangen, bedürftig sind und die ihr Geld brauchen? Wir müssen weil ich als Abgeordneter leider Pflichten hier im Hause diese Menschen informieren. Da sind Sie aber nicht her- hatte – es war ja eine Sitzungswoche – und nicht fehlen vorgetreten, Herr Singhammer. Sie setzen nur die Politik konnte. der Verunsicherung fort. Aber ich kann Sie drittens darüber informieren, was (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ich dort gesagt hätte; das hätten Sie sich dann in Halle und bei der SPD – Abg. Johannes Singhammer auf der Straße anhören können. Es trifft zu, dass ich zu [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischen- fast allen Montagsdemonstrationen, die bisher in Berlin frage) stattgefunden haben, gegangen bin und dass ich den De- monstranten das gesagt habe, was ich auch in meiner Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Fraktion im Deutschen Bundestag immer wieder erkläre: Sie müssen bitte zum Schluss kommen, Frau Kollegin Ich halte die Hartz-IV-Reform, insbesondere die Zusam- Dückert. menlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, so wie sie gestaltet worden ist, grundsätzlich für notwendig und richtig. Daran kommen wir nicht vorbei. Ich habe aller- Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dings auf den Demonstrationen auch erklärt, dass es in Das sehe ich genauso. Ich habe aber den Eindruck, den Hartz-IV-Gesetzen einige Punkte gibt, die unter an- dass Herr Singhammer das anders sieht. derem durch die Union in der Auseinandersetzung im Vermittlungsausschuss bzw. über den Bundesrat in diese Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Gesetze hineingezwungen worden sind, und dass ich Den Eindruck habe ich zwar auch. Aber da ich die deshalb im Deutschen Bundestag mit einigen anderen Verlängerung angemeldeter Redezeiten nach abgelaufe- meiner Kollegen gegen diese Gesetze gestimmt habe. ner Redezeit nicht durch Zwischenfragen mutwillig be- Das heißt, ich stehe für Wahrheit und Klarheit und für fördern will, kann ich diese Zwischenfrage selbst dann nicht zulassen, wenn Sie sie gerne beantworten würden. die direkte Auseinandersetzung mit der Bevölkerung auf der Straße. Ich bedauere es außerordentlich, dass keine (Heiterkeit bei der SPD) Vertreter Ihrer Fraktion auf den Montagsdemonstrationen 12364 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Hans-Christian Ströbele (A) waren und sich dieser Auseinandersetzung gestellt ha- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Thea Dückert (C) ben. Insbesondere haben Sie den Menschen auf der [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Koch hat Straße nicht erklärt, wie es kommen kann, dass Sie im zum Boykott aufgerufen!) Deutschen Bundestag und im Vermittlungsausschuss, der zwischen Bundestag und Bundesrat vermittelt, mit Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: erheblichem Druck und zum Teil nach Mitternacht dafür Herr Kollege Singhammer. sorgen, dass diese Gesetze zulasten vieler sozial schwach gestellter Personen erheblich verschärft worden Johannes Singhammer (CDU/CSU): sind, und dass Sie sich dann in der Öffentlichkeit er- Frau Kollegin Dückert, Sie haben in Ihrem Beitrag dreisten, dagegen vorzugehen und zu versuchen, auf eine behauptet, ich erwartete, dass die Bezieher von allgemeine, populäre Meinung in der Bevölkerung zu Arbeitslosengeld II die ihnen zustehenden Leistungen setzen. Sie drücken sich vor der Verantwortung, scheuen nicht bekämen. Dies ist völlig falsch. Vielmehr habe ich die Verantwortung und tun dann noch so, als seien Sie darauf hingewiesen, dass 3,5 Millionen Menschen in gegen diese Gesetze gewesen. Sorge darüber sind, ob sie diese Leistungen bekommen. Das ist nicht hinnehmbar und unanständig. Das ist un- Weil wir diese Sorgen aufgreifen, führen wir diese De- parlamentarisch und unverantwortlich. batte. Wenn Sie sich hier als die Sauberfrau des Deut- schen Bundestages, als die Deutsche im weißen Kleid, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gebärden, sollten Sie zumindest das Erinnerungsvermö- und bei der SPD) gen der Beteiligten nicht allzu sehr strapazieren. Ihre Darstellung war jedenfalls schlichtweg falsch. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Bergner, wenn Sie antworten wollen, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: haben Sie sofort die Möglichkeit dazu. Dann hat der Frau Kollegin Dückert. Kollege Singhammer um eine Kurzintervention gebeten. Ich bitte darum, insgesamt ein bisschen zu berück- Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sichtigen, dass, wann immer in einer Debatte irgendje- Herr Kollege Singhammer, ich halte es für einen Ihrer mand persönlich angesprochen wird, was für parlamen- sophistischen Tricks, die Sie offenbar auf Ihrer Partei- tarische Debatten nicht völlig unüblich ist, das nicht redeschule lernen, wenn Sie zitieren, dass sich andere gleich zur Inanspruchnahme des gesamten Instrumenta- Leute Sorgen machten, ob sie die ihnen zustehenden riums der Geschäftsordnung genutzt werden muss. Leistungen auch ausgezahlt bekämen. Damit stehlen Sie sich sogar für dieses Argument aus der Verantwortung. (B) (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) Wenn nach Ihrer Ansicht Schwierigkeiten für die Bezie- (D) herinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II zu erwar- Den Präsidenten beschwert dies eigentlich am allerwe- ten sind, dann sollten Sie, Herr Singhammer, bitte dabei nigsten. Nur, anschließend kommen die Kollegen und helfen, die Menschen dahin gehend zu beraten, dass sie beklagen sich über das maßlose Überziehen der vorher die Anträge gut ausfüllen können, die Sie in Ihrer Rede angemeldeten Redezeiten. vorhin als völlig unausfüllbar klassifiziert haben. So, wie Bitte schön, Herr Kollege Bergner. Sie gerade auf die Debatte geantwortet haben, haben Sie wiederum Nebelkerzen geworfen. Hilfreich wäre es, wenn Sie zu Ihrer Verantwortung stünden. Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Herr Kollege Ströbele, wenn die Betroffenen eine De- batte, wie wir sie hier führen, beobachten würden, würde Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: es sie zunächst einmal wenig interessieren, ob Sie den Das Wort hat die Kollegin Veronika Bellmann, CDU/ Vorwurf, es sei im Vermittlungsausschuss durch die CSU-Fraktion. Union zu einer Verschärfung gekommen, oder wir den Vorwurf machen, Sie würden sich davonschleichen und Veronika Bellmann (CDU/CSU): würden den Eindruck erwecken, als ob die Grünen ge- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und wissermaßen frontal gegen Hartz IV gewesen seien. Herren! Zunächst gehe ich auf die Ausführungen von Frau Dückert ein. Klebrige Finger haben unsere Landes- Ich habe übrigens nach Demonstrationen – bewusst regierungen ganz bestimmt nicht. Beispielsweise gibt es nicht in Demonstrationen – auf einer großen Veranstal- in Sachsen bereits Vereinbarungen mit dem Städte- und tung im Magdeburger Dom zusammen mit SPD-Kolle- Gemeindetag und mit dem Landkreistag im Hinblick auf gen den Demonstranten zur Verfügung gestanden. Dort die Weitergabe der entsprechenden Gelder. Dies kann hatte ich den Eindruck, dass man für meine Position, die man von der Bundesregierung ganz und gar nicht sagen; sich gar nicht an der Frage der Zumutbarkeit festmacht, denn der Entwurf des § 13 SGB II wurde mitnichten mit wie Sie uns immer vorwerfen, Verständnis hatte. Vor den kommunalen Spitzenverbänden abgesprochen. dem Hintergrund des ostdeutschen Arbeitsmarktes ist Ihr Vorwurf geradezu irrelevant; denn es ist mit großer Ge- Dann sind Sie wieder mit Ihrer alten Leier von Argu- schwindigkeit und mit großem Zeitdruck eine Operation menten und Inhalten gekommen. Heute reden wir aber über die Umsetzung, die viele Fragen aufwirft, wie wir durchgezogen worden, die sehr viel mehr Sorgfalt erfor- alle wissen. dert hätte. Diese Kritik hat auch in dem Antrag, der heute diskutiert wird, ihren Niederschlag gefunden. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12365

Veronika Bellmann (A) Wahrscheinlich hat man sich in den Kreisen der Bundes- zichten; die hatten wir bei der Maut schon – mit dem (C) regierung schon an Umsetzungsprobleme gewöhnt, da es entsprechenden Erfolg. Aber es handelt sich hier eben seit dem Antritt der rot-grünen Regierung an der Tages- nicht um LKWs oder Dosenpfand, sondern um Men- ordnung ist, dass die Umsetzung von Gesetzen ziemlich schen. mangelhaft abläuft. Gleiches gilt für den Personaleinsatz. Es fehlt Perso- Ich stelle klar, dass die Union die Arbeitsmarktreform nal, das gezielt zur besseren Vermittlung der Arbeitslo- mitgetragen und damit konstruktive Oppositionsarbeit sen eingesetzt werden sollte. Deshalb gibt es den groß- geleistet hat. Auch wenn viele Abgeordnete Bedenken spurig versprochenen Betreuerschlüssel von 1 : 75 nicht gegen die Reform hatten und haben, war uns bewusst, mehr, sondern nur einen von 1 : 150, und den auch erst dass dieser Schritt prinzipiell notwendig ist. Für die kon- ab April 2005. krete Umsetzung sind aber nicht wir Parlamentarier ver- antwortlich – gleichwohl helfen wir den Menschen beim Nur bei der Betreuung Jugendlicher wollen Sie etwas Ausfüllen ihrer Anträge –, sondern einzig und allein die intensiver zur Sache gehen. Aber auch das können Sie Bundesregierung und die beauftragten Behörden. getrost vergessen; denn der Schwindel mit Ihren seman- tischen Spielchen fällt den jungen Leuten längst auf. Ge- (Beifall bei der CDU/CSU – Heidi Wright [SPD]: schickt gewählte, positiv belegte Begriffe wie „Bürger- Die Agenturen und die Kommunen!) versicherung“ oder „Jeder Jugendliche erhält ein – Hätten Sie richtig zugehört, meine liebe Kollegin, hät- Angebot“ führen die Leute in die Irre und halten längst ten Sie bemerkt, dass ich gesagt habe: und die beauftrag- nicht das, was sie versprechen. Sie suggerieren den jun- ten Behörden. gen Leuten, dass sie garantiert irgendwo unterkommen. Was Sie für die Jugendlichen haben, ist aber nur ein An- Neben Kommunikationsfehlern gab und gibt es auch gebot. Das können sie sich auch getrost aus dem Internet faustdicke handwerkliche Fehler, mit denen zum einen holen und sich dann in die Schar der 250 plus x Bewer- die Hilfeempfänger, zum anderen aber auch die Mitar- ber einreihen. beiter der Bundesagentur und der betroffenen Kommu- nen zurechtkommen müssen. Sie müssen die Versäum- Zurück zum Personal. Weil die Daten manuell einge- nisse der Regierung ausbaden, und zwar innerhalb geben werden müssen, wird zusätzliches Personal ge- kürzester Zeit. braucht. Berlin vermeldet zum Beispiel 70 zusätzliche Mitarbeiter. Die Kommunen fragen sich nun, ob sie die Die zentralistische Führung der BA ist manchmal fast Kosten dafür tatsächlich vom Bund erstattet bekommen. unerträglich. Über sämtliche Arbeitsschritte muss Nürn- Sie müssen dafür in Vorleistung treten. berg informiert werden. Alle Vereinbarungen der Ar- (B) beitsgemeinschaften müssen mit Nürnberg abgeglichen Wie verhält es sich mit der Erstattung beim Ein- (D) werden, was die Zusammenarbeit unendlich verzögert. gliederungsbudget? Der Bund hat hier auf der Basis Laut Städtetag scheint die BA zwar ihre bisherige Blo- des Datenmaterials aus dem Vermittlungsausschuss ckadehaltung, vor allem den optierenden Kommunen ge- 9,65 Milliarden Euro bereitgestellt. Die Zahlen vom De- genüber, etwas aufzuweichen; aber eine reibungslose zember 2003 treffen aber längst nicht mehr zu. Denn in Zusammenarbeit im Sinne der Hilfe für Langzeitarbeits- dieser Republik steigt dank der rot-grünen Regierung lose ist das leider noch lange nicht. Die Kooperation nicht das Wirtschaftswachstum, sondern nur die Arbeits- der Bundesagentur für Arbeit mit den Kommunen – losigkeit. ob in der Option oder in einer so genannten Arge, also einer Arbeitsgemeinschaft – ist aber unerlässlich. So (Beifall bei der CDU/CSU – Christian Lange stellt denn auch der Landrat des Kreises Düren zu Recht [Backnang] [SPD]: Ganz müder Beifall!) fest, dass mangelnde Zusammenarbeit „Chaos für die Deshalb ist die Fallzahl um mindestens 200 000 Arbeits- Betroffenen“ bedeutet. losenhilfeempfänger zu gering bemessen. Das heißt, der Die Bundesagentur sollte sich nicht zum Handlanger durchschnittliche Betrag für aktive Eingliederungsmaß- der Regierung aufschwingen. Dass die Regierung die nahmen von bislang 160 Euro pro Kopf und Monat redu- Option nicht will und schon gar nicht deren Erfolg, zeigt ziert sich auf 132 Euro, die Verwaltungspauschale von sich deutlich beim Thema „Datenerhebung und -vermitt- 103 Euro auf 70 Euro. Der vorgesehene Betreuerschlüs- lung“. Unter dem Vorwand des Datenschutzes war die sel kann so nicht gewährleistet werden. So ist das Kern- Bundesagentur bisher nur sehr zögerlich bereit, den op- ziel der verbesserten Vermittlung und Förderung nicht zu tierenden Kommunen mehr Informationen zuzugeste- erreichen. hen. Die Bundesregierung muss den Kommunen endlich Das Programm A2LL, das heute schon angespro- Planungssicherheit geben und die Budgets für 2005 chen wurde, ist zwar seit dem 18. Oktober hochgefahren. nachhaltig erhöhen, und zwar nicht erst mit Beschluss- Aber selbst BA-Chef Weise gibt zu, dass fassung über den Bundeshaushalt. die Zeit für die Einführung der Software eigentlich (Beifall bei der CDU/CSU) zu kurz ist, dass wir Tests, die man üblicherweise Die so genannte Revisionsklausel, die noch zu erarbeiten macht, nicht machen konnten. ist und die sich auf den Bundesanteil an den Kosten der Es sei mit mehr Fehlern als üblich zu rechnen. Nun Unterkunft bezieht, damit zu überfrachten wäre meines könnte ich sagen: Auf die Tests können wir getrost ver- Erachtens nicht sachgemäß, ganz zu schweigen von den 12366 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Veronika Bellmann (A) noch zu liefernden Rechtsverordnungen zu dem berühm- Ich halte das für anmaßend und einer sachlichen Ausei- (C) ten § 13 SGB II. nandersetzung nicht würdig. Ich habe hier nur einige Probleme ansprechen kön- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nen, die sich jedoch nicht auf den Inhalt, sondern auf die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Umsetzung beziehen. Aber selbst dieser kurze Überblick Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Diese Re- zeigt, dass es trotz der kurzen Zeit noch ein langer Weg gierung ist ein Sicherheitsrisiko!) bis zur praktischen Einführung des Arbeitslosengeldes II Wir alle wissen ganz genau, dass die Zusammenle- ist. Diesen Weg können wir als Parlamentarier allenfalls gung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe nicht einfach ist. begleiten. Für die Ausführung und Umsetzung können Das steht auch in Ihrem Antrag. Wir wissen auch, dass wir uns nicht in Haftung nehmen lassen, sehr viele Menschen davon betroffen sind, nämlich mehr (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) als 4 Millionen. Dass das eine große Verantwortung für uns alle bedeutet, ist auch klar. Es geht aber nicht, Herr was aber nicht heißt, dass wir den ganzen Prozess un- Singhammer, dass Sie hier den Eindruck erwecken kontrolliert und unkommentiert lassen; wir im Osten oh- – auch mit Ihrem Antrag –, dass die Regierung nicht in nehin nicht, da Probleme bei der Umsetzung der Reform der Lage ist, Hartz IV umzusetzen. in Regionen mit hoher Langzeitarbeitslosigkeit beson- ders schwerwiegende Konsequenzen haben. Wir müssen Wir haben im Ausschuss und auch hier im Parlament also in den neuen Bundesländern bei den laufenden Ver- dargelegt, in welchen Schritten und in welcher Weise wir fahren besondere Sorgfalt aufwenden, um einen gesell- dies tun werden. Deshalb wird es nicht besser, wenn Sie schaftlichen Kollaps zu vermeiden. immer wieder sagen: Die Reform ist gut, aber die Um- setzung ist schlecht. Deshalb fordern wir in unserem Antrag neben der pünktlichen Auszahlung der Hilfen im Januar 2005, der (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Es wäre Sicherstellung der Finanzierung gegenüber den Kommu- schön, wenn es anders wäre!) nen, den angemessenen Kooperationen zwischen der Die Umsetzung funktioniert und – was wichtig ist – auf Bundesagentur für Arbeit und den Kommunen unter an- allen Ebenen wird mit Hochdruck gearbeitet. All die derem einen umfassenden Bericht der Bundesregierung Menschen, die zurzeit an der Umsetzung beteiligt sind, zum Stand der Umsetzung von Hartz IV, und zwar nicht geben ihr Bestes. nur im Haushaltsausschuss, sondern vor dem gesamten Parlament; denn das sind Sie der Demokratie schuldig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU – Christian Lange (B) (D) [Backnang] [SPD]: Oh, là, là!) Es ist nicht angemessen, diesen Menschen zu unterstel- len, dass sie nicht in der Lage sind, mit komplexen Ma- – Sie nehmen das so leicht und sagen „Oh, là, là“. Das ist terien umzugehen. sehr wichtig. (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Herr Ich hoffe, dass die Bundesregierung diesen Bericht Singhammer hat genau das Gegenteil gesagt! nicht etwa zurückhält, weil er möglicherweise ähnlich Er hat seinen Respekt vor ihnen bekundet!) unangenehme Wahrheiten wie der Bericht des Rech- nungshofes zur LKW-Maut enthält. Eine dieser unange- – Ja, das war die Variante nach dem Motto „Da war noch nehmen Wahrheiten könnte zum Beispiel sein, dass Sie was“. mit den 400 000 bis 600 000 1-Euro-Jobs nur die Ar- Deshalb habe ich ein wenig Zweifel daran, ob Sie in beitslosenstatistik bereinigen. Wenn Ihnen in diesem Be- der Lage sind, nachzuvollziehen, was in diesem Gesetz richt Fehler, Fahrlässigkeiten oder gar Vorsätzlichkeiten wirklich verankert worden ist. Sie haben offensichtlich nachgewiesen werden, haben Sie auch dafür geradezu- in der Zwischenzeit erkannt, dass das, was wir vorberei- stehen, nicht die Opposition und schon gar nicht die tet haben, auch funktioniert. Denn es kann doch wohl Hilfebezieher, die auf Gedeih und Verderb Ihrem Regie- nicht wahr sein, dass wir in diesem Parlament das Gesetz rungshandeln ausgeliefert sind. gemeinsam beschließen, im Vermittlungsausschuss eini- ges zu unseren Lasten umformuliert wurde, wir aber Danke schön. trotzdem nicht abtauchen, wenn es so weit ist, und Sie (Beifall bei der CDU/CSU) sich dann kurz vor In-Kraft-Treten des Umsetzungsplans hier hinstellen und sagen: Wir haben die große Befürch- tung, dass das alles nicht klappt. Das ist scheinheilig Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Zum Schluss dieser Debatte erhält die Kollegin Karin (Beifall bei der SPD) Roth für die SPD-Fraktion das Wort. und verunsichert die Menschen. Außerdem wird dadurch das nötige Vertrauen in die Umsetzung der Reformen, Karin Roth (Esslingen) (SPD): das wir brauchen, unterlaufen. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Herren! Es ist schon sehr merkwürdig, Frau Bellmann, dass Sie, bevor das Gesetz in Kraft getreten ist, prognos- Ich mahne Sie also auch ein Stück weit, Herr tizieren, wie wir mit diesem Gesetz umgehen werden. Singhammer, Ihren Populismus, den Sie hier gerne ver- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12367

Karin Roth (Esslingen) (A) breiten, ein wenig zurückzunehmen; denn am Ende Herr Singhammer, für mich ist es gar kein Wunder, (C) schadet das der Glaubwürdigkeit des ganzen Hauses und dass Sie im Zusammenhang mit den Stellen die Stralsun- nicht nur der Opposition. der Arbeitsmarktstatistik angeführt haben. Wenn Sie die Zahlen aus Bayern genannt hätten, hätten Sie schlecht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ausgesehen. Denn es ist zu lesen, dass die Zahl der ge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) meldeten Stellen in Bayern in diesem Monat um Ich bin froh, dass die Bundesregierung in der Zwi- 20,1 Prozent gesunken ist, während sie bundesweit nur schenzeit im Rahmen einer sehr sachlichen Informa- um 16,1 Prozent zurückgegangen ist. Sie haben in Bay- tionskampagne deutlich gemacht hat, welche Leistungen ern ein viel größeres Problem, als dass Sie sagen könn- die Menschen bekommen. Sie hat die Fehlinformationen ten, dass Bayern Spitze ist. Im Gegenteil, auch in Bayern ausgeräumt, die auch von Ihrer Seite verbreitet worden gibt es ein Strukturproblem. waren. Ich freue mich auch, dass nun das geschieht, was (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Darum geschehen muss: Die Menschen geben ihre Anträge bei ziehen wohl auch so viele nach Bayern!) der Agentur für Arbeit ab, weil sie wissen, dass sie, wenn sie das nicht tun, am 1. Januar nächsten Jahres Lassen Sie mich noch ganz kurz etwas zur Finanzie- kein Geld bekommen. Das ist, wie ich meine, eine gute rung sagen. Wir haben deutlich gemacht, dass wir rund Botschaft. 6,35 Millionen Euro für Eingliederungsmaßnahmen zur Verfügung stellen. Für Personal werden wir 1,8 Millionen Menschen haben ihre Anträge inzwi- 3,3 Millionen Euro zur Verfügung stellen, um, Frau schen abgegeben. Das entspricht 73 Prozent aller ver- Bellmann – sie redet gerade ganz intensiv mit ihrem schickten Anträge. Jetzt können sie bearbeitet werden. Nachbarn –, auch die notwendige Betreuung zu gewähr- Ich bin davon überzeugt, dass in den nächsten Tagen ein leisten. Großteil der noch nicht abgegebenen Anträge eingehen wird. Aber wir müssen vor Ort dafür werben, dass die (Dirk Niebel [FDP]: Frau Kollegin, ein Ge- Menschen ihre Anträge abgeben. Wir dürfen diese Re- spräch mit dem Chef ist immer wichtig!) form nicht durch überflüssige Bedenken blockieren. Das versuchen wir. Wichtig ist dabei Folgendes: Wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten müssen jetzt das Ziel erreichen, das wir auch mit des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Hartz IV verbunden haben: die Umverteilung der Mittel hin zu den Kommunen. Es kann nicht sein, dass der Um es auch in diesem Haus klar zu sagen: Wer seinen Bund die kommunale Ebene um 2,5 Millionen Euro ent- Antrag nicht oder nicht rechtzeitig abgibt, der wird am lastet und die Landesregierungen dieses Geld einste- (B) Ende auch keine Leistung bekommen und schneidet sich cken, um damit ihre Haushalte zu sanieren. Das geht (D) sozusagen ins eigene Fleisch. Das wollen wir nicht. Aber nicht. Das kann nicht sein. wir müssen damit aufhören, die Menschen zu verunsi- chern. Deshalb ist es notwendig, den Betroffenen von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hier aus zu sagen: Geben Sie Ihre Anträge rechtzeitig ab, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – damit Sie am 1. Januar 2005 Ihre Leistung bekommen! Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Das ist doch eine Das liegt in der Verantwortung der betroffenen Men- glatte Unterstellung! Wie kommen Sie da- schen. rauf?) Die Bildung von Arbeitsgemeinschaften ist ein gro- Das bedeutet, bezogen auf die Revisionsklausel, ohne ßes Thema. Immer wieder haben sich von allen Seiten Frage, dass der Bund verantwortlich ist. Beim Bund Bedenkenträger geäußert. Heute kann man feststellen: weiß man, was Sache ist. In Baden-Württemberg wird Auch hier gibt es Fortschritte. Allerdings weiß ich, dass beispielsweise Ministerpräsident Teufel um 132 Millio- viele Landesregierungen auch in diesem Bereich Sand nen Euro entlastet. Davon leitet er aber nur 33 Millionen ins Getriebe gestreut haben. Immerhin haben sich Euro an die Kommunen weiter. 99 Millionen Euro ver- 77 Prozent aller Kommunen für Arbeitsgemeinschaften wendet er für seinen Haushalt. Das ist nicht in Ordnung. ausgesprochen. Darüber hinaus gibt es 79 so genannte Dieses Geld brauchen wir für Betreuung und Kinderer- optierende Kommunen. ziehung. Dieses Geld ist notwendig, um auch dieses Ge- setz, das wir heute im Bundestag verabschiedet haben, (Dirk Niebel [FDP]: 69!) zu realisieren. Die Vorbereitungen sind also in vollem Gange. Ich habe (Beifall bei Abgeordneten der SPD) den Eindruck, dass das Thema Anträge inzwischen ge- klärt ist. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Hinzu kommt – das ist für uns wichtig –, dass wir die Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage des Schaffung von Arbeitsgelegenheiten vorziehen und be- Kollegen Niebel zu? reits jetzt über 100 000 Eingliederungsmaßnahmen für die Menschen realisiert haben. Wir machen mit dieser Sache Ernst. Indem wir in diesem Jahr diese zusätzli- Karin Roth (Esslingen) (SPD): chen Arbeitsgelegenheiten schaffen, geben wir den Men- Ja, klar. Von Herrn Niebel immer, der ist ja für Ver- schen die Chance, wieder in Arbeit zu kommen. mischtes zuständig. 12368 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

(A) Dirk Niebel (FDP): Die Ministerpräsidenten wissen, wie der Finanzaus- (C) Vielen Dank, Frau Kollegin. Das heißt wohl, dass ich gleich funktioniert. Baden-Württemberg – wahrlich kein ziemlich vielseitig einsetzbar bin. armes Land, aber arm an Kinderbetreuungsmöglichkei- ten: nur 3,5 Prozent – ist offensichtlich nicht in der Lage, Frau Kollegin, Sie haben gerade die baden-württem- dieses Geld weiterzugeben. Ich kann Ihnen sagen: Der bergische Situation angesprochen. Tatsächlich werden Erfolg von Hartz IV und die Antwort auf die Frage, ob Baden-Württemberg vom Bund 133 Millionen Euro zu- wir die Frauen, die arbeitslos sind, in den Arbeitsmarkt geordnet, weil die Regelungen des Bundesgesetzge- integrieren können, hängen davon ab, ob genügend Kin- bers – – derbetreuungsmöglichkeiten vorhanden sind. Das steht (Zurufe von der SPD: Frage!) übrigens im Gesetz. Auch das ist unser politischer An- spruch: Wir wollen von den Menschen etwas fordern, – Die Frage kommt gleich. Ganz locker bleiben! aber wir wollen sie auch fördern. Zum Fördern gehört, Baden-Württemberg bekommt also 133 Millionen genügend Betreuungseinrichtungen für Kinder bereitzu- stellen, auch im Rahmen von Hartz IV. Euro vom Bund. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Karin Roth (Esslingen) (SPD): des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 132 Millionen Euro, aber das macht nichts. Zum Schluss: Ich gehe davon aus, dass die Kreise und Kommunen diese Mittel bei ihren Ländern einfordern Dirk Niebel (FDP): werden. Ich gehe davon aus, dass die Länder und die Ja. Weil der Bundesgesetzgeber mit seinem Gesetz Landkreise und Kommunen auf der Hut sind und dieses die ostdeutschen Bundesländer aufgrund der Erwerbs- Geld auch einsetzen werden. Ich hoffe und wünsche, biographien der Menschen mehr belastet hat als die dass es uns gelingt, in den ersten Monaten nach dem westdeutschen, haben sich die Bundesländer entschie- 1. Januar 2005 mit Hartz IV eine bessere und positivere den, dies dadurch zu kompensieren, dass 1 Milliarde Stimmung im Land zu erzeugen, und dass die Miesma- Euro zusätzlich an die ostdeutschen Länder geht. Wür- cher, die heute gesprochen haben, dann verstummen den Sie mir zugestehen, dass gemäß dem Schlüssel des werden. Bund-Länder-Finanzausgleiches 100 Millionen Euro von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dieser Zuweisung nicht im baden-württembergischen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Haushalt verbleiben, sondern den ostdeutschen Ländern zugeführt werden, weil der Bund dieser Verpflichtung Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nicht nachkommt? (B) Ich schließe die Aussprache. (D) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der CDU/CSU) Drucksache 15/3803 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu stelle ich Karin Roth (Esslingen) (SPD): Einvernehmen fest. Dann ist die Überweisung so be- Herr Niebel, es ist ganz einfach: Im Vermittlungsaus- schlossen. schuss sind die so genannten A- und B-Länder – in dem Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Fall Baden-Württemberg auf der einen Seite und Sach- sen und die anderen auf der anderen Seite – vertreten. Im Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Rahmen des Vermittlungsausschusses wurde von allen neten Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, Ministerpräsidenten akzeptiert, dass eine solche Lösung Sabine Bätzing, weiteren Abgeordneten und der hinsichtlich der Verteilung vorgenommen wird. Die Mi- Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten nisterpräsidenten wussten also, dass damit der Transfer Irmingard Schewe-Gerigk, Jerzy Montag, Hans- von 1 Milliarde Euro von Westen nach Osten verbunden Christian Ströbele, weiteren Abgeordneten und ist. der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines … Straf- Wenn nun Solidarität eingefordert wird – die ostdeut- rechtsänderungsgesetzes – §§ 180 b, 181 StGB schen Ministerpräsidenten haben zu Recht darauf hinge- (StrÄndG) wiesen, dass die Situation im Osten anders ist –, dann kann man als westliches B-Land im Vermittlungsaus- – Drucksache 15/3045 – schuss zu diesem Vorschlag entweder Nein sagen oder (Erste Beratung 109. Sitzung) aber man steht zur Solidarität mit dem Osten. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schusses (6. Ausschuss) Aber man kann in dieser Republik nicht auf der einen – Drucksache 15/4048 – Seite ständig die Solidarität mit den neuen Bundeslän- dern proklamieren, wenn es Ernst wird, aber sagen: Das Berichterstattung: interessiert uns nicht, das holen wir uns von unseren Abgeordnete Erika Simm Kommunen zurück. So geht es nicht. Ute Granold Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jörg van Essen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12369

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die schützen ist. Das ist eine Straftat und muss auch als sol- (C) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höre che geahndet werden. ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst GRÜNEN und der FDP) für die Bundesregierung die Bundesministerin Brigitte Der Gesetzentwurf liegt Ihnen heute in einer Fassung Zypries. vor, die das Ergebnis der Sachverständigenanhörung be- rücksichtigt. Ich möchte das gerne deutlich sagen, weil Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: wir mit den zahlreichen Änderungen aufgrund der Sach- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und verständigenanhörung auch den häufig geäußerten Vor- Herren! Bei der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfs, wurf widerlegen können, dass Sachverständigenanhö- am 7. Mai dieses Jahres, haben die Vertreter aller Par- rungen immer nur l’art pour l’art sind und dass nichts teien in diesem Haus deutlich gemacht, wie wichtig die dabei herauskommt. Ganz im Gegenteil: Hier hat sie Bekämpfung des Menschenhandels und der Zwangs- wirklich etwas gebracht. prostitution ist. Ich möchte in Anbetracht der knappen (Jörg van Essen [FDP]: Ja, sehr richtig!) Zeit gerne darauf Bezug nehmen und das alles nicht noch einmal ausführen. Wir leisten mit diesem Gesetz- Das möchte ich gerne positiv hervorheben. entwurf einen Beitrag dazu, diesen internationalen Ver- brecherringen – in der Regel auch Bordellbesitzern und Zum einen haben wir einen noch besseren Aufbau dem Zuhältermilieu – Einhalt zu gebieten. der Strafvorschriften erreicht, zum anderen haben wir beim Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung auf das Zum einen enthält dieser Gesetzentwurf neue Straf- einschränkende Tatbestandsmerkmal „seines Vermö- vorschriften, vor allen Dingen gegen den Menschenhan- gensvorteils wegen“ verzichten können. Das heißt, es del, durch den die Arbeitskraft ausgebeutet wird; zum fällt künftig weg. Das bedeutet, dass sich jemand nicht anderen setzen wir damit den Rahmenbeschluss zur Be- nur strafbar macht, wenn er sich einen materiellen Ge- kämpfung des Menschenhandels des Rates der Europäi- winn davon verspricht, sondern auch dann, wenn er bei- schen Union um. Auch darüber war schon in der ersten spielsweise nur eine billige Haushaltshilfe sucht. Lesung die Rede. Das ist nämlich auch der Grund dafür, Schließlich werden Handlungen, mit denen der Men- weshalb dieser Gesetzentwurf von den Koalitionsfrak- schenhandel gefördert wird, aufgrund der Vorgaben, die tionen eingebracht wurde. Die Zeit läuft uns davon. im Rahmenbeschluss gemacht werden, künftig in einer gesonderten Vorschrift erfasst. Das heißt, dass man nicht (B) Wir haben die gesamten Strafvorschriften sehr viel (D) übersichtlicher gestaltet und hoffen, dass sie auch des- erst dann, wenn ein Werbeversuch erfolgreich war und halb in Zukunft für die Praxis sehr viel leichter handhab- die Person nach Deutschland transportiert wurde, be- bar sein werden. Die verschiedenen Strafrahmen sind straft werden kann, sondern bereits dann, wenn man An- ebenfalls neu geordnet worden. In Zukunft gibt es nur werbeversuche unternimmt, ohne am Ende erfolgreich noch zwei Strafrahmen: Bei Grundfällen beträgt er zwi- zu sein. schen sechs Monaten und zehn Jahren und bei schweren Zunächst nicht aufgegriffen haben wir den Antrag Fällen haben wir die Verbrechenstatbestände mit einem der CDU/CSU, auch für Freier, die vorsätzlich oder Jahr bis zu zehn Jahren belegt. leichtfertig ein Opfer des Menschenhandels sexuell missbrauchen, einen Straftatbestand einzuführen. Dazu Mit diesen Verbrechenstatbeständen werden vor al- muss natürlich auch etwas gesagt werden. Ich halte das lem die Fälle erfasst, in denen der Täter das Opfer nicht für einen wichtigen Ansatz, den wir unbedingt weiter nur zur Prostitution zwingt, sondern es auch noch diskutieren müssen. Dem will ich mich überhaupt nicht schwer misshandelt oder in Todesgefahr bringt oder verschließen. Ich meine jedoch, dass wir sorgfältig dis- wenn er auch noch im Rahmen der organisierten Krimi- kutieren müssen. Damit würden wir nämlich zum ersten nalität handelt. Zu diesen Verbrechenstatbeständen ge- Mal so etwas wie eine Fahrlässigkeit bei den Sexualde- hören aber auch die leider nicht seltenen Fälle, in denen likten einführen. Das kennen wir derzeit nicht. Wir müs- ein Kind das Opfer ist, mit anderen Worten: wenn es sich sen darüber mit den Sachverständigen sorgfältig disku- bei den Opfern um Personen unter 14 Jahren handelt. Es tieren. Das ist der eine Gesichtspunkt. liegt uns ganz besonders am Herzen, gerade die Kinder und die jungen Frauen zu schützen. Deswegen haben wir Der andere Gesichtspunkt ist der: Ich meine, dass wir auch das allgemeine Schutzalter bei 21 Jahren belassen. unbedingt die Praxis dazu anhören müssen; denn es macht überhaupt keinen Sinn, Straftatbestände einzufüh- Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetzentwurf ren, die man hinterher nicht verfolgen kann. Damit fassen wir auch die Zwangsheirat strafrechtlich eindeu- würde man das Strafsystem diskreditieren. Aus diesem tiger. Das Strafgesetzbuch wird so erweitert, dass in Zu- Grund haben wir so etwas auch an anderer Stelle nicht kunft eine Strafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren getan. Ich meine, das gilt hier ebenfalls. droht, wenn man einen anderen zur Eheschließung nö- tigt. Das ist gerade auch bei uns erforderlich; denn wir Wir sollten das also weiter besprechen und uns über- alle wissen, dass es auch in Deutschland noch zahlreiche legen, wie wir das sinnvoll tun können. Das heißt nicht, Fälle von Zwangsheiraten gibt. Es ist keineswegs so, dass wir uns diesem Antrag als solchem vollständig ver- dass das etwas mit Tradition zu tun hat und deshalb zu weigern. 12370 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) Lassen Sie mich noch einen Aspekt kurz ansprechen. Dass Diskussionsbedarf besteht, wissen wir aus einer (C) Das Strafrecht ist ein wichtiger Punkt, um den Men- weiteren Richtlinie auf europäischer Ebene, die aus dem schenhandel zu bekämpfen; das ist überhaupt keine Jahr 2004 stammt und bis zum Jahr 2006 umgesetzt sein Frage. Es ist aber eben nur ein Punkt, um Menschenhan- muss, nämlich die Richtlinie, dass man Opfern von Men- del, Zwangsprostitution, sexuelle Ausbeutung und Hei- schenhandel die Möglichkeit geben muss, dann ein Blei- ratstourismus in den Griff zu bekommen. Wir müssen berecht zu erhalten, wenn sie mit der Polizei kooperieren insbesondere ausländische Mädchen und Frauen wirk- und Angaben machen. Sie sehen also: Diskussionsbedarf sam schützen. Dafür ist es vor allen Dingen erforderlich, ist noch genügend gegeben. Der Themenkomplex ist dass wir die Prävention und den Opferschutz stärken, die wichtig genug, um auch inhaltlich noch einmal darüber internationale Strafverfolgung verbessern, die internatio- zu diskutieren. nale Zusammenarbeit sicherstellen und die Hilfs- und Beratungsangebote für betroffene Frauen in einem aus- Ich möchte Ihnen das an einem kleinen Beispiel vor- reichenden Maße bereitstellen. stellen. Wenn ein über 21-jähriger Drogenhändler einen unter 18-Jährigen dazu bringt, Drogenhandel zu betrei- Ich meine, dass wir gerade in diesem Bereich weiter ben, beträgt die Mindeststrafe nach § 30 a Betäubungs- zusammenarbeiten sollten, und zwar interdisziplinär. mittelgesetz – hören Sie bitte genau zu – fünf Jahre. Das machen wir in dieser Art und Weise auch in den Bringt ein über 21-Jähriger eine unter 21-jährige auslän- Gremien der Europäischen Union, ein Aspekt, der ge- dische Frau unter Druck dazu, in Deutschland der Prosti- rade durch die Erweiterung der Europäischen Union um tution nachzugehen, beträgt die Mindeststrafe nicht fünf die Staaten Osteuropas ganz besonders wichtig gewor- Jahre, sondern gerade einmal sechs Monate. Ist dieses den ist. junge Mädchen 14 Jahre alt, beträgt die Mindeststrafe ein Jahr. Auch darüber muss man einmal sprechen. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) So ganz gesetzestechnisch sauber sind die Vorschrif- ten, die wir jetzt zum Menschenhandel verabschieden Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: werden, nicht. Da gibt es ein Konkurrenzverhältnis zwi- schen § 232 Abs. 4 Nr. 1 StGB und § 240 Abs. 4 StGB, Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder, CDU/ dem Nötigungstatbestand. Keiner kann mir erklären, wie CSU-Fraktion. diese Konkurrenzverhältnisse gelöst werden sollen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Soweit es um die Ausnutzung der Arbeitskraft geht, besteht ein Konkurrenzverhältnis zu § 406 Sozialgesetz- Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): buch IV. Auch dazu kann mir keiner etwas sagen. Des- (B) Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen wegen ist die Forderung, die alle Rechtspolitiker beim (D) und Kollegen! Wieder einmal oder, besser gesagt, wie Deutschen Juristentag in Bonn gestellt haben, dass wir immer behandeln wir ein wichtiges rechtspolitisches Abgeordnete eine eigene Interessenvertretung in Brüssel Thema unter Zeitdruck. Ein Rahmenbeschluss des Rates brauchen, gerechtfertigt. Dieses Beispiel belegt es wie- der Europäischen Union vom 19. Juli 2002 ist umzuset- der einmal sehr gut. zen und die Umsetzungsfrist ist seit August 2004 abge- laufen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wissen aus den Verhandlungen im Rechtsaus- Es gibt nach groben Schätzungen – exakte Zahlen lie- schuss, dass wir in dem einen oder anderen Punkt durch- gen nicht vor – in Europa etwa 500 000 junge Frauen, aus noch Diskussionsbedarf gehabt hätten. Ich erwähne die der Zwangsprostitution zugeführt worden sind, hierzu die Vorschrift des neuen § 233 a StGB, in dem 500 000 menschliche Schicksale, die es zu beachten gilt. Beihilfehandlungen zu einem eigenständigen Straftatbe- Es existiert ein Markt, der zu erheblichen Einnahmen stand erhoben worden sind. Ich glaube, nicht nur wir von führt, die nicht abgeschöpft werden können. der CDU/CSU sind der Auffassung, dass damit die Tür Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sind der für die Strafbarkeit viel zu weit aufgemacht wird. Hinzu Meinung, dass man die Strafbarkeit auf dem Nachfrage- kommt, dass die Versuchsstrafbarkeit eingeführt wurde. sektor einführen muss. Das bedeutet, dass man auch den Uns wurde entgegengehalten, dass man daran nichts Freier, der eine durch Menschenhandel herbeigeführte ändern kann, weil wir europäisches Recht umzusetzen Situation ausnutzt, bestrafen muss. Es wird eingewendet, haben. So einfach ist das nicht. Es geht nicht darum, eu- das lasse sich alles gar nicht kontrollieren und es werde ropäisches Recht umzusetzen, das gottgewollt von oben zu wenige Beweismöglichkeiten geben. Nein, meine Da- kommt. An diesen europäischen Richtlinien und Rah- men und Herren, Menschenhandel ist ohnehin ein Kon- menbeschlüssen hat die Regierung im Rat Teilhabe. Be- trolldelikt. Wir haben im Jahre 1993 mit dem schlüsse im Rat sind einstimmig zu fassen. Nicht Sie, 27. Strafrechtsänderungsgesetz einen Paragraphen ein- Frau Ministerin, sondern Ihre Vorgängerin war bei der geführt, nämlich den über den Besitz von kinderporno- Diskussion in Brüssel dabei, als diese Richtlinie verab- graphischen Schriften, der auch schwer nachzuweisen schiedet worden ist. Das heißt, wir haben nun auf natio- ist. Auch da wurde gesagt, das sei ein Kontrolldelikt und naler Ebene das auszubaden, was die Regierung auf nur schwer nachweisbar, aber – da schließt sich der europäischer Ebene nicht richtig gemacht hat. Kreis – das sei genau der Grund, warum man den Besitz strafbar mache; denn man müsse auch auf der Nachfra- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) geseite eingreifen und nicht nur auf der Angebotsseite. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12371

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (A) Also der, der kinderpornographische Schriften für sich phischer Darstellungen, bei der Zwangsverheiratung und (C) verwende, müsse bestraft werden und nicht nur der, der bei der Zwangsarbeit. sie herstelle. Daher haben wir die Tatbestände erweitert und in den Deswegen bin ich der Meinung, dass wir das Thema Abschnitt über die Straftaten gegen die persönliche Frei- Freierstrafbarkeit noch einmal ernsthaft diskutieren heit gestellt. Ein Tatbestand des Menschenhandels zur müssen und dass wir die Frage der Umsetzung der Richt- Ausbeutung der Arbeitskraft wurde neu geschaffen. linie zum Bleiberecht von jungen Mädchen, die bei der Polizei Angaben machen, diskutieren müssen. Ich lade Die Idee, den Zwang zur Ehe ausdrücklich in das Sie dazu ein, mitzumachen. Sie haben bereits angezeigt, Strafgesetzbuch aufzunehmen und damit ein wirksames dass Sie bereit sind, mit uns darüber zu diskutieren. Wir Signal gegen Zwangsverheiratung zu setzen, haben wir werden diesem Gesetzentwurf zum Menschenhandel zu- längst in unseren Gesetzentwurf aufgenommen, bevor stimmen, weil wir sonst eine Situation in Europa hätten, Baden-Württemberg die Bundesratsinitiative gestartet die unerträglich wäre, aber optimal ist die Lösung nicht. hat, die jetzt erst einmal vom Bundesrat gestoppt wurde. Künftig gilt die Zwangsverheiratung als besonders Vielen Dank. schwerer Fall der Nötigung und kann mit einer Freiheits- strafe von bis zu fünf Jahren bestraft werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wer aber den Opfern wirklich helfen will, muss vor Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: allem dafür sorgen, dass sie im Falle einer Rückkehr ih- Die nächste Rednerin ist die Kollegin Irmingard ren Aufenthaltsstatus nicht nach sechs Monaten verlie- Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen. ren. Das ist mit Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, offensichtlich nicht möglich; es ist aber praktizierter Opferschutz, für den Sie sich sonst immer Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE sehr intensiv einsetzen, Herr Kauder. GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Herr Kollege Kauder, es ist bekannt, dass die CDU/CSU bei der SPD und der FDP) immer etwas langsamer ist. Sie sprechen von Zeitdruck, Doch zurück zum Menschenhandel: In der Sachver- aber es liegt ein halbes Jahr zwischen der ersten und der ständigenanhörung wurde eine Reihe von Verbesse- dritten Lesung dieses Gesetzentwurfs. Ich glaube schon, rungsvorschlägen gemacht, die sich in den Änderungs- dass ein halbes Jahr eine ausreichende Zeit ist. anträgen wiederfinden. Durch den neuen Tatbestand (B) (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ „Förderung des Menschenhandels“ werden nun auch (D) CSU]: Drei Monate Umsetzungsfrist!) beihilfeartige Handlungen wie das Beherbergen oder Be- fördern von Opfern erfasst. Erst dadurch können wirt- Allen bayerischen Unkenrufen zum Trotz liegt der schaftlich profitierende Hintermänner bzw. Personen aus Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes im Bereich dem kriminellen Umfeld bestraft werden, denen bisher des Menschenhandels und der Zwangsverheiratung kein Menschenhandel im engeren Sinne nachzuweisen heute vor. Insbesondere durch die Änderungsanträge, die war. Ich halte das für einen sehr wichtigen Schritt. Rot-Grün als Folge der Sachverständigenanhörung for- muliert hat, wird der EU-Rahmenbeschluss umfassend Ich bin auch sehr froh darüber, dass für den Tatbe- in deutsches Recht umgesetzt. Die Zahlen sind hinläng- stand der sexuellen Ausbeutung nicht länger die Vo- lich bekannt – Sie haben sie gerade erwähnt –: Bis zu raussetzung gelten soll, dass der Täter durch die Tat ei- 500 000 Frauen werden jährlich aus Osteuropa nach nen Vermögensvorteil erlangt. Wie wir wissen, muss das Westeuropa verbracht. Das Geschäft ist lukrativ, das Täterverhalten nicht immer durch Vermögenswerte mo- Risiko, als Täter verurteilt zu werden, ist gering. tiviert sein. Menschenhandel ist ein Ermittlungsdelikt. Dort, wo Das Schutzalter, bei dem Menschenhandel auch ohne wegen Personalmangels nicht ermittelt wird, kann auch das Ausnutzen einer Zwangslage strafbar ist, wird wei- nicht angeklagt und nicht verurteilt werden. Hinzu terhin bei 21 Jahren liegen, auch wenn dies in rechtssys- kommt, dass vielfach Verfahren eingestellt werden tematischer Hinsicht vielleicht keine saubere Lösung ist. mussten, oft aufgrund von mangelnden Beweisen, aber Wir meinen aber, dass dadurch ein wirksamerer Schutz auch weil Opferzeuginnen aus Angst die Aussage ver- der Opfer gegeben ist, die überwiegend der Altersgruppe weigerten, häufig aber auch wegen der bisherigen Defi- der 18- bis 21-Jährigen angehören und deren Unerfah- nition. renheit ausgenutzt wird. Mit dem heutigen Strafrechtsänderungsgesetz verbes- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sern wir den strafrechtlichen Schutz der Opfer von bei der SPD und der FDP) Menschenhandel, wir erleichtern die Strafverfolgung und schließen Strafbarkeitslücken. Wir geben auch eine Diese Änderungen werden den strafrechtlichen Antwort auf die Tatsache, dass der Menschenhandel fa- Schutz der Opfer stärken und die Täter und Täterinnen cettenreicher ist, als er vom Gesetz bisher erfasst wurde. – vereinzelt handelt es sich auch um Frauen – zur Ver- Zwar stellt die Zwangsprostitution das häufigste Delikt antwortung ziehen. Um aber eine effiziente Verbesse- dar, aber die Ausbeutung findet auch in anderen Berei- rung zu erzielen, sind weitere Schritte nötig. Dabei spielt chen statt, etwa in Peepshows, zur Herstellung pornogra- das Zeugnisverweigerungsrecht für Fachberatungsstellen 12372 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Irmingard Schewe-Gerigk (A) eine zentrale Rolle. Das werden wir im Rahmen der und rege an, dass die Parlamentarischen Geschäftsführer (C) Strafprozessordnungsreform regeln. gelegentlich die Einbeziehung dieses Instruments in un- sere Geschäftsordnung prüfen. Ich glaube, wir wären gut beraten, eine prozentuale Beteiligung an den eingezogenen Gewinnen als Unter- Nun hat der Kollege Jörg van Essen für die FDP- stützung für die Arbeit der Fachberatungsstellen vorzu- Fraktion das Wort. sehen. Auch aufenthaltsrechtliche Änderungen trügen im gleichen Maße zum Opferschutz und zur Ermittlung Jörg van Essen (FDP): der Täter bei. Dabei handelt es sich um einen Knack- Herr Präsident, ich glaube, dass wir dafür keine ge- punkt, über den wir gerne mit der CDU/CSU diskutieren schäftsordnungsrechtliche Regelung brauchen; denn der würden. gesunde Menschenverstand sagt einem schon, dass man Lassen Sie mich noch etwas zu der von Ihnen gefor- das kann. Wir Liberale sind selbstverständlich immer ge- derten Freierbestrafung anmerken, Herr Kauder. Es ist gen Bürokratie und werden dafür sorgen, dass es hier wirklich sehr schade, dass die Union ihre Zusage aus keine zusätzliche Bürokratie gibt. dem ansonsten sehr guten Berichterstattergespräch nicht (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Irmingard eingehalten und den Antrag jetzt doch zur Abstimmung Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gestellt hat. Wir waren uns darin einig, eine genaue Prü- NEN] – Zuruf von der SPD: Selbstlob!) fung möglicher Strafbarkeitslücken vornehmen zu wol- len. Wir wollen auch verhindern, dass Freier die Hilflo- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der sigkeit der Opfer von Menschenhandel ungestraft Kollege Kauder hat sehr viele – wie ich finde: berech- ausnutzen können. Der Antrag der Union hat sich aber tigte – kritische Bemerkungen zu dem heute zu verab- nicht ausreichend mit den praktischen und juristischen schiedenden Gesetzentwurf gemacht. Frau Kollegin Schwierigkeiten dieses Vorhabens auseinander gesetzt. Schewe-Gerigk, er hat auch berechtigte Kritik daran ge- äußert, dass die zeitliche Frist zur Umsetzung über- (Abg. Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] schritten worden ist. Das Parlament hat zwar schnell [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischen- beraten. Aber die Bundesregierung hat einen entspre- frage) chenden Gesetzentwurf viel zu spät eingebracht.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Zuruf von der CDU/CSU: Die Bundesregie- Für diesen Wunsch nach einer Zwischenfrage gilt lei- rung hat wieder geschlafen!) der das Gleiche, das ich vorhin schon angeführt habe: Da Trotzdem denke ich, dass heute ein außerordentlich (B) Ihre Redezeit bereits überschritten ist, kann ich sie nicht positiver Tag ist, und zwar deshalb, weil sich gezeigt hat, (D) zulassen. dass die parlamentarischen Beratungen zu einer erhebli- (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ chen Verbesserung geführt haben. Ich bin wie die Kolle- CSU]: Ich stand aber schon vor dem Ende der gin Schewe-Gerigk der Meinung, dass das Schutzalter Redezeit!) von 21 Jahren genau richtig ist; denn wir wissen aus der Praxis, dass die Gruppe der 18- bis 21-Jährigen beson- ders häufig Opfer von Menschenhändlern ist. Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In der Debatte ist bereits mehrfach – zu Recht – da- Dann werde ich mich nach meiner Rede à deux mit rauf hingewiesen worden, dass es nicht allein bei straf- dem Kollegen Kauder zusammensetzen, um diese Frage rechtlichen Vorschriften bleiben darf, sondern dass viele zu besprechen. andere, zusätzliche Anstrengungen notwendig sind. Ich möchte einen Aspekt ansprechen, der mir besonders Gestatten Sie mir einen letzten Satz: Wir werden ju- wichtig ist. Wir alle wissen, dass es insbesondere einen ristisch, aber auch mithilfe von Fachleuten aus der Pra- Menschenhandel mit jungen Frauen von Osteuropa xis prüfen, ob und wo es noch Lücken gibt und wie wir nach Westeuropa gibt. Durch den Wegfall von Grenzen sie schließen können. Daneben müssen wir aber die Ge- ist das Ganze zusätzlich erleichtert worden. Mir bereitet sellschaft und insbesondere die Männer weiter sensibili- dabei erhebliche Sorge, dass in vielen osteuropäischen sieren. Denn Gesetze alleine helfen nicht weiter. Wir als Staaten noch immer Korruption in der politischen Elite, Gesetzgeber und Gesetzgeberinnen wollen das Unsere aber auch in der Polizei ganz wesentlich dazu beiträgt, dazu tun. dass solche Machenschaften möglich sind. Wir sollten – das gehört für mich zum Thema der heutigen Debatte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dazu – die Regierungen insbesondere der Staaten, die sowie bei Abgeordneten der SPD) der Europäischen Union vor kurzem beigetreten sind, auffordern, hier durchzugreifen und dafür zu sorgen, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: dass diese schrecklichen Praktiken nicht länger mit staat- Frau Kollegin Schewe-Gerigk, ich nehme den Vor- licher und insbesondere nicht mit polizeilicher Unter- schlag zur bilateralen Beilegung vermeintlicher Mei- stützung möglich sind. nungsverschiedenheiten als innovativen Beitrag zur Ver- kürzung unserer Parlamentsdebatten dankbar auf (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- (Beifall bei allen Fraktionen) SES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12373

Jörg van Essen (A) Ich bin sehr froh, dass wir in den letzten Wochen und Ich sehe ein großes Problem, wenn man so perfektionis- (C) Monaten sehr viel intensiver über das Thema „Zwangs- tisch ins Detail gehende Regelungen in ein gewachsenes verheiratung“ sprechen. Die Diskussion hat gezeigt, dass nationales Strafrecht mit seiner gewachsenen Systema- sie gerade in unserem Land sehr viel häufiger üblich ist, tik, Dogmatik und vor allem seiner eigenen Begrifflich- als es von uns akzeptiert werden kann. Wir haben heute keit umsetzen soll. Vormittag über die Aufnahme von Beitrittsverhandlun- gen mit der Türkei gesprochen. Ich denke, dass eine Be- (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen) endigung der unerträglichen Praxis der Zwangsverhei- Wir diskutieren noch darüber, aber ich hoffe, dass wir ratung zu den Forderungen gehört, die wir an diejenigen unsere Vertretung auf europäischer Ebene verbessern Staaten stellen müssen, die Mitglied der Europäischen – ich meine die Vertretung und Präsenz des Parlamen- Union werden wollen. Auch das ist nach meiner Auffas- tes –, damit wir eine Chance haben, in dieser Richtung sung ein ganz wichtiges Signal, das von der heutigen früher wirksam zu werden. Debatte ausgeht. (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Sehr Das Problem der Zwangsheirat ist mehrfach ange- richtig!) sprochen worden. Herr van Essen, vielleicht vermitteln Sie dies Ihren Parteifreunden in Berlin. Ich habe heute Herr Präsident, ich glaube, ich habe gerade eine im Berliner „Tagesspiegel“ gelesen, dass es eine Initia- Punktlandung hingelegt und meine Redezeit genau ein- tive im Abgeordnetenhaus gibt, die Initiative von Baden- gehalten. Württemberg im Bundesrat zu unterstützen. Wir haben Es gäbe zwar noch viele Punkte anzusprechen. Aber mit unserem Gesetzentwurf in § 240 Abs. 4 die Zwangs- ich denke, es ist ein gutes Zeichen, dass alle Fraktionen heirat als besonders schweren Fall der Nötigung unter des Bundestages dem Gesetzentwurf zustimmen. Strafe gestellt. Dadurch erübrigt sich diese Initiative. Vielen Dank. (Jörg van Essen [FDP]: Das Problem ist viel- schichtiger! Es muss auch im Zivilrecht ange- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie gangen werden!) bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) – Das ist natürlich etwas anderes. Man muss es an der richtigen Stelle tun. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Jörg van Essen [FDP]: Richtig! Aber auch die Das Wort hat nun die Kollegin Erika Simm, SPD- baden-württembergische Initiative ist viel- (B) Fraktion. schichtiger!) (D) Noch ein Wort zur Freierbestrafung: Auch wenn die Erika Simm (SPD): CDU/CSU ihren Änderungsantrag formal nicht zurück- Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und genommen hat – ich habe ein gewisses Verständnis da- Kollegen! Im Laufe des Beratungsverfahrens hat sich für, weil ein Berichterstatter so etwas nicht immer allein – darauf ist schon hingewiesen worden – eine Reihe von entscheiden kann –, so hat es doch eine Verständigung Änderungen an dem Gesetzentwurf ergeben, den wir darüber gegeben, dass sich daran in den Beratungen im heute, wie ich hoffe, gemeinsam verabschieden werden. Ausschuss kein Konflikt entzünden soll, weil wir uns Sie folgten aus dem Ergebnis der Sachverständigenanhö- mehr oder weniger stillschweigend darüber einig sind, rung. Es gibt aber noch einen anderen Aspekt, den Sie, dass wir es mit einem schwierigen Vorhaben zu tun ha- Herr Kauder, heute schon angesprochen haben und auf ben, wenn wir versuchen, die Freier strafrechtlich zu fas- den ich in den Beratungen des Rechtsausschusses auch sen. bereits hingewiesen habe. Wir hatten ein gewisses Pro- blem mit der Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Im Prinzip bin ich der Meinung, dass die Ausnutzung Rates der Europäischen Union; denn dieser ist so de- der Zwangslage von Opfern des Menschenhandels tailliert und geradezu perfektionistisch formuliert, dass ein strafwürdiges Verhalten ist. Ich weiß aber auch, dass wir von Sachverständigen mahnend darauf hingewiesen wir ein Legalitätsprinzip im Bereich der Strafverfolgung wurden, an der einen oder anderen Stelle hätten wir die- haben mit dem Ergebnis: Wenn wir Strafgesetze ma- sen Beschluss nicht zu 100 Prozent – ich erlaube mir zu chen, muss die Polizei verfolgen, muss umsetzen und sagen: zu 150 Prozent – umgesetzt. Das hat die Sache versuchen, der Täter habhaft zu werden. Wir befinden nicht gerade leichter gemacht. Ich erwähne das nur, um uns hier in einem schwierigen Bereich hinsichtlich der meinem Wunsch einen gewissen Nachdruck zu geben, Beweisführung. Denn natürlich werden die Täter be- dass man in Zukunft den nationalen Gesetzgebern etwas streiten, gewusst zu haben oder eine Möglichkeit gehabt mehr Spielraum einräumt. Man sollte sich von dem zu haben, zu erkennen, dass die Prostituierte, mit der sie Misstrauen gegenüber den nationalen Gesetzgebern frei es zu tun hatten oder zu tun haben wollten, Opfer eines machen, wenn es um die ordnungsgemäße Umsetzung Menschenhandels ist. europäischer Beschlüsse geht. Dieses Misstrauen kommt Von daher ist uns nicht sehr geholfen, wenn wir auf für mich in dem Versuch zum Ausdruck, möglichst alles den Leichtfertigkeitstatbestand ausweichen, zumal die- auf europäischer Ebene zu regeln. ser – Frau Ministerin hat das schon gesagt – unserem Se- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) xualstrafrecht fremd ist. Dennoch bin ich der Meinung, 12374 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Erika Simm (A) dass wir uns die Mühe machen sollten, dies sorgfältig zu Ute Granold (CDU/CSU): (C) prüfen. Wir sind bereit – für die Kollegen von der SPD- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Fraktion kann ich dies sagen –, an dem Versuch, eine ad- Wir müssen einmal festhalten, dass der Rahmenbe- äquate Lösung zu finden, mitzuwirken. schluss, der hiermit umgesetzt werden soll, bereits vom Juli 2002 stammt und dass seitdem lange nichts getan wurde. Erst im Mai dieses Jahres wurde ein Entwurf vor- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gelegt, der dann im Schnellverfahren beraten werden Frau Kollegin Simm, darf der Kollege Kauder Ihnen sollte und nun zur Verabschiedung ansteht. Insofern eine Zwischenfrage stellen? kann ich nicht ganz nachvollziehen, dass ausreichend Zeit zur Verfügung gestanden haben soll. Erika Simm (SPD): Was die Anhörung ergeben hat – es war eine sehr gute Gern. Anhörung –, wurde umgesetzt. Als wichtigen Punkt nenne ich das Schutzalter bei der sexuellen Ausbeu- tung, das bei 21 Jahren geblieben ist. Es war das Ver- Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): dienst der Union, dass das erreicht wurde. Frau Kollegin Simm, sind wir uns darüber einig, dass die Menschenhandelsvorschriften nicht in die Sexualde- (Jörg van Essen [FDP]: Von uns auch!) likte eingegliedert sind, sondern dass Menschenhandel, – Der FDP auch. – In diesem ganz wichtigen Punkt so, wie die Regierung ihn formuliert hat, auch die Aus- konnte der Entwurf also noch verbessert werden. nutzung der Arbeitskraft bedingt und somit eher ein Ge- waltdelikt und weniger ein Sexualdelikt ist, sodass sich (Beifall bei der CDU/CSU) die Frage nach einer fahrlässigen Bestrafung unter dem Meine Kollegen und ich hätten uns gewünscht, dass Gesichtspunkt eines Sexualdeliktes so nicht stellt? die Koalitionsvorlage auch etwas zu der von uns gefor- derten Freierbestrafung enthalten hätte. Wir haben das im Rahmen der Anhörung im Rechtsausschuss einge- Erika Simm (SPD): bracht und zu diskutieren versucht. Leider wurde eine Sie haben Recht. Wir haben es jetzt in den Bereich ganze Reihe von Gründen dagegen vorgetragen. Es des 18. Abschnittes eingeordnet. Dieser beinhaltet die wurde auf die Beweisproblematik hingewiesen und da- Straftaten gegen den freien Willen. Aber durch die An- rauf, dass der Vorschlag nicht ausreichend ausgearbeitet knüpfung bei der Prostitution besteht schon ein doppel- ist. Man hat sich nicht mit dem Inhalt befasst, sondern ter Bezug. Ganz außerhalb des Bezuges zu den Sexual- offenbar versucht, das, was von der Union eingebracht straftaten bewegen wir uns also nicht. worden war, nicht weiter zu verfolgen, obwohl wir uns (B) in späteren Gesprächen in der Bewertung, dass hier eine (D) Für mich ist das auch nicht das Entscheidende. Für Strafbarkeitslücke besteht, die geschlossen werden mich ist entscheidend, eine Strafvorschrift zu formulie- sollte, relativ nahe waren. ren, die für die Polizei und für die Strafverfolgungsbe- hörden handhabbar ist und tatsächlich zu Verurteilungen Wir haben auch darüber gesprochen, dass der Frei- führen kann, wenn es mit der nötigen Sorgfalt und mit staat Bayern im Bundesrat selbst einen Entschließungs- Nachdruck verfolgt wird. antrag eingebracht hat, um die Vorschriften zum Men- schenhandel, die in der Vorlage unzureichend waren, zu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verbessern und die Freierbestrafung bei Zwangsprostitu- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der tion auf den Weg zu bringen. FDP) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie haben ange- Ich komme zum Schluss. – Als ostbayerische Abge- boten, mit uns zusammen ein Gesetz auf den Weg zu ordnete, die relativ nah an der tschechischen Grenze bringen. Wir nehmen dieses Angebot auch dankbar an. wohnt, weiß ich aus eigener Anschauung, was dort in Ich möchte hier zwei Sachverständige zitieren, die im Grenznähe im Bereich der Prostitution passiert. Ich Rahmen der bereits durchgeführten Anhörung zur Frei- würde mir ganz dringend wünschen, dass die tschechi- erbestrafung Stellung bezogen haben, nämlich Professor schen Behörden nachdrücklicher versuchen würden, die Dr. Renzikowski, der von der SPD benannt worden war, Vorgänge dort, jedenfalls soweit sie kriminellen Bezug und den Generalstaatsanwalt beim OLG Bamberg. Beide haben, zu unterbinden. Dann täten wir uns bei Diskus- haben gesagt: Es besteht eine Strafbarkeitslücke. Der sionen, wie wir sie zum Beispiel über die Bestrafung der Gesetzgeber ist aufgefordert, diese Lücke zu schließen. Freier führen, ein Stück leichter. Die Freier, die zwar nicht selbst auf das Opfer einwir- ken, aber die Zwangslage und die auslandsspezifische Ich bedanke mich. Hilflosigkeit ausnutzen, müssen bestraft werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Warum besteht diese Situation? Weil es eine Nach- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der frage gibt. Deshalb meinen wir, dass wir bei der Nach- CDU/CSU und der FDP) frage anknüpfen und dafür sorgen müssen, dass die Freier, die Kunden, die die Frauen nachfragen – das sind die wahren Ausbeuter; sie tragen durch ihr Verhalten Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: dazu bei, dass Frauen in dieser Zwangslage unsägliches Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist Leid erfahren –, bestraft werden und die Opfer geschützt die Kollegin Ute Granold, CDU/CSU-Fraktion. werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12375

Ute Granold (A) Insofern ist hier doch eine andere Situation gegeben. che an einem Anti-Freier-Gesetz arbeiten und es auf den (C) Es wird immer eingewandt, wir hätten mit dem Prostitu- Weg bringen würden. Wir können den Vorschlag, den tionsgesetz eine Entpönalisierung erreicht und wollten die CDU/CSU hier unterbreitet hat, gerne in einer weite- nun die Freier bestrafen. Da muss man doch unterschei- ren Anhörung diskutieren. Wir sollten uns dann aber den. Beim Prostitutionsgesetz geht es um diejenigen, die auch gemeinsam darum bemühen, ein Gesetz auf den freiwillig in der Prostitution tätig sind. Bei der Freierbe- Weg zu bringen und umzusetzen, damit den Frauen, die strafung geht es um die Kunden, die Frauen ausnutzen, viel Leid erfahren, geholfen werden kann. die in einer Zwangslage sind. Insofern ist hier auch kein Vielen Dank. Wertungswiderspruch festzustellen. Man muss im Übri- gen sagen, dass die Freier, wenn sie ihre Augen und ihre (Beifall bei der CDU/CSU) Ohren aufmachen, sehr wohl bemerken können, ob sich eine Frau in einer Zwangslage befindet oder nicht. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich habe mich sehr gefreut, als ich vom Zentralkomi- Ich schließe die Aussprache. tee der deutschen Katholiken und vom Verein der evan- Wir kommen zur Abstimmung über den von den gelischen Frauenarbeit gehört habe, dass sich beide Kir- Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen chen in die Diskussion über die Änderung der eingebrachten Entwurf eines Strafrechtsänderungsgeset- Menschenhandelsvorschriften eingebracht und dem zes – §§ 180 b und 181 Strafgesetzbuch – auf Drucksa- Grunde nach gefordert haben, dass die Freierbestrafung che 15/3045. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner bei Zwangsprostitution auf den Weg gebracht wird. Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4048, den Ge- Meine Damen und Herren Kollegen aus den Regie- setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich rungsfraktionen, wir haben uns bei dem Vorschlag, den bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Fas- wir eingebracht haben, sehr wohl Gedanken gemacht sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer und auch die Beweisproblematik gesehen. Wir haben stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent- im Vorfeld mit Betroffenen, mit der Polizei, mit wurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Staatsanwaltschaften und mit Hilfsorganisationen wie Dritte Beratung SOLWODI gesprochen; Frau Simm, wir waren an der tschechischen Grenze und haben dort mit JANA gespro- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem chen, ebenfalls eine Opferschutzeinrichtung. Sie alle ha- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – ben uns ermutigt, diesen Gesetzesvorschlag auf den Weg Wer stimmt dagegen? – Wer möchte sich der Stimme zu bringen. Wir meinen, dass wir die Probleme, die jetzt enthalten? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange- diskutiert werden, lösen könnten. Wir haben schon Mitte nommen. (B) (D) der 90er-Jahre etwas auf den Weg gebracht, indem wir Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: das Sexualstrafrecht geändert und die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt haben. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Wir wissen, dass der Menschenhandel eine Form der Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) Sklaverei im 21. Jahrhundert – dabei geht es insbeson- dere um Sex- und Arbeitssklaverei – und mittlerweile – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christel das weltweit profitabelste Geschäft mit einem jährlichen Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, Umsatz von 60 Milliarden Euro ist. Wir sind uns einig, Dr. Volker Wissing, weiterer Abgeordneter und dass die katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingun- der Fraktion der FDP gen in den Herkunftsländern dringend geändert werden müssen und dafür auch unsere Unterstützung nötig ist. Projekt des Umweltbundesamtes zur so ge- Wir sollten aber auch den Frauen helfen, die sich in nannten verdeckten Feldbeobachtung stop- Deutschland aufhalten – Sie haben gehört, von den pen 500 000 bis 600 000 Menschen in Europa leben eine – zu dem Antrag der Abgeordneten Gitta ganze Menge in Deutschland; es gibt keine gesicherten Connemann, Peter H. Carstensen (Nordstrand), Zahlen, deshalb möchte ich auch keine nennen – und Dr. Peter Jahr, weiterer Abgeordneter und der zum größten Teil durch Gewalt oder Repressalien ihnen Fraktion der CDU/CSU persönlich oder ihren Familien gegenüber zur Prostitu- tion in Deutschland gezwungen werden. Auch viele Vertrauensvolle und konstruktive Zusam- Minderjährige erleiden dabei unsägliches Leid. menarbeit zwischen Landwirtschaft und Umweltschutz stärken Wer heute die Zeitung aufschlug, konnte lesen, dass in Brasilien ein Deutscher zusammen mit seiner Ehefrau – Drucksachen 15/2668, 15/2969, 15/3545 – verhaftet wurde, der in großem Umfang Mädchen der Berichterstattung: Zwangsprostitution in Deutschland zugeführt hat. Dieser Abgeordnete Gustav Herzog Mädchenhändlerring, der jetzt zerschlagen wurde, ist nur Gitta Connemann einer von vielen. Daran sehen wir, dass dringender Friedrich Ostendorff Handlungsbedarf besteht. Ich würde mich freuen – Frau Dr. Christel Happach-Kasan Justizministerin, Sie haben schon gesagt, dass Sie froh darüber wären –, wenn auch die Kolleginnen und Kolle- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für gen aus den anderen Fraktionen mit uns im Sinne der Sa- diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei 12376 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) die FDP fünf Minuten erhalten soll. – Dazu stelle ich die Kontrollen zur Datenerhebung, aber nicht, um den (C) Einvernehmen fest. Landwirt mit Sanktionen zu belegen, Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- (Gustav Herzog [SPD]: Sehr richtig!) gin Renate Jäger für die SPD-Fraktion. sondern, um ihm Hilfe zu geben.

Renate Jäger (SPD): In ihrem Antrag macht die FDP den destruktiven Vor- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir schlag, das Projekt der Feldbeobachtung sofort und ganz haben heute über zwei Anträge der Opposition zu befin- zu stoppen. den, die sich mit dem Thema der so genannten verdeck- (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das sagen so- ten Feldbeobachtung beschäftigen. Da die meisten Er- gar Herr Priesmeier und Herr Ostendorff! Das scheinungen in der Gesellschaft in eine Kette von sagen auch Ihre Kollegen!) Ursache und Wirkung eingebettet sind, stellt sich hier natürlich die Frage, wie es dazu kommt, dass die beiden Konnte man das Pferd nicht auch von der anderen Seite Oppositionsparteien Anträge solcher Art stellen. aufzäumen? Konnte man das nicht konstruktiv angehen, zum Beispiel indem Sie über den Bundesrat – Sie sind ja (Zuruf von der CDU/CSU: Weil Sie so etwas an einigen Regierungen beteiligt – die Länder aufgefor- gemacht haben!) dert hätten, dem UBA die gesammelten Daten der Pflan- Wir Umweltpolitiker haben über Partei- und Frak- zenschutzämter zur Verfügung zu stellen? tionsgrenzen hinweg ein gemeinsames Ziel, das kurz ge- (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Kann das sagt darin besteht, die uns umgebende Natur in all ihren UBA das nicht selber machen? – Gitta Facetten, in Form von Pflanzen und Tieren, Landschaft, Connemann [CDU/CSU]: Hätte das UBA Wasser und Luft, für uns und unsere Nachkommen sau- nicht fragen können?) ber, gesund und lebenswert zu erhalten. Es ist ein Stück Verantwortung vor Gott und den Menschen, wie es in Es kann doch wohl nicht sein, dass die Länder die unserem Grundgesetz heißt. Daten auch nach Aufforderung nicht herausgeben, ob- wohl der Bund für die Lebensmittelsicherheit verant- Auf den Wegen hin zu diesem Ziel kommen wir aller- wortlich ist. dings recht schnell zu unterschiedlichen Auffassungen. Wir müssen die Wege in das demokratische System (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Sie ge- einpassen und sie in Abwägung und Relation zu Wirt- ben sie doch inzwischen heraus!) schaftlichkeit, Effektivität, Kosten usw. umsetzen. Die Liegen dem UBA ausreichend Daten vor, braucht keine (B) Hauptfrage aber entscheidet sich in der Regel an dem verdeckte Feldbeobachtung durchgeführt zu werden. Bis (D) Parameterpaar Ökonomie und Ökologie. Diese kann vergangenen Montag lagen weder dem Umweltministe- man zum einen als eng verbundene Einheit sehen oder rium noch dem Ministerium für Verbraucherschutz, Er- zum anderen als weit auseinander liegende gegensätzli- nährung und Landwirtschaft gelieferte Daten vor. che Pole. Zwischen den beiden gibt es einen breiten Spielraum unterschiedlicher Nähe zur Ökologie auf der Besonders kess geht die CDU/CSU in ihrem Antrag einen Seite bzw. zu den ökonomischen Wirkungen auf vor. Sie nimmt die Feldbeobachtung zum Anlass, wirk- der anderen Seite. same Kontrollen gleich ganz auszuhebeln. Das Pflanzen- schutzgesetz soll ihrer Meinung nach dahin gehend ge- Bei der Beratung der Oppositionsanträge ist zunächst ändert werden, dass eine Kontrolle nur nach vorheriger zu erwähnen, dass das Pflanzenschutzgesetz mit all sei- rechtzeitiger schriftlicher Ankündigung in angemessener nen Auflagen unter der Ägide der CDU/CSU im Frist durchgeführt werden darf. Was hier „angemessen“ Mai 1998 im Bundestag beschlossen wurde. Es ist ein heißt, lassen Sie aber offen. Auf alle Fälle wollen Sie Bundesgesetz und für die Kontrolle seiner Einhaltung dem Landwirt reichlich Zeit geben, alles, was eine Er- sind die Pflanzenschutzämter der Länder zuständig. kenntnis über ein eventuelles ungesetzliches Ausbringen von Pestiziden und Düngemitteln bringen könnte, weg- (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Richtig!) zuräumen und zu sortieren. Bundesseitig haben wir das Umweltbundesamt, das un- (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist eine ter anderem auch für die Weiterentwicklung des Um- ganz infame Unterstellung!) weltschutzes zuständig ist, das Wege für die Lösung von Umweltproblemen aufzeigen und dem BMU und auch Da Sie auch die Wohnräume zum Tabu erklären wollen, anderen Ministerien diesbezügliche fachliche Konzepte ist das noch leichter zu bewerkstelligen. Dort, wo Ge- vorschlagen soll. schäfts- und Wohnräume zusammenliegen, dürfte gar nicht kontrolliert werden. Im Rahmen dieser Aufgaben sah es das Umweltbun- desamt als notwendig an, Daten zu sammeln, um die Für wen betreiben Sie eigentlich Lobbypolitik? Praktikabilität der Anwendung des Pflanzenschutzgeset- (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Denken Sie zes zu überprüfen und gegebenenfalls zu verbessern. Da an Ihre Diskussion zum großen Lausch- die Daten der Pflanzenschutzämter der Länder dem Um- angriff!) weltbundesamt nicht vorlagen, griff das UBA auf den Weg der verdeckten Feldbeobachtung zurück, der viel- Den Landwirten, die ihren Grund und Boden geset- leicht besser als Ausweg zu bezeichnen ist. Gedacht sind zestreu, kostenbewusst und ökologisch vernünftig Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12377

Renate Jäger (A) bewirtschaften, dienen Sie mit diesem Antrag bestimmt darin, immer wieder Eiszeiten zwischen Umweltschutz (C) nicht, im Gegenteil. und Landwirtschaft auszulösen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das letzte – wirklich allerletzte – Beispiel ist das Pro- DIE GRÜNEN) jekt, das in der Öffentlichkeit den Titel „Bauernspione“ erhalten hat. Dieser Titel macht deutlich, dass hier ein Sie schüren dadurch Misstrauen im gesamten Berufs- ganzer Berufsstand unter Generalverdacht gestellt wird. stand, als ob es hier eine ganze Menge zu verbergen gäbe. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir lehnen diese beiden Anträge ab. Im Oktober 2003 schrieb das dem Umweltministerium unterstellte Umweltbundesamt diese Leistung aus: „Mit- Vielen Dank. tels verdeckter Feldbeobachtung“ – Ende des Zitats – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Gustav Herzog [SPD]: Zitieren Sie doch DIE GRÜNEN) weiter!) soll die Einhaltung der Anwendung von Pflanzenschutz- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: mitteln erfasst, Landwirte und Gärtner beobachtet wer- Das Wort hat nun die Kollegin Gitta Connemann, den. CDU/CSU-Fraktion. Mittel und Ziel des Vorhabens lassen an einen Film (Beifall bei der CDU/CSU) im Geheimdienstmilieu eines John le Carré etwa nach dem Motto „Der Spion, der aus der Uni kommt“ denken. Gitta Connemann (CDU/CSU): (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Stellen Sie sich einmal vor: Sie sind zu Hause, vor sich eine Tasse Denn mit der Beobachtung sind Studenten beauftragt. Ostfriesentee – so wäre es jedenfalls bei uns –, sicher in Kenntnisse über Pflanzenschutzmittel und Geräte, die dem Gefühl „My home is my castle“. Plötzlich steht ein Landwirte und Gärtner in sehr zeitintensiven Pflichtlehr- Team von Ermittlern vor Ihrer Tür und verlangt den Zu- gängen erlernen, sollen den Studenten der Kunstge- tritt zu Ihrer Wohnung, um zu überprüfen, ob Sie Ihren schichte, der Jurisprudenz etc. im Crashkurs vermittelt Blumendünger vorschriftsmäßig verwahrt haben. Sie werden. Dann auf zur Feldbeobachtung! sind natürlich aufgebracht und pochen – „Meine Woh- Es ist nicht so, dass es dafür keine Experten geben nung ist unverletzlich“ – auf Art. 13 Grundgesetz. Die würde, Frau Jäger. Aber wen interessiert schon, dass es Ermittler weisen darauf hin, dass dieses Grundrecht für dafür Mitarbeiter bei Landesbehörden gibt, die die not- (B) Sie nicht greift. Also: Türen auf, Schränke auf. wendige fachliche Qualifikation und Eignung haben? (D) Unmöglich, sagen Sie? Weit gefehlt, meine Damen Wen interessiert schon, dass der Bund gar nicht zustän- und Herren. Genau diese Szene kann für unsere Land- dig ist? Jedenfalls nicht diese Bundesregierung. Da wirte jeden Tag Wirklichkeit werden. macht es dann auch nichts, dass Planung und Vorberei- tung des Projekts bereits 300 000 Euro verschlungen ha- (Zuruf des Abg. Gustav Herzog [SPD]) ben. – Ich komme noch darauf zu sprechen, Herr Kollege (Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: Dafür habt Herzog. – Denn § 38 Pflanzenschutzgesetz macht es ihr Geld!) möglich. Die zuständigen Behörden dürfen die Räume Wir haben’s ja! besichtigen und untersuchen, und zwar ohne dringenden Tatverdacht. Dabei handelt es sich nicht nur um die Be- Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man über diese triebsräume, nein, auch um die Privaträume. Denn für Posse beinahe lachen. landwirtschaftliche Betriebe ist das Grundrecht auf Un- (Gustav Herzog [SPD]: Auch über Ihre Rede!) verletzlichkeit der Wohnung eingeschränkt. Aber sie trifft einen ganzen Berufsstand ins Mark. Land- Diese Regelung – das ist richtig – wurde 1986 einge- wirte und Gärtner werden kriminalisiert. Denn ihnen führt. wird per Generalverdacht unterstellt, Vorschriften zu (Gustav Herzog [SPD]: Wer war denn da missachten. Dabei sollte dieser Berufsstand eigentlich Landwirtschaftsminister?) hohes Ansehen genießen. Die deutschen Bauern und Gärtner versorgen uns mit hochwertigen gesunden Le- Zielrichtung war der Betriebsinhaber, der gegen das Ge- bensmitteln. Sie pflegen und umsorgen unsere Kultur- setz verstößt. Denn niemand von uns will einen Missetä- landschaft. Dabei stehen sie mit dem Rücken an der ter schützen. Die damalige Bundesregierung konnte aber Wand. sicher sein, dass die zuständigen Landesbehörden von dieser Ermächtigung nur im Verdachtsfall Gebrauch ma- Wenn der Herr Minister, die Frau Ministerin und auch chen würden. Sie, Herr Kollege Herzog und Frau Kollegin Jäger, sich heute die Mühe gemacht hätten, die Demonstration der (Gustav Herzog [SPD]: Und die Länderbehör- hessischen Milchbauern vor dem Brandenburger Tor zu den haben sich geändert?) besuchen, hätten Sie einmal bemerkt, wie verzweifelt die Lage unserer Bauern ist. Wer aber hätte ahnen können, dass es jemals einen Mi- nister Trittin geben würde? Sein Klimabeitrag besteht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 12378 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Gitta Connemann (A) 14 Betriebe sterben pro Tag in Deutschland. Anstatt den In diesen Dialog muss auch Minister Trittin eintreten. (C) Bauern Hilfe zuteil werden zu lassen, werden ihnen Wir wollen keinen Überwachungsstaat. Beobachter aufs Feld geschickt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Gustav Herzog [SPD]: Sie verhöhnen die Landwirte!) Wir wollen keine Bauernstasi. Stellen Sie Ihre Jagd ein! Beenden Sie die verdeckte Feldbeobachtung! Ändern Das finde ich unerträglich. Sie das Pflanzenschutzgesetz für eine vertrauensvolle (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und konstruktive Zusammenarbeit von Landwirtschaft und Umweltschutz! Wir, die Opposition, und die Öffentlichkeit stehen mit dieser Kritik nicht allein. Ich zitiere aus der „Bild am Vielen Dank. Sonntag“ vom 13. Juni 2004 den Kollegen Friedrich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ostendorff, einen Parteifreund des Ministers: Welcher Teufel reitet die Verantwortlichen eigent- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: lich? Das Projekt gehört schleunigst abgeblasen! Ich erteile das Wort dem Kollegen Friedrich Der Kollege Wilhelm Priesmeier, übrigens ein Mitglied Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen. der SPD-Fraktion, stellt fest: Trittin muss das ganze Verfahren sofort stoppen. Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Wie wahr, meine Damen und Herren von der Koali- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- tion. Beenden Sie endgültig dieses Drama! Nehmen Sie ren! Zu dem Antrag der CDU/CSU mit dem Titel „Ver- zur Kenntnis: Unsere Landwirte leben von der Natur. trauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit zwi- Die Vorstellung, jeder Bauer verfahre beim Pflanzen- schen Landwirtschaft und Umweltschutz stärken“ schutzmitteleinsatz nach der Methode „Viel hilft viel“, möchte ich sagen: Dieser Titel ist gut; der Rest ist Mist. ist völlig absurd. (Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie wissen, dass ich mich zu dem in dem Projekt der ver- Wenn Sie schon den Landwirten jede Moral abspre- deckten Feldbeobachtung des Umweltbundesamtes ge- chen, lassen Sie sich vielleicht von Kostenargumenten planten Verfahren sehr ablehnend geäußert habe. Denn überzeugen. Mein Bruder hat einen Hof. Der Pflanzen- ich halte es für den Dialog, den wir mit der Landwirt- (B) schutzmitteleinsatz bei Getreide kostet ihn aktuell circa schaft im Rahmen des Pflanzenschutzreduktionspro- (D) 170 Euro pro Hektar. Er kann 6 bis 10 Tonnen pro Hek- grammes führen wollen, für nicht dienlich. Deshalb tar bei einem Preis von circa 100 Euro pro Tonne ernten. fände ich ein Verfahren falsch, das Heckenschützenmen- Glauben Sie denn im Ernst, dass er es sich bei diesen talität und Denunziation möglicherweise fördern könnte. Margen überhaupt leisten könnte, Pflanzenschutzmittel über Bedarf einzusetzen? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das weiß auch das Umweltbundesamt und fühlt sich Aber Sie wissen auch, dass das Umweltbundesamt offensichtlich nicht wohl bei diesem Projekt. So erklärte nach längerem Streit bereit ist, auf die eigene Erhebung Präsident Troge vor dem Bauernverband vor zwei Wo- zu verzichten, chen, am 11. Oktober 2004 – ich zitiere –: (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ach!) Die Landwirtschaft hat im Umweltschutz bei Luft, Wasser und Boden in den vergangenen Jahren eine wenn die Länder die Ergebnisse der Anwendungskon- Menge getan und viel erreicht … trollen liefern. Die Pflanzenschutzämter sind jetzt gefor- dert. Mögliche wissentliche oder unwissentliche Anwen- Der Zustand der Gewässer habe sich dank des Einsatzes dungsfehler beim Einsatz von Pflanzenschutzmitteln der Landwirtschaft enorm verbessert. Weitere Anstren- müssen untersucht werden. Ich weiß nicht, was dagegen gungen müssten gemeinsam angegangen werden. einzuwenden wäre. Gemeinsam, das ist das Zauberwort. Selbst Ministerin (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ich auch Künast hat das inzwischen erkannt. Morgen wird ihr nicht!) Ministerium ein Reduktionsprogramm zum chemi- schen Pflanzenschutz vorstellen. Diese Reduktion ist Frau Connemann, man muss zwischen dem Ziel des – um es hier ganz klar zu sagen – im Interesse aller, ins- Vorhabens und dem Verfahren differenzieren. Das tun besondere auch im Interesse der Bauern. Für dieses Pro- Sie leider nicht. An dem Ziel kann man nichts aussetzen. gramm wurde der Dialog mit allen Beteiligten, also mit Oder wollen Sie den Menschen allen Ernstes erklären, den Landwirten, den Behörden auf Landesebene und den dass es der Landwirtschaft leider nicht zuzumuten sei, Herstellern von Pflanzenschutzmitteln, gesucht. Offen- dass der Umgang mit immerhin giftigen Substanzen ge- bar waren die Gespräche auf dieser Ebene durchaus po- nau kontrolliert werde, weil das, wie Sie in Ihrem Antrag sitiv. Allerdings bleibt abzuwarten – das ist dann der schreiben, „den Leistungen und Verdiensten der Land- Überraschungseffekt –, ob sich die am Dialog Beteilig- wirtschaft in Deutschland in keiner Weise gerecht ten tatsächlich in dem Programm wiederfinden werden. wird“? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12379

Friedrich Ostendorff (A) Sie behaupten, schon die Überprüfung der Einhaltung che Richtung. Sie reden wie kein anderer unentwegt von (C) von Gesetzen sei eine Kriminalisierung des gesamten Misstrauen, Diskreditierung und Kriminalisierung. Berufsstandes. Meine Damen und Herren, was ist denn (Artur Auernhammer [CDU/CSU]: So ist es das für ein Rechtsverständnis? Sie plädieren dafür, gar doch!) nicht zu kontrollieren, Wissen Sie, was Sie damit herbeireden, Frau (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist nicht Connemann? Nichts als Misstrauen, Diskreditierung und wahr! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Kriminalisierung. Ich kenne außer Ihnen niemanden, der und begründen das damit, dass ein deutscher Bauer we- das Pflanzenschutzgesetz, das übrigens in der Dienstzeit der wissentlich noch unwissentlich etwas tun würde, was der Ex-Umweltministerin Angela Merkel entstanden ist, nicht erlaubt ist. für einen Ausdruck tiefen Misstrauens gegenüber der Landwirtschaft hält. Aber ich kann Sie beruhigen: Nicht (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sie müssen jede Kontrolle in diesem Land ist Ausdruck eines den Antrag lesen!) schlechten Charakters des Kontrolleurs. Vielmehr ist Kollegin Connemann hat in der ersten Lesung dieses eine Kontrolle in der Regel ein ganz normaler Vorgang. Antrages wörtlich gesagt: Dieser Antrag der CDU/CSU ist ein typisches Bei- spiel Ihrer bekannten Politik der großen Allgemein- Niemand will denjenigen schützen, der wissentlich plätze, die wörtlich so klingen: gegen Gesetze verstößt. Dies wird den Leistungen und Verdiensten der (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Habe ich Landwirtschaft in Deutschland in keiner Weise ge- gerade auch gesagt!) recht. Aber gerade die Landwirte tun dies nicht und haben Können Sie mir dies erklären? Ich bin gern bereit, die deshalb unser Vertrauen verdient. wirklichen Leistungen und Verdienste der Landwirt- (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ja!) schaft gebührend zu würdigen. Wir von Rot-Grün tun dies im Übrigen in einer Art und Weise, von der die Bäu- Woher, Frau Connemann, wissen Sie das? erinnen und Bauern viel mehr als von Ihren Sprüchen haben: durch aktive Förderung der besonderen Leistun- (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Weswegen gen der Landwirtschaft, etwa beim Erhalt der Kultur- machen Sie dann die verdeckte Feldbeobach- landschaft. Aber ich bin nicht bereit, die Kollegen der tung?) Opposition hier wegen jeden Kleinkrams im Kostüm des (B) Haben Sie vielleicht eigene, heimliche Kontrollen Rächers der unterdrückten Bauern und Bäuerinnen zu er- (D) durchgeführt? Gerade weil es um Vertrauen geht, ist es tragen, der mit gespielter Entrüstung gegen den bösen doch wichtig, mögliche Anwendungsfehler einzugren- Wolf zu Felde zieht. zen. Das schwächt das Vertrauen nicht, sondern stärkt es. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Eine Kriminalisierung stellte es dar, mögliche Fehler und bei der SPD – [CDU/ unter den Tisch zu kehren oder gegen alle wenden zu CSU]: In welcher Welt leben Sie eigentlich?) wollen. Es ist kein Angriff auf alle Berufskollegen, wenn – Frau Mortler, ich muss Ihnen sagen: Das ist albernes man offen ausspricht, dass es Verstöße gibt. Warum Theater, das bei den Zuschauern nur Kopfschütteln aus- sollte es ausgerechnet unter uns Landwirten keine löst. schwarzen Schafe geben? Auch wenn Ihr Weltbild damit zusammenbricht, Frau Connemann: Natürlich gibt es (Ute Kumpf [SPD]: Schlechter Komödiensta- Verstöße, wissentlich wie unwissentlich begangene. del!) (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ja, natürlich!) Meine Damen und Herren, wir befinden uns beim Thema Pflanzenschutzmittel auf einem sehr vernünfti- Wir haben nach wie vor Probleme mit der richtigen An- gen Weg. Sie sind herzlich eingeladen, diesen Weg mit- wendung von Pflanzenschutzmitteln. Allein im Regie- zugehen. Wenn Sie ihn nicht mitgehen, werden wir ihn rungsbezirk Unterfranken mussten in diesem Jahr allein gehen; auch dies werden wir aushalten. Aber be- 20 Verfahren im Zusammenhang mit der Nutzung von lästigen Sie uns bitte nicht weiter mit Anträgen wie die- Pflanzenschutzmitteln eingeleitet werden. Daran müssen sem. wir arbeiten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Marlene Mortler [CDU/CSU]: Das wird doch und bei der SPD) schon kontrolliert!) Dies tun wir bereits, zum Beispiel mit dem Pflanzen- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: schutzreduktionsprogramm, das die Ministerin mor- Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Christel gen vorstellen wird. Hier geht es um einen konstruktiven Happach-Kasan für die FDP-Fraktion. und sachlichen Dialog, der von Anwendern, Kontrollin- stanzen, Naturschützern und anderen kritischen Gruppen Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): geführt wird. Sie hingegen tragen mit Ihrem Antrag die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diskussion in eine falsche und, wie ich meine, schädli- Kollege Ostendorff, das Projekt „Bauernspione“ oder 12380 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Dr. Christel Happach-Kasan (A) „Verdeckte Feldbeobachtung“, wie es in der Aus- – Nein, Kupferhydroxid ist ein klassisches Mittel des (C) schreibung hieß, ist kein Kleinkram gewesen. Es war ge- ökologischen Pflanzenbaus. Konventionelle Betriebe ha- rechtfertigt, dass die FDP sich dagegen gewandt hat, und ben es nicht nötig, sich auf solche vorsintflutlichen Mit- ich bin stolz darauf, dass wir damit insoweit Erfolg ge- tel zurückzuziehen. habt haben, als dieses Projekt nicht in der ursprünglich geplanten Form durchgeführt wird. Dies ist ebenso gut Fazit: Chemischer Pflanzenschutz ist unverzichtbar. für die Bauern wie für das Umweltbundesamt, das damit Aber der sachgerechte Umgang mit Pflanzenschutzmit- gezeigt hat, dass es einsichtsfähig ist, was die Vorausset- teln liegt im Interesse aller: im Interesse der Landwirte, zung dafür ist, dass es weiterhin gute Arbeit leisten kann. die Kosten sparen; im Interesse des Naturschutzes, weil In einem Gespräch mit Hans-Michael Goldmann und Belastungen vermieden werden; im Interesse einer ho- mir hat Herr Troge zugesichert, dass keine Bauernspione hen Qualität der Lebensmittel. über die Felder der Landwirte streifen werden. Ich setze Aufgrund des Lebensmittelmonitorings wissen wir, darauf, dass das Wort des UBA-Präsidenten gilt. dass unsere Lebensmittel gut und sicher sind. Im Status- Zugleich fordert die FDP die Bundesregierung auf, bericht des Senats der Bundesforschungsanstalten wird das Schwarzer-Peter-Spiel zwischen Minister Trittin, festgestellt: Ministerin Künast und UBA-Präsidenten Troge zu been- den und die politische Verantwortung zu übernehmen. Bis heute gibt es damit letztlich keinen wissen- Ministerin Künast ist gefordert, sich endlich einmal vor schaftlichen Nachweis dafür, dass der ausschließli- die Bauern zu stellen und die weit überwiegende Mehr- che oder überwiegende Verzehr von ökologisch er- heit, die in hoher Verantwortlichkeit ihre Felder bewirt- zeugten Lebensmitteln direkt die Gesundheit des schaftet, vor ungerechtfertigten Vorwürfen zu schützen. Menschen fördert. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sagen Sie doch einmal, was in Ihren wissenschaftlichen Studien festgestellt wurde! Oder sind Sie der Meinung, Erinnern wir uns: Als die Ausschreibung des Um- dass sie alle für den Papierkorb sind? weltbundesamtes bekannt wurde, waren wir alle scho- ckiert. Heute bin ich dankbar, feststellen zu können, dass (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sich alle Kolleginnen und Kollegen im Agrarausschuss Gleichwohl werden, wenn auch mit rückläufiger davon distanziert haben. Dies gilt sowohl für Herrn Tendenz, Rückstände von Pflanzenschutzmitteln im Ostendorff, der diesen Vorgang eben noch einmal öffent- Grundwasser gefunden. Das muss abgestellt werden. lich gemacht hat, als auch für den inzwischen verstorbe- Da sind wir uns, glaube ich, alle einig. Nach mündlicher nen Matthias Weisheit und für . Mitteilung von Präsident Troge sind zwei Ursachen da- (B) Aber es ist ein Trauerspiel, dass Rot-Grün offensichtlich (D) für verantwortlich: unzureichende Vorschriften zur An- von Februar bis heute gebraucht hat, um diesen Skandal wendung von Pflanzenschutzmitteln und falsche An- zu beenden, und dass sich keiner der Verantwortlichen wendung durch die Landwirte. In Beantwortung einer bis jetzt von dem Projekt distanziert hat. Die Reputation Anfrage hat mir die Bundesregierung gesagt, im Wesent- des Umweltbundesamtes und seines Präsidenten hat er- lichen sei nur die Verantwortung der Landwirte zu über- heblich gelitten. Wir von der FDP-Bundestagsfraktion prüfen. Ich meine, die aufgeworfene Fragestellung muss fordern ihn auf, sich zu entschuldigen. untersucht werden. Es gibt nur wenige Alternativen zur Anwendung von Man sieht jedoch sehr leicht, dass mit der Methode Pflanzenschutzmitteln. Eine Alternative sind krank- der Bauernspione eine solche Untersuchung überhaupt heitsresistente Pflanzen. Rot-Grün hat gerade mögliche nicht getätigt werden kann. So können gar nicht die Da- Fortschritte bei der Züchtung resistenter Sorten durch ten erhoben werden, die gebraucht werden, um tatsäch- Anwendung gentechnischer Methoden per Gesetz ver- lich etwas herauszufinden. Wir brauchen nämlich Daten, hindert. Sie haben damit die Verminderung des Einsatzes die die notwendige Differenzierung nach Regionen und von Pflanzenschutzmitteln verhindert. Die Züchtung re- nach Kulturarten erlauben. Das ist mit der Methode der sistenter Sorten wäre das beste Programm gewesen. Bauernspione nicht möglich. Das heißt, mit einer die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Landwirte pauschal kriminalisierenden Methode sollten der CDU/CSU) Daten erhoben werden, die zur Beantwortung der ange- gebenen Fragen völlig ungeeignet sind. Das ist unverant- Die Methoden des Ökolandbaus sind nicht flächende- wortlich: Geld herausschmeißen und einen Berufsstand ckend umsetzbar. Denn es gibt keinen Markt für die Pro- in den Dreck ziehen. dukte. Im Übrigen darf ich daran erinnern, dass die Ver- wendung von Kupferhydroxiden anstelle von modernen, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schnell abbaubaren Fungiziden, die von Betrieben des Ökolandbaus praktiziert wird, zum Eintrag von Schwer- Inzwischen hat das Umweltbundesamt festgestellt, metallen ins Grundwasser führt. Auch das ist bekannt; dass es doch auf die Daten des Pflanzenschutzmittel- die Umwelt wird geschädigt – nichts öko. dienstes der Länder zurückgreifen kann. Nach Aussage von Präsident Troge gibt es eine Vereinbarung zwischen (Beifall bei der FDP – Gustav Herzog [SPD]: den Ländern. Ich bin zuversichtlich, dass die Länder der Aber auch im konventionellen Landbau zuge- Bundesregierung diese Daten zur Verfügung stellen wer- lassen!) den. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12381

Dr. Christel Happach-Kasan (A) (Renate Jäger [SPD]: Sie hätten es schon Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): (C) längst tun müssen!) Frau Probst, Präsident Troge hat uns gestern in dem – Sie hätten sich einmal durchsetzen können! Sie können Gespräch mitgeteilt, dass es eine Vereinbarung zwischen doch nicht verlangen, dass ich von der Opposition Ihre dem Umweltbundesamt und den Ländern dahin gehend Regierungsgeschäfte betreibe. Was soll das denn? Das gibt, diese Daten zur Verfügung zu stellen. Ich darf Sie hätten Sie doch endlich einmal machen können. Warum daran erinnern, dass es nach Aussage des Umweltbun- machen Sie das denn nicht? Sie sind doch wohl Manns desamtes eine solche Vereinbarung zum Zeitpunkt der genug, so etwas in die Wege zu leiten. Das müssen Sie Ausschreibung noch gar nicht gegeben hat und die Län- nicht von einer einzelnen Oppositionsabgeordneten ver- der somit damals gar nicht verpflichtet waren, solche langen. Das ist doch wohl Blödsinn. Daten zu übermitteln. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich möchte gleichzeitig noch einmal herausstellen, dass es sich nicht um vergleichbare Daten handelt. Die Daten, die den Pflanzenschutzämtern flächendeckend Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: bundesweit vorliegen, sind wesentlich besser geeignet, Frau Kollegin, Ihnen ist wahrscheinlich entgangen, das Vorhaben, das Sie uns geschildert haben, umzuset- dass Ihre Redezeit inzwischen zu Ende ist. zen, als die Daten, die dadurch ermittelt werden, dass Spione auf die Felder geschickt werden, wie Sie das vor- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): gehabt haben, die nachschauen sollen, ob sie hier oder da Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. etwas finden. Ich glaube, mit der Methode können wir unser Grundwasser nicht vor Einträgen durch Pflanzen- Damit können wir festhalten: Erst der massive Ein- schutzmittel schützen. Die Methode, die sich der Daten spruch der FDP hat das Anliegen des Umweltbundesam- der Pflanzenschutzämter bedient, ist die deutlich bes- tes auf einen Erfolg versprechenden Weg gewiesen, sere. nämlich die Daten der Länder heranzuziehen. Ich habe Präsident Troge vorgeschlagen, uns zu loben. Ich finde, Sie könnten das auch tun. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Nun hat der Kollege Gustav Herzog für die SPD- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Gustav Herzog (SPD): Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (B) Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! (D) Um das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kolle- Vordergründig geht es in dieser Debatte um zwei An- gin Probst gebeten. Bitte schön. träge der Opposition, tatsächlich aber geht es um Ihren Beißreflex, wenn Sie die Begriffe UBA oder Öko hören. Simone Probst (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Deswegen diese ganze Aufregung. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kollegen! Der Beitrag der Kollegin Happach-Kasan war DIE GRÜNEN) dazu angetan, dass Missverständnisse im Raum stehen bleiben. Deshalb möchte ich richtig stellen, dass es bis- Es ist schon interessant zu hören, wie Sie das immer her wirklich keinen Grund gibt, von der Konzeption die- ganz geschickt verknüpfen können. ses Projektes abzuweichen. Der Antrag der FDP beinhaltet ein Verbot der Unter- Es ist richtig, dass wir ein großes Interesse daran suchung von Defiziten bei der Anwendung von Pflan- haben, Doppelarbeiten zu vermeiden und qualifizierte zenschutzmitteln. Der Antrag der CDU/CSU beinhaltet Daten, die den Ländern vorliegen, mit auszuwerten. ein Verbot von unangekündigten und damit effektiven Bis heute aber hat kein einziges Land Daten geliefert. Kontrollen. Der Ausschuss empfiehlt in beiden Fällen Jetzt sind die Länder – das hat Herr Ostendorff richtig eindeutig Ablehnung und das ist eine gute Empfehlung. gesagt – am Zuge. Solange keine qualifizierten Daten Eigentlich haben wir bereits in der Debatte vom bzw. überhaupt keine Daten vorliegen, werden wir an 7. Mai dieses Jahres alles Wesentliche gesagt. Die Oppo- unserem Vorhaben festhalten. Es geht uns nicht darum, sition hat es aber offenbar nicht geschafft, sich in dieser die Landwirte in irgendeiner Weise zu kriminalisieren Zeit etwas mehr mit den Fakten auseinander zu setzen, oder in die Ecke zu stellen, wie Sie das in den Raum ge- noch einmal nachzulesen und endlich aufzuhören, ihren stellt haben. Es geht vielmehr um eine vernünftige An- Unsinn zu verbreiten. Da Sie das heute wieder gemacht wendung der Pflanzenschutzmittel im Sinne des Gewäs- haben, Frau Kollegin Connemann, will ich einmal aus ser- und des Umweltschutzes. An diesem Ziel werden Ihrem Antrag zitieren: wir festhalten. Durch diese Maßnahme scheint das Umweltbun- (Beifall der Abg. Renate Jäger [SPD]) desamt die Einhaltung der guten fachlichen Praxis der Land- und Forstwirte grundsätzlich infrage stel- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: len zu wollen. Denn nur wer glaubt, dass Recht und Zur Beantwortung, Frau Happach-Kasan. Gesetz unterlaufen werden … 12382 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Gustav Herzog (A) Frau Kollegin Connemann, das ist keine Frage des Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist mehrfach an- (C) Glaubens. Wir wissen, dass es Verstöße gibt, sei es beab- gesprochen worden, dass die Länder jetzt in der Pflicht sichtigt oder unbeabsichtigt. Das werden Sie wohl nicht sind. Nach meiner Kenntnis ist es in Niedersachsen lei- in Abrede stellen. der so, dass dort nicht mehr Rot-Grün das Sagen hat, sondern, Frau Connemann und Frau Happach-Kasan, (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Die aber von dass Ihre Parteifreunde dort regieren. Sorgen Sie also den Pflanzenschutzdiensten der Länder aufge- auch dafür, dass die benötigten Daten geliefert werden; nommen werden!) denn entgegen Ihrer Vorstellung hat Herr Trittin keinen Wir wissen, dass die gute fachliche Praxis hinsicht- Zugriff auf die Daten der Länderbehörden. Ich glaube lich der Abstandsregelungen, der Wartezeit, der Indika- nicht, dass die KoMbO daran etwas ändern wird. tion und zum Beispiel auch der Reinigung der Feld- Ich möchte diese Debatte nutzen, um einen weiteren spritze auf dem Acker – das wird noch zu häufig auf Aspekt aufzugreifen. Lassen Sie mich etwas zu dem ver- dem Hof gemacht – nicht immer eingehalten wird. Es meintlichen Skandal sagen, über den wir in dieser Wo- gibt sogar eine gemeinsame Initiative von Umweltbun- che auch im Ausschuss diskutiert haben und der mit die- desamt und Bauernverband, die versucht, das Problem ser Thematik durchaus etwas zu tun hat: die durch Information und Beratung zu beseitigen. Greenpeace-Studie „Pestizide am Limit“. Diese Studie Das sind keine Erfindungen von Rot-Grün. Sie alle halte ich für wissenschaftlich schlecht bis untauglich. wissen, dass es Fälle von Überschreitungen der Höchst- Sie ist eine unglückliche und unsachliche Verknüpfung mengen gibt. Sie wissen auch, dass nicht zugelassene von Messergebnissen und gesetzlichen Vorschriften, im Mittel verwendet werden. Sie kennen auch die Ergeb- Grunde genommen ein giftiges Gebräu von Halbwahr- nisse der Analysen von Proben aus Oberflächengewäs- heiten. sern und Grundwasser. Manchmal reicht auch ein einfa- (Beifall der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan cher Spaziergang, um festzustellen, dass nicht immer am [FDP]) Ackerrand Schluss war, sondern der Bauer noch ein Stückchen weiter gefahren ist. Es ist bedauerlich, dass eine solche Studie in unserer Medienlandschaft eine derartige Aufregung verursachen Wir wissen auch, dass unser Bemühen um mehr Ein- kann. Konstruktive Kritik ist zwar immer willkommen. zelfallgerechtigkeit zu einem nahezu unanwendbaren Aber diese Studie ist nicht geeignet, die Verbraucher Regelwerk geführt hat. Darin stimmen wir, glaube ich, aufzuklären oder das Verhalten der Landwirte zu verbes- überein. Deswegen sollte es unser gemeinsames Ziel sern. sein, das Regelwerk einfacher zu gestalten und es da- (B) durch besser zu machen. Für die SPD-Fraktion sage ich (Beifall der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan (D) noch einmal sehr deutlich: Nach unserer Auffassung [FDP]) kann der Großteil der deutschen Landwirtschaft nicht Im schlimmsten Fall können solche Schlagzeilen sogar auf chemischen Pflanzenschutz verzichten. dazu führen, dass es dem Verbraucher letztendlich egal Ein Motiv des UBA war, die Landwirte bei der Be- ist, was er isst, weil er denkt, dass sowieso alle Nah- obachtung zu fragen, warum sie eventuell gegen die eine rungsmittel versaut sind. Dieser Fatalismus ist eine Be- oder andere Regelung verstoßen haben. Es ist einfach strafung all jener Landwirte, die verantwortungsvoll fortgesetzte Böswilligkeit, wenn hier von einer Krimina- hochwertige Nahrungsmittel in einer ökologisch intakten lisierung gesprochen wird. Es wird kein Acker betreten, Umwelt produzieren. ohne zu fragen. Das ist kein Hausfriedensbruch. Es wer- Mehrfach angesprochen wurde bereits das Reduk- den keine Stasimethoden angewendet. Das UBA hetzt tionsprogramm, das die Frau Ministerin morgen vor- keine Nachbarn gegeneinander auf und es findet keine stellen wird. Dabei handelt es sich um einen umfassen- Denunziation statt. den Katalog von Vorschlägen und Maßnahmen. Ich kann mir die Kritikpunkte, die vonseiten der Umweltverbände Frau Kollegin Connemann, Sie haben aus der Aus- dagegen vorgebracht werden, schon vorstellen. Diesen schreibung zitiert. Daher werde auch ich daraus zitieren, Verbänden sage ich: Liebe Freunde, es kommt nicht da- was das Betreten eines Ackers betrifft: Dies kann nur rauf an, die radikalsten Forderungen und die schärfsten nach Absprache mit dem Landwirt erfolgen. – Sie soll- Auflagen in die Welt zu setzen, sondern es geht darum, ten in Kürschners Volkshandbuch über den Deutschen für uns alle auf breiter Front konkrete Erfolge zu erwir- Bundestag eine zusätzliche Angabe zu Ihrer Person auf- ken. nehmen lassen: Märchenerzählerin. Für eine Partei, von der ich es gewohnt bin, dass sie in der Regel jeden Bahn- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. hof und jede Straßenecke per Videoüberwachung kon- trollieren will, ist es schon verwunderlich, dass Sie hier (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ solch eine Aufregung verursachen. DIE GRÜNEN)

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gitta Das Wort hat nun der Kollege Artur Auernhammer, Connemann [CDU/CSU]: In welcher Aus- CDU/CSU-Fraktion. schreibung soll das stehen, Herr Kollege Herzog?) (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12383

(A) Artur Auernhammer (CDU/CSU): sche Situation in unserem Land brauche ich mich hier (C) Verehrter Präsident! Meine sehr verehrten Damen und nicht näher zu äußern. Die Konsequenz ist, dass Ar- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich von beitsplätze – auch wenn Sie es nicht glauben: die Land- der Ausschreibung des Umweltbundesamtes gehört wirtschaft bietet Arbeitsplätze – ins Ausland verlagert habe, war ich praktizierender Landwirt. Zu diesem Zeit- werden. Der Verbraucher wird nicht danach gehen, wo- punkt war ich noch kein Mitglied dieses Hohen Hauses. her die Nahrungsmittel kommen; er entscheidet nach Als es um die so genannte verdeckte Feldbeobachtung dem Preis. Ob Landwirtschaft in Deutschland betrieben ging – ich finde den Begriff „Bauernspionage“ wirklich wird, entscheidet die Bundesregierung. Solche Maßnah- treffend –, habe ich mich gefragt: Bin ich eigentlich men führen dazu, dass Arbeitsplätze abgebaut und die Landwirt oder Mitglied einer kriminellen Vereinigung? Bauern zur Aufgabe ihrer Betriebe gezwungen werden. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) (Zuruf von der CDU/CSU: Das verstehen die doch nicht!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie sieht das in der Praxis aus? Im kommenden Frühjahr werde Ich frage mich: Wenn wir auf den Import von Nah- ich Pflanzenschutzmaßnahmen durchführen und meine rungsmitteln angewiesen sind, wo bleiben dann die Weizen- und Braugerstenbestände mit Pflanzenschutz- Kontrollmaßnahmen von Frau Künast und Herrn Trittin? mitteln behandeln, wie ich es seit Jahrzehnten mache. ( [CDU/CSU]: Dann ist alles er- (Zuruf von der SPD: Seit Jahrzehnten? Sie laubt!) sind doch noch gar nicht so alt!) Dann ist wahrscheinlich alles erlaubt, Hauptsache, der – Sie werden es nicht glauben, verehrte Kollegin, aber Preis stimmt. ich betreibe den Beruf des Landwirts seit meinem 15. Lebensjahr. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die deut- schen Bäuerinnen und Bauern gehen verantwortungsbe- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wusst mit der Natur um, auch beim Umgang mit Pflan- neten der FDP) zenschutzmitteln. Der Einsatz von Pflanzenschutz- Sehen Sie, das ist eben der Unterschied: Es reden hier mitteln ist in Deutschland nach den strengsten Vorschrif- viele mit, die von der Praxis keine Ahnung haben. Jetzt ten geregelt. Anwender, sprich Landwirte – auch ich –, redet einer, der aus der Praxis kommt. müssen ihre Sachkenntnis nachweisen. Pflanzenschutz- geräte werden regelmäßig einer TÜV-Untersuchung un- (Beifall bei der CDU/CSU) terzogen. Die Landwirtschaftsämter führen Kontrollen Wenn ich die Pflanzenschutzmaßnahmen dann durch- durch. Ich habe den Eindruck, in der Landwirtschaft (B) (D) führe, fahre ich mit meinem Schlepper über das Feld – in wird schon mehr kontrolliert und überwacht als produk- Zukunft wahrscheinlich mit noch teurerem Agrardiesel – tiv gearbeitet. Ich finde, wir sollten uns in Deutschland und muss befürchten, dass hinter jeder Hecke, hinter je- wieder etwas mehr auf das Produzieren zurückbesinnen dem Baum ein kleiner Trittin sitzt, der mich mit dem und nicht nur kontrollieren und überwachen. Feldstecher bei der Arbeit beobachtet und beim gerings- Vielen Dank, meine Damen und Herren. ten Verdacht eines Fehlverhaltens mit aller Härte des Ge- setzes durchgreift. „Verdeckte Feldbeobachtung“ nennen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie das (Gustav Herzog [SPD]: Das ist ein wissen- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: schaftlicher Ausdruck!) Herr Kollege Auernhammer, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gra- – wird diese Vorgehensweise in der Fachsprache ge- tuliere. Alle guten Wünsche für Ihre weitere Arbeit! nannt –, für mich ist und bleibt es Bauernspionage. (Beifall) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich schließe die Aussprache. Mit dieser Ausschreibung des Umweltbundesamtes dokumentiert die Bundesregierung, welches Vertrauen Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- sie in unsere Landwirtschaft hat: nämlich überhaupt schusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- keins. Mich als Landwirt und all meine Berufskollegen wirtschaft auf Drucksache 15/3545. Der Ausschuss emp- – auch die Berufskolleginnen und -kollegen aus Hessen, fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die die heute um Mitternacht zur Demonstration vor dem Ablehnung des Antrages der Fraktion der FDP auf Brandenburger Tor losgefahren sind – betrifft es sehr, Drucksache 15/2668 mit dem Titel „Projekt des Um- wie diese Bundesregierung mit uns umgeht, auch wenn weltbundesamtes zur so genannten verdeckten Feldbe- bereits von einer Rücknahme gesprochen worden ist. oachtung stoppen“. Wer stimmt für diese Beschlussemp- Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube; fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – denn der Gedanke sitzt tief und fest. Die Beschlussempfehlung ist mehrheitlich angenom- men. Wen wundert es, dass mehr als 50 000 Landwirte in unserem Land von heute auf morgen ihren Betrieb Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung schließen würden, wenn sie einen außerlandwirtschaftli- des Antrages der Fraktion der CDU/CSU auf chen Arbeitsplatz fänden? Über die arbeitsmarktpoliti- Drucksache 15/2969 mit dem Titel „Vertrauensvolle und 12384 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) konstruktive Zusammenarbeit zwischen Landwirtschaft Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundes- (C) und Umweltschutz stärken“. Wer stimmt für diese Be- kanzler: schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und hält sich der Stimme? – Auch diese Beschlussempfeh- Herren! Novalis verdanken wir eine Erkenntnis, die gut lung ist mit der Mehrheit der Koalition gegen die das Motto für das Gesetz sein könnte, das wir heute in Stimmen der Opposition angenommen. zweiter und dritter Lesung beraten: Ohne vollendetes Selbstverständnis wird man nie andere wahrhaft verste- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: hen lernen. a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Wir haben viele Jahre gebraucht, um nunmehr dieje- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes nige Fassung des Deutsche-Welle-Gesetzes zu erhalten, zur Änderung des Deutsche-Welle-Gesetzes die dem deutschen Auslandssender zu Beginn des dritten Jahrtausends wirklich entspricht. Eines der modernsten – Drucksache 15/3278 – Mediengesetze Europas und sicherlich das modernste in Deutschland liegt dem Bundestag heute zur Beschluss- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- fassung vor. Darüber bin ich sehr froh; denn für mich ist ses für Kultur und Medien (21. Ausschuss) die Novellierung des Deutsche-Welle-Gesetzes nicht ir- – Drucksache 15/4046 – gendein Vorhaben, sondern ein fundamentales Anliegen, das Auskunft gibt über das Selbstbewusstsein, mit dem Berichterstattung: wir in der Bundesrepublik Deutschland Rundfunk orga- Abgeordnete Monika Griefahn nisieren, und über die Leitideen, die wir damit befolgen. Bernd Neumann (Bremen) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans- Dr. Antje Vollmer Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]) Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Die Deutsche Welle soll die Stimme Deutschlands in b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- der Welt sein, eines modernen Deutschlands, eines richts des Ausschusses für Kultur und Medien Deutschlands, das wir als europäische Kulturnation (21. Ausschuss) ebenso verstehen wie als freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat. Ich bin den Fraktionen des Deutschen Bun- – zu dem Antrag der Abgeordneten Monika destages sehr dankbar, dass sie sich insbesondere auf Griefahn, Eckhardt Barthel (Berlin), Detlef diesen wichtigen Passus der Generalklausel des Geset- Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der zes verständigt haben; denn die Angebote der Deutschen (B) Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Welle, also Hörfunk, Fernsehen und Internet, sind kein (D) Dr. Antje Vollmer, Claudia Roth (Augsburg), Selbstzweck und die Deutsche Welle ist kein bloßer Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter Nachrichtensender. Sie soll die Kulturnation Deutsch- und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE land in all ihren Facetten abbilden. Das wollen wir mit GRÜNEN diesem Bundesgesetz bewirken. Dies ist ein Novum mit 50 Jahre Deutsche Welle – Zukunft und Mo- medien- und kulturpolitischer Bedeutung. dernisierung des deutschen Auslandsrund- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried funks Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – zu dem Antrag der Abgeordneten Bernd Lassen Sie mich auch sagen, dass es sehr gut zum Auf- Neumann (Bremen), Günter Nooke, Renate takt des Schiller-Jahres 2005 passt. Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Vor wenigen Wochen hat sich die Enquete-Kommis- der CDU/CSU sion „Kultur in Deutschland“ dafür ausgesprochen, Kul- 50 Jahre Deutsche Welle – Perspektiven für tur als Staatszielbestimmung ins Grundgesetz aufzu- die Zukunft nehmen. Dieses Bekenntnis zur Kultur erfordert ein Selbstbewusstwerden im Sinne von Novalis, auch im – Drucksachen 15/1214, 15/1208, 15/4046 – Sinne der deutschen Aufklärung. Wir müssen in unserem Land einen neuen Dialog darüber beginnen, was uns als Berichterstattung: Deutsche eigentlich ausmacht und wie weit der ideenge- Abgeordnete Monika Griefahn schichtliche Bogen reicht. Dieser Dialog muss jedoch Bernd Neumann (Bremen) die Geschichte unseres Landes genauso im Blick behal- Dr. Antje Vollmer ten wie unsere Gegenwart im vereinten Europa. Das Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Deutsche-Welle-Gesetz hat also für die geistige und de- mokratische Verfasstheit unseres Gemeinwesens eine Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die besondere Bedeutung, auch wenn der Sender in erster Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazu Linie im Ausland zu hören ist. höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Meine Damen und Herren, mit dem neuen Gesetz prä- Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der zisieren und befestigen wir die Autonomie des Senders Staatsministerin für Kultur und Medien, Frau Dr. Weiss, als staatsunabhängiger Sendeanstalt. Wir haben uns die- das Wort. ser Frage gemeinsam besonders zugewandt; denn das Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12385

Staatsministerin Dr. Christina Weiss (A) neue Gesetz ist Ausdruck unseres freiheitlichen Staates macht deutlich, für was Deutschland steht, für welche (C) und somit unseres kulturellen Selbstverständnisses. Kultur als Medienanstalt und von welchem Freiheits- und Humanitätsideal es sich leiten lässt, nämlich von Der Sender ist aber nicht auf sich selbst gestellt. Er den besten Geistestraditionen aus Europas Mitte, von wird verpflichtet, seine Vierjahresplanungen transparent Schiller, Goethe, Herder und Heine, wie es in der Be- zu machen und von Jahr zu Jahr zu präzisieren. Im Dia- gründung des Gesetzes heißt. log mit den beiden Verfassungsorganen Bundestag und Bundesregierung wird der Intendant gemeinsam mit dem In diesem Sinne danke ich dem Deutschen Bundestag Rundfunkrat und dem Verwaltungsrat die Zielgebiete, für die konstruktive Beratung dieses Gesetzes. Ich freue die Zielgruppen, die Verbreitungswege und die Ange- mich, dass es zum 1. Januar 2005 in Kraft treten kann botsformen darstellen und mit einer Kalkulation der Be- und dass es damit dem deutschen Auslandssender er- triebs- und Investitionskosten verbinden. In einem darf möglicht wird, in eine neue Phase des medien- und kul- es allerdings keine Kompromisse geben – da sind wir turpolitischen Interesses zu gelangen, in das Interesse uns sicherlich einig –: in der Unabhängigkeit und in der von uns allen. Freiheit des Journalismus, der dem Impetus der General- klausel vorangeht. Vielen Dank. Das Innovative an dem neuen Gesetz ist, dass die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Selbstverpflichtung des Senders vor der Öffentlichkeit DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der jedem Einblick in seine Relevanz und Arbeitsweise gibt. FDP) Vor allem ist die Öffentlichkeit in den Sendegebieten auf allen Kontinenten aufgefordert, sich an der Diskussion Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: der Aufgabenplanung des Gesetzes und dessen Effekti- Das Wort hat der Kollege Bernd Neumann, CDU/ vität zu beteiligen. CSU-Fraktion. Ich bin sicher, dass der Bundeszuschuss, der vom Par- lament im jährlichen Haushaltsgesetz zur Verfügung ge- Bernd Neumann (Bremen) (CDU/CSU): stellt wird, den globalen Anforderungen dieses moder- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieser nen und weltweit geschätzten Senders zunehmend Legislaturperiode findet nun zum dritten Mal eine De- präziser entsprechen wird. Die Probleme bei der Finan- batte über die Deutsche Welle statt. Heute wird zum zierung der Deutschen Welle sind bekannt. Für Bun- zweiten Mal über den von der Bundesregierung vorge- desregierung und Bundestag geht es einmal mehr darum, legten Gesetzentwurf debattiert. Ich hatte bereits in der die Kunst des Möglichen zu praktizieren und die Hori- Debatte zur ersten Lesung am 17. Juni unsere Position (B) zonte des Wünschbaren nicht aus dem Blick zu verlie- (D) dargestellt, eine insgesamt positive Bewertung der Ziel- ren. Im Haushaltsausschuss wurde ein Antrag der CDU/ setzung des Gesetzentwurfs vorgenommen und gleich- CSU, die Finanzausstattung um 5,1 Millionen Euro zu zeitig vier Änderungsvorschläge unterbreitet. Ich senken, zum Glück abgelehnt. möchte heute Wiederholungen weitgehend vermeiden (Monika Griefahn [SPD]: Das ist der Ham- und deshalb zum Abschluss eines langen Diskussions- mer! – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist ja prozesses – Sie haben diese Novellierung schon 1998 in nicht zu glauben!) Ihrer Regierungserklärung versprochen; sie ist jetzt nach sechs Jahren vollzogen – noch einige grundsätzliche Be- Ich bin allen Fraktionen im Deutschen Bundestag merkungen zum Stellenwert der Deutschen Welle gene- dankbar, dass sie noch einmal zum Ausdruck gebracht rell und zu ihrem Stellenwert in der rot-grünen Regie- haben, die seit 1999 praktizierte Bereitstellung der Bun- rungskoalition machen. desmittel zur Selbstbewirtschaftung fortsetzen zu wol- len. Dies entspricht der besonderen rundfunkrechtlichen Die Deutsche Welle ist die einzige wahrnehmbare Stellung des deutschen Auslandssenders. Zu danken mediale Stimme Deutschlands in allen Teilen der Welt. habe ich auch dem Intendanten der Deutschen Welle, der Die Einzigartigkeit dieser Rolle begründet gleichzeitig hier der Debatte folgt, und seinen Aufsichtsgremien, die Unverzichtbarkeit der Deutschen Welle, insbeson- dass es möglich war, in einer langen Periode der Abstim- dere wenn man bedenkt, dass Deutschland die zweit- mungen und der Kooperationen ein Gesetz zu entwi- größte Industrienation in der Welt und das bedeutendste ckeln, das im Wesentlichen im Konsens mit dem Sender Land in der EU ist. entstanden ist. Die Frage lautet: Wird die Politik der Bundesregie- Die Deutsche Welle ist eine Angelegenheit aller Frak- rung diesem Stellenwert der Deutschen Welle gerecht? tionen im Deutschen Bundestag und aller Bürgerinnen Sie, Frau Staatsministerin Weiss, wird nicht verwundern, und Bürger in unserem Land. Uns kann nicht gleichgül- dass wir diese Frage mit einem klaren Nein beantworten. tig sein, wie diese wichtige ARD-Sendeanstalt aus Bonn Ich komme gleich auf Ihre Einlassung zum Antrag der und aus Berlin berichtet. Der Sender bedarf der weiteren CDU/CSU zurück. Dass nun gerade Sie, die Sie diese politischen und auch finanziellen Unterstützung. Er be- Bundesregierung, wenn auch erst seit zwei Jahren, ver- darf der Ermutigung und der konstruktiven Begleitung treten, eine mögliche Reduzierung von Mitteln für die seines Sendeauftrages. Im Kosovo, in Afghanistan und Deutsche Welle in einer Größenordnung von 5,1 Millio- in anderen Brennpunkten der Welt ist die Deutsche nen Euro beklagen, andererseits aber den Etat der Welle eine wichtige Stimme der Freiheit. Der Sender Deutschen Welle seit 1999 um 17 Prozent – das sind 12386 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Bernd Neumann (Bremen) (A) 75 Mil-lionen Euro – ohne Aufgabenveränderung redu- Das haben Sie seit der Regierungsübernahme systema- (C) ziert haben, ist in der Tat ein Stück Scheinheiligkeit. tisch getan. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Monika Griefahn [SPD]: Sie haben doch ge- Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]) rade das Gegenteil gesagt, oder?) Jetzt komme ich zu dem Punkt, den Frau Weiss wahr- Wie sehen andere den Stellenwert, den die Deutsche scheinlich meinte. Er betrifft die Diskussion über ein Welle bei der rot-grünen Bundesregierung hat? Ich Projekt, welches im Jahr 2002 gestartet wurde. könnte mehrere Zitate bringen, beziehe mich aber auf ei- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ger- nen Artikel aus der „FAZ“ vom Juli dieses Jahres. Dort man TV!) heißt es: Ich meine den von der Bundesregierung mit bisher Ihre erste Regierungszeit verbrachten SPD und 15 Millionen Euro unterstützten zusätzlichen Auslands- Grüne damit, die Deutsche Welle schlechtzureden kanal German TV, den Deutsche Welle, ARD und ZDF … Das diente nicht zuletzt dem Kampf mit und ge- gemeinsam betreiben. Leider ist dies kein Erfolg gewor- gen einen der CDU angehörenden Intendanten, … den. Die Abonnentenzahlen kommen nicht annähernd in Nun, da dieses „Problem“ durch die Neubesetzung den Bereich, in dem sich – wie geplant – das Programm des Intendantenpostens „gelöst“ ist, geht die Politik finanziell selbst tragen kann. Deshalb ist es nicht vertret- mit der Deutschen Welle freundlicher um … Aber bar, weitere Haushaltsmittel zur Verfügung zu stellen, man könnte meinen, die Bundesregierung wisse vor allem wenn man weiß, dass es beendet wird. Das gilt Prioritäten zu setzen. In der Außenpolitik hat sie in insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass die Deut- den vergangenen … zwei Jahren so getan, als er- sche Welle schon jetzt unterfinanziert ist und ihre origi- finde sie die Rolle Deutschlands in der Welt gerade nären Aufgaben reduzieren muss. neu. Heute ist sie „wild entschlossen“, für Deutsch- land einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu Mir liegt der von Ihnen zitierte Antrag vor. Ich kann erreichen: Dieses Vorhaben unterstreiche die ge- verstehen, wenn Haushälter, die mit unseren Ausgaben wachsene internationale Bedeutung unseres Lan- kritisch umgehen müssen, für ein Projekt, das als ge- des. scheitert gilt, keine weiteren Mittel bewilligen wollen. Der Antrag, der im Haushaltsausschuss eingebracht wor- Sie merken da indirekt den Ton von Außenminister den ist, bezieht sich ausschließlich auf diesen Sachver- Fischer. halt. Es heißt weiter in diesem Artikel mit der Überschrift (Günter Nooke [CDU/CSU]: So ist es!) (B) „Deutschlands Stimme flüstert“: (D) Darüber hinaus wird in der Begründung des Antrags An- Die deutsche und die mit ihr verwobene europäi- erkennung für die Arbeit der Deutschen Welle ausge- sche Politik der übrigen Welt zu erklären ist jedoch drückt und festgestellt, dass die finanziellen Mittel für die vornehmste Aufgabe der Deutschen Welle. Das die Deutsche Welle in ihrem originären Auftrag nicht zu sieht die Bundesregierung genauso … Die Deut- beeinträchtigen sind. Das kann ich verstehen. Wer sonst, sche Welle solle also viel tun, heißt es immerzu. wenn nicht die Haushälter, soll die kritische Messlatte Doch mit welchen Mitteln soll sie das tun? anlegen, um misslungene Experimente zu erkennen? Wie die Entwicklung der Mittel ist, habe ich eben ge- (Beifall bei der CDU/CSU) sagt. Insofern ist in dem Punkt keine Kritik vorzubringen. (Monika Griefahn [SPD]: Sollen wir noch Ich möchte abschließend noch etwas zu dem Gesetz- mehr kürzen, oder was?) entwurf anmerken. Ich habe bereits ausgeführt, dass wir Deswegen auch die zusammenfassende Bewertung in die Zielsetzung des Gesetzentwurfs, der sich übrigens der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: angenehm von den vielfältigen Entwürfen abhebt, die in den vergangenen Jahren aus Ihrem Hause vorgelegt wur- Substanz wird in dem Sender jetzt zerstört, ist in den, positiv bewerten. Ich hatte in der letzten Debatte an- den vergangenen Jahren schon zerstört worden, vor gekündigt, dass wir zu vier Punkten Änderungsanträge allem bei den Kernkompetenzen eines Auslands- stellen werden. Dies ist inzwischen geschehen. Drei die- senders, den Fremdsprachenprogrammen. ser Anträge schienen nach den Debattenbeiträgen insbe- (Monika Griefahn [SPD]: Und Sie setzen noch sondere der Kollegin Griefahn konsensfähig zu sein, zu- einen drauf, oder was? – Hans-Joachim mal sie sich auf den Referentenentwurf aus dem BKM Hacker [SPD]: Und Ihr Antrag?) bezogen, also die eigentliche Meinung der Staatsminis- terin Weiss darstellten. – Hören Sie ganz ruhig zu! – Die Kollegen von SPD und Grünen – insofern war Die Bundesregierung scheint dies nicht begriffen zu dies die Konsequenz Ihres Debattenbeitrags – verschick- haben. Man kann nicht einerseits von wachsender ten vor der betreffenden Sitzung des Ausschusses für Bedeutung und Verantwortung reden, andererseits Kultur und Medien Änderungsanträge zur Unterzeich- aber Instrumente deutscher Außenpolitik systema- nung an CDU, CSU und FDP. Entscheidende Inhalte wa- tisch schwächen. ren die Anträge, die ich in der Tendenz auch angekün- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12387

Bernd Neumann (Bremen) (A) digt hatte. Darin ging es um folgende Punkte: erstens eingehen. Aber zunächst stellt sich die Frage, was Sie ei- (C) Verankerung des Prinzips der Selbstbewirtschaftung gentlich wollen. Was wollen wir als Kultur- und Medien- für die Deutsche Welle, also flexible Wirtschaftsführung politiker? Wenn wir selbst schon vorzeitig kneifen, dann und überjährige Verfügbarkeit der Mittel, und zweitens brauchen wir uns gar nicht zu wundern, dass sich die finanzielle Planungssicherheit über mehrere Jahre. Das Position der Haushälter in den Fraktionen durchsetzt. ist in Anbetracht der Erfahrungen aus zurückliegenden Legislaturperioden fürwahr ein wichtiger Punkt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Unmittelbar vor der Sitzung zogen die rot-grünen Ab- Ich fahre mit meiner Rede fort, die genau die von Ih- geordneten ihre eigenen Anträge zurück; das ist schon nen gestellte Frage beantwortet, Herr Barthel. Natürlich bemerkenswert. Aber als wir dann seitens der CDU/CSU weiß ich – deswegen haben Sie erst einmal abgelehnt –, genau die gleichen Anträge einbrachten, stimmten sie dass Ihnen in diesem Fall die Haushälter im Nacken sa- sogar dagegen. ßen. Ich sage offen – hören Sie genau zu! –, dass es auch in meiner Fraktion Kollegen gibt, die permanent der Ver- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist unglaub- suchung ausgesetzt sind, sich mit Ihren Haushältern zu lich!) verbünden. Das war peinlich und wirft ein bezeichnendes Bild auf (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU Ihre Courage und Standfestigkeit beim Einsatz für die sowie bei der SPD) Deutsche Welle. Aber warum versuchen wir, die wir Mitglieder des Kul- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) turausschusses sind und von der Sache mehr verstehen, nicht, den Oberbuchhaltern eine ebenso geschlossene Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Front entgegenzusetzen und gleichzeitig unsere Fraktio- Herr Kollege Neumann, darf der Kollege Barthel eine nen von unseren Positionen zu überzeugen? Zwischenfrage stellen? (Beifall des Abg. Hans-Joachim Otto [Frank- furt] [FDP] – Monika Griefahn [SPD]: Zu Ih- Bernd Neumann (Bremen) (CDU/CSU): rer Zeit gab es keine Selbstbewirtschaftung, Ja, mit dem üblichen Zusatz, dass sie nicht auf meine Herr Neumann!) Redezeit angerechnet wird. Wir dürfen die Argumente, die Sie in die Knie ge- zwungen und die Ihnen sämtlichen Mut genommen ha- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ben, nicht akzeptieren. Das gängige Argument der Haus- (B) Dieser Zusatz ist ebenso üblich wie unnötig. hälter ist, mit solchen Regelungen werde ein Präjudiz für (D) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE alle anderen Zuwendungsempfänger im öffentlichen Be- GRÜNEN]: Das steht in der Geschäftsord- reich geschaffen. Dieses Argument ist nicht tragfähig nung!) und lässt auf Unkenntnis der Aufgabe und der Funktion einer Rundfunkanstalt schließen. Bitte schön, Herr Kollege Barthel. (Monika Griefahn [SPD]: Vor 99 gab es keine Selbstbewirtschaftung, Herr Neumann!) Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD): Herr Kollege Neumann, Sie haben vorhin die Haus- Eine Rundfunkanstalt wie die Deutsche Welle ist nicht hälter dafür gelobt, dass sie aus ihrer Sicht Streichungen mit einer „normalen“ Behörde oder einer anderen öffent- vorgenommen haben, die wir als Kultur- und Medienpo- lichen Einrichtung gleichzusetzen, wie zum Beispiel litiker nicht wollten. Stimmen Sie mir zu, dass in der dem Bundesamt für Karthographie und Geodäsie oder Frage der Selbstbewirtschaftung die Punkte, über die dem Ausgleichsamt. Eine Rundfunkanstalt arbeitet unter wir diskutieren und in denen es in der Tat einen Konsens ganz anderen, journalistischen Kriterien, die Meinungs- zwischen den Kultur- und Medienpolitikern gab, von freiheit und Staatsferne als oberstes Gebot beinhalten. den Haushaltspolitikern – und zwar nicht nur vonseiten Verfassungsrechtlich ist entschieden, dass diese natür- der Regierungskoalition, sondern auch von Ihrer Frak- lich auch für die Deutsche Welle gelten. Den öffentlich- tion – teilweise sozusagen mit Schaum vor dem Mund rechtlichen Rundfunkanstalten ist Planungssicherheit in abgelehnt wurden? Stimmen Sie mir zu, dass Sie ein fal- Form einer Bestands- und Entwicklungsgarantie sogar sches Spiel spielen, indem Sie feststellen, dass wir dies vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich zuerkannt abgelehnt haben, obwohl Ihre Haushälter, wie Sie wis- worden. sen, dasselbe getan haben? Insofern ist es keine Angele- genheit zwischen den Regierungsfraktionen und der Op- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) position, sondern eine Entscheidung der jeweiligen Wenn man die Maßstäbe, die für ARD und ZDF gel- Ausschussmitglieder. ten – einschließlich ihrer finanziellen Entwicklung in (Beifall bei der SPD) den letzten Jahren –, mit denen für die Deutsche Welle vergleicht – Frau Griefahn, hierfür hat die rot-grüne Koalition Verantwortung –, Bernd Neumann (Bremen) (CDU/CSU): Herr Kollege Barthel, Sie kommen den nächsten Sät- (Monika Griefahn [SPD]: Die nehmen wir zen meines Redebeitrages zuvor; denn darauf wollte ich auch wahr! Mit Freude!) 12388 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Bernd Neumann (Bremen) (A) kommt man leider zu dem Ergebnis, dass der deutsche Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): (C) Auslandsfunk von Rot-Grün in den letzten Jahren mehr Liebe Frau Präsidentin, ich bedaure es zutiefst, dass als stiefmütterlich behandelt wurde. Von der rot-grünen die Abgeordnete Frau Dr. Vollmer nicht sprechen wird; Mehrheit wurden, wie gesagt, Ihre Anträge abgelehnt, denn ich streite mich mit Ihnen – das haben wir heute weil Sie sozusagen kein Stehvermögen in der eigenen schon getan – in der Sache so gerne. Ich möchte auf fol- Fraktion hatten. Positiv bewerte ich, dass wir, die Abge- genden Punkt eingehen – das muss ich jetzt leider tun, ordneten, in dem Bericht des Ausschusses, der auch ohne Ihre Rede gehört zu haben –: Ich erinnere mich Gegenstand der Debatte ist, interfraktionell unsere Über- sehr wohl daran, dass wir alle, die wir die Deutsche zeugung zum Ausdruck gebracht haben – das ist schon Welle stärken wollen, in zahlreichen Podiumsdiskussio- etwas –, dass die Selbstbewirtschaftung auch in Zu- nen unter anderem bei der Friedrich-Ebert-Stiftung be- kunft unverzichtbar ist und dass die Deutsche Welle Pla- tont haben, wie wichtig Selbstbewirtschaftung und fi- nungssicherheit braucht. nanzielle Planungssicherheit für die Deutsche Welle (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sind. Wir waren uns über alle Fraktionsgrenzen hinweg einig, Ich gehe davon aus, dass das auch alle anderen Abgeord- neten des Parlaments nicht nur zur Kenntnis nehmen, (Monika Griefahn [SPD]: Wir haben sie ja sondern auch befürworten. auch! Seit 1999! Nicht zu Ihrer Zeit!) Letzter Satz: Nach Abwägung aller Argumente pro dass das ein Kernelement der Reform sein sollte. und kontra haben wir uns entschlossen, dem Regierungs- entwurf zuzustimmen. Das soll weniger eine Geste an Ferner waren wir uns darüber einig, liebe Frau die Regierungskoalition sein, die sich in diesen Fragen Griefahn – das hat Kollege Neumann gerade völlig zu in der Vergangenheit weiß Gott nicht mit Ruhm bekle- Recht dargestellt –, dass wir dies auch im Gesetz fest- ckert hat, als an die Deutsche Welle und ihre Mitarbei- schreiben wollen. Deswegen gab es gemeinsame An- ter, – träge aller vier Fraktionen. Sie sind von diesen Vorstel- lungen abgerückt, obwohl es nach wie vor mutmaßlich – hierbei spreche ich auch die Frau Vorsitzende als Ab- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: geordnete an – in der Sache bei den Kulturpolitikern bis Herr Kollege, letzter Satz! zum heutigen Tage Übereinstimmung gibt. Das wäre ein wirksamer Beitrag gewesen, um die Deutsche Welle zu Bernd Neumann (Bremen) (CDU/CSU): stärken. (B) – die trotz widriger Umstände, mit denen sie in der (Beifall bei der FDP) (D) Vergangenheit zu kämpfen hatten, ihre Arbeit vorbild- lich geleistet haben und für die es im Prinzip eine Unter- Darum geht es. Es nützt nichts, wenn wir große deut- stützung ist, – sche Denker und Dichter zitieren und einen riesigen An- spruch formulieren. Die nüchternen Zahlen und der Um- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: gang mit der Deutschen Welle sprechen eine andere Sprache. Im Jahr 1999 gab es noch einen Etat von umge- Herr Kollege, ein Satz, bitte! rechnet 325 Millionen Euro für die Deutsche Welle. Für das Haushaltsjahr 2005 sind es nur noch 261 Millionen Bernd Neumann (Bremen) (CDU/CSU): Euro. In einer Zeit, in der ARD und ZDF rund – wenn dieses Haus mit breiter Mehrheit ein sie be- 8 Milliarden Euro Einnahmen erhalten und diese fast treffendes Gesetz beschließt. verdoppelt haben, ist der Etat der Deutschen Welle von 325 auf 261 Millionen Euro zurückgegangen. An diesen Vielen Dank. Zahlen sollte man es messen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Weil die Deutsche Welle so hat bluten müssen – sie neten der FDP) hat auch unter dem Privatkrieg von Herrn Naumann ge- gen den damaligen Intendanten Weirich gelitten –, haben Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wir es für notwendig angesehen, dass jetzt mit diesem Danke schön. – Ich frage Sie, ob Sie damit einver- Gesetz ein Beitrag zur Stärkung des deutschen Aus- standen sind, dass wir die Rede der Abgeordneten Antje landsrundfunks geleistet wird. Deswegen kann ich mich Vollmer zu Protokoll nehmen.1) Kollegen Neumann nur anschließen. Ich bedaure es zu- tiefst, dass die Kulturpolitiker trotz besseren Wissens (Heiterkeit – Bernd Neumann [Bremen] [CDU/ keine Auseinandersetzung mit den Haushaltspolitikern CSU]: Nein, wir wollen Sie hören!) gewagt haben und nicht gesagt haben: In diesem einen Punkt ist es notwendig, dass man die finanzielle Unab- Ich denke, Sie sind damit einverstanden. hängigkeit und Flexibilität des Senders steigert. Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hans-Joachim Otto. Monika Griefahn [SPD]: Sie ist da! Das ist einfach falsch! – Eckhardt Barthel [Berlin] 1) Anlage 2 [SPD]: So viel Falschheit auf einem Haufen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12389

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) – Lieber Herr Kollege Barthel, Sie wollen doch nicht die Monika Griefahn (SPD): (C) Zustimmung der FDP-Fraktion zu diesem Gesetzentwurf Liebe Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolle- riskieren. Ich muss Ihnen sagen: Ich persönlich habe ginnen und Kollegen! Ich muss mich erstens über einige mich wirklich sehr schwer getan, diesem Gesetzentwurf der Beiträge, die wir hier gehört haben, ein bisschen die Zustimmung zu erteilen, weil das, was von uns ge- wundern. meinsam als Kern der Reform angesehen wurde, heraus- gestrichen wurde. Ich will ganz deutlich in Anwesenheit (Günter Nooke [CDU/CSU]: Na, na, na!) des Intendanten sagen – er möge das an seine Mitarbeite- Wider besseres Wissen behaupten Sie, wir hätten die rinnen und Mitarbeiter weitergeben –: Wir stimmen ei- Selbstbewirtschaftung nicht hinbekommen. nem amputierten Gesetzentwurf zu. Wir tun es, weil es uns um die wichtige Funktion der Deutschen Welle geht (Günter Nooke [CDU/CSU]: Das stimmt und weil ein mit allen Stimmen des Hauses angenomme- doch! – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: ner Gesetzentwurf einen Beitrag dazu liefern soll, die Im Gesetz nicht!) Stimme Deutschlands in der Welt und die Deutsche Wir haben sie eingeführt. Seit 1999 wird sie de facto Welle zu stärken. durchgeführt. Einen letzten Satz möchte ich noch zu German TV (Bernd Neumann [Bremen] [CDU/CSU]: Wa- anfügen. Es wäre von der Natur der Sache sehr viel bes- rum haben Sie denn einen Antrag gestellt?) ser und überzeugender, wenn es nicht dieses Nebenein- ander eines gebührenfinanzierten Inlandrundfunks und Sie bleibt erhalten. Wir haben im Ausschuss zum Aus- eines steuerfinanzierten Auslandrundfunks geben würde. druck gebracht, dass das auch unser gemeinsamer Das Nebeneinander zeigt sich darin, dass das, was für Wunsch ist. Der Ehrlichkeit halber sollte man hier doch viel Geld und hohe Gebühren für den Inlandsrundfunk einmal zugeben, dass das bei uns eingeführt wurde. produziert wird, aus urheberrechtlichen und sonstigen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Gründen für den Auslandsrundfunk praktisch nicht ver- DIE GRÜNEN – Bernd Neumann [Bremen] wendet werden kann. [CDU/CSU]: Warum haben Sie denn einen Die Idee von German TV war gut und wir haben sie Antrag gestellt?) am Anfang getragen. Da dies jetzt nachhaltig gescheitert Zweiter Punkt. Wenn 5,1 Millionen Euro gestrichen ist – die Anzahl der Abonnenten ist desaströs –, sehen werden sollen, lieber Herr Neumann, dann müssen Sie, auch wir keine andere Möglichkeit, als dieses Experi- wenn Sie Ihrer Systematik folgen, gleichzeitig den An- ment einzustellen. trag stellen, diese 5,1 Millionen Euro zusätzlich für die (B) Folgende Perspektive nenne ich: Wir müssen uns da- Deutsche Welle bereitzustellen. (D) rüber Gedanken machen, wie die aufwendig produzier- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das ten Sendungen für ARD und ZDF in höherem Maße als sehe ich so ähnlich!) bisher genutzt werden können, um sie im Programm von Deutsche Welle TV zeigen zu können. Wir haben bisher Den Antrag habe ich nicht gesehen. Was Sie sagen, ist geglaubt, dass wir das nur über das Projekt German TV also ein bisschen scheinheilig, wenn gleichzeitig ein An- machen können. Das ist jetzt gescheitert. Auch wir sind trag auf Kürzung gestellt wird. der Auffassung, dass wir das Projekt beenden sollten. (Beifall bei der SPD – Zurufe) Das heißt, ein neuer Reformschritt ist notwendig. Ich – Ich bin ja freundlich, lieber Eckhardt. appelliere an Sie, die Kolleginnen und Kollegen von den Fraktionen der SPD und der Grünen, dass wir uns jetzt Dritter Punkt. Wenn wir uns über German TV und die Gedanken darüber machen, wie wir der Deutschen Welle Kooperation mit ZDF und ARD unterhalten, dann kann helfen und die Programme von ARD und ZDF leichter ich nur sagen: Gott sei Dank haben wir durch das Projekt und in höherem Umfang als bisher im regulären Pro- German TV jetzt endlich die Kooperation mit ARD gramm von Deutsche Welle TV zeigen können. und ZDF. (Günter Nooke [CDU/CSU]: Jawohl!) (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ach du meine Güte!) Das wäre, glaube ich, ein guter Beitrag. Wie ist denn die Situation? Die Deutsche Welle hat vor- Wir sind uns im Ziel einig. Wir wollen die Deutsche her für Produktionen von ARD und ZDF, weil diese ge- Welle stärken. Aber dieses Gesetz können wir wirklich bührenfinanziert sind, Lizenzgebühren zahlen müssen nur mit sehr großen Bauchschmerzen, mit sehr großen – das ist zum Teil auch jetzt noch so –, und das nicht zu Bedenken mittragen. Wir tun dies allein zugunsten der knapp, nämlich über 600 Euro die Minute. Deutschen Welle. (Günter Nooke [CDU/CSU]: So ist es! 613!) Vielen Dank. Wie ist es in der Kooperation mit German TV? Weil (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ARD und ZDF mit dabei sind und man das gemeinsam macht, zahlt man nur 2,20 Euro die Minute. Da kann Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: man doch nicht einfach sagen, das sei nichts. Das ist Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Monika Griefahn. doch ein tolles Ergebnis. 12390 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Monika Griefahn (A) (Beifall bei der SPD – Hans-Joachim Otto beit. Da muss man nämlich wirklich gedeihlich mitei- (C) [Frankfurt] [FDP]: German TV ist geschei- nander umgehen. tert!) (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sie Natürlich ist die Frage: Wie bekommt man es hin, das wollen also verlängern?) eine auf das andere zu übertragen? Jedes Geschäft – das – Nein, die CDU/CSU will es vorzeitig beenden. ist doch ganz klar – ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Natürlich haben ARD und ZDF ein Interesse daran ge- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Meine habt, auch im Ausland präsent zu sein. Das sind sie mit Frage ist, ob Sie verlängern wollen! – Gegen- German TV. Da muss man natürlich schauen, wie die In- ruf des Abg. Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: teressen von beiden zu verwirklichen sind, und da kann Das wird doch jetzt geprüft!) man nicht einfach sagen: Wir schaffen das jetzt ab; es wird sich schon ergeben, dass wir von ARD und ZDF – Wir müssen das doch jetzt auswerten, wie wir es uns auch weiterhin Programme für 2,20 Euro die Minute vorgenommen haben. Das machen wir zu dem Zeit- punkt, zu dem wir es uns vorgenommen haben, nämlich kaufen können. – So einfach, denke ich, wird das nicht sein. vor Ablauf der Frist. Wir sollten noch einmal auf das Gesetz eingehen. Wir (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wir haben wirklich ein tolles Gesetz hinbekommen, finde haben German TV doch gemeinsam zeitlich li- ich. Es ist ein modernes Gesetz. Es ist ein großer Wurf. mitiert! – Bernd Neumann [Bremen] [CDU/ Es hat sich gelohnt, dass wir lange darüber diskutiert CSU]: Sie haben 20 Millionen in den Sand ge- haben. Die Arbeit des Intendanten und aller rund setzt!) 1 500 Mitarbeiter aus der ganzen Welt trägt dazu bei, Wir müssen damit natürlich sehr sorgfältig umgehen. dass zu verschiedenen Zeiten in rund 30 verschiedenen Sprachen Informationen aus Deutschland und aus Eur- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Wir sind uns opa, eben aus einer europäischen Kulturnation, in die darüber einig, was wir wollen!) Welt gebracht werden. Mit dem neuen Gesetz kommen Wir müssen sehen, dass wir da nicht irgendwelches Por- wir darüber hinaus – wie in der auswärtigen Kulturpoli- zellan zerschlagen. Ich bin wirklich dafür, dass wir es tik – viel stärker zu dem Modell der Zweibahnstraße, in- versuchen. dem wir in ihm zum Beispiel die Telemedien verankert haben. Durch sie wird es möglich, tatsächlich auch in ei- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Aber mit Druck nen Dialog mit den Menschen zu treten. versuchen!) (B) Die Deutsche Welle hat es darüber hinaus bewerkstel- (D) Zu sagen: „Jetzt schaffen wir das ab und es wird schon ligt, in Afghanistan einen Fernsehsender aufzubauen und so weitergehen“ – so einfach wird das nicht gehen. Wir im Kosovo Familien zusammenzuführen. Das heißt, müssen ein bisschen schauen, wie sich die Zusammenar- durch sie wird wirklich Informationsfreiheit in vielen beit in Zukunft gestaltet. Ländern garantiert, also ein Stück Demokratie und Men- schenrechte durch Informationsmöglichkeiten gesichert, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: die in diesen Ländern ansonsten nicht existieren. Das ist Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto? das Positive, was wir gemeinsam feststellen können. Da- rum werden wir – dafür bin ich sehr dankbar – das Ge- setz hier gemeinsam verabschieden. Es leistet einen Monika Griefahn (SPD): wichtigen Beitrag dazu, dass sich Deutschland in verän- Natürlich, gern. derter Form in der Welt präsentiert. Ich bin sehr glück- lich darüber, dass nicht wie im alten Gesetz nur die Prä- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): senz Deutschlands in der Welt als Aufgabe definiert ist, Liebe Frau Kollegin Griefahn, wollen Sie nicht zur sondern dass wir jetzt auch in den Dialog mit den Kenntnis nehmen, dass wir alle gemeinsam, alle Fraktio- Menschen treten können. Auch dass die seit 1999 prakti- nen dieses Hauses, German TV nur zeitlich begrenzt zu- zierte Mittelzuweisung zur Selbstbewirtschaftung wei- gelassen haben und dass die Frist jetzt ausläuft? Wie terhin durchgeführt wird, wird der rundfunkrechtlichen können Sie uns da sagen, wir wollten dieses Projekt zer- Stellung der Deutschen Welle gerecht und schafft Pla- schlagen? Das Projekt ist von vornherein nur zeitlich be- nungssicherheit. Das war ja unser gemeinsames Anlie- grenzt gewesen. Die Frist läuft jetzt aus. Es wäre also ein gen. Wir setzen dieses am besten um, wenn wir das Beschluss notwendig, um das Projekt zu verlängern. Gesamtpaket, also das Gesetz zusammen mit der Be- Diesen Beschluss wollen wir nicht fassen. schlussempfehlung und dem Bericht, verabschieden; denn das, was alle angemahnt haben, ist darin enthalten. Monika Griefahn (SPD): Für wichtig halte ich auch, dass es dank des neuen Ich habe den Antrag der CDU/CSU so verstanden, Gesetzes möglich wird, dass wir auch die Ansichten der dass man es sofort, auf der Stelle, beenden will. Dann anderen erfahren und gleichzeitig unsere Sichtweise im wäre es nicht möglich, einen Übergang zu schaffen, um Dialog vermitteln können. So stelle ich mir modernen das hinzubekommen, was alle wollen, nämlich dass die Auslandsrundfunk vor. Hierzu trägt insbesondere die Kooperation mit ZDF und ARD tatsächlich weiterläuft, Verankerung der Telemedien bei. Dieses Vorgehen ist und zwar in einer anständigen Form der Zusammenar- auch wegweisend für die öffentlich-rechtlichen Medien, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12391

Monika Griefahn (A) die ja sehr darum ringen müssen, um über Telemedien Ich freue mich sehr auf die Zusammenarbeit mit der (C) mit ihrem Publikum in Kontakt zu treten. Indem wir das Deutschen Welle, auch in den Beteiligungsverfahren. Ich in diesem Gesetz realisieren, geben wir der Rundfunk- finde das sehr spannend. Ich glaube, dass wir die Diskus- anstalt ein zeitgemäßes, der Lebenswirklichkeit nahe sion in der Zukunft fortsetzen müssen, gerade bezüglich kommendes Image; alles andere wäre nur ein verstaubtes der Zukunft von German TV und der Frage, wie wir den Image, mit dem wir junge Leute nicht erreichen. Gerade Auftritt von Deutsche Welle TV in diesem Sinne opti- mit ihnen und auch mit Multiplikatoren in den Ländern mieren können. Ich denke, das finanzielle Engagement müssen wir in Kontakt treten. Hierfür ist der Auftritt in hat sich gelohnt, wenn die angesprochene Verflechtung Telemedien wie dem Internet sehr wichtig. Das ist näm- dabei herauskommen sollte. Wenn wir es hinbekommen, lich die Informationsquelle und das Dialogmedium vie- dass die Deutsche Welle aufgrund der Selbstbewirtschaf- ler junger Leute, und zwar in allen Ländern der Welt. tung und der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten – diese Alle Kolleginnen und Kollegen, die sich in der Welt Entwicklung ist in den letzten fünf Jahren eingeleitet umgeschaut haben, konnten das sehen. Selbst im Iran worden; unter Ihrer Regierung war das noch nicht mög- strömen junge Frauen in Internetcafés, um sich dort zu lich – flexibel und adäquat auf Krisen reagieren kann, informieren. Hier eröffnen sich uns also ganz neue Per- wird sich das Ganze positiv entwickeln. spektiven. Für die krisenpräventive Arbeit der Deutschen Welle Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ist nicht nur der Hörfunk von Bedeutung, sondern auch Frau Kollegin! das Internet, denn darüber ist der direkte Austausch möglich. So können Informationen aus einer Region für Monika Griefahn (SPD): eine Region, aber verbunden mit deutscher oder europäi- Ich freue mich auf die Zusammenarbeit und darüber, scher Sichtweise, vermittelt werden. Auch das ist, wie dass wir im Parlament eine so gute und konstruktive De- ich finde, eine ganz wichtige Sache, weil das die starre batte hatten, dass wir das Gesetz heute gemeinsam ver- Berichterstattung der nationalen Sender in vielen Län- abschieden und auch in Zukunft gemeinsam für die dern aufbricht. Deutsche Welle streiten werden. Das ist sehr positiv. Von entscheidender Bedeutung für die zukünftige Ar- Danke schön. beit der Welle – dieser Punkt betrifft insbesondere uns (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hier – ist die engere Zusammenarbeit mit den Verfas- DIE GRÜNEN) sungsorganen. Das Beteiligungsverfahren wird neu ge- ordnet. Bisher war es so, dass die Deutsche Welle ihre Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Aufgabenplanung dem Deutschen Bundestag zukommen (B) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Rose. (D) ließ. Damit war der Prozess auch schon beendet. Jetzt wird dieser Prozess transparenter: Wir erhalten einen (Beifall bei der CDU/CSU) Vorschlag bezüglich Zielgruppen, Aufgabenplanung, Sendegebiete und Vertriebswege und unterbreiten dazu Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): nach Konsultationen im Bundestag und mit der Bundes- Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und regierung unsere Anregungen. So kann ein Diskussions- Kollegen! Mir bleibt zum Schluss nur eine Redezeit von prozess in der Öffentlichkeit stattfinden. Ich halte das für fünf Minuten, die ich auch ohne Manuskript bewältigen zielführend und wünschte mir, dass woanders ähnlich kann. Ich möchte vor allen Dingen noch einmal betonen, verfahren würde. Ich bin sehr froh, dass wir so etwas In- dass wir wirklich darum bemüht waren, eine gemein- novatives mit der Deutschen Welle praktizieren. same Verabschiedung des Gesetzentwurfes zustande zu Die Deutsche Welle soll die notwendigen Mittel be- bringen, und zwar nicht um der Bundesregierung bei ih- kommen. Das Parlament wird ihre Arbeit weiter wohl- ren zum Teil schwierigen Versuchen zu helfen, sondern wollend begleiten und noch stärker in die politische Dis- weil wir Respekt vor der Arbeit der Deutschen Welle kussion mit dem Sender einsteigen. Es steht außer Frage, und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben und dass wir einen leistungsfähigen Auslandsrundfunk brau- weil uns ihre Aufgabe wichtig und richtig erscheint. chen. Dessen Aufgaben werden nicht weniger, sondern, Deshalb wollten wir die Deutsche Welle stärken. wenn wir die Krisenregionen in den Blick nehmen, eher (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mehr. Da sind die Vermittlung von Demokratie und Menschenrechten und die praktische Umsetzung gerade Ich erinnere daran, dass es vor gut 50 Jahren – wir ha- in medialer Hinsicht ganz besonders wichtig. Bei den ben ja im vergangenen Jahr den 50. Geburtstag der Deut- Wahlen in Afghanistan zum Beispiel war es wichtig, schen Welle gefeiert – eine CDU/CSU-geführte Bundes- dass überhaupt über die Wahlen und die Kandidaten in- regierung war, die sich um die Auslandskulturarbeit formiert wurde. Dazu braucht man die Medien. bemüht und diese in die Tat umgesetzt hat. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: CDU/ Mit der Umstellung auf die digitale Kurzwelle wird CSU und FDP, lieber Herr Dr. Rose!) ein ganz neues Feld eröffnet. Der Empfang wird nicht immer unterbrochen und man kann vielleicht sogar das – Die FDP nehme ich noch hinzu. Ich habe gesagt: Autoradio benutzen, um sich zu informieren. Auch das CDU/CSU-geführte Bundesregierung, lieber Herr Kol- ist sicherlich ein wichtiger Punkt, der in Zukunft eine lege von der FDP. – Wenn man ein Kind in die Welt Rolle spielt. setzt, dann sollte man sich anschließend nicht von ihm 12392 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Dr. Klaus Rose (A) distanzieren. Wir haben die Deutsche Welle über die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (C) Jahrzehnte auf ihrem Weg begleitet. Wir haben mit Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wohl Schmerzen festgestellt, dass die rot-grüne Bundesregie- wahr!) rung in ihrer ersten Legislaturperiode der Deutschen Weil von der Frau Kollegin Griefahn stolz erwähnt Welle und vor allen Dingen ihrem Intendanten gegen- wurde, dass die Selbstbewirtschaftung bzw. die flexible über nicht immer vornehm aufgetreten ist. Budgetierung von Ihnen eingeführt wurde, will ich sa- Weil Herr Bettermann da ist, möchte ich ihm sagen: gen: Ja, es ist richtig, dass sie 1999, als wir nicht mehr Sie haben Glück; da wir uns schon sehr lange kennen, regiert haben, eingeführt worden ist. Aber das Instru- haben Sie die Unterstützung der Opposition. Geben Sie ment der flexiblen Budgetierung war Jahre vorher schon unseren Dank an Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in verschiedenen anderen Ministerien von uns eingeführt weiter! Wir möchten der Deutschen Welle helfen, damit worden. Ich kann das aus eigener Erfahrung von dem sie eine gute Zukunft hat. Ministerium sagen, in dem ich gearbeitet habe. Das ist also nichts Neues. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen wir diesen Streit aus zurückliegenden Zeiten Was im Gesetzentwurf steht, führt allerdings – das hat und schauen wir lieber in die Zukunft! Wir brauchen die die Debatte gezeigt – doch zu gewissen streitigen Über- Deutsche Welle. Es gibt eine große Konkurrenz in der legungen, auch wenn wir alle zustimmen werden. Vor Welt. Wir können mit neuen Instrumenten und mit vielen dem Hintergrund der Beratungen des Auswärtigen Aus- Menschen, die uns positiv gewogen sind, etwas Gutes schusses möchte ich sagen: Wir haben zwar am Schluss für unser Land erreichen. insgesamt zugestimmt, aber uns auch über die Kürzun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen informiert, sowohl bei den Stellen wie auch beim Geld; die 17 Prozent sind heute schon einmal erwähnt Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: worden, aber es sind auch zahlreiche Stellen eingespart worden. Wir haben uns über die neue Zielrichtung der Vielen Dank. Ich schließe damit die Aussprache. Deutschen Welle, vor allen Dingen die notwendige Kon- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- zentration auf gewisse Regionen der Welt, unterhalten. desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- Wir haben uns natürlich auch über die Veränderung in rung des Deutsche-Welle-Gesetzes. Der Ausschuss für der modernen Medienwelt unterhalten, wo es nicht nur Kultur und Medien empfiehlt unter Buchstabe a seiner um Radio und Fernsehen geht, sondern auch das Internet Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4046, den Ge- eingesetzt wird. Dabei spielt auch die sprachliche Um- setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich (B) (D) setzung deutscher Sendungen eine Rolle. Wir haben bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- Wert darauf gelegt – das möchte ich noch einmal beto- schussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- nen, weil es sonst vielleicht nicht beachtet wird –, dass chen. – Stimmt jemand dagegen? – Gibt es Enthaltun- in diesem Gesetzentwurf zum ersten Mal der Begriff der gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung Kulturnation auftaucht. einstimmig angenommen worden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dritte Beratung Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]) und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, Das ist gegen große Widerstände erfolgt. Wir sind der wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Gibt Meinung, dass wir Deutschen nicht schlechter dastehen es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- sollten als die Briten oder die Franzosen, die sich auf für entwurf ist damit in dritter Lesung mit den Stimmen des sie charakteristische Weise in der Welt darstellen. Das gesamten Hauses angenommen worden. sollten auch wir tun. Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfeh- lung des Ausschusses für Kultur und Medien auf Druck- Ich könnte als ehemaliger langjähriger Haushälter na- sache 15/4046 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter türlich Verständnis für Haushaltskollegen zeigen, die Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag Geld für ein Projekt streichen wollen, wenn sie entde- der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü- cken, dass es gescheitert ist. Wenn es kein neues Projekt nen auf Drucksache 15/1214 mit dem Titel „50 Jahre gibt, dann muss man dieses Geld zunächst einmal weg- Deutsche Welle – Zukunft und Modernisierung des deut- nehmen. Ich könnte sarkastisch hinzufügen: Man kann schen Auslandsrundfunks“ für erledigt zu erklären. Wer nicht ohne weiteres gutes Geld einer schlechten Sache stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim- nachwerfen. men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen worden. Im Übrigen trifft das auf die Inhalte der Bundespolitik insgesamt zu. Die Deutsche Welle soll die Bundesrepu- Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss, den An- blik Deutschland im Ausland gut verkaufen. Das tut sie trag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1208 mit ihren Mitteln. Aber wenn die Politik in Deutschland mit dem Titel „50 Jahre Deutsche Welle – Perspektiven nicht stimmt, dann ist es natürlich sehr schwierig, ein für die Zukunft“ ebenfalls für erledigt zu erklären. Wer positives Deutschlandbild in der Welt zu zeichnen. Auch stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gibt es Ge- das muss einmal gesagt werden. genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12393

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) lung ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses ange- die Aufhebung des Embargos an Fortschritten in diesen (C) nommen worden. Bereichen und bei der friedlichen Konfliktbewältigung zu messen, der richtige Weg. Dies gilt ebenso für die Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie den Fortentwicklung des EU-Verhaltenskodex, der durchaus Zusatzpunkt 3 auf: vergleichbar restriktive Maßstäbe für Waffenexporte 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- setzt. richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Allerdings darf bei dieser gesamten Diskussion nicht Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, Sabine übersehen werden, dass die Aufhebung des Embargos Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer Abgeord- ohnehin nur in der Folge eines einstimmigen Beschlus- neter und der Fraktion der FDP ses aller EU-Mitgliedstaaten erfolgen kann. Dies wird derzeit in und zwischen den Ländern erörtert, wobei das Gegen eine Aufhebung des EU-Waffen- Ergebnis noch offen ist. Daher hat es wenig Sinn, diesen embargos gegenüber der Volksrepublik China Prozess zu sehr auf einer politisch-spekulativen Ebene auszuloten. – Drucksachen 15/2169, 15/4047 – Berichterstattung: In diesem Zusammenhang will ich jedoch deutlich Abgeordneter Dr. Michael Fuchs unterstreichen: Die eventuelle Aufhebung des Waffen- embargos würde in der Bundesrepublik keineswegs dazu ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD führen, dass automatisch jede Lieferung von Rüstungs- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN gütern oder Waffen in die Volksrepublik China genehmi- gungsfähig wäre. Dieses zum Teil auch öffentliche Miss- EU-Waffenembargo gegenüber der Volks- verständnis will ich hiermit eindeutig ausräumen. Alle republik China Bestimmungen des EU-Verhaltenskodex – auch in ei- – Drucksache 15/4035 – ner weiterentwickelten Qualität – und die politischen Grundsätze der Bundesregierung für die Genehmigung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die derartiger Exporte gelten selbstverständlich, ob mit oder Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre ohne Embargo. Daher gibt es auch keinen in Antrags- keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. form auszudrückenden Zweifel daran, dass sich die Bun- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst desregierung etwa nicht an diese Grundsätze und die gel- der Abgeordnete Christian Müller. tenden gesetzlichen Bestimmungen halten würde. Übrigens sind die politischen Grundsätze jederzeit (B) Christian Müller (Zittau) (SPD): nachlesbar. Mit ihnen wird das von uns allen als ver- (D) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nünftig erkannte Ziel verfolgt, den Frieden zu sichern, Ich will vorausschicken: Die Ereignisse von Peking vom Konflikten möglichst im Ansatz vorzubeugen und zu 4. Juni 1989, die letztendlich zu dem bekannten Em- verhindern, dass aus Deutschland stammende Waffen bargo führten, waren natürlich auch für unsere ostdeut- etwa im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzun- sche Demokratiebewegung besonders im Herbst 1989 gen angewendet werden. ziemlich bedeutsam. Aber nicht nur deshalb war die Ver- hängung eines Waffenembargos in der Folge des EU- Ich weise also nochmals darauf hin: Die Ausfuhr von Ratsbeschlusses vom 26./27. Juni 1989 eine notwendige Waffen und Rüstungsgütern unterliegt nach den gelten- Reaktion. Es gab in dieser Zeit vor 15 Jahren Tage, an den gesetzlichen Ausfuhrbestimmungen des Kriegswaf- denen zu befürchten war, interessierte Kreise könnten fenkontrollgesetzes und des Außenwirtschaftsgesetzes auch in der im Aufbruch befindlichen DDR eine Art generell einem umfassenden Genehmigungsvorbehalt. chinesische Lösung bevorzugen. Aber das ist eine an- Dabei wird besonders hinsichtlich der Lieferung von dere Geschichte. Rüstungsgütern an Drittländer, also an Länder jenseits von EU und NATO und an gleichgestellte Länder wie 15 Jahre danach ist es sicher angemessen, dass die Australien, Japan, Neuseeland oder die Schweiz, eine Maßnahme gegenüber China in der Europäischen Union restriktive Genehmigungspolitik verfolgt. Also würden einer Überprüfung unterzogen wird; denn China befin- auch im irgendwann eintretenden Fall der Aufhebung det sich seit einiger Zeit in einem tief greifenden Prozess des Embargos eventuelle Exportgenehmigungsanträge der wirtschaftlichen Umgestaltung und bestimmt auch in deutscher Rüstungsunternehmen unter strenger Beach- einem gesellschaftlichen Veränderungsprozess, bei dem tung dieser gesetzlichen und politischen Bestimmungen ebenfalls Anzeichen für politische Reformen sichtbar und Richtlinien geprüft und entschieden. sind. Inwiefern dies zu einer durchgreifend verbesserten Menschenrechtssituation führt oder bereits geführt hat, Ausfuhrvorhaben, deren Relevanz in Menschen- muss beurteilt und an den in Europa gültigen Kriterien rechtsfragen bedeutsam wäre oder die das militärische gemessen werden, die unter anderem im EU-Verhaltens- Kräfteverhältnis zwischen der Volksrepublik China und kodex festgehalten werden. Die Situation ethnischer Taiwan berührten, würden folglich besonders sorgfältig Minderheiten oder die politischen Verhaltensmuster im geprüft werden. Gegebenenfalls wäre dies auf der Ebene Umgang mit Taiwan sind darin eingeschlossen. des Bundessicherheitsrates zu entscheiden. Daher ist unsere Aufforderung an die Bundesregie- Über den vorliegenden Antrag der FDP-Fraktion ha- rung, nachlesbar im vorliegenden Antrag der Koalition, ben wir bereits im Ausschuss entschieden; wir haben ihn 12394 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Christian Müller (Zittau) (A) abgelehnt. Wir haben heute einen eigenen Antrag einge- Um dieses Unglück in letzter Minute abzuwenden, (C) bracht und werden diesen im Zuge der weiteren parla- haben nun die Koalitionsfraktionen gemeinsam einen mentarischen Behandlung durchbringen. Antrag zum selben Thema eingebracht. Die Überzeu- gungskraft dieses Antrags verfehlt jedoch möglicher- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. weise ihre Wirkung auf die Bundesregierung; jedenfalls (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des haben wir daran erhebliche Zweifel. Der Bundeskanzler BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ließ den rot-grünen Antrag nämlich über seinen Regie- rungssprecher Anda bereits kommentieren: Einerseits Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: soll der Antrag in die Meinungsbildung der Regierung Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Peter Uhl. einfließen. Andererseits wird der Bundeskanzler jedoch bei seiner einmal geäußerten Meinung bleiben. Basta! Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Hört! Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen Hört! – Uta Zapf [SPD]: „Basta“ stammt von und Kollegen! Im Jahre 1989 haben sich die Staaten der Ihnen!) heutigen Europäischen Union auf ein striktes Waffenem- bargo gegenüber China verständigt. Jetzt scheint ausge- – Ich gebe zu, das Wort „basta“ stammt nicht von Anda, rechnet die rot-grüne Bundesregierung entschlossen zu sondern von Schröder und wurde von mir in diesen Zu- sein, dieses Waffenembargo auf europäischer Ebene an- sammenhang gestellt. zutasten. Bundeskanzler Schröder hat im Dezember Das Verfallsdatum dieses Antrags ist vorhersehbar. Es vergangenen Jahres bei seinem Staatsbesuch in China wird mit dem 5. Dezember anzusetzen sein, denn dann sogar offen erklärt, er trete für eine Aufhebung dieses wird Schröder erneut nach China reisen und wiederum Embargos ein. Dieses Embargo sei ein „Relikt des Kal- die Aufhebung des Waffenembargos – in welcher Form ten Krieges“ und heute „nicht mehr zu rechtfertigen“. auch immer – fordern. Dann wird er sich möglicher- China habe sich die Aufhebung „verdient“. weise an diesen Antrag nicht mehr erinnern können. Dies ist wirklich verwunderlich, zumal es zuvor kei- (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Wir waren da- nerlei erkennbare Abstimmung mit den Partnern der Eu- mals bei Kohl mutiger, kann ich nur sagen!) ropäischen Union gegeben hat. An dieser Stelle erinnere ich nur an die schrillen Angriffe, die hochmoralische Po- Doch lassen Sie mich kurz auf die Sache eingehen. In litiker von Rot-Grün auf Bundeskanzler Kohl gerichtet der Tat ist China eine Weltmacht, die auch in der Welt- haben, als dieser 1995 einen Staatsbesuch in China ab- wirtschaft eine immer bedeutendere Rolle einnimmt und hielt. Zum Protokoll gehörte damals auch ein Besuch bei (B) für Deutschland ein wichtiger Handelspartner ist. Wir (D) einem Infanterieregiment. Angelika Beer warf ihm da- sollten natürlich die Wirtschafts- und Wissenschaftsko- raufhin unter anderem vor, „zur Imagepflege einer Un- operation mit China fortsetzen. terdrückungsarmee“ beigetragen zu haben. Auch kann ich Ihnen in Erinnerung rufen, wie sich der Oppositions- Wir sollten auch anerkennen, welche Entwicklung abgeordnete Joschka Fischer 1996 zu diesem Thema ge- China durchgemacht hat. Auch sollten wir als Europäer äußert hat: mit einer gewissen Offenheit feststellen, dass es im Rah- men der universellen Menschenrechte verschiedene Wir werden eine friedliche Entwicklung Chinas Wege zur Demokratie gibt und dass auch China seinen nicht bekommen, wenn wir vor allen Dingen auf eigenen Weg dorthin finden muss. das Geschäft setzen. … Deswegen müssen wir mit den Chinesen unnachgiebig über Menschenrechte, Wir sollten uns aber davor hüten, mit ausgestrecktem über tibetische Kultur und über den Schutz von Zeigefinger die chinesische Politik sozusagen auf dem Minderheiten in China sprechen. Wenn das Auf- Marktplatz an den Pranger zu stellen. Wir sollten also träge kostet, dann kostet es eben Aufträge. ganz klar sagen, dass wir in der Europäischen Union ei- nen Verhaltenskodex zum Umgang mit Waffenexporten So sprach 1996 der stramme Menschenrechtler Joschka beschlossen haben, und hinzufügen, dass wir neben die- Fischer. Zugegeben, es ist acht Jahre her. Wer will schon sem europäischen Kodex auch eine nationale Regelung gern an Reden von vor acht Jahren erinnert werden, vor haben, die zu dem gleichen Ergebnis führt. Bei diesen allem dann, wenn er solche Wandlungen durchgemacht beiden Entscheidungsparametern wollen wir bleiben. hat, wie es bei Joschka Fischer der Fall ist? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Uta Aus diesem Grunde passt es überhaupt nicht in die Zapf [SPD]: Es gibt da auch andere!) jetzige Zeit – in der die Taiwan-Frage wieder auf gefähr- liche Weise eskaliert –, durch Waffenexporte einen deut- Meine Damen und Herren, nach einem zunächst pein- schen Beitrag zu leisten. Ich halte dies für falsch. lichen Schweigen im rot-grünen Lager in Bezug auf die Auftritte von Bundeskanzler Schröder im Dezember hat (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. man sich jetzt wohl formiert. Einzelne Politiker von SPD Dr. Werner Hoyer [FDP]) und Grünen drohten sogar, dem FDP-Antrag zuzustim- Ich meine, wir sollten bei unserer Linie bleiben. Wir men. sollten auch unter den europäischen Partnern keine fal- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das haben sie im schen Signale aussenden und keinen falschen Wettlauf Auswärtigen Ausschuss auch getan!) bei Rüstungsexporten nach China auslösen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12395

Dr. Hans-Peter Uhl (A) Wir meinen, dass der Antrag von SPD und Grünen Menschenrechtsstandards. Das muss man einmal aner- (C) durch seine bewusst weichen und schwammigen Formu- kennend aussprechen. lierungen eher irritiert. Deswegen wollen wir diesen An- Allerdings kann man sich mit der Erfüllung der sozia- trag ablehnen. Wir müssen uns vor falschen Signalen hü- len Menschenrechte nicht dafür entschuldigen, dass es ten: gegenüber dem Bundeskanzler, gegenüber den immer noch massive Defizite bei den politischen Men- europäischen Freunden, aber auch gegenüber China. schenrechten gibt. Auch in unserem Sicherheitsinteresse Als Helmut Kohl 1995 aus China zurückkam, sagte sagen wir: Wir haben großes Interesse daran, dass China, – Sie erinnern sich an ihn –, das wirtschaftlich immer stärker wachsen und in der glo- balen Politik eine immer größere Rolle spielen wird, (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Er ist selten auch immer demokratischer wird. Nur dann kann es für hier!) uns langfristig ein Partner sein, mit dem gemeinsam wir bei dem Truppenbesuch in China sei Kohl erneut zum nicht nur Handel treiben, sondern auch versuchen, glo- „Meister der falschen Symbole“ geworden. Ich meine, bale und regionale Probleme zu lösen. wenn jemand zum „Meister der falschen Symbole“ ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN worden ist, dann ist es der amtierende Bundeskanzler und bei der CDU/CSU sowie des Abg. mit seiner Äußerung zu Rüstungsexporten. Diese lehnen Dr. Werner Hoyer [FDP]) wir ab. In diesem Sinne ist es nicht besserwisserisch, sondern (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. einfach der Ausdruck unseres eigenen Interesses, dass Dr. Werner Hoyer [FDP]) wir einen intensiven Dialog über die Menschenrechtsfra- gen mit China begonnen haben. Wir begrüßen und Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: möchten daran erinnern, dass es die rot-grüne Bundesre- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludger Volmer. gierung war, die den Rechtsstaatsdialog mit China auf- genommen hat, einen Dialog, der viele positive Ergeb- (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Jetzt sind nisse gebracht hat. wir aber gespannt, was für einen Slalom der Kollege Volmer fährt!) (Beifall der Abg. Uta Zapf [SPD])

Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der An- Kollegen Rose? lass für das EU-Waffenembargo war das Massaker auf (B) dem Platz des Himmlischen Friedens. (D) Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Tiananmen!) Immer. Das ist lange Zeit her, aber damit nicht vorbei. Man kann keinen Schlussstrich ziehen. Wir sind auch nicht der Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Meinung, dass Argumente, wie man sie manchmal aus Herr Kollege, da Sie gerade von der – von uns sehr China hört, nämlich dass die Angelegenheit verjährt sei, gewünschten – demokratischen Entwicklung in China akzeptabel sind. gesprochen haben: Bezeichnen auch Sie es als unver- ständlich bzw. als unter Demokraten sogar nicht akzep- Dennoch muss es erlaubt sein, hin und wieder zu tabel, dass an der Südküste des chinesischen Festlandes überprüfen, ob dieses Embargo noch Sinn macht. Die 600 Raketen gegen Taiwan – zweifellos ein friedlicher heutige Führung in China zumindest trägt keine unmit- Nachbar, denn Taiwan greift nicht an – gerichtet sind? telbare Verantwortung mehr für das Massaker vor Im Sinne der von uns vertretenen Ein-China-Politik 15 Jahren. Aber sie trägt Verantwortung dafür, dass müssen wir konstatieren, dass diese Raketen sogar gegen China ab sofort und in aller Zukunft eine demokratische ein eigenes Land gerichtet sind. Wie stellen Sie sich Entwicklung nimmt, die die Menschenrechte berück- dazu, dass man dort eine solche Drohkulisse aufbaut? sichtigt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Lieber Herr Rose, genau darum geht es in der Schlusspassage meiner Rede. Ich möchte Sie bitten, sich Wenn man die chinesische Führung mit dieser Frage noch etwas zu gedulden. Ich bin mir sicher, wir sind uns der Menschenrechte konfrontiert, hält sie sofort umfang- in der Frage völlig einig. reiche Referate darüber, dass sie es geschafft hat, die so- zialen Menschenrechte zu erfüllen, und zwar vielleicht (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Ich würde sogar besser als so manches andere Land. Dieses Argument stehen bleiben, dann können Sie diese Passage kann man nicht ohne weiteres von der Hand weisen. ohne Anrechnung auf die Redezeit halten!) Man muss anerkennen, dass China es geschafft hat, ein – Gut, nehmen wir die Taiwan-Frage vorweg. Sechstel der Weltbevölkerung aus dem absoluten Elend, aus der absoluten Armut herauszuführen und dem größ- Wir haben in unserem Antrag deutlich gemacht: Be- ten Teil dieses Riesenvolkes zumindest das Existenzmi- vor es zu einer Aufhebung aller Restriktionen und zu ei- nimum zu sichern. Das ist eine Erfüllung von sozialen ner völligen Normalisierung der Beziehungen kommen 12396 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Dr. Ludger Volmer (A) kann, müssen mehrere Kriterien erfüllt sein, und zwar ment zu bieten hat, beeinträchtigt werden oder (C) auch auf europäischer Ebene, nicht nur auf der Ebene verschwinden sollten, dann wäre das ein enormer Scha- der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Ein we- den. Davor wollen wir China – das eine China, das wir sentliches Kriterium ist die Taiwan-Frage. als Einheitsstaat akzeptieren – bewahren. Erinnern wir uns zurück an die Zeit vor dem 11. Sep- Deshalb lautet unser Plädoyer, dass die Überprüfung, tember 2001: Im ersten Jahr der Amtszeit von Präsident ob das Waffenembargo noch Bestand haben kann, auf Bush – ich will das jetzt aber nicht Präsident Bush zu- europäischer Ebene vorgenommen werden muss. Wir schreiben – hatten wir hier öfters Debatten über sich stei- hoffen, dass dieser Überprüfungsprozess in einen für alle gernde transpazifische Dispute. Wir alle hatten Angst, EU-Mitgliedstaaten verbindlichen Kodex einmündet, dass diese Dispute zu einem massiven Konflikt eskalie- was Waffenexporte im Allgemeinen und Waffenexporte ren könnten. Im Zentrum der Dispute stand die Taiwan nach China im Speziellen angeht. Die zu prüfenden Frage. Von daher ist es auch in unserem Sicherheitsinte- Punkte, die in unserem Antrag enthalten sind, wollen wir resse, dass keine Waffen an China geliefert werden, ers- auf der Ebene der Europäischen Union als Essentials un- tens damit der transpazifische Konflikt nicht eskaliert serer Politik deutlich machen. und zweitens damit wir uns nicht durch europäische Waffenlieferungen in eine Gegend, die möglicherweise Für uns Grüne und, wie ich denke, auch für viele an- wieder spannungsgeladen sein könnte, in einen Interes- dere ist völlig klar: Wenn man die vier Kriterien, über sengegensatz zu unserem Partner und NATO-Freund die wir gerade diskutiert haben, zugrunde legt, dann USA begeben. Das ist für uns ein ganz wesentlicher kommen Waffenexporte an China im Moment nicht in- Punkt, den wir auch in unserem Antrag so formuliert ha- frage. ben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der sowie des Abg. Dr. Friedbert Pflüger [CDU/ CDU/CSU – Dr. Friedbert Pflüger [CDU/ CSU] – Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Für diese CSU]: Das muss jetzt nur noch beim Bundes- Aussage bin ich gerne stehen geblieben!) kanzler durchgesetzt werden!) – Ich glaube, in diesem Punkt sind wir uns auch einig. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich hoffe, wir sind uns auch in den anderen Punkten Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Hoyer. einig. Kollege Müller hat schon darauf hingewiesen, dass wir jetzt natürlich nicht einen riesigen Katalog von Einzelforderungen, die wir an die chinesische Politik Dr. Werner Hoyer (FDP): (B) (D) stellen, zur Voraussetzung für eine Normalisierung ma- Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kollegin- chen können. Es gibt viele Punkte, die uns nach wie vor nen und Kollegen! Ich finde, heute ist ein guter Tag für Sorgen machen: die extensive Anwendung der Todes- das Parlament. Gestern hat das Europäische Parlament strafe, die Lagerhaft, die Administrativhaft, das Fehlen deutlich gemacht, dass es nicht die Absicht hat, als Tiger von Parteiendemokratie. Was wir aber von der chinesi- zu starten und als Bettvorleger zu landen. Heute zeigt schen Seite fordern können, ist, dass endlich der VN- der Deutsche Bundestag Flagge. Das ist für manche si- Pakt für die politischen und bürgerlichen Rechte ge- cherlich schmerzhaft; das anerkenne ich. Aber es ist zeichnet und ratifiziert wird. Vor allen Dingen dies steht deutlich geworden, dass der Bundeskanzler für seine aus. Darüber werden wir mit der chinesischen Seite noch Waffenexportpolitik und für seine Menschenrechtspoli- reden wollen. tik gegenüber China im Deutschen Bundestag keine Mehrheit hat. Ich finde, das ist ein großer Fortschritt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Genauso werden wir mit der chinesischen Seite noch Das zeigt auch sein Parlamentsverständnis!) darüber reden wollen, dass die weit reichenden Verfas- sungsänderungen, die vorgenommen worden sind und Ich weiß, dass es für Abgeordnete der Koalition sehr hei- die wir sehr begrüßen, auch in Verwaltungshandeln kel ist, in einer so wichtigen Frage eine andere Position umgesetzt werden. Das betrifft etwa die Einführung de- als die Regierung einzunehmen. Davor habe ich Res- mokratischer Strukturen und des Privateigentums. pekt. Der dritte wesentliche Prüfungspunkt ist der Umgang Dieser Vorgang hat einen Vorlauf, an den zu erinnern mit den ethnischen und regionalen Minderheiten in ist. Der Bundeskanzler hatte seine Ankündigung vor gut China selber. Die Stichworte kennen Sie: Tibet, einem Jahr in China gemacht, und zwar zum großen Er- Xinjiang. Es muss darauf hingewirkt werden, dass diese staunen und zur Verärgerung vieler Kolleginnen und Ethnien, dass diese Völker ein Großmaß an substanziel- Kollegen hier im Hause wie auch von Regierungschefs ler Autonomie bekommen. Modernisierungsstrategien, in der Europäischen Union. Das Europäische Parlament die von Peking aus dort vorangetrieben werden, mögen, hat dann noch im Dezember 2003 klar Position bezogen was die Infrastruktur usw. angeht, ihren Sinn machen; und die Forderung des Bundeskanzlers abgelehnt. Die wenn diese Strategien aber dazu führen, dass diese tradi- FDP-Fraktion hat im Dezember 2003 einen Antrag in tionellen Kulturen, die mit zum Beeindruckendsten ge- den Deutschen Bundestag eingebracht, in dem sie sich hören, was die Menschheit auf diesem Globus im Mo- aufgrund der Punkte, die hier schon genannt worden Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12397

Dr. Werner Hoyer (A) sind, gegen eine Aufhebung des Waffenembargos gegen- Das war damals ziemlich daneben. Aber heute ist das, (C) über China ausgesprochen hat. wie ich glaube, sehr passend. Dieser Antrag ist dann in den mitberatenden Aus- Danke schön. schüssen behandelt worden. Er hat im Ausschuss für (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Menschenrechte und im Auswärtigen Ausschuss – mit der CDU/CSU) den Stimmen einer Reihe von Kolleginnen und Kollegen der Koalition – eine Mehrheit bekommen. Dass er dann im Wirtschaftsausschuss, der federführend war, nicht Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: aufgerufen und dass seine Behandlung immer wieder Das Wort hat jetzt die Kollegin Uta Zapf. verschleppt worden ist, hatte natürlich gute Gründe. Deswegen haben wir die Möglichkeiten der Geschäfts- Uta Zapf (SPD): ordnung bemühen müssen, um diese Debatte heute hier Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! stattfinden zu lassen. Ich freue mich, dass die Abgeord- neten der Koalition daraufhin einen Ausweg gefunden Ich muss erst einmal Herrn Hoyer an zwei Stellen be- haben. richtigen: Erstens. Sie haben gesagt, Bundeskanzler Schröder habe für seine Menschenrechtspolitik keine Natürlich bleiben wir bei unserem Antrag; denn er ist Mehrheit bei der Koalition. klarer und präziser. (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Im ganzen Hause!) (Ute Kumpf [SPD]: Wir sehen das an- Das ist schlicht und ergreifend nicht richtig. Hier ist ders! – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ein- schon mehrfach zitiert worden, dass der Menschen- deutig!) rechtsdialog zum Rechtsdialog hinzugekommen ist, also Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung über den hören Sie mit dieser Argumentation auf! Dass es andere Antrag der Koalition enthalten. Aber als im Plenum die Konflikte in der Frage der genauen, differenzierten Ein- Blamage für die Koalition drohte, haben die Kollegen schätzung des EU-Waffenembargos gegenüber China aus den Koalitionsfraktionen ihre Linie, die sie in Men- geben mag, hat sich ja erwiesen. Nur glaube ich, dass schenrechtsfragen immer geradezu wie eine Monstranz man nicht so dramatisieren und von einem Konflikt spre- vor sich hergetragen haben, beibehalten. Das anerkenne chen sollte: Wir führen einen ernst zu nehmenden Dis- ich. kurs über Fragen, bei denen wir ein großes Maß an Ei- nigkeit haben. Ich werde nachher noch auf ein paar Meine Damen und Herren, im Antrag der Koalitions- Punkte kommen, bei denen Sie sich doppelbödig verhal- (B) fraktionen werden, ebenso wie auch im Antrag der FDP, ten haben. (D) die Kriterien genannt, von deren Erfüllung man die Außerdem ist Ihr Antrag nicht besser und das werde Aufhebung des Embargos abhängig machen müsste. Das ich jetzt gleich am Anfang begründen. gilt übrigens für eine europäische Betrachtung genauso wie für eine nationale Bewertung dessen, was der Bun- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Sie haben ihm doch deskanzler im Europäischen Rat zu tun gedenkt. Es geht im Auswärtigen Ausschuss zugestimmt!) also um die Menschenrechtslage und um die Minderhei- ten in China, um die Lage in und um Tibet und um die – Ich habe ihm im Ausschuss zugestimmt. Frage der Konfliktentschärfung an der Straße von Tai- (Gudrun Kopp [FDP]: Aha!) wan. Ich denke, wir sind uns einig, dass gegenwärtig keines dieser Kriterien erfüllt ist und dass eine Aufhe- – Das ist doch ein offenes Geheimnis, ich bitte Sie! bung des Waffenembargos gegenüber China daher nicht Trotzdem ist Ihr Antrag nicht besser. Unser Antrag ist infrage kommt. differenzierter; die Kriterien sind sehr viel konkreter auf- geführt. Das äußert sich nicht etwa in vorangestellter Ly- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) rik, sondern findet seinen Niederschlag auch hinten bei Ich schließe mit einem Zitat. Kollege Uhl hat ja be- den Forderungen. reits ein hinreißendes Zitat genannt. In derselben De- Was ich an Ihrem Antrag bemerkenswert finde, ist, batte ist gesagt worden: dass Sie die Bundesregierung auffordern, Sie müssen sich vorwerfen lassen, daß die Bundes- das EU-Waffenembargo gegenüber der Volksrepu- regierung beim Besuch des Bundeskanzlers in blik China als verbindlich zu betrachten, keine Al- China, im Umgang mit der chinesischen Führung leingänge vorzunehmen und nur im Einvernehmen den Eindruck erweckt hat, daß sie zwar an den Prin- mit den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen zipien der Menschenrechte festhält, daß sie diese Union in dieser Frage zu handeln. aber im Zusammenhang mit der Geschäftsentwick- lung zwischen der Bundesrepublik Deutschland (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das Einvernehmen und China weit in den Hintergrund rückt. ist doch nicht da!) So äußerte sich der jetzige Außenminister Joseph Dieser Satz ist eigentlich eine Frechheit, lieber Herr Fischer in der diesbezüglichen Debatte im Jahr 1996. Hoyer, und das müssten Sie wissen. Schließlich waren Sie einmal an verantwortlicher Stelle im Ministerium tä- (Jörg Tauss [SPD]: Damals hat es gestimmt!) tig und wissen sehr wohl, dass EU-Ratsbeschlüsse für 12398 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Uta Zapf (A) alle so lange bindend sind, bis sie wieder einstimmig (Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) aufgehoben werden. Antworten dieses Inhalts sind in NEN]: Genau!) Fragestunden hier im Plenum mindestens fünfmal wie- Wir schulden es uns – insofern nehme ich auch Ihr Lob derholt worden. Sie haben es nicht akzeptieren wollen. an, Herr Hoyer –, dass wir so etwas im Bundestag zwi- Jetzt scheint darüber möglicherweise Konsens zu herr- schen den Fraktionen, aber auch im Dialog strittig, öf- schen; wir haben es ja oft genug gesagt. fentlich und kontrovers diskutieren, wenn wir unter- Natürlich ist es richtig, dass China eine Großmacht ist schiedliche oder abgestufte Meinungen haben. und ein sich stürmisch entwickelndes Land, gerade in (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne wirtschaftlicher Hinsicht, ein Land, das sich öffnet und Kastner) Reformen einleitet, ein Land, um das sich nicht nur Bun- deskanzler Schröder – aus gutem Grund – bemüht, son- Ich möchte noch etwas zur EU sagen. Auch innerhalb dern um das sich auch frühere Bundeskanzler bemüht der EU gibt es sehr unterschiedliche Anschauungen über haben. Wir führen seit 1998 einen Rechtsstaatsdialog, den Umfang und die Empfängerstaaten von Rüstungs- der jetzt um einen Menschenrechtsdialog erweitert exporten. Herr Hoyer, das wissen Sie ganz gut, weil Sie worden ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist das jahrelang mitgemacht haben. Sie wissen auch, dass doch kein Pipifax, sondern das ist ein großer Schritt nach dieser Beschluss nur einstimmig aufgehoben werden vorne, wenn man die Bemühungen anderer – in der Ver- kann und dass er an die restriktiven Kriterien unserer gangenheit – um Menschenrechte betrachtet. Rüstungsexportlinien sowie an die Kriterien des Verhal- tenskodex der EU, bei dem die Menschenrechte und (Beifall des Abg. Dr. Ludger Volmer [BÜND- auch die Spannungsgebiete eine große Rolle spielen, ge- NIS 90/DIE GRÜNEN]) bunden ist. – Ja, da kann man ruhig einmal klatschen, eine solche Es ist richtig, dass wir darüber diskutieren. Umso Ermunterung ist ja immer ganz nett. wichtiger ist es aber, dass wir die Forderungen, die auch in unserem Antrag mit aufgeführt sind, nämlich bürgerli- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten che und politische Rechte gemäß dem UN-Übereinkom- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) men, die Einhaltung der Menschenrechte und die fried- liche Lösung der Taiwan-Frage, verfolgen und China ist ein politischer Faktor in der internationalen unterstützen. Auch müssen wir die zivilen Entwicklun- Politik und China öffnet sich auch hier. Ich finde, auch gen, die es in China erfreulicherweise gibt, unterstützen, das muss einmal bemerkt werden: China ist nicht mehr wo immer wir das können. nur das Land mit der Großen Mauer, sondern China (B) nimmt beispielsweise zum ersten Mal an internationalen Ich glaube, das wäre eine vernünftige Politik. Ich be- (D) Missionen der UNO teil und beteiligt sich an der Gestal- greife, dass die Opposition so etwas natürlich aufgreift. tung im Rahmen des UNO-Sicherheitsrates. Wir bemü- Das hätten wir genauso getan. Lassen Sie uns aber lieber hen uns um dieses Land, um es in seiner demokratischen rational darüber reden. Entwicklung zu unterstützen. Wir bemühen uns um die- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ses Land natürlich auch, weil es ein wichtiger Wirt- DIE GRÜNEN) schaftspartner ist. Wenn der Kanzler das nicht täte, dann würde er diese Kritik verdienen. Aber einen potenziell guten Wirtschaftspartner wird man ja wohl pflegen dür- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: fen! Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Michael Fuchs, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich sage noch etwas dazu, was ich mit „Doppelbödig- keit“ meine: Herr Ramsauer von der CSU Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und ( [CDU/CSU]: Guter Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Präsi- Mann!) dentin, ich erlaube mir, gleich aus dem noch unkorri- gierten Protokoll des Bundespresseamtes von gestern an- hat in der Aktuellen Stunde zum Verkauf der Hanauer lässlich der Pressekonferenz von Herrn Anda zu zitieren. Plutoniumanlage nach China am 10. Dezember 2003 ge- Herr Kollege Müller und vor allem Herr Kollege sagt, dass China „weltpolitisch und strategisch“ ein Volmer, als ich mir das gestern ein wenig angeschaut wichtiger Partner sei, „eines unserer wichtigen Partner- habe, habe ich wirklich nicht mehr verstanden, worüber länder“ – in dieser Doppelung! Anschließend hat er uns wir heute diskutieren. gescholten, dass wir die Lieferung der Hanauer Anlage nicht einhellig begrüßt haben. Sie haben sich in diesem Auf eine Frage von Herrn Middel – wer auch immer Zusammenhang nur auf Klimaschutz und Entwicklungs- das ist –: politik bezogen und bejammert, dass wir diese Techno- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Er schreibt für die logie nicht transferieren wollen, obwohl sie doch so „Welt“! Ein guter Mann!) wichtig sei. Den Aspekt der Proliferation genau dieses Handels haben Sie mit keinem Wort erwähnt. Das nenne „Herr Anda, der Bundeskanzler hat in der jüngsten Ver- ich doppelbödig. gangenheit häufig gesagt, dass er sich für die Aufhebung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12399

Dr. Michael Fuchs (A) des Waffenembargos gegen China aussprechen werde. embargos gegenüber der Volksrepublik China“. Darin (C) Wie reagiert der Kanzler auf die Entscheidung der Ko- wird sofort eine deutliche Position bezogen, was Sie in alitionsfraktionen, das Waffenembargo nicht aufzuhe- Ihrem Antrag von Anfang an vermeiden. ben?“ sagte Staatssekretär Anda: „Sie spielen auf einen Dass in China nach wie vor erhebliche Menschen- Antrag der Bundestagsfraktion an, der einige Kriterien rechtsverletzungen stattfinden, können Sie nicht bei- feststellt, was die Aufhebung des Waffenembargos anbe- seite schieben. Niemand, der sich ernsthaft mit diesem langt. Diese Kriterien werden in die Meinungsfindung Thema beschäftigt, kann das beiseite schieben. Der Kol- einfließen.“ Schön. Aber dann: „Was den Bundeskanzler lege Uhl, aber auch der Kollege Rose haben das ange- anbelangt: Sie haben seine Haltung richtig wiedergege- sprochen. Die Taiwan-Frage ist alles andere als geklärt, ben. Die Auffassung ist bekannt und er wird sie auch Herr Kollege Volmer. Ich meine, das sollten Sie auch zu- nicht ändern.“ geben. Das heißt also, der Bundeskanzler hat eine völlig an- dere Auffassung, als Sie, meine Damen und Herren, sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – hier gerade darstellen. Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das habe ich doch die ganze Zeit er- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Welch ein Respekt klärt!) vor dem Parlament!) Erstens. Die SPD und die Grünen setzen meiner Mei- Dies sollten wir einmal sagen. Ich finde es eigenartig, nung nach völlig falsche Zeichen. Ich halte es für richtig, dass der Bundeskanzler so wenig Respekt vor seiner ei- China unter Druck zu setzen. Zwar ist das Massaker auf genen Bundestagsfraktion hat. Oder war das wieder ei- dem Tiananmenplatz 1989 gewesen, aber solche Dinge ner der üblichen Schröder-Chinakracher bzw. -Chinaböl- verjähren für mich nicht in 15 Jahren. Eine Aufhebung ler? Seine Fraktion distanziert sich öffentlich von ihm. des Embargos, wie sie der Bundeskanzler bereits vor ei- Da sollte dem Bundeskanzler eigentlich eine rote Warn- nem Jahr öffentlich gefordert hat, würde die Menschen- lampe angehen. Anscheinend ist ihm das egal. rechtslage in China nicht verbessern, sondern eher das Gegenteil bewirken; davon können Sie ausgehen. Dieses Herumlavieren in der Menschenrechts- und in der Außenwirtschaftspolitik, das wir von Ihnen immer Zweitens. Die Bundesregierung betont, bei Aufhe- wieder erleben, ist wieder einmal ein Beweis für die bung des EU-Embargos würden Exporte nach deut- große Diskrepanz zwischen Ihrem Anspruch und der schen Richtlinien weiterhin unmöglich sein. Daher Wirklichkeit. kann ich nun wirklich nicht nachvollziehen, warum sich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Bundeskanzler, der auch die Interessen der deut- (B) der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Schwätzer!) schen Wirtschaft zu vertreten hat, dafür einsetzt, dass (D) das EU-Embargo aufgehoben wird. Will er nur seinem – Herr Tauss, beweisen Sie mir das Gegenteil! Es tut mir Freund Chirac helfen, damit die Franzosen mehr nach Leid, wenn Sie nicht in der Lage sind, dieser Debatte zu China exportieren können? Er möchte das EU-Embargo folgen. Sie wären besser früher gekommen, dann hätten aufheben, aber aus Deutschland darf nach wie vor nichts Sie von Ihren eigenen Kollegen gehört, dass Sie in dieser nach China exportiert werden? Der Bundeswirtschafts- Frage eindeutig in Distanz zum Bundeskanzler stehen. minister muss mir einmal erklären, welche Logik dahin- ter steckt. Ich habe sie nicht verstanden. Entweder ganz (Beifall bei der CDU/CSU) Europa kann nicht exportieren – damit auch wir nicht – China ist selbstverständlich ein großes und dynami- oder alle dürfen es, was dann die logische Konsequenz sches Weltwirtschaftszentrum und wahrscheinlich die wäre. dynamischste Volkswirtschaft, die es zurzeit auf der Welt gibt. Es ist klar, dass wir eine Gratwanderung zu Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: machen haben. Es ist ebenso selbstverständlich, dass wir Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des kühl und pragmatisch vorgehen müssen. Bitte verhalten Kollegen Volmer? Sie sich aber nicht wieder so, wie wir das von Ihnen ge- wohnt sind. Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Wenn die FDP – dafür ist ihr zu danken – diesen An- Das gibt mir mehr Redezeit. Danke. trag nicht gestellt hätte, dann hätte diese Debatte nicht stattgefunden; denn damit hatten Sie schon genug Pro- Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bleme. Herr Kollege, da Sie sich am Beispiel der Taiwan (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Frage als Sicherheitspolitiker darzustellen versuchen, der FDP) möchte ich Sie etwas fragen. Sie haben bemängelt, dass die Politik des Bundeskanzlers nicht deutschen, sondern Wir finden, dass der FDP-Antrag deutlicher und kla- französischen oder Waffenexporten anderer Länder die- rer als Ihrer formuliert ist. Frau Zapf, da können Sie mir nen könnte. erzählen, was Sie wollen. Das erkennt man schon an der Überschrift. Die Überschrift Ihres Antrags lautet: „EU- Würden Sie bitte Folgendes zur Kenntnis nehmen: Waffenembargo gegenüber der Volksrepublik China“. Die chinesische Seite – das versicherte der Auswärtige Aufheben oder verstärken? Die Überschrift des FDP- Ausschuss aus China, der letzte Woche hier war – will Antrags heißt: „Gegen eine Aufhebung des EU-Waffen- gar keine Waffen importieren. Falls China Waffen 12400 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Dr. Ludger Volmer (A) brauche, wolle es diese selber herstellen, sodass es nicht Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der (C) abhängig werde. China komme es auf die politische Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen Geste an, nämlich ob es auf der Embargoliste stehe oder auf Drucksache 15/4035 mit dem Titel „EU-Waffenem- nicht. Es geht also gar nicht um materielle Lieferungen. bargo gegenüber der Volksrepublik China“. Wer stimmt Von daher kann der Bundeskanzler, bezogen auf diese für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- Frage, keine falsche Politik machen. gen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition ge- gen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Herr Kollege Volmer, ich halte das, was Sie dem Par- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c sowie lament weiszumachen versuchen, für sehr blauäugig. Zusatzpunkt 4 auf: Wenn wir das EU-Waffenembargo aufheben, bedeutet 7 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- das in der Konsequenz, dass die Chinesen jederzeit An- gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur träge auf Waffenlieferungen stellen können. Es kann Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts zwar sein, dass sie heute keine Waffen brauchen. Aber es kann morgen jederzeit passieren, dass sie irgendeine – Drucksache 15/3917 – Technologie benötigen. Herr Kollege, so blauäugig soll- Überweisungsvorschlag: ten wir mit diesem schwierigen und vor allem für die Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Menschenrechte wichtigen Thema nicht umgehen. Innenausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Für mich stehen die Äußerungen des Bundeskanzlers Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit im klaren Widerspruch zu den Äußerungen der Koalition Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO und dem, was wir heute von allen Kollegen gehört ha- ben. Für mich ist es erstaunlich, dass Sie auf einmal b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar ohne große Probleme über diese Dinge hinweggehen Wöhrl, Karl-Josef Laumann, Dr. Joachim können. Ich kann das nicht nachvollziehen. Deswegen Pfeiffer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion halte ich Ihre gesamte Einstellung zu diesem Thema für der CDU/CSU sehr widersprüchlich. Das gilt gerade für Sie, Herr Kol- Klaren und funktionsfähigen Ordnungsrah- lege Volmer, der Sie nun lange Staatsminister gewesen men für die Strom- und Gasmärkte schaffen sind und vorher eine völlig andere Haltung vertreten ha- ben. – Drucksache 15/3998 – Überweisungsvorschlag: Drittens. Es ist wieder einmal erstaunlich, dass der (B) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) (D) Bundeskanzler das Handeln im Geiste Europas völlig Rechtsausschuss durcheinander wirft. Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union In Europa sind weit mehr als die Hälfte der Länder ge- Haushaltsausschuss gen eine Aufhebung des EU-Embargos. Was machen Sie? Sie versuchen, mit Frankreich eine bilaterale Al- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun lianz zu bilden, und wollen darüber die gesamte EU in Kopp, Rainer Brüderle, Birgit Homburger, weite- eine Richtung bringen. Das halte ich für falsch. So etwas rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sollten wir auch nicht tun. In meinen Augen ist das, was Für mehr Wettbewerb und Transparenz in der hier gelaufen ist, Scharlatanerie. Wir sollten gemeinsam Energiewirtschaft durch klare ordnungspoliti- immer im Blick auf die Menschenrechte solche Regelun- sche Vorgaben gen nicht dulden. Das Embargo muss bleiben. – Drucksache 15/4037 – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Innenausschuss Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Ich schließe die Aussprache. Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ZP 4 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- auf Drucksache 15/4047 zu dem Antrag der Fraktion der gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- FDP mit dem Titel „Gegen eine Aufhebung des EU- rung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes Waffenembargos gegenüber der Volksrepublik China“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache – Drucksache 15/3923 – 15/2169 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss- Überweisungsvorschlag: empfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP ange- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und nommen. Landwirtschaft Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12401

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen nis ist, wie Sie der Gegenäußerung der Bundesregierung (C) Ausschuss für Bildung, Forschung und entnehmen können, dass wir bei den Kontrollkompeten- Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus zen der Regulierungsbehörde deutliche Veränderungen, und zwar im Sinne von Verschärfungen vorschlagen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich Angesichts der Ankündigungen aus der Energiewirt- höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. schaft, jedenfalls von Teilen davon, die Netzentgelte kurzfristig und teilweise kräftig anzuheben, war es auch Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes- aus meiner Sicht unumgänglich geworden, zu reagieren. minister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD) DIE GRÜNEN) Wir schlagen deshalb nunmehr vor, dass solche Netzent- Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft gelterhöhungen, wie sie angekündigt worden sind, von und Arbeit: der Regulierungsbehörde nachträglich – das heißt ex Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und post – überprüft werden müssen. Ab In-Kraft-Treten des Herren! Wir wollen heute Abend in erster Lesung ein Gesetzes soll nach unseren Vorstellungen gelten, dass je- außerordentlich wichtiges Gesetzesvorhaben beraten, der Netzbetreiber künftig im Vorhinein – das heißt ex nämlich den neuen Rechtsrahmen, den nach den europäi- ante – von der Regulierungsbehörde grünes Licht für schen Binnenmarktvorgaben die Strom- und Gasversor- eine Erhöhung seiner Entgelte bekommen muss. Diese gung in Deutschland erhalten soll und erhalten muss. Es Ex-ante-Prüfung soll sich nach unserem Vorschlag geht darum, 1 700 Betreiber von Strom- und Gasnetzen auf beabsichtigte Erhöhungen von Tarifen beziehen; es einer staatlichen Aufsicht zu unterwerfen und – das ist geht dabei nicht um die Überprüfung aller unstreitig – die Regulierungsbehörde für Telekommuni- 1 700 Netzbetreiber von Anfang an. Ich hatte immer kation und Post mit dieser zusätzlichen Aufgabe zu wieder darauf hingewiesen, dass der bürokratische Auf- betrauen. Wir wollen diesen Weg gemeinsam mit aller wand für diese Überprüfung zu groß wäre; ich habe aber Entschlossenheit gehen. Es geht darum, einen diskrimi- auch gemeint, dass eine Überprüfung sinnvoll ist, wenn nierungsfreien und effizienten Zugang zu den Netzen zu ein entsprechender Anlass gegeben ist. Dementspre- schaffen, und zwar zu Bedingungen, die für jedermann chend sehen wir in unserem Gesetzentwurf im Falle be- transparent und durchschaubar sind. absichtigter Erhöhungen der Entgelte eine Überprüfung Wir handeln unter hohem Zeitdruck. Wie auch die vor. meisten anderen Mitgliedstaaten der Europäischen (B) Ich denke, das neue Maßnahmenpaket trägt dazu bei, (D) Union werden wir von Brüssel gemahnt und gedrängt. berechtigte Verbraucherinteressen in der Übergangs- Ich denke aber, dass auf der anderen Seite klar ist, dass und Startphase der Regulierungsbehörde zu sichern. Ich es sich hier um ein sehr komplexes und sehr anspruchs- habe den Eindruck, dass wir damit den Netzbetreibern volles Gesetzesvorhaben handelt. deutliche Signale geben können, sodass sie – das gilt für Der Gesetzgeber steht heute und die Regulierungsbe- die gesamte Branche – dies bei ihrem weiteren Vorgehen hörde steht später vor der Aufgabe, den Weg für nied- beachten und insbesondere davon absehen werden, in rige Netzentgelte zu ebnen, ohne das in Deutschland ge- Zeiten des Umbruchs noch rasch Preiserhöhungen wohnte hohe Niveau der Versorgungssicherheit und durchzusetzen. Zuverlässigkeit zu gefährden. Diese Sicherheit der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Stromversorgung gibt es natürlich nicht zum Nulltarif. DIE GRÜNEN) Für die Netzbetreiber müssen sich Investitionen in den Unterhalt und den Ausbau von Netzen auch in Zukunft Im Übrigen bleibt es dabei: Die Regulierungsbehörde rechnen. Dabei stellen beispielsweise der weitere Aus- wird kurzfristig eine kompakte und starke Missbrauchs- bau der Windkraft und der grenzüberschreitende Aus- aufsicht aufbauen und hierfür ein neues Benchmarking, tausch die Netzbetreiber vor neue, auch finanzielle He- ein Vergleichssystem, für die Netzentgelte erarbeiten. rausforderungen. Dieses Benchmarking bietet die Grundlage, um ein har- tes Vergleichsverfahren durchführen zu können. Das bie- Ich kann sagen, dass die Bundesregierung mit ihrer tet der Regulierungsbehörde die Möglichkeit, schwarze gestern beschlossenen Gegenäußerung zu der Stellung- Schafe sehr rasch zu identifizieren. Netzbetreiber, die nahme des Bundesrates die Signale auf Grün gestellt hat, höhere Entgelte als der Durchschnitt vergleichbarer Un- um dieses Gesetzesvorhaben in einem möglichst breiten ternehmen verlangen, bekommen dann sofort ein Pro- Konsens zum Abschluss bringen zu können. Ich habe blem mit der Regulierungsbehörde. Ich bin davon über- schon bei der Beratung des Regierungsentwurfs im Bun- zeugt, dass dies die effektivste und am schnellsten desrat und bei anderen Gelegenheiten betont, dass wir einsetzbare Form der Missbrauchskontrolle ist, um eine für Änderungsvorschläge offen sind und dass wir Ände- Beruhigung im Bereich der Preisgestaltung zu erreichen. rungsvorschläge ideologiefrei allein unter dem Gesichts- punkt der Effektivität und der Funktionsfähigkeit einer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ solchen Regulierung prüfen werden. DIE GRÜNEN) Wir haben angekündigt, Gespräche mit den Län- Zentraler Punkt der Gegenäußerung der Bundesregie- dern zu führen, und haben das eingehalten. Das Ergeb- rung ist, dass wir den Fahrplan bis zur Einführung der 12402 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Bundesminister Wolfgang Clement (A) von uns allen gewollten Anreizregulierung verbindlich Wir müssen uns sehr ruhig und nüchtern fragen – das (C) festlegen. Unser Ziel ist, mit der Anreizregulierung spä- sollten auch die Länder tun; das meine ich kollegial –: testens zwei Jahre nach In-Kraft-Treten des Gesetzes zu Wie sollten wir im Konzert der anderen europäischen beginnen. Zu den vorrangigen Aufgaben der Regulie- Regulierungsbehörden vermitteln können, wenn dem- rungsbehörde wird es gehören, rasch ein für die deut- nächst in Deutschland insgesamt 17 Regulierungsstellen schen Verhältnisse taugliches System der Anreize zu ent- vorhanden wären und ihre Arbeit tun würden? Das wür- wickeln. den wir kaum jemandem erläutern können. Als Anreiz zur Effizienzerhöhung des Netzbetriebs (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ legt die Regulierungsbehörde nach Anhörung der Netz- DIE GRÜNEN) betreiber nach unseren Vorstellungen für eine bestimmte Die Strom- und Gasversorgung in der Europäischen Dauer, längstens für fünf Jahre, bestimmte Vorgaben Union wird in Zukunft noch stärker durch europäische für die Netzentgelte fest. Die Bundesregierung wird Vorgaben geprägt werden. In dieser Situation wäre es dazu im weiteren Gesetzgebungsprozess noch einen Ver- aus meiner Sicht nicht mehr angemessen, wenn wir bei fahrensvorschlag unterbreiten. der Aufsicht über den Netzbetrieb gewissermaßen in Wir haben, wie ich meine, mit unserer Gegenäuße- eine Regionalisierung gehen würden. Wir brauchen eine rung das Tor für einen breiten Konsens in den materiel- Regulierung aus einem Guss und aus einer Hand, um auf len Fragen der Netzregulierung geöffnet. Ich denke, das europäischer Ebene zu bestehen. Ich sage das übrigens ist ein sehr wichtiger Schritt. Es liegt mir daran, dass bei auch ein bisschen mit Blick auf die Föderalismusdis- allen sonstigen Auseinandersetzungen zur Kenntnis ge- kussion in Deutschland. Es wäre kaum verständlich zu nommen wird, dass es auch möglich ist, aufeinander zu- machen, warum wir eine Aufsplittung der Aufsicht über zugehen. den Netzbetrieb in Kauf nähmen, obwohl wir gleichzei- tig – zu Recht – über eine Entzerrung der Aufgaben in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deutschland diskutieren. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich bin nämlich davon überzeugt, dass es nicht im Inte- DIE GRÜNEN sowie der Abg. Gudrun Kopp resse des Standorts Deutschland läge, wenn wir uns in [FDP]) diesem Bereich noch eine lange Hängepartie leisten wür- den. Deshalb haben wir meiner Meinung nach rasch auf Ich sage das mit aller Vorsicht, weil ich weiß, dass das die Einwände des Bundesrates und andere Einwände re- ein sensibles Thema ist. Die Kompetenzen beispiels- agiert. weise im nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministe- rium, in meinem früheren Verantwortungsbereich, und (B) (D) Damit die Vorgaben möglichst effizient umgesetzt im bayerischen Wirtschaftsministerium sind, wie gesagt, werden, haben wir vorgeschlagen, die Aufsicht über die sehr unterschiedlich entwickelt. Ich weiß, dass es hier Energieversorgungsnetze bundesweit bei einer Behörde, Empfindlichkeiten gibt. Aber ich bitte die Landesregie- nämlich der Regulierungsbehörde in Bonn, zu konzen- rungen, den jetzt eingeschlagenen Weg mitzugehen. trieren. Sie hat bei der Telekommunikation und der Post bereits nachgewiesen, dass sie dazu in der Lage ist und Insgesamt haben wir mit unserem Gesetzentwurf und die Instrumente beherrscht. Das spricht dafür, ihr auch den Vorschlägen in der Gegenäußerung der Bundesre- die Aufsicht über die Strom- und Gasnetze anzuver- gierung ein Konzept vorgelegt, das im Sinne der spezifi- trauen. schen deutschen Interessen eine schlanke und effiziente Regulierung der Strom- und Gasnetze ermöglicht. Der Wir haben die Position, die Aufsicht bei einer Bun- Weg zur Anreizregulierung wird nach unserem Vor- desbehörde einzurichten, im Lichte des anders lautenden schlag konsequent beschritten. Das wird im Ergebnis be- Votums der Mehrheit der Länder nochmals überprüft. deuten, dass die Netzkosten sinken. Davon werden die Aber wir sind in diesem Punkt zu keinem anderen Er- Industrie sowie die gewerblichen und die privaten Ver- gebnis gekommen. braucher in gleichem Maße profitieren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Meine Bitte ist, dass wir gemeinsam alle Anstrengun- DIE GRÜNEN) gen unternehmen, das Gesetz möglichst zügig in Kraft Auch als ehemaliger Wirtschaftsminister eines Bundes- zu setzen, damit es rasch seine Wirkung entfalten kann. landes, und zwar nicht des unwichtigsten, der für die Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. fachliche Aufsicht verantwortlich war, kann und will ich nicht bestreiten, dass in den Ländern durchaus fachliche (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kompetenz vorhanden ist. Ich bin aber ebenso über- DIE GRÜNEN) zeugt, dass jetzt im Zuge der europäischen Entwicklung eine eindeutige Zuweisung dieser Aufgabe notwendig Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ist. Nur durch eindeutige Zuweisung an eine Behörde Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Rolf kann nach unserer Überzeugung sichergestellt werden, Bietmann, CDU/CSU-Fraktion. dass in der Regulierungspraxis die Netzbetreiber und ihre Kunden tatsächlich mit einer Elle gemessen werden. Dr. Rolf Bietmann (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und DIE GRÜNEN) Kollegen! Herr Minister, Sie haben mit Recht darauf Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12403

Dr. Rolf Bietmann (A) hingewiesen, dass man für Änderungsvorschläge offen Regelung wird die Energieversorger geradezu provozie- (C) sein muss. Die Union hat eine Vielzahl von Änderungs- ren, weitere Kosten zu produzieren, um dadurch bei ihrer vorschlägen präsentiert. Sie haben sich im Ansatz unse- Endkalkulation vertretbare Gewinnmargen zu erreichen. ren Änderungsvorschlägen angenähert, wenn Sie sagen, Die Regulierung der Netzentgelte muss deshalb künftig dass bei Preiserhöhungen eine Ex-ante-Prüfung erfolgen nicht nur unter Berücksichtigung der Kostenkalkulation, muss. Wir stimmen mit Ihnen darin überein und hoffen, sondern auch durch eine im Gesetz zu definierende An- dass Sie die Richtigkeit weiterer Änderungsvorschläge reizregulierung erfolgen. der Union nachvollziehen und sich auf den Weg bege- ben. In Ihrer Gegenäußerung zu der Stellungnahme des Bundesrates erklären Sie für die Bundesregierung, dass Das, was bisher als Entwurf eines Energiewirtschafts- Sie die Einführung einer Anreizregulierung bei Prüfung gesetzes vorgelegt wurde, reicht aber bei weitem nicht der Netznutzungsentgelte in den Gesetzestext aufneh- aus, um der deutschen Wirtschaft das zu geben, was sie men wollen. Die Bundesregierung wird, so heißt es, im braucht, nämlich einen rechtlich hinlänglich klaren Rah- Laufe des weiteren Gesetzgebungsverfahrens Vor- men für das Wirtschaften sowie für Netznutzung und schläge unterbreiten, die die baldige Einführung der An- Festsetzung der Netzentgelte. Mit Ihrem Energiewirt- reizregulierung ermöglichen. Erfreulich daran ist, dass schaftsgesetz wollen Sie den Netzzugang verbessern und die Bundesregierung aufgrund der Kritik von CDU und einer staatlichen Kontrolle unterstellen. Sie wollen wirk- CSU eine Kehrtwende macht. Katastrophal ist jedoch, samen Wettbewerb auf den vor- und nachgelagerten dass diese Kehrtwende nach Einbringung des Gesetzent- Märkten im Netzbereich ermöglichen. Aber die Begriffe wurfs erfolgt und dass Sie heute wieder nichts zur An- „Entflechtung“, „Netzzugang“ und „Netzzugangsent- reizregulierung gesagt haben. gelte“ bedürfen hierzu einer klaren Definition im Gesetz. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und NEN]: Sie haben nicht zugehört!) der FDP) Das zeigt doch, dass mit sehr unterschiedlichen Argu- Um die dringend notwendige Rechtssicherheit her- menten operiert wird, aber gesetzestechnisch nicht zu- zustellen, ist eine hinreichend präzise, normative Ausge- lässig gearbeitet wird. staltung der gesetzlichen Vorgaben notwendig. Dem wird der vorliegende Gesetzentwurf in keiner Weise ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg recht. Statt eindeutige inhaltliche Vorgaben für die Ent- Tauss [SPD]: Schreiben Sie einmal wieder ein flechtung und die Kontrollbefugnisse des Regulierers zu Gutachten!) formulieren, weichen Sie im Gesetzentwurf auf Verord- (B) nungen aus. Bezeichnend ist § 21 des geplanten Energie- Auf welcher Grundlage soll eigentlich beraten wer- (D) wirtschaftsgesetzes – schauen Sie sich den einmal genau den? Vor dem Hintergrund dessen, was wir heute wissen, an! –, der die Bedingungen und die Entgelte für den ist der vorliegende Entwurf Makulatur und einer ab- Netzzugang regelt. Nach Abs. 2 sollen die Entgelte auf schließenden Bewertung nicht zugänglich. Angesichts der Grundlage einer energiewirtschaftlich rationellen der Bedeutung der Energiewirtschaft für den Standort Betriebsführung gebildet werden. So lautet der Geset- Deutschland ist dieser Entwurf Ausdruck einer politi- zestext. Dieser Grundgedanke wird dann aber sofort schen Hilfs- und Konzeptionslosigkeit, wie ich sie lange wieder eingesammelt, weil in einer Rechtsverordnung nicht erlebt habe. nach § 24 eine Abweichung von der kostenorientierten Wir können uns eine solche Politik am Standort Entgeltbildung bestimmt werden kann. Über den Weg Deutschland im Interesse Hunderttausender Arbeits- der Rechtsverordnung wird der Versuch gestartet, am plätze nicht länger erlauben. Die Bundesregierung ist da- Parlament vorbei Inhalte verwaltungstechnisch zu re- her aufzufordern, ihre neuen Überlegungen unverzüglich geln, die eigentlich unmissverständlich im Gesetz stehen in Gesetzesform zu präsentieren, damit eine ordnungsge- müssten. mäße Beratung durch den Deutschen Bundestag und Bis heute, Herr Minister, liegen die wesentlichen Ver- seine Ausschüsse überhaupt möglich wird. ordnungen für Netzzugang und Netzregulierung im Gas- Wer glaubt, durch Entflechtung und Regulierung von bereich nicht vor. Eine ordnungsgemäße Beratung des Netzzugang und Netzentgelten werde automatisch für vorliegenden Entwurfs ist aber nur möglich, wenn auch eine Kostensenkung bei den Energiepreisen gesorgt, der die Verordnungsentwürfe in Gänze vorgelegt werden. irrt ebenfalls gewaltig. Natürlich ist Entflechtung unbe- Denn ohne diese macht die Beratung überhaupt keinen dingt notwendig, um Wettbewerb im Bereich des Netzes Sinn. möglich zu machen. Andererseits werden durch diese (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Entflechtung Unternehmensstrukturen verändert und Sy- nergien, die erfolgreich erzielt wurden, aufgehoben. Die Die für die deutsche Energiewirtschaft entscheidende Folgen hiervon können höhere Kosten und damit ein An- Frage nach den Maßstäben für die Bewertung der stieg von Netznutzungsentgelten sein. Netznutzungsentgelte wird im Gesetzentwurf nicht beantwortet. Bereits der Bundesrat hat in seiner Ein weiterer Anstieg wird auch durch die von der Re- Stellungnahme darauf hingewiesen, dass eine an Kosten- gierung geplante Kostentragungspflicht erfolgen. Die gesichtspunkten orientierte Festsetzung von Netznut- Kosten der Regulierungsbehörde sollen den beauf- zungsentgelten in die falsche Richtung geht. Eine solche sichtigten Unternehmen im Wege einer Sonderabgabe 12404 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Dr. Rolf Bietmann (A) auferlegt werden. Dies ist ein klassisch falscher Weg an- Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) gesichts der Höhe der Energiekosten in Deutschland. Frau Präsidentin! Herr Minister! Meine Damen und Herren! Herr Bietmann, ich fand Ihre Rede, ehrlich ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sagt, ein bisschen albern. Der Gipfel der Albernheit war neten der FDP) Ihre Aufforderung an die Bundesregierung, jetzt zügig Neben verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen Be- Änderungsvorschläge vorzulegen. denken vor allem dagegen, dass die Regulierungsbe- (Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Sie sollten hörde ihre Kosten selbst festsetzt – das muss man sich schon zum 1. Juli 2004 fertig sein! – Kurt- einmal vorstellen! – und dann von den Netzbetreibern Dieter Grill [CDU/CSU]: Wer hat im Sommer erhebt. dem Bundesrat vorgeworfen, er würde verzö- (Gudrun Kopp [FDP]: Ohne Deckelung!) gern? Sie haben Ihre Arbeit nicht gemacht!) Dies weckt Begehrlichkeiten, sodass selbst ein schlank Es ist so selbstverständlich, dass das jetzt gemacht gestarteter Regulierer über die Jahre schwerfällig und wird, dass wir also die Vorschläge bald auf den Tisch be- träge werden kann. Mit der Union ist das nicht zu ma- kommen und sie im Zuge des parlamentarischen Bera- chen. Das ist systemwidrig, ordnungspolitisch falsch und tungsverfahrens einarbeiten, dass eine Aufforderung verfassungsrechtlich problematisch. dazu wirklich ziemlich albern ist. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Mit Erstaunen habe ich zur Kenntnis genommen, dass über § 32 Abs. 2 des EnWG-Entwurfs – Art. 1 des Re- Wir brauchen mehr Wettbewerb im Energiebereich. gierungsentwurfs – heimlich ein Verbandsklagerecht Wir brauchen ihn, weil das Netz ein natürliches Mono- aufgenommen worden ist. Die Einführung der Verbands- pol ist und deswegen die Tendenz vorherrscht, dass die klage unter anderem durch Verbraucherschutzverbände Durchleitungspreise zu hoch sind. Deshalb brauchen wir wird dazu führen, dass die Gerichte zunehmend zum Er- eine neue Behörde, die als starker Schiedsrichter hin- satzregulierer werden. Im Ergebnis werden die Gerichte schaut und die Interessen der Verbraucher und der Indus- – und nicht der Regulierer – die Netzentgelte festsetzen. trie vertritt. Damit wird die Unsicherheit in der Energiewirtschaft Wir brauchen mehr Wettbewerb im Energiebereich, weiter geschürt. Dass die Gerichte aufgrund der Unfä- weil wir eine Phase vor uns haben, in der die Hälfte der higkeit des Gesetzgebers zu klarer Formulierung nun Kraftwerkskapazitäten in Deutschland ersetzt werden auch im Bereich des Energiewirtschaftsrechts zum Er- muss. Die Voraussetzung dafür, dass in Deutschland in- satzgesetzgeber werden, kann vom Deutschen Bundes- (B) vestiert wird, und zwar nicht nur von den vier Großen, (D) tag doch nicht ernsthaft gewollt sein. sondern auch von ausländischen Investoren oder von an- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) deren Industrieunternehmen, ist natürlich der freie Zu- gang zu den Netzen und die Möglichkeit, zu fairen und Ich warne davor, durch den Verzicht auf klare Rege- gerechten Preisen durchzuleiten. lungen und den Einbau von Verbandsklagebefugnissen die Gerichte an die Stelle des staatlichen Regulierers zu Wir brauchen auch Wettbewerb im Gasbereich. Wenn setzen. Dass der Bundesgerichtshof zum Hauptregulierer wir die Abhängigkeit von Russland und Norwegen redu- des Energiewirtschaftsrechts wird, wäre ein folgen- zieren wollen und perspektivisch auch auf LNG setzen schwerer Fehler. wollen, dann muss der freie Zugang zu den Gasnetzen gewährleistet sein. Das ist die beste Voraussetzung, um Mit dem vorgelegten Entwurf zur Novellierung des bei den Möglichkeiten der Gasbeschaffung zu diversifi- Energiewirtschaftsrechts hat die Bundesregierung ihre zieren. Hausaufgaben nicht gemacht, Herr Minister. Einem sol- chen Gesetzentwurf können wir unsere Zustimmung Nachdem wir gesehen haben, dass die Verbändever- nicht geben. Die Bundesregierung ist vielmehr aufzufor- einbarung gescheitert ist, war es längst überfällig, jetzt dern, die Tatbestände, um die es geht, im Gesetz und den Paradigmenwechsel vorzunehmen, eine Wettbe- nicht in einer Fülle von nicht prüfbaren Verordnungen werbsbehörde als starken Schiedsrichter einzuführen, konkret zu regeln, um Rechtssicherheit zu gewährleis- das Marktgeschehen zu fördern und das Unbundling ten. Wir können es uns in Deutschland nicht länger er- noch deutlich zu verschärfen. lauben, die Handlungsfreiheit der Energiewirtschaft ohne einen klaren Ordnungsrahmen zu beschränken. Natürlich müssen wir den Gesetzentwurf nach der Eine solche Politik schadet der Wirtschaft, der Umwelt Gegenäußerung der Bundesregierung weiter entwi- und den Verbrauchern. ckeln. Das werden wir im parlamentarischen Verfahren auch tun. Der Entwurf ist, glaube ich, die richtige Ant- Vielen Dank. wort der Bundesregierung auf die zurückliegenden Er- eignisse gewesen. Die Stromkonzerne wollten das Va- (Beifall bei der CDU/CSU) kuum ausnutzen. Sie haben die Preise deutlich erhöht. Sie waren nicht bereit, zu warten, bis ein Regulierer tat- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sächlich kontrollieren kann, ob die Preiserhöhung ge- Das Wort hat die Kollegin Michaele Hustedt, rechtfertigt ist. Deswegen ist der Weg richtig, der jetzt Bündnis 90/Die Grünen. gegangen wird. Es wird eine nachträgliche Kontrolle Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12405

Michaele Hustedt (A) stattfinden. Für jede Preiserhöhung wird eine Ex-ante- brauch vorliegt, Verbraucherinteressen einzufordern. (C) Genehmigung notwendig. In zwei Jahren wird es eine Das halte ich für richtig. Anreizregulierung, wahrscheinlich mit flächendecken- der Ex-ante-Genehmigung, geben. Dieser Weg ist gut Ich finde es besonders gut, dass in der Gegenäuße- und richtig. rung angekündigt wird, im Gasmarkt das Entry-Exit- Modell einzuführen. Damit wäre erstmals Wettbewerb (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auf dem Gasmarkt möglich. Bislang gibt es dort Wettbe- werb nur auf dem Papier. Der damals noch von Rexrodt Ich warne davor, jetzt sozusagen zu radikalisieren und entwickelte Gesetzentwurf hat ihn in keiner Weise er- zu fordern, man wolle sofort eine Anreizregulierung. möglicht. Die Verbändevereinbarungen sind gescheitert. Es ist, wie ich glaube, völlig richtig, der Wettbewerbsbe- Das Entry-Exit-Modell ermöglicht auf wirklich unbüro- hörde zunächst einmal zwei Jahre Zeit zu geben, um die kratische Weise Wettbewerb und Handel auf dem Gas- entsprechenden Methoden zu entwickeln. Niemand, we- markt. Seine Umsetzung wäre ein wichtiger und ganz der die FDP noch die CDU noch die Länder bzw. der entscheidender Schritt. Bundesrat, kann ein konsistentes Konzept einer Anreiz- regulierung vorlegen, wodurch sichergestellt wird, dass Selbstverständlich werden die Verordnungen noch einerseits die Netze effizient betrieben werden und nicht rechtzeitig kommen. Eine Gasverordnung befindet sich die durchschnittliche, sondern die effizienteste Nutzung in der Endphase der Diskussion, die zweite ist in Arbeit. den Maßstab darstellt, und andererseits nicht überzogen Wir werden das vorliegende Gesetz nicht eher abschlie- wird, sondern genug Spielraum gelassen wird, damit ßend beraten, bevor diese Verordnungen vorliegen; da weiter investiert wird. Hier muss man punktgenau lan- bin ich mir hundertprozentig sicher. Wir werden in un- den. Das ist die Herausforderung bei der Umsetzung des sere Beratungen alle Verordnungen, die zu Strom- und Konzeptes einer Anreizregulierung. Gas wie die Zugangs- und Entgeltverordnungen, einbe- ziehen. Ich kann überhaupt nicht sehen, wieso wir als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Parlamentarier da vor der Tür stehen sollten. und bei der SPD) Vielleicht noch ein paar Worte zum Thema Kosten- Da reicht es nicht, einfach Schlagworte in den Raum zu tragungspflicht. Der von uns eingeschlagene Weg ist, werfen. Die neu zu schaffende Behörde, die auf tolle wie ich denke, aus zwei Gründen der richtige: Erstens Fachleute zurückgreifen kann – das zeigt sich schon jetzt verfahren wir mit Zustimmung des Bundesrates auch so anhand der Bewerbungslage –, ist genau der richtige Ort, bei der TKG-Novelle; zweitens ist das auch die übliche um in Gesprächen mit der Wirtschaft, der Industrie und Art, wie Verfahren der BaFin finanziert werden. Eine an- den Verbraucherverbänden eine Anreizregulierung zu dere Möglichkeit wäre es, jeden einzelnen Vorgang von- (B) entwickeln. seiten der Behörde gegenüber der Industrie abzurechnen. (D) Stichwort Verbraucher: Ich verstehe die Haltung der Es müsste also eine Gebührenordnung aufgestellt wer- Opposition in diesem Punkt nicht. Während der Ver- den. Dadurch entstünde ein ungeheurer bürokratischer handlungen über die Verbändevereinbarung saßen die Moloch. Auch das muss man sehen. Deshalb glaube ich, Verbraucher am Katzentisch und hatten kaum Einfluss. dass es völlig richtig ist, den unbürokratischeren Weg zu Das hatte zur Folge, dass sich für die Verbraucher am wählen und das Ganze durch die Industrie finanzieren zu wenigsten Vorteile durch den Wettbewerb ergeben ha- lassen. ben. Jetzt besteht die Chance, dass mit der Einrichtung Wir als grüne Fraktion werden diesen Gesetzentwurf einer Wettbewerbsbehörde tatsächlich auch ein Anwalt jetzt intensiv beraten und eigene Änderungsvorschläge der Verbraucherinteressen installiert wird. Deswegen unter Berücksichtigung der Gegenäußerung auf den verstehe ich überhaupt nicht, warum die B-Länder im Tisch legen. Aber die grobe Richtung, die Grundrich- Bundesrat das Ziel Verbraucherschutz aus § 1 streichen tung begrüßen wir außerordentlich. wollen. Ich verstehe auch nicht, warum Sie die Möglich- keit zur Verbandsklage streichen wollen. Das können wir Ich hoffe, dass sich in der Opposition noch einiges tun nicht akzeptieren; da werden wir nicht mitmachen. Im wird. Ich glaube, dass ein wirklich fairer Vorschlag vor- Zuge des jetzt anstehenden Paradigmenwechsels werden liegt, mit dem eine Einigung erzielt werden kann. Spä- nämlich nicht nur die Großindustrie, sondern auch die testens im Vermittlungsausschuss werden wir eine Verbraucher ihre Interessen artikulieren können. Einigung erreichen. Im Sinne einer sehr zeitigen Einfüh- rung einer Wettbewerbsbehörde aber wäre es gut, wenn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir uns schon im Bundestag auf gemeinsame Ände- und bei der SPD) rungsvorschläge – Anreizregulierung, Ex-ante-Regulie- Ich glaube nicht, dass das zu massenhaften Klagen führt. rung usw. – verständigen könnten. Das wäre eine hervor- Die Verbraucherverbände und erst recht einzelne Ver- ragende Vorarbeit für eine Verständigung mit den braucher haben doch gar nicht das Geld und die Kraft, Bundesländern. die Gerichte massenhaft mit Klagen zu überziehen. Ich hoffe, dass dieses Gesetz jetzt nicht in parteipoliti- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Im Ge- schem Geplänkel verbraten wird, sondern wir eine sach- genteil! Es gibt weniger Klagen!) liche Beratung haben werden. Ich hoffe, dass hier nicht polarisiert wird, denn wir sind uns in diesem Bereich Das Gegenteil ist der Fall. Es gibt ihnen aber immerhin doch eigentlich sehr nahe. Es gibt einen einzigen Punkt ein Instrument an die Hand, dann, falls grober Miss- – Herr Minister Clement hat ihn angesprochen –, bei 12406 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Michaele Hustedt (A) dem es noch keine Annährung gibt, und zwar bei dem derzeitigen Strompreises aus –, aber auch durch globale (C) Thema der Verantwortung von Bund und Ländern. Umstände, nämlich durch die hohen Preise für Roh- Darüber sollten die Bundesländer und auch die CDU/ stoffe. Denken Sie nur an die Verdoppelung des Kohle- CSU noch einmal nachdenken. Ich weiß, dass die FDP preises und den enorm gestiegenen Ölpreis. Ein Energie- da eine andere Position vertritt, nämlich dass die Verant- mix aus fossilen Brennstoffen, erneuerbaren Energien wortung beim Bund liegen sollte. Aber die CDU/CSU- und Kernenergie wird also auch in Zukunft notwendig Opposition sollte sich ihre Haltung noch einmal überle- sein. gen; denn man kann sich in der Föderalismuskommis- Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass wir bei dieser sion nicht einig sein, dass man Mischverantwortung in Debatte über das Energiewirtschaftsgesetz über die Zukunft verhindern will, aber beim nächsten Gesetz ge- Netzregulierung und nicht über die Preisregulierung nau das Gegenteil tun. sprechen. Ich glaube, das ist ein sehr entscheidender Un- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN terschied. und bei der SPD) Sehr geehrter Herr Minister Clement, Sie haben eben Wir haben in der Föderalismuskommission festgestellt, gesagt, Sie seien offen für Änderungsvorschläge. dass Mischverantwortung zu mehr Bürokratie und un- Prima! Ich nenne Ihnen hier sieben Punkte, die für uns gleichen Bedingungen im Markt führt. Das ist für die als FDP essenziell sind, und bitte Sie, sie bei der weite- deutsche Wirtschaft nicht zuträglich. Deswegen sollten ren Beratung mit zu berücksichtigen: wir, wenn wir jetzt ein neues System einführen, die Erstens. Uns ist wichtig, dass die Brüsseler Vorgaben Chance für Veränderungen nutzen und zeigen, dass wir nicht übererfüllt werden, sondern wir nur das tun, was aus unseren eigenen Fehlern gelernt haben. Deshalb bitte nötig ist. Wir legen Wert auf eine effiziente, klare, un- ich, dass Sie sich das in diesem Bereich noch einmal gut bürokratische Methodenregulierung, um den Wettbe- überlegen. werb zu stärken. Wie gesagt: Ich hoffe, dass wir eine ernsthafte Kom- (Beifall bei der FDP) promisssuche aufnehmen. Das würde allen nützen: der Energiewirtschaft, der Industrie, aber auch den Verbrau- Deshalb haben weder die Frage der erneuerbaren Ener- chern. gien noch ausufernde Verbandsklagerechte in diesem neuen Energiewirtschaftsgesetz irgendetwas zu suchen. Danke schön. Wir würden – da hat Herr Bietmann völlig Recht – eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Klageflut bekommen. Das kann nicht im Sinne der Ver- und bei der SPD) braucher und auch nicht im Sinne der gesamten Wirt- (B) schaft sein. (D) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wir legen außerdem Wert darauf, dass die Zuständig- Das Wort hat die Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Frak- keiten für den gesamten Energiebereich beim Bundes- tion. wirtschaftsministerium angesiedelt sind und dass es nicht zu einem Hickhack und zu ideologischen Verbrä- Gudrun Kopp (FDP): mungen zwischen dem Umweltministerium und dem Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Wirtschaftsministerium kommt. Wir diskutieren heute über das Energiewirtschaftsgesetz. Zweitens. Wir legen großen Wert darauf, dass es Ich glaube, man kann sagen, dieses Gesetz wird das keine kleinteiligen Einzelgenehmigungen von Netzent- Grundgesetz für die Energiewirtschaft der Zukunft sein. gelten ex ante gibt. Denn dadurch würden wir ein riesi- Wir werden mit diesem Gesetz über Investitionsbereit- ges Bürokratiemonstrum aufbauen. Das kann nicht im schaft und -fähigkeit am deutschen Markt und darüber Sinne des Erfinders sein. Wir wollen gleichzeitig An- entscheiden, wie sich Energie in Deutschland für Ver- reize schaffen, um künftig effizient und wettbewerbsfä- braucher und Wirtschaft darstellt. Es handelt sich also hig zu sein. um ein insgesamt sehr wichtiges Werk. Drittens. Wir legen Wert auf eine konsequente Ent- Liebe Frau Kollegin Hustedt, auch wir als FDP-Bun- flechtung, um künftig bei den Unternehmen Quersub- destagsfraktion legen großen Wert darauf, dass die Ver- ventionierungen zu vermeiden und Transparenz zu braucher profitieren. schaffen. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Viertens. Das gesamte Regulierungsregime bedarf DIE GRÜNEN]: Ach!) nach unserer Überzeugung schneller als nach einem Ich verweise in diesem Zusammenhang noch einmal Zeitraum von drei Jahren eines Monitorings, um gegebe- ausdrücklich darauf, dass durch die von dem damaligen nenfalls die Regulierungsregelungen den gemachten Er- Bundeswirtschaftsminister Rexrodt initiierte Liberalisie- fahrungen schnellstens anzupassen. rung auf dem Energiemarkt Liberalisierungsgewinne in (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Höhe von 7,5 Milliarden Euro erwirtschaftet worden der CDU/CSU) sind. Diese sind inzwischen, wie man so schön sagt, ver- frühstückt. Wodurch? In erster Linie durch Lasten, die Fünftens. Auch wir Liberale sagen ganz klar: Die die rot-grüne Bundesregierung durch Steuern, Abgaben Kosten für die Regulierung können nicht umgelegt wer- und Umlagen verursacht hat – das macht 41 Prozent des den. Es handelt sich um eine staatliche Aufgabe. Diese Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12407

Gudrun Kopp (A) staatliche Aufgabe ist aus dem Haushalt zu finanzieren. wieder neue Lasten auferlegen, und versuchen Sie, sich (C) An dem Personalaufbau, der jetzt stattfindet, kann man zu bescheiden und nicht immer mehr Kosten- und Büro- erkennen, dass die Regulierungsbehörde völlig freie kratielasten aufzubauen! Hand hat, sich entsprechend zu positionieren und Kosten Vielen Dank. zu verursachen, ohne dass es eine Kostendeckelung gibt. Wo bleibt da die Kontrolle? Wo bleibt da der Anreiz für (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) die Regulierungsbehörde, kostengünstig und effizient zu arbeiten? Ich finde, dieser Zustand ist nicht akzeptabel. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der FDP) Das Wort hat der Kollege Michael Müller, SPD-Frak- tion. Sechstens. In diesem Punkt stimmen wir mit Bundes- wirtschaftsminister Clement überein. Herr Minister, es ist richtig, dass die Regulierung bundeseinheitlich erfol- Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): gen muss. Es darf keine Splittung der Aufgaben geben. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be- Die Föderalismuskommission müht sich redlich, in klei- grüßen es sehr, dass die Bundesregierung hier eine, wie nen Schritten die Mischzuständigkeiten und die daraus wir finden, sehr gute Grundlage geschaffen hat. resultierenden Mischfinanzierungen aufzudröseln. Wenn Herr Bietmann, es passt irgendwie nicht ganz zusam- wir aber sofort beim nächsten Gesetz in den alten Fehler men, wenn man am Anfang sagt, durch die Gegenäuße- verfallen und Mischzuständigkeiten installieren, dann ist rung der Bundesregierung sei eine Wende zum Besseren das ein falscher Weg, den wir nicht mitgehen werden. erreicht, und das Ganze anschließend als Katastrophe (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Michaele bezeichnet. Ich finde, man sollte bei einer so wichtigen Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Entscheidung auch sprachlich ein bisschen abrüsten und etwas sauberer in der Argumentation sein. Siebtens. Herr Minister, es kann nicht sein, dass wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des das EnWG diskutieren, ohne die vier wichtigsten Ver- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ordnungen auf dem Tisch liegen zu haben. Das ist nicht akzeptabel. Es ist die Rede davon, dass es bis zu 20 oder Nur das eine oder das andere geht; beides passt nicht zu- 25 Verordnungen insgesamt geben wird. Niemand kennt sammen. derzeit die genaue Zahl. Um diesen Gesetzentwurf hin- sichtlich seiner inhaltlichen Ausrichtung und in Bezug Ich finde, dass das Angebot der Bundesregierung, auf seine rechtliche Klarheit wirklich beurteilen zu kön- möglichst offen und konsensual eine so entscheidende Frage wie die der künftigen Energiepolitik zu bearbei- (B) nen – diesen Punkt hat auch Herr Bietmann (D) angesprochen –, müssen wenigstens die vier wichtigsten ten, sehr gut ist, dass wir daher in der Sache diskutieren Verordnungen vorliegen. Ich hoffe, dass Sie hier Druck und keinen Popanz aufbauen sollten. machen und schnellstens Klarheit schaffen. Dazu gehört aus meiner Sicht auch folgende Frage (Beifall bei der FDP) – das erkläre ich noch einmal für die SPD –: Wir werden natürlich darauf dringen, dass es bei den Verordnungen Die FDP-Bundestagsfraktion wird den gesamten kein Ausweichen gibt, sondern dass das Parlament voll- Beratungsprozess in den nächsten Wochen kritisch und ständig einbezogen wird, notfalls auch durch eine Zu- konstruktiv verfolgen und begleiten. Wir haben Ihnen stimmung des Parlaments in Form eines Artikelgesetzes heute einen Antrag vorgelegt, in dem skizziert wird, in oder wie auch immer. Auf jeden Fall müssen die Verord- welche Richtung wir gehen möchten. Wir setzen darauf, nungen politisch abgesegnet werden. Das ist übrigens im dass Sie zügig, aber doch mit großer Sorgfalt die Bera- Interesse der Bundesregierung ebenso wie im Interesse tungen durchführen – wir haben schon in Kürze die erste der anschließenden Rechtssicherheit durch diese Verord- Anhörung – und dass wir recht bald diesen Prozess ab- nungen. schließen können. Eigentlich hätte diese Regulierung (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- schon am 1. Juli dieses Jahres in Kraft sein müssen. Wir SES 90/DIE GRÜNEN) sind also in Verzug. Insofern sehe ich auch darin kein zentrales Problem. Ich möchte noch einen Punkt erwähnen, der auch von Ganz im Gegenteil: Da sind wir auf einem guten Weg. einigen Kollegen angesprochen wurde. Die Ankündi- gungen von großen Energieunternehmen am Standort Man muss sagen – deswegen wäre ich mit Kritik et- Deutschland, die Preise zu erhöhen, werden derzeit vom was vorsichtig –, dass das, was wir heute korrigieren, Bundeskartellamt geprüft. Das Bundeskartellamt wird natürlich auch Ausdruck dessen ist, dass man im Ener- uns recht bald sagen, ob es der Meinung ist, dass die zu- giewirtschaftsgesetz von 1998 bewusst auf eine Wettbe- sätzlichen staatlichen Belastungen der Energiepreise, die werbs- bzw. Regulierungsbehörde verzichtet hat. Mich Sie als rot-grüne Bundesregierung verursacht haben, tat- wundern manche Aussagen von Leuten, die sich jetzt sächlich berechtigt sind. Dann wollen wir einmal sehen, ganz besonders für einen Regulator einsetzen, die man wie sich die Preisdebatte hier darstellt. Ich glaube, es hat aber in der Vergangenheit immer nur als Bremser erlebt viel Wind um wenig wirkliche Substanz gegeben. hat. Machen Sie Ihre Hausaufgaben! Sehen Sie zu, dass Bringen Sie also bitte nicht zu viel politischen Oppor- Sie den Verbrauchern und der Wirtschaft nicht immer tunismus ein! Vielmehr sollten wir jetzt gemeinsam ver- 12408 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Michael Müller (Düsseldorf) (A) suchen, eine vernünftige, sachgerechte Form der Regu- übertragen. Dies werden wir nicht akzeptieren, weil es (C) lierung zu finden. Denn Tatsache, Frau Kopp, ist auch, nicht in Ordnung ist. dass das, was nach 1998 passiert ist, mit Wettbewerb (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ teilweise wenig zu tun gehabt hat. Das war ein enormer DIE GRÜNEN) Verdrängungswettbewerb im Sinne einer unglaublichen Konzentration in Teilbereichen, aber nicht das, was man Meine Damen und Herren, wichtig ist im Hinblick auf unter einem vernünftigen funktionsfähigen Wettbewerb die Transparenz vor allem, dass etwas aufhört, was verstehen musste. Ganz im Gegenteil! schon heute ein großes Problem ist: dass vielfach nicht klar ist, ob in die Preisbildung für Strom die Kosten für (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Gudrun die Kraft-Wärme-Kopplung, für erneuerbare Energien Kopp [FDP]: Eon und Ruhrgas haben Sie fu- usw. eingerechnet werden. Wir verhehlen nicht, dass wir sionieren lassen! Das ist Verdrängung der Tat- bei manchen Unterschieden in der Strompreisbildung sachen!) den Eindruck haben, dass recht lasch operiert wird und Damals ist aus meiner Sicht das Fundament für einen Kosten eingerechnet werden, die dort eigentlich nicht hi- Teil der Probleme, die wir heute haben, gelegt worden; neingehören. Dies beenden wir aus gemeinsamem Inte- denn wir haben keinen vernünftigen Übergang von den resse; in diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, Gebietsmonopolen in einen funktionierenden Wettbe- dass die Änderung des EEG von einer sehr viel größeren werb geschaffen, sondern im Gegenteil eher einen Un- Mehrheit als der der Regierungsfraktionen beschlossen ternehmenswettbewerb initiiert. wird. Wir müssen diese Klarheit haben, damit bei der Preisbildung nicht getrickst wird. Damit wird auch etwas Die Wettbewerbsbehörde hat aus unserer Sicht an ers- beendet, was heute aus meiner Sicht nicht sauber ist: ter Stelle das Ziel, große Transparenz und mehr Sauber- dass man Kosten anlastet, bei denen zumindest ein Fra- keit in der Preisbildung zu schaffen. Natürlich muss vor gezeichen angebracht ist, ob sie gerechtfertigt sind. allem die Verbraucherseite gestärkt werden. Für uns gehört zu einer funktionierenden marktwirtschaftlichen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ordnung immer auch die Verbraucherseite. DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir halten es für außerordentlich richtig, dass es eine bundesstaatliche Regelung gibt. Teilweise war die Ex- Deshalb muss sie auch Rechte haben; sonst funktioniert ante-Forderung eine Forderung einiger Länder, die weni- das nicht. Das kann nicht nur das Recht auf Transparenz ger etwas mit der Ex-ante-Position selber als vielmehr sein. Wir finden es beispielsweise sehr interessant, wel- mit der Verlagerung der Zuständigkeit auf Landesebene che Modelle in Großbritannien existieren, zum Beispiel zu tun hatte. Wir halten eine solche Regelung für falsch; (B) (D) die so genannten Watchdogs. Wir schauen uns das an. denn wir brauchen gerade angesichts der Entwicklung Wir sagen zwar nicht, dass wir diese Modelle überneh- auf den Energiemärkten eine starke Bundesbehörde. men; aber man muss auch für solche Ansätze offen sein, Dies ist gewährleistet. Insoweit ist die bundesstaatliche die von vornherein – da hat die Kollegin Hustedt völlig Regelung für uns einer der unverzichtbaren Eckpunkte. Recht – mehr Seriosität und Kontrolle in den Prozess Bei dieser Regelung werden wir keine Veränderung vor- bringen. Es ist ja ein interessantes Phänomen, dass in all nehmen; auch wissen wir, wie wir sie im Zweifelsfall den Ländern, in denen es wie in Deutschland das Instru- durchsetzen können. ment der Verbandsklage gibt, die Zahl der Prozesse zu- rückgegangen ist, weil im Vorfeld viel solider und sorg- Regulierung und Wettbewerb allein machen noch fältiger abgewogen worden ist. Insofern sollte man keine keine Energiepolitik aus. Es wäre eine Illusion, zu glau- Angst vor der Demokratie haben. Im Gegenteil: Wir be- ben, dass wir mit einer Regulierung, die lediglich Preis- grüßen das. senkungsmechanismen im Auge hat, Energiepolitik ma- chen könnten, so wichtig dies auch ist. Einen Einer der wichtigen Punkte ist auch die Auseinander- Dumpingwettbewerb werden wir nicht mitmachen. Na- setzung um Ex-post- und Ex-ante-Regelungen. Unab- türlich müssen in den Preisbildungen auch Aspekte wie hängig davon, dass natürlich erhebliche Unterschiede im Umweltschutz, Versorgungssicherheit und frühzeitige Vorgehen bestehen, ist für uns trotzdem das Entschei- Innovationsfähigkeit enthalten sein. Von daher wird es dende, dass die Instrumente selbst sehr wirksam sind. Je- nicht nur einen Wettbewerb bei den Preisen nach unten der muss wissen – wir alle unterstützen das –, dass eine geben. Vielmehr müssen wir eine qualifizierte und nach- Ex-ante-Regelung natürlich nicht mit einer absolut haltige Energiepolitik betreiben, die ihren Preis hat. Es schlanken Verwaltung zu machen ist. Sie muss vielmehr geht uns um eine saubere Preisbildung, aber nicht da- entsprechend qualifiziert ausgerüstet werden – und das rum, dass Energie auf jeden Fall billig sein muss. Dies besonders dann, wenn sie schnell agieren soll. Eine Ex- widerspräche einer verantwortungsbewussten Energie- ante-Regelung bedeutet in der Konsequenz also auch politik. Wir werden alles tun, um Preiseffizienz zu errei- eine gewisse Weichenstellung für das Personal. Eine chen; aber es wird keine Billiger-Jakob-Lösung geben schlecht besetzte Regulierungsbehörde wird nicht aus- können. Dies gilt auch für die Wettbewerbsbehörde. reichen. Aus meiner Sicht passt es nicht zusammen, auf (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der einen Seite immer Steuersenkungen zu fordern und DIE GRÜNEN) auf der anderen Seite die Kosten solcher Aufgaben, die im Grunde genommen im Interesse sowohl der Allge- Meine Damen und Herren, das Dreistufenmodell, das meinheit als auch der Wirtschaft liegen, dem Staat zu jetzt entwickelt worden ist, ist aus unserer Sicht gut. Hier Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12409

Michael Müller (Düsseldorf) (A) wird im Übrigen, Frau Kopp, die Frage des Monitorings ob sich die Verfassungsklage, die Sie damals zur Erhal- (C) im Verfahren selbst gelöst. Die erste Stufe sieht vor, dass tung des kommunalen Monopols eingereicht haben, erle- Unternehmen, die die Preise bereits erhöht haben, von digt hat. Ich könnte Ihnen ein paar Sätze aus der Begrün- der Regulierungsbehörde mit besonderer Aufmerksam- dung des Gesetzentwurfes der SPD vorlesen, in denen es keit betrachtet werden. Im Zentrum der zweiten Stufe um die Finanzierung von Bädern, Kindergärten und Stra- soll eine Ex-ante-Prüfung stehen. Die dritte Stufe enthält ßenbahnen geht. Anreizmechanismen. Damit sind Prozesse ständigen (Gudrun Kopp [FDP]: So ist es!) Lernens und ständigen Monitorings gewährleistet, da wir eine Anreizregulierung nur erreichen werden, wenn Es ist nicht in Ordnung, sich jetzt zum Hüter des Wettbe- wir die Prozesse permanent auswerten, auf ihre Wirkun- werbs zu erklären, während die Verfassungsklage zum gen hin kontrollieren und effizienter machen. Insofern kommunalen Monopol immer noch in Karlsruhe liegt. ist Ihrer Forderung nach mehr Monitoring aus dem Pro- Erst im Frühjahr war wieder eine Anhörung. zess heraus Rechnung getragen. Dies ist auch einer der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- wesentlichen Punkte, warum wir in der Frage der Ver- wie bei der FDP) ordnungen offen sind. Als Parlament können wir immer dann Verbesserungen vornehmen, wenn es notwendig Aber vielleicht haben Sie das ja inzwischen zurückgezo- ist. gen. Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz werden Sie sprechen von kleinen und großen Verbrauchern, wir das nachvollziehen, was wir zugegebenermaßen frü- von Konzernen, Monopolisten und Oligarchen. Ich will her hätten tun können. Allerdings besteht hier kein An- Sie nur daran erinnern, dass diese Koalition die größte lass zu Rechthaberei. In der Vergangenheit wollten rela- Fusion in diesem Lande genehmigt hat, nämlich die von tiv wenige Mitglieder dieses Hauses eine Wettbewerbs- Eon und Ruhrgas. und Regulierungsbehörde haben; lange Zeit waren sie in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Minderheit. Dass wir jetzt diese Einigkeit erreichen, soll gar nicht im Nachhinein kritisiert werden. Es ist ein Sie sollten sich an dieser Stelle nicht allzu sehr als Kon- guter Schritt hin zu eine leistungsfähigen Energiepolitik, zentrationsverhinderer aufspielen. Das ist vollkommen die nicht nur ökonomisch, sondern auch ökologisch und unangemessen. technologiepolitisch für uns wichtig ist. Genauso unangemessen war es – das sage ich nicht Vielen Dank. nur in Richtung Koalition, sondern durchaus auch eini- gen Leuten aus unseren Reihen –, wie Herr Kurth vor ei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nem Jahr auf die Bühne sprang und sich als Regulierer (B) DIE GRÜNEN) vorstellte. In seiner letzten Pressekonferenz hat er ge- (D) sagt, die Erwartung, dass mit ihm die Preise sänken, sei Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: vollkommen falsch. Das ist ein Versuch, sich rechtzeitig Das Wort hat der Kollege Kurt-Dieter Grill, CDU/ dem politischen Druck zu entziehen, den eine Reihe von CSU-Fraktion. Menschen, die in diesem Lande politische Verantwor- tung tragen, dadurch erzeugt haben, dass sie aus dem Netzzugangsregulierer einen Preisregulierer und Preis- Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): genehmiger gemacht haben, jedenfalls verbal. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Müller, Sie haben den Kollegen Ich gebe zu, dass der Regulierer vielleicht schon frü- Bietmann aufgefordert, sprachlich abzurüsten. Frau her hätte eingesetzt werden können. Ich persönlich hatte Hustedt hat sich in geradezu absurde Formulierungen dazu eine andere Meinung; aber das ist eine andere verstiegen. Wenn Sie es für richtig halten, Solidarität Frage. Aber der Regulierer ist nur für ein Drittel des und Zusammenarbeit mit Koalition und Regierung ein- Energiepreises zuständig. zufordern, dann sollten Sie sich nicht gleichzeitig über (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: So ist es!) Sprache aufregen und mit Kritik an der Opposition alles andere als sparsam umgehen. Der Rest unterliegt nicht der Regulierung. 1998 haben wir als CDU/CSU-FDP-Koalition gegen (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Richtig!) den Widerstand der heutigen Koalition den neunten An- Erwecken Sie – das sage ich auch einigen aus unseren ei- lauf gemacht, aus den Monopolen auszubrechen. Die genen Reihen – doch draußen nicht den Eindruck, wir Monopole waren der Hauptgrund der Kritik der linken bräuchten nur einen Regulierer; dann sänken die Preise Seite. Wir haben mit der Einführung des Wettbewerbs ab morgen. sowohl auf europäischer Ebene wie in Deutschland Fak- ten geschaffen. Sie haben im Übrigen eine interessante Bemerkung dazu gemacht, was man alles bei den Preisen berück- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. sichtigen müsse. Ich könnte auch die Frage diskutieren, Gudrun Kopp [FDP]) ob sich nicht diejenigen zu Preishütern und Verbraucher- schützern machen, die – Frau Kopp hat das hier schon Wenn Sie von der SPD-Fraktion sich darüber unter- angesprochen – mit der Ökosteuer manche Preiserhö- halten, auf welcher Seite des Hauses die Befürworter des hung gewollt haben. Wettbewerbs gesessen haben, dann wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns heute Abend mitteilen würden, (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Richtig!) 12410 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Kurt-Dieter Grill (A) Sie sind doch diejenigen, die in der generellen politi- Ich sage das ausdrücklich, weil ich glaube, dass die (C) schen Debatte die Auffassung vertreten, Energie müsse Erfahrung zeigt – auch in der Debatte draußen wird das teurer werden, damit die Leute draußen Energie sparen. so gesehen –, dass aus Ihrem Haus – ich sage das jetzt Es sind doch nicht wir, die diese These vertreten. ohne Vorwurf; das ist manchmal das Wesen von Geset- zen – immer unterschiedliche Interpretationen zu dem, (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE was aufgeschrieben worden ist, kommen. Wir würden GRÜNEN]: Was haben Sie denn für eine schon gerne wissen, welche Interpretation denn am These?) Schluss gilt und was die Verordnungen wirklich bedeu- ten. Wir können die Wirkung des Gesetzestextes ohne Deswegen glaube ich, dass Sie in der Frage der Preise diese Interpretation nicht beurteilen. Von daher denke – so wie Frau Hustedt das hier dargestellt hat und so wie ich, dass wir uns in der Frage, wie wir mit den Verord- Sie das dargestellt haben – ganz vorsichtig sein sollten. nungen umgehen, verständigen sollten. Herr Müller, Sie haben Großbritannien angesprochen. Ich möchte noch gerne einen Hinweis auf die Debatte Wenn Sie sich die Entwicklung in Großbritannien ange- geben, die wir in Deutschland führen. Es ist geradezu ab- schaut haben, dann konnten Sie beobachten, dass das surd, dass wir wieder eine eher stromorientierte Debatte Nichtvorhandensein einer Öl-Gas-Preisbindung dazu ge- führen, obwohl dieses Gesetz auch für den Gasbereich führt hat, dass das Gas in Großbritannien mittlerweile gilt. Von außen betrachtet entsteht der Eindruck, dass wir 80 Prozent teurer ist als im letzten Jahr. Die britische Re- eigentlich nur über Elektrizität reden. Ich glaube daher, gulierungsbehörde Ofgem konnte diesen Preisanstieg dass wir einen zweiten Punkt mit in die Debatte einbe- nicht mehr aufhalten. Sie hat am Anfang den Fehler ge- ziehen sollten. Hier sind Wettbewerb, Demokratie und macht, zu sagen: Niedrige Preise sind die richtige Regu- Transparenz mit der Verbandsklage begründet worden. lierung. Sie ist in den Fragen der Infrastruktur, des Sub- Ich will Ihnen einmal sagen: Das Unbundling ist als stanzerhalts und der Versorgungssicherheit gescheitert. wettbewerbsgestaltendes Element viel griffiger und viel Jetzt will die Ofgem offensichtlich einen europäischen deutlicher als das, was Sie mit der Verbandsklage über- Regulierer. Herr Minister, wir können sicherlich noch haupt erreichen können. Deswegen bedaure ich, dass wir lange über die Frage der Zuständigkeit von Bund und uns über die Frage des Unbundlings als wettbewerbsge- Ländern diskutieren. Wir wollen aber nicht – ich bitte staltendes Element nicht so ausgiebig unterhalten haben. Sie, dies in Brüssel rechtzeitig klar zu machen –, dass in Ich habe damit nicht gesagt – damit da kein falscher Ein- Brüssel ein europäischer Regulierer sitzt und die natio- druck entsteht –, man müsste das, was die EU macht, nalen Parlamente dann überhaupt nichts mehr zu sagen noch verschärfen. Ich sage nur: Die Bedeutung des Un- haben. bundlings für die Gestaltung des Wettbewerbs ist mir in (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Debatte draußen viel zu kurz gekommen. (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Ich will noch eine kritische Bemerkung machen. Sie der Abg. Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/ haben für sich in Anspruch genommen – von der Sache DIE GRÜNEN]) her kann man das auch –, ein komplexes und anspruchs- volles Gesetzeswerk vorzulegen. Wir als Opposition ha- Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Herr ben Anfang dieses Jahres aber erlebt, wie der Zeitplan Müller hat schon darauf hingewiesen, dass in Preisen der Europäischen Kommission für den Emissionshandel auch die Ausgaben für Forschung und Entwicklung be- sklavisch umgesetzt wurde, unter Vernachlässigung des inhaltet sein müssen. Da kann ich Ihnen zustimmen. Rechts des Parlaments auf eine geordnete Beratung des Aber wir regulieren nur das Netz, nicht die Forschungs- Emissionshandels. Das Gesetz zum Emissionshandel ausgaben. war für die Frage der Energiepreise in Deutschland min- destens so wichtig wie das, was Sie jetzt vorlegen. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Ja, das ist klar!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich habe heute in der „Zeit“ etwas gefunden, was die Damals haben Sie unsere Mitspracherechte beschnit- Koalition, zumindest aber die Grünen, unglaublich ten. glaubwürdig macht; denn Sie haben in den letzten Wo- chen einen bestimmten Eindruck erweckt. Meine Mit- Deswegen denke ich, dass wir die Verordnungen streiterin Michaele Hustedt hat auf einer Veranstaltung vorgelegt bekommen sollten, und zwar mit den mögli- gesagt, dass die Energiepreise um 25 Prozent sinken cherweise bestehenden Einwendungen. Wir können werden. nicht noch einmal von uns aus die Verordnungen den gleichen Anhörungen unterziehen, wie Sie das jetzt im (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ministerium machen; das kann ein Parlament im Grunde NEN]: Quatsch!) genommen nicht leisten. Wir sollten uns also über ein – Das war im Juni letzten Jahres auf dem EBC, wo wir Verfahren verständigen, wie die Fraktionen den Entwurf zusammen mit Rolf Hempelmann waren. Dort haben Sie der Verordnungen mit den wichtigsten Einwendungen das stolz angekündigt. bekommen, damit wir Ihren Meinungsbildungsprozess nachvollziehen können. (Lachen des Abg. Rolf Hempelmann [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir waren unabhängig voneinander eingeladen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12411

Kurt-Dieter Grill (A) Als ich heute die „Zeit“ vom 28. Oktober dieses Jah- nen wir die Experten konsultieren. Ich glaube, das Hin- (C) res zur Hand genommen habe, habe ich gesehen, dass zuziehen von Sachverstand hat einer Sache noch nie diejenigen, die hier darüber reden, dass die Position des geschadet. Ich möchte Sie bitten, in Zukunft genauer zu Verbrauchers gestärkt werden muss und dass mit Blick lesen und keine Unwahrheiten zu verbreiten. auf den Standort Deutschland die Preise gesenkt werden Danke schön. müssen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Wer Zuruf von der CDU/CSU: Da merkt man doch denn?) sofort, wohin die Reise gehen soll!) gemeinsam mit prominenten Beteiligten wie Herrn Loske und Herrn Bütikofer den Plan verfolgen, die Steu- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ern auf Heizöl jährlich um 2 Cent pro Liter und die Steu- Herr Kollege Grill, Sie können antworten. ern auf Kraftstoffe um 3 bis 5 Cent pro Liter zu erhöhen. ( [SPD]: Sie müssen sich nur (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das ist ja entschuldigen!) unerhört!) Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich weiß Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. nicht, wofür ich mich entschuldigen muss. (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Aber das (Ludwig Stiegler [SPD]: Wegen falscher An- ist jetzt wichtig!) schuldigung! – Gegenruf des Abg. Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Oh, das ist ja eine Straftat!) Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Ja, Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Herr Kollege Stiegler, ich kann nur sagen, was hier steht. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Meine Damen und Herren von den Grünen, ich will Ihnen nur eines sagen: Sich hier zum Hüter des Verbrau- (Ludwig Stiegler [SPD]: Falsche Anschuldi- chers und zum Anwalt des kleinen Mannes zu machen gungen und üble Nachrede!) und gleichzeitig die nächste Erhöhung der Ökosteuer zu – Wenn Sie meine Äußerungen als falsche Anschuldi- planen, das ist an Chuzpe nicht mehr zu überbieten. gungen und üble Nachrede betrachten, dann weiß ich Herzlichen Dank. nicht, was ich zu manchen Ihrer Äußerungen in der Ver- (B) gangenheit sagen soll. Das sollten wir lieber lassen. (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich werde nie versuchen, Sie zu überbieten, was falsche Ich gebe dem Kollegen Loske das Wort zu einer Anschuldigungen betrifft. Das können Sie mir glauben. Kurzintervention. Herr Kollege Loske, zwei Bemerkungen zu Ihnen. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das ist Erstens. Ich habe das vorgelesen, was hier geschrieben doch überflüssig!) steht: dass Sie offensichtlich einen solchen Plan verfol- gen. Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE NEN): GRÜNEN]: Das steht doch da gar nicht! Es Eigentlich ist es überflüssig, zumal ich Ihrer Rede werden sich noch die Balken biegen, weil Sie nicht gefolgt bin. Aber die Wahrheit sollte schon auf den so lügen! Lesen Sie das doch mal vor!) Tisch. Die Wahrheit ist, dass wir im Koalitionsvertrag – Ich weiß, was hier steht. vereinbart haben, im Jahre 2004 zu überprüfen, wie wir die ökologische Steuerreform weiterentwickeln. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Zuruf von der CDU/CSU: Sie wollen Erhö- Das Wort hat der Kollege Grill. hungen!) Zu diesem Zweck ziehen wir jetzt den bundesweit ver- Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): fügbaren Sachverstand zusammen und besprechen die- Herr Kollege, es ist nett, dass Sie sich so aufregen. ses Vorhaben mit Experten. Ansonsten haben wir über- Zweitens. Lieber Herr Loske, so, wie Sie in der Ver- haupt keine Festlegungen getroffen. Herr Grill gangenheit argumentiert haben, bleibt nur der Schluss, verwechselt da wieder etwas, weil er nicht genau hin- dass Sie die nächste Erhöhung der Ökosteuer planen. guckt. Genau das ist der Punkt. Was die Energiepreise betrifft, haben Sie keinerlei Glaubwürdigkeit mehr zu verlieren; In dem Artikel, den auch ich eben erst gelesen habe, denn durch Ihre Steuererhöhungen sind die Energie- wird darauf hingewiesen, dass der Förderverein Ökolo- preise gestiegen. Sie haben Ihre Glaubwürdigkeit auf gische Steuerreform seinerseits ein Konzept vorgelegt diesem Gebiet längst verloren. hat. Vertreter des Fördervereins Ökologische Steuerre- form sind natürlich auch bei den Treffen zu Gast, auf de- (Beifall der Abg. Gudrun Kopp [FDP]) 12412 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Kurt-Dieter Grill (A) Sie haben den Eindruck erweckt, dass Sie sich im In- sorts der Bundesregierung auf eine Entgegnung auf den (C) teresse der Verbraucher für Preissenkungen einsetzen. Bundesrat und auch auf die beiden Stromverordnungen Sie sind aber diejenigen, die jede Steuererhöhung durch- verständigt haben. drücken, um, angeblich im Interesse des Umweltschut- zes und des Energiesparens, die Energiepreise nach oben Ich denke, die Zusage des Bundeswirtschaftsminis- zu treiben. ters ist hier heute verstanden worden: dass wir zügig mit den Gasverordnungen rechnen können. Nehmen Sie von (Ludwig Stiegler [SPD]: Das sind falsche Tat- der Opposition einfach zur Kenntnis, was Michael sachenbehauptungen! – Weiterer Zuruf von Müller gesagt hat: Wir legen Wert darauf – übrigens der SPD: Sie lügen ja schon wieder!) haben wir den Minister diesbezüglich schon angeschrie- ben –, dass wir als Bundestag diese Verordnungen nicht Das ist die Wahrheit. nur rechtzeitig zu sehen bekommen, sondern dass sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. letztlich unserer Zustimmung unterliegen. Eine Variante Gudrun Kopp [FDP]) wäre das Artikelgesetz, das Michael Müller als Möglich- keit in den Raum gestellt hat. Wir haben da gemeinsame Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Interessen und deswegen sollten wir Unterschiedlichkei- Nächster Redner ist der Kollege Rolf Hempelmann, ten nicht an Stellen provozieren, wo sie überhaupt nicht SPD-Fraktion. bestehen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Jawohl!) Meine Damen und Herren, drei Dinge sind es, auf die Rolf Hempelmann (SPD): man sich geeinigt hat, und in allen drei Dingen ist man Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnen und Kolle- damit Positionen des Bundesrates entgegengekommen. gen! Lieber Kurt-Dieter Grill, dein Auftritt eben hat Das Erste ist die Frage, wie diejenigen Erhöhungen zu mich an unsere besten Zeiten in der Enquete-Kommis- behandeln sind, die seit dem 1. August 2004 stattgefun- sion „Nachhaltige Energieversorgung“ erinnert: Kon- den haben bzw. bis In-Kraft-Treten des Gesetzes stattfin- fliktvermeidungsstrategie war nie dein Ding. den werden. Da soll es ein nachträgliches Miss- brauchsverfahren geben. Meine herzliche Bitte ist nur, (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das war eine dass man darauf achtet, es so auszugestalten, dass mög- gute Rede!) lichst wenig Doppelprüfungen stattfinden, für die der Das ist auch in Ordnung so. Aber ich muss ganz ehrlich Verbraucher letztlich wenig Verständnis haben wird; sagen: Deine Erinnerung an 1998 mag ja noch begründ- denn auch so etwas produziert Kosten. Ich denke, da- (B) (D) bar sein mit Verklärungstendenzen, die gelegentlich auf- rüber können wir uns relativ leicht einigen. treten können, wenn man weiter in die Vergangenheit Das Zweite ist eine umfassende Ex-ante-Kontrolle zurückblickt. Aber wenn du auch bei dem Jahr 2003 Er- aller künftigen Netzentgelterhöhungen. Das war ein aus- innerungslücken hast, dann wird das doch langsam pro- drücklicher Wunsch des Bundesrates, auch von Ländern blematisch. Ich habe nie behauptet, dass Preissenkungs- mit FDP-Regierungsbeteiligung, Frau Kopp; insofern spielräume in diesen Größenordnungen gegeben seien, sollte man auch das nicht zum Streitpunkt machen. im Gegenteil. Wichtig ist natürlich, dass man diese Kontrollen so aus- (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Das habe ich gestaltet, dass sie letztlich nicht Personalanforderungen gar nicht behauptet! Du hast mir nicht zuge- mit sich bringen, die wir uns bei einer schlanken Be- hört!) hörde nicht wünschen, dass die Genehmigungsverfahren aber trotzdem zügig abgearbeitet werden können. Klar Ich bitte dich, meine letzte Plenarrede nachzulesen; ist aber auch – das muss der Bundesrat dann schon ak- das war anlässlich der angekündigten Strompreiserhö- zeptieren –: Das wird natürlich nicht zu weniger Perso- hungen und der sehr emotionalisierten öffentlichen De- nal führen, als nach den bisherigen Planungen vorgese- batte. Darin habe ich nämlich sehr deutlich gemacht, hen ist. Wer ex ante will und wer jetzt ex ante bekommt, dass mit Preissenkungen in diesen Größenordnungen der muss auch akzeptieren, dass das einen gewissen Per- nicht zu rechnen ist, weil die Netzentgelte eben nur ein sonalaufwand impliziert. Drittel des Gesamtpreises ausmachen und es andere Kostenfaktoren gibt – zum Beispiel bei der Erzeugung, Das Dritte, auf das man sich verständigt hat, ist die bei den Primärenergiekosten und beim Bau neuer Kraft- Anreizregulierung. Das ist eigentlich das, worüber wir werke –, die dafür sprechen, dass es eher Preiserhöhun- uns in nächster Zeit ganz besonders unterhalten sollten, gen geben wird und wir diese durch entsprechendes auch wenn klar ist, dass diese Anreizregulierung erst Vorgehen bei den Netzentgelten bestenfalls teilkompen- zwei Jahre nach In-Kraft-Treten dieses Gesetzes greifen sieren können; da sollte man der Wahrheit durchaus wei- soll. terhin die Ehre geben. Ich glaube, wir müssen uns jetzt darum kümmern, Ansonsten möchte ich eigentlich positiv beginnen dass der Regulierer einen sehr klaren und präzisierten – so hatte ich mir das jedenfalls vorgenommen – und erst Auftrag mit auf den Weg bekommt, aus dem hervorgeht, einmal deutlich machen, dass ich mich freue, dass sich wie wir uns diese Anreizregulierung grundsätzlich vor- nach – man darf sagen – durchaus schwierigen Verhand- stellen und insbesondere welche Ziele wir mit einer An- lungen in einer nun einmal wichtigen Materie die Res- reizregulierung verbinden. Es muss klar sein, dass Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12413

Rolf Hempelmann (A) Anreize nicht nur gesetzt werden können, damit Kosten mir gestern jedenfalls den Eindruck vermittelt, dass auch (C) und am Ende dann eben auch Preise, also Netznutzungs- auf Ihrer Seite ein Interesse vorhanden ist. entgelte, gesenkt werden. Genauso klar muss sein, dass wir die Anreize durchaus auch wollen, damit weiterhin Wenn wir es schaffen, das Verfahren im Deutschen Investitionen getätigt werden. Das sind nun einmal auch Bundestag in diesem Jahr abzuschließen, und wenn wir Kosten. Wenn die Anreize falsch gesetzt werden, dann gleichzeitig den Dialog mit den Ländern – natürlich auch werden auch diese Kosten gestrichen. Das kann natür- über die Bundesregierung – vorantragen, dann haben wir lich überhaupt nicht unsere Intention sein. Das heißt, der möglicherweise die Chance, das In-Kraft-Treten sehr Regulierer hat in diesem Zusammenhang natürlich auch früh im nächsten Jahr zu erreichen. Das sollte unser Ziel Qualitätskriterien zu entwickeln, die künftig an die sein; daran sollten wir arbeiten. Netze und an die Netzbetreiber zu stellen sind. Vielen Dank. Liebe Kolleginnen und Kollegen, vieles ist gesagt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ worden. Klar ist, dass wir nicht den naiven Glauben ha- DIE GRÜNEN) ben sollten, als sei, wenn die Anreizregulierung beginnt, all das, was wir vorher entwickelt haben, also die Ex- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: post-Missbrauchsaufsicht auf der Basis von klaren Kos- Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Paziorek, CDU/ tenkalkulationsprinzipien und die Ex-ante-Preisgeneh- CSU-Fraktion. migungen, über Bord geworfen. Es wird sehr genau da- rauf ankommen, diese einzelnen Instrumente sauber aufeinander abzustimmen. Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich wird es relativ gesehen weniger Miss- Meine Damen und Herren! Die erste Lesung eines sol- brauchsverfahren geben. Sie werden sich eher auf den chen Gesetzes dient natürlich auch dazu, Gegensätze Netzzugang und nicht so sehr auf die Netzentgelte bezie- aufzuzeigen, die im Beratungsgang abgearbeitet werden hen. Es wird natürlich auch weniger Ex-ante-Preisge- müssen. Das, was streitig ist, muss genannt werden. Ich nehmigungen geben, wenn eine Anreizregelung grund- halte auch den Hinweis, den Frau Kopp und Prof. sätzlich funktioniert. Es ist aber nicht auszuschließen, Bietmann gebracht haben und der von Kurt-Dieter Grill dass sich diese Instrumente auch dann noch gegenseitig unterstützt wurde, für richtig: Man muss überlegen, wel- ergänzen müssen. Deswegen werden wir darüber nach- che Unterlagen man braucht, um dieses Gesetz umfas- denken müssen, wie dieser Instrumentenkasten insge- send beurteilen zu können. Welcher Kanon, welcher samt aufeinander abzustimmen ist und wie – ich wieder- Kernbestand an Verordnungen, muss also vorgelegt wer- (B) hole diesen Punkt – die Investitionen in diesem den, damit man dieses ganze Gesetzeswerk beurteilen (D) Zusammenhang vernünftig eingebettet werden können. kann? Das muss neben der Frage, welchen Zeitraum sich der Kollege Hempelmann vorstellt, selbstverständlich Bundeseinheitliche Regulierung: Das muss zu- abgearbeitet werden. nächst ja keine Bundesregulierung bedeuten. In einem Bundesstaat mit 16 Einzelstaaten und dem Bund ist das Ich will die Gelegenheit nutzen, als letzter Debatten- aber doch eine logische Konsequenz, insbesondere dann, redner nicht nur auf die Streitpunkte einzugehen, die wenn wir dem Regulierer künftig zunehmend Entschei- viele Kolleginnen und Kollegen vorher gut und richtig dungsspielräume zuwachsen lassen wollen. Das ist das herausgearbeitet haben. Vielmehr will ich einerseits das eigentlich inhaltliche Argument. Wenn wir einen starken Verbindende darstellen, andererseits aber auch deutlich Regulierer haben wollen und wenn wir wollen, dass der machen, dass wir einen Aspekt nicht unberücksichtigt Regulierer Entscheidungsspielräume bekommt, dann lassen dürfen, nämlich den Umweltschutz. Der Umwelt- können wir nicht mehr über 17 Regulierer nachdenken, schutz hat mit diesem Thema eine gemeinsame Schnitt- dann kann es nur noch diesen einzigen geben. Das sage menge. In den noch anstehenden Beratungen müssen wir ich als jemand, der aus dem gleichen Bundesland wie auch diesen Gesichtspunkt berücksichtigen. Wolfgang Clement kommt, nämlich aus Nordrhein- (Beifall der Abg. Kerstin Andreae [BÜND- Westfalen, wohl wissend, dass es dort durchaus auch an- NIS 90/DIE GRÜNEN]) dere Überlegungen gibt. Ich denke aber, dass wir das den Ländern sagen müssen. Wir brauchen eine Instanz, die Was ist der Kernpunkt unserer Aufgabe? Wir müssen diese Regulierung bundeseinheitlich übernimmt. die Chance wahrnehmen, die Defizite auf dem Energie- markt, die wir in Deutschland unbestritten haben, zu (Gudrun Kopp [FDP]: Das stimmt!) beheben und den gesetzlichen Rahmen für eine wirt- schaftliche, verlässliche und umweltfreundliche Energie- Wenn die Länder hier Kompetenzen erwarten, dann versorgung zu schaffen. muss man ganz klar sagen: Es können jedenfalls keine Entscheidungskompetenzen sein. An dieser Stelle kann man durchaus als positives Si- gnal verstehen – das will ich auch gerne erwähnen, Frau Meine Damen und Herren und insbesondere liebe Hustedt; das begrüßen wir –, dass die Bundesregierung Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wir alle gestern im Kabinett eine Neupositionierung zur Neure- haben eine konstruktive Zusammenarbeit in den nächs- gelung des Energiewirtschaftsrechts vorgenommen hat. ten Wochen und Monaten angeboten. Das erste Bericht- Herr Minister, damit bauen Sie eine Brücke. Diese Neu- erstattergespräch zur Vorbereitung der Anhörungen hat positionierung ist zwar aus unserer Sicht noch nicht so 12414 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Dr. Peter Paziorek (A) weit, wie dies vielleicht notwendig wäre. Aber man Aber umgekehrt – ich gebe zu, dass wir diese Position (C) muss am Ende einer solchen Debatte durchaus konzedie- als Opposition immer vertreten haben –: Wenn ein Ener- ren, dass dies ein Schritt in die richtige Richtung ist und giekonzept in Deutschland fehlt, macht es dann nicht dass man die Chancen, die sich auf diesem Weg ergeben, Sinn, das Ziel der Energieeffizienz politisch zu stärken nutzen muss. und es daher an einer Stelle gesetzgeberisch zu veran- kern? Deshalb frage ich: Kann es nicht vielleicht sinn- Dass es hierzu unterschiedliche Positionen gibt, ist voll sein, darüber nachzudenken, den Grundsatz der klar und deutlich. Die Möglichkeit, dass wir zu einer Energieeffizienz ausdrücklich zu verankern? Nur eine vernünftigen Lösung kommen, besteht. Da es in Deutschland leider an einem Energiekonzept fehlt, muss effiziente Energieversorgung ist auch langfristig ein in diesem Hause das Ziel herausgearbeitet werden, dass wirtschaftlicher, verlässlicher und umweltfreundlicher wir eine sichere, bezahlbare und umweltverträgliche Beitrag zum Klimaschutz. Energieversorgung wollen. (Beifall der Abg. Elke Wülfing [CDU/CSU] Ich komme zu dem ersten Punkt, der vorhin streitig diskutiert worden ist: Muss das Ziel der Verbraucher- Das dritte Ziel, das heute hier mehrheitlich Unterstüt- freundlichkeit besonders erwähnt werden? Der Bundes- zung gefunden hat – das müssen auch die Umweltpoliti- rat – durch meine Partei ist er maßgeblich parteipolitisch ker zugeben; ich tue das gerne –, ist die Schaffung von bestimmt – ist der Ansicht, dass man diesen Punkt strei- mehr Wettbewerb im Energiebereich. Es gilt eine Wett- chen könnte. Ich persönlich habe als umweltpolitischer bewerbsordnung zu schaffen, die eine kostengünstige, Sprecher unserer Fraktion keine Bedenken, den Ge- sichere, effiziente und umweltverträgliche Energiever- sichtspunkt der Verbraucherfreundlichkeit als Zielvor- sorgung für alle Marktteilnehmer langfristig ermöglicht stellung zu unterstreichen. Die Stromkennzeichnung ist und gleichzeitig sicherstellt, dass neue Anbieter eine dann die logische Konsequenz dieser Verbraucher- Chance auf dem Markt haben. freundlichkeit. Jemand wie ich, der durchaus dafür ist, dass man die Kernenergie für die Stromproduktion fried- Kurt-Dieter Grill hat gerade darauf hingewiesen, dass lich nutzt, hat überhaupt keine Bedenken, die Strom- es vor allen Dingen um die Frage des Marktzuganges kennzeichnung auch auszuweisen. zum Netzbereich geht, dass damit aber nicht alle Pro- bleme umfassend gelöst werden können. Wenn wir aber Umgekehrt stellt sich die spannende Frage: Wie weit schon nicht die Frage des Netzzugangs lösen können, gehen wir bei der Verbraucherfreundlichkeit? Wird dann sind alle weiteren Äußerungen zum Wettbewerb damit auch automatisch ein Verbandsklagerecht er- vergeblich und verschüttete Milch. Aus diesem Grunde möglicht? Ich gehöre in unserer Fraktion zu den Um- stellt sich die Frage: Wie können wir eine Regulierung (B) weltpolitikern, die nicht von vornherein gegen ein Ver- definieren, die den Wettbewerb stärkt und für einen dis- (D) bandsklagerecht sind. Ich habe beim Naturschutzgesetz kriminierungsfreien und transparenten Netzzugang dazu eine differenzierte Meinung gehabt. Wenn es zu ei- sorgt? nem Verbandsklagerecht käme, dann stellen Sie sich ein- mal den Druck auf die Verbraucherverbände vor Ort vor. Es ist die Frage angesprochen worden – die müssen Das kann dazu führen, dass Verbraucherverbände bei je- wir auch in den Beratungen im Wirtschafts- sowie im der angedachten Preiserhöhung den Klageweg beschrei- Umweltausschuss berücksichtigen –, welche wettbe- ten müssen. werbsgerechten Rahmenbedingungen wir für die örtli- chen kleineren Stromversorger schaffen, die ihre Chan- (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Quatsch!) cen auf dem Markt behalten müssen. Ich war selbst lange genug Stadtdirektor und habe Verhandlungen mit Würden wir den Verbraucherverbänden damit nicht eine großen Unternehmen über die Frage mitbekommen, wie Möglichkeit eröffnen, die sich langfristig als ein Nach- die Stadtwerke rentabler arbeiten können. Ich halte seit teil erweisen könnte? Darüber müssen wir diskutieren, dieser Zeit gar nichts von dem Argument, dass Stadt- auch wenn man der Aufnahme der Verbraucherfreund- werke vorhanden sein müssten, um Quersubventionen lichkeit in die Zielvorstellung positiv gegenübersteht. zu ermöglichen. Das kann nicht das Argument sein. Der zweite Punkt, der im Rahmen der Zielvorstellun- Wir müssen aber darüber nachdenken, ob wir mit un- gen diskutiert werden könnte, ist die Energieeffizienz. serer Politik neben den Interessen der großen vier Ener- Die Energieeffizienz entscheidet wesentlich darüber mit, gieversorger in Deutschland auch noch andere berück- wie wir die Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts sichtigen wollen. Viele örtliche kleinere Stromversorger, Deutschland bewältigen können. bei denen keine Mischfinanzierung oder Quersubventio- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: So ist es!) nierung stattfindet, haben es geschafft, viele Initiativen, auch im Bereich des Umweltschutzes, zu ergreifen. Ich Aber ich weiß natürlich, dass es durchaus methodisch erinnere an den Einsatz der ersten Blockheizkraftwerke berechtigte Bedenken gibt, die Energieeffizienz als Ziel- bis hin zu den Biogasanlagen. All das haben sie positiv vorstellung ausdrücklich auszuweisen; denn die Energie- betrieben. Das müssen wir natürlich berücksichtigen. effizienz ist methodisch automatisch ein Bestandteil der Wir müssen auch die Interessenlage solcher kleinerer Ziele Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit. Stromversorger sehen. Man kann natürlich darüber nachdenken, ob diese bei- den Begriffe die Energieeffizienz umfassend berücksich- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Einver- tigen. standen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12415

Dr. Peter Paziorek (A) Es wird unsere Aufgabe sein, diesen Aspekt bei den Be- einen sinnvollen Netzausbau zu ermöglichen; denn In- (C) ratungen nicht zu vernachlässigen. Wir müssen die posi- vestoren müssen die Chance haben, Investitionen in ei- tive Rolle der örtlichen Stromversorger sehen. Das halte nem belastbaren Rahmen anzugehen. ich für ganz wichtig. (Beifall bei der CDU/CSU) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Einver- standen!) Diese Schritte fehlen uns und deshalb sagen wir: Wir müssen noch einmal versuchen, eine Verzahnung zwi- Der nächste Gesichtspunkt: Wir müssen auch Sorge schen diesen Bereichen zu ermöglichen. Das ist ein dafür tragen, dass im Rahmen dieses Gesetzes die Punkt, über den heute nicht diskutiert worden ist, den ich Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die aber als Beitrag zur ersten Beratung des Gesetzentwurfs Energienetze langfristig leistungsfähig bleiben; ansprechen wollte. (Beifall des Abg. Kurt-Dieter Grill [CDU/ Zusammengefasst bleibt festzuhalten: Ich sehe Chan- CSU]) cen, dass sich Regierung und Opposition aufeinander zu- bewegen. Wir gestehen zu, dass Sie den ersten Schritt denn eine verlässliche Energieversorgung ist ein ganz vollzogen haben. Betrachten Sie unsere Kritikpunkte als wichtiger Standortfaktor. Das ist entscheidend. Die einen Hinweis darauf, dass in den Beratungen eine posi- Netze müssen verlässlich bleiben. tive Lösung zu diesen Fragen gefunden werden muss. (Ludwig Stiegler [SPD]: Das steht schon Davon wird es abhängen, ob wir das Gesetz gemeinsam in § 1!) verabschieden können. Die Bereitschaft ist vorhanden. Jetzt müssen die Beratungen zeigen, ob wir diese – Ja, natürlich. Ich will nur ausformulieren, wo Pro- Chance gemeinsam nutzen können. bleme stecken könnten. Ich stimme Ihnen, Herr Stiegler, zu. Ich habe auch § 1 gelesen. Probleme werfen die wei- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. teren Paragraphen auf, auch bezüglich des Einsatzes der (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. erneuerbaren Energien. Rolf Hempelmann [SPD] – Ludwig Stiegler Die erneuerbaren Energien leisten – das ist unbestrit- [SPD]: Herr Kollege, das war doch was!) ten – viel. Das ist von Herrn Müller gesagt worden und ist die gemeinsame Position hier im Hause. Es gilt die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gemeinsame Zielvorstellung aller Fraktionen, den Anteil Ich schließe die Aussprache. der erneuerbaren Energien an der Gesamtstromerzeu- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen (B) gung auf 12,5 Prozent zu erhöhen. Aber man muss auch (D) die Probleme sehen, die wir bei den erneuerbaren Ener- auf den Drucksachen 15/3917, 15/3998, 15/3923 und gien haben. Die entsprechenden Regelungen beispiels- 15/4069 an die in der Tagesordnung aufgeführten weise zur Windenergie stehen im EEG. Aber wenn wir Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache die erneuerbaren Energien fördern sollen, dann müssen 15/4037 soll federführend an den Ausschuss für Wirt- die Stromerzeuger im Bereich der erneuerbaren Ener- schaft und Arbeit und zur Mitberatung an den Innenaus- gien, also auch der Windenergie, die Konsequenz tragen schuss, den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernäh- und ihren Beitrag zur Stabilisierung des Netzes leisten. rung und Landwirtschaft, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und an den Aus- Das betrifft zum Beispiel die Frage, wann die Anla- schuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union gen abgeschaltet werden, wenn plötzlich zu viel einge- überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – speist wird. Dazu reichen die Regelungen des EEG viel- Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- leicht nicht aus. Wir müssen uns Gedanken machen, ob schlossen. wir hier eventuell einen Ansatzpunkt haben, über die vertraglichen Regelungen hinauszugehen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: Ich sage der rot-grünen Regierungsmehrheit aber Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- auch: Man spricht heute schon darüber, dass in fünf Jah- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes ren ein bestimmter Prozentsatz der Energie durch Off- zur Umsetzung der Richtlinie 2002/87/EG des shoreanlagen in der Nordsee produziert werden kann. Europäischen Parlaments und des Rates vom Ich weiß aber aus der Praxis, dass wir heute noch nicht 16. Dezember 2002 (Finanzkonglomeratericht- einmal wissen, wie wir die Leitungsprobleme dieser linie-Umsetzungsgesetz) dann in der Nordsee oder der Ostsee isoliert stehenden – Drucksache 15/3641 – Windparks und Windfarmen lösen. Es reicht nicht aus, (Erste Beratung 126. Sitzung) dass wir sie bauen; sie können nur dadurch finanziert werden, dass der Strom über Leitungen in das Netz ein- Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- gespeist wird. Deshalb muss man auch über unser Pla- schusses (7. Ausschuss) nungsrecht sprechen, das gerade im sensiblen Bereich – Drucksache 15/4049 – des Wattenmeers sehr strikt ist. Es gibt Planungszeiten von zehn bis 15 Jahren. Da stellt sich für mich die Frage, Berichterstattung: was wir tun können, um einen ordnungspolitischen Rah- Abgeordnete Dr. Hans-Ulrich Krüger men zu schaffen, damit wir nicht die Chance verpassen, Otto Bernhardt 12416 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Die Redner Dr. Hans-Ulrich Krüger, Otto Bernhardt, Dritte Beratung (C) Jutta Krüger-Jacob, Carl-Ludwig Thiele und die Par- lamentarische Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Wir kommen Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – deshalb zur Abstimmung über den von der Bundesregie- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- rung eingebrachten Entwurf eines Finanzkonglomerate- wurf ist damit mit den Stimmen der Koalition gegen die richtlinien-Umsetzungsgesetzes, Drucksache 15/3641. Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: fehlung auf Drucksache 15/4049, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver- men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage- einfachung und Vereinheitlichung der Verfah- gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in rensvorschriften zur Wahl und Berufung zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses ehrenamtlicher Richter angenommen. – Drucksache 15/411 – Dritte Beratung (Erste Beratung 31. Sitzung) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – schusses (6. Ausschuss) Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- wurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen des – Drucksache 15/4016 – ganzen Hauses angenommen. Berichterstattung: Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: Abgeordnete Joachim Stünker Ingo Wellenreuther Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Jerzy Montag regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Rainer Funke zur Umsetzung der EG-Richtlinie über die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungs- Die Redner Joachim Stünker, Ingo Wellenreuther, lärm Jerzy Montag, Rainer Funke und der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach haben ihre Reden zu – Drucksachen 15/3782, 15/3921 – Protokoll gegeben.3) Wir kommen deshalb zur Abstim- (Erste Beratung 129. Sitzung) mung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetz- (B) (D) entwurf zur Vereinfachung und Vereinheitlichung der Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Verfahrensvorschriften zur Wahl und Berufung ehren- ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- amtlicher Richter, Drucksache 15/411. Der Rechtsaus- heit (15. Ausschuss) schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf – Drucksache 15/4024 – Drucksache 15/4016, den Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Berichterstattung: dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen Abgeordnete Petra Bierwirth wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- Franz Obermeier haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be- Winfried Hermann ratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom- Michael Kauch men. Die Redner Petra Bierwirth, Franz Obermeier, Enak Dritte Beratung Ferlemann, Winfried Hermann und Michael Kauch ha- ben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2) Wir kommen und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem deshalb zur Abstimmung über den von der Bundesregie- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – rung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung der Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- EG-Richtlinie über die Bewertung und Bekämpfung von wurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen des Umgebungslärm, Drucksachen 15/3782 und 15/3921. ganzen Hauses angenommen. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Drucksache 15/4024, den Gesetzentwurf in der Aus- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen zur Umsetzung von EU-Richtlinien in nationa- wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – les Steuerrecht und zur Änderung anderer Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Vorschriften (Richtlinien-Umsetzungsgesetz – Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die EURLUmsG) Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. – Drucksachen 15/3677, 15/3789, 15/3922 – 1) Anlage 3 2) Anlage 4 3) Anlage 5 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12417

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- Leider genauso normal ist Ihre Aufregung, meine Da- (C) nanzausschusses (7. Ausschuss) men und Herren von der Opposition. Obwohl der Ge- setzentwurf schon seit September dieses Jahres in der – Drucksache 15/4050 – Pipeline ist, werfen Sie uns vor: zu kurzfristig, nicht Berichterstattung: lange und breit genug beraten. Diese Sprüche kennen Abgeordnete Lydia Westrich wir. Sie kennzeichnen nur Ihre mangelnde Bereitschaft, Georg Fahrenschon Verantwortung für diesen Staat zu übernehmen. b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Wir haben diesmal wirklich probiert, zu argumentieren – Drucksache 15/4065 – und Kompromisse zu schließen. Wir haben fast ge- glaubt, dass wir auf der fachlichen Ebene zueinander ge- Berichterstattung: langen. Aber Taktik scheint wieder einmal ein höheres Abgeordnete Steffen Kampeter Gut zu sein als das Wohl unserer Bürgerinnen und Bür- Walter Schöler ger. Das tut mir sehr Leid. Anja Hajduk Otto Fricke (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Es sind keine einfachen Vorschriften – unter anderem keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. betreffen sie die Zwischengewinnbesteuerung und die Mehrfachabführung aus vororganschaftlicher Zeit –, die Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- wir an dieses Gesetz angehängt haben; das will ich gerne gin Lydia Westrich, SPD-Fraktion. zugeben. Aber das Schließen von Steuerschlupflö- chern, in denen sich einige schon gemütlich auf Kosten Lydia Westrich (SPD): anderer Steuerzahlerinnen und Steuerzahler eingerichtet haben, ist immer mit Schmerzen und Protesten verbun- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! den. Schließlich soll Menschen etwas, an das sie sich ge- Zu später Stunde – sonst am Nachmittag oder im Laufe wöhnt haben bzw. das ihnen lieb geworden ist, wegge- des Abends – beraten wir wieder einmal die Steuerge- nommen werden, auch wenn es beispielsweise nur für setze. Mit dem Richtlinien-Umsetzungsgesetz kommen ein Jahr ist. Hier heißt es, standhaft zu bleiben. die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen ihrer Verpflichtung nach, verschiedene vom Rat der Europäi- Wenn Interessenvertreter schreiben, dass für sie fiska- (B) schen Union verabschiedete Richtlinien und andere lische Gründe bei der Änderung eines Gesetzes nicht (D) Rechtsakte bis zum 1. Januar 2005 in nationales Recht zählen, dann ist das aus ihrer Rolle heraus durchaus zu umzusetzen. Weiterhin haben wir nationale Rechtsvor- verstehen. Aber dass Sie, meine Damen und Herren von schriften an die europarechtliche Entwicklung anzupas- der Opposition – ich richte mich hier besonders an Herrn sen. Dazu einige Stichworte: Wir setzen die Fortent- Michelbach –, am gestrigen Mittwoch einen Tanz auf- wicklung der so genannten Mutter-Tochter-Richtlinie, führen, weil die Steuereinnahmen zusammenbrechen die Richtlinie betreffend Gas und Elektrizität, das EG- würden und weil der Haushalt angeblich nicht zu finan- Beitreibungsgesetz, die Richtlinie zur Harmonisierung zieren sei, und heute, einen Tag später, Gesetzesänderun- der Fahrzeugpapiere sowie Teile der 6. EG-Richtlinie, gen ablehnen, die Mindereinnahmen in Milliardenhöhe die die Umsatzsteuer betreffen, in nationales Recht um. verhindern, beweist Ihre mangelnde Regierungsfähig- Ein kleines Bonbon für Kulturschaffende ist dabei: Auch keit; das ist ganz klar. Solisten wird zukünftig der ermäßigte Steuersatz ge- währt. So weit, so gut. (Beifall bei der SPD) Das ist ein ganz unmöglicher Vorgang. Wir sind das im Wir reichern – the same procedure as every year – das Parlament leider schon gewöhnt. Aber dadurch wird es hoffentlich letzte Steuergesetz des Jahres 2004 mit der nicht besser. Mit Ihrer Ablehnung halten Sie Leuten die Regelung verschiedenster Vorgänge an, deren Rege- Stange, die nichts anderes im Sinn haben, als Profite auf lungsbedarf sich in den letzten Monaten ergeben hat, ob Kosten ehrlicher Steuerzahler zu machen. durch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes, des Bundesfinanzhofes, durch Entdeckung von unge- (Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt wird sie wollten Steuerschlupflöchern, Forderungen des Bundes- frech!) rates oder durch Wünsche von uns Parlamentariern. Frau Wülfing, das ist ein ganz normaler Vorgang, mit dem wir Dieses Verhalten zu belohnen bringt uns nicht nur um uns normalerweise immer kurz vor Weihnachten herum- Steuereinnahmen, sondern schwächt auch die Moral al- plagen. Diesmal sind wir etwas eher dran; denn wir wol- ler anderen noch willigen Steuerzahler und Steuerzahle- len ja Rechtssicherheit. Das ist das Mindeste, was die rinnen. Das ist viel schlimmer. Bürgerinnen und Bürger von uns in Ausübung der uns (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auferlegten Sorgfaltspflicht erwarten können. DIE GRÜNEN) (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Dann solltet ihr Verantwortliche Politik kann das nicht mitmachen. das auch so nennen! Das ist ein Steuerbereini- Wir, Rot-Grün, machen das auf keinen Fall mit. Nur, gungsgesetz!) weil wir als Koalitionsfraktionen so verantwortlich 12418 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Lydia Westrich (A) vorgehen, können wir Menschen helfen, zum Beispiel Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) den Gartenbaubetrieben mit ihren großen Flächen un- Nächster Redner ist der Kollege Georg Fahrenschon, ter Glas, indem wir die Gültigkeit der Regelungen, die CDU/CSU-Fraktion. ihnen kleine Vergünstigungen zur Erhaltung ihrer inter- nationalen Wettbewerbsfähigkeit sichern, hiermit um (Beifall bei der CDU/CSU) zwei Jahre verlängern, weil das Geld dazu vorhanden ist. Das tun wir mit diesem Gesetz. Georg Fahrenschon (CDU/CSU): (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Von wem Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und kam der Antrag?) Herren! Das eigentliche Ziel des EU-Richtlinien-Umset- zungsgesetzes ist – wie der Name schon sagt – die Um- – Das ist unser gemeinsamer Antrag. Das ist einer der setzung von EU-Richtlinien und anderer EU-Rechtsakte wenigen Punkte, auf die wir uns einigen konnten. Das ist in nationales Recht. ganz klar. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Eti- (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Ach so! Gut, kettenschwindel!) dass wir darüber gesprochen haben!) Ziel soll eigentlich sein, Hemmnisse im Unterneh- Aber wir hätten es nicht machen können – das wissen mensteuerrecht zu beseitigen. Der europäische Binnen- Sie genau, Herr Fahrenschon –, wenn wir Verlängerun- markt soll in Bezug auf das Steuerrecht reibungsloser gen an anderen Stellen nicht abgelehnt hätten. Man kann funktionieren. Das wäre eigentlich eine Chance für die das Geld der Steuerzahler nicht einfach so ausgeben. größte Volkswirtschaft in Europa mit 82 Millionen Men- Die ursprünglich geplanten Änderungen zum Steuer- schen in einem Binnenmarkt mit 450 Millionen Men- beratungsgesetz haben wir aus zwei Gründen wieder schen, die Grundlagen dafür zu legen, dass sich die deut- aus dem Paket herausgenommen: schen Unternehmer – durch ihr Steuerrecht unterstützt – durchsetzen können. Das wäre eine echte Chance. Diese Zum Ersten hat sich der zustimmungspflichtige Bun- hat Rot-Grün vertan. desrat bereits einstimmig dagegen ausgesprochen. Wir wissen, was das bedeutet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – [CDU/CSU]: Die vermurk- Zum Zweiten wird im nächsten Jahr ein eigenständi- sen alles!) ges Gesetzgebungsverfahren zur Änderung des Berufs- rechts notwendig. So können wir in aller Ruhe – ich Allein schon die Tatsache, dass Sie die Umsetzung dieses Steuerrechts mit Änderungen am Berufsrecht ver- (B) hoffe gemeinsam, Herr Müller – die notwendigen Erneu- (D) erungen des Steuerberatungsrechts aus einem Guss ma- binden, zeigt doch, wer hier taktisch spielt. Wenn Sie mit chen. einem Finger auf uns zeigen, zeigen die restlichen Fin- ger der Hand auf Sie, liebe Frau Kollegin Westrich. Ihr (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Warum stand es Gesetz ist ein Sammelsurium an Korrekturen, Detailre- dann erst drin?) gelungen und Kurzschlussreaktionen. Wir haben uns selbst verpflichtet, dieses Gesetz noch (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Wie immer!) im nächsten Jahr zu einem guten Ende zu bringen. Wenn wir dahinter stehen, wird uns das auch gelingen. Da- Nichts anderes versteckt sich dahinter. Eine einheitliche durch können wir die berufsrechtlichen Regelungen der Linie ist nicht zu erkennen, es sei denn, dass Sie Kasse Steuerberater mit den Regeln für Rechtsanwälte abstim- machen wollen. men und die EU-Richtlinie über die Anerkennung von Das EU-Richtlinien-Umsetzungsgesetz ist ein Omni- Berufsqualifikationen einbeziehen. Dieses Vorgehen ist bus, nur leider nimmt der rot-grüne Omnibus viele wesentlich erfolgversprechender für die Wünsche aller Dinge mit, die man besser stehen lassen sollte, und an- Beteiligten. dere befördert er in eine Richtung, in die sie nicht gehö- ren. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Stichwort Nr. 1: Sie schließen Steuerschlupflöcher, Frau Kollegin, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr. schießen aber weit über das Ziel hinaus. Durch viel zu weit reichende Eingriffe in geltendes Steuerrecht verur- Lydia Westrich (SPD): sacht die Bundesregierung erhebliche Kollateralschäden. In diesem Gesetzentwurf geht es nicht nur um Klei- Sie räumen beim Steuerrecht nicht auf; sie verschlimm- nigkeiten, sondern um drohende massive Einbrüche in bessern es auf dramatische Weise. Der Investitionsstand- die Steuerbasis von Bund, Ländern und Gemeinden. ort Deutschland wird durch eine solche Politik auch Wenn Sie es mit der Verantwortung für unser Land ernst noch massiv beschädigt. meinen, dann können Sie zu diesem Gesetzentwurf nicht Nein sagen. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das kann er auch gut gebrauchen!) Vielen Dank. Ein Beispiel muss man ganz deutlich herausarbeiten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Noch in der Debatte zum Investmentmodernisierungsge- DIE GRÜNEN) setz am 7. November des letzten Jahres lobte die Frau Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12419

Georg Fahrenschon (A) Staatssekretärin Barbara Hendricks das Erreichte: Es ist zur Verlustverrechnung von Organschaften zunächst ge- (C) uns gelungen, gemeinsam – ich zitiere – lockert, dann wieder mehrfach verschärft. Durch die jetzt vorgeschlagenen Änderungen im Körperschaftsteu- die Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes ergesetz belastet Rot-Grün die Unternehmen wieder in Deutschland zu fördern und einen attraktiven Markt Milliardenhöhe. Der Steuerstandort Deutschland wird auch für ausländische Anbieter von Investmentpro- durch solche Politik nicht attraktiver, sondern unattrakti- dukten zu schaffen. ver. Im internationalen Vergleich haben wir bereits heute Da hatte Frau Hendricks Recht. die höchste Steuerlast für Unternehmen. Die durch- schnittliche effektive Belastung der Unternehmer in der (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Europäischen Union liegt bei 29,4 Prozent. In Deutsch- Wir haben dieses Gesetz gemeinsam gemacht. land hingegen liegt die Belastung durch die Körper- schaft- und die Gewerbesteuer – damit müssen Sie sich Die vor einem Jahr im Zuge des Investmentmoderni- einmal genauer auseinander setzen – bei 37 Prozent. Das sierungsgesetzes abgeschaffte Zwischengewinnbesteu- ist der massivste aller Standortnachteile. erung bedeutet für Fondsgesellschaften und Anleger wirklich eine erhebliche Vereinfachung. Nur leider soll Was tun Sie dagegen? Sie entwickeln kein einheitli- diese Zwischengewinnbesteuerung nach nicht einmal ches Konzept, das die Standortbedingungen in zwölf Monaten jetzt wieder eingeführt werden. Deutschland verbessert oder sie zumindest mit denen in anderen Ländern vergleichbar macht. Stattdessen erhö- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: So ist das! Das ist hen Sie mit dem Richtlinien-Umsetzungsgesetz und den vielleicht Stringenz! – Hans Michelbach geplanten Änderungen die Belastung durch die Körper- [CDU/CSU]: Karussellpolitik!) schaftsteuer und die Gewerbesteuer noch zusätzlich. Die Logik dieser Politik ist niemandem klar. Sie ver- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das passt so rich- komplizieren das Steuerrecht dort wieder, wo wir gerade tig in die Landschaft!) gemeinsam eine Vereinfachung erreicht haben. Dafür gibt es nur ein Wort: Inkonsequenz. Wissen Sie, was das Ergebnis ist? Große, internatio- nal tätige Konzerne und insbesondere die Holdings ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – legen ihre Standorte ins Ausland. Die kleinen mittelstän- Hans Michelbach [CDU/CSU]: Und: Inkom- dischen Unternehmen gucken in die Röhre und machen petenz!) ganz leise, ganz ohne Schlagzeilen dicht. Da dürfen Sie Sie gehen sogar noch weiter. Durch die Ausweitung sich nicht wundern, wenn wir Arbeitsplätze verlieren. der Regelung, nach der pauschal 10 Prozent der Wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) bungskosten als nicht abzugsfähig gelten, machen Sie ei- (D) nem typisch deutschen Anlageinstrument, dem Spezial- Ich will hier noch nicht einmal auf die Fragestellun- fonds, über das Steuerrecht nun endgültig den Garaus. gen bezüglich der Mittelstandsfinanzierung und das ver- Damit schaden Sie dem Finanzplatz Deutschland. Sie heerende Ergebnis Ihrer Änderungen bezüglich der verspielen in diesem zentralen strategischen Bereich jeg- neuen Aufzeichnungspflichten eingehen, weil das zu liches Vertrauen in eine zuverlässige, langfristig ange- kompliziert ist. Aber ein Punkt ist mir noch wichtig. Wir legte Politik. sprechen in Sonntagsreden zwar immer darüber, dass wir ein verständlicheres Steuerrecht wollen, haben uns je- Stichwort Nr. 2 zu dem Omnibus unter Cheffahrer doch erneut die Chance entgehen lassen, tatsächlich for- : Die Unternehmensteuern – das müssen mal, sprachlich und grammatikalisch bessere Gesetze zu wir doch endlich erkennen – können wir nicht mehr al- machen. Es ist doch bitter, wenn die Fachleute in der lein national definieren. Wir müssen uns bei Diskussio- Anhörung den Vorwurf erheben, dass der Regierungsent- nen über die Reform deutscher Unternehmensteuern an wurf einfach nicht zu verstehen sei. europäischen Gesichtspunkten orientieren. Deutschland als stärkste Volkswirtschaft muss endlich eine aktivere (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die verstehen Rolle bei der Gestaltung des EU-Rechts spielen. Gerade das selber nicht!) im steuerlichen Bereich darf sich Deutschland nicht da- Die Union hat ja einen Formulierungsvorschlag zu rauf beschränken, nur zu reagieren und EuGH-Entschei- § 15 a Umsatzsteuergesetz gebracht, den ich gerne dungen abzuwarten. Wir warten darauf, dass die Bun- noch einmal zitieren möchte: desregierung endlich gezielte Vorstellungen für die Neuorientierung des deutschen Unternehmensteuer- Der ursprüngliche Vorsteuerabzug ist zu berichti- rechts einbringt und versucht, die Diskussion entschei- gen, wenn sich die dafür maßgebenden Verhältnisse dend mitzubestimmen, anstatt immer nur zu warten. Sie nachträglich geändert haben. brauchen klare Ziele und Vorstellungen. Dafür fehlt Ih- nen aber finanzpolitisch schon lange die Kraft. Sie machen daraus – ich zitiere wiederum –: (Beifall bei der CDU/CSU – Hans Michelbach Ändern sich bei einem Wirtschaftsgut, das nicht nur [CDU/CSU]: Konzeptionslos!) einmalig zur Ausführung von Umsätzen verwendet wird, … die für den ursprünglichen Vorsteuerabzug Stattdessen herrscht ein beispielloses Chaos. Manche maßgebenden Verhältnisse, ist für jedes Kalender- Vorschriften wurden unter Rot-Grün schon zwei- bis jahr der Änderung ein Ausgleich durch eine Berich- dreimal neu geschrieben. So wurden 2001 die Regeln tigung des Abzugs der auf die Anschaffungs- oder 12420 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Georg Fahrenschon (A) Herstellungskosten entfallenden Vorsteuerbeträge Ländern, die mit anderen Steuersätzen agieren. Ich be- (C) vorzunehmen. haupte dagegen, Meine Damen und Herren, das ist ein Unterschied wie (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Da redet die Tag und Nacht. Frau Scheel ganz anders!) (Beifall bei der CDU/CSU) wir haben ein Problem damit, dass sich aus der Möglich- Ich komme deshalb zum Schluss gerne noch einmal keit der Verlustverrechnungen ein riesiges Potenzial zur auf das Bild des Omnibusses mit dem Cheffahrer Hans Gestaltung der Steuerschuld ergibt. Immer dann, wenn Eichel zurück: Meine Damen und Herren von der Regie- wir Möglichkeiten nutzen, Steuerschlupflöcher zu rung und den Koalitionsfraktionen, Ihr Bus ist voll ge- schließen und Elemente, die dazu beitragen, dass derje- stopft mit Bürokratie. Er fährt ohne Ziel. Er hält an den nige, der Gewinne macht, auch Steuern zahlt, einführen, falschen Haltestellen und ist immer zu spät. Ihre Steuer- also für eine gewisse Geradlinigkeit sorgen, stellen Sie gesetzgebung ist mit einer Geisterfahrt zu vergleichen. sich hin und sagen, es handele sich um Steuererhöhun- Das EU-Richtlinien-Umsetzungsgesetz ist ein Bus mit gen. dem einzigen, rein fiskalischen Ziel, neues Geld in die (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Macht mit uns leeren Kassen des Bundesfinanzministers zu spülen. Da eine vernünftige Steuerreform! Dann machen fahren wir einfach nicht mit. wir das alles mit! So nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Das ist falsch. Es geht hier nicht um eine Steuererhö- Lydia Westrich [SPD]: Das ist aber ein gutes hung, sondern hier werden Steuerschlupflöcher ge- Ziel!) schlossen und steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten ver- ringert, natürlich auch mit dem Ziel, Fiskalpolitik zu Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: betreiben, also Einnahmen zu erzielen. Das Wort hat die Kollegin Kerstin Andreae, Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Es ist natürlich richtig, dass es künftig nicht mehr möglich ist, dadurch, dass man eine Personengesell- schaft zwischen Kapitalgesellschaften schaltet, Gewer- Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): besteuern zu sparen. Das wird im Übrigen auch auf Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Wunsch der Länder jetzt so gemacht. Diese erhalten ja Herren! Herr Fahrenschon, als ich Ihre Rede hörte, (B) die entsprechenden Nachrichten aus den Kommunen und (D) konnte ich mir gar nicht mehr vorstellen, dass wir am wissen von daher, wie die großen Unternehmen vor Ort Mittwoch in der gleichen Veranstaltung waren. Bis zum agieren. Die Kommunen werden es uns danken, dass wir Mittwoch haben wir ja in diversen Runden zusammen- mit dem von uns gewählten Weg diese Möglichkeiten gesessen und versucht, dieses Gesetz gemeinsam auf den einschränken. Weg zu bringen. Es war nicht so, dass Sie sich von An- fang an hingestellt und gesagt haben, das Gesetz sei in Ein weiteres Beispiel ist die Vermeidung von Steuer- den und den Punkten falsch, ausfällen in zweistelliger Milliardenhöhe. Wenn das (Dr. Michael Luther [CDU/CSU]: Wir sind Urteil des EuGH gegen uns genauso ausfallen würde konstruktiv!) wie das kürzlich gegen Finnland ergangene, würde unser Haushalt in einer Größenordnung belastet, die wir uns sondern es war durchaus so, dass wir zusammen ver- fiskalpolitisch nicht leisten können. sucht haben, dieses Gesetz auf den Weg zu bringen, (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Da ist so- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie sind doch wieso nichts zu retten!) selbst nicht überzeugt von Ihrem Gesetz!) Dass einmal vom EuGH erklärt werden würde, dass ein und Sie erst ganz spät, nämlich kurz vor dem Ziel – ich solches Anrechnungsverfahren gegen EU-Recht ver- behaupte, entgegen Ihrem Rat, sondern nur aufgrund ei- stößt, ist schon seit langer Zeit absehbar. Deshalb haben nes taktischen Rates –, den Sinneswandel vollzogen ha- wir im Rahmen der großen Steuerreform 2000 das An- ben, diesem Gesetz die Zustimmung zu verweigern. Es rechnungsverfahren abgeschafft. Es ist richtig, dass jetzt war also nicht so, dass Sie generell alles abgelehnt ha- für eine Folgewirkung gesorgt wird, damit nicht die ben. 2 Milliarden Euro fehlen. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie machen (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wo sind sie doch nur aus Koalitionszwang mit! – Elke denn?) Wülfing [CDU/CSU]: Sie hätten nur nachge- ben müssen!) Aber auch wenn die Union heute im Bundestag den Gesetzentwurf ablehnt: Es gibt eine Vereinbarung mit – Sie wissen ganz genau, dass wir uns in einer fiskalisch den Ländern. Frau Westrich hat das ausgeführt. Wir ha- schwierigen Situation befinden. ben beim Thema Steuerberaterrecht das Signal von Sie sagen an dieser Stelle immer, wir hätten ein steu- den Ländern erhalten, dass wir dieses Gesetz ohne Ver- erliches Problem im Vergleich zu den osteuropäischen mittlungsverfahren durchbekommen werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12421

Kerstin Andreae (A) (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Da ha- Das halte ich für keine seriöse Politik, auch im Hinblick (C) ben wir euch geholfen!) auf die Staatsfinanzen. Die Union hat im allerletzten Moment ihre Zustimmung zurückgezogen. Das ist be- Ich bin mir sehr sicher, dass die Union ihre Strategie, dauerlich. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Ich im Bundestag abzulehnen und im Bundesrat über die denke, wir werden, zumindest was das Beraterrecht an- Länder zuzustimmen, nicht lange wird fahren können. geht, einen neuen Weg finden. Mir persönlich kann das ja egal sein; aber ich halte das für eine Strategie, die langfristig nicht aufgehen wird. Vielen Dank. Sie werden den Gesetzentwurf heute hier ablehnen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in ein paar Wochen werden die unionsgeführten Länder und bei der SPD) im Bundesrat zustimmen. (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Wenn Sie Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sich da mal nicht täuschen!) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Volker Wissing. Dann werden wir dieses Gesetz auf den Weg bringen. Dr. Volker Wissing (FDP): Aber wir zahlen dafür natürlich einen hohen Preis, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! auch aus grüner Sicht. Wir sind beim Steuerberaterrecht Wir als FDP können dem Gesetzentwurf für ein Richtli- einen großen Schritt gegangen. Ich finde es richtig, dass nien-Umsetzungsgesetz wahrhaftig nicht zustimmen. uns im ersten Halbjahr 2005 eine Bund/Länder-Arbeits- gruppe Ergebnisse vorlegen wird, die uns aufzeigen wer- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!) den, wie wir im Bereich Beratungsrecht weiter vorgehen Wir haben erhebliche Zweifel, dass die Hektik, die Sie, sollen. meine Damen und Herren von Rot-Grün, in das Gesetz- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das haben wir gebungsverfahren gebracht haben, der Komplexität des immer gesagt!) Themas auch nur ansatzweise gerecht wird. Es stimmt schon bedenklich, wenn wir heute etwas beschließen Trotzdem hätten wir schon jetzt in ein paar Punkten ganz sollen, was mit dem Gesetzentwurf, der in der Anhörung entscheidende Schritte gehen können. Ich finde es beraten wurde, nicht mehr viel zu tun hat. Eine Anhö- schade, dass wir, wenn es um berufsständische Rechte rung, meine Damen und Herren von der Regierungskoa- geht, immer wieder zurückzucken. Das war beim Hand- lition, in der nicht das beraten wird, was später Gegen- werksrecht so und das ist auch jetzt bei den Steuerbera- stand des Gesetzes sein soll, ist nicht sinnvoll. Eine tern so. Ich kann nur hoffen, dass wir irgendwann einmal solche Anhörung ist eine Farce. (B) den Mut finden, Entscheidungen zu treffen, (D) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Aber nicht so nebenbei! – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Ihre rot-grüne Kreativität entfaltet sich offenbar im- Nur wenn es in die richtige Richtung geht!) mer erst kurz vor Toresschluss. Die Folge dieses Aktio- nismus sind unzureichende Gesetzentwürfe, deren Kon- die wirklich im Sinne der betroffenen Personen und der sequenzen die Menschen in diesem Land tragen müssen. Unternehmer sind. Das machen wir nicht mit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich habe den Verdacht, dass das EU-Richtlinien- und bei der SPD) Umsetzungsgesetz hier vor allem als Schubladenleerer Wir haben wenigstens bei der Ausweitung der Bera- des Bundesministeriums der Finanzen dienen soll. tungsbefugnisse der Lohnsteuerhilfevereine erreicht, Allein die Bezeichnung „EU-Richtlinien-Umsetzungs- dass die Lebenswirklichkeit der Menschen Berücksichti- gesetz“ ist eine Mogelpackung. Mit diesem Gesetz wer- gung findet. den nicht vorrangig EU-Richtlinien umgesetzt, sondern es geht Ihnen überwiegend um nationale Vorhaben und (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) diese haben es durchaus in sich. Manche Menschen haben heutzutage Haushaltshilfen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) angestellt, manche sind ehrenamtlich tätig. In diesen Fäl- len hatten die Lohnsteuerhilfevereine bisher nicht die Im Grunde genommen legen Sie uns hier ein Jahressteu- Möglichkeit, beratend tätig zu werden. Der notwendigen ergesetz zur Abstimmung vor, das unter dem Deckmän- Änderung haben Sie wunderbar zugestimmt; dafür bin telchen EU-Richtlinien-Umsetzungsgesetz verkauft wer- ich auch dankbar. Aber wir sind froh, dass es weiterhin den soll. Bewegung gibt, was die Beratungsbefugnisse der Lohn- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!) steuerhilfevereine angeht. Denken Sie doch nur einmal an die Neuregelung zu Noch einen Satz zur FDP. Sie agieren hier aus meiner vororganschaftlichen Verlusten bei der Körper- Sicht als Fundamentalopposition. Sie haben am Mitt- schaftsteuer. Ich wage zu bezweifeln, dass Sie sich gut woch im Finanzausschuss den Antrag gestellt, das ganze überlegt haben, was Sie da vorhaben. Gesetz fallen zu lassen. Die Arbeitslosenzahlen in Deutschland sind auf Re- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das werde ich Ih- kordhöhe; die Zahl der Insolvenzen steigt unter Ihrer Re- nen gleich erklären!) gierung ständig an. Aber Ihnen fällt nichts Besseres ein, 12422 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Dr. Volker Wissing (A) als die Übernahme von krisenbehafteten Unternehmen genstehen, und entsprechend reagieren, verteidigt die (C) zu erschweren. Nichts anderes ist es nämlich, wenn Sie Opposition jedes Steuerschlupfloch, das durch solche es den Unternehmen nicht mehr gestatten, die Verluste Entscheidungen geöffnet oder bestätigt wird, mit der des Übernahmekandidaten geltend zu machen. ganzen Kraft ihrer Argumentation. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: So ist es! – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Wir sind halt Diese Regelung ist nun wirklich nicht sinnvoll, nicht gut!) einmal für den Fiskus. Denn das größte Risiko für die Staatsfinanzen ist die Massenarbeitslosigkeit. Wenn Un- Dabei ist es geradezu die Pflicht von uns Parlamentari- ternehmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten, ern, Steuervermeidungs- und Steuerumgehungstatbe- besteht oftmals die einzige Möglichkeit zur Rettung von stände zu beseitigen, damit nicht findige Rosinenpicker Arbeitsplätzen in einer Übernahme. Genau diese er- auf Kosten der Allgemeinheit Steuersparmodelle entwi- schweren Sie mit diesem Gesetz. ckeln, von denen nur wenige Auserwählte profitieren. Die Bereitschaft wirtschaftlich gesunder Unterneh- (Beifall bei der SPD – Elke Wülfing [CDU/ men, sich auf das riskante Unterfangen einer Übernahme CSU]: Vielleicht sind das Arbeitsplatzschaf- eines Insolvenzkandidaten einzulassen, sinkt ganz er- fer! Haben Sie darüber schon einmal nachge- heblich, wenn die Verlustvorträge nicht übernommen dacht?) werden können. Das wissen Sie ganz genau. Ich habe die Befürchtung, dass Ihre Regelung ein echtes Problem – Frau Wülfing, wenn Sie etwas zu sagen haben, dann werden wird. lassen Sie sich doch von Ihrer Fraktion Redezeit einräu- men. Jetzt spreche ich. Das ist nur ein Kritikpunkt von vielen. Auch die von Ihnen betriebenen Änderungen zur Bemessungsgrund- Eine BFH-Entscheidung, die hier schon angesprochen lage für den Eigenverbrauch bei der Umsatzsteuer oder worden ist, betrifft die Vorauszahlungen auf Erbbau- zur erweiterten Kürzung nach § 9 Gewerbesteuergesetz zinsen. Das Gesetz schließt hier ein Steuerschlupfloch, lehnen wir ab. Über die Wiedereinführung der Zwi- das die Entscheidung des BFH offen gelegt hat. Der Ein- schengewinnbesteuerung haben wir von Herrn Kolle- wand der unechten Rückwirkung zieht meines Erachtens gen Fahrenschon deutliche Kritik gehört, die ich voll hier ebenfalls nicht. Denn Vertrauensschutz auf ein und ganz teile. Rückwirkungsverbot kann nur dann bestehen, wenn die Betroffenen das Risiko nicht kennen. Das ist hier ein- Die Wiedereinführung der Zwischengewinnbesteue- deutig nicht der Fall. rung ist ein Rückschlag für die dringend erforderliche (B) Neuordnung der Besteuerung privater Kapitalanlagen. Das Urteil wurde nie veröffentlicht. Allen Betroffe- (D) Sie hätten, wie damals bei der Abschaffung der Zwi- nen war damit klar, dass der Gesetzgeber eine Änderung schengewinnbesteuerung angekündigt, besser einen Ge- anstrebt. Die beteiligten Anbieter und Anleger wissen setzentwurf zur Einführung einer Zinsabgeltungsteuer sehr wohl, auf was sie sich einlassen, wie das Fazit zu ei- einbringen sollen. nem Kurzbeitrag in der Zeitschrift „Die Steuerberatung“ zeigt: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) In allen Fällen sind Mandanten auf die drohende Die Wiedereinführung der Zwischengewinnbesteue- Gefahr der Nichtanerkennung der steuerlichen Ge- rung ein Jahr nach ihrer Abschaffung ist kein Fortschritt. staltung hinzuweisen. Es ist kein modernes und kein zeitgemäßes Gesetz. Es lässt nur erkennen, wie unzuverlässig die Finanzpolitik Wie wichtig diese gesetzliche Regelung ist, die wir der rot-grünen Bundesregierung ist. Wir können einem heute hier verabschieden, möchte ich mit einem Auszug solchen Gesetz wahrhaftig nicht zustimmen. aus der „Medical Tribune“ bestätigen: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Galt der geschlossene deutsche Immobilienfonds früher als das Steuersparmodell schlechthin unter Ärzten, bringt er mittlerweile nur noch 20 Prozent Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Verlustzuweisungen. Seit Juni scheinen jedoch wie- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gabi Frechen. der paradiesische Zustände für Steuerfüchse zu herrschen: Die ersten hiesigen Immobilienfonds mit Gabriele Frechen (SPD): 70-prozentigen Verlusten sind auf dem Markt. Ihr Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Konzept – das so genannte Erbbaurechtsmodell – Kollegen! Schwerpunkt des vorliegenden Gesetzent- ist ebenso clever wie umstritten. wurfs bildet, wie auch der Name schon sagt, die Umset- Ich denke, das sagt alles. zung von EU-Richtlinien in nationales Recht. Gleichzei- tig wird mit dem Gesetz auf Entscheidungen des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Europäischen Gerichtshofs und des Bundesfinanzhofs DIE GRÜNEN) reagiert. Hier zeigen sich auch gleich die unterschiedli- chen Auffassungen der Fraktionen. Dass die Opposition ein großes Herz für kreative Steuergestaltung zum Zwecke der Steuervermeidung Während wir von der Koalition überprüfen, inwieweit hat, zeigt auch ihr Verhalten bei den Regelungen, die die diese Entscheidungen der Intention des Gesetzes entge- Gewerbesteuer betreffen. Im vorliegenden Gesetzent- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12423

Gabriele Frechen (A) wurf sind Regelungen für die Anwendung des Halbein- Gabriele Frechen (SPD): (C) künfteverfahrens bei der Gewerbesteuer von Personen- Dann muss ich mich beeilen. gesellschaften vorgesehen. Hiermit wird vermieden, dass durch ein bloßes, willkürliches Wechseln der Unter- nehmensform Verluste immer genau dort geltend ge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: macht werden, wo sie steuerwirksam sind, also von der Sie machen das mit einem eleganten Schlusssatz; da ganzen Gemeinschaft getragen werden, und dass Ge- bin ich sicher. – Bitte. winne selbstverständlich nur dort realisiert werden, wo sie steuerunwirksam bleiben. Carl-Ludwig Thiele (FDP): Ebenfalls der Vermeidung von allzu kreativer Steuer- Frau Kollegin Frechen, sind Sie denn bereit, dem Ho- gestaltung dient die Vorschrift über die Behaltefrist bei hen Hause einzugestehen, dass wir einen Ausgleich für der Übertragung von Grundstücken. Es kann nicht sein, die Kommunen wollen, indem sie erheblich stärker an dass Grundstücke einzig und allein zum Zwecke der den Einnahmen aus der Umsatzsteuer beteiligt werden, Steuergestaltung für einen kurzen Zeitraum in eine als das bisher der Fall war und wie wir es erreicht haben, grundstücksverwaltende Personengesellschaft eingelegt als die Gewerbekapitalsteuer abgeschafft wurde und die werden, weil sie von dort steuerfrei veräußert werden Kommunen erstmalig an den Einnahmen aus der Um- können. Der Steueroptimierung durch eine steuerplaneri- satzsteuer beteiligt wurden, und gestehen Sie ein, dass sche Gestaltung auf dem Rücken der Kommunen muss die Kommunen jetzt sagen: „Wir sind im Zusammen- hier ganz entschieden entgegengewirkt werden. hang mit der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer mit dem vorgesehenen Modell eines Ausgleichs sehr zufrie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den und können uns vorstellen, dass wir mit einer höhe- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – ren Beteiligung an den Einnahmen aus der Umsatzsteuer Rainer Funke [FDP]: Sie haben doch die Ge- die Gewerbesteuereinnahmen voll kompensieren kön- setze gemacht!) nen“? Beiden Regelungen, die verhindern, dass den Kom- munen dringend benötigte Gewerbesteuereinnahmen (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: entzogen werden, versagt die Opposition Also eine Mehrwertsteuererhöhung!) (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wenn keine Investition mehr stattfindet, dann gibt es auch Gabriele Frechen (SPD): keine Gewerbesteuer!) Herr Thiele, der ersten Hälfte Ihrer Frage hätte ich vielleicht noch zustimmen können. Bei der zweiten (B) durch ihre Ablehnung die Unterstützung. Damit, liebe Hälfte fällt es mir natürlich sehr schwer. Denn Sie wis- (D) Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, machen sen genauso gut wie ich, dass die Kommunen damit eben Sie einmal mehr deutlich, dass bei Ihnen die Kommunen nicht einverstanden sind nur in Sonntagsreden vorkommen – und auch da in ers- ter Linie zu Wahlkampfzwecken. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie machen Investitionsvernichtung, Wachstumsvernich- und dass sie im letzten Sommer Sturm für die rot-grüne tung!) Gemeindefinanzreform gelaufen sind. Das, was Sie vor- Die FDP findet hier keine Beachtung, haben, ist das Ende der Selbstverwaltung. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Von nichts (Zurufe von der CDU/CSU: Ach! – Zuruf von kriegen die Kommunen nichts!) der FDP: So etwas Abwegiges!) da sie bereits seit langem zum Wohle ihrer Wählerklien- Damit ist keine Kommune einverstanden. tel die völlige Abschaffung der Gewerbesteuer und so- mit das Ende der kommunalen Selbstverwaltung und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Selbstverantwortung fordert. DIE GRÜNEN) (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) Die vororganschaftliche Anrechnung oder Nichtan- rechnung von Mehrabführungen ist nicht neu. Das haben nicht wir erfunden; darauf weisen BMF-Schreiben aus Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: den Jahren 1996 und 1997 hin. Hier korrigieren wir also Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen handwerkliche Fehler Thiele? (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Mit Gabriele Frechen (SPD): dem Korrigieren handwerklicher Fehler haben Wenn meine Redezeit dadurch verlängert wird, gerne. Sie ja Erfahrung!) der schwarz-gelben Vorgängerregierung. Im vorliegen- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: den Gesetzentwurf wird nur klargestellt, was es mit der Die wird nur um die Zeit verlängert, die Sie benöti- Verrechnung von vororganschaftlichen Minder- oder gen, um zu antworten. Dann ist sowieso Schluss. Mehrabführungen auf sich hat. 12424 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Gabriele Frechen (A) Die Zwischengewinnbesteuerung kann ich nicht mehr An dieser Stelle sage ich ausdrücklich, dass die Union (C) ansprechen. – Ich traue mich gar nicht, die Frau Präsi- für eine Modernisierung des Berufsrechtes der Steuerbe- dentin anzuschauen. rater ist, (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Genau! nicht zuletzt deshalb, um die gesetzlichen Regelungen, wie bereits von Ihrer Seite anklang, der Lebenswirklich- keit anzupassen. Dies wird von uns überhaupt nicht be- Gabriele Frechen (SPD): stritten. Trotz aller Differenzen und trotz Ihres Wortbeitrages, Herr Fahrenschon, möchte ich mich für die gute Atmo- Nicht eingeleuchtet hat uns aber von Anfang an, wa- sphäre und die sachliche Gestaltung der Beratung dieses rum einzelne Vorschläge, die in der Vergangenheit im- Gesetzentwurfes bedanken. Wir waren ganz nah dran, mer wieder aufgetaucht sind, in diesem Gesetzentwurf aber leider nur ganz nah. aufgegriffen wurden, obwohl schon Mitte des Jahres, wenn ich richtig informiert bin, beschlossen worden ist, (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Knapp dane- eine gemeinsame Bund/Länder-Arbeitsgruppe einzu- ben ist auch daneben!) richten, deren Ergebnisse zu einem Achten Steuerbera- Schließen möchte ich mit einem Zitat von Marie von tungsänderungsgesetz führen sollen. Ebner-Eschenbach: Insbesondere bei den Vorschlägen zur Befugniser- Eine Erkenntnis von heute kann die Tochter eines weiterung für die geprüften Bilanzbuchhalter hat Irrtums von gestern sein. ganz offensichtlich ein Meinungsumschwung bei der Bundesregierung eingesetzt. Wie anders wäre es zu er- Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der anschließen- klären, dass in der Unterrichtung durch die Bundesregie- den Abstimmung haben Sie die Gelegenheit, dieser rung vom Mai noch zu lesen war: Weisheit Rechnung zu tragen. Die Bundesregierung hält es aus Gründen des Ver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ braucherschutzes, zur Wahrung eines fairen Wett- DIE GRÜNEN) bewerbs und zur Sicherung des Steueraufkommens nicht für möglich, die Befugnisse der geprüften Bi- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: lanzbuchhalter zu erweitern. Ich sage es ja immer: Spät abends und am Freitag- Auf eine schriftliche Frage des Kollegen Pinkwart ha- (B) nachmittag kommt der ganze Literaturschatz zutage. ben Sie, Frau Staatssekretärin, geantwortet, dass Bilanz- (D) buchhaltern die erforderlichen Kenntnisse zur Lösung Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Stefan Müller. schwieriger Umsatzsteuerfragen kaum vermittelt werden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dürften. Dennoch sind in diesem Gesetzentwurf, mit dem wohlgemerkt die Absicht verfolgt werden sollte, EU-Richtlinien umzusetzen, entsprechende Befugniser- Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): weiterungen vorgeschlagen worden. Der Bundesrat hat Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! diesen Punkt sowie die vorgeschlagene Kooperation von Streng genommen bin ich in der Situation, zu dem Teil Bilanzbuchhaltern mit Steuerberatern einstimmig abge- des Gesetzes zu sprechen, den es gar nicht mehr gibt. Ich lehnt. kann es Ihnen gleichwohl nicht ersparen, meiner Rede zuzuhören, bedanke mich an dieser Stelle aber ganz Für meine Fraktion mache ich ferner deutlich, dass herzlich bei den Regierungsfraktionen, dass sie unseren wir uns in diesem Bereich über eine Flexibilisierung Anregungen im Teil Berufsrecht gefolgt sind. Wir ha- durchaus verständigen können. Wir haben es aber von ben zumindest im Hinblick auf diesen Bereich die Hoff- Anfang an für sinnvoll erachtet, dies im Lichte einer Ge- nung, das eine oder andere gemeinsam machen zu kön- samtreform zu beraten, weil es neben den von Ihnen auf- nen. Dass wir dem Gesetz heute nicht zustimmen, hat gegriffenen Vorschlägen zur Abgabe der Umsatzsteuer- nicht damit zu tun, dass wir in den Ausschussberatungen voranmeldung noch weitere Anliegen gibt, die wir in über das Berufsrecht diskutiert haben, sondern hängt diesem Zusammenhang diskutieren müssten. Gleiches schlicht und ergreifend an den steuerrechtlichen Bestim- gilt für den Syndikussteuerberater, den wir ausdrücklich mungen, die wir, wie bereits deutlich wurde, nicht unter- begrüßen. Auch hier hätten wir gerne noch weitere Vor- stützen können. schläge der Wirtschaft diskutiert. Im Finanzausschuss haben wir gestern gemeinsam Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben ges- beschlossen, den berufsrechtlichen Teil, also die vorge- tern lediglich den Teil des Gesetzentwurfs unverändert schlagenen Änderungen des Steuerberatungsgesetzes, gelassen, bei dem es um die Lohnsteuerhilfevereine aus dem ursprünglichen Gesetzentwurf herauszunehmen geht. Damit haben wir der Tatsache Rechnung getragen, und stattdessen im kommenden Jahr eine umfassende dass Sie in diesem Hause Gesetze beschlossen haben, Reform des Berufsrechts für den Steuerberater in An- aufgrund deren Änderungen bei den Lohnsteuerhilfever- griff zu nehmen. Wir hoffen, dass im nächsten Jahr auch einen notwendig waren. Wir wollten erreichen, dass die Ergebnisse aus der Bund/Länder-Arbeitsgruppe vorlie- Beratung der lohnsteuerpflichtigen Arbeitnehmer ab gen. dem 1. Januar 2005 gewährleistet bleibt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12425

Stefan Müller (Erlangen) (A) Abschließend halte ich fest, dass wir uns von der Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- (C) Bund/Länder-Arbeitsgruppe ab Mitte des nächsten Jah- schusses (6. Ausschuss) res Ergebnisse erhoffen, die wir als Arbeitsgrundlage in diesem Hause verwenden können, um unter Beteiligung – Drucksache 15/4061 – aller betroffenen Berufsgruppen ein Achtes Steuerbera- Berichterstattung: tungsänderungsgesetz zu beraten und auf den Weg zu Abgeordnete Dirk Manzewski bringen. Dr. Jürgen Gehb Jerzy Montag Vielen Dank. Rainer Funke (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die bei Abgeordneten der SPD) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Wider- spruch höre ich keinen. Dann ist es so beschlossen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Ich schließe die Aussprache. der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- für die Bundesregierung. desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umset- zung von EU-Richtlinien in nationales Steuerrecht und Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- zur Änderung anderer Vorschriften. Der Finanzaus- desministerin der Justiz: schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- Drucksache 15/4050, den Gesetzentwurf in der Aus- gen! Die „Stuttgarter Zeitung“ schreibt heute, wir müss- schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die ten länger als 22 Uhr arbeiten. Das hätten wir verhindern dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen können; aber nun ist es so. Außerdem schreibt die „Stutt- wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – garter Zeitung“, selbst der sonst immer so versierte Par- Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter lamentarische Geschäftsführer Wilhelm Schmidt habe Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge- nicht gewusst, was es mit dem Anhörungsrügengesetz gen die Stimmen der gesamten Opposition angenom- auf sich habe. men. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Wir kommen zur GRÜNEN]: Was?) dritten Beratung Dem können wir jetzt alle gemeinsam abhelfen. (B) (D) und Schlussabstimmung. Sie dürfen sich erheben, wenn (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Er hört ja Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Wer stimmt nicht zu! Er ist gar nicht da!) dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung angenommen worden. Wir setzen nämlich einen Auftrag des Bundesver- fassungsgerichts um: Verletzt ein Richter den Anspruch Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 f auf: eines Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör, so reicht es nicht, den Betroffenen auf eine Verfassungsbe- – Zweite und dritte Beratung des von den Abge- schwerde zu verweisen. Dem Verstoß muss im fachge- ordneten Joachim Stünker, Hermann richtlichen Verfahren abgeholfen werden. Bachmaier, Sabine Bätzing, weiteren Abgeord- neten und der Fraktion der SPD sowie den Ab- Der Entwurf sieht vor, dass die Überprüfung von Ver- geordneten Jerzy Montag, Irmingard Schewe- stößen gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör vor- Gerigk, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck rangig im vorhandenen Rechtsmittelzug stattfindet. (Köln), Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager Wenn es gegen eine Entscheidung keinen Rechtsbehelf und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE gibt oder der Rechtsmittelzug erschöpft ist, so kann sich GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge- der Betroffene künftig mit der Anhörungsrüge wehren. setzes über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhö- Die nunmehr für alle Verfahrensordnungen vorgese- rungsrügengesetz) hene Anhörungsrüge orientiert sich am Vorbild des bis- herigen § 321 a Zivilprozessordnung, der allerdings – Drucksache 15/3706 – seinerseits erweitert werden musste. Das Bundesverfas- sungsgericht selbst hat dem Gesetzgeber diese Regelung (Erste Beratung 126. Sitzung) ausdrücklich als mögliches Modell bei Anhörungsver- – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- stößen genannt. desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge- Die Anhörungsrüge ist unter anderem wie folgt aus- setzes über die Rechtsbehelfe bei Verletzung gestaltet: Es handelt sich um einen außerordentlichen des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhö- Rechtsbehelf. Die Erhebung der Rüge verhindert nicht, rungsrügengesetz) dass die angefochtene Entscheidung rechtskräftig wird. – Drucksache 15/3966 – Die Rüge ist bei dem Gericht zu erheben, das die gerügte Entscheidung erlassen hat. Ist sie erfolgreich, so wird (Erste Beratung 132. Sitzung) das Verfahren in der Lage fortgesetzt, in der es sich vor 12426 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) der Entscheidung befunden hat. Die Entscheidung über Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): (C) die Anhörungsrüge ist ihrerseits nicht anfechtbar. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn Sie sich so freuen, dass der Freitagabend mit ei- Wir haben die Anhörungsrüge ausdrücklich in die nem poetischen Spruch abgeschlossen wird, verschiedenen Verfahrensordnungen aufgenommen. Da- mit wird der Forderung des Bundesverfassungsgerichts (Ute Kumpf [SPD]: Heute ist aber Donners- nach Rechtsmittelklarheit Rechnung getragen. Daraus tag!) erklärt sich der Umfang des hier vorliegenden Entwurfs. dann kann ich zwar nicht mit von Ebner-Eschenbach Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist ein ganz aufwarten; ich sage es aber einmal so: Quod licet jovi, wichtiges Grundrecht. non licet bovi. Für die Absolventen der Gesamtschule: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Was dem Herren erlaubt ist, das ist dem Ochsen noch und bei der FDP) lange nicht erlaubt. Meine Damen und Herren, unter die- sem Gesichtspunkt könnte man die Entscheidung des Erst die Gewährung ausreichenden rechtlichen Gehörs Bundesverfassungsgerichts verstehen, mit der wir aufge- ermöglicht eine faire und richtige Entscheidung. Wo es fordert werden, das Anhörungsrügengesetz heute zu ver- darum geht, nachträglich Abhilfe wegen eines Verstoßes abschieden; denn schon im 49. Band auf Seite 148 ff. gegen dieses Grundrecht zu schaffen, müssen aber auch – wer es genau nachlesen will: ab Seite 165 – hat das das Interesse des Prozessgegners an einer abschließen- Bundesverfassungsgericht den Fachgerichten ins den Entscheidung in angemessener Zeit, das in dem Stammbuch geschrieben, dass Rechtsmittelzulassungs- ebenfalls mit Verfassungsrang versehenen Grundsatz der bestimmungen nicht zur Selbstregulierung von Rechtssicherheit seinen Ausdruck findet, und auch das Arbeitsbelastung dienen dürfen. Nun ist ja signifikant Gemeininteresse an einer funktionierenden Justiz be- – das gebe ich auch gerne zu –, dass das Bundesverfas- rücksichtigt werden. sungsgericht geradezu überhäuft wird mit Anhörungs- rügen. Es ist daher verständlich, dass sich das Bundes- Der Entwurf nutzt den Spielraum, den uns das Bun- verfassungsgericht auf dieser Baustelle gerne selbst desverfassungsgericht eingeräumt hat, und kommt so zu entlasten möchte. einer ausgewogenen Regelung. Nennen möchte ich den Eintritt der Rechtskraft trotz Rügemöglichkeit, die Ver- Ich möchte aber einige Takte dazu sagen, warum das fahrens- und Formvorschriften und die Unanfechtbarkeit auf der anderen Seite zu einer Mehrbelastung führt. Es der Entscheidung über die Rüge. Ergebnis einer sorgfäl- ist doch ganz klar: Die Schaffung und die Öffnung von tigen Abwägung ist es auch, dass der Entwurf die Frist Rechtswegen und Rechtsmitteln führt automatisch zu ei- zur Erhebung der Rüge an die Kenntnis vom Anhörungs- ner Mehrbelastung der Gerichte. Die Tatsache, dass wir (B) verstoß knüpft und sie nicht mit der Zustellung oder Be- seit langem bestrebt sind, die Verfahrensarten zu mini- (D) kanntgabe der Entscheidung beginnen lässt; denn in vie- mieren und die Verfahrensdauer zu straffen, dass wir so- len Fällen erfolgt überhaupt keine Zustellung. Diese gar überlegen, ob wir ganze Fachgerichtsbarkeiten zu- Lösung entspricht dem rechtskraftdurchbrechenden Cha- sammenlegen, um auch Personalressourcen zu sparen, rakter des Rechtsbehelfs, ermöglicht dem wirklich Be- und dass jede Bestrebung des Gesetzgebers darauf hin- troffenen die rechtzeitige Einlegung des Rechtsbehelfs wirkt, auch personalfinanziell und justizfiskalisch zu und verhindert im Übrigen, dass die Gerichte mit ledig- sparen, wird doch mit der Schaffung eines eigenständi- lich zur Fristwahrung erhobenen Rügen oder mit queru- gen Rechtsbehelfs geradezu konterkariert. latorischen Rügen überzogen werden. Man sollte sich über eines nicht täuschen: Die Ab- Wie sich die Einführung einer Anhörungsrüge auf die sicht des Bundesverfassungsgerichts, sich selbst zu ent- Arbeitsbelastung der Gerichte, vor allem der Instanz- lasten, ist ein Schuss, der auch nach hinten losgehen gerichte, auswirken wird, lässt sich kaum prognostizie- kann. Denn wer einmal gesehen hat, was für Beschwer- ren. Wir wissen aber, dass § 321 a ZPO nicht zu einer deführer das Bundesverfassungsgericht mit der Rüge an- nennenswerten Mehrbelastung geführt hat; allerdings hat rufen, in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt der nach der verfassungsgerichtlichen Entscheidung er- zu sein, der weiß ganz genau, dass man nicht davon aus- forderliche Rechtsbehelf einen deutlich größeren An- gehen kann, dass diese Beschwerdeführer keinerlei Nei- wendungsbereich. gung verspüren werden, auch noch das Bundesverfas- sungsgericht anzurufen, bloß weil sie mit der Lassen Sie uns heute dem Bundesverfassungsgericht Anhörungsrüge bei den Fachgerichten scheitern. treu dienen und diesen Entwurf rechtzeitig zum 1. Januar 2005 umsetzen. Ich bitte um Ihre Zustim- (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian mung – ich glaube, ich bekomme sie auch. Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben nichts verstanden, Herr Kollege!) Vielen Dank. Meine Damen und Herren, welcher Anlass besteht ei- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE gentlich zu dieser Änderung? Mehr als ein halbes Jahr- GRÜNEN und der FDP) hundert lang hat es das Bundesverfassungsgericht aus- drücklich für verfassungsgemäß gehalten, wenn nicht Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: die Fachgerichte mit einer Anhörungsrüge angerufen Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Gehb, werden können, sondern das Bundesverfassungsgericht CDU/CSU-Fraktion. darüber entscheidet. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12427

Dr. Jürgen Gehb (A) Zu diesem Zweck ist die so genannte Urteilsverfassungs- sind sicherlich ein Gesichtspunkt, der nicht zu gering (C) beschwerde ausdrücklich eingerichtet worden, nämlich eingeschätzt werden darf. für die Fälle, in denen nicht ein Akt öffentlicher Gewalt gerügt wird, sondern in denen es um fehlerhafte Anwen- Nun noch etwas anderes, meine Damen und Herren: dung des Rechts durch die Gerichte geht. Wieso beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht mit dieser Anhörungsrüge eigentlich ausschließlich auf Meine Damen und Herren, wenn man sieht, dass wir die Verletzung des Verfahrensgrundrechts des Anspruchs das Personalbudget nicht weiter ausdehnen können auf rechtliches Gehör? Es gibt doch noch mehrere im – die Landesjustizhaushalte sind, ähnlich wie der Bun- Grundgesetz verbriefte Verfahrensgrundrechte. Übrigens desjustizhaushalt, förmlich ausgelutscht –, dann gibt es – das möchte ich bei dieser Gelegenheit einmal sagen –: nur zwei Möglichkeiten: Entweder lässt die Qualität der Der Ausgangsfall, der den Anlass dafür gegeben hat, Entscheidung nach oder die Dauer der Verfahren wird dass der Erste Senat das Plenum angerufen hat, weil er immer länger. von der Rechtsauffassung des Zweiten Senats abweichen wollte – dass also kein Verstoß gegen die Verfassung Weil eben, als es um den Anspruch auf rechtliches vorliegt, wenn es keine fachgerichtliche Überprüfungs- Gehör ging, so sehr geklatscht worden ist, sage ich Ih- möglichkeit gibt –, war kein Verstoß gegen den An- nen: Den Anspruch auf rechtliches Gehör will niemand spruch auf rechtliches Gehör. In diesem Ausgangsfall in Abrede stellen. ging es vielmehr um eine Vollstreckungsgegenklage, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE die das Landgericht abgewiesen hatte. In der Berufung GRÜNEN]: Aha! Sie tun sonst immer so!) hat das Oberlandesgericht dem Berufungsführer in ei- nem Belehrungs- und Aufklärungsbeschluss versichert, Mit dem vermeintlichen Mehr an Rechtsschutz unter dass die Revision auch bei einer Reduzierung der Klage- dem Blickwinkel des Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz ist summe auf unter 160 000 Euro – ursprünglich hatte sie gleichzeitig möglicherweise eine Einschränkung des ef- sich auf 2 Millionen Euro belaufen – zugelassen wird. fektiven Rechtsschutzes im Sinne von Art. 19 Abs. 4 Die Revision ist sozusagen durch den Bruch dieser Zusi- Grundgesetz für diejenigen verbunden, die darauf war- cherung nicht zugelassen worden. Das ist also eigentlich ten, ihre Urteile vollstrecken zu können. Das ist doch kein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör, ganz klar. sondern ein Verstoß gegen den ebenfalls grundgesetzlich verbürgten Grundsatz eines fairen Verfahrens. Es bleibt Ich muss Sie, Herr Staatssekretär, und die gesamte wirklich rätselhaft, aus welchen Gründen das Bundes- Ministerialbürokratie dafür loben, wie toll Sie das umge- verfassungsgericht meinte, in diesem Vorlagebeschluss setzt haben. diese Entscheidung herbeizuführen. (B) (D) (Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Das Meine Damen und Herren, dass die deutschen Verfah- wurde ja auch Zeit!) rensordnungen an einem signifikanten Mangel an Das meine ich nicht ironisch. Es ist nämlich eine Sisy- Rechtsstaatlichkeit leiden und dass es in Deutschland phusarbeit, die ZPO, die VwGO, die StPO und sämtliche nicht genügend Rechtsbehelfe und Rechtswege gibt, Verfahrensordnungen durchzugehen und zu ändern. Ei- kann beim besten Willen niemand behaupten. nen Wermutstropfen muss ich trotzdem vergießen: Wenn (Beifall bei der CDU/CSU) Sie schon so minutiös und expressis verbis die Entschei- dung des Bundesverfassungsgerichts umsetzen, lesen Deswegen sage ich bei allem Respekt vor dem Bundes- Sie einmal den letzten Satz. Da steht, dass die Antrags- verfassungsgericht frist mit der Zustellung der Entscheidung und nicht etwa mit ihrer Kenntnisnahme zu laufen beginnt. Das führt (Joachim Stünker [SPD]: Aha!) sonst dazu, dass man ein Jahr lang das Damoklesschwert – ja, Herr Stünker –: Niemandem kann der Anspruch auf einer durchbrochenen Rechtskraft über sich spürt. intellektuelle Redlichkeit genommen werden, weil er in (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE einem Diskurs mit dem Bundesverfassungsgericht steht. GRÜNEN]: Quatsch! Sie müssen das nur zur Das versuchen Sie ja selbst immer. Kenntnis nehmen!) (Beifall des Abg. Dr. Norbert Röttgen [CDU/ Derjenige, der gerne vollstrecken würde, muss solange CSU]) warten. Auch das muss man sehen. Es geht doch auch Das Bundesverfassungsgericht schreibt auch uns gele- darum, dass ein Verfahrensbeteiligter endlich den An- gentlich ins Stammbuch, dass die eine oder andere ge- spruch auf Rechtssicherheit und Rechtsklarheit hat. setzliche Vorschrift nicht mit dem Grundgesetz verein- Übrigens haben diese Gebote Verfassungsrang. Oder bar ist. täusche ich mich da? Ich glaube, Sie haben das eben selbst gesagt. Die Durchbrechung von Rechtskraft und (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE möglicherweise ein Missbrauch durch querulatorisch GRÜNEN]: Welche denn?) veranlagte Beschwerdeführer, die es bei diesen Verfah- rensarten durchaus geben soll, Dem stimmen wir dann auch zu. Aber diese Zustim- mung darf nicht dazu verleiten, dass wir klaglos alle Ent- (Zuruf von der SPD: Oh ja! Davon gibt es scheidungen durchwinken; denn wir sind der Gesetzge- viele!) ber. 12428 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Dr. Jürgen Gehb (A) (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Genau! (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Oh!) (C) Das musste mal gesagt werden! – Zuruf vom um das Bundesverfassungsgericht zu rügen. Herr Kol- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Was für eine lege Gehb, das hätten Sie uns ersparen können, wichtige Feststellung!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ob irgendwann einmal jemand darauf hinweist, dass der sowie bei Abgeordneten der SPD) Gesetzgeber mit der geballten Faust in der Tasche auf eine Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts re- zumal Sie zum Abschluss gesagt haben, dass Sie diesem agiert hat, das spielt überhaupt keine Rolle mehr. Wir Gesetz zustimmen. Sie haben also überhaupt nichts ge- sind der Gesetzgeber und sollen das auch bleiben. gen das Gesetz, über das wir hier reden, sondern Sie fin- den es gut und richtig gemacht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Eine Debatte ist Es hat mich ein bisschen gewundert, Herr Staatsse- doch kein Missbrauch! – Dr. Jürgen Gehb kretär, dass Sie eben gesagt haben, Ihr Geschäftsführer [CDU/CSU]: Wir hoffen, dass Sie uns Ihren beklage, dass es nach 22 Uhr wird; es wird vor 22 Uhr. Redebeitrag ersparen!) Als Fazit will ich sagen: Ich denke, dass die Streitkul- Ich kann Ihnen dazu nur Folgendes sagen: Seien Sie tur in unserem Hause durch eine solche Debatte – selbst doch dem Bundesverfassungsgericht dankbar! Ich bin über ein Gesetz, das an so versteckter Stelle daher- dem Bundesverfassungsgericht immer wieder dankbar, kommt – durchaus keinen Schaden nimmt, wenn wir wenn wir alle paar Wochen, alle paar Monate den Auf- darüber debattieren, ob und aus welchen Beweggründen trag bekommen, die Bundesrepublik noch rechtsstaatli- wir als Gesetzgeber einer Aufforderung des Bundesver- cher zu gestalten. Die Entscheidung des Bundesverfas- fassungsgerichts Folge leisten. Das bitte ich auch dieje- sungsgerichts, die Sie zitiert haben, ist ein wichtiger nigen zu akzeptieren, die vielleicht von der politischen Schritt auf dem Weg dorthin; denn das Bundesverfas- Konkurrenz sind; sungsgericht hat uns ja nichts anderes aufgegeben, als (Zuruf von der CDU/CSU: Die autoritäts- eine gesetzliche Regelung in möglichst alle Prozessord- gläubig sind!) nungen aufzunehmen, nach der die Bürgerinnen und Bürger immer dann, wenn das rechtliche Gehör – im- denn heute Abend gilt nicht die Schlachtordnung „Oppo- merhin ein Verfassungsrecht – verletzt ist, die Möglich- sition gegen Regierung“. keit haben, das geltend zu machen, Ich habe gerne eingeräumt, dass Sie die Änderungen (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Gibt es doch! geradezu puristisch und sauber umgesetzt haben, aller- Es gibt doch gar keine Lücke!) (B) dings mit dem kleinen Wermutstropfen, dass Sie statt auf (D) Zustellung und Bekanntgabe auf die Kenntnisnahme ab- sich darauf zu berufen und nicht warten zu müssen, bis stellen. Ansonsten aber gibt es gar nichts zu erinnern. Ich das Bundesverfassungsgericht darüber entscheidet. finde, das ist eine ordentliche Debatte. Ich bin gespannt, Diese Möglichkeit gibt es dann nicht, wenn keine was die anderen Redner noch sagen werden. Rechtsmittel gegeben sind. Wir alle, die als Anwälte tä- tig gewesen sind, kennen doch eine ganze Reihe von Weil Sie, Frau Präsidentin, und auch die anderen so Fällen, in denen Bürgerinnen und Bürger – seien es gerne Zitate hören, vielleicht noch dieses – auch für die Strafgefangene, seien es Beschuldigte im Strafverfahren Oberrealschülerinnen –: Quidquid agis, prudenter agas oder im Zivilverfahren – als Mandanten zu uns gekom- et respice finem! men sind und gesagt haben: Hier bin ich mit einer Ent- Vielen Dank. scheidung völlig überrascht worden. Ich hatte ja über- haupt nicht die Möglichkeit, mich dazu zu äußern. – Das (Beifall bei der CDU/CSU – Ute Kumpf kann bis zu strafrechtlichen Verurteilungen und Frei- [SPD]: Wir haben doch alle das kleine Lati- heitsstrafen gehen, bei denen sich der Rechtsanwalt oder num!) der Strafverteidiger verzweifelt fragt: Was kann ich da noch machen? Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das Bundes- Das haben wir natürlich alle im Auge. verfassungsgericht damit befassen!) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Der Kollege Hartenbach hat als Richter, der den Be- Ströbele. ruf jetzt nicht ausübt, im Ausschuss gesagt: Auch Rich- ter wären manchmal dankbar – auch sie sind nur Men- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE schen –, wenn ihnen die Möglichkeit gegeben würde, auf GRÜNEN): die Rüge hin, dass ein Gericht es unterlassen oder über- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- sehen hat, einem Beschuldigten rechtzeitig die Möglich- gen! Dafür haben Sie uns nun heute hierbehalten und un- keit rechtlichen Gehörs zu geben, das Verfahren zu ver- sere Reden nicht zu Protokoll geben lassen: kürzen und möglicherweise eine Entscheidung zu korrigieren, sodass das Verfahren fortgeführt werden (Zuruf von der CDU/CSU: Das können Sie kann und dem Beschuldigten zu seinem Recht verholfen doch immer noch tun!) werden kann. Heute ist diese Möglichkeit für einen um zwölf Minuten zu nutzen – oder zu missbrauchen –, Richter, der sein Urteil einmal gefällt hat und das Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12429

Hans-Christian Ströbele (A) dadurch rechtskräftig geworden ist, nicht gegeben. Da- dieses prozessualen Grundrechts hat das Bundesverfas- (C) gegen kommt er selber nicht mehr an. sungsgericht in seinem Beschluss vom 30. April 2003 dem Gesetzgeber aufgegeben, einen angemessenen (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist der Rechtsbehelf gegen anders nicht behebbare Verletzun- Sinn der Rechtsordnung!) gen des Grundrechts auf rechtliches Gehör zu schaffen. Dieses Gesetz eröffnet jetzt diese Möglichkeit. Es soll Das Bundesjustizministerium hat diesen Beschluss in or- nur für die Fälle gelten, in denen die jeweiligen Prozess- dentlicher und ordnungsgemäßer Weise umgesetzt. Des- ordnungen keine Rechtsbehelfe vorsehen. Es trifft im- wegen stimmen wir diesem Gesetzentwurf zu. mer in den Fällen zu, in denen der Bürger oder die Bür- Ich halte es dennoch für ein Gebot der Fairness, dem gerin darauf angewiesen ist, das Fehlen des rechtlichen Eindruck entgegenzutreten, unsere deutschen Gerichte Gehörs auf diese Weise geltend zu machen. hätten das Recht auf rechtliches Gehör in den vergange- Dass das Bundesverfassungsgericht dadurch entlastet nen Jahrzehnten in rechtswidriger Weise missachtet. wird, ist ja richtig. Wir alle wollen, dass die Entschei- Diese Aussage ist dem Beschluss des Bundesverfas- dungen des Bundesverfassungsgerichts nicht erst nach sungsgerichts so auch nicht zu entnehmen. Jahren oder manchmal sogar erst nach einem Jahrzehnt oder noch länger gefällt werden können. Das heißt, es ist (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE richtig und gut, dass das Bundesverfassungsgericht uns, GRÜNEN]: Aber immer mal wieder, Herr dem Gesetzgeber, aufgegeben hat, hier eine Regelung zu Kollege! – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das schaffen, die den Bürgern möglichst schnell zu ihrem Bundesverfassungsgericht ist immer mal wie- Anspruch auf rechtliches Gehör verhilft. der angerufen worden!) Um das auch einmal auf Latein auszudrücken: Wir – Es passiert aber natürlich immer mal wieder. Auch alle sollten „mea culpa“ sagen, dass wir das nicht schon Richter und im Übrigen auch Anwälte, Herr Kollege lange gesehen haben, dass wir nie darangegangen sind, Ströbele, sind Menschen. das zu regeln, und dass es erst dieser Entscheidung des (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Bundesverfassungsgerichts bedurfte, um dem Gesetzge- GRÜNEN]: Das nehmen wir für uns in An- ber auf die Sprünge zu helfen. spruch!) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: 50 Jahre!) Auch ein Anwalt kann bei einem Prozess vielleicht ein- Wir begrüßen dieses Gesetz und sind dankbar für die mal mit darauf achten, ob rechtliches Gehör gewährt Arbeit, die im Justizministerium geleistet worden ist. worden ist oder nicht. (B) Wir denken, wir haben hier ein gutes Gesetz, durch das (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (D) vielen Bürgerinnen und Bürgern zu ihrem Recht verhol- GRÜNEN]: Manchmal sind auch keine da- fen wird. Das ist gut so. Deshalb sind wir alle für dieses bei!) Gesetz. – Das ist richtig: Manchmal sind auch keine dabei. – Wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN alle sind Menschen und machen deswegen auch Fehler. sowie bei Abgeordneten der SPD – Das gilt im Übrigen auch für Bundestagsabgeordnete. Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Das war eine staatstragende Rede, Herr Ströbele!) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es! – Hans- Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: NEN]: Hört! Hört!) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Funke. Die Bundesregierung hat diesen Auftrag angenom- (Beifall bei der FDP) men und ich meine, er ist ordnungsgemäß umgesetzt worden. Für diese Arbeit ist der Bundesregierung zu- nächst zu danken. Rainer Funke (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Horst Ströbele, ich trete Ihren Ausführungen voll bei und kann Schild [SPD]) Sie nur sehr unterstützen; denn vor Gericht hat jeder- mann Anspruch auf rechtliches Gehör. Mit dem Gesetzentwurf wird die Anhörungsrüge als eigenständiger Rechtsbehelf geschaffen. Die Einfüh- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!) rung eines neuen Rechtsbehelfs führt bei den unter- schiedlichen Organen der Justiz und Rechtspflege natur- Dieses Verfahrensgrundrecht aus Art. 103 Grundgesetz gemäß zu unterschiedlichen Beurteilungen. Die ist eines der tragenden Elemente unseres Rechtsstaats- Landesjustizverwaltungen sind darüber natürlich nicht prinzips. immer glücklich, weil dadurch mehr Kosten entstehen (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ können. Auch die Anwälte waren mit der Regelung nicht DIE GRÜNEN) ganz glücklich, weil die Begründungsfrist nicht wie ge- wünscht verlängert worden ist. In einem gerichtlichen Verfahren ist jedermann die Gelegenheit zu geben, sich vor Erlass einer abschließen- Mit Ausnahme der eben erwähnten „Mängel“ sind die den Gerichtsentscheidung zu äußern. Auf der Grundlage wesentlichen Organe zufrieden. Deshalb meine ich, dass 12430 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

Rainer Funke (A) es ein ordentlicher Kompromiss ist. Wir werden diesen sucht aus den vorgenannten Gründen, nur das per Gesetz (C) Kompromiss mittragen. zu regeln, was aufgrund der Vorgaben des Bundesverfas- sungsgerichts zwingend zu regeln ist. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. In dem Entwurf wird deshalb davon ausgegangen, (Beifall bei der FDP, der SPD und dem dass die Überprüfung von Anhörungsverstößen zu- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nächst im vorhandenen Rechtsmittelzug stattzufinden hat. Die Anhörungsrüge soll nur subsidiär greifen, näm- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: lich dann, wenn sie nicht anderweitig, zum Beispiel über Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Manzewski. ein Rechtsmittel, überprüft werden kann. Sie orientiert sich dabei am Regelungsmodell des bereits geltenden Dirk Manzewski (SPD): § 321 a ZPO. Das heißt, die Rüge ist bei dem Gericht zu erheben, das die gerügte Entscheidung erlassen hat. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir de- Sollte die Rüge erfolgreich sein, wird das Verfahren in battieren heute abschließend über das so genannte Anhö- der Lage fortgesetzt, in der es sich vor der mit der Rüge rungsrügengesetz der Koalition. Dieses Gesetz musste angefochtenen Entscheidung befand. Gegen die Rüge gemacht werden – das ist schon erwähnt worden –, weil – das finde ich sehr wichtig – ist im Übrigen kein das Bundesverfassungsgericht für Fälle der Verletzung Rechtsbehelf mehr vorgesehen. des rechtlichen Gehörs weiteren Gesetzgebungsbedarf sah. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts Wie ich es meinen Kollegen von der Regierungskoali- gibt es derzeit nach geltendem Recht weder innerhalb tion versprochen habe, komme ich nun zum Schluss. Der des allgemeinen Rechtsbehelfssystems noch mit einem Gesetzentwurf unterliegt meiner Auffassung nach weder ausdrücklich dafür vorgesehenen Rechtsbehelf hinrei- verfassungsrechtlichen noch rechtsförmlichen Beden- chende Möglichkeiten dazu. Ein Regelungsbedarf be- ken; jedenfalls sind solche bis zum heutigen Tag nicht steht nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts vorgebracht worden. Da dieses Gesetz einer Vorgabe des insbesondere bei letztinstanzlichen Entscheidungen und Bundesverfassungsgerichts folgt, bitte ich um Ihre Zu- in den Fällen, für die es nach geltendem Recht eben stimmung. keine Rechtsmittel gibt. Ich danke Ihnen. Ich muss ganz deutlich sagen: Anders als der Kollege Ströbele habe ich selbst meine Probleme mit dieser Ent- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ scheidung. Ich finde es zum Teil sehr merkwürdig, wie DIE GRÜNEN sowie des Abg. Rainer Funke (B) das Urteil so ergangen ist. Man tut gerade so, als ob der [FDP]) (D) Untergang des Abendlandes gedroht hat. Zumindest zu meiner Zeit als Richter habe ich dieses Gefühl nicht ge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: habt. Ich schließe damit die Aussprache. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst Was mich ein bisschen gestört hat – das sage ich ganz über den von der Bundesregierung eingebrachten deutlich –, ist, wie dezidiert dieses Mal die Vorgaben Entwurf eines Anhörungsrügengesetzes. Der Rechtsaus- des Bundesverfassungsgerichts sind. Im Grunde ge- schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss- nommen – das sage ich im Hinblick auf die Debatte, die empfehlung auf Drucksache 15/4061, den Gesetzent- wir auf dem Juristentag in Bonn geführt haben –, dass wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte der zu beschließende Gesetzestext vom Bundesverfas- diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- sungsgericht gleich mitgeliefert wird. Hier werden wir in sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gibt es der Zukunft aufpassen müssen; Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen worden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Dritte Beratung denn auch das Bundesverfassungsgericht hat sich an die und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gewaltenteilung zu erinnern. Kollege Ströbele, man Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – sollte ruhig mehr Vertrauen in uns Parlamentarier setzen, Wer stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Ge- dass wir vernünftige Gesetze machen. setzentwurf ist damit auch in dritter Lesung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Manchmal wird dieses Vertrauen Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf enttäuscht!) Drucksache 15/4061 empfiehlt der Rechtsausschuss, den Entwurf eines Anhörungsrügengesetzes der Fraktionen Sei es, wie es sei. Wir haben die Kritik des Bundes- von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache verfassungsgerichts zu akzeptieren – daran führt kein 15/3706 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Weg vorbei – und diese auch umzusetzen. Der Entwurf Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – der Regierungskoalition hält sich dabei eng an den Ple- Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig ange- numsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts und ver- nommen worden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12431

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: – Drucksache 15/3983 – (C) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD Überweisungsvorschlag: und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Finanzausschuss Für eine konsequente und vollständige Umset- Ausschuss für Bildung, Forschung und zung des Ohrid-Abkommens in Mazedonien Technikfolgenabschätzung – Drucksache 15/4033 – Die Abgeordneten Lange, Mayer (Altötting), Schulz (Berlin), Funke und der Parlamentarische Staatssekretär Die Abgeordneten Zapf, Helias, Tritz und Stinner ha- Andres haben gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu ben gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu kön- können.2) – Sie sind einverstanden. Dann verfahren wir nen.1) – Dem stimmen Sie gerne zu. so. Dann kommen wir gleich zur Abstimmung über den An- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- trag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die wurfs auf Drucksache 15/3983 an die in der Tagesord- Grünen. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen Überweisung so beschlossen. gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP ange- nommen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- ordnung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fort- destages auf morgen, Freitag, den 29. Oktober 2004, entwicklung der Berufsaufsicht über Ab- 9 Uhr, ein. schlussprüfer in der Wirtschaftsprüfer- Die Sitzung ist geschlossen. ordnung (Abschlussprüferaufsichtsgesetz – APAG) (Schluss: 21.51 Uhr)

1) Anlage 6 2) Anlage 7

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12433

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten strument, sondern soll den interkulturellen Dialog för- dern und seinen Beitrag zur Krisenprävention leisten.

entschuldigt bis Die Deutsche Welle soll Zielgruppen und Schwer- Abgeordnete(r) einschließlich punktregionen genau und für bestimmte Zeiträume fest- legen, um endlich ein klares und starkes Profil zu entwi- Bonde, Alexander BÜNDNIS 90/ 28.10.2004 ckeln. So wird es möglich sein, dem Interesse an DIE GRÜNEN Deutschland besser und zielgerichteter zu begegnen und darauf zu antworten. Das ist für diesen Sender mit seinen Dörflinger, Thomas CDU/CSU 28.10.2004 spezifischen Möglichkeiten lebenswichtig – eine welt- weite Berieselung ist einfach zu teuer und kommt nicht Hochbaum, Robert CDU/CSU 28.10.2004 mehr infrage. Neben dem Fernseh- und Radioangebot ist jetzt auch Dr. Küster, Uwe SPD 28.10.2004 der Internetauftritt als dritte Kommunikationsform ge- setzlich festgelegt. Das Internet ist von so besonders gro- Leibrecht, Harald FDP 28.10.2004* ßer Bedeutung, weil es die Möglichkeit eines echten Rauber, Helmut CDU/CSU 28.10.2004 Dialogs und die gleichzeitige Verwendung von beliebig vielen Sprachen zulässt. Das schon längst bestehende Dr. Riesenhuber, Heinz CDU/CSU 28.10.2004 und erfolgreiche Angebot im World Wide Web wird le- gitimiert. Roedel, Hannelore CDU/CSU 28.10.2004 Die Deutsche Welle wird künftig das Parlament und die Bundesregierung durch einen neu eingeführten Schauerte, Hartmut CDU/CSU 28.10.2004 Rückkopplungsmechanismus in ihre Aufgabenplanung Schröder, Gerhard SPD 28.10.2004 einbeziehen. Die Erfahrung wird uns zeigen, ob dieser Weg ernst genommen wird und zu fruchtbaren Diskus- Schwanitz, Rolf SPD 28.10.2004 sionen und Ergebnissen führt. Für den Deutschen Auslandsrundfunk stehen in (B) Veit, Rüdiger SPD 28.10.2004 nächster Zeit große Entscheidungen an. Soweit ich infor- (D) miert bin, ist die Frage, ob das Spanisch-Programm in * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Lateinamerika in Untertitelung umgestellt wird oder sammlung des Europarates nicht, noch immer ungeklärt. Hier kann die Deutsche Welle gleich beweisen, ob sie den Mut hat, strategisch zu denken. Ich denke, wir dürfen diese große Region, die Anlage 2 traditionell so großes Interesse an Europa und an der Bundesrepublik hat, nicht leichtfertig aufgeben bzw. mit Zu Protokoll gegebene Rede unangemessenen Instrumenten bedienen. Ob eine Unter- zur Beratung: titelung den Fernseh-Konsumgewohnheiten in Latein- amerika entspricht und die spanischsprachigen Sendun- – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des gen ersetzen kann, sollte sehr genau geprüft werden. Deutsche-Welle-Gesetzes Zum Afghanistan-Projekt der DW möchte ich heute – Antrag: 50 Jahre Deutsche Welle – Zukunft auch einmal zu bedenken geben, ob man dort nicht auf und Modernisierung des deutschen Aus- die Dauer mehr Menschen über das Radio erreicht als landsrundfunks durch Fernsehübertragungen in Dari und Paschtu. – Antrag: 50 Jahre Deutsche Welle – Perspek- In einem Punkt allerdings wird immer deutlicher, dass tiven für die Zukunft wir bald eine Menge sparen können: beim German TV. Ich denke, wir sollten der Tatsache ins Auge sehen, dass (Tagesordnungspunkt 9 a und b) die neuerdings 9 000 Abonnenten immer noch nicht die Zwischenetappe von 10 000 für Ende 2003 erreicht ha- Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ben. Die Chancen, bis Ende 2005 den Plan von 70 000 Wir haben jetzt eine ganz schöne Weile an diesem Ge- zu erfüllen, stehen absolut schlecht, zumal das Konkur- setz gearbeitet. Nun ist es endlich soweit: Heute soll die renzprojekt „Channel D“ von Harald Schmidt schon Deutsche-Welle-Reform beschlossen werden. Uns liegt längst gescheitert ist und dessen Abonnenten auch nicht ein Gesetz vor, das dem deutschen Auslandssender auf- mehr hinzukommen werden. Ich denke, es wird Zeit, gibt, die Bundesrepublik in ihrer kulturellen Vielfalt und darüber nachzudenken, wie wir dieses erfolglose Projekt im europäischen Zusammenhang zu präsentieren und am effektivsten aufhalten können. Ein positiver Neben- deutlich auch andere Perspektiven ausführlich zu würdi- effekt hat sich ja ergeben: die Kooperation mit den öf- gen. Der Sender ist nicht mehr reines Informationsin- fentlich-rechtlichen Sendern. Die sollten wir über das 12434 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

(A) Ende von German TV hinaus retten und ausbauen. Viel- der regionalen Märkte und der einzelnen Marktseg- (C) leicht ergibt sich aus den plötzlich frei werdenden Gel- mente. dern bei sofortiger Einstellung noch eine Lösung für das All diese Entwicklungen haben sich im europäischen spanischsprachige Publikum? und internationalen Kontext vollzogen. Die daraus resul- Die Reform gibt der Deutschen Welle eine gute tierenden Herausforderungen verlangen daher eine Lö- Grundlage, ihre journalistische Freiheit zu nutzen, ihre sung auf transnationaler Ebene, wie sie die EU-Kommis- Qualität weiter zu verbessern und ihr Profil klarer zu for- sion mit der Richtlinie, die wir heute umsetzen, mulieren und an die neuen Gegebenheiten in der Welt gefunden hat. anzupassen. Wir freuen uns auf eine gute Zusammenar- Der große Pluspunkt der gemeinschaftsrechtlichen beit! Regelungen liegt in der Harmonisierung. Damit ist eine entscheidende Voraussetzung für eine Gleichbehandlung der beaufsichtigten Konglomerateunternehmen gegeben. Anlage 3 Lassen Sie mich das europäische Feld kurz beleuch- Zu Protokoll gegebene Reden ten: Nach ersten, bislang noch vorläufigen Mitteilungen der zuständigen Aufsichtsbehörden in den Mitgliedstaa- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur ten dürften insgesamt ungefähr 80 bis 100 Finanzkon- Umsetzung der Richtlinie 2002/87/EG des Euro- glomerate unter die zusätzliche Aufsicht fallen. Davon päischen Parlaments und des Rates vom 16. De- entfallen rund acht bis zehn auf Unternehmen mit Sitz in zember 2002 (Finanzkonglomeraterichtlinie- Deutschland. Gemessen an den Bilanzsummen beträgt Umsetzungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 12) der Marktanteil der voraussichtlich betroffenen deut- schen Finanzkonglomerate rund 14 Prozent. Diese Kon- Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Nachdem wir letzte glomerate weisen insgesamt Eigenmittel in Höhe von Woche bereits einvernehmlich das Versicherungsauf- rund 66 Milliarden Euro auf. Gegenüber der Situation in sichtsgesetz beschlossen haben, erfolgt heute eine wei- Deutschland nehmen in anderen Mitgliedstaaten Finanz- tere wichtige Stärkung der Finanzmarktaufsicht: das Fi- konglomerate noch stärkere Positionen ein. nanzkonglomeraterichtlinie-Umsetzungsgesetz. Bei der Beaufsichtigung dieser grenzüberschreitend Mit diesem Gesetz wird die Beaufsichtigung von Fi- tätigen Finanzkonglomerate müssen demgemäß neue nanzgruppen aus Banken, Sparkassen, Versicherungsun- Wege beschritten werden. Der bisherige Zustand eines ternehmen und Finanzdienstleistungsinstituten auf eine weitgehend unkoordinierten Nebeneinanders der zustän- digen Finanzaufsichtsbehörden in den einzelnen Mit- (B) bessere Grundlage gestellt. Für eine Modernisierung der (D) Finanzaufsicht sprechen vor allem drei Gründe: gliedstaaten wird überwunden. Nur so können Anste- ckungseffekte bei finanziellen Schwierigkeiten eines Erstens konkurrieren die Banken, Sparkassen, Versi- beaufsichtigten Konglomerates vermieden werden. cherungsunternehmen und Finanzdienstleistungsinstitute Mit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsauf- zunehmend mit ähnlichen oder vergleichbaren Produk- sicht – BaFin – haben wir in Deutschland eine integrierte ten im Kundengeschäft. Neue Angebote zur kapitalge- Finanzaufsicht etabliert, welche für die Aufsicht über deckten Altersvorsorge haben diesen Trend verstärkt. Finanzkonglomerate bestens geeignet ist. Mit der BaFin Vor diesem Hintergrund ist eine sektorübergreifende Fi- steht den Unternehmen ein Ansprechpartner zur Verfü- nanzaufsicht angebracht. gung. Diesen Vorteil dürften vor allem auch die auslän- Zweitens gab es in jüngster Zeit Zusammenschlüsse dischen Finanzkonglomerate zu schätzen wissen. Soweit von Banken, Finanzdienstleistungsinstituten und Versi- deutsche Konglomerate bzw. Konglomerate unter Lei- cherungsunternehmen zu komplexen Finanzgruppen. tung eines in Deutschland beaufsichtigten Unternehmens Dadurch werden Synergien ausgeschöpft und zusätzli- betroffen sind, wird diese Aufgabe als Koordinator che Leistungskräfte freigesetzt. Allerdings wachsen zu- durch die BaFin übernommen. gleich die potenziellen Risiken infolge der engeren Zu den Aufgaben des Koordinators zählen unter an- Kapitalverflechtungen und internen Geschäftsverbin- derem die Koordinierung der Sammlung und Verbrei- dungen. Damit diese Risiken lückenlos erfasst und au- tung zweckdienlicher und grundlegender Informationen ßerdem beherrschbar bleiben, ist die Aufsicht über die bei der laufenden Beaufsichtigung sowie in Krisensitua- Finanzgruppen umfassend auszugestalten. Wenn zum tionen, die generelle Aufsicht und Beurteilung der Beispiel ein Mutterunternehmen eine Beteiligung an ei- Finanzlage eines Finanzkonglomerats und die Beurtei- ner ihrer Töchter auf der Aktivseite verbucht und die lung der Einhaltung der Vorschriften über die Eigenmit- Tochter dieselbe Beteiligung als Eigenkapital, dann telausstattung und der Bestimmungen über Risikokon- muss dies der Aufsicht mitgeteilt werden, damit die Ei- zentrationen und gruppeninterne Transaktionen. genmittel nicht größer erscheinen als sie sind. Von der engen Zusammenarbeit der Aufseher in Eu- Drittens haben sich die Finanzmärkte weiterentwi- ropa, welche in Zukunft noch weiter intensiviert werden ckelt. Zum einen sind die europäische Dimension und soll, können alle Beteiligten nur profitieren: die grenz- die internationalen Bezüge gewachsen. Grenzüber- überschreitend tätigen Finanzinstitute, weil die Unter- schreitende Geschäfte haben an Bedeutung gewonnen. schiede bei den nationalen Aufsichtspraktiken abgebaut Zum anderen gibt es zunehmend stärkere Verflechtungen werden, und die Aufseher, weil sie einen besseren Ein- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12435

(A) blick in die europaweit ansässigen Unternehmen eines bil bleibt und möglichst noch stabiler wird. Dies ist eine (C) Finanzkonglomerats erhalten. Dies nützt der Stabilität zwingende Voraussetzunge für wirtschaftliche Stabilität des Finanzsystems insgesamt und vermindert Risiken für in Europa. Sparer, Versicherungsnehmer und Anleger. Über diese Kernfrage gibt es innerhalb der im Deut- Beweggrund für die neuen Arrangements bei der Be- schen Bundestag vertretenden Fraktionen keine unter- aufsichtigung von Finanzkonglomeraten sind demgemäß schiedlichen Auffassungen. Folgende Aspekte sind bei Zweckmäßigkeitserwägungen, welche von praktischen allen Lösungen zu berücksichtigen: Bedürfnissen geleitet sind. Eine Neuordnung der euro- Erstens. Es ist nur so viel gesetzlich zu regeln, wie päischen Finanzaufsicht ist damit nicht verbunden. Das zwingend erforderlich ist, um die Bürokratie in diesem Prinzip der nationalen Zuständigkeiten bleibt insgesamt Bereich, die schon sehr fortgeschritten ist, nicht unnötig unangetastet. Die neuen Aufsichtsregelungen für Fi- zu erweitern. Mein persönlicher Eindruck ist, dass wir nanzkonglomerate begründen keine zentrale EU-Finanz- hier inzwischen eine kritische Grenze erreicht haben und aufsicht. in dieser Richtung ein Signal nach Brüssel geben sollten. Allerdings: Die Beaufsichtigung grenzüberschreitend Zweitens. Die entsprechenden EU-Richtlinien müs- tätiger Finanzkonglomerate setzt klare Regelungen, ver- sen so umgesetzt werden, dass die deutsche Finanzwirt- lässliche Arrangements und effiziente Vorkehrungen vo- schaft im Vergleich zu den anderen Ländern der EU raus. Mit der BaFin haben wir diesen effizienten Koordi- nicht benachteiligt wird. Wir Deutschen sind immer in nator. der Gefahr, EU-Recht „verschärft“ umzusetzen, wie ein Lassen Sie mich daher zusammenfassen: In der glo- Vertreter der Versicherungswirtschaft zutreffend ange- balisierten Wirtschaft nehmen Finanzkonglomerate eine merkt hat. bedeutende Stellung ein. Sie tragen in einem entschei- Drittens. Europa ist zwar ein wichtiger Teil des Welt- denden Umfang zur Versorgung der Wirtschaft und der finanzsystems, es gibt aber auch andere wichtige Zen- privaten Haushalte mit Bankprodukten, Versicherungs- tren, wie die Vereinigten Staaten und Japan, mit denen policen und anderen Finanzdienstleistungen bei. Im Hin- unsere europäischen Gesellschaften in Konkurrenz ste- blick auf die Stabilität des Finanzsystems und der Wirt- hen. Auch diese Überlegung muss immer berücksichtigt schaft insgesamt tragen sie eine hohe Verantwortung. Es werden. ist sachgerecht, dass staatliche Aufsichtsregelungen flankierend hinzukommen. Diese Aufsichtsregelungen Hintergrund des heute zu beratenden Gesetzes ist die basieren auf gemeinsamen europäischen Standards. Sie im Jahre 1999 beschlossene EU-Richtlinie zum Aktions- sehen eine noch engere Zusammenarbeit zwischen den plan für Finanzdienstleistungen der Europäischen Kom- (B) beteiligten Aufsichtsbehörden in den einzelnen Mit- mission. Im Rahmen dieses Aktionsplans kündigte die (D) gliedstaaten vor. Von den neuen Arrangements werden Kommission zusätzliche Aufsichtsvorschriften für Fi- letztlich auch die beaufsichtigten Unternehmen profitie- nanzgruppen an, mit denen Lücken in den geltenden ren, da Reibungsverluste infolge von Doppelbelastungen branchenbezogenen Rechtsvorschriften geschlossen und so weit wie möglich abgebaut werden. zusätzliche aufsichtsrechtliche Risiken abgedeckt wer- den sollten. Im Dezember 2002 hat dazu das Europäi- Herzlichen Dank an die Kolleginnen und Kollegen sche Parlament die Richtlinie 2002/87/EG beschlossen, der Opposition für die konstruktive Mitarbeit am Zustan- die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf in nationales dekommen dieses Gesetzes. Recht umgesetzt werden soll. Hintergrund ist die ver- mehrte Gründung von so genannten Finanzkonglomera- Otto Bernhardt (CDU/CSU): In zunehmendem ten, das heißt von Unternehmensgruppen, deren einzelne Maße beschäftigt sich der Bundestag mit der Umsetzung Unternehmen Dienstleistungen und Produkte sowohl im von EU-Richtlinien in nationales Recht bezogen auf den Versicherungssektor als auch im Banken- und Wertpa- Finanzsektor. Die Folge ist dadurch häufig eine sehr pierdienstleistungssektor und damit in verschiedenen Fi- kurze Frist, die dem Deutschen Bundestag zur Umset- nanzbranchen anbieten. Vereinfacht ausgedrückt han- zung der entsprechenden Richtlinien verbleibt, so wie delt es sich um Gesellschaften, die sich in der Regel dies auch bei dem jetzt zu beratenden Gesetz der Fall gleichzeitig im Banken- und Versicherungsbereich betä- war. tigen. Aufgrund des EU-Vertrages ist der deutsche Gesetz- Nach dem jetzigen Stand der Erkenntnisse dürften geber gezwungen, EU-Richtlinien in nationales Recht etwa zehn Gesellschaften in Deutschland und knapp 100 umzusetzen. In der Regel hat der nationale Gesetzgeber, in Europa von diesem Gesetz betroffen sein, darunter al- also der Deutsche Bundestag, nur einen verhältnismäßig lerdings so große Gesellschaften wie zum Beispiel die geringen Spielraum. Das heißt, die eigentlichen Ent- Allianz, die DZ-Bank, die Wüstenrot-Gruppe und die scheidungen treffen das Europäische Parlament und der Münchener Rück. Das heißt, es geht zwar nur um etwa Europäische Rat. Ziel all dieser Maßnahmen ist es, einen zehn Unternehmensgruppen in Deutschland, aber doch europäischen Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen um einen wesentlichen Teil des Finanzbereiches. zu vollenden. Durch das Gesetz, das heute verabschiedet werden Im Mittelpunkt all dieser Bemühungen steht die soll, ist vorgesehen, dass diese Unternehmensgruppen Frage, was kann bzw. muss getan werden, um sicherzu- eine branchenübergreifende Beaufsichtigung erhalten. stellen, dass der europäische Finanzmarkt insgesamt sta- Heute wird der Bankenbereich einer solchen Gruppe 12436 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

(A) speziell nach dem Kreditwesengesetz beaufsichtigt und uns ihren Sachverstand zur Verfügung gestellt haben. (C) der Versicherungsbereich nach dem Versicherungsauf- Mein Dank gilt aber auch den Kollegen der anderen sichtsgesetz. Durch eine zusätzliche Aufsicht sollen ins- Fraktionen und den zuständigen Mitarbeitern des Bun- besondere zwei mögliche Entwicklungen verhindert desfinanzministeriums. werden: Erstens, dass eine solche Firmengruppe vorhandenes Jutta Krüger-Jacob (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Eigenkapital doppelt belegt, und zweitens, dass gruppen- NEN): Das Finanzkonglomeraterichtlinie-Umsetzungs- intern Eigenkapital geschöpft wird. So etwas könnte ge- gesetz wird von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schehen, wenn eine Holding in diesem Bereich ein Dar- begrüßt. lehen aufnimmt und zum Beispiel ihren Töchtern als Heute Vormittag wurde angeregt, Gesetzen einfachere Gesellschafterdarlehen und damit als Eigenkapital im Namen zu geben. Genau dasselbe hätte ich mir auch für rechtlichen Sinne zur Verfügung stellt. Damit bleibt die dieses Gesetz gewünscht. vorhandene Eigenkapitalausstattung hinter dem eigentli- chen Risiko zurück. Die neuen Regelungen zur Beaufsichtigung von Finanzkonglomeraten stellen eine sachgerechte und not- Letztlich hat die zusatzliche Aufsicht zu prüfen, ob wendige Ergänzung der bisher bestehenden Aufsichts- durch die gleichzeitige Tätigkeit im Banken- und Versi- vorschriften dar. Sie sind geeignet, das Vertrauen sowohl cherungsbereich zusätzliche Risiken entstehen und, der professioneller Anleger als auch der privaten Kun- wenn ja, sicherzustellen, dass diese entsprechend abgesi- den in die Stabilität unseres Finanzplatzes zu festigen. chert werden. Darüber hinaus wird durch das heute zu Die Stärkung des Anleger- und Verbraucherschutzes beratende Gesetz klargestellt, inwieweit die beaufsich- durch Schaffung zeitgemäßer Rahmenbedingungen ist tigten Finanzgruppenunternehmen sicherstellen müssen, unser zentrales Anliegen. dass ein angemessenes Risikomanagement und ange- messene Kontrollmechanismen, einschließlich ord- Welchen Beitrag dazu liefert das heute zur Beratung nungsgemäßer Geschäftsorganisation und Rechnungs- anstehende Gesetz? Durch die europaweit harmonisierte legungsverfahren, vorhanden sind. Ebenfalls werden die Finanzmarktaufsicht bei Finanzkonglomeraten sollen die Anforderungen an die fachliche Eignung der Leitungsor- national und international agierenden Finanzgruppen gane von Finanzholdinggesellschaften und gemischten branchenübergreifend beaufsichtigt werden. Dies dient Finanzholdinggesellschaften geregelt. in erster Linie der Kontrolle einer risikoadäquaten Eigenkapitalausstattung und der Kontrolle gruppeninter- Von den betroffenen Verbänden wird das Gesetz aus- ner Transaktionen. Damit werden die Lücken geschlos- drücklich begrüßt. In einem internen Anhörungsverfah- sen, welche aus der bislang getrennten Beaufsichtigung (B) (D) ren haben sich die Hauptbetroffenen zu dem vorliegen- von Kreditinstituten, Wertpapierfirmen und Versiche- den Gesetzentwurf geäußert. Es ist uns gelungen, im rungsunternehmen resultieren. Eine getrennte Aufsicht Kreis der Berichterstatter aller vier Fraktionen für alle reicht nicht länger aus, um die Verflechtungen zwischen kritischen Punkte einvernehmliche Lösungen zu finden. den Banken und Versicherungsunternehmen innerhalb Für zwei Komplexe konnte aus rechtlichen Gründen eines Finanzkonglomerats und die damit einhergehenden keine optimale Lösung gefunden werden: Erstens. Kapi- Gefahrenpotenziale tatsächlich zu erfassen. Bislang talanlagegesellschaften: Unter Risikogesichtspunkten er- noch bestehende Schlupflöcher sollen nunmehr ge- scheint eine Einbeziehung in dieses Gesetz nicht erfor- schlossen werden. Dies wird eine Stärkung der Finanz- derlich. Die EU-Richtlinie verlangt dies nach Aussagen institute bewirken. Zugleich wird die Integrität des des Finanzministeriums aber zwingend. Das BMF hat Finanzsystems erhöht werden und all dies dient letztend- angekündigt, diesen Punkt bei einer der nächsten Bera- lich dem Schutz der Anleger. tungen in Brüssel anzusprechen, um dann gegebenen- Mit der Ausdehnung der Aufsicht nunmehr auch auf falls für eine Klarstellung zu sorgen. Finanzkonglomerate wird der Weg fortgeführt, der 2002 Zweitens. Behandlung von Industriegruppen, die nur mit der Errichtung der Bundesanstalt für Finanzdienst- im geringen Umfang im Finanzbereich tätig sind: Die leistungsaufsicht eingeschlagen worden ist. Die Errich- EU-Richtlinie verlangt, dass diese als Finanzgruppe be- tung der BaFin erfolgte vor dem Hintergrund tief grei- handelt werden und der entsprechenden Beaufsichtigung fender Veränderungen auf den Finanzmärkten. Banken, unterliegen, wenn der Anteil der Finanzunternehmen be- Versicherungen und Wertpapierhäuser konkurrieren zogen auf die Bilanzsumme mehr als 40 Prozent beträgt. heutzutage am selben Markt um denselben Kunden mit An der 40-Prozent-Grenze konnte keine Änderung vor- ähnlichen, oft sogar denselben Produkten. Die Zahl der genommen werden, da diese in der Richtlinie zwingend Schnittstellen zwischen den Produkten und deren Ver- vorgegeben ist. Das BFM hat ausdrücklich zu Protokoll trieb wächst. Organisation und Führung der einzelnen gegeben, dass die BaFin diese Bestimmung flexibel aus- Finanzinstitute sind heute vergleichbar strukturiert. Die legen kann und wird. Funktionen der Bank- und Versicherungsleistungen überschneiden bzw. ergänzen sich in ihren finanzwirt- Insofern können wir heute – mal wieder – für den Fi- schaftlichen Kerndimensionen. Die Angleichung der nanzbereich ein wichtiges Gesetz einstimmig verab- Bank-, Versicherungs- und Wertpapierprodukte ist vor schieden. Dies ist für die Stärkung des Finanzplatzes allem bei der Gewährung von Hypothekenkrediten, im Deutschland von großer Wichtigkeit. Abschließend ein Derivategeschäft, im Asset Management und bei der Dankeschön an die Sachverständigen und Verbände, die Kombination von Anlagefonds zur Kapitalbildung be- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12437

(A) reits weit fortgeschritten. Der europäische Binnenmarkt sätzliche Aufsichtsregeln die gruppeninterne Schöpfung (C) und die mit der Reform der Alterssicherung einherge- von Eigenkapital, aber auch die Doppelbelegung von Ei- hende Altersvorsorge wirken bei diesem Prozess als Ka- genkapital verhindert werden soll. talysator. Bislang wird eine Bank allein nach dem Kreditwesen- Die Verflechtung der Institute hat auch in Deutsch- gesetz, die Versicherungswirtschaft dagegen nach dem land zur Herausbildung komplexer Finanzkonglomerate Versicherungsaufsichtsgesetz beaufsichtigt. Künftig wird geführt. Ein bekanntes Beispiel ist der Zusammen- die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht schluss von Allianz und Dresdner Bank. Diese Finanz- diese übergreifende Funktion von Zusammenschlüssen gruppen zeichnen sich durch eine gemeinsame Strategie von Banken und Versicherungen beaufsichtigen. und ein zentrales Management aus. Sie stellen ein breit gefächeltes Finanzdienstleistungsangebot aus einer Zum Glück hat es in dieser Angelegenheit keinen Hand bereit. Vorfall gegeben, der den Gesetzgeber zum Einschreiten gezwungen hätte. Gleichwohl hält es auch die FDP bei Die veränderten Strukturen haben Handlungsbedarf der Änderung der Finanzdienstleistungen insgesamt für ausgelöst. Wenn Märkte sich ändern und branchenüber- notwendig, das Vertrauen in den Kapitalmarkt Deutsch- greifend neu zusammensetzen, muss konsequenterweise lands zu stärken und eine einheitliche Aufsicht für diese auch die staatliche Aufsicht über Märkte neu geordnet Finanzkonglomerate festzustellen. werden. Mit dem Gesetz werden zusätzliche Aufsichts- regelungen für Finanzkonglomerate eingeführt. Die Diese Aufsicht soll auch sämtliche Stufen der Unter- bisherigen Regelungen aus dem Kreditwesengesetz und nehmensgruppen erfassen. Die neue Aufsicht betrifft dem Versicherungsaufsichtsgesetz werden miteinander Konglomerate, bei denen die Finanzdienstleistungen verzahnt. Die BaFin ist nun auch federführend für die mindestens 40 Prozent an der Bilanzsumme ausmachen. Aufsicht über die Finanzkonglomerate. Die neuen Zudem müssen sie mindestens 6 Milliarden Euro sowohl Regelungen ermöglichen dabei eine genauere aufsichts- mit Versicherungen als auch im Bankgeschäft erwirt- rechtliche Behandlung von Solvabilität, also der Eigen- schaften. Kleinere Zusammenschlüsse fallen also nicht mittelausstattung in Relation zu den Risiken, Risikokon- unter diese zusätzliche Kontrolle. zentration, gruppeninternen Transaktionen, dem internen Voraussichtlich werden deshalb in Deutschland bis zu Risikomanagement und der Zuverlässigkeit und fachli- zehn Finanzkonglomerate betroffen sein, bei denen es chen Eignung der Geschäftsleitung. sich allerdings um große Unternehmen handelt. An die- Zur Vermeidung übermäßiger Härten gelten die neuen ser Stelle möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen, Aufsichtsregelungen nur für solche Finanzkonglome- dass alle diese Unternehmen über das notwendige Eigen- (B) rate, bei denen bestimmte Schwellenwerte hinsichtlich kapital verfügen und der Gesetzgeber nicht etwa auf- (D) ihrer Größe und weitere Voraussetzungen hinsichtlich grund eines konkreten Falles gezwungen ist, hier gesetz- der Geschäftsausrichtung erfüllt sind. Eine Unterneh- geberisch tätig zu werden. mensgruppe wird dann als ein Finanzkonglomerat einge- Mit diesem Gesetz wird eine zusätzliche gruppen- stuft, wenn sie vorwiegend in der Finanzbranche tätig weite Beaufsichtigung eingeführt. Dies führt zu einer ist. Zusätzlich wird verlangt, dass die am geringsten aus- besseren Beurteilung von Risiken im Zusammenhang geprägte Finanzaktivität innerhalb der Unternehmens- mit der Solvabilität, das heißt dem Verhältnis zwischen gruppe einen bestimmten Schwellenwert überschreitet. Prämien und Schäden einerseits und Eigenkapital ande- Die neuen Vorschriften sollen erstmalig ab dem 1. Ja- rerseits, zu einer besseren Beurteilung von Risiken bei nuar 2005 gelten. Risikokonzentrationen und auch bei gruppeninternen Wie bereits eingangs ausgeführt, geht uns um eine Transaktionen. Zusätzlich wird das interne Risiko- Stärkung der Solidität und Integrität des Finanzsektors management stärker gefordert und überprüft. Auch wird im Interesse eines wirksamen Anlegerschutzes. Der Ka- sichergestellt, dass die Geschäftsleitung zuverlässig ist pitalmarkt gewinnt für die professionellen und privaten und über entsprechende fachliche Qualifikationen ver- Kunden zunehmend an Bedeutung: Altersvorsorge, Un- fügt. ternehmensfinanzierung sowie internationale Attraktivi- Für die FDP möchte ich auch begrüßen, dass als tät und Wettbewerbsfähigkeit sind nur einige Stich- Reaktion auf die Anhörung die Staatssekretärin im punkte. Aus diesem Grunde muss das Vertrauen der Finanzausschuss zu Protokoll gegeben hat, dass von der Anleger in den deutschen Finanzmarkt gestärkt und gesi- Umsetzung dieser Richtlinie Industrieunternehmen, die chert werden. Die neuen Regelungen zur Beaufsichti- auch über eine oder mehrere Banken und Versicherun- gung von Finanzkonglomeraten werden die Wandlungs- gen verfügen, nicht unter dieses Gesetz fallen, wenn der möglichkeiten der Aufsicht erweitern und stärken. Dies industrielle Charakter wirtschaftlich weit überwiegend dient nicht zuletzt dem Anleger- und Verbraucherschutz. ist. Damit soll der in der Anhörung beschriebene „unbe- Deshalb befürwortet die Fraktion von Bündnis 90/ absichtigte Kollateralschaden“ vermieden werden. Die Grünen den Gesetzentwurf der Bundesregierung. Trotz der zusätzlichen Beaufsichtigung durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungesaufsicht freue Carl-Ludwig Thiele (FDP): Mit diesem Gesetzent- ich mich darüber, dass aufgrund dieses Gesetzes keine wurf wird die Finanzkonglomeraterichtlinie umgesetzt. neuen Stellen geschaffen werden. Damit wird eine wei- Hinter diesem Begriff steht insbesondere, dass durch zu- tere finanzielle Belastung der Finanzinstitute vermieden. 12438 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

(A) Für die FDP möchte ich mich auch für die gute Zu- ihrer sektorübergreifenden Ausrichtung für die zusätzli- (C) sammenarbeit mit den anderen Fraktionen und der Bun- che Aufsicht über Finanzkonglomerate richtig aufge- desregierung bedanken. Anregungen aus der Anhörung stellt. Mit der BaFin steht den Unternehmen ein An- und auch aus den parlamentarischen Beratungen sind so sprechpartner zur Verfügung. Diesen Vorteil dürften vor aufgenommen und besprochen worden, dass dieses Ge- allem auch die ausländischen Finanzkonglomerate zu setz die Zustimmung der betroffenen Wirtschaftskreise schätzen wissen. Im Hinblick auf die zusätzliche Auf- erhalten hat. Die EU-Richtlinie wird eins zu eins umge- sicht wollen wir die Befugnisse der BaFin präzisieren. setzt. Auf darüber hinausgehende Regelungen ist ver- zichtet worden. Wir wollen klare und verlässliche Regelungen für un- sere Finanzaufsicht, vor allem auch im Hinblick auf die Für die FDP gehe ich davon aus, dass dieser Geset- Zusammenarbeit mit den europäischen Partnerbehörden zesentwurf im Gesamtergebnis zu einer Stärkung der bei der Aufsicht über die Finanzkonglomerate. Wettbewerbsfähigkeit der Finanz- und Versicherungsin- stitute unseres Landes, des Finanzsektors und damit des Drittens: die Beschränkung der zusätzlichen Aufsicht Standortes Deutschland insgesamt führt. auf ein sachlich gebotenes Mindestmaß. Die neuen Re- gelungen gelten für die großen Finanzkonglomerate. Dr. Barbara Hendricks, Parlamentarische Staats- Hingegen sollen Unternehmensgruppen mit geringer und sekretärin beim Bundesminister der Finanzen: Ein star- unbedeutender branchenübergreifender Tätigkeit von ker und stabiler Finanzplatz stellt ein wichtiges Anliegen der zusätzlichen Aufsicht nicht erfasst werden. Damit für diese Bundesregierung dar. Dazu gehört eine sachge- wird sich der Anwendungsbereich in Deutschland auf rechte Beaufsichtigung komplexer Finanzgruppen aus eine kleinere Anzahl – voraussichtlich nicht mehr als dem Kreditgewerbe, Versicherungssektor und Wertpa- zehn – Finanzkonglomerate konzentrieren, deren Bedeu- pierbereich. Hierzu gibt es heute europaweit anerkannte tung für die gesamte Finanzbranche allerdings erheblich Standards, die wir nunmehr in Deutschland einführen ist. Gemessen an den Bilanzsummen beträgt deren wollen. Diesem Zweck dient der vorliegende Gesetzent- Marktanteil rund 14,5 Prozent. Lassen Sie mich klarstel- wurf. len: Es geht nicht darum, industriell geprägte Konglome- rate unter die Finanzaufsicht zu stellen, Solche Unter- Worum geht es dabei? Das Gesetz erweitert die beste- nehmensgruppen sind von den neuen Regelungen nicht henden Vorschriften für die staatliche Banken-, Wertpa- betroffen. pier- und Versicherungsaufsicht mit dem Ziel einer verbesserten Aufsicht über Finanzkonglomerate. Als Lassen Sie mich die Eckpunkte des Gesetzes noch Finanzkonglomerate werden Unternehmensgruppen aus einmal kurz darstellen: Mit dem Gesetz sollen die beste- (B) dem Finanzdienstleistungsbereich bezeichnet, welche henden Lücken der bislang nur branchenbezogenen Auf- (D) sowohl Bank bzw. Wertpapierdienstleistungen als auch sichtsvorschriften geschlossen werden. Die bisherigen Versicherungsprodukte anbieten. Solche Unternehmens- Regelungen aus dem Kreditwesengesetz und dem Versi- gruppen sind typischerweise grenzüberschreitend tätig. cherungsaufsichtsgesetz sind an die Kreditinstitute, Fi- Die Beaufsichtigung der Finanzkonglomerate wird des- nanzdienstleistungsinstitute und Versicherungsunterneh- halb nach europaweit abgestimmten Regelungen erfol- men gerichtet, nicht aber an Finanzkonglomerate. gen. Nunmehr sollen die Regelungen mit dem Ziel einer ver- Mit dem Gesetz verfolgt die Bundesregierung vor al- besserten Aufsicht über die Unternehmen eines Finanz- lem drei Zielsetzungen: Erstens; die Verbesserung der konglomerats ergänzt werden. Ein Finanzkonglomerat Grundlagen für die Stabilität unseres Finanzsystems. Fi- muss insgesamt angemessene Eigenmittel haben. Das nanzkonglomerate zählen auch international zu den Ziel der Regelungen besteht in der Sicherstellung einer größten Akteuren auf den Finanzmärkten, in Deutsch- Eigenmittelausstattung, die den Risiken einer branchen- land zum Beispiel Allianz/Dresdner Bank, die DZ Bank- übergreifend tätigen Unternehmensgruppe angemessen Gruppe. Gerieten die Finanzkonglomerate, insbesondere Rechnung trägt. Daher wird auf Konglomeratsebene für die dazugehörigen Kreditinstitute, Versicherungsunter- Aufsichtszwecke die Mehrfachbelegung von Eigenkapi- nehmen und Wertpapierfirmen in finanzielle Schwierig- tal ebenso ausgeschlossen wie jede unangemessene keiten, so könnte dies die Stabilität des Finanzsystems gruppeninterne Eigenmittelschöpfung. gefährden und Sparern, Versicherungsnehmern und An- Das übergeordnete Finanzkonglomeratsunternehmen legern Schaden zufügen. Wenn in diesem Zusammen- ist für eine angemessene Eigenmittelausstattung verant- hang von Versicherungsunternehmen gesprochen wird, wortlich und hat der Aufsicht die für die Überprüfung er- so sind diejenigen Versicherer gemeint, welche nach den forderlichen Angaben einzureichen. Können für diese Vorschriften des Versicherungsaufsichtsgesetzes beauf- Unternehmen die erforderlichen Angaben nicht be- sichtigt werden. Dazu sollen später auch die Rückversi- schafft werden, soll die Aufsicht die Befugnis erhalten, cherer zählen, sobald die gesetzlichen Voraussetzungen geeignete Maßnahmen zur Abhilfe ergreifen zu können. dafür geschaffen sind. Damit etwaige Ansteckungseffekte bei finanziellen Zweitens: die Stärkung unserer Finanzdienstleis- Schwierigkeiten eines einzelnen beaufsichtigten Unter- tungsaufsicht im europäischen Kontext. Mit der Bundes- nehmens innerhalb des Finanzkonglomerats frühzeitig anstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht – BaFin – hat erkannt werden, soll die Informationslage verbessert diese Bundesregierung die Finanzaufsicht in Deutsch- werden. Zu diesem Zweck werden Meldevorschriften land im Jahre 2002 modernisiert. Die BaFin ist aufgrund über gruppeninterne Finanzgeschäfte eingeführt. Dies Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12439

(A) dient einer verbesserten Erfassung von Kapitaltransfers tete Ortschaften hat an der Lärmreduzierung seinen An- (C) zwischen den Unternehmen eines Finanzkonglomerats. teil. Durch die Berücksichtigung von Risikokonzentratio- Trotz dieser vielen Bemühungen, die Bevölkerung nen sollen Sachverhalte erfasst werden, bei denen das vor zu viel Lärm zu schützen, ist die Situation nach wie Gleichgewicht zwischen gebotener Spezialisierung und vor nicht befriedigend. In Deutschland fühlen sich zwei mangelnder Diversifikation der Risiken auf der Ebene Drittel der Bevölkerung von Straßenlärm, mehr als ein des Finanzkonglomerats nicht gewahrt wird. Die betrof- Drittel von Fluglärm, circa ein Fünftel von Schienenver- fenen Unternehmen haben eine Anzeigepflicht gegen- kehrslärm sowie ein Viertel von Industrie- und Gewerbe- über der Aufsicht. Die Beaufsichtigung grenzüberschrei- lärm belästigt. Lärm ist aber weit mehr als nur ein reines tend tätiger Finanzkonglomerate soll für alle Beteiligten Ärgernis. Er mindert die Lebensqualität und beeinträch- effizienter ausgestaltet werden. Dazu wollen wir klare tigt unsere Gesundheit. Lärm ist eine Belästigung. Regelungen, verlässliche Arrangements und geeignete institutioneile Rahmenbedingungen schaffen. In § 3 BImSchG steht, dass der Mensch nicht nur vor gesundheitlichen Gefahren durch Umwelteinwirkungen Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht zu schützen ist, sondern ebenfalls vor erheblichen Beläs- wird künftig die Rolle des so genannten Koordinators tigungen und Nachteilen. Bei den Diskussionen zur bei der Aufsicht über Finanzkonglomerate übernehmen, Lärmminderung ist es erforderlich, nicht einzelne Lärm- soweit deutsche Konglomerate betroffen sind. Der Koor- quellen separat zu betrachten, sondern verschiedene dinator wird zu einer höheren Effektivität bei der Auf- Lärmquellen müssen einer gemeinsamen Bewertung und sicht und außerdem zu einer stärkeren Vereinheitlichung Betrachtung unterzogen werden. Menschen sind in der der europäischen Finanzaufsicht beitragen, Regel nicht nur einer Lärmquelle ausgesetzt, sondern ei- Mit den Regelungen für die zusätzliche Beaufsichti- ner großen Anzahl verschiedener Lärmeinflüsse. Genau gung von Finanzkonglomeraten werden die ordnungspo- diese Tatsache wird auch in der Richtlinie zum Umge- litischen und aufsichtsrechtlichen Rahmenbedingungen bungslärm und im vorliegenden Gesetzentwurf der Bun- für den Finanzplatz Deutschland gestärkt. Mit Blick auf desregierung aufgegriffen. die erhebliche Bedeutung der Finanzkonglomerate für Mit der Umgebungslärm-Richtlinie bekommt die den hiesigen Finanzmarkt und für unsere Wirtschaft ins- Lärmschutzpolitik in Europa einen völlig anderen Stel- gesamt sind die neuen Vorschriften angemessen. Für lenwert. Erstmalig führt sie über eine allein emissions- kleinere Finanzgruppen ohne systemweite Bedeutung orientierte Politik hinaus. Sie ist auf die Förderung von gelten die bestehenden Vorschriften unverändert weiter. Lärmqualitätszielen gerichtet, auch wenn keine Immis- Nur die großen Finanzkonglomerate haben künftig die sionsgrenz- oder Immissionsrichtwerte vorgegeben wer- (B) neuen Aufsichtsregeln zu beachten. Die zusätzliche Auf- den. (D) sicht wird eng an die europäischen Standards ausgerich- tet werden. Damit werden etwaige Wettbewerbsbeein- Die Pflichten der Mitgliedstaaten gewährleisten, dass trächtigungen vermieden. Diese Feststellung haben uns die vorzulegenden Programme von einer gesamthaften die Sachverständigen in der Anhörung des Finanzaus- summativen Betrachtung der Belastungen der Bevölke- schusses zu dem Gesetzentwurf bestätigt. Nachteilige rung durch Umgebungslärm auszugehen haben. Im deut- Auswirkungen zulasten der deutschen Institute und Un- schen Recht soll die Richtlinie im BlmSchG umgesetzt ternehmen sind nicht zu erwarten. werden. Wir begrüßen das ausdrücklich, bietet sich hier für uns doch die Chance, das schlimmste Defizit im Nach den umfangreichen und fraktionsübergreifenden deutschen Recht, die segmentierte Betrachtung und Be- Abstimmungen zu diesem Gesetzentwurf im bisherigen urteilung der verschiedensten Lärmquellen, zu beseiti- parlamentarischen Verfahren bitte ich nun um Ihre Zu- gen. Lärmquellen werden in Zukunft in einem Konzept stimmung zu diesem Gesetzentwurf. summativer akzeptorbezogener Bewertungen der Ge- samtlärmbetrachtung der jeweils betroffenen Bevölke- rung erfasst. Anlage 4 Was sind zukünftig unsere Pflichten? Durch die Erar- Zu Protokoll gegebene Reden beitung von Lärmkarten wird ein verbesserter Informa- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur tionsstand über Lärmbelästigung gewährleistet. Durch Umsetzung der EG-Richtlinie über die Bewer- Lärmaktionspläne auf lokaler und regionaler Ebene wird tung und Bekämpfung von Umgebungslärm die Information der Öffentlichkeit über bestehende (Tagesordnungspunkt 13) Lärmbelästigungen verbessert. Die Erarbeitung von Ak- tionsplänen für Hauptlärmquellen und für Ballungszen- tren und ihre Aktualisierung in festgelegten Zeiträumen Petra Bierwirth (SPD): In den letzten Jahren gab es ist Pflicht. Für die betroffene Bevölkerung eröffnet sich die vielfältigsten Bemühungen der Lärmminderung, sei die Möglichkeit, sich aktiv mit einzubringen. es durch passive Lärmschutzmaßnahmen wie zum Bei- spiel den Bau von Schallschutzwänden an Autobahnen Mit der Umsetzung dieser neuen Regelungen sind na- und Schienenverkehrswegen oder den Einbau von türlich auch Kosten verbunden, die auf den Bund, die Schallschutzfenstern. Lärm wurde auch durch techni- Länder und die Kommunen zukommen. Um den Kom- sche Verbesserungen an der Quelle reduziert. Auch der munen hier entgegenzukommen, haben wir gemeinsam Bau von Umgehungsstraßen durch ehemals stark belas- mit den Verkehrspolitikern den Vorschlag in unsere 12440 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

(A) Beratungen eingebracht, das Gemeindeverkehrsfinanzie- versucht. Aber damit lösen sie das Finanzierungsproblem (C) rungsgesetz dahin gehend zu ändern, dass unter anderem der Gemeinden nicht, da beim GVFG Anteilsfinanzierun- die Aufstellung und Überarbeitung von Lärmkarten und gen der Kommunen erforderlich sind. Lärmminderungsplänen gefördert werden können. Die Finanzlage der Kommunen ist so verheerend, Ich meine, dass wir die neuen Vorgaben zum Umge- dass für die Lärmminderungsmaßnahmen, die zum bungslärm nicht nur durch die Brille der Mein-Gott-was- Schutz der Gesundheit der Bevölkerung eingeleitet wer- uns-das-schon-wieder-kostet-Diskussion sehen dürfen. den könnten, kein Geld da ist. Mit dem Beteiligungsver- Gesundheit ist nicht durch Geld aufzuwiegen. Auch die fahren, wie das Gesetz es jetzt vorsieht, werden Wün- Krankheiten, die durch Lärm entstanden sind, werden sche und Ansprüche beim Bürger geweckt. Der Ärger in durch uns alle finanziert. Jeder Aktionsplan, jede Lärm- den Kommunen ist vorprogrammiert, wenn sie zwar karte, jede Schallschutzwand, überhaupt das Prinzip Lärmplanungen aufstellen, aber finanziell nicht in der Vorsorge statt Nachsorge, ist auf Dauer billiger. Lage sind, auch effektiven Lärmschutz zu betreiben. Lärmschutz ist Gesundheitsschutz. Helfen wir bei der Die Tatsache, dass materielle Fragen nicht durch das schnellen Umsetzung des vorliegenden Gesetzes mit und Gesetz selbst, sondern per Rechtsverordnung geregelt stimmen ihm zu. werden, bedeutet schlicht, dass wir als Parlamentarier außen vor gelassen werden. Das ist nicht zu akzeptieren. Enak Ferlemann (CDU): Wir reden und reden da- Die Forderung des Bundesrates nach einer konzeptio- von, dass Deutschland dringend Bürokratie abbauen nellen Neuausrichtung des Gesetzes ist vollkommen muss, die Verfahren beschleunigt und die Kosten redu- richtig und wird sicherlich zu einem Vermittlungsverfah- ziert werden müssen. Der Bundesrat hat das auch zum ren führen, das hoffentlich ein besseres Ergebnis bringt Maßstab seiner Stellungnahme gemacht. als der vorliegende Gesetzentwurf. Wie der Bundesrat es gefordert hat, hätte die Umset- Aus den genannten und weiteren Gründen wird meine zung der Umgebungslärm-Richtlinie mit diesem Gesetz Fraktion diesem Gesetz nicht zustimmen. deshalb eins zu eins erfolgen müssen. Es kann bei der Lage, in der wir in Deutschland sind, nicht mehr hinge- Franz Obermeier (CDU/CSU): In Sachen Lärm nommen werden, dass wir in unseren nationalen Regel- wird nun auf die letzte Minute richtig Gas gegeben, al- werken über das hinausgehen, was EU-Richtlinien vor- lerdings nach dem Motto „Augen zu und durch“; denn geben. Eine andere Haltung können wir uns nicht mehr leider hat unsere Diskussion im Umweltausschuss nicht leisten. In diesem Gesetz finden sich aber Regelungen, dazu geführt, dass die vorhandenen Unzulänglichkeiten (B) die über die europäischen Vorgaben hinausgehen. Des- auch nur im Ansatz beseitigt worden sind. Das ist bedau- (D) halb werden wir dem nicht zustimmen. erlich, da es nicht um bloße Schönheitsoperationen geht. Es geht um richtige Mängel, Mängel, die richtig teuer Bund, Ländern und Gemeinden fehlt an allen Ecken werden, teuer vor allem für den Wirtschaftsstandort und Enden Geld. Bürokratieaufwand durch lange, kom- Deutschland. plizierte Verfahren frisst Geld, das wir dringend für In- vestitionen brauchen. In dieser Situation wird mit die- Die Kostenfrage, die Frage, wen die neue Verfahrens- sem Gesetz unter anderem durch ein überzogenes weise was kosten wird, steht völlig losgelöst im Raum. Verfahren zur Beteiligung der Öffentlichkeit an der Allein die Information der Öffentlichkeit, die Messun- Lärmminderungsplanung die nächste Bürokratiehürde gen, Kartographierungen und Minderungspläne lassen geschaffen. Wenn wir in diesem Land wieder vorankom- nicht nur neue und hohe Kosten erwarten, sondern sind men wollen, müssen wir mit dieser Behinderungspolitik neue Bremsklötze für Investitionen und Arbeitsplätze. aufhören, denn nichts anderes bedeuten diese aufwendi- Die Kostenbelastung für die Unternehmen ist nicht ab- gen Verfahren. Die dringend notwendigen Straßen- und schätzbar. Es gibt keine Planungssicherheit für die In- Schienenbaumaßnahmen, die wir erst vor einigen Mona- dustrie. Das ist ein weiterer Standortnachteil! Und dann ten beschlossen haben, kommen leider noch langsamer sollen die verschiedenen Verkehrsträger auch noch un- voran, wenn Lärmminderungsplanungen mit hohem terschiedlich behandelt werden. Verkehrsflughäfen und Zeitaufwand gemacht werden müssen. Um das klar zu Unternehmen des Eisenbahnverkehrs sollen die Kosten sagen: Ich stoße mich nicht an der Umgebungslärm- für Lärmkartierung selbst tragen, für andere Lärmkartie- Richtlinie der EU, sondern daran, dass die gewählte Ver- rungen kommt der Steuerzahler auf. Wieso, weshalb, fahrensart für die Öffentlichkeitsbeteiligung zu einer warum? BImSchG-Anlagen einbezogen. Die EG-RL weiteren Behinderung missbraucht werden wird. sieht das nicht vor. Wieso tun Sie das? Als Verkehrspolitiker sage ich Ihnen, dass dies für un- Genauso frage ich mich, warum Sie, verehrte Kolle- sere Verkehrsinfrastruktur Gift ist. Und als Bau- und ginnen und Kollegen der Regierungskoalition, nicht Kommunalpolitiker sage ich Ihnen mit Blick auf die kom- auch beim Fluglärmgesetz endlich durchgestartet sind. munale Lärmminderungsplanung nach § 47 a BlmSchG, Es ist ein Unding, dass es bis heute nicht einmal zu einer dass die Gemeinden sie bisher schon nicht willentlich, Ressortabstimmung des Referentenentwurfs gereicht sondern wegen der fehlenden finanziellen Förderung ver- hat. Dabei wäre es in punkto Fluglärm ein Gebot der nachlässigt haben. Dieses Problem haben Sie, Kollegin- Vernunft, beide Bereiche zu koordinieren und irgendwie nen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, durch die von von Anfang an aufeinander abzustimmen. Schließlich Ihnen beschlossenen Maßgaben ja auch nachzubessern geht es doch nur um die eine Frage: Was ist zu laut und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12441

(A) wie kann das verhindert werden? Dazu bedarf es nicht nicht sein, dass man ohne Grenzwerte erst mal gar nichts (C) der verschiedensten Verwaltungsverfahren in den unter- macht. schiedlichsten Verästelungen und Überschneidungen. Wir leiden ja nicht gerade unter zu wenig Bürokratie und Was sind die Vorzüge der neuen Regelung? Bisher zu kurzen Verfahrensdauern. Das Gegenteil ist das Ge- spricht das geltende Recht vor allem von „schädlichen Einwirkungen durch Geräusche in bestimmten Gebie- bot der Stunde und das sind Abbau und Vermeidung ten“. Die Umgebungslärm-Richtlinie geht von dem aus, überbordender Vorschriften. Warum geht der Regie- was evident ist: Es gibt – fast – überall Lärm. Besonders rungsentwurf auch hier noch immer über die EU-Richtli- unerträglich ist der Lärm in Ballungsgebieten, also dort, nie hinaus und warum ist er mehr als reichlich bespickt wo viele Lärmquellen zusammenkommen. Erstmals mit komplizierten Verfahrensregeln und überzogener werden alle Lärmarten erfasst. Wenn jemand in der Stadt Regulierung? Ich weiß nur eine Antwort: Das kommt an einer Hauptverkehrsstraße wohnt, nicht weit von ei- raus, wenn man bis zur letzten Minute zuwartet und ner Bahntrasse und im Einfugsbereich des Flughafens, dann mit der heißen Nadel stricken muss. ist es wenig aussagekräftig, wenn man nur den Schie- Mir missfällt auch, dass weiterhin viel zu viele Be- nenlärm misst. Deshalb ist ein integrierter Regelungsan- griffe erst durch Rechtsverordnungen erläutert und gere- satz nötig. gelt werden sollen. Nun, es ist für die Regierung sicher Management of Environmental Noise ist auf die Ver- nicht angenehm, wenn ihre Gesetzentwürfe im Parla- besserung der Lärmsituation ausgerichtet und eben nicht mentsverfahren immer Punkt für Punkt auseinander ge- nur auf eingreifende Maßnahmen dort, wo es schon un- nommen werden. Da lockt das Instrument der Rechts- erträglich laut ist. Schon der neue Begriff zeigt an, dass verordnung sicherlich mit süßem Klang. Aber bei einem es um mehr geht: Umgebungslärm. Gemeint sind uner- so zentralen Umweltproblem wie dem Umgebungslärm wünschte Geräusche weit unter der Schwelle der bisher handelt es sich zugleich um einen klassischen Zielkon- üblichen „schädlichen Umwelteinwirkungen“. Er zielt flikt. Betroffen sind die unterschiedlichsten Ressorts; ich auf Umweltqualität und den Schutz ruhiger Gebiete. De- nenne nur Umwelt, Gesundheit, Wirtschaft. Gerade in finition und Konzept von Umgebungslärm sind einem der Festlegung der Messverfahren, der Festlegung der unserer Grundprinzipien beim Schutz von Mensch und Grenzwerte, der kostentreibenden Ausgestaltung der Umwelt verpflichtet: dem Vorsorgeprinzip. Verwaltungsverfahren und in der Öffentlichkeitsbeteili- gung steckt die ganze Brisanz. Da sollte man doch den Was wird das Gesetz für Lärmgeplagte verbessern? Sachverstand eines ganzen Parlaments nicht von vorn- Das Hauptziel ist es, Umgebungslärm deutlich zu verrin- herein ausblenden und durch großzügig eingeräumte Er- gern bzw. zu vermeiden und damit einen Beitrag zur Ge- sundheitsprävention zu leisten. Hierfür wird das Bundes- (B) messensspielräume von Behörden ersetzen wollen. Ins- (D) besondere für Flughafenstandorte muss es klare und Immissionsschutzgesetzes geändert und erweitert. Mit einheitliche Lärmschutzstandards geben. dem Gesetz werden Vorgaben gemacht für die Aufstel- lung von Strategischen Lärmkarten für Ballungsräume: Der heute vorgelegte Entwurf enthält gegenüber der Hauptverkehrsstraßen, Haupteisenbahnstrecken, Groß- ersten Beratung keine zufrieden stellenden Änderungen. flughäfen. Die Aufstellung von Lärmkarten wird ver- Er geht nach wie vor über die EU-Richtlinie hinaus. Die pflichtend. Bei zu hohen Lärmbelastungen müssen Verfahrensweisen sind zu kompliziert, die Kosten nicht Lärmminderungspläne erstellt werden mit Maßnahmen absehbar. Die vorgesehenen Ermessenspielräume für die zur Bekämpfung des Umgebungslärms und Maßnahmen Behörden sind zu groß. Der Weg über Rechtsverordnun- zum Schutz ruhiger Gebiete. gen klammert die Mitwirkung des Parlaments in wichti- Die Information und Beteiligung der Bürger wird ver- gen Bereichen aus. Deshalb lehne ich den Gesetzentwurf bessert. Künftig hat jeder Bürger und jede Bürgerin ei- weiter ab. nen Anspruch auf Information, zum Beispiel über die Daten der Lärmkarten. Die Öffentlichkeit ist bei der Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aufstellung von Lärmminderungsplänen zu beteiligen. Die Europäische Kommission hat das Thema Lärm- Dies folgt im Übrigen den umfangreichen Vorgaben zur schutz spät entdeckt. Erst 1996 wurde mit einem Grün- Öffentlichkeitsbeteiligung und zum besseren Zugang zu buch das Problemfeld Lärm thematisiert. Im Juli 2001 Informationen im Umweltrecht durch die Aarhus-Kon- trat dann die Umgebungslärm-Richtlinie in Kraft. Mit vention. der Richtlinie wird EU-weit ein erstes gemeinsames Der Bundesrat hat ein weiteres Mal einen Gesetzent- Konzept zur Bekämpfung der Belastung durch Umge- wurf der Bundesregierung abgelehnt: Es sei zu bürokra- bungslärm eingeführt. Das ist ein Erfolg. Sie formuliert tisch. Es sei zu teuer. Die Regelungskompetenz der Län- Vorgaben für die Kartierung, einheitliche Messverfah- der sei verletzt etc. – Der Bundesrat bringt hier eine ren, die Aufstellung von Lärmplänen, die Beteiligung Fundamentalkritik am Konzept vor und formuliert For- und Information der Öffentlichkeit und Berichte der MS derungen, die zu einer Umsetzung führen würden, die an die Kommission. nicht richtlinienkonform wäre. Sie ist freilich nur ein erster Schritt, mit europäischem Nicht nur in diesem Fall stehen wir vor einer absur- Recht auch Lärm zu erfassen; denn bei der Formulierung den Situation: Erst fordert der Bundesrat die Bundesre- der Richtlinie ist es nicht gelungen, bereits Grenzwerte gierung damit implizit zum Bruch europäischen Rechts für Lärmbelastungen festzusetzen. Aber die Folge kann auf. Dann verzögert er mit Vermittlungsverfahren die 12442 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

(A) Umsetzung. Später behindern und/oder verschleppen die gebungslärm-Richtlinie in Deutschland umgesetzt wird, (C) in der Mehrheit unionsgeführten Länder den Vollzug und zum Wohle der lärmgeplagten Menschen. zum guten Schluss zeigt der Bundesrat mit dem Finger vorzugsweise auf den grünen Umweltminister und be- Michael Kauch (FDP): Die FDP-Bundestagsfraktion hauptet, Rot-Grün habe es mal wieder nicht hinbekom- begrüßt weiterhin die Zielsetzung der EU-Umgebungs- men. Der Bundesrat muss aufpassen, dass er nicht zum lärm-Richtlinie, gesundheitsschädlichen Lärm quellen- Organ zur Verhinderung von europäischem Umweltrecht übergreifend an Verkehrswegen und in Wohngebieten zu verkommt. erfassen, als wichtigen Schritt zur Lärmbekämpfung. Doch auch nach der Beratung im Umweltausschuss ha- Mit Blick auf die gemeinsame Lösung von Sachpro- ben sich unsere Bedenken gegen die Art und Weise der blemen – hier: Lärmschutz für unsere Bevölkerung – deutschen Umsetzung bestätigt. müssen wir aufhören mit diesem Kinderkram. Wir wis- sen, dass auf die Länder und Kommunen mit der Kartie- Dieser Gesetzentwurf ist komplizierter, als er nach der rung und Erstellung von Aktionsplänen neue Aufgaben Umgebungslärm-Richtlinie der EU sein müsste, und die zukommen. Doch gab es schon vor der Richtlinie Vorga- Kosten werden nicht verkehrsträgerneutral erhoben. Bei ben zum Lärmschutz. Die Begründung zum Gesetzent- der Lärmminderungsplanung wird die aufwendige Stra- wurf zeigt eine Vielzahl von Vollzugsdefiziten auf, die tegische Umweltprüfung zur Pflicht erklärt und – was am wir beheben müssen, um einen wirksamen Schutz der schwersten wiegt – zentrale materielle Fragen werden in Menschen vor Lärm zu gewährleisten. diesem Gesetz erst gar nicht geregelt. Im Gesetzentwurf fehlt die Definition der Hauptlärmquellen, in deren Um- Wir als Parlament haben mit einem Änderungsantrag feld Lärmkarten erstellt werden müssen. Es fehlen die zum Gesetzentwurf den Kommunen den Zugriff auf Mit- Kriterien, wann überhaupt Lärmminderungspläne aufge- tel aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz stellt werden müssen. Und es fehlen Ziele und Zielwerte, – GVFG – ermöglicht. Wir versetzen die Gemeinden da- an denen sich die Pläne orientieren sollen. mit in die Lage, eine effektive Lärmminderungsplanung durchzuführen und die Planungen auch zu realisieren. Diese Punkte – und nicht die reinen Verfahrensfragen Wenn die Lärmbelastung an Hot Spots zu hoch ist, kön- des Gesetzes – entscheiden aber über die Qualität des nen also nicht nur Umgehungsstraßen gebaut werden, Lärmschutzes für die Bürgerinnen und Bürger. Diese um den Lärm aus den belasteten Gebieten zu verbannen, Entscheidungen werden nachträglich durch Rechtsver- sondern auch Lärmminderungsmaßnahmen finanziert ordnungen getroffen, ohne dass dann das Parlament ge- werden. Damit wird ein wichtiger kommunaler Kritik- fragt werden muss. Das ist das politische Verständnis punkt positiv abgearbeitet. rot-grüner Regierungspolitik. (B) Stichwort Fluglärm: Auch bei diesem Gesetz rächt (D) Wir werden Verkehrslärm nicht abschaffen; denn alle sich die bisherige Untätigkeit der Bundesregierung bei wollen und müssen mobil sein. Aber wir können zum der Novellierung des Fluglärmgesetzes. Der Gesetzent- Beispiel Straßen mit leisen Belägen, mit Flüsterasphalt, wurf verweist bei der Lärmminderung an Flughäfen auf oder Lärmschutzwände bauen und zudem leisere Fahr- die Schutzziele des völlig überalterten Fluglärmgesetzes. zeuge fördern. Dass Behörden nach Ermessen strengere Lärmminde- Auch Kartierungen können die Kommunen aus die- rungspläne aufstellen können, löst das Problem nicht. sem Fonds bezahlen. Nachhaltige Mobilität heißt für uns Durch diese Regelung wird der Willkür Tür und Tor ge- nicht nur Investitionen in Umgehungsstraßen, sondern öffnet. Die Folgen sind Rechtsunsicherheit und ein auch Lärmsanierung und die Planung von Lärmsanie- Lärmschutzniveau an Flughäfen, das von Region zu Re- rung mittels Lärmkarten und Lärmminderungsplänen. gion unterschiedlich ist, noch stärker als es bislang schon der Fall ist. Es wird noch einige Jahre dauern, bis die Messverfah- Meine Damen und Herren von der Regierungskoali- ren und Lärmindizes EU-weit harmonisiert sind. Aller- tion, Sie haben es verpasst, bereits in diesem Gesetz die orten wird anders gemessen. Weil wir nicht Elle mit De- Weichen für eine Verbesserung der Lärmbekämpfung zu zibel vergleichen können, müssen wir hier zu stellen. Wir lassen uns aber nicht auf kommende Rechts- einheitlichen Standards kommen. Das braucht Zeit. Da- verordnungen vertrösten und werden daher Ihrem Ge- her gibt es Übergangsregelungen und Fristen. Wir müs- setzentwurf nicht zustimmen. sen aber aktiv werden und effektiver gegen den Lärm und die damit verbundenen Gesundheitsbelastungen vor- gehen. Anlage 5 Mit dem Gesetzentwurf legen wir den Grundstein für Zu Protokoll gegebene Reden weiter gehenden Lärmschutz in der EU; denn Sammlung und Veröffentlichung von Daten – EU-weite Datenbank – zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur macht nur Sinn, wenn daraus weiter gehendes europäi- Vereinfachung und Vereinheitlichung der Ver- sches Recht wird, die Festsetzung von europaweit gülti- fahrensvorschriften zur Wahl und Berufung eh- gen Grenzwerten. Das ist aber noch Zukunftsmusik. Mit renamtlicher Richter (Tagesordnungspunkt 14) Grenzwerten werden wir wieder einen Schritt weiterkom- men in dem Bemühen, unsere Menschen besser vor Lärm Joachim Stünker (SPD): Ich begrüße, dass die in zu schützen. Sorgen wir erst einmal dafür, dass die Um- Zusammenhang mit dem vorliegenden Gesetzentwurf Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12443

(A) des Bundesrates geführten zahlreichen Gespräche zwi- nicht nachvollziehbare Zugangshindernisse aufbaut. An- (C) schen den Fraktionen nun endlich zu einem konkreten gesichts von weit über 100 000 in den verschiedenen Ergebnis geführt haben. Man mag es nicht glauben: Gerichtszweigen tätigen ehrenamtlichen Richtern ist es Nachdem der Entwurf bereits in der letzten Legislaturpe- nicht verwunderlich, dass die Suche nach geeigneten riode der Diskontinuität anheim gefallen war, liegen Kandidaten große Schwierigkeiten bereitet. Umso not- auch nun zwischen erster Lesung und Verabschiedung wendiger ist jedoch der Abbau formaler Zugangsvoraus- exakt eineinhalb Jahre. Herausgekommen ist jedoch eine setzungen. Ich befürworte daher die Streichung des der- Fassung, die unsere Zustimmung findet. zeit geltenden Erfordernisses, dass der oder die Betreffende bereits seit einem Jahr in der Gemeinde Der vorliegende Entwurf zielt zum einen auf eine wohnen muss. Auch das Mindestalter soll zukünftig auf Vereinheitlichung der Verfahrensordnungen; ein Ziel, einheitlich 25 Jahre herabgesetzt werden. das die Koalition auch im Rahmen des Masterplans Bü- rokratieabbau verwirklichen möchte; ein Ziel, das auch Besonders begrüße ich die Erstreckung des im Ar- in Zusammenhang mit den Überlegungen zur Zusam- beits- und Sozialgerichtsgesetz formulierten Verbots der menlegung der Gerichtsbarkeiten immer wieder disku- Benachteiligung ehrenamtlicher Richter auf sämtliche tiert wird. Vereinheitlichung ist kein Wert an sich, aber Verfahrensordnungen und die nun ausdrückliche Fest- gerade im Bereich der hier zur Debatte stehenden Vor- stellung, dass die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses schriften wird deutlich, wie willkürlich unsere Rechts- aufgrund der Ausübung des Amts nicht zulässig ist. ordnung manche Differenzierungen trifft. So ist es zum Der Entwurf ist ein weiterer Schritt in Richtung Ab- Beispiel nicht nachvollziehbar, dass das Mindestalter für bau von Bürokratie und findet daher meine volle Unter- die Berufung zum ehrenamtlichen Richter bei den Ver- stützung. waltungsgerichten nach geltendem Recht 30 Jahre be- trägt, die Berufung zum Schöffen jedoch bereits mit 25 Jahren möglich ist. Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): Der Gesetzent- wurf, der hier zur Debatte steht, enthält Änderungen der Doch jetzt zu den einzelnen Vorschriften: An erster gesetzlichen Regelungen über ehrenamtliche Richter, die Stelle ist hier die Vereinheitlichung der Amtsperioden wir insgesamt begrüßen. Denn damit wird sowohl deren ehrenamtlicher Richter auf fünf Jahre zu nennen. In der Wahl und Bestellung vereinfacht bzw. vereinheitlicht als Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit ist dies bereits jetzt auch deren Stellung gestärkt. Ehrenamtliche Richter sind der Fall, in den übrigen Gerichtsbarkeiten betragen die in vielen Gerichtszweigen tätig: in der ordentlichen Ge- Amtsperioden vier Jahre. Wie auch meine Kollegen aus richtsbarkeit als Schöffen in Strafsachen sowie beispiels- den anderen Fraktionen habe ich zunächst dafür plädiert, weise in der Kammer für Handelssachen. Es gibt sie aber (B) die Amtsperioden angesichts der mit dem Amt verbun- auch in den anderen Gerichtsbarkeiten, also der Verwal- (D) denen Belastungen auf vier Jahre zu vereinheitlichen. tungs-, Finanz-, Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit. Wegen des mit Wahl und Berufung verbundenen hohen organisatorischen Aufwands bin ich dann jedoch zu der Was sind die Neuerungen im Einzelnen? Ich möchte Überzeugung gelangt, die Dauer der Amtsperiode an der zehn Punkte anführen: in der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeiten geltenden Erstens. Der Kreis der Personen, die als ehrenamtli- Dauer von fünf Jahren zu orientieren. che Richter berufen werden können, wird in zweierlei Die Frage, in welchem Verhältnis die Anzahl der in Hinsicht erweitert. Dies erleichtert die Suche nach ge- der Vorschlagsliste enthaltenen Personen zur Anzahl der eigneten Personen. Zum einen muss die Person nicht Berufungen stehen muss, ist derzeit in den verschiede- mehr ein Jahr in der Gemeinde gewohnt haben. Eine nen Gerichtszweigen nicht einheitlich geregelt. Nach- Vielzahl von Kandidaten musste seither allein aus die- dem der Entwurf ursprünglich eine Vereinheitlichung sem Grund abgelehnt werden, auch wenn sie sonst ge- der Kandidatenzahl auf das eineinhalbfache der erforder- eignet war. Die alte Regelung entspricht aber nicht mehr lichen Anzahl vorsah, haben wir uns in den Bericht- der heutigen Mobilität und Flexibilität der Menschen. Es erstattergesprächen auf die zweifache Anzahl geeinigt. ist daher richtig, sie abzuschaffen. Zum anderen kann ein Damit ist gewährleistet, dass auch die Ergänzungswah- ehrenamtlicher Richter dann wieder herangezogen wer- len während der laufenden Schöffenperiode auf Grund- den, wenn er lediglich eine Amtsperiode ausgesetzt hat. lage der Vorschlagslisten stattfinden können und dies Zweitens. Mit dem Gesetz wird das aufwendige Ver- unter Wahrung demokratischer Grundsätze; denn je ge- fahren zur Wahl und Berufung von ehrenamtlichen Rich- ringer die Kandidatenzahl, desto weniger Auswahlmög- tern in allen Gerichtszweigen nur noch alle fünf Jahre lichkeiten für die Schöffenwahlausschüsse. notwendig sein. Der Verwaltungsaufwand insbesondere für die Kommunen wird damit deutlich verringert. Die Der Entwurf zielt jedoch nicht nur auf Vereinheitli- Folge wird eine Kosteneinsparung sein. Außerdem ha- chung, sondern auch auf Vereinfachung, indem er den ben die Amtsträger so die Möglichkeit, dieses Amt län- Zugang zum Amt des ehrenamtlichen Richters durch den ger auszuüben und damit mehr Erfahrungen zu sam- Wegfall formaler Hürden erleichtert. Auch dies ist ein meln. Ziel, welches in Einklang mit den Bemühungen der Koa- lition um die Stärkung des Ehrenamtes steht. Zudem ist Drittens. Die Aufstellung der Vorschlagslisten für nicht vermittelbar, dass der Gesetzgeber einerseits die ehrenamtliche Richter und die Besetzung der Wahlaus- Mitwirkung des so genannten gesunden Menschenver- schüsse werden erleichtert. Künftig können die dafür standes in den Gerichtssälen sichern will, andererseits notwendigen Beschlüsse mit Zweidrittelmehrheit der 12444 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

(A) anwesenden Ratsmitglieder gefasst werden. Mindestens chung und Vereinheitlichung der einschlägigen Bestim- (C) ist aber die einfache Mehrheit der gesetzlichen Mitglie- mungen kommt. Das war das Ziel des Gesetzesvorha- derzahl des Rates erforderlich. Bisher war hierfür eine bens und das wird mit dem vorliegenden Entwurf auch zweidrittelmehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl des erreicht. Rates nötig. Bei Abwesenheit einzelner Ratsmitglieder waren oftmals mehrere Anläufe erforderlich, um die Ich begrüße vor allem auch, dass mit dem Gesetz die qualifizierte Mehrheit zu erreichen. Damit verbundene Stellung der ehrenamtlichen Richter hervorgehoben Verzögerungen werden durch die Neuregelung entfallen. wird. In der Justiz ist deren Bedeutung anerkannt; ich kann das aus meinen eigenen Erfahrungen als Richter sa- Viertens. Bei der Schöffenwahl sind künftig nur noch gen. Der Bevölkerung ist dies aber vielfach nicht be- sieben Vertrauenspersonen in den Wahlausschuss zu wusst: Ehrenamtliche Richter wirken beispielsweise bei wählen. Dies führt zu einer Gleichstellung mit den Paral- der mündlichen Verhandlung und der Urteilsfindung mit lelbestimmungen aus der Verwaltungs- und Finanzge- gleichen Rechten wie der Berufsrichter mit. Außerdem richtsbarkeit. gilt auch für sie das Spruchrichterprivileg. Das heißt, sie können für ein Urteil nur dann haftbar gemacht werden, Fünftens. Die Aufgabe, Verwaltungsbeamte für den wenn dies eine Pflichtverletzung und Straftat darstellt. Wahlausschuss zu bestellen, kann die Landesregierung Des Weiteren unterliegt auch der ehrenamtliche Richter im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbarkeit schon jetzt der richterlichen Unabhängigkeit. auf oberste Landesbehörden übertragen. Dies soll künf- tig auch bei der Schöffenwahl möglich sein. Das Amt stammt aus dem 19. Jahrhundert. Es gilt da- her bei manchen als überholt und nicht mehr zeitgemäß. Sechstens. Verlegt ein Schöffe seinen Wohnsitz aus Über ihre Rolle wird immer wieder gestritten. Von Kriti- dem Bezirk des Amtsgerichts, wird er künftig nicht mehr kern werden sie oft als „überflüssig“ und „überfordert“ zwingend aus der Schöffenliste gestrichen, wenn er im bezeichnet. Bezirk des Landgerichts wohnen bleibt. Die Streichung erfolgt nur noch auf Antrag. Ich bin der Auffassung, diese Einschätzungen sind falsch. Sie verkennen die Bedeutung der ehrenamtlichen Siebtens. Das Verfahren zur Streichung von verstor- Richter, die wichtiges Bindeglied zwischen Justiz und benen und verzogenen Schöffen wird vereinfacht: Am Öffentlichkeit sind. Sie sind fester, wertvoller Bestand- Amtsgericht muss der Richter in diesen eindeutigen Fäl- teil unserer Rechtspflege – und das zu Recht. Denn sie len nicht mehr die Staatsanwaltschaft und den anderen bringen eine Vielzahl von positiven Effekten mit sich: Schöffen anhören. Am Landgericht kann der Vorsitzende Die ehrenamtlichen Richter machen die Justiz für die der Strafkammer hierüber allein entscheiden. Bevölkerung transparenter und verständlicher. Sie brin- (B) Achtens. Das Gesetz schreibt eine angemessene Teil- gen den so genannten „gesunden Menschenverstand“ (D) habe von Männern und Frauen an der ehrenamtlichen und Alltagserfahrung in die gerichtlichen Verfahren. Die Richtertätigkeit vor. Dies ist zu begrüßen, da es einen Fälle werden neben dem juristischen Sachverstand auch weiteren Beitrag zur Gleichstellung von Mann und Frau mit dem allgemeinen Rechtsempfinden beurteilt. Einen leistet. großen Nutzen bringen die ehrenamtlichen Richter vor allem aber auch außerhalb des Gerichtssaals. Die Tätig- Neuntens. Das Benachteiligungsverbot wird im Deut- keit stärkt das Vertrauen in die Justiz. Sie sehen die Ge- schen Richtergesetz fixiert. Danach darf niemand in der richtsabläufe von innen. Sie erkennen, dass auch schwie- Ausübung oder der Übernahme des Ehrenamtes be- rige, strittige Entscheidungen, die auf den ersten Blick schränkt oder aufgrund dessen benachteiligt werden. Unverständnis in der Öffentlichkeit hervorrufen, mit Auch eine darauf gestützte Kündigung ist unzulässig. großer Sorgfalt getroffen werden. Diese Einsichten kön- Dies entspricht zwar der ständigen Rechtsprechung der nen sie dann nach außen tragen. Sie helfen daher mit, das Arbeitsgerichte. Das Niederschreiben des Grundsatzes Ansehen der Justiz in der Bevölkerung zu stärken. ist aber aus zwei Gründen richtig: Zum einen hat es der Arbeitnehmer in der Praxis dadurch leichter, sich gegen- Wenn man all diese gesetzlichen Neuerungen betrach- über seinem Arbeitgeber auf das Benachteiligungsverbot tet, so geht es im Wesentlichen darum, die Abläufe zu zu berufen. Zum anderen wird klargestellt, dass der optimieren, also die Vorgänge hinsichtlich Qualität, Kos- Grundsatz für alle Gerichtszweige gilt und nicht nur in ten, Geschwindigkeit, Effizienz und Effektivität zu ver- der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit, in deren Verfah- bessern. Man sollte meinen, dieser wünschenswerte Ef- rensordnungen das Benachteiligungsverbot schon jetzt fekt hätte so schnell als möglich herbeigeführt werden vorgesehen ist. sollen. Zehntens. Auch in der Verwaltungs- und Finanzge- Der Bundesregierung fällt dies aber offensichtlich richtsbarkeit soll das Mindestalter wie sonst auch grundsätzlich schwer. Man merkt auch bei anderen gro- 25 Jahre betragen und nicht wie bisher bei 30 Jahren lie- ßen rechtspolitischen Projekten, wie beim Antidiskrimi- gen. Auch hiermit wird eine nicht nachvollziehbare Dif- nierungsgesetz, das bereits Ende 2003 vorliegen sollte, ferenzierung beseitigt. dass Rot-Grün nur schwer in die Gänge kommt. Das alles sind vielleicht keine revolutionären Neue- Der heute vorliegende Gesetzentwurf basiert auf ei- rungen. Darauf kam es aber auch nicht an und das war nem Entwurf aus der 14. Legislaturperiode. Seit über auch nicht notwendig. Entscheidend ist, dass es in der zweieinhalb Jahren wird nun an dem Vorhaben herumge- Summe der Änderungen zu einer spürbaren Vereinfa- doktert. Am 22. März 2002 wurde der Entwurf erstmalig Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12445

(A) vom Bundesrat beschlossen und von der Mehrheit der der ehrenamtliche Richter wird in seiner Position ge- (C) Länder begrüßt. Weil der Entwurf erst gegen Ende der stärkt. Das begrüßen wir. Zu bedauern ist allerdings, 14. Legislaturperiode eingebracht wurde, ist es noch ent- dass aufgrund der zögerlichen Handhabung von Rot- schuldbar, dass er der Diskontinuität anheim fiel. Nicht Grün die Verwaltungen von den Vereinfachungen erst in verständlich ist jedoch, dass der Gesetzentwurf nach ei- ein paar Jahren profitieren werden. ner erneuten Einbringung in den Bundestag am 20. De- zember 2002 fast zwei Jahre verschleppt wurde. Dabei waren wir uns schon in einem Berichterstattergespräch Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der im Juni 2003 darüber einig, dass es sinnvoll wäre, wenn Bundesrat hat mit dem Gesetzentwurf zur Vereinfachung das vereinfachte Wahlverfahren schon bei den Schöffen- und Vereinheitlichung der Verfahrensvorschriften zur wahlen im Jahre 2004 hätte angewendet werden können. Wahl ehrenamtlicher Richter ein wichtiges Anliegen Leider ist dies nicht gelungen. Diese Verzögerung ist be- aufgegriffen. Nach den notwendigen Änderungen des dauerlich, denn die Wahlen erfolgen ja nur alle vier – zu- Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages liegt nun künftig alle fünf – Jahre. So lassen Reform und Effizienz eine insgesamt gute Lösung vor. Durch die Vereinheit- auf sich warten und kommen frühestens in 2008 zum lichung der Vorschriften und Voraussetzungen in den Tragen. verschiedenen Gerichtszweigen werden die Anforderun- gen an die ehrenamtliche Richterschaft – insbesondere Aber Kritik an Rot-Grün ist nicht nur wegen des ver- für Nichtjuristen – durchschaubarer. Und genau dies gilt schleppten Verfahrens angebracht. Auch inhaltlich ist zu es zu erreichen. Nur wenn die Menschen verstehen und kritisieren, wie skeptisch sie der Verlängerung der Amts- abschätzen können, was sie erwartet, werden sie Inte- periode auf einheitlich fünf Jahre gegenüberstanden. resse und Bereitschaft entwickeln, gesellschaftliche Ver- Lange haben sie sich gegen diese Änderung gewehrt. antwortung zu übernehmen und sich für dieses wichtige Auch die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme Amt des ehrenamtlichen Richters zur Verfügung zu stel- Bedenken geäußert, und zwar mit der Begründung, eine len. fünfjährige Amtszeit würde die Suche nach geeigneten Kandidaten erschweren. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass ich die Beteiligung ehrenamtlicher Richterinnen Aber es ist nicht vorrangig die Dauer der Amtszeit, und Richter an gerichtlichen Entscheidungen auch zu- weshalb Bürgerinnen und Bürger eine ehrenamtliche künftig für sehr wichtig halte. Ehrenamtliche Richterin- Richtertätigkeit nur zögerlich oder ungern annehmen. nen und Richter ergänzen die fachliche Sicht einer spe- Dafür gibt es vielmehr zwei Hauptgründe: Es ist zum ei- zialqualifizierten Richterschaft um einen in mancher nen die Unwissenheit über die Bedeutung des Amtes und Hinsicht unbefangeneren und lebenspraktischeren Blick. die damit verbundene Verantwortung. Dieser Unkennt- In Strafverfahren können sie, da sie zuvor mit der Sache (B) nis muss vor allem mit einer besseren Informationspoli- (D) tik entgegnet werden. Und es ist zum anderen vor allem nicht befasst waren, noch stärker aus dem Eindruck der die Sorge vor Benachteiligungen durch den Arbeitgeber. mündlichen Verhandlung heraus urteilen. In der Verwal- Diesem Problem wird aber mit der gesetzlichen Fixie- tungs- und Finanzgerichtsbarkeit, aber auch in den Kam- rung des Benachteiligungsverbots begegnet. Ich habe es mern für Handelssachen, ist ihr Sachverstand unver- vorhin erwähnt. zichtbare Voraussetzung für die Sicherung eines fachlich hoch qualifizierten Verfahrens. Ich bin daher froh, dass es uns letztlich gelungen ist, uns in der Frage der Verlängerung der Amtsperiode Auf einige Punkte des Gesetzes will ich nun näher durchzusetzen. Denn diese Neuerung ist die deutlich ef- eingehen: Die Amtsperioden werden einheitlich auf fünf fektivste aller Änderungen, mit denen der Verwaltungs- Jahre festgesetzt. Damit werden die mit erheblichem und Kostenaufwand gesenkt werden wird. Aufwand verbundenen Wahlverfahren in zeitlicher Hin- sicht reduziert. Auch wenn die gegen diese Regelung ge- In einer anderen Frage konnte dagegen keine Einig- äußerten Bedenken, die fünf Jahre könnten zu lang sein keit erzielt werden. Im ursprünglichen Entwurf war vor- und Menschen abschrecken, sich für so lange Zeit für gesehen, dass einheitlich nur noch die eineinhalbfache dieses Amt zu verpflichten, nicht von der Hand zu wei- Anzahl an Kandidaten vorgeschlagen werden muss, aus sen sind, denken wir, dass die Vorteile die Nachteile den später die ehrenamtlichen Richter ausgewählt wer- überwiegen. den. Bisher schwankt diese Zahl je nach Amt zwischen der eineinhalbfachen und der dreifachen Anzahl. Die Wohnsitzregelung wird vereinfacht. Wir begrü- Wir hätten diese Vereinfachung gerne gesehen. Auch ßen es, dass man nun nicht mehr ein ganzes Jahr in der hiermit wäre die Verwaltung erheblich entlastet worden. Gemeinde wohnen muss, um sich für die Aufnahme in Die Regelung war aber nicht durchzusetzen. Insbeson- eine Vorschlagsliste zu qualifizieren. Diese Regelung dere die Bundesregierung hat sich in ihrer Stellung- war nicht mehr zeitgemäß. Wer zum Zeitpunkt der Lis- nahme eindeutig dagegen ausgesprochen. Ich begrüße tenaufstellung in der Gemeinde wohnt und sich aufstel- aber, dass es zumindest gelungen ist, die Vorschlagsliste len lassen möchte, den sollten wir nicht bremsen. in der Finanzgerichtsbarkeit von der dreifachen auf die Das Gesetz stärkt das Benachteiligungsverbot. Diese doppelte Anzahl der zu vergebenden Richterstellen zu in Bezug auf die berufliche Tätigkeit der ehrenamtlichen verkleinern. Richter wirkende Schutzvorschrift wird nun im Deut- Ich halte fest: Mit dem Gesetz werden erkennbare schen Richtergesetz zentral verankert. Dies ist ein deutli- Vereinfachungen und Vereinheitlichungen erreicht und ches Signal, mit dem die öffentliche Anerkennung für 12446 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

(A) die wichtige Arbeit der ehrenamtlichen Richterinnen und gungen in seinem Arbeitsleben ausgesetzt ist. Es ist da- (C) Richter gestärkt wird. her zu begrüßen, dass mit dem Gesetzentwurf klargestellt wird, dass die Freistellung vom Dienst durch den Arbeit- Im Deutschen Richtergesetz wird die Geschlechterpa- geber für die Zeit der Amtstätigkeit sowie das Verbot von rität in der ehrenamtlichen Richterschaft ausdrücklich Kündigungen wegen Übernahme und Ausübung des als Zielvorgabe verankert. Auch wenn diese Vorschrift Richteramtes künftig eine Selbstverständlichkeit sein die Geschlechterparität nicht zwingend vorschreibt, son- werden. dern nur die „angemessene Berücksichtigung“ fordert, begrüße ich gleichwohl die Tendenz, der Gleichstellung Die Beteiligung ehrenamtlicher Richter in der Rechts- auch in diesem Bereich besonderes Augenmerk zu wid- pflege ist alte deutsche Rechtstradition. Lange Zeit galt men. Die Praxis ist hier, jedenfalls was die Schöffinnen die Beteiligung von Schöffen in der Rechtspflege als Ga- betrifft, dank der neuen Bundesländer recht weit. Deren rant für eine demokratische Gerichtsbarkeit. In letzter Anteil liegt bereits bei 48 Prozent. Zeit wird die Rolle der Schöffen mehr und mehr kritisch hinterfragt. Die Tatsache, dass wir heute gemeinsam die- Einige Vorschläge des Bundesrates hat der Rechtsaus- sen Gesetzentwurf verabschieden, entbindet uns nicht schuss jedoch nicht befürwortet. So wollte der Bundesrat von der grundsätzlichen Diskussion über die Stellung die Zahl der Personen für die Vorschlagslisten generell der Schöffen. Oft wird geäußert, Schöffen seien mit ihrer auf das Anderthalbfache der dann zu wählenden ehren- Aufgabe völlig überfordert. Daneben mangelt es oft am amtlichen Richter beschränken. Damit überging der notwendigen Sachverstand, um einen Fall wirklich sorg- Bundesrat die wichtige Funktion dieses Auswahlaktes. fältig beurteilen zu können. Darüber hinaus sind auch Erst die Auswahl sichert eine ausreichende demokrati- immer wieder Fälle bekannt geworden, in denen Schöf- sche Legitimation der ehrenamtlichen Richterschaft. Die fen wegen Befangenheit zurückgezogen werden oder wo Vorschlagslisten sollten sich nicht zu Wahllisten ver- grobe Verstöße gegen die Schweigepflicht vorliegen. dichten. Ich bin mir der Schwierigkeiten der Praxis, aus- Dies alles zeigt, dass im Einzelfall durch die Beteiligung reichend Personen für die Vorschlagslisten zu finden, von Schöffen eine erhebliche Mehrbelastung für die Jus- sehr wohl bewusst. Aber ich denke, dass man dieses Pro- tiz entstehen kann. blem nicht durch stark gekürzte Vorschlagslisten lösen darf, sondern durch Aufwertung des Amtes einerseits Zu Beginn des Jahres hat auch die bayerische Justiz- und Erweiterung des potenziellen Personenkreises ande- ministerin öffentlich erklärt, es müsse überlegt werden, rerseits. Die Absenkung der Altersgrenze von 30 auf ob es künftig noch sinnvoll sei, den Richtern in Strafver- 25 Jahre bei ehrenamtlichen Richtern in der Finanzge- fahren grundsätzlich Laienrichter an die Seite zu stellen. richtsbarkeit mag hier einen tauglichen Ansatz liefern. Die FDP ist in dieser Frage durchaus ergebnisoffen. Dennoch sehen wir hier erheblichen Diskussionsbedarf. (B) Das vorliegende Gesetz passt die Vorschriften bezüg- Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates ist da- (D) lich der Anforderungen an Wahl und Berufung der ehren- her eine gute Gelegenheit, dieses Thema vertieft zu dis- amtlichen Richter den Praxiserfordernissen an und stärkt kutieren. Ich hoffe, wir werden an anderer Gelegenheit gleichzeitig die Stellung der ehrenamtlichen Richter- dazu ausreichend Gelegenheit haben. schaft. Es bietet so einen guten Rahmen, damit sich auch in Zukunft viele motivierte Menschen für das Amt des eh- renamtlichen Richters oder der ehrenamtlichen Richterin Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der begeistern. Ihnen allen möchte ich an dieser Stelle meinen Bundesministerin der Justiz: Der heute vorliegende Ge- Dank und meine Anerkennung für ihre engagierte Tätig- setzentwurf ist ein sachgerechter und in jeder Hinsicht keit als Richter im Ehrenamt aussprechen. begrüßenswerter Schritt zu einer Vereinfachung und Modernisierung des komplexen Verfahrens der Wahl der ehrenamtlichen Richter. Der Gesetzentwurf macht das Rainer Funke (FDP): Der Gesetzentwurf zur Ver- ehrenamtliche Richteramt und damit bürgerschaftliche einfachung der Wahl ehrenamtlicher Richter des Bun- Engagements attraktiver und zeitgemäßer. Wir haben das desrates, den wir heute abschließend beraten, verfolgt in Gesetz in bester Zusammenarbeit aller in diesem Hause erster Linie das Ziel, die Stellung von ehrenamtlichen vertretenen Fraktionen zustande gebracht und ich Richtern zu stärken, den Zugang zum Schöffenamt zu möchte mich nachdrücklich dafür aussprechen, dass es erleichtern und das Wahlverfahren einfacher zu gestal- in seiner vorliegenden Form zum 1. Januar des kommen- ten. Die Länder haben im zurückliegenden Gesetzge- den Jahres in Kraft treten kann. bungsverfahren deutlich gemacht, warum aus ihrer Sicht die in dem Gesetzentwurf vorgeschlagenen Regelungen Lassen Sie mich nur einige Neuregelungen hervorhe- notwendig sind. Wenn durch die vorgeschlagenen Maß- ben: nahmen erreicht werden kann, dass bürokratischer Auf- wand bei den Wahlverfahren zukünftig abgebaut wird, Die Amtsperioden der ehrenamtlichen Richter sollen so sollten wir uns als Bundesgesetzgeber diesen Maß- einheitlich von vier auf fünf Jahre verlängert werden. nahmen, die die Landesjustizverwaltungen entlasten Damit erreichen wir einen Gleichlauf in allen Gerichts- werden, nicht verschließen. zweigen und insbesondere auch eine Entlastung der Kommunen und der Justizverwaltungen. Die große Be- Aus Sicht der FDP ist eine Regelung des Gesetzent- deutung, die wir auch dem ehrenamtlichen Richteramt wurfs von besonderer Bedeutung. Dies ist das ausdrück- beimessen, erfordert ein differenziertes und eben auch in lich genannte Benachteiligungsverbot. Es kann nicht gewisser Weise aufwendiges Auswahl- und Berufungs- sein, dass jemand, der sich ehrenamtlich für unser Ge- verfahren. Es ist sachgerecht, dieses Verfahren nicht alle meinwesen engagiert, auf der anderen Seite Benachteili- vier, sondern nur alle fünf Jahre durchzuführen. Den eh- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12447

(A) renamtlichen Richterinnen und Richtern gibt diese maß- Das Land hat erhebliche Fortschritte auf dem Weg zu (C) volle Verlängerung die Möglichkeit verbesserter und in- politischer Stabilität gemacht. Die Annäherung an die tensiverer Eingewöhnung in das einmal übernommene EU verläuft weitgehend erfolgreich. Bereits am 9. April Ehrenamt. 2001 wurde ein Stabilisierungs- und Assoziierungsab- kommen mit der EU abgeschlossen. Am 22. März 2004 Das Wahlverfahren wird darüber hinaus durch die hat Mazedonien offiziell das Beitrittsgesuch an die EU Aufhebung des einjährigen Wohnsitzerfordernisses er- übergeben. leichtert. Dieses Erfordernis hat in letzter Zeit die Rekru- tierung der Bewerber für das ehrenamtliche Richteramt Mehrere Krisen konnten durch internationales diplo- immer wieder behindert. Um in das Ehrenamt ernannt matisches und militärisches Engagement beherrscht wer- werden zu können, genügt es in Zukunft, dass der Wohn- den. Im Jahr 1993 verhinderte die Stationierung von sitz in der jeweiligen Gemeinde überhaupt besteht. UN-Blauhelmen eine Eskalation eines Konfliktes. Im Jahr 2001 brachen bürgerkriegsähnliche Kämpfe zwi- Positiv hervorheben möchte ich aber auch, dass die schen albanischer und mazedonischer Seite aus, die geltenden Regelungen, wonach grundsätzlich die dop- durch massiven diplomatischen Einsatz Europas und der pelte Anzahl an Kandidaten aufgestellt werden muss, USA und durch die Stationierung von Militärmissionen beibehalten wird. Die vom Bundesrat zunächst vorge- deeskaliert wurden. Heute ist die letzte Militärmission schlagene Absenkung der Kandidatenzahl auf das nur durch eine Polizeimission ersetzt worden. Eineinhalbfache wäre der demokratischen Grundlage des Laienrichteramtes einfach nicht gerecht geworden. Der Abschluss des Abkommens von Ohrid, das alle Parteien in Mazedonien unterschrieben haben, stellt ei- Ein weiteres wichtiges Element des Entwurfs ist das nen Meilenstein zur Befriedung und Stabilisierung des Benachteiligunqsverbot (§ 45 Abs. 1). Niemand darf in Konflikts in Mazedonien dar. Bisher ist die Umsetzung der Übernahme oder Ausübung des Amtes als ehrenamt- gelungen – wenn auch nicht ohne Konflikte und Schwie- licher Richter beschränkt oder wegen der Übernahme rigkeiten. der Ausübung des Amtes benachteiligt werden. Wo der Einzelne eine staatsbürgerliche Pflicht erfüllt, darf es Jetzt ist die Umsetzung des letzten Schrittes zur Im- nicht sein, dass dieser Bürger oder diese Bürgerin gesell- plementierung eines zentralen Teils dieses Abkommens schaftlich, beruflich oder anderweitig Benachteiligungen infrage gestellt. Das Abkommen sieht eine neue Ge- oder Zurücksetzungen in Kauf nehmen muss. Ehrenamt- meindeverfassung vor. Das Rahmengesetz wurde im liche Richter sind für die Zeit ihrer Amtstätigkeit von ih- Jahr 2002 verabschiedet. Umstritten ist jetzt das Gesetz rem Arbeitgeber von der Arbeitsleistung freizustellen. über die Gemeindegrenzen, den Status von Skopje und Die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses wegen der die Finanzierung der Dezentralisierung. (B) Übernahme oder der Ausübung des Richteramtes ist un- (D) zulässig. Diese Regelung war von Anfang an eines der Kern dieses Vorhabens ist die Frage der Neugliede- zentralen Anliegen der Bundesratsinitiative; sie wird von rung der kommunalen Gebietskörperschaften. Ziel des der Bundesregierung voll unterstützt. Gleiches gilt für Prozesses ist eine effizientere und bürgernahe Verwal- das vorgesehene Gebot einer gleichberechtigten Teil- tung. Die Dezentralisierung soll auch dazu beitragen, habe von Männern und Frauen bei der Besetzung der eh- dass die kommunale Verwaltung die örtlichen ethnischen renamtlichen Richterstellen. Mehrheitsverhältnisse besser reflektiert. Wir begrüßen daher, dass die beiden Regierungsparteien – das Sozial- Schließlich möchte ich es nicht versäumen, die nun- demokratische Bündnis für Mazedonien (SDSM) und mehr möglich gewordene einheitliche In-Kraft-Tretens- die albanische Demokratische Union für Integration Regelung für das neue Gesetz anzusprechen. Die in die- (DUI) – in einem schwierigen politischen Prozess einen sem Jahr 2004 durchzuführenden Schöffenwahlen kön- Kompromiss in der Frage der Neugliederung der kom- nen und konnten ausnahmslos nach bestehendem Recht munalen Gebietskörperschaften gefunden haben. durchgeführt werden. Abgeschichtete In-Kraft-Tretens- und Übergangs-Regelungen, wie sie noch nach den Dis- Leider hat sich in Mazedonien wegen dieses Gesetzes kussionen des vergangenen Jahres erforderlich schienen, Widerstand formiert. Die parlamentarische und außer- sind nun nicht mehr nötig. Das Gesetz kann einheitlich parlamentarische Opposition hat zur Ablehnung der ter- zum Beginn des neuen Jahres in Kraft treten. ritorialen Neuaufteilung aufgefordert. Sie hat zu einem Referendum gegen dieses Gesetzesvorhaben aufgerufen und die erforderlichen Stimmen gesammelt. Am 7. No- vember wird das Referendum über den Dezentralisie- Anlage 6 rungsplan der Regierung abgestimmt. Die Kommunal Zu Protokoll gegebene Reden wahlen mussten deshalb verschoben werden. zur Beratung des Antrags: Für eine konse- Sollte dieses Referendum angenommen werden, so quente und vollständige Umsetzung des Ohrid- wäre das ein herber Rückschlag für den Friedensprozess Abkommens in Mazedonien (Tagesordnungs- in Mazedonien. Darüber kann es keinen Zweifel geben. punkt 17) Es für mich unverständlich, dass die CDU/CSU dies nicht genauso sieht und unseren Antrag nicht unterstützt. Uta Zapf (SPD): Wir haben Mazedonien als ein Bei- Für mich ist dies nur durch parteipolitische Motive er- spiel für gelungenes Krisenmanagement auf dem Balkan klärlich. Offensichtlich ist der Opposition die Unterstüt- und für deutsches und europäisches Engagement gelobt. zung der VMRO-DPNE in dieser Frage wichtiger als die 12448 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

(A) Zukunft des Friedensprozesses. Sachliche Gründe, die Die Konsequenzen einer Annahme des Referendums (C) eine Ablehnung der Neugliederung der kommunalen Ge- hingegen sind noch nicht abzusehen. Ein Erfolg des Re- bietskörperschaften rechtfertigen würden, kann ich je- ferendums würde aber mit Sicherheit die weitere Umset- denfalls nicht erkennen. zung des Ohrid-Abkommens erschweren. Im Rahmen der Implementierung dieses Abkommens sind in den Der Vorwurf, der Dezentralisierungsplan vertiefe eth- letzten Jahren substanzielle Fortschritte auf dem Wege nische Grenzen, ist unzutreffend. Die Neuordnung der einer Annäherung Mazedoniens an die EU gemacht wor- kommunalen Grenzen würde die Repräsentanz von Min- den. Darunter fallen die erfolgte Volkszählung, die weit- derheiten auf der Kommunalebene verbessern. Proble- gehende Nutzung der Minderheitensprachen, die Aner- matisch sind hier besonders solche Kommunen, in denen kennung der albanischen Universität von Tetovo, die die Bevölkerung einer Ethnie mehr als 90 Prozent der Schaffung eines Ombudsmanns und die Besetzung von Bevölkerung ausmacht. In diesen Gebieten ist die Min- Stellen durch albanische Mazedonier im öffentlichen derheit politisch meist nicht repräsentiert. Dienst. Die angesehene International Crisis Group hat analy- Sollte das Referendum angenommen werden, droht siert, welche Auswirkungen die Umsetzung der Vor- die weitere Umsetzung des Ohrid-Abkommens der in- schläge der Regierung auf die Situation von Minderhei- nenpolitischen Auseinandersetzung über den Umgang ten in den neuen Verwaltungsdistrikten haben würde. mit dem Abstimmungsergebnis zum Opfer zu fallen. Von den neu zu schaffenden 80 Kommunen hätten nach Bestenfalls muss der Kompromiss zur Dezentralisierung Umsetzung des Dezentralisierungsplans nur noch 30 ei- nachgebessert werden. Schlimmstenfalls droht ein Still- nen Bevölkerungsanteil von 90 Prozent oder mehr einer stand oder gar ein Scheitern des Friedensprozesses. einzigen Volksgruppe. Gegenwärtig gibt es in Mazedo- nien 123 Kommunen. In 65 von ihnen stellt eine einzige Eine solche Entwicklung ist angesichts der weiterhin ethnische Gruppe 90 Prozent oder mehr der Bevölke- schwierigen Lage in der Region das Letzte was wir brau- rung. Die Umsetzung der Vorschläge der Regierung zur chen. Allein im Kosovo gibt es nach wie vor erheblichen Dezentralisierung hätte auf diese Frage also einen positi- politischen Sprengstoff, dessen Entschärfung schwierig ven Effekt. genug sein wird. Eine weitere Krise in der Nachbar- schaft würde Bemühungen zur Lösung der Statusfrage Die Umsetzung der Vorschläge wird keinen negativen des Kosovo und der damit zusammenhängenden wirt- Einfluss auf die so wichtige Wahl der Bürgermeister in schaftlichen und politischen Fragen erheblich verkom- den Kommunen haben. Gegenwärtig leben 92 Prozent plizieren. der ethnischen Mazedonier in Gemeinden, in denen sie (B) mehr als 50 Prozent der Bevölkerung – und damit in der Mazedonien ist ein positives Beispiel für Krisenma- (D) Regel – den Bürgermeister stellen. 77 Prozent der ethni- nagement auf dem Balkan und kann ein positives Bei- schen Albaner leben in Gemeinden, in denen die eigene spiel für Konfliktlösung in der Region werden. Wir wer- Volksgruppe den Bürgermeister stellt. Nach der Umset- den uns daher weiterhin für die Stabilisierung des zung der Dezentralisierungspläne würden 91 Prozent der Versöhnungsprozesses zwischen ethnisch-albanischen Mazedonier und 70 Prozent der Albaner in Gemeinden und ethnisch-mazedonischen Staatsangehörigen in leben, in denen die eigene Volksgruppe auch den Bürger- Mazedonien engagieren. Wir werden außerdem die Um- meister stellt. Dies ist keine signifikante Änderung und setzung der im Ohrider Rahmenabkommen verabredeten mit Sicherheit kein Argument für die Ablehnung des Maßnahmen zur Wahrung der Minderheitenrechte be- Dezentralisierungsplans. gleiten und unterstützen. Deutlicher positiv hingegen wäre die Wirkung des In diesem Zusammenhang wäre es auch ein Akt der Neugliederungsplans auf die Repräsentanz der albani- politischen Flurbereinigung, wenn die internationale Ge- schen Volksgruppe in der Hauptstadt Skopje. Durch die meinschaft endlich den verfassungsmäßigen Namen der Einbeziehung von zwei überwiegend albanisch bewohn- Republik Mazedonien anerkennen würde. Auch dieses ten Gebieten wird der Anteil der albanischstämmigen Anliegen wollen wir mit unserem Antrag unterstützen, Bevölkerung auf über 20 Prozent in Skopje steigen. Da- für den ich Sie um Unterstützung bitte. mit gewinnen Albaner zusätzliche Rechte. Zum Beispiel wird Albanisch zur zweiten Amtssprache. Auch ange- sichts der demographischen Entwicklung in Mazedonien Siegfried Helias (CDU/CSU): Mazedonien ist ein ist eine solche Aufwertung der albanischen Minderheit Musterbeispiel für erfolgreiche Konfliktprävention in- eine kluge Entscheidung. nerhalb der kriegs- und krisengeschüttelten Balkanre- gion. Wir erinnern uns: Im Frühjahr 2001 war es im Ich hoffe daher, dass das Referendum am 7. Novem- Nordwesten Mazedoniens zu bewaffneten Auseinander- ber scheitert. Das Rahmenabkommen von Ohrid bleibt setzungen zwischen albanischstämmigen bewaffneten der Schlüssel für die Fortsetzung eines erfolgreichen Gruppen und slawisch-mazedonischen Sicherheitskräf- Wegs von Mazedonien in die Europäische Union und in ten gekommen. Ein Bürgerkrieg konnte jedoch verhin- die NATO. Die Umsetzung des gefundenen Kompromis- dert werden, als unter Vermittlung der Internationalen ses, den die Regierungsparteien SDSM und DUI in der Staatengemeinschaft im August 2001 das Ohrid-Abkom- Frage der kommunalen Aufteilung erzielt haben, ist we- men vereinbart wurde. Es sollte den Frieden in Mazedo- sentlich für den Frieden und die Stabilität in Mazedo- nien sichern und das Zusammenleben der verschiedenen nien. Volksgruppen neu regeln. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12449

(A) Das Ohrid-Abkommen wurde in Anwesenheit so Kicevo durch den neuen Gebietszuschnitt albanisch- (C) hochrangiger Politiker wie dem EU-Sonderbeauftragten mazedonische Mehrheiten erhalten sollen. Solana, NATO-Generalsekretär Robertson und dem EU- Ratspräsidenten Michel unterzeichnet. Es sieht unter an- Diese und andere Städte gelten schon jetzt wieder als derem Folgendes vor: in der Präambel der Verfassung potentielle Krisenherde. Denn der Streit um den Neuzu- Mazedonien als Staat aller seiner ethnischen Gruppen zu schnitt der Gemeinden hat in den vergangenen Monaten bezeichnen; den christlich-orthodoxen, den katholi- zu den größten Demonstrationen seit dem Jahr 2001 ge- schen und den muslimischen Glauben als gleichberech- führt. In Struga gab es sogar Brandanschläge. Der sla- tigt anzuerkennen; im Parlament alle Minderheiten pro- wisch-mazedonische Bürgermeister von Struga drohte portional entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil zu mit zivilem Ungehorsam und einer so genannten „Unab- beteiligen; Albanisch zur zweiten Amtsprache oder „of- hängigkeitserklärung“. Die Frage muss schon erlaubt fiziellen Sprache“ in Gemeinden zu erklären, in denen sein, ob die Gemeindereform dem Geist von Ohrid wirk- mindestens ein Fünftel der Bevölkerung Albaner sind. In lich gerecht wird oder ob sie nicht in Teilen sogar kon- diesen Gemeinden soll Bildung auch auf weiterführen- traproduktiv ist und die ohnehin labile staatliche Integri- den Schulen in albanischer Sprache staatlich gefordert tät Mazedoniens gefährdet. werden; in Landkreisen und Gemeinden mit albanischer Am 7. November findet ein Referendum statt, das die Bevölkerungsmehrheit sollten albanische Polizeichefs Gemeindereform zu Fall bringen soll. Eine Reform, die eingesetzt werden; den Kommunen mehr Zuständigkei- übrigens von der derzeitigen Regierungskoalition in ten einzuräumen. Skopje beschlossen wurde, ohne die Bedenken großer Keine Frage: Bei der Umsetzung des Ohrid-Abkom- Teile der Bevölkerung zu berücksichtigen. So konnte es mens haben die früheren Konfliktparteien Fortschritte kaum verwundern, dass ein großer Teil der slawisch- gemacht. Rufen wir uns noch einmal in Erinnerung, dass mazedonischen Mehrheit Front gegen die Gemeindere- die Parlamentswahlen vom September 2002 reibungslos form machte: 150 000 Unterschriften wären nötig gewe- verliefen und einen friedlichen Regierungswechsel ein- sen, um laut Verfassung ein Referendum gegen die Gemeindereform zu erzwingen. Die Initiatoren vom leiteten. Auch die notwendige Wahl eines Nachfolgers „Mazedonischen Weltkongress“ brachten auf Anhieb des tödlich verunglückten Präsidenten Boris Trajkovski 180 000 Stimmen zusammen. war ein deutlicher Indikator für Funktionalität und Kon- tinuität rechtsstaatlicher Verhältnisse in Mazedonien. In- Dem breiten Unmut vor allem innerhalb der slawisch- sofern sollten wir Mazedonien ein hohes Maß an politi- mazedonischen Volksgruppe sollte Rechnung getragen scher Reife zugestehen – insbesondere dann, wenn wir werden, bevor neues Unheil entsteht. die besonnene Rolle bedenken, die das Land bei März- (B) (D) Unruhen im Kosovo gespielt hat. Insofern ist die Kernaussage des rot-grünen Antrages falsch, wonach diese Gemeindereform „wesentlich für Eine völlige Normalisierung des öffentlichen Lebens den Frieden und die Stabilität in Mazedonien ist“. Viele ist in Mazedonien aber bislang noch nicht eingetreten. Kenner der inneren Verhältnisse Mazedoniens befürch- Daher bedarf es weiterer Anstrengungen, um dem „Geist ten, dass die Reform nicht die Integration der verschie- von Ohrid“ zu entsprechen und die noch bestehenden denen Volksgruppen fördert, sondern das genaue Gegen- Differenzen zwischen den beiden größten Volksgruppen teil bewirkt. Überhaupt finden sich in der Fassung, die beizulegen. dem Bundestag hier vorliegt, Pauschalaussagen, die mei- nes Erachtens nicht haltbar sind. Tatsache ist, dass ein Das Ohrid-Abkommen sollte insbesondere eine De- Großteil der slawisch-mazedonischen Volksgruppe es als zentralisierung der Administration und mehr kommunale Erpressung ansieht, wenn ihnen die Implementierung Selbstverwaltung unter ethnographischen Gesichtspunk- des Ohrid-Abkommens trotz offenkundiger Unstimmig- ten ermöglichen. Es sollte zu größerer Selbstständigkeit keiten zur Bedingung für die Integration in EU und der Gemeinden und zu einer Chancengleichheit der un- NATO gemacht werden soll. Von einem breiten gesell- terschiedlichen Volksgruppen führen. schaftlichen Konsens, welcher der Gemeindereform ei- Eine umfassende Gemeindereform wurde per Gesetz gentlich zugrunde liegen sollte, kann keine Rede sein. auf den Weg gebracht, um so eine Autonomie von sla- Deshalb ist es richtig, dass das mazedonische Refe- wisch mazedonischen und albanisch mazedonischen rendum auf der Tagesordnung des Deutschen Bundesta- Bürgern in ihren jeweiligen Siedlungsgebieten zu er- ges steht und wir die Diskussion auch weiterführen müs- möglichen. Besehen wir uns die Gemeindereform jedoch sen. Bedenken wir dabei, dass wir noch bis Ende im Detail, so wird eines deutlich: In Mazedonien droht vergangenen Jahres mit Bundeswehrsoldaten im Rah- in einigen Gebieten altes Unrecht durch neues Unrecht men der CONCORDIA-Mission den Friedensprozess in ersetzt zu werden. Dazu möchte ich einige Beispiele Mazedonien unterstützt haben. nennen: Durch die Reform soll die Zahl der Gemeinden von derzeit 124 bis zum Jahr 2005 auf 84 reduziert wer- Und wenn wir uns diesem Auftrag weiterhin ver- den. Die Reduzierung allein ist jedoch nicht das Pro- pflichtet fühlen, so dürfen wir nicht tatenlos zusehen, blem. Denn dieser Neuzuschnitt der gesamten Kommu- wenn altes Unrecht durch neues ersetzt werden soll. Ge- nalstruktur des Landes beinhaltet zum Teil fragwürdige nau dies würde aber geschehen, wenn wir dem rot-grü- Regelungen; etwa jene, wonach die vorwiegend sla- nen Antrag in seiner jetzigen Fassung zustimmen wür- wisch-mazedonisch bevölkerten Städte Struga und den. Die CDU/CSU-Fraktion lehnt den Antrag daher ab. 12450 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

(A) Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im Mazedonien hat im Laufe dieses Jahres bei der Be- (C) April 2001 hat Mazedonien als erstes Land mit der EU wältigung des Todes von Präsident Trajkovski und den ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen, SAA, Märzausschreitungen im Kosovo politische Reife ge- unterzeichnet. Der erste Stabilisierungs- und Assoziie- zeigt. Es hat sich gezeigt, dass die Perspektive der Inte- rungsrat fand im September 2004 in Brüssel statt. Hier- gration in EU und NATO der beste Garant für die innere bei spielten Themen wie die Durchführung der Wahlen Stabilität und eine positive Entwicklung der wirtschaftli- 2005 und Umsetzung des Ohrider Abkommens eine chen Rahmenbedingungen ist. Alle ethnischen Gruppen wichtige Rolle Diese Entwicklung müssen wir nach wie identifizieren sich mit diesem Ziel. Eine Verzögerung vor intensiv unterstützen. der Dezentralisierung setzt erreichte Fortschritte aufs Spiel. Neue Grenzziehungen in einem Europa ohne Wie ist die Lage in Mazedonien? Grenzen sind dabei sicherlich der falsche Ansatz und Mazedonien ist ein Land, dessen 23 ethnische Min- würden bei der bisher eindeutigen Orientierung auf euro- derheiten bereits vor dem Ohrider Abkommen Möglich- päischen Werten eine Absage erteilen. keiten und Rechte besaßen, wie sie in anderen Balkan- staaten kaum gewährt werden. Mazedonien bemüht sich Die Umsetzung des Abkommens hängt hinter dem seit dem Frühjahr 2002, eben dieses Abkommen als Bei- Zeitplan zurück, war aber bislang auf gutem Weg. Es spiel interethnischer Befriedung in ganz Südosteuropa wurden umfangreiche Verfassungsänderungen und ein zu propagieren. großer Teil der vereinbarten Gesetze verabschiedet, die zur Gleichberechtigung insbesondere der ethnisch alba- Mazedonien ist ein immer noch gefährdetes und nach nischen Minderheit führen sollen – das begrüßen wir wie vor armes Land, und beide Bürden muss die interna- sehr. Inzwischen ist auch das Dezentralisierungsgesetz tionale Gemeinschaft durch ihre Sicherheitspräsenz und zur territorialen Neuordnung und das Gesetz über die Wirtschaftshilfe erleichtern. Mazedonien ist momentan Stadt Skopje verabschiedet worden. ein sehr nervöses Land, dessen mühsam restabilisierte Ruhe beinahe täglich durch neue Zwischenfälle gestört Erhebliche Fortschritte sind im Bereich der Imple- wird. mentierung neuer gesetzlicher Regelungen erforderlich, etwa bei der Teilhabe ethnischer Albaner in Politik und Von entscheidender Bedeutung für die weitere Ent- Verwaltung. Das von der Regierung selbst gesteckte wicklung ist die Umsetzung des Rahmenabkommens Ziel, bis Ende 2003 14 Prozent der Posten in der öffentli- von Ohrid. Aber genau diese ist jetzt gefährdet durch das chen Verwaltung und in staatlichen Unternehmen mit für den 7. November 2004 angesetzte Referendum gegen ethnischen Albanern zu besetzen, ist nicht erreicht wor- die Gemeindegebietsreform Mazedoniens. Mit diesem den. Die Gründe hierfür liegen zumindest zum Teil in ei- soll ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz aufgeho- (B) nem niedrigen Ausbildungsstand ethnischer Albaner und (D) ben werden, das die Zahl der Gemeinden um etwa ein in der Tatsache, dass schon jetzt zu viel Personal im öf- Drittel auf 80 reduziert, die Stärkung lokaler Autonomie fentlichen Dienst beschäftigt wird. auf Gemeindeebene vorsieht, um eine Selbstregierung von Mazedoniern und Albanern in ihren jeweiligen Sied- Ein weiteres Thema sind die griechisch-mazedoni- lungsgebieten zu ermöglichen. schen Auseinandersetzungen bezüglich der Namens- frage. Wir fordern beide Parteien in dem unter UN- Eine große Rolle in der Initiierung des Referendums Schirmherrschaft anstehenden Gespräch auf, über die spielen dabei die Oppositionsführer der größten Opposi- unterschiedlichen Positionen konstruktiv zu verhandeln. tionspartei, die offensichtlich nicht in der Lage sind, sich Diese Frage ist für die Republik Mazedonien von hoher selbst und ihre Parteien auf eine konstruktive Rolle in Priorität, da es einen Teil ihrer Identität betrifft. der Opposition einzustellen. Nun spielen sie das Spiel, dass sie am besten beherrschen: nationalistische Polemik Wir werden die politische Entwicklung in Mazedo- und Kritik an der internationalen Gemeinschaft. Über nien weiterhin mit großer Aufmerksamkeit verfolgen das Ohrider Rahmenabkommen jedoch herrschte bisher und möchten unsere Unterstützung unterstreichen. Wir Konsens – es ist eindeutig –, die Kontrahenten auf bei- begrüßen die Fortschritte bei der Stabilisierung des Lan- den Seiten sind nicht die Volksgruppen, sondern zwei des und der Annäherung an die euro-atlantischen Struk- Parteiblöcke. turen. Diese Fortschritte sind das Ergebnis verantwor- tungsbewussten Handelns vor Ort sowie erfolgreicher Allerdings hatte es die Regierung versäumt, die heikle Konfliktprävention durch die internationale Gemein- Materie mit den betroffenen Lokalbehörden abzuspre- schaft. Deutschland hat daran mit seinem hohen perso- chen und das Gesetz durch Medienarbeit der mazedo- nellen und finanziellen Engagement großen Anteil. nischsprachigen Öffentlichkeit näher zu bringen. Das Referendum könnte den „Ohrider Prozess“ in Gefahr Wir möchten uns im bilateralen und multilateralen bringen und das Land sowie das sensible System in die- Rahmen weiter entschlossen für die Implementierung ser Krisenregion nachhaltig erschüttern. des Ohrider Abkommens einsetzen. Die Bundesregie- Wir halten die Schaffung leistungsfähiger mazedoni- rung und die EU haben das Gesetz bisher unterstützt und scher Gemeinden für besonders wichtig, um lokale De- wir drängen weiterhin auf einen schnellen Abschluss. mokratie zu stärken, die wirtschaftliche Entwicklung zu fordern und eine den örtlichen Mehrheitsverhältnissen Dr. Rainer Stinner (FDP): Das Ohrid-Abkommen entsprechende politische Teilhabe aller ethnischen Grup- hat schon bisher eine segensreiche Wirkung für Mazedo- pen zu gewährleisten. nien entfaltet. Ein Element dieses Abkommens ist die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12451

(A) Dezentralisierung und die damit verbundene Verstär- Anlage 7 (C) kung der Minderheitenrechte. Das ist notwendig, das ist richtig. In Mazedonien gibt es ohne jeden Zweifel große Zu Protokoll gegebene Reden Fortschritte. NATO-Offiziere betonen, dass die Reform zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur des Militärischen Apparates so weit fortgeschritten ist, Fortentwicklung der Berufsaufsicht über Ab- dass eine NATO-Mitgliedschaft schon in 2007 möglich schlussprüfer in der Wirtschaftsprüferordnung ist. Und nun gibt es dieses Referendum. Es kann eine (Abschlussprüferaufsichtsgesetz – APAG) (Ta- Falle für die Mazedonier sein. Es kann aber auch zu ei- gesordnungspunkt 16) ner Falle für die internationale Gemeinschaft werden. Wir wollen den Aufbau demokratischer Strukturen in Christian Lange (SPD): Die Bundesregierung ver- Mazedonien. Dazu gehört nach der Verfassung dieses folgt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf das Ziel, ein Landes auch die Durchführung von Referenden. Wir berufsstandsunabhängiges und letztverantwortliches dürfen doch nicht ein Referendum per se ablehnen, nur Gremium zu schaffen, das sich an internationalen Maß- weil uns vielleicht, ich sage vielleicht, der Inhalt nicht stäben orientiert und unter dessen Aufsicht der Berufs- gefällt. stand der Wirtschaftsprüfer und der vereidigten Buch- prüfer steht, die die gesetzlich vorgeschriebenen Unbestritten ist, dass eine Dezentralisierung gemäß Abschlussprüfungen der Unternehmen vornehmen. Ohrid durchgeführt werden muss. Mit dem vorliegenden Antrag wird so getan, als gebe es nur eine Art der De- Wir reagieren mit diesem Gesetz auf die internatio- zentralisierung. Es wird so getan, als sei jeder, der eine nale Entwicklung bei der Prüfung von Jahresabschlüssen andere Art der Dezentralisierung will, damit automatisch der Unternehmen. Denn das Berufsrecht der Wirtschafts- ein Feind jeder Dezentralisierung, ein Feind der weiter- prüfer und der vereidigten Buchprüfer befindet sich der- gehenden Einbeziehung der albanischen Minderheit in zeit in einem starken Wandel. den politischen Gestaltungsprozess Mazedoniens. Das Wir wollen nationale, europäische und andere Initiati- ist die Falle für uns. Wieso trauen wir uns zu, zu sagen, ven zur Verbesserung der Qualität, Unabhängigkeit und dass der regionale Zuschnitt in Struga und Kicevo sowie Integrität des Prüferberufs berücksichtigen und – wo es die Arrondierung in Skopje die einzig mögliche Lösung sinnvoll und notwendig ist – auch umsetzen. Ich möchte ist? Wieso trauen wir uns zu, zu sagen, die einzige Lö- insbesondere die öffentliche Diskussion um die Qualität, sung sind 84 Gemeinden, wieso nicht 65 oder 123? Wer die Integrität und die Unabhängigkeit des Abschlussprü- kann das von uns beurteilen? Vielleicht gibt es bessere fers ansprechen, die sowohl in den USA als auch in Eu- Lösungen. Der Kompromiss ist unter den beiden Regie- ropa zu diversen Initiativen und Maßnahmen geführt hat (B) rungsparteien zustande gekommen, die „kritischen Ge- bzw. führen wird. Beispielsweise hat der Sarbanes- (D) meinden" sind dabei nicht einbezogen gewesen. Die Re- Oxley-Act in den USA einer berufsstandsunabhängigen gierungskoalition hat die Bevölkerung nicht genügend Aufsicht über Abschlussprüfer den Vorzug gegeben. über die Notwendigkeit der Dezentralisierung aufge- klärt, hat den Dialog mit der Bevölkerung und den Ge- Unabhängig davon hatte die Bundesregierung bereits meinden nicht gesucht. Auch dadurch ist das Referen- Anfang 2003, am 25. Februar 2003, in ihrem Zehnpunk- dum so populär geworden. teprogramm zur Stärkung der Unternehmensintegrität und des Anlegerschutzes angekündigt, unter anderem Es ist aber auch nicht von der Hand zu weisen, dass das nationale Aufsichtsrecht über Abschlussprüfer zu dieses Referendum Gefahren mit sich bringt. Für viele in überprüfen und bis Anfang 2005 fortzuentwickeln und Mazedonien ist das Referendum in der Tat der Ausdruck zu konkretisieren. Die Bundesregierung reagiert damit einer integrationsfeindlichen Haltung. Ist das Referen- unter anderem auch auf die Skandale und deren Auswir- dum erfolgreich, könnte die albanische Minderheit dies kungen auf dem Kapitalmarkt. als Affront gegen sie ansehen. Genau aber gegen diese Der Gesetzentwurf orientiert sich außerdem an den Folgen des Referendums müssen wir angehen. Wir müs- absehbaren Vorgaben der EU-Kommission im Rahmen sen sagen, dass für uns der Prozess der Annäherung an der Novellierung der 8. Richtlinie, der so genannten Ab- Europa weitergehen soll. Dazu muss in jedem Fall eine schlussprüferrichtlinie. Die EU-Kommission verhandelt Dezentralisierung gehören. seit etwa einem Jahr über diese Richtlinie. Mit ihrer Ver- abschiedung können wir im Laufe des nächsten Jahres Dieses Referendum hat in Mazedonien und in der in- rechnen. ternationalen Gemeinschaft eine weit über den Inhalt des Referendums hinausgehende Bedeutung bekommen, die Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Einrichtung für uns gefährlich ist. Laufen wir nicht in die Falle, dass einer vom Berufsstand unabhängigen Aufsichtsinstanz die Annahme des Referendums für uns quasi „das Ende setzen wir unsere Ankündigung um, eine Stärkung der der Geschichte bedeutet“. Unternehmensintegrität und des Anlegerschutzes vorzu- nehmen. Gleichzeitig handelt es sich dabei auch um eine Wir können Mazedonier nur dann von demokrati- Weiterentwicklung des bisherigen Qualitätskontrollver- schen Verfahren und Minderheitenrechten überzeugen, fahrens für den Berufsstand der Wirtschaftsprüfer, das wenn wir uns selber daran halten und auf legitime Weise letzte Legislaturperiode durch die Bundesregierung ein- zustande gekommene Entscheidungen respektieren. Da- gesetzt wurde. Die externe Qualitätskontrolle wird mit her müssen wir Ihren Antrag ablehnen. dem vorliegenden Gesetzentwurf überarbeitet, sie wird 12452 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

(A) transparenter und sachgerechter gestaltet. Selbstver- dürfen diese in den Bereichen Rechnungslegung, Fi- (C) ständlich wurden dabei die wertvollen Hinweise des nanzwesen, Wissenschaft oder Rechtssprechung tätig Qualitätskontrollbeirates aufgegriffen. sein oder gewesen sein. Die Abschlussprüferaufsichtskommission erhält das Die Mitglieder der Kommission werden für die Dauer fachbezogene Weisungsrecht über die Wirtschaftsprüfer- von vier Jahren ernannt, sie sind gegenüber der Wirt- kammer, soweit diese Verwaltungsaufgaben in mittelba- schaftsprüferkammer unabhängig und nicht weisungsge- rer Staatsverwaltung gegenüber Berufsangehörigen bunden. wahrnimmt. Die Entschädigung der ehrenamtlichen Mitglieder Ich freue mich, dass der Gesetzentwurf auch im Bun- über die bisher bereits anfallenden Reisekosten und Sit- desrat auf eine grundsätzlich positive Resonanz gestoßen zungs- bzw. Tagegelder sowie über die bisher bereits an- ist. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme vom fallenden sonstigen allgemeinen Verwaltungskosten hi- 14. Oktober 2004 drei Änderungswünsche geäußert. nausgehende Kosten werden über den Haushalt der Die Ergänzungsvorschläge betreffen die Einbezie- Wirtschaftsprüferkammer und damit durch Umlegung hung der Prüfungsverbände der Genossenschaften in das auf die Beiträge der Kammermitglieder geleistet. Qualitätskontrollverfahren über Abschlussprüfer bzw. es Das ist im Übrigen übliche Praxis bei der Finanzie- geht um die Berücksichtigung der spezifischen Situation rung des bisherigen Qualitätskontrollbeirates, die wir, der Sparkassen-Prüfungsstellen, wie auch der genossen- wie ich meine, beibehalten können. Denn aufgrund der schaftlichen Prüfungsverbände, die Wert darauf legen, sachgerechten Umlage auf alle Berufsangehörigen und den Status als gleichwertige Abschlussprüfer zu behal- Gesellschaften dürften die unmittelbaren Kosten für die ten. Abschlussprüferaufsichtskommission zu keinen spürba- Die zwei ersten Änderungsvorschläge werden akzep- ren Erhöhungen der Mitgliedsbeiträge führen. Negative tiert, der dritte Vorschlag befindet sich noch in der Prü- Auswirkungen auf das Preisniveau, insbesondere auf das fungsphase. Dieser Punkt betrifft die Auswahl eines Prü- Verbraucherpreisniveau, sind daher auch nicht zu erwar- fers für die Qualitätskontrolle, der nach vorgesehener ten. Im Gegenteil: Der Markt für Prüfungsdienstleistun- Gesetzesregelung durch die Kommission für Qualitäts- gen wird von der Einführung der Abschlussprüferauf- kontrolle aus triftigen Gründen abgelehnt werden sichtskommission profitieren, denn wir leisten damit könnte. Damit soll zum Beispiel künftig eine gegensei- einen wichtigen Beitrag, um das Vertrauen der internati- tige Beauftragung der Abschluss- oder Wirtschaftsprüfer onalen Kapitalmärkte zurück zu gewinnen. mit der Qualitätskontrolle verhindert werden. Die vorliegende WPO-Novellierung wird von den (B) Mit dem neuen Aufsichtsgremium wollen wir keine Wirtschaftsprüfern und der betroffenen Wirtschaft be- (D) staatliche Lösung einführen oder gar eine zusätzliche grüßt. Das Institut der Wirtschaftsprüfer hat mir in einem neue Behörde oder Verwaltungsstelle einsetzen. Das Schreiben vom 22. Oktober 2004 die positive Haltung wäre im Zuge der Offensive für Bürokratieabbau weder des Verbandes bestätigt. Denn die Novellierung ist ein sinnvoll noch zielführend. wesentlicher, wenn auch nicht abschließender Schritt zur Stärkung und Anerkennung der deutschen Berufsauf- Daher schlagen wir eine so genannte modifizierte sicht auch im internationalen Rahmen. Selbstverwaltung vor. Das heißt, der Wirtschaftsprüfer- kammer wird, neben der Rechtsaufsicht durch das Bun- Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Jeder von desministerium für Wirtschaft und Arbeit, eine neue uns kennt die Aussage Lenins: „Vertrauen ist gut, Kon- „Abschlussprüferaufsichtskommission“ aufsichtlich vo- trolle ist besser“. Dennoch ist das Vertrauen für alle Un- rangestellt werden. Damit halten wir auch weiterhin ternehmungen das Betriebskapital, ohne welches kein grundsätzlich an dem bewährten Prinzip der mittelbaren nützliches Werk auskommen kann. Staatsverwaltung fest. Das Vertrauen der Jahresabschlussadressaten in die Für den Bundeshaushalt und auch für die Länder und Rechnungslegung und teilweise in die Abschlussprüfung die Kommunen entstehen keine zusätzlichen Kosten. wurde in der Vergangenheit durch zahlreiche nationale Die Kosten, die durch die Abschlussprüferaufsichtskom- und internationale Bilanzskandale erschüttert. Gott sei mission entstehen, werden ausschließlich von den Be- Dank sind wir in Deutschland bisher von derartigen rufsangehörigen finanziert. Bilanzskandalen in dem Ausmaß, wie sie in den letzten Ich halte dies für eine vernünftige Lösung: Der bishe- Jahren beispielsweise in den USA mit dem US-lmmo- rige Qualitätskontrollbeirat wird sowohl personell als bilienfinanzierer Fannie Mae, dem US-Telefonriesen auch inhaltlich erweitert und wird zukünftig als Abschluss- Wold-Com oder dem großen Telekomkonzern Qwest prüferaufsichtskommission firmieren. Das heißt, der jet- vorgekommen sind, verschont geblieben. zige Qualitätskontrollbeirat wird entbehrlich bzw. geht Als eine Folge dieser Bilanzskandale wurden von der in der Abschlussprüferaufsichtskommission auf. Bundesregierung die Entwürfe für das Bilanzkontrollge- Die Abschlussprüferaufsichtskommission wird aus setz, BilKoG, sowie das Abschlussprüferaufsichtsgesetz, mindestens sechs und höchstens zehn ehrenamtlichen APAG, und von der EU-Kommission Vorschläge zu Mitgliedern bestehen, die in den letzten fünf Jahren vor Richtlinienmodernisierungen vorgelegt, die unter ande- ihrer Ernennung nicht persönliche Mitglieder der Wirt- rem die Regelungen zur Berufsaufsicht der Wirtschafts- schaftsprüferkammer gewesen sein dürfen; ebensowenig prüfer ändern sollen. Diese verstärkte Berufsaufsicht soll Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12453

(A) eine ordnungsgemäße Rechnungslegung gewährleisten Der Gesetzesvorstoß der Bundesregierung wird so- (C) und das Vertrauen in die Rechnungslegung wieder her- wohl von der Wirtschaftsprüferkammer, WPK, als auch stellen. von dem Institut der Deutschen Wirtschaftsprüfer, IDW, die über eine sehr hohe Mitgliederzahl von 87,45 Pro- Der heute in erster Lesung vorgelegte Gesetzentwurf zent verfügt, begrüßt. Das Institut Deutscher Wirt- der Bundesregierung zur Fortentwicklung der Berufsauf- schaftsprüfer hatte sich bereits vor geraumer Zeit für sicht über Abschlussprüfer in der Wirtschaftsprüferord- eine Verbesserung der Glaubwürdigkeit und Transparenz nung, Abschlussprüferaufsichtsgesetz – APAG, ist Teil der Aufsicht über die Wirtschaftsprüfer, insbesondere des von der Bundesregierung geplanten zweistufigen durch die Einbeziehung unabhängiger Dritter in die Auf- Enforcement-Systems zur Durchsetzung von Rech- sichtstätigkeit der Wirtschaftskammer, die Gesetzesinitia- nungslegungsstandards. Der Gesetzentwurf zielt auf tive zur Ausgestaltung der öffentlichen Aufsicht und die Transparenz ab, das heißt er soll die Öffentlichkeit in die dabei vorgesehene Einrichtung einer Abschlussprüfer- Überwachung einbeziehen, und darauf ab, den Berufs- aufsichtskommission ausgesprochen, da sie im Eigenin- stand der Abschlussprüfer und Abschlussprüferinnen in teresse des Berufsstandes liegt. Deutschland unter eine letztverantwortliche, berufs- Die geplanten Änderungen des APAG-E ändern die standsunabhänige Aufsicht zu stellen. derzeit bestehende mittelbare Selbstverwaltung des Be- Die einzurichtende Abschlussprüferaufsichtskommis- rufsstands der Wirtschaftsprüfer und vereidigten Buch- sion, APAK, soll die öffentliche Fachaufsicht über die halter umfassend. Die Wirtschaftsprüferkammer verliert der Wirtschaftsprüferkammer, WPK, als Selbstverwal- die Letzentscheidungsbefugnis in der Organisation des tungskörperschaft obliegenden Aufgaben wahrnehmen. Berufsstands und ist einer neu eingerichteten berufs- Die APAK wird dabei ausschließlich aus berufsfremden fremden Kommission zur Rechenschaft verpflichtet. Da- Mitgliedern bestehen, die vom Bundesministerium für mit bezieht die Bundesregierung aufbauend auf dem Zehnpunkteprogramm zur Stärkung der Unternehmens- Wirtschaft und Arbeit ernannt werden. Durch diese Be- integrität und des Anlegerschutzes vom 25. Februar rufsaufsicht, die vom Berufsstand unabhängig und von 2003 unabhängige Dritte in die Aufsicht mit ein, ähnlich der Öffentlichkeit anerkannt werden soll, soll das Ver- der US- Aufsichtsbehörde Public Company Accounting trauen in die Arbeit der Wirtschaftsprüfer gefördert wer- Oversight Board, PCAOB. Zugleich erfüllt sie Art. 31 den. Die APAK wird weitreichende Informationsrechte Nr. 3 des Vorschlags der EU-Kommission zur Moderni- gegenüber der Wirtschaftsprüferkammer haben und ihr sierung der EU-Prüfrichtlinie, der von den Mitglieder- wird eine Letztverantwortlichkeit insbesondere im Be- staaten eine berufsstandsunabhängige öffentliche Auf- reich der Berufsaufsicht und der Qualitätskontrolle zu- sicht fordert. (B) kommen. Die Kommission wird sich aus mindestens (D) sechs und höchstens zehn ehrenamtlichen Mitgliedern Dennoch gebe ich hier zu Bedenken, dass die zusammensetzen, die in den letzten fünf Jahren vor Er- Abschlussprüferaufsichtskommission mit einer breiteren nennung nicht Mitglieder der Wirtschaftsprüferkammer Personaldecke ausgestattet sein müsste, um den Forde- gewesen sein dürfen und die insbesondere in den Berei- rungen nach einer berufsunabhängigen Überwachung chen Rechnungslegung, Finanzwesen, Wissenschaft aus den USA, die mit dem PCAOB eine berufsfremde oder Rechtsprechung tätig oder tätig gewesen sind. Überwachung der Wirtschaftsprüfer verwirklicht haben, Diese berufsstandsunabhängigen Mitglieder werden entgegenkommen zu können und direkte Kontrollen vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit für durch das PCAOB zu verhindern. Der transparenten vier Jahre ernannt. Sie sind unabhängig und nicht wei- Ahndung der Pflichtverletzungen von Wirtschaftsprü- sungsgebunden. Die APAK soll aus dem heute schon fern sind meines Erachtens die Möglichkeiten der auf- bestehenden Qualitätskontrollbeirat hervorgehen, der grund der geringen Zahl der Kommissionmitglieder und personell und inhaltlich erweitert wird. Das Gesetzes- die Tatsache, dass diese ehrenamtlich tätig sein sollen, vorhaben liefert damit grundsätzlich einen wichtigen enge Grenzen gesetzt. Ich möchte hiermit – gerade auch Beitrag zur Begegnung des in der Öffentlichkeit festzu- als Befürworter von Bürokratieabbau – wahrlich nicht das künstliche personelle Aufblähen der Abschlussprü- stellenden Vertrauensverlustes in die Arbeit der Wirt- feraufsichtskommission propagieren. Dennoch er- schaftsprüfer. scheint mir angesichts der Zahlen von 12 194 Wirt- Der Gesetzentwurf entwickelt darüber hinaus das schaftsprüfern, 3 988 vereidigten Buchprüfern, 2 178 System der Qualitätskontrolle weiter. Er greift dabei Er- Wirtschaftsprüfgesellschaften und 148 Buchprüfungsge- kenntnisse auf, die der Qualitätskontrollbeirat aus den sellschaften die Verhältnismäßigkeit gegenüber sechs bis bisherigen Erfahrungen der Praxis gewonnen hat: Das zehn ehrenamtlich tätigen Kommissionmitgliedern als Verfahren zur Benennung eines Prüfers für Qualitätskon- nicht gegeben. trolle soll transparenter und unabhängig ausgestaltet Sicherlich wird auch die notwendige Glaubwürdig- werden. Es soll eine Fortbildungspflicht im Bereich der keit dadurch erreicht werden, dass die Mitglieder der Qualitätssicherung eingeführt werden. Die wesentlichen Abschlussprüferaufsichtskommission, APAK, einschlä- Berufspflichten zur Einführung, Unterhaltung und Kon- gige Erfahrungen aus den Gebieten Rechnungslegung, trolle eines Qualitätssicherungssystems sollen gesetzlich Finanzwesen oder Rechtsprechung mitbringen müssen festgeschrieben werden. Die Vorgaben zu Inhalt und und zugleich seit mindestens fünf Jahren nicht mehr per- Aufbau des Qualitätskontrollberichtes sollen konkreti- sönliche Mitglieder der Wirtschaftsprüferkammer gewe- siert werden. sen sein dürfen. Damit sollte eine ausreichende Distanz 12454 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004

(A) zur Branche gewährleistet sein und Interessenskonflikte gebungsverfahren wird zu prüfen sein, inwieweit die (C) dürften vermieden werden. Aber es dürfte auch Schwie- weiteren Vorschläge der Länder in das Gesetz einfließen rigkeiten bereiten, hinreichend qualifizierte Personen zu werden. Auch über die Bedenken einzelner Verbände zu finden, die in den vorgenannten Bereichen tätig sind einigen Passagen des Entwurfs wird zu reden sein. Alles bzw. waren und in den letzten fünf Jahren vor ihrer Er- in allem gehe ich jedoch davon aus, dass größere Verän- nennung nicht persönliche Mitglieder der Wirtschafts- derungen an diesem Regierungsentwurf nicht vorgenom- prüferkammer waren. men werden, weil es dafür keinerlei Veranlassung gibt. Zusammenfassend ist das Ziel der Bundesregierung Sehr positiv möchte ich noch bewerten, dass mit die- mit dem vorliegenden Gesetzentwurf das Vertrauen der sem Gesetz auch das System der Qualitätskontrolle wei- Unternehmen und Unternehmern in die Abschlussprü- terentwickelt wird. Das zeigt, dass die praktischen fung zu stärken und mit der Enforcement-lnstitution und Erfahrungen und Erkenntnisse etwa des Qualitätskon- einer strengeren Berufsaufsicht das Vertrauen des Kapi- trollbeirats in relativ kurzer Zeit Eingang in die Gesetz- talmarktes in eine hohe Qualität der Rechnungslegung gebung finden. So soll das Verfahren zur Benennung von wiederherzustellen, löblich. Dennoch kann weder eine Prüfern für Qualitätskontrolle transparenter und unab- gut ausgestattete Enforcement-lnstitution noch eine ver- hängiger werden. Und gerade vor dem Hintergrund der schärfte Berufsaufsicht über gesetzliche Abschlussprüfer Forderung nach lebenslangem Lernen sind die Vor- eine eindeutige Rechnungslegung garantieren. Es wäre schläge zur Verbesserung der Fortbildung im Bereich der vermessen, den Bericht der Prüfstelle bzw. die Veröf- Qualitätssicherung ausdrücklich zu begrüßen. fentlichung des Prüfungsergebnisses als umfassendes Gütesiegel für die Rechnungslegung des geprüften Un- Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass ternehmens zu verstehen, da die Prüfbreite und -tiefe der durch diese Verbesserungen für die öffentlichen Haus- Prüfung durch die Mitarbeiter der Prüfstelle nur sehr ge- halte keine zusätzlichen Kosten entstehen, angesichts ring sein kann. Die Prüfstelle muss dies kommunizieren, der Kassenlage sollte dies deutlich betont werden. Alles damit nicht eine Erwartungslücke in der Öffentlichkeit in allem ist davon auszugehen, dass der Markt für Prü- entsteht und zu guter Letzt das vielleicht wiedergewon- fungsdienstleistungen von den vorgeschlagenen Neure- nene Vertrauen aufs Spiel gesetzt wird. gelungen profitieren wird. Weil im Gesetzentwurf auch europäische bzw. andere internationale Initiativen im In diesem Sinne kann ich mich nur der Aussage von Zusammenhang mit dem Prüfungswesen berücksichtigt Herrn Bundeswirtschafts- und -arbeitsminister Clement worden sind, ist das Gesetz auch mit europäischem anschließen, dass die Novelle zwar ein weiterer wichti- Recht vereinbar. Wir sollten – damit meine ich alle Frak- ger, aber nicht abschließender Schritt zur Weiterentwick- tionen in diesem Hause – zusehen, dass wir den Entwurf (B) lung der Berufsaufsicht ist. zügig beraten und das Gesetz somit möglichst schon (D) zum 1. Januar 2005 in Kraft treten kann. Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Mit dem heute zu beratenden Gesetzentwurf hat Rainer Funke (FDP): Das Vertrauen in die Ab- die Bundesregierung einen weiteren Baustein zur Ver- schlussprüfer hat aufgrund der Skandale in den Vereinig- besserung des Anlegerschutzes und zur Stärkung der ten Staaten, aber auch in Deutschland in den vergange- Unternehmensintegrität vorgelegt. Bereits im Zehnpunk- nen Jahren erheblich gelitten. Deshalb ist die Zielsetzung tepapier aus dem Jahre 2003 hatte sie angekündigt, das des vorliegenden Gesetzentwurfs, nämlich Unabhängig- nationale Aufsichtsrecht über Abschlussprüferinnen und keit und Integrität des Prüferberufs zu stärken, zu begrü- -prüfer bis Anfang 2005 fortzuentwickeln. Das Ab- ßen. Auch ist die Einrichtung einer nicht staatlichen Ab- schlussprüferaufsichtsgesetz sieht folgerichtig eine Stär- schlussprüferaufsicht und deren Ausstattung mit den kung der berufsstandsunabhängigen Aufsicht über Wirt- notwendigen Kontrollbefugnissen grundsätzlich richtig. schaftsprüfer und vereidigte Buchprüfer vor. Wahrscheinlich sind wir mittlerweile längst zu einem solchen Schritt gezwungen, weil nach dem Sarbanes- Damit soll jedoch weder eine staatliche Lösung ein- Oxley-Act in den USA die internationalen Kapitalmärkte hergehen, noch wird eine zusätzliche neue Behörde oder eine solche Enforcement-Einrichtung auch von uns er- Verwaltungsstelle dafür geschaffen. Diese Verbesserung warten. führt also nicht zu einem neuen bürokratischen Mehrauf- wand. Vielmehr geht es um eine so genannte modifi- Wie immer bei solchen Gesetzen steckt der Teufel im zierte Selbstverwaltung. Eine ausschließlich mit Berufs- Detail. Natürlich muss der Ordnungsrahmen für Ab- fremden besetzte Abschlussprüferaufsichtskommission schlussprüfer nach den internationalen Vorfällen neu jus- soll zukünftig die öffentliche fachbezogene Aufsicht tiert werden. Natürlich müssen wir mit einer solchen ausüben. Diese Kommission wird weit reichende Infor- Prüferaufsicht klare Kante zeigen. Aber wir sollten der mationsrechte gegenüber der Wirtschaftsprüferkammer Versuchung nicht erliegen, mal wieder bei notwendigen haben. Ihr wird praktisch eine Letztverantwortlichkeit Regulierungen über das Ziel hinaus zu schießen. insbesondere im Bereich der Berufsaufsicht und der Qualitätskontrolle zukommen. Wir sollten die bewährte Aufsichtsfunktion der Wirt- schaftsprüferkammer mit der Abschlussprüferaufsichts- Auch wenn das Gesetz nicht zustimmungsbedürftig kommission nicht konterkarieren oder doppeln. Wir soll- ist, hat die Bundesregierung doch die kleinen Einwände ten vielmehr sehr eng und klar diese neue Einrichtung der Stellungnahme des Bundesrates gründlich bedacht auf den Bereich der Pflichtverletzungen im Zusammen- und zum großen Teil übernommen. Im weiteren Gesetz- hang mit gesetzlich vorgesehenen Abschlussprüfungen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 2004 12455

(A) zuschneiden. Da scheint mir beim vorliegenden Gesetz- schaftsprüferkammer nicht durch eine steuerfinanzierte, (C) entwurf im ein oder anderen Fall eine Überbürokratisie- staatliche Lösung geschmälert wird. rung vorzuliegen. Das wollen wir in den anstehenden Im Gesetzentwurf der Bundesregierung ist daher vor- parlamentarischen Beratungen noch ausmerzen. gesehen, eine mit versierten Fachleuten besetzte Auf- sicht über die Wirtschaftsprüferkammer zu etablieren. Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Aufbau und Befugnisse dieser Aufsichtskommission minister für Wirtschaft und Arbeit: Die Bundesregierung werden sich an internationalen Maßstäben orientieren. reagiert mit dem Abschlussprüferaufsichtsgesetz als Die Bundesregierung nutzt den Gesetzentwurf auch Novellierung der Wirtschaftsprüferordnung auf die in- dazu, etliche Regelungen der so genannten externen ternationale Entwicklung bei der Prüfung von Jahresab- Qualitätskontrolle zu überarbeiten, um sie transparenter schlüssen der Unternehmen. Diese Entwicklung betrifft und sachgerechter zu gestalten. Damit werden die wert- insbesondere das berufliche Umfeld der Wirtschaftsprü- vollen Hinweise des Qualitätskontrollbeirates bei der ferinnen bzw. Wirtschaftsprüfer und der vereidigten Wirtschaftsprüferkammer aus der Vergangenheit aufge- Buchprüferinnen und vereidigten Buchprüfer, das sich griffen. zurzeit mit bemerkenswerter Dynamik verändert. Im Fo- kus stehen Qualität, Integrität und Unabhängigkeit der Die WPO-Novellierung wird von den Wirtschaftsprü- Abschlussprüfer und Abschlussprüferinnen. ferinnen und Wirtschaftsprüfern sowie der betroffenen Wirtschaft ausdrücklich begrüßt. Insbesondere vor dem Bilanzskandale in der Vergangenheit in den USA und aktuellen Hintergrund der öffentlichen Diskussion wird auch in Europa haben bereits zu diversen Initiativen und sie helfen, das internationale Markt- und Anlegerver- Maßnahmen geführt. So verhandelt seit etwa einem Jahr trauen in die Qualität der Abschlussprüfung wieder zu auch die EU-Kommission über die Reform der 8. EU- stärken. Richtlinie, der so genannten Abschlussprüferrichtlinie. Mit deren Verabschiedung ist im Laufe des nächsten Jah- Der Bundesrat hat zu dem Gesetz, das nicht zustim- res zu rechnen. mungspflichtig ist, im ersten Durchgang am 15. Oktober 2004 mit drei Empfehlungen zu Ergänzungen des Geset- Die Bundesregierung hatte unabhängig davon bereits zestextes Stellung genommen. Die Ergänzungsvorschläge Anfang 2003 mit ihrem Zehnpunktepapier zur Stärkung betreffen die Einbeziehung der Prüfungsverbände der Ge- der Unternehmensintegrität und des Anlegerschutzes auf nossenschaften und der Sparkassenprüfstellen in das die Skandale und deren Auswirkungen auf die Kapital- Qualitätskontrollverfahren über Abschlussprüfer. Zwei märkte reagiert. Sie hatte angekündigt, unter anderem der Vorschläge sind aus Sicht der Bundesregierung sehr das nationale Aufsichtsrecht über Abschlussprüfer bis sinnvoll und sollten im dafür einschlägigen Genossen- (B) (D) Anfang 2005 fortzuentwickeln. schaftsgesetz ihren Niederschlag finden. Der dritte Vor- schlag wird gegenwärtig noch daraufhin geprüft, welche Die mit diesem Gesetz nun einzuführende berufs- besonderen Auswirkungen die Regelung auf die kleine- standsunabhängige Aufsichtsstelle erfüllt in vollem Um- ren Prüfungsverbände der Genossenschaften haben fang die avisierten Mindeststandards der demnächst no- könnte. vellierten 8. EU-Richtlinie. Zu betonen ist, dass die Aufsichtsstelle berufsstandsunabhängige Mitglieder ha- Hinsichtlich der Weiterentwicklung und Verbesserung ben wird, die fachlich weisungsungebunden und letzt- der Berufsaufsicht über Wirtschaftsprüferinnen und entscheidend handeln. Wirtschaftsprüfer sind die vorliegenden Ergänzungen ein weiterer wichtiger, aber nicht abschließender Schritt. Es ist gemeinsame Überzeugung von Bundesregie- Zum Beispiel müssen die Ermittlungsbefugnisse der rung und Wirtschaftsprüfern in Deutschland, dass eine Wirtschaftsprüferkammer in berufsaufsichtlichen Ver- solche Aufsichtsstelle nicht zu einer Abschaffung der fahren, die Verwertung von Ergebnissen zwischen Be- gewachsenen Strukturen der Selbstverwaltung führen rufsaufsicht und Qualitätskontrolle und das Verhältnis darf, wie sie mit der Wirtschaftsprüferkammer in ihrer zwischen Wirtschaftsprüferkammer und Generalstaats- Funktion als mittelbare Staatsverwaltung bestehen. In anwaltschaft im Nachgang zu diesem Gesetz weiter ge- der Konsequenz bedeutet das, dass die Position der Wirt- prüft werden.

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44 ISSN 0722-7980