Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

SYLVIA PALETSCHEK

Auszug der Emanzipierten aus der Kirche?

Frauen in deutschkatholischen und freien Gemeinden 1844 - 1852

Originalbeitrag erschienen in: Frauen unter dem Patriarchat der Kirchen : Katholikinnen und Protestantinnen im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart [u.a.]: Kohlhammer, 1995, S. 48 - 68 Sylvia Paletschek

AUSZUG DER EMANZIPIERTEN AUS DER KIRCHE? FRAUEN IN DEUTSCHKATHOLISCHEN UND FREIEN GEMEINDEN 1844-1852

Louise Otto, die gemeinhin als Begründerin der deutschen Frauenbewegung gilt, schrieb 1846: „Vor allem ist es die religiöse Bewegung, welcher wir den schnellen. Fortschritt der weiblichen Theilnahme an den Fragen der Zeit verdanken. Die Re- ligion ist es, welche stets das weibliche Gemüth zur höchsten Begeisterung fähig macht Ui. Aber um wie viel mehr mußte dies grade der Fall sein, da diese neue Reformation die deutschen Frauen selbst mit zur lebendigen Theilnahme auffor- derte — und Priester — und Laienthum vernichtend, die ganze deutsche Nation auf- rief, ein Volk zu werden von lauter Hohepriestern und Hohepriesterinnen. Mit dem Deutschkatholizismus war die Losung gegeben von einer allgemeinen geistigen Gleichheit vor Gott, von Priestern wie Laien, Gelehrten und Unwissenden, Män- nern und Frauen."! Die „religiöse Bewegung" und die „neue Reformation", von der Louise Otto hier spricht, war die ab 1844 entstandene deutschkatholische Bewe- gung. Die heute weitgehend in Vergessenheit geratenen deutschkatholischen Ge- meinden stellten zusammen mit den sich von der protestantischen Kirche abspal- tenden freien Gemeinden die erste große Kirchenaustrittsbewegung in Deutschland und eine der ersten Massenbewegungen im deutschen Vormärz dar. Religiöse Re- form, politische Emanzipation, Mitbestimmung in kirchlichen Angelegenheiten wa- ren zentrale Schlagworte dieser Bewegung. Im folgenden sollen nun die Frauen in dieser religiösen Oppositionsbewegung im Mittelpunkt stehen. Es soll nach den Beweggründen fiir ihren Auszug aus der Kirche, nach ihren Aktivitäten in den freireligiösen Gemeinden und nach ihrer Religiosität gefragt werden. Abschließend soll der Frage nachgegangen werden, ob Mitte des 19. Jahrhunderts eine Kritik traditionaler Religiosität und die Parteinahme für die religiöse Oppositionsbewe- gung — im Eingangszitat von Louise Otto wird dieser Zusammenhang bereits ange- deutet — eine Voraussetzung für die Entwicklung feministischen Engagements war. Fur diesen Zusammenhang spricht der Sachverhalt, daß die im Umkreis der deutschkatholischen und freien Gemeinden gegründeten Frauenvereine den Haupt- stutzpfeiler der fruhen deutschen Frauenbewegung der 1840er Jahre bildeten. 2 Doch zunächst zur Entstehung und zum Charakter der religiösen Oppositionsbe- wegung Anlaß fin- die Entstehung der ersten deutschkatholischen Gemeinden war

i Louise Otto, „Die Theilnahme der weiblichen Welt am Staatsleben", in: Robert Blum (Hg.), Vorwärts, Jg 5, 1847, 44. 2 Auf die Bedeutung der religiösen Oppositionsbewegung für die Frauenemanzipation hinge- wiesen hat als erste die amerikanische Historikerin Catherine Prelinger, „Religious Dissent, Women's Rights and the Hamburger Hochschule für das weibliche Geschlecht in Mid-Nine-

teenth Century Gerniany", in . Church History 45. 1976, 42-55; siehe auch dies., Charity, Challenge and Change. Religious Dimensions of the Mid-Nineteenth-Century Women's Mo- vement in Germany, New York 1987.

48 Auszug der Emanzipierten aus der Kirche? die Kritik der 1844 stattfindenden Trierer Wallfahrt. 3 , ein katho- lischer Kaplan, hatte in einem in zahlreichen Zeitschriften und als Flugschrift veröf- fentlichten Brief diese Wallfahrt als Volksverdummung verurteilt. Er sah einen en- gen Zusammenhang zwischen den sozialen und politischen Mißständen und der be- sonders durch die katholische Kirche zu verantwortenden religiösen Unmündigkeit des Volkes. Sein religiöser, politischer und sozialer Protest traf die Zeitstimmung. Viele Menschen schlossen sich dem Protest Ronges an, der wegen seiner Kritik schließlich des Amtes enthoben wurde. Die ersten Katholiken und Katholikinnen traten aus ihrer alten Kirche aus und bildeten eigene Gemeinden. Mit ihrem Be- dürfnis nach einer rationalen Religiosität waren sie mit bestimmten kirchlichen. Dogmen in Konflikt geraten. Sie kritisierten aber auch die mangelnde Mitbestim- mung in der Kirche. Diese ersten freireligiösen Gemeinden hießen zum einen „deutschkatholisch", um dem nationalen Element und dem Wunsch nach einer eini- genden deutschen Nationalkirche Ausdruck zu verleihen; zum anderen, um die Ar- gumentation zu verdeutlichen, daß im „germanischen Element" das demokratische Prinzip gegenüber der römischen Hierarchie in der Vergangenheit am deutlichsten zutage getreten sei. 4 Ab 1846, also etwas später als die deutschkatholischen, bildeten sich sogenannte „freie Gemeinden" auf „protestantischem Boden", anläßlich der Suspension einzel- ner freisinniger protestantischer Geistlicher. 5 Diese aufmüpfigen Pfarrer waren Mitglieder der Lichtfreunde, der rationalistischen Opposition innerhalb der prote- stantischen Kirche. Bald kam es zur Kontaktaufnahme zwischen deutschkatholi- schen und freien Gemeinden, deren Organisationsstruktur und Zielsetzung sich weitgehend glichen. Ab 1850 schlossen sie sich zum „Bund freier Gemeinden" zu- sammen. Deswegen kann von einer gemeinsamen, konfessionell übergreifenden re- ligiösen Reformbewegung gesprochen werden. 6 Es war aber auch so, daß sich von Anfang an in den deutschkatholischen Gemeinden ehemalige Katholiken und Pro- testanten einfanden. Das Protestpotential aus dem Katholizismus, das zunächst den Hauptanstoß für die Gesamtbewegung lieferte, erschöpfte sich bald. Die freireli- giöse Bewegung erhielt nach ihrer Gründungsphase hauptsächlich Zutritt von ehe-

3 Zur deutschkatholischen Bewegung vgl Friedrich-Wilhelm Graf, Die Politisierung des reli- giösen Bewußtseins: Die bürgerlichen Religionsparteien im deutschen l'ormarz Das Beispiel des Deutschkatholizismus, Stuttgart 1978. Sylvia Paletschek, Frauen und Dissens Frauen im Deutschkatholizismus und in den freien Gemeinden 1841-1852, Göttingen 1990 Andreas Holzern, Kirchenreform und Sektenstiftung. Deutschkatholiken, Reformkaüzohken und der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen) Paderborn 1994. Die altere Ultra- montane am Oberrhein 1844-1866, (=Veröffentlichung Literatur erschließt sich uber diese neueren Arbeiten. Zu Frauen in deutschkatholischen Gemeinden Württembergs vgl Andrea Lotz, „Die Erlösung des weiblichen Geschlechts. Frauen in deutschkatholischen Gemeinden", in: Carola Lipp (Hg.), Schimpfende Weiber und patriotische ,Jungfrauen. Frauen im l'ormarz und in der Revolution von 1848/49, Moos 1986, 232-247. Ferdinand Kampe, Geschichte der religiösen Bewegung der neueren Zeit Bd 1, Leipzig 1852, 167.

5 Zu den freien Gemeinden Jörn Brederlow, „Lichtfreunde" und „freie Gemeinden" - Religiöser Protest und Freiheitsbewegung im Vormärz und in der Revolution von 1848/49. München 1984. 6 Vgl. Paletschek, Frauen und Dissens, 39-43.

49 Sylvia Paletschek maligen Protestantinnen und Protestanten. Auch einzelne jüdische Männer und Frauen waren Gemeindemitglieder. Zwischen 1845 und 1852 erreichte die religiöse Oppositionsbewegung eine Mit- gliederzahl von 100.000 - 150.000 in ca. 350 Gemeinden. Die anderen vormärz- lichen demokratischen Massenbewegungen, die Turner und Sänger, zählten etwa 80.000 bzw. 100.000 Mitglieder. 7 Durch die massiven staatlichen Repressionen ab 1849 — die freireligiösen Gemeinden wurden als politische Vereine betrachtet und teilweise verboten — und die Resignation nach der gescheiterten Revolution kam die freireligiöse Bewegung um 1852 zu einem vorläufigen Stillstand. 1859 konstituierte sie sich im „Bund freireligiöser Gemeinden" neu, erreichte aber in den folgenden Jahren nicht mehr die breite öffentliche Resonanz, die sie während der 1840er Jahre genossen hatte. Wer engagierte sich nun für die religiöse Reform? Die größte soziale Gruppe mit ca. 60% der Mitglieder machten Männer und Frauen des Kleinbürgertums aus, d.h. Kleingewerbetreibende, Töchter und Gattinnen von Handwerkern, Wirtsleute. 8 Etwa 30% stellten die unteren sozialen Schichten, also Tagelöhner und Putzma- cherinnen, Dienstmädchen, Fabrikarbeiter und -arbeiterinnen. Aus dem Bürgertum kamen durchschnittlich 10% der Mitglieder. Es gab also neben der Dominanz der ,kleinen Leute' auch Industrielle, Kaufleute, Lehrerinnen, Autoren oder Rechtsan- wälte, wenn sie auch innerhalb der Bewegung in der Minderheit waren. In der Re- gel besetzten sie aber überproportional stark die Führungspositionen der Gemein- den, d.h. Ältestenrat und Vorstand oder repräsentierten die Bewegung in der Öf- fentlichkeit. Mehr Männer als Frauen waren Mitglieder in einer freireligiösen Ge- meinde. Der Frauenanteil betrug um 40%, wobei diese Durchschnittszahl eine enorme Spannweite von 20 bis 50% verdeckt. 9 Es bestand zudem der Trend, daß die Zahl der bürgerlichen Frauen die der bürgerlichen Männer in der Gemeinde überstieg Umgekehrt war unter den kleinbürgerlichen Mitgliedern der Männeran- teil höher Dies könnte zum einen damit zusammenhängen, daß bürgerliche Frauen aufgrund ihrer Bildung eher an traditionellen religiösen Vorstellungen zweifelten Aber als mindestens ebenso gewichtig, wenn nicht entscheidender könnte sich hier ein anderer Sachverhalt, der Familienstand nämlich, auswirken. In den Gemeinden hielten sich verheiratete und ledige Gemeindemitglieder in etwa die Waage. Doch unter den Verheirateten befanden sich stets mehr Frauen als Männer. 10 Außerdem stieg die Zahl der Verheirateten mit höherer Sozialschicht. Der prozentual höhere Anteil burgerlicher Frauen könnte nicht nur in den Sozialisationsbedingungen ihrer Herkunft, sondern auch in ihrem Familienstand begründet sein, da sie häufiger ver-

7 Dieter Duding, Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808-1847). Bedeutung und Funktion der Turner- und Sangervereine für die deutsche Nationalbewegung, Munchen 1984 8 Zu den folgenden Zahlenangaben bezüglich Sozialstruktur und regionaler Verbreitung der Bewegung Paletschek, Frauen und Dissens, 77-95, 328-330. 9 Der Frauenanteil schwankte regional. Signifikant ist jedoch, daß in süddeutschen Gemeinden der Frauenanteil mit ca. 25% relativ niedrig lag. Vgl. Holzern, Kirchenreform, 333-335. lo Auch Holzern bestätigt den höheren Verheiratetenanteil der Frauen für die deutschkatholi- schen Gemeinden der Oberrheinischen Kirchenprovinz. 40-50% der Männer, ca. 75% der Frauen seien verheiratet gewesen. Holzern, Kirchenreform, 333.

50 Auszug der Emanzipierten aus der Kirche? heiratet waren als die Frauen des Kleinbürgertums und der unteren sozialen Schichten. Interessant ist ferner der Tatbestand, daß der Großteil der Verheirate- ten, auch der verheirateten Frauen, meist nicht innerhalb der Gemeinde verheiratet war, sondern ohne ihren Ehepartner beigetreten war. Dies hing meist mit dem Problem der Mischehe zusammen, auf das weiter unten noch eingegangen wird. Der Frauenanteil nahm in den Gemeinden mit steigender Verheiratetenzahl zu. Je mehr sich ganze Familien und nicht nur Individuen den Gemeinden anschlossen, desto stärker näherte sich die Zahl der weiblichen Mitglieder der der männlichen. Zur konfessionellen Herkunft der Dissidentinnen und Dissidenten liegen eher un- vollständige Angaben vor. Für die freien Gemeinden, den kleineren Strang der Be- wegung (ca. 30.000 Mitglieder), kann festgehalten werden, daß sie sich ganz überwiegend aus ehemaligen Protestanten und Protestantinnen rekrutierten. Ganz vereinzelt traten ihnen jedoch auch, ebenso wie der deutschkatholischen Gemeinde, ehemalige Juden und Jüdinnen bei. In den deutschkatholischen Gemeinden fanden sich in der Anfangsphase überwiegend Katholiken und Katholikinnen ein — ftir die süddeutschen Gemeinden geht Andreas Holzem von zwei Dritteln aus." In der Regel waren Protestanten an den deutschkatholischen Gemeinden überall von Anfang an beteiligt. Während sich das Protestpotential aus dem Katholizismus bald erschöpfte, erhielten die deutschkatholischen Gemeinden ab ca. 1847 hauptsächlich Zuwachs von Protestanten, genauer gesprochen überwiegend von Protestantinnen. Oft waren dies protestantische Ehefrauen, die, in Mischehe verheiratet, ihrem ehe- mals katholischen, dann aber zum Deutschkatholizismus übergetretenen Ehemann nachfolgten. Es traten im Zuge der Konsolidierung der Bewegung aber auch häufig protestantische Ehepaare über. In der deutschkatholischen Gemeinde Leipzig be- fanden sich unter den 107 nach 1847 Zugetretenen zwei katholische und 36 prote- stantische Ehepaare sowie 31 ledige Protestanten und Protestantinnen. 12 Nimmt man deutschkatholische und freie Gemeinden zusammen, so läßt sich festhalten, daß letztlich Protestanten für den Dissens ‚anfälliger' waren als Katholiken, wobei hier nochmals eine deutliche geschlechtsspezifische Differenzierung angebracht ist. Prozentual scheinen mehr Protestantinnen als Protestanten und umgekehrt mehr katholische Männer als katholische Frauen zugetreten zu sein. Dies könnte daher rühren, daß katholische Frauen weit stärker in das kirchliche Leben eingebunden waren als katholische Männer und daß der Katholizismus der Lebenswelt katho- lischer Frauen damals noch mehr entsprach und ihre religiösen Bedürfnisse noch besser befriedigte. Weiblicher Dissens ging stärker vom Protestantismus aus. Die kirchlich-konfessionelle Sozialisation der ehemaligen Protestantinnen ließ vielleicht eher religiöse Zweifel zu. Die allgemein konstatierte größere Nähe des Protestan- tismus zu Entchristianisierung und Säkularisierung zeigt sich ganz besonders deut- lich, wenn man protestantische und katholische Frauen in ihrer Nähe zum Dissens vergleicht Ein weiterer Grund für die höhere Zahl von Protestantinnen in der Be- wegung lag darin, daß die in Mischehe verheirateten Protestantinnen häufiger ih- rem Mann zu den Dissidenten nachfolgten, als das umgekehrt wohl der Fall war bei protestantischen Männern, die mit ehemals katholischen, nun deutschkatholischen

11 Holzern, Kirchenreform, 335 f. 12 palctschek, Frauen und Dissens, 93.

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Frauen verheiratet waren. Dies dürfte darauf hinweisen, daß der Mann weniger bereit war, sich den religiösen Vorstellungen seiner Frau anzuschließen als um- gekehrt. Hierbei sollte jedoch nicht vergessen werden, daß die mit einem Gemein- demitglied verheirateten Frauen eher in der Minderzahl waren gegenüber den ledigen und verheirateten, jedoch nicht mit ihrem Ehemann beigetretenen weib- lichen Gemeindemitgliedern. Letztere weisen wiederum auf eine doch auch beste- hende relativ große Autonomie von Frauen in religiösen Belangen hin. Der Charakter des religiösen Dissens erschließt sich nicht allein mit dem Blick auf die soziale und konfessionelle Herkunft der Dissidentinnen und Dissidenten. Weite- ren Aufschluß gibt die regionale Verbreitung der Gemeinden. Die freireligiösen Gemeinden bildeten sich nämlich vordringlich in den Städten konfessionsgemisch- ter Regionen mit dynamischer Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung, in pro- testantischen Großstädten und vereinzelt in ‚rebellischen' ländlichen Kleinstädten. Weder in rein protestantischen noch in rein katholischen Regionen konnte die Be- wegung Fuß fassen. Erhöhte Mobilität, Auflösung der traditionellen Lebensformen, Übergang zu neuen Arbeitsformen, Verstädterung, verstärkte Konfessionsdurch- mischung waren wichtige Voraussetzungen für die Bildung von freireligiösen Ge- meinden. Zentren der Bewegung fanden sich vor allem in Ost- und Mitteldeutsch- land, d.h. in Schlesien, Sachsen, Franken, dem Rhein-Main-Raum. Nimmt man die Altersstruktur in den Blick, so zeigt sich, daß die religiöse Reform eine junge Be- wegung der 20-45jährigen war. Der religiöse Dissens war also vornehmlich ein Phänomen der Erwachsenen und der Individuen, denkt man an den hohen Prozent- satz der ohne den Ehemann oder die Ehefrau zugetretenen Dissidenten.I 3 Dies stand im Gegensatz zu den etablierten Kirchen mit ihrem hohen Anteil an Kindern und den Familien als festen Gruppen, die automatisch die nachwachsenden Mit- glieder stellten. Auffallig an der Altersstruktur ist, daß im Durchschnitt die weib- lichen Mitglieder jünger als die männlichen waren. Während beispielsweise in der Dresdner deutschkatholischen Gemeinde bei den Frauen in der Altergruppe ab 45- 50 Jahren ein deutlicher Abfall ins Auge springt, zeichnet sich bei den Männern ein allmählicher Rückgang bei den 50-55jährigen ab.I 4 Dies kann vielleicht darauf hin- weisen, daß jüngere Frauen schon stärker in eine Gesellschaft des Umbruchs hin- eingeboren wurden und deshalb leichter mit der Tradition brachen als die älteren, vor 1800 geborenen Frauen. Frauen nahmen demnach den gesellschaftlichen Wan- del zögernder und langsamer auf als Männer. Ihrer sozialen Zusammensetzung nach waren die deutschkatholischen und freien Gemeinden eine ‚Volksbewegung', sie repräsentierten jedoch nicht ,das Volk' Die Dissidentinnen und Dissidenten bildeten vielmehr eine aktive, in ihrem religiösen, häufig auch in ihrem sozialen und politischen Verhalten von der Mehrheit ‚abweichende' Minderheit dieses ‚Volkes'. Zentren der religiösen Oppositionsbewegung waren auch Zentren der vormärz- lichen liberal-demokratischen Bewegung wie des späteren in der 1848/49er Revo-

13 Holzern, Kirchenreform, 334 14 25% der Männer, 14% der Frauen waren in der Dresdner Gemeinde über 45 Jahre all. Palet- schek, Frauen und Dissens, 94 f

52 Auszug der Emanzipierten aus der Kirche? lution entstehenden politischen Vereinswesens. 15 Dissidenten und Dissidentinnen bildeten einen wichtigen Bestandteil des demokratisch-oppositionellen Milieus der 40er Jahre. Zahlreiche Doppelmitgliedschaften sind gerade auf lokaler Ebene nachweisbar: viele männliche Dissidenten waren gleichzeitig in der deutschkatho- lischen Gemeinde, im Turnverein, im Arbeiterbildungsverein oder Volksverein en- gagiert. Häufig gründeten Dissidentinnen die demokratischen Frauenvereine zur Unterstützung der Revolutionsflüchtlinge. Auch an prominenter Stelle, etwa in der Paulskirche, in der preußischen Nationalversammlung oder in den überregionalen Demokratenkongressen, saßen Freireligiöse; so z.B. Robert Blum, Franz Wigard, Emil Roßmäßler und Nees von Esenbeck. Die freireligiösen Gemeinden betrachte- ten diese Unterstützung der Revolution als Ausfluß ihrer religiösen Vorstellungen. Auf diese und die Religionskritik der Bewegung soll nun näher eingegangen wer- den. Die religiösen Vorstellungen der Dissidenten bewegten sich im Übergangsbereich von Religion und Weltanschauung. 16 Dabei wurden innerhalb der Bewegung unter- schiedliche Richtungen vertreten. Sie reichten vom theologischen Rationalismus, dem die ‚rechte' bzw. gemäßigte Fraktion anhing, über pantheistische Vorstellun- gen bis zu einer „Religion der Humanität", die der radikale Flügel vertrat, der sich nicht mehr christlich nannte. Das religiöse Selbstverständnis des radikaleren Flügels der Dissidenten kann nur noch vor einem weitgefaßten Religionsbegriff verstanden werden. Gemeinsam war den unterschiedlichen religiösen Positionen, daß sie sich unter Rekurs auf Vernunft, Aufklärung und Rationalität von einem traditionellen Christentumsverständnis lösten. Sie betrachteten es als Aufgabe und Ausfluß ihrer Religiosität, für eine Gesellschaft zu kämpfen, in der die Postulate der Liebe, Frei- heit und Gerechtigkeit verwirklicht sowie die geistigen und materiellen Bedürfnisse der Menschen sichergestellt seien. Die Dissidenten waren überzeugt, daß sich eine gesellschaftliche Veränderung nur von innen heraus vollziehen könne. Das Schei- tern der Revolution interpretierten sie dahingehend, daß das deutsche Volk eben noch nicht reif für die republikanische Staatsform gewesen sei. Religiöse Aufklä- rung, eine Erziehungsreform, die schon im Kleinkindalter ansetzte, ferner eine Re- form von Ehe und Familie, d.h. Frauenemanzipation und eine verbesserte Frauen- bildung, galten als Garanten für eine durchgreifende Gesellschaftsveränderung. Das freireligiöse Gemeindeleben unterschied sich in wesentlichen Punkten vom tra- ditionellen kirchlichen Leben: Religion sollte sich im Leben darstellen.1 7 Und: die freireligiösen Gemeinden sollten Keimzellen einer utopischen demokratischen Ge- sellschaft sein. Der Gottesdienst wurde „Erbauung" oder „Sonntagsversammlung"

15 Auf die politische Bedeutung der religiösen Oppositionsbewegung machte erstmals aufmerk- sam Hans Rosenberg, „Theologischer Rationalismus und vormärzlicher Vulgarliberalismus". in: Ders., Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz, Göttingen 1972. Zur personel- len Verflechtung von religiöser und politischer Opposition vgl. Paletschek, Frauen und Dissens, 44-72. Zu den Deutschkatholiken in Revolution und Reaktion in der oberrheinischen Kirchenprovinz Holzern, Kirchenreform, 407-434. 16 zu den religiösen Vorstellungen vgl. Graf, Politisierung, 67-95; ausführlich, auch zur Litur- gie, Holzern, Kirchenreform, 381-406; Paletschek, Frauen und Dissens, 96-114. 17 Zum Gemeindeleben vgl. Paletschek, Frauen und Dissens, 170-193. Holzem, Kirchenreform, 337-362.

53 Sylvia Paletschek genannt und die radikalen Gemeinden verzichteten auf die Liturgie. Die Predigt verwandelte sich in Vorträge aus dem Bereich der Religionsgeschichte, der allge- meinen Geschichte und der Naturwissenschaft. Statt des religiösen Kultus stand ein Gemeindeleben im Vordergrund, das durch basisdemokratische Verfassung, gleiches Wahlrecht für Männer und Frauen, soziale Unterstützungsvereine, Bil- dungseinrichtungen, Frauenvereine und eine institutionalisierte Geselligkeit ge- kennzeichnet war. In dieser Organisation sollte es Vorbild sein für die zukünftige ideale Gesellschaft. Am Gemeindeleben nahmen die Frauen regen Anteil. Die Frauen besaßen, nach anfänglichen Streitigkeiten über das Frauenwahlrecht, ab 1850 in allen Gemeinden das aktive und passive Wahlrecht. Das war, verglichen mit der zeitgenössischen Praxis, aber auch angesichts der Tatsache, daß Frauen 1918 das politische und erst Anfang der 1920er Jahre das kirchliche Stimmrecht erhielten, eine außerordentliche Errungenschaft. Es war allerdings die absolute Ausnahme, daß eine Frau als Vertreterin in den Ältestenrat gewählt wurde. Dage- gen saßen Frauen häufiger in den mit der Koordination sozialer Unterstützungs- aufgaben betrauten Kommissionen. Einige Gemeinden verabschiedeten die Be- stimmung, daß die Schulkommission paritätisch besetzt sein müßte. Selbstver- ständlich beteiligten sich die Frauen auch rege an den geselligen Veranstaltungen, die in manchen Gemeinden einen breiten Raum einnahmen. Fragt man nach der Bedeutung der religiösen Oppositionsbewegung, so läßt sich festhalten, daß sie im kleinen ein Motor des Säkularisierungs- und Entchristianisie- rungsprozesses, und zwar in mentaler wie ‚materieller' Hinsicht war. Sie populari- sierte eine wissenschaftliche Weltsicht und die Vorstellung, daß die bestehenden Lebenszusammenhänge, damit auch die Geschlechterverhältnisse, nicht gottgege- ben, sondern von Menschen gemacht sind und also auch verändert werden können. In der ‚realen' Gesellschaftspolitik forcierte sie den Säkularisierungsprozeß und die Trennung von Kirche und Staat, beispielsweise durch die Einrichtung der Zivil- standsregister, der Zivilehe und der konfessionsfreien Schulen. Welche Gründe bewogen Männer und Frauen, aus ihren alten Kirchen auszutreten? Als Vorbemerkung: Der Kirchenaustritt zog Mitte des 19. Jahrhunderts erhebliche Schwierigkeiten nach sich, da Kirche und Religion das öffentliche wie private Le- ben in vielfältiger Weise durchdrangen und ordneten. 18 Eine Trennung von der traditionalen Religiosität und deren Institutionen provozierte nicht nur Konflikte mit staatlichen, kirchlichen und Verwaltungsorganen, da Religions- und Kirchen- kritik immer auch Gesellschafts- und Staatskritik bedeutete, sondern auch ,schiefe Blicke' in der Nachbarschaft, bei Verwandten oder am Arbeitsplatz. Nicht zuletzt erk- lart sich vielleicht auch der relativ geringe Anteil an bürgerlichen Gemeindeglie-

18 Arbeiten zur Bedeutung von Religion und Kirche für das Alltagsleben und die Lebensgestal- tung im 19. Jahrhundert fehlen. Das Desiderat einer Sozialgeschichte religiösen Verhaltens besteht immer noch. Wolfgang Schieder hat dies bereits mehrfach angesprochen, zuletzt in: Ders., „Sozialgeschichte der Religion im 19. Jahrhundert. Bemerkungen zur Forschungslage", in: Ders. (Hg), Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1993, 11-28. Grund- legend zur sozialgeschichtlichen Dimension von Religion und Kirche im 19. Jahrhundert Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert (1800-1866), Bürgenvelt und starker Staat, München 1983, 440-451; Ders., Religion im Umbruch 1870-1918, München 1988. Vgl. jetzt auch Schieder, Religion und Gesellschaft.

54 Auszug der Emanzipierten aus der Kirche? dem mit dem Risiko, das der Kirchenaustritt für den sozialen Status und die politi- schen Einflußmöglichkeiten bedeutete, denn beispielweise war das Wahlrecht an die Zugehörigkeit zu einer anerkannten Religionsgemeinschaft gebunden. In dieser Beziehung hatten die Angehörigen der unteren sozialen Schichten, zumal, wenn sie zu den mobilen, nicht lange in der Stadt ansässigen Bevölkerungsgruppen zählten, nicht so viel zu verlieren. 19 Die Hinneigung zum Dissens kann nun weder mit politischer Tarnung erklärt wer- den, noch können lediglich materielle und soziale Gründe, z.B. Deprivationserfah- rungen, den Beitritt plausibel machen. Vor allem zwei Motivkomplexe waren es, die nach den Äußerungen der Dissidentinnen und Dissidenten ihren Austritt aus der Kirche veranlaßten.» Einmal waren dies die häufig als sehr bedrängend erlebten religiösen Zweifel, ausgelöst durch eine rationale Weltsicht und die Suche nach ei- ner spirituellen Sinngebung des Lebens. Immer wieder führten die Dissidenten und Dissidentinnen an, daß sie an bestimmte Dogmen und Lehrsätze nicht glauben könnten, da diese nicht mit ihrem ,gesunden Menschenverstand' zu vereinbaren seien. Häufig genannt wurde hier das Dogma der Dreieinigkeit, die Sündenverge- bung und die Wundererzählungen der Bibel. Ehemalige Katholiken kritisierten dar- überhinaus Ohrenbeichte, Wallfahrten, Reliquienverehrung und Ablaß. Protestan- ten bemängelten den frömmelnden' Mystizismus und ebenso wie Katholiken die Unduldsamkeit mancher Pfarrer gegenüber Andersdenkenden. Mit diesem Bedürf- nis nach einer kritischen rationalen Religiosität verband sich bei vielen Freireligiö- sen eine jahrelange Kirchenferne und eine antikirchliche Haltung, die generell für den Dissens empfänglich machte. Die religiöse Reformbewegung kann demzufolge als eine „Bewegung der Distanzierten, eine Verbindung derjenigen gelten, die sich im protestantischen und säkularisierten Milieu der Städte von kirchlichen Bindun- gen weitgehend gelöst" hatten. 2 I Verbunden mit dieser bereits bestehenden Kir- chenferne und einer gewissen Entkonfessionalisierung war das Problem der Misch- ehe. Ein großer Prozentsatz der Freireligiösen lebte in einer Mischehe. Daß zu- nehmend Mischehen zustande kamen, hatte handfeste politische und sozioökono- mische Gründe: durch die Gebietsneuordnungen zu Anfang des Jahrhunderts, durch eine verstärkte Mobilität im Zuge der beginnenden Industrialisierung und der Aufhebung der ständischen Gesellschaftsordnung verstärkte sich die Konfessions- durchmischung und lösten sich traditionelle religiöse Bindungen. Die mit dem Ein- gehen einer Mischehe verbundenen Probleme sensibilisierten vor allem Frauen für Religions- und Kirchenkritik 22 Besonders in Preußen, wo 1825 die gesetzlichen Bestimmungen geändert wurden und Kinder aus Mischehen künftig allein in der Konfession des Vaters zu erziehen waren, kam es zu massiven Beeinflussungsver- suchen durch die Pfarrer, die von den Frauen eine katholische Kindererziehung forderten. Frauen berichteten häufig von einer harten Beichtstuhlpraxis, von der Ablehnung protestantischer Taufpaten oder von der Weigerung der Pfarrer, katho-

19 Vgl. dazu auch Holzern, Kirchenreform, 122. 20 Zum folgenden vgl. Paletschek, Frauen und Dissens, 115-145. 21 FlOiZein, Kirchenreform, 120. 22 Zu den Bestimmungen bezüglich der Eingchung einer Mischehe vgl. Palctschck, Frauen und Dissens, 131 ff.

55 Sylvia Paletschek lische Wöchnerinnen einzusegnen, die in Mischehe verheiratet waren. Dissidenten kritisierten nicht nur die Mischehenpraxis, sondern überhaupt die Einmischung von katholischen wie protestantischen Geistlichen in Familienangelegenheiten. Hohe Stolgebühren für Verheiratung, Taufe und Beerdigung waren vielen auch ein Dorn im Auge, ebenso wie die Verurteilung von ‚wilden' Ehen und Konkubinaten durch die Kirchen. Wegen der strengen Heiratsbeschränkungen vor allem in Süddeutsch- land konnten viele nicht heiraten, da sie kein Bürgerrecht besaßen und ihnen das nötige Geld fehlte, es zu erwerben. Viele Paare lebten deshalb ungewollt in nicht legalisierten langjährigen Beziehungen, meist mit Kindern, und hatten mit der Verurteilung durch die Geistlichen zu kämpfen. Abschließend soll noch ein weiterer Bedingungsfaktor religiösen Dissens' ange- fiihrt werden, der allzu leicht als selbstverständlich angenommen und übersehen wird Persönliche Beziehungen und Kontakte waren ein wichtiger Faktor in der Entstehung der Bewegung. Ehemalige Jugendfreunde, Nachbarn, Verwandte, Freundinnen, Arbeitskollegen tauschten sich über ihre religiösen Ansichten aus, bestärkten sich gegenseitig, unterstützten sich in den Schwierigkeiten, die die Ab-- kehr von den etablierten Kirchen nach sich zog. Häufig wurde dieser vernetzte Per- sonenkreis nicht nur durch die religiösen Vorstellungen, sondern auch durch eine gemeinsame politische Utopie zusammengehalten. 23 Die Analyse der Beweggründe und ein Blick auf die Sozialstruktur der Bewegung stellt gängige Annahmen auf den Kopf: Religionszweifel, das Bedürfnis nach Transzendenz und Sinnsuche war in der religiösen Oppositionsbewegung nicht nur Angelegenheit der Gebildeten, sondern auch der ,kleinen Leute', der Dienstmäd- chen und Handwerker. Ebenso wie Rationalität und Aufklärung schichtenspezifisch zunächst den bürgerlichen Eliten zugeschrieben wurde, wurde sie in geschlechts- spezifischer Dimension den Männern zugedacht. Rationale Religiosität war aber hier genauso ein Anliegen von Frauen. Auch wenn die Männer stärker dem religiö- sen Dissens zuneigten als die Frauen, war der Anteil der Dissidentinnen doch so hoch, daß religiös-rationalistischer Dissens nicht männlich definiert werden kann. Die für das 19. Jahrhundert aufgestellte These von der „weiblichen Frömmigkeit" im Gegensatz zum „männlichen Unglauben" trifft auf die Dissidentinnen nicht zu. 24 In ihrem Bedürfnis nach einer aufgeklärten, „rationalen" Religiosität und in ihren religiösen Zweifeln an bestimmten christlichen Dogmen unterschieden sich die Frauen innerhalb der religiösen Oppositionsbewegung nicht von den Männern.

23 vgl. ausführlich dazu Paletschek, Frauen und Dissens, 138-146. 24 Vor allem im Kontext der amerikanischen, aber auch der englischen und französischen Frau- enforschung, wurde die These von der Feminisierung der Religion entwickelt und weiterge- führt Als Einführung in die Diskussion vgl. Hugh McLcod, „Weibliche Frömmigkeit — männlicher Unglaube? Religion und Kirchen im bürgerlichen 19. Jahrhundert", in: Ute Fre- vert (Hg ), 13urgerinnen und Burger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, 134-156. Eine knappe Zusammenfassung bisheriger Ergebnisse auch in Sylvia Palc- tschck, „Frauen und Säkularisierung Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Beispiel der religiösen Oppositionsbewegung des Deutschkatholizismus und der freien Gemeinden", in: Schieder, Religion und Gesellschaft, 300-302. Zur relativen Geschlechterblindheit der deutschen Reli- gions- und Kirchengeschichte wie umgekehrt zur erst beginnenden Beachtung der Kategorie Religion in der deutschen Frauenforschung vgl. den Eingangsbeitrag von Irmtraud Götz v. Olenhusen in diesem Band.

56 Auszug der Emanzipierten aus der Kirche?

Über ihre Suche nach „wahrer Gotteserkenntnis" im Einklang mit der Vernunft und abseits der traditionellen Religiosität berichteten Frauen der unterschiedlichen so- zialen Schichten und Lebenswelten, ein ehemals katholisches Dienstmädchen aus Kärnten ebenso wie die protestantisch erzogene und gebildete Malwida von Mey- senbug, Tochter eines hohen Regierungsbeamten. Doch schien es insgesamt so, als ob die Frauen innerhalb der Bewegung stärker der gemäßigt-rationalistischen Richtung anhingen und sich in ihrer Mehrheit zögernder der pantheistischen oder humanistischen Richtung anschlossen, die sich weitgehend vom Christentum gelöst hatte.2 5 Dafür spricht auch, daß es den Frauen schwerer fiel, auf die herkömm- lichen Kultusformen zu verzichten, die beispielsweise in den radikalen Gemeinden ganz abgeschafft wurden. Sogar der Prediger der Hamburger freien Gemeinde, Karl Kleinpaul, der zum radikalen Flügel zählte, hielt fest: „Es wäre insbesondere den Frauen, deren viele sich die ganze Woche hindurch auf die Predigt freuen, nicht zu verargen, wenn sie sich durch die geistige Anregung, welche ihnen die Kirche darbietet, in derselben zurückhalten ließen, sobald ihnen nicht mit dem Austritt aus der Kirche etwas Neues gegeben würde, das ihrem nach Bildung stre- benden und oft nur in der Kirche einigermaßen geförderten Geiste Befriedigung verschafft."26 Wenn die Kirche der einzige Ort war, vor allem fiir Frauen der unte- ren sozialen Schichten, der geistige Anregung bot, erscheint es verständlich, wenn Frauen an der alten Form der Predigt hingen und deren erbaulicher und emotiona- lerer Charakter einen stärkeren Eindruck vermittelte, als ein eher wissenschaftlicher oder historischer Vortrag, der in den radikalen Gemeinden die Predigt ersetzte. Auch der Verzicht auf die traditionelle Form von Taufen und Trauungen fiel man- chen Dissidentinnen schwer. Der Prediger der freien Gemeinde Magdeburg, Lebe- recht Uhlich, thematisierte dieses Phänomen. 27 Da der weibliche Lebensraum stär- ker auf die Familie zentriert sei, hätten Heirat und Taufe größere Bedeutung für Frauen. Auch seien Frauen stärker dem Urteil der Nachbarschaft, vor allem der weiblichen, ausgeliefert, die zivilrechtlich getraute Frauen häufig verspotte. Die Schwierigkeiten, bestimmte rituelle Formen aufzugeben, erklären sich dadurch, daß Frauen wegen der stärkeren Familiengebundenheit ihres Lebens- und Arbeitsbe- reichs eine symbolische Darstellung familiärer Lebensstationen, wie sie in den kirchlichen rites de passage gegeben ist, höher gewichten als Männer, die sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts verstärkt über ihre Berufsrolle definieren. Es gab aber auch eine Minderheit der Dissidentinnen, etwa in der Hamburger oder Breslauer Gemeinde, die zum Teil recht offensiv den radikalen Standpunkt der Religion der Humanität verfocht, ganz entgegen den bisherigen Äußerungen über die religiös

25 Dies belegt auch der Konflikt in der Stuttgarter deutschkatholischen Gemeinde um deren ra- dikalen Positionen zuneigenden Prediger Würmle, dessen Anhänger vom „leidenschaftlichen Weiberregiment und pietistisch-jesuitischen Umtrieben" der gemäßigteren Fraktion innerhalb der Gemeinde sprachen. Diese Gruppierung, die vor allem Rückhalt bei den deutschkatholi- schen Frauen fand, wollte einen Prediger, der gemäßigt-rationalistische Vorstellungen vertrat Zum Konflikt Holzern, Kirchenreform, 356. 26 Karl Kleinpaul, Die freie Gemeinde nach ihrem Sinn und ihren Zwecken dargestellt, Schles- wig 1847, 10. 27 Leberecht Uhlich, „An die Mütter und Bräute in den freien Gemeinden". in: Der frankIsche Morgenbote. Zeitschrift zur Förderung der neuen Reformation, Jg.11, 1851, 155 f.

57 Sylvia Paletschek beharrendere Haltung der Frauen. Die These von der Feminisierung der Religion trifft auf die religiöse Oppositionsbewegung einerseits nicht zu. Andererseits re- produzierten die Dissidentinnen aber innerhalb der religiösen Reformbewegung strukturell das weibliche religiöse Verhalten, von dem sie zugleich selbst im Ver- gleich mit denjenigen ihrer Geschlechtsgenossinnen abwichen, die stärker an einer traditionalen Religiosität festhielten. Von einer besonderen Beziehung von Frauen und Religion gingen auch die Dissi- denten aus. Der freireligiöse Prediger Carl Scholl brachte das auch für die religiöse Reform zutreffende paradoxe Verhältnis von Frauen und Religion auf den Punkt: „Der Einfluß der Frauen auf die religiöse Entwicklung ist ein doppelter und zwar ein ganz entgegengesetzter; Frauen waren es, welche die religiöse Entwicklung wesentlich gefördert, Frauen waren es, welche sie ebenso oft gehemmt, aufgehalten und dadurch wesentlich geschädigt haben, und welche dasselbe zur heutigen Stunde noch thun." 28 Scholl konstatierte eine Verwandtschaft von weiblichem Charakter und „alter" Religion, die er auf die Sozialisationsbedingungen der Frauen zurückführte. Die weibliche Erziehung unterbinde Selbstdenken, Prüfen und For- schen, fixiere auf äußere Schönheit, ähnlich wie der Katholizismus, der eine kriti- sche Überprüfung seiner Lehren verhindere und großen Wert auf eine äußere Form der Religiosität lege. Auch die Dissidentin Malwida von Meysenbug betrachtete die Religion als eine bevorzugte Angelegenheit der Frauen. Sie erblickte im weiblichen Geschlechtscharakter den Grund dafür: „Und dieser Instinkt des Herzens, der an das Ideale in der Menschennatur glaubt und sich der ungeteilten Begeisterung dafür hingibt, ist das Vorrecht der Frauen. Darum finden auch gewöhnlich die neuen. Weltepochen des Geistes und deren Apostel und Märtyrer den ersten festen Glau- ben, die reinste Konsequenz der Liebe und Treue bei Frauen."2 9 Mehr ehemalige Protestantinnen als Katholikinnen traten der freireligiösen Bewegung bei. Erklä- rungsgründe hierfür wurden bereits angesprochen: die größere Nähe des Prote- stantismus zur Säkularisierung spielte eine Rolle, eventuell auch das höhere Bil- dungsniveau, die größere Mobilität protestantischer Frauen und die weniger rigide Kontrolle in der protestantischen Kirchengemeinde. Vielleicht waren es aber nicht nur der stärkere Zwang und die größere Bildungsferne des Katholizismus, die es den Katholikinnen schwerer machten, ihre Kirche zu verlassen, sondern auch die ‚positiven' Aspekte des traditionellen Katholizismus, die in besonderem Maße der Lebenswelt des Großteils der Katholikinnen noch entsprachen. Zu denken wäre an die kontingenzbewältigenden Momente der Religion, auch an die Verehrung der Maria und der weiblichen Heiligen, die Trost spendete. Daß Demut und Passivität im Katholizismus hochgeschätzt wurden, ließ Frauen ihre angesichts des be- schränkten weiblichen Aktionsraumes bestehende Ohnmacht besser ertragen. 30 Diese quietistische Funktion von Religion half Frauen einerseits in ihrer Lebens- bewältigung, andererseits stabilisierte sie dadurch den status quo und verhinderte eine Veränderung der bestehenden Verhältnisse. Auch den Pfarrern fiel eine ambi-

28 Carl Scholl, „Die Religion und die Frauen", in: Es werde Licht! 7. 1875, 1. 29 Malwida von Meysenbug, Reise nach Ostende (1849), Berlin 1905, 61. 30 Dieser Aspekt der positiven Funktion traditionaler Religiosität kommt in anderen Aufsätzen des Bandes ausführlicher zur Sprache.

58 Auszug der Emanzipierten aus der Kirche? valente Rolle zu: einerseits konnten sie mit ihrer harten Beichtstuhlpraxis Frauen aus der Kirche treiben, andererseits boten sie den Frauen auch Hilfestellung in der Auseinandersetzung mit Männern. Frauen konnten etwa ihren Vorwürfen gegen die Trunkenheit und Gewalttätigkeit der Männer mehr Gewicht verleihen, wenn sie sich auf religiöse Normen beriefen und Unterstützung durch den Pfarrer erhielten, der ihre Männer ins Gebet nahm. Generell fiel es Frauen, ob katholisch oder protestantisch, schwerer als Männern, mit der traditionellen Religiosität zu brechen und aus der Kirche auszutreten.31 Auch zog für sie Religions- und Kirchenkritik andere Konsequenzen nach sich als für Männer. Folgende Gründe erscheinen hierfür maßgeblich: Die traditionale Re- ligiosität entsprach noch stärker den Bedürfnissen der weiblichen als den der männlichen Lebenswelt, die sich durch Industrialisierung, erhöhte Mobilität, stär- kere Verwissenschaftlichung etc. schon stärker verändert und säkularisiert hatte. Die mangelnde Bildung, ein begrenzterer Lebenshorizont, eine auf Äußerlichkeiten fixierte Erziehung machten es den Frauen schwerer, bestehende Lehren kritisch zu hinterfragen, kirchliche Dogmen einer eigenen Prüfling zu unterziehen. Religion war eng an die Familie gebunden, denn die konfessionelle Zugehörigkeit wurde zu- nächst nicht in einem bewußten Akt erworben, sondern über die Familie vererbt. Ein Bruch mit der ererbten Religion bedeutete in den Augen der Zeitgenossen auch den Bruch mit der Familie. Vor diesem Hintergrund war für Frauen, deren primärer Lebensbereich die Familie darstellte, der Kirchenaustritt ein schwieriger Schritt. Symbolisch stellten sie sich damit gegen ihre bisherige Erziehung und gegen ihre Familie. Und sie brachen darüberhinaus mit der Konvention und dem weiblichen Geschlechtscharakter. Gehorsamkeit, Duldsamkeit, Kritiklosigkeit, angepaßtes Wohlverhalten und Frömmigkeit galten als integrale Bestandteile einer konventio- nellen weiblichen Identität. Deshalb stellte die Hinneigung zum Dissens auch die traditionelle weibliche Geschlechtsrolle in Frage. Kirchen- und Religionskritik konnte so Mitte des 19. Jahrhunderts Ausgangspunkt von Frauenemanzipation werden. Dies kann an den Biographien bürgerlicher Vorkämpferinnen der Frauen- emanzipation nachvollzogen werden. Malwida von Meysenbug sprach davon, daß Frauen, wollten sie „zur ungehemmten Entwicklung ihrer Fähigkeiten und zur freien Ausübung der Vernunft, wie sie dem Mann seit langem gestattet" gelangen, sich befreien müßten „von der dreifachen Tyrannei des Dogmas, der Convention und der Familie".32 Der Prediger der deutschkatholischen Gemeinde in Hamburg, Georg Weigelt formulierte es folgendermaßen: „Setzt sich die Frau über religiöse Scheu und Schüchternheit hinweg, so wird sie mit weit größerer Leichtigkeit auch

Palctschek, Frauen und Dissens, 146-152. Nur wenige jüdische Frauen traten über, was, wie bei den männlichen jüdischen Sympathisanten der freireligiösen Bewegung, damit zusam- menhing, daß sie, obwohl in den religiösen Vorstellungen übereinstimmend, aus Solidarität die jüdische Gemeinde nicht verließen. Bezeichnenderweise arbeiteten viele jüdische Frauen in den freireligiösen Frauenvereinen mit. Zu untersuchen wäre auch, ob nicht der relativ hohe Anteil jüdischer Frauen in der bürgerlichen Frauenbewegung des Kaiserreichs zurückgeht auf ein ganz bestimmtes Segment jüdischer Frauen, nämlich diejenigen, die sich religiös weitge- hend vom Judentum gelöst hatten, säkulare Religionsvorstellungen hatten oder sogar Athei- stinnen waren. 2 Malwida von Meysenbug, Memoiren einer Idealistin, Stuttgart 1876, 253.

59 Sylvia Paletschek die Scheu der Zucht und guten Sitte überwinden. Folgsam und hingebend ist nur das fromme Weib."33 Freisinnige Frauenvereine und freireligiöse Männer und Frauen bildeten das Hauptkontingent der frühen deutschen Frauenbewegung der 1840er Jahre, dennoch waren nicht notwendig alle in der Frauenbewegung Aktiven religionskritisch eingestellt. Zwischen 1845 und 1851 wurden ca. 35 freisinnige Frauenvereine gegründet. 34 Den Anstoß zur Frauenvereinsgründung gaben Aufrufe einzelner Frauen. Aber auch Johannes Ronge, in dieser Zeit prominenter Deutschkatholik, rief anläßlich seiner zahlreichen Reden immer wieder zur Gründung von Frauenvereinen auf. Diese Frauenvereinsgründungen können als eine kollektive Bewegung bezeichnet werden. An verschiedenen Orten bildeten sich zunächst unabhängig voneinander die ersten freireligiösen Frauenvereine. Sie traten aber bald durch Grußsendungen und schriftlichen Erfahrungsaustausch in Kontakt miteinander. Persönliche Bezie- hungen spielten bei der Entstehung und Fortentwicklung der Frauenvereine eine große Rolle. Viele der in den Frauenvereinen organisierten Frauen waren Freun- dinnen, verschwistert oder verschwägert. Diese freundschaftlichen und verwandt- schaftlichen Beziehungen vernetzten auch weit auseinanderliegende Frauenvereine, so etwa den Hamburger und den Schweinfurter Verein. Frauenvereine bildeten sich in den städtischen Hochburgen der religiösen Opposi- tionsbewegung, in Sachsen, im Rhein-Main-Raum, in Franken und in Großstädten wie Hamburg und Berlin. Die größten unter ihnen, in Berlin, Breslau, Hanau, Hirschberg und Magdeburg hatten um 300 Mitglieder; Vereine mittlerer Größen- ordnung lagen zwischen 50 und 150 Mitgliedern, so Hamburg, Nürnberg, Mainz, Nordhausen. Kleine Vereine mit 20-30 Frauen existierten etwa in München, Neiße oder Nimptsch. Die meisten dieser Frauenvereine entstanden in den Jahren 1846- 1848, wobei ihre Aktivität ihren Höhepunkt in den Jahren 1850/51 erreichte. Ab 1852 erlahmten sie mit der immer massiver einsetzenden staatlichen Reaktion. Ei- nige Frauenvereine, wie die fränkischen, wurden verboten, andere hatten wieder- holt mit Reglementierungen zu kämpfen, wie der Breslauer Frauenverein, oder ka- men, wie der Hamburger, ab 1853/54 wegen der allgemeinen resignativen Stim- mung im demokratisch-oppositionellen Lager zum Erliegen. Die Frauenvereine verfolgten eine doppelte Zielsetzung: Zum einen wollten sie die gesellschaftlichen Verhältnisse verbessern. Zum zweiten sollte diese praktische so- ziale Tätigkeit die Selbständigkeit der Frauen fördern und damit der Fraueneman- zipation zuarbeiten. Diese doppelte Funktion zeigte sich etwa in den Vereinsstatu- ten des 1847 gegründeten Nordhauser Frauenvereins, der „die Förderung des eige- nen geistigen Lebens mit der Freude des materiellen Wohlthuns [...] zu verbinden strebt. Es soll das Weib erkennen und empfinden lernen, daß ihr Beruf uber Küche und Keller, über Kaffee und Thee hinausgeht, daß er derselbe ist, welchen der Mann zu erfüllen hat, jedes in seiner Sphäre "35 Die von den Dissidenten und Dissi-

33 Georg Weigelt, Christliche und humane Menschenliebe. Zur Erinnerung an Emilie Wüsten- feld, Hamburg 1875, 22. 34 Vgl. dazu Paletschek, Frauen und Dissens, 194-243. 35 In: Deutsche Kirche. Freie protestantische Gemeinde Nordhausen. Mittheilungen von Eduard Baltzer, Prediger, Heft 2, Leipzig 1847, 54.

60 Auszug der Emanzipierten aus der Kirche? dentinnen und dem Gros der progressiven Zeitgenossen anvisierte gesellschaftliche Stellung der Frau läßt sich auf den Nenner „gleich, aber dennoch verschieden" bringen. Den Frauen sollten theoretisch die Menschenrechte ebenso zustehen wie den Männern. Allerdings wurde als selbstverständlich vorausgesetzt, daß ihr Gleichsein auf spezifisch weibliche Weise gefaßt werden sollte und ihre gesell- schaftlichen Aufgaben, Rechte und Pflichten der weiblichen Lebenssphäre entspre- chend zu gestalten seien. Dieser progressive Weiblichkeitsentwurf unterschied sich von konservativen Frauenbildern dadurch, daß er forderte, Frauen sollten in der Öffentlichkeit wirken und an der gesellschaftlichen und staatlichen Entwicklung aktiv teilhaben. Die bestehende Stellung der Frau, ihre schlechte Bildung und ver- nachlässigte geistige Förderung, ihre mangelnde ökonomische und persönliche Selbständigkeit, die sie in ungewollte Ehen treibe, prangerten die Dissidenten als gesellschaftliche Mißstände an, die in einer zukünftigen Gesellschaft zum Wohle der Frauen und der gesamten Menschheit beseitigt werden müßten. Auch innerhalb der religiösen Reformbewegung kam es zu Konflikten und Ausein- andersetzungen, denn es bestanden unterschiedliche Vorstellungen von der idealen Stellung der Frau und vom Frauenbild. Interessant ist, daß die Trennlinien in diesen Auseinandersetzungen nicht entlang der Linie Geschlecht verliefen, denn es kann nicht festgehalten werden, daß besonders die Männer ein eher traditionelles Frau- enbild vertreten hätten, sondern die verschiedenen Lager formierten sich entlang der unterschiedlichen religiösen Vorstellungen. Die gemäßigt rationalistische Richtung leitete aus dem Christentum das Recht der Frau auf Selbstbestimmung und Emanzipation ab. Die Bibelstellen, die eine Unterordnung der Frau unter den Mann postulierten und die Stellung der Frau auf Heim und Herd beschränkten, entkräfteten sie durch „frauenfreundliche" Textstellen, so etwa durch das Gleichnis von Martha und Maria oder den Hinweis, daß alle Menschen vor Gott gleich seien und es deshalb auch keine Ungleichheit von Mann und Frau geben dürfe.36 Somit legitimierte das Christentum, das Welterklärungssystem, das zuvor die beschränkte gesellschaftliche Stellung der Frau untermauerte, die Frauenemanzipation. Anhän- ger der pantheistischen Richtung betrachteten die Frauenfrage als Menschheits- frage und Frauenemanzipation als eine Aufgabe der religiösen Reformbewegung. Ihr wichtigster Wortführer in Sachen Frauenfrage war Johannes Ronge.3 7 Frauen- befreiung stand für ihn im Dienste der Welterlösung. Da die „erlösende Kraft" der Liebe besonders den Frauen innewohne, müßten die Frauen befreit werden, denn ihre segensreiche Kraft könne sich nur durch Aufklärung, Freiheit und Selbstbe- stimmung entfalten. Frauen müßten besser gebildet werden und mehr Rechte in Gesellschaft und Ehe erhalten Sie sollten sich in Frauenvereinen zusammenschlie-

36 Offener Brief einer Christin. An ihre Schwestern, die Frauen und Jungfrauen der Gegenwart, Berlin 1845; Johann Dominik Christian Brugger, „Martha und Maria", in: Ders., Das Chri- stenthum im Geiste des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1847. Ausführlich zum Frauenbild der einzelnen religiösen Richtungen bei den Dissidenten, Paletschek, Frauen und Dissens, 153- 170. 37 Johannes Ronge, „Die Stellung der Frauen", in: Für christkatholisches Leben, IV. 1847, 252. Vgl. auch ders., Maria, oder: Die Stellung der Frauen der alten und neuen Zeit. Eine Envide- rung auf das Rundschreiben des Papstes wegen dringender Verehrung der Maria, Hamburg 1849.

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ßen, um die Wahrung ihrer Selbständigkeit einzuüben. Forderte die pantheistische Richtung die Frauenemanzipation im Interesse einer besseren, humaneren Gesell- schaft, so begründete die radikale Richtung, die Anhänger und Anhängerinnen der Religion der Menschlichkeit, die Frauenemanzipation schlicht mit dem Recht des Individuums auf Selbstverwirklichung. Nicht mehr das Christentum oder das Werk der Welterlösung sondern allein die natürlichen Menschenrechte geboten die Frau- enemanzipation. Diese Richtung vertrat auch das radikalste Frauenbild. So forderte etwa Heinrich Thiel, daß Frauen alle Ämter im Staate ausüben könnten, was von der gemäßigteren rationalistischen Richtung — Worteihrerin war in dieser Diskus- sion eine Frau — heftig kritisiert wurde. 38 Die „Humanisten" waren entschieden nicht der Ansicht, daß im Christentum die Wurzel der Frauenemanzipation begrün- det liege. Zölibat und Hexenverfolgung etwa seien deutlicher Ausdruck der Miß- achtung der Frau durch das Christentum. Die Frauen müßten wegen der ihnen im Christentum zugewiesenen Stellung in Haus und Hof ein besonderes Interesse ha- ben, „sich der verneinenden Gewalt des Christentums zu entziehen." 39 Während die Gemäßigteren eine Erweiterung des bisherigen Tätigkeitsbereichs der Frau auf die Öffentlichkeit anstrebten und Frauen vor allem im Sozial- und Erzie- hungsbereich wirken lassen wollten, vertrat der radikale Flügel der freireligiösen Bewegung die Auffassung, daß Männer und Frauen rechtlich völlig gleichgestellt seien und Frauen wie Männer am staatlichen Leben partizipieren sollten. Obwohl innerhalb der Bewegung unterschiedliche Vorstellungen über die Stellung der Frau bestanden, hatten sie doch eine gemeinsame Wurzel. Sie basierten auf einer durch Rationalität und Aufklärung begründeten Abkehr von einem herkömmlichen Chri- stentumsverständnis, die allerdings bis zur Negation des Christentums reichen konnte. Frauen aller Konfessionen und Stände konnten den freireligiösen Frauenvereinen beitreten. Dies stand im Gegensatz zu den protestantischen und katholischen Frau- envereinen, die nur Mitglieder einer Konfession aufnahmen und an denen sich meist auch nur Frauen der gehobenen Stände beteiligen durften. Dagegen zählten Dissi- dentinnen, Katholikinnen, Protestantinnen und Jüdinnen zu den Mitgliedern der freisinnigen Frauenvereine; in der überwiegende Mehrzahl aber Dissidentinnen und Protestantinnen. Die Sozialstruktur der Frauenvereine erschließt sich lediglich über die in den Vorstand gewählten Frauen, wobei erhebliche Unterschiede von Stadt zu Stadt zu verzeichnen waren. So wirkten im Vorstand des Hamburger Frauenver- eins hauptsächlich wohlhabende freireligiöse, protestantische und jüdische Kauf- mannsehefrauen.4 0 Dagegen bestand der Nürnberger Frauenvereinsvorstand 1851 aus freireligiösen Frauen aus dem Bürger- und Kleinbürgertum, aus der Rot- gießersehefrau Anna Frühinsfeld, Mutter von sechs Kindern, der Schneider-

38 Wilhelm Heinrich Thiel, „Die deutsch-katholische Frau", in: Ders., Der Inhalt des Deutsch- Katholizismus, Dessau 1846, 66-75. Seine Kritikerin schrieb anonym „Werther Freund", in: Die katholische Kirchenreform. Monatsschrift, hgg. von Anton Mauritius Müller unter Mit- wirkung der Herren Czerski und Ronge, sowie anderer katholischer Geistlicher, Juni-Heft 1846, 187 ff. 39 Karl Kleinpaul, „Die Stellung der Natur im Christenthume dem Humanismus gegenüber", in: Reform, Juni-Heft 1848, 204. 40 Zum Hamburger Frauenverein vgl. Catherine Prelinger, Charity, 61-68.

62 Auszug der Emanzipierten aus der Kirche? meistersehefrau Philippine Schiller, der ledigen Kaufmannstochter Anna Demler und der Privatin Eleonore Krauss. 41 Sonst saßen überwiegend bürgerliche Frauen, Gattinnen von Gerichts- und Geheimräten, Apothekern, Lehrern und Kaufleuten im Vorstand. Dies waren aber nicht die Ehefrauen der städtischen Honoratioren oder des Bildungsbürgertums. Die in den Vereinen aktiven bürgerlichen Frauen verhiel- ten sich eher nicht wie die Mehrzahl der Frauen ihrer Sozialschicht. Sie zählten zu dem liberal-demokratisch und sozialdemokratisch orientierten Bürgertum, das eher in der Minderheit war. Auffällig häufig waren es die Ehefrauen, mitunter auch Schwestern und Töchter der örtlich bekannten Revolutionsmänner oder prominen- ter Freireligiöser, die in leitender Funktion im Frauenverein saßen. Die Sozialstruk- tur der Vereinsbasis läßt sich nur vage umreißen. Bürgerliche Frauen werden in der Mehrzahl gewesen sein, wobei aber mehrfach aus den Frauenvereinen berichtet wurde, daß gerade „schlichte" Frauen sich besonders verdient um den Verein ge- macht hätten. Die freisinnigen Frauenvereine waren eigenständige Organisationen, standen aber in loser Verbindung zur jeweiligen freireligiösen Gemeinde am Ort. Sie waren de- mokratisch organisiert, und die Frauen erwarben dadurch Erfahrung im Umgang mit parlamentarischen Verhandlungsformen. Über die laufenden Mitgliedsbeiträge, durch Geschenke und durch Verlosungen und Abendveranstaltungen finanzierten sich die Vereine. Ihre Tätigkeiten waren vielfältig. Sie sammelten Geld zur Unter- stützung der örtlichen deutschkatholischen und freien Gemeinde, spendeten bei- spielsweise aber auch während der Revolution fiir die Verwundeten im Kampf um Schleswig-Holstein oder unterstützten Robert Blums Familie. Innerhalb des Ver- einslebens wurden Vorträge gehalten, die religionshistorische, historische, aktuell politische und frauenspezifische Themen behandelten. Ein zentraler Arbeitsbereich der freisinnigen Frauenvereine war die Sozialfiirsorge. Deren Ziel sollte es sein, die Bedürftigen zur Hilfe zur Selbsthilfe anzuleiten und durch präventive Maßnahmen langfristig die gesellschaftlichen Mißstände zu beseitigen. Einige Frauenvereine ar- beiteten eng mit der städtischen Armenverwaltung zusammen. Langfristig sollten die sozialen Verhältnisse besonders für die Frauen durch Bildungsmöglichkeiten verbessert werden. Die Frauenvereine führten Dienstmädchen- und Köchinnen- ausbildungen ein und unterstützten die freireligiösen Gemeinden bei der Errichtung konfessionsfreier koedukativer Schulen. Ferner errichteten sie Industrieschulen und Fröbelsche Kindergärten. Die freisinnigen Frauenvereine und die gesamte freireli- giöse Bewegung machten sich um die Förderung der Fröbelschen Pädagogik ver- dient. 42 Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erregte die Gründung der Hamburger Frau- enhochschule, die der Hamburger Frauenverein initierte und die von 1850-1852

41 Die Namen der Vorstandsfrauen tauchen in einer Eingabe an den Stadtmagistrat auf. StA Nürnberg, BA Nürnberg, Tit.IV, Lit.E.1. 42 Die Fröbelschen Kindergärten wurden in Preußen 1850 verboten, u.a. mit der Begründung, daß ihre Konzeption staatsgefährlich sei. Sie baue auf dem Christentum abgewandten Prinzi- pien auf und erziehe die Kinder nicht zu christlichen Untertanen, sondern zu atheistischen Unruhestiftern. Allgemein zu den Kindergärten vgl. Ann Taylor Allen, „Let Us Live with Our Children: Kindergarden Movements in Germany and the United States, 1840-1914", in: Zeit- schrift für Pädagogik, 1988, 433-450.

63 Sylvia Paletschek bestand. 43 Sie stellte den Versuch dar, Frauen und Mädchen, die dem Schulalter entwachsen waren, eine fundierte progressive Allgemeinbildung mit einem. Schwerpunkt in Erziehungslehre zu vermitteln. Einige der freisinnigen Frauenver- eine beteiligten sich an der Hamburger Frauenhochschule durch Aktienzeichnung. Die freisinnigen Frauenvereine waren nicht nur durch Briefkontakte, Kindergärten und Hochschulgründung verknüpft. Ab 1849 leitete Johannes Ronge ihren überre- gionalen organisatorischen Zusammenschluß als „Vereine deutscher Frauen" in die Wege.44 Die in drei Kreisverbänden zusammengefaßten Frauenvereine wählten ei- nen Kreisvorstand und einen Zentralvorstand, der an der Spitze aller Frauenvereine stand. Als allgemeiner Zweck der Frauenvereine wurde festgehalten: „durch hu- mane Bildung und Erziehung das weibliche Geschlecht für seine höhere Bestim- mung und zum Bewußtsein seiner Würde zu reifen, und mit freier Selbstbe- stimmung das geistige, wie äußere Wohl der Menschheit zu fördern." 45 Im Konkreten sollten diese Ziele durch Kindergärten und Mädchenhochschulen, durch eine Art Gewerbeschule für Frauen sowie durch Sozialarbeit erreicht werden. Auf dem im Mai 1850 stattfindenden Konzil der freien und deutschkatholischen Gemeinden in Leipzig und Köthen trafen sich führende Vertreterinnen der Frauenvereine mit Abgeordneten der freireligiösen Bewegung und diskutierten in einer Nachmittagssektion über die Zielrichtung der Frauenvereine und den überregionalen Zusammenschluß. 46 Ein Streitpunkt der Versammlung war, ob Frauenvereine nicht den „Dualismus zwischen der Männer- und Frauenwelt, diese Unnatur" befestigten und es nicht besser wäre, wenn „Männer und Frauen nicht in krankhafter Getrenntheit, sondern in gesunder Einheit" versammelt seien -4 7 Es setzte sich aber die Fraktion von Frauen und Männern durch, die der Meinung war, daß die Frauen von einer eigenständigen Wahrnehmung ihrer Rechte noch weit entfernt seien und deshalb zunächst noch eigenständiger Organisationen bedürften, quasi in den Frauenvereinen „erzogen" werden müßten, um sich ihrer Freiheit und Selbständigkeit bewußt zu werden. 48 Interessengegensätze unter den

43 Zur Hamburger Frauenhochschule Catherine Prelinger, Religious Dissent, 42-55. Elke Kleinau, „Die Hochschule für das weibliche Geschlecht und ihre Auswirkungen auf die Ent- wicklung des höheren Mädchenschulwesens in Hamburg", in: Zeitschrift für l'adagogik, 1990, 121-138 Paleischek, Frauen und Dissens, 218-223. _Sendschreiben von Johannes Ronge an alle deutschen Frauen und Frauen-Vereine". in . Frauen-Zeitung, hg. von Louise Otto, 1. 1849, Nr. 49, 1 f. Johannes Ronge, Rundschreiben an samtliche Vereine deutscher Frauen, Breslau 1849; auch abgedruckt in: Frauen-Zeitung 2. 1850, Nr 3, 1 f. 45 Johannes Ronge, Grundbestimmungen und Verfassung der Vereine deutscher Frauen, Hain- burg 1850. Ein Teil der Statuten wurde auch in der Frauen-Zeitung, 2. 1850, Nr. 7, 5 f. ver- OffelliliCht 46 ,,Bericht uber die Berathungen der zur Zeit des Concils in Leipzig und Käthen versammelt gewesenen Mitglieder der Frauen-Vereine", in: Zeitung für freie Gemeinden, 1. 1850, 98 f., 101 ff. 47 Eduard Baltzer, „An die Frauenvereine der freien und deutschkatholischen Gemeinde", in: Die neue Reform. Zur Förderung der Religion der Menschlichkeit, 2. 1850, 432 f. 48 Vertreterinnen dieser Fraktion waren beispielsweise die Breslauerin Amalie Held und die Hamburgerin Emilie Wüstenfeld. Amalie Held, „An Herrn Baltzer, zur Erwiderung seiner Kritik der Frauenvereine", in: Die neue Reform, 2. 1850, 572-575. Auch in der Frauen-Zei- tung erschien 1850 in Nr. 27 ein Artikel von A. [wohl Amalie Held, S.P.], „Sind Frauen-Ver-

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Frauenvereinen wie zwischen ihnen und Teilen der religiösen Oppositionsbewegung traten auf. Dennoch war der utopische Glaube an eine in naher Zukunft stattfindende gleichberechtigte und harmonische Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen unter den frauenbewegten Frauen der 40er Jahre weit verbreitet. Frauenemanzipation und Frauenfrage war auch ein zentrales Anliegen von einigen Männern der freireligiösen Bewegung, die die frühe Frauenbewegung förderten. Die Auffassung, daß die freisinnigen Frauenvereine als Hauptpfeiler der frühen deutschen Frauenbewegung zu betrachten sind, soll nun noch einmal im Zusammenhang begründet werden. Bisher stützte sich die These von einer ersten deutschen Frauenbewegung im Umkreis der Revolution von 1848/49 auf folgende Belege: Die publizistischen Arbeiten Louise Ottos, der späteren Begründerin des Allgemeinen deutschen Frauenvereins von 1865 und die von ihr 1849-1852 herausgegebene „Frauenzeitung" wurden als frühes feministisches Engagement gewertet. Auch Romane und Zeitschriftenartikel der Vormärzschriftstellerinnen hatten die gesellschaftliche Stellung der Frau zum Thema und wurden in den Kontext Frauenemanzipation gerückt. Ebensolches geschah mit der Teilnahme von Frauen an der Revolution von 1848/49. Besonderes Augenmerk wurde dabei gerichtet auf die ab 1848 gegründeten „demokratischen" Frauenvereine, die den Flüchtlingen der Revolution halfen, wobei lediglich Untersuchungen zu dem von Kathinka Zitz gegründeten Frauenverein „Humania" in Mainz und zu württembergischen Frauenvereinen vorliegen.4 9 Das Bestehen der Hamburger Frauenhochschule von 1850-1852 galt als weiteres Indiz fi.ir eine deutsche Frauenbewegung um 1848/49. Nimmt man die im freireligiösen Umfeld entstandenen Frauenvereine hinzu, so entsteht ein sehr viel dichteres Bild einer frühen deutschen Frauenbewegung. Im Unterschied zu den demokratischen, den konfessionellen und wohltätigen Frauenvereinen verfolgten die freisinnigen Frauenvereine eine feministische Ausrichtung, indem sie sich die Förderung der Selbständigkeit der Frau zum Ziel setzten. Auch der nach demokratischen Prinzipien vollzogene überregionale Zusammenschluß rechtfertigt es, von einer frühen organisierten Frauenbewegung zu sprechen. Diese Frühphase einer deutschen Frauenbewegung kam wegen der reaktionären Zeitverhältnisse und der resignativen Stimmung nach der gescheiterten Revolution nicht über das Geburtsstadium hinaus.

eine zweckmäßig oder nicht', in. Ute Gerhard u.a., Dem Reich der Freiheit werb' ich Borge- rinnen. Die Frauen-Zeitung von Louise Otto. a.M. 1979, 280 f ElMiliej

WIlistenfein „Antwort an Herrn E Baltzer", in - Die neue Reform, 3. 1851, 3-9 49 vgl. hierzu Stauley Zucker„.German Women and the Revolution of 1848: Kathinka Zitz- Halein and the Humania Association", in: Central European History 13. 1980, 237-254; Ders.. Kathinka Zitz-Halein and Fetnale Civic Activism in Ivlid-Nineteenth Century Germany, Carbondale 1991; zu Württemberg Lipp, Schimpende Weiber; weitere Literatur zur frühen Frauenbewegung und Frauen in der Revolution zusammengefaßt in Sylvia Paletschek, „Frauen im Umbruch. Untersuchungen zu Frauen im Umfeld der deutschen Revolution von 1848/49", in: Beate Fieseler, Birgit Schulze (Hgg ), Frauengeschichte gesucht — gefunden? Auskünfte zum Stand der Historischen Frauenforschung, Böhlau 1991, 47-64.

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Aber der Zusammenhang von religiöser Reform bzw. Religionskritik und Frauenemanzipation zeigt sich nicht nur in den freisinnigen Frauenvereinen. Vormärzschriftstellerinnen, Publizistinnen und Frauen, die sich in den demokratischen Frauenvereinen engagierten, hatten vielfältige persönliche Kontakte zur religiösen Oppositionsbewegung oder waren durch sie beeinflußt. 50 Dies läßt sich zunächst an der Person Louise Ottos festmachen, die engen Kontakt zu prominenten Freireligiösen wie Johannes Ronge oder Robert Blum hatte und die 1847 in ihrem Roman „Römisch oder Deutsch" ihre Parteinahme für den Deutschkatholizismus literarisch verarbeitete. Auch war sie auf dem Doppelkonzil von Leipzig und Köthen als Beobachterin anwesend. Eine Verbindung zwischen der „Frauen-Zeitung" und der religiösen Reform stellte sich nicht nur durch ihre Herausgeberin Louise Otto her, sondern die freisinnigen Frauenvereine in Hamburg, Hanau, Breslau und Dresden berichteten darin regelmäßig über ihre Tätigkeiten. Einige der Mitarbeiterinnen an der Frauenzeitung waren, wie etwa Emilie Lecerf, Deutschkatholikinnen. Es bestanden auch enge Verbindungen zwischen den „demokratischen Frauenvereinen" und der religiösen Reformbewegung. Die Gründerin des Mainzer Frauenvereins, Kathinka Zitz, sympathisierte mit dem Deutschkatholizismus und war mit führenden Freireligiösen des südwestdeutschen Raumes eng befreundet. Ferner gehen aus den polizeilichen Überwachungsberichten die engen Kontakte bzw. die teilweise Identität zwischen demokratischen und freisinnigen Frauenvereinen hervor. Dies gilt besonders für Sachsen, wo ein enges Verbindungsnetz zwischen Demokratie, religiöser Reform und Frauenemanzipation bestand. Auch bei einigen Schriftstellerinnen, die sich in den 40er Jahren fiir Frauenemanzipation einsetzten, lassen sich Linien zur religiösen Oppositionsbewegung ziehen. So bei Louise Aston und Louise Dittmar. Die Verbindung von religiöser Reform und Frauenemanzipation Mitte des 19. Jahrhunderts erklärt sich aus dem zeittypischen Zusammenspiel von Religion und Gesellschaft. Dieses Zusammenwirken stellte sich bereits im Kaiserreich anders dar. Einerseits griffen bestimmte gesellschaftliche Kreise die von den freisinnigen Frauenvereinen der 40er Jahre verfolgten Inhalte partiell auf — die Etablierung der Fröbelbewegung weist in diese Richtung. Andererseits diffundierte die religiöse Oppositionsbewegung über die Freireligiösen und Freidenker hinaus: in Richtung Sozialdemokratie, Lebensreformbewegung und in kulturelle Vereinigungen, die einem ethischen Humanismus anhingen. Die Frauenbewegung der 60er und 70er Jahre des 19. Jahrhunderts war nicht mehr annähernd so stark dem religiös-oppo- sitionellen Milieu verhaftet wie in den 1840er Jahren. Dennoch hat Ulrike Busse- mer gezeigt, daß freireligiöse Frauen eine wichtige Rolle bei der Gründung und während der ersten Jahren im Allgemeinen Deutschen Frauenverein spielten. 5 I Auch zählte die freireligiöse Bewegung in der Reichsgründungszeit zu den wenigen Gesellschaftsgruppen, die die Frauenbewegung unterstützten.

50 Für die einzelnen Quellennachweise zum folgenden sei verwiesen auf die Angaben in Palet- schek, Frauen und Dissens, 239-243. 51 Ulrike Bussemer, Frauenemanzipation und Bildungsbürgertum Sozialgeschichte der Frauen- bewegung in der Reichsgründungszeit, Weinheim 1985, 79-93.

66 Auszug der Emanzipierten aus der Kirche?

Kontinuitätslinien bestanden nicht nur durch die freireligiösen Frauen, die im 1865 gegründeten Allgemeinen Deutschen Frauenverein aktiv waren. Die bewußtseinsgeschichtliche Tradition von Religionskritik und Frauenemanzipation konnten auch Frauen transportieren, die sich nicht in der freireligiösen Bewegung organisierten, wie denn diese Organisation nicht die einzige Verwalterin einer religionskritischen Weltanschauung blieb. Einige der der „radikalen" Richtung innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung zuzurechnenden Frauen wie auch einige der in der internationalen Friedensbewegung aktiven Frauen können in die Kontinuitätslinie von Religionskritik und Frauenemanzipation gestellt werden. Zu denken ist hier an Hedwig Dohm, Helene Stöcker oder auch an die Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin Lily Braun. Der in Deutschland ftir die Mitte des 19. Jahrhunderts konstatierte und von einer kollektiven Bewegung getragene Zusammenhang von Religionskritik, demokra- tisch-utopischem Gesellschaftsentwurf und Frauenemanzipation beschreibt keinen deutschen Sonderfall. Ein Blick über die Grenzen nach England, Frankreich und in die USA macht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Bewegungen sichtbar, die in diesem Punkt mit der religiösen Oppositionsbewegung vergleichbar sind, wenn dies auch zunächst weit hergeholt anmutet. Zu denken wäre hier an die Bewegung der Oweniten in England, an die französichen Frühsozialisten und die Transzendentalisten um Emerson, Walden und Margret Fuller in den USA. 52 Es soll noch einmal zusammengefaßt werden, warum die Frühphase der deutschen Frauenbewegung der 1840er Jahre in enger Anlehnung an die religiöse Oppositionsbewegung und religiöse Emanzipation entstand. Frauen konnten innerhalb der religiösen Reformbewegung, die als neue soziale Bewegung noch keine verfestigten Herrschaftsstrukturen aufwies, Erfahrungen sammeln, die sie auf eine eigenständige Wahrnehmung ihrer Interessen vorbereiteten. In den aus den religiösen Vorstellungen abgeleiteten utopischen Gesellschaftsentwürfen der Freireligiösen standen nicht ökonomische Entwicklung oder politische Verfassungsfragen im Mittelpunkt, sondern die individuelle Vervollkommnung und die ‚weibliche' Sphäre der Familie, Ehe und Erziehung. Damit war das Geschlech- terverhältnis und die Frauenemanzipation notwendig und integral ein Thema und mußte nicht umständlich ‚hinzuaddiert' werden. Die Frauenfrage war eine Mensch- heitsfrage, denn von einer verbesserten Stellung der Frau hing auch die Gesell- schaftsveränderung ab. Die frühe Frauenbewegung entstand in doppelter, in mentaler wie materieller Hinsicht, auf religiösem Boden. Einmal bildete der Bereich von Kirche und Religion im Gegensatz zur explizit politischen Öffentlichkeit einen Raum, zu dem Frauen selbstverständlich Zutritt hatten. Von diesem Bereich einer ,erlaubten Öffentlichkeit', einer ihnen vertrauten Basis, konnten Frauen ihren Zugriff auf

52 Vgl. Barbara Taylor, Eve and the New Jerusalem. Socialism and Fetninisnz in the Nineteenth Century, London 1983. Elke Kleinau, Die freie Frau, Düsseldorf 1987. Claire Goldberg Mo- ses, French Feminism in die Nineteenth Century, New York 1984. Carol A. Kolmcrton, Wa- rnen in Utopia: The Ideology of Gender in the American Owenite Communities, Bloomington 1990. Mary D. Pellauer, Toward a Tradition of Feminist Theology: 7'he Religious Thought of Elisabeth Cady Stanton, Susan B. Antony and Anna Howard Shaw, Brooklyn 1991.

67 Sylvia Paleischek andere Gesellschaftsbereiche leichter erweitern. Zum anderen leitete eine Kritik an einer traditionalen Religiosität, am geltenden Welterklärungsmuster — und in der Mitte des 19. Jahrhunderts war dies noch relativ unangefochten das Christentum — bewußtseins- und gesellschaftsverändernde Prozesse in die Wege. Für die meisten in der frühen Frauenbewegung aktiven Frauen war die Religionskritik Ausgangspunkt und Anstoß, auch an der Richtigkeit und Endgültigkeit der traditionellen gesellschaftlichen Stellung der Frau zu zweifeln. Religiöse Emanzipation und der Auszug aus der Kirche wäre zu diesem Zeitpunkt somit notwendige Voraussetzung von Frauenemanzipation gewesen. Die Frühphase der deutschen Frauenbewegung setzte nicht erst mit der Revolution von 1848/49 ein, sondern bereits im Zusammenhang mit der religiösen Oppositionsbewegung im Vormärz. Der Beginn der Frauenbewegung Mitte des 19. Jahrhunderts war Produkt und Indikator des Säkularisierungsprozesses und der grundlegenden politischen, sozialen und ökonomischen Veränderung der Gesellschaft. An den Entstehungsbedingungen dieser frühen Frauenbewegung wird deutlich, was Religion und die Auseinandersetzung mit ihr für gesellschaftliche Bewegungen bedeutete. Impulsgeber für die Entstehung der Frauenbewegung in Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts waren religionskritische Frauen. Sie stellten eine entschiedene Minderheit dar, denn ihre Religiösität und Weltanschauung entsprach nicht (oder noch nicht) den Bedürfnissen und den Lebensumständen einer größeren Mehrheit der Frauen. Damit die Frauenbewegung aber die Massenbewegung werden konnte, die sie gegen Ende des Kaiserreichs darstellte, mußte der Gedanke der Frauenemanzipation breitere Kreise ziehen. Er erreichte, wenn auch in gemäßigter und spezifischer Form, schließlich auch die Frauen in den „alten" Kirchen. Die konfessionelle Frauenbewegung — die protestantische, katholische und jüdische — stellte einen ganz beträchtlichen Teil der Mitglieder im Bund deutscher Frauenvereine. 52 Die These von der Feminisierung der Religion traf auf den ersten Blick auf die Dissidentinnen nicht zu, denn sie stellten nicht die Mehrheit innerhalb der religiösen Oppositionsbewegung, um einen Aspekt der These, das zahlenmäßige weibliche Übergewicht in religiösen Bewegungen, aufzugreifen. Auf den zweiten Blick trifft die These jedoch zu. Gerade durch ihr religiöses Engagement und die Auseinandersetzung mit Religion konnten Dissidentinnen auch das bestehende Geschlechterverhältnis kritisieren. Letztendlich benötigte und fand ihre gesellschaftliche Emanzipation eine religiöse Begründung und Legitimation und dies verweist auf die besondere Bedeutung von Religion und Kirche im Leben von Frauen im 19. Jahrhundert.

52 Vgl. dazu den Beitrag von Ursula Baumann in diesem Band.

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