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Sendung vom 23.05.2007, 20.15 Uhr

Prof. Dr. Rupert Scholz Bundesminister a.D. im Gespräch mit Christoph Lindenmeyer

Lindenmeyer: Meine Damen und Herren, herzlich willkommen zum alpha-Forum. Sie lernen heute einen Politiker kennen, einen früheren Senator – er war sogar Doppelsenator in –, einen früheren Bundesverteidigungsminister, einen Verfassungsrechtler, einen Menschen, der Universitätsprofessor war, der dennoch ein Sportsfreund ist, denn er liebt den Fußball, das Skifahren und er liebt Eishockey, was ich ganz erstaunlich finde. Herzlich willkommen, Herr Professor Dr. Rupert Scholz. Herr Scholz, ein Leben ohne Politik? Wenn man wie Sie Verteidigungsminister war, kann man dann heute ein Leben ohne Politik führen oder lassen Sie doch nicht ganz los davon? Scholz: Politik fasziniert, daran ist gar kein Zweifel. Aber ich habe mich ja nie als Berufspolitiker verstanden. Lindenmeyer: Obwohl Sie einer waren. Scholz: Ich bin nicht im eigentlichen Sinne Berufspolitiker gewesen. Mein Beruf war immer meine Professur. Ich habe auch meine Professur hier in München neben meiner politischen Tätigkeit immer strikt aufrechterhalten. Ich bin jede Woche in München gewesen, auch als Senator, als Verteidigungsminister zugegebenermaßen nicht. Aber auch als Senator und später in meinen zwölf Jahren als Abgeordneter im Deutschen habe ich immer meine vollen Vorlesungsprogramme gemacht. Und ich habe auch immer versucht, in der Wissenschaft am Ball zu bleiben. Deshalb habe ich dann auch, als ich 2002 aus dem Bundestag ausgeschieden bin, mit der Politik Schluss gemacht: Das war richtig, das war auch zeitgerecht. Mir fehlt also gar nichts. Lindenmeyer: Gespräche mit Politikern bedeuten meist, eine große Auflistung all der Verdienste, die Politiker im Hinblick auf ihre eigene Person gerne aufgelistet haben möchten. Das machen wir heute jedoch nicht. Johano Strasser, der Präsident des deutschen P.E.N.-Zentrums, saß vor einiger Zeit auf Ihrem Platz und erzählte, von seinem Vater habe er gelernt, mit Würde zu scheitern. Sie haben zwei markante Prozesse des Scheiterns erlebt. Einmal waren Sie sehr, sehr kurz im Kabinett Kohl, und zwar in den Jahren 1988 und 1989 als Bundesverteidigungsminister. Sie haben im Anschluss daran in Berlin auch Ihren Wahlkreis verloren. Das schlägt, wie ich mir vorstelle, doch ein wie ein Donnerwetter. Woher kann da dann die Würde kommen? Scholz: Zunächst einmal muss man das natürlich schon ein wenig differenzierter sehen und verfolgen. Ich war in der Tat nur sehr kurze Zeit Bundesverteidigungsminister. Das war damals aber nicht im Sinne eines Scheiterns zu verstehen, sondern das hatte einen anderen Grund, wie mir der damalige Bundeskanzler sehr klar gesagt hat. Der wollte mich nämlich nicht entlassen, aber … Lindenmeyer: Es ging damals um den Eintritt der FDP in das Kabinett. Scholz: Nein. Die FDP war seit dem Amtsantritt von Helmut Kohl mit im Kabinett. Nein, es ging um den Eintritt von nach dem Tod von Franz Josef Strauß ins Kabinett: Das war der entscheidende Punkt. Nach dem Tod von Strauß war es für Helmut Kohl selbstverständlich wichtig, den neuen CSU-Vorsitzenden mit im Kabinett zu haben. Das war eine richtige Entscheidung. Theo Waigel hat dann fürs Finanzministerium votiert. Aber auf dem Stuhl des Finanzministers saß , ein alter, verdienter Recke, den man sozusagen nicht einfach in die Wüste schicken konnte. Es hat dann eben den Jüngsten in der Runde getroffen, und der war ich damals: Stoltenberg ist an meiner Stelle Verteidigungsminister geworden. Das ist aber vollkommen in Ordnung, denn das ist nun einmal so in der Politik. In der Politik hat man kein Recht auf ein Amt. Lindenmeyer: Hat Sie das nach dieser kurzen Zeit als Minister nicht doch etwas getroffen, plötzlich wieder vom Kabinettstisch weggeschickt zu werden, wenn ich das so salopp formulieren darf? Scholz: Ich würde mal mit jein antworten. Natürlich hatte ich in meine Arbeit im Verteidigungsministerium auch innerlich sehr viel investiert. Ich habe wirklich sehr intensiv versucht mich zu engagieren. Ich habe damals, wie ich doch glaube sagen zu dürfen, vor allem bei den Soldaten ein gutes Echo gefunden. Wenn damit dann von heute auf morgen Schluss ist, dann trifft einen das schon. Trotzdem habe ich schon damals einen Satz gesagt, den zu wiederholen ich mir auch jetzt erlauben darf: Mein Selbstverständnis war immer – und ich bin froh, dass ich dieses Selbstverständnis auch wirklich für mich selbst vertreten konnte –, dass es in einer Demokratie kein Recht auf ein Amt gibt. Man hat nicht ein Recht darauf, Minister zu sein, sondern man hat zu akzeptieren, wie politische Entwicklungen ablaufen. Und dann hat man auch mit Würde zu gehen. Lindenmeyer: Bereits nach so kurzer Zeit. Wie lange haben Sie eigentlich gebraucht, bis Sie die schwierige Konstruktion "Bundeswehr" als eine für Sie transparente Konstruktion verstanden haben? Wie lange haben Sie also z. B. gebraucht, um überhaupt Mannschaftsdienstgrade und Offiziersränge auswendig zu lernen? Ich muss dazusagen, dass Sie selbst nicht gedient haben beim Militär. War das möglicherweise für den einen oder anderen ein Problem? Scholz: Ich glaube, der jetzige Bundesverteidigungsminister Jung ist der erste Verteidigungsminister, der in der Bundeswehr gedient hat, wenn ich das richtig verfolgt habe. Lindenmeyer: Sie standen also in einer guten apostolischen Sukzession? Scholz: In einem gewissen Sinne ja. Man muss diese Geschichte einfach folgendermaßen sehen: Als ich im April 1988 antrat, war ich bereits drin in dieser Materie. Das wusste allerdings niemand. Mich hatte nämlich Helmut Kohl bereits im Oktober 1987 in einem vertraulichen Gespräch gefragt, ob ich bereit wäre, im Frühjahr das Verteidigungsministerium zu übernehmen. Er sagte, er traue mir zu, neue und nötige Konzeptionen aufzunehmen bzw. zu entwickeln. Und ich habe ihm gesagt, ich sei bereit, das zu machen. Er hat mir dann Zeit gelassen bis zum Frühjahr. Also habe ich von Oktober bis April im stillen Kämmerlein – davon wusste wirklich niemand – Sicherheitspolitik studiert. Lindenmeyer: Noch einmal zurück zu den Offiziersgraden. Scholz: Die habe ich dabei natürlich gleich mitstudiert. Lindenmeyer: Wie haben Sie das gemacht? Scholz: Das Material gibt es doch, das ist einfach zu besorgen. Der einzige Bereich, bei dem ich auch später noch gelegentlich Schwierigkeiten hatte, war bei der Marine. Die Streifen der Kapitäne, der Admirale, die teilweise sogar unterschiedliche Stärke haben, sind sehr kompliziert: Da muss man gelegentlich schon zwei Mal hinschauen, wenn man sich nicht blamieren will. Lindenmeyer: Je mehr Gold, umso wichtiger. Scholz: Wenn Sie so wollen. Lindenmeyer: Bei Politikern ist das ja anders. Scholz: Das ist auch gut so. Lindenmeyer: Sie haben dann im September 1998 in Ihrem Berliner Wahlkreis nur 42,1 Prozent der Erststimmen erreicht. War das eine gewisse Enttäuschung? Sie sind dann über die Liste in den Bundestag gekommen. Scholz: Ja, ich war in Berlin Spitzenkandidat und bin damit über die Liste in den Bundestag gekommen. Es ist richtig, wir waren schon ein bisschen enttäuscht. Aber die Wahl 1998 war eben eine, die die Union insgesamt verloren hat. Ich habe damals in Berlin bei den Erststimmen dennoch das beste Ergebnis für die CDU geholt. Aber es hat halt nicht gereicht. Das ist etwas schmerzhaft, das gebe ich zu, aber auch das ist eben Demokratie. Das gehört dazu, man muss auch verlieren können. Lindenmeyer: Richard von Weizsäcker war in den 80er Jahren Regierender Bürgermeister von Berlin. Er hat Sie damals als Justizsenator in den Berliner Senat geholt. Wie kam das? Scholz: Das ist eine gute Frage, die ich bis heute nicht genau beantworten kann. 1981 hatte Richard Weizsäcker für die CDU die Wahlen in Berlin gewonnen und stellte dann seinen Senat zusammen. Ich war hier in München Professor an der Universität auf meinem Lehrstuhl und war bis dahin politisch auch nie aktiv gewesen. Ich war auch nicht Mitglied einer Partei. Dennoch kam plötzlich ein Anruf, ob ich als – wie es so schön hieß – alter Berliner, der ich in der Tat bin, war und auch immer bleiben werde, bereit wäre, mitzumachen in diesem Senat. Ja, und das habe ich dann gemacht. Lindenmeyer: Das war ein ganz normaler Anruf? Scholz: Ja, das war ein ganz normaler Anruf. Wir haben uns dann aber auch getroffen und … Lindenmeyer: Da war also der Regierende Bürgermeister von Berlin am Telefon und sagte: "Ich habe mit Ihnen etwas vor. Können wir uns treffen?" Scholz: Ja, so ungefähr war das. Wir haben uns dann in Berlin getroffen und ich habe gesagt: "Ja, o.k., ich mache das!" Lindenmeyer: Später wurden Sie dann, weil Norbert Blüm in das Kabinett Kohl wechselte, auch noch Senator für Bundesangelegenheiten. Das war alles in den Zeiten vor der Wiedervereinigung, vor 1989: Was waren denn in diesen beiden Ämtern Ihre hauptsächlichen, Ihre schwierigsten Themenbereiche? Scholz: Das schwierigere Amt war natürlich schon der Senator für Bundesangelegenheiten. Man muss das heute allerdings ein bisschen näher erklären. Der Berliner Senator für Bundesangelegenheiten war damals nicht vergleichbar mit den Ministern für Bundesangelegenheiten in den anderen Bundesländern und "nur" der Bundesratsvertreter des Berliner Senats im Bundesrat. Nein, er war dem besonderen politischen Status von Westberlin entsprechend zugleich auch sozusagen für den alliierten Status der Stadt mitverantwortlich. Er war zuständig für die Deutschlandpolitik und er saß z. B. auch immer in der deutschlandpolitischen Koordinierungsrunde im Kanzleramt. Er war auch zuständig für die Kontakte zu den Alliierten. Insofern war das ein hoch interessantes und, wie ich denke, auch wichtiges Amt. Lindenmeyer: Und Sie waren eben auch Justizsenator in Berlin. Man sollte für unsere jüngeren Zuschauer vielleicht dazusagen, dass sich Berlin, genauer gesagt Westberlin, damals noch nicht so sehr in ökonomischen Problemen befand wie heute. Scholz: Berlin war gut subventioniert. Ich habe damals über Westberlin immer gesagt: Westberlin ist wohlsubventioniert, wohlbehütet, aber auch wohlbevormundet. Lindenmeyer: Sie kamen da als Justizsenator in eine Stadt mit einer relativ ausgeprägten sozialdemokratischen, liberalen Tradition. Scholz: Ja, gut, ich selbst würde mich aber nicht als illiberal bezeichnen wollen, im Gegenteil. Wir hatten damals in Berlin ja auch eine Koalition mit der FDP: Das lief eigentlich alles recht gut. Man hat als Justizsenator und damit quasi als Landesjustizminister nicht so übermäßig viele Zuständigkeiten. Man ist für die Personalpolitik zuständig, für die Gerichte und selbstverständlich auch für die Gefängnisse. Das ist nämlich immer das Problem bei Justizministern: Wenn mal ein Gefangener ausbüxt, was leider Gottes immer wieder einmal passieren kann, dann fordert die Opposition am nächsten Tag garantiert: "Der Justizminister muss zurücktreten!" Dieses Spielchen hat sich bis heute nicht verändert. Lindenmeyer: Diesbezüglich hatten Sie also Glück. Scholz: Ja, da habe ich Glück gehabt. Lindenmeyer: Sie waren damals noch parteifrei, sind erst später in die CDU eingetreten. Warum haben Sie Ihre Unabhängigkeit von der Mitgliedschaft in einer Partei dann doch beendet? Scholz: Ich will es mal so sagen: Ich hatte mich dann eines Tages dazu entschlossen, auch für die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus im Jahr 1983 zu kandidieren. Mir ist dann von einem Berliner Kreisverband die Spitzenkandidatur angeboten worden und ich hätte dabei sogar parteilos bleiben dürfen, wenn mir das so sehr wichtig gewesen wäre. Ich habe dann gesagt, dass ich das sehr honorig und sehr fair und anständig und nobel finde, aber ich habe hinzugefügt: "Erstens übernehme ich diese Spitzenkandidatur, zweitens trete ich im selben Moment in die CDU ein." Denn mich hatte ja von der CDU nichts getrennt, ich bin innerlich immer schon ein CDU-Mann gewesen. Lindenmeyer: Damit gibt es in Ihrer Biographie einen kleinen Unterschied zu Ludwig Erhard. Scholz: Ja, nach dem, was man jetzt so hört und liest. Das war aber für mich auch neu. Lindenmeyer: Falls es denn überhaupt stimmt, dass Ludwig Erhard niemals CDU-Mitglied gewesen ist. Wir müssen das offen lassen. Scholz: Ich selbst bin gerne CDU-Mitglied gewesen und bin es auch heute noch, und auch das gerne. Lindenmeyer: Ihr Vater ist sehr früh gestorben, nämlich 1943 als Wehrmachtssoldat in Stalingrad. Wer hat Sie zu einem politischen Engagement, zu einer politischen Sicht der Welt animiert? War das Ihre Mutter? Scholz: Nein, meine Mutter eigentlich nicht. Das ist von selbst gewachsen. Lindenmeyer: Wann begann Ihr politisches Interesse? In der Schulzeit? Scholz: Mein politisches Interesse war eigentlich schon von Anfang an vorhanden. Ich habe bereits mit sieben Jahren bei uns zu Hause gegenüber meiner Mutter entschieden, welche Zeitung wir abonnieren. Gut, ich gebe zu, dass ich den Sportteil als Erstes gelesen habe. Das mache ich auch heute noch so. Danach habe ich aber bereits in diesem Alter den politischen Teil gelesen. Das Politische war mir also immer schon irgendwie nahe. Lindenmeyer: Sie haben Jura studiert, und zwar in Berlin und in Heidelberg an der Rupprecht-Karls-Universität. Wo haben Sie sich wohler gefühlt? Scholz: Wenn mit Wohlfühlen Spaß und Spiel gemeint ist, dann war das Heidelberg. Denn das war schon ein fröhliches und mitunter auch bierreiches Studium, jedenfalls in der Anfangszeit. Das ernste Studium hat dann in Berlin stattgefunden. Lindenmeyer: Waren Sie Mitglied einer Studentenverbindung? Scholz: Nein. Lindenmeyer: Warum nicht? Denn man sagt ja oft, dass Juristen eigentlich gerne in Verbindungen gehen. Scholz: Als ich in Berlin anfing zu studieren, waren dort die Verbindungen noch verboten. Das war im Grunde eine unsinnige Regelung, die irgendwann noch von den Alliierten, von den Besatzungsmächten eingeführt worden war. Das heißt, die Studentenverbindungen waren damals für mich gar nicht so präsent. Später wurde ich dann schon immer wieder gefragt, ob ich nicht Lust hätte, in diese oder jene Verbindung zu gehen. Aber ich muss gestehen, ich hatte diese Lust nicht. Ich hatte auch sonst genug Spaß, genug Spiel und vor allem genug Freunde. Lindenmeyer: Was haben Sie in Heidelberg in Ihrer Freizeit gemacht? Rudern auf dem Neckar? Wandern im Odenwald? Scholz: Wir waren viel im Odenwald. Lindenmeyer: Zu Fuß? Scholz: Ja, zu Fuß und mit dem Fahrrad. Lindenmeyer: Sie waren also auch auf dem Heiligenberg? Scholz: Natürlich sind wir auch über den Philosophenweg auf den Heiligenberg gegenüber vom Heidelberger Schloss gegangen. Lindenmeyer: Sie haben vorhin Richard von Weizsäcker erwähnt. Ich würde nun gerne ein wenig über einige Ihrer politischen Wegbegleiter bzw. auch Vorbildfiguren sprechen. Fangen wir mit Richard von Weizsäcker, dem späteren Bundespräsidenten an, der damals noch Regierender Bürgermeister von Berlin war. Sie haben mit ihm viele Gespräche und Dialoge geführt, u. a. einen Dialog über den Gnadenakt, der im gegenwärtigen Deutschland viele Gemüter erhitzt hat. Ist Richard von Weizsäcker ein geduldiger Gesprächspartner oder eher ein ungeduldiger? Scholz: Nein, ein geduldiger. Er ist ein vor allem intellektuell immer wieder faszinierender Mann, ein Mann, der auch immer wieder unglaublich anregend ist. Und er ist ein Mann, mit dem intellektuell und intelligent zu streiten Spaß gemacht hat. Und dazu gehört das von Ihnen angesprochene Thema "Gnade". In dieser Frage waren wir unterschiedlicher Meinung und das sind wir bis heute, worüber wir uns immer wieder gelegentlich austauschen. Lindenmeyer: Kann es sein, dass Richard von Weizsäcker eine eher christliche Position einbrachte, während Sie in dieser Frage eine strenge verfassungsrechtliche Position, nämlich die der Gleichbehandlung von Tätern vertreten? Scholz: Ich weiß nicht, ob man das mit dem Christentum, also religiös erklären kann. Natürlich kommt die Gnade, die Gnade Gottes, das Gottesgnadentum im Wesentlichen aus unserer christlichen Tradition. Das stimmt schon, aber inwieweit Richard von Weizsäcker in diese Richtung denkt oder seine Vorstellungen darin verhaftet sind, kann ich nicht beurteilen. Mein Denken in dieser Frage ist jedoch in der Tat wesentlich davon bestimmt, dass das Gnadenrecht – das selbstverständlich eine sehr persönliche Entscheidung des Gnadenberechtigten ist und viel Verantwortlichkeit, aber auch Ermessen beinhaltet – nicht in Willkür oder in Beliebigkeit verfallen darf. Stattdessen muss in einem Rechtsstaat auch das Gnadenrecht ein Stück Gleichheit berücksichtigen. Das heißt, wenn man den einen begnadigt, aber in einem ganz vergleichbaren anderen Fall nein zu einer Begnadigung sagen möchte, dann muss man dafür schon sehr triftige Gründe haben. Umgekehrt kann das aber wiederum bedeuten, dass man, wenn man beabsichtigt, jemanden zu begnadigen, sich vorher überlegen muss, welche Konsequenzen das für andere Fälle hat. Lindenmeyer: Wir wollen ja über einige Persönlichkeiten in Ihrem Umfeld reden; lassen Sie uns also jetzt über Helmut Kohl sprechen. Als Bundeskanzler holte er Sie in sein Kabinett: Wie war Ihre Beziehung zu Helmut Kohl? Gibt es heute noch eine? Scholz: Ja, natürlich. Helmut Kohl ist, wie ich wohl sagen darf, für mich ein sehr enger Freund geworden und ist das auch heute noch. Ich freue mich, wenn ich ihn sehe, und wir sehen uns eigentlich regelmäßig. Er lebt ja nach wie vor nicht nur in Ludwigshafen, sondern auch in Berlin. Ja, er ist für mich nicht nur ein großer deutscher Staatsmann, sondern er ist auch ein Mensch, der mir sehr nahe steht. Lindenmeyer: Sie haben ihn damals in der Parteispendenaffäre öffentlich verteidigt. Es ging damals um den Stellenwert des Ehrenworts gegenüber dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Transparenz der Parteienfinanzierung. Wie kamen Sie zu diesem öffentlichen Engagement für Helmut Kohl? Scholz: Das Engagement, das Sie ansprechen, reicht viel weiter zurück, denn das war im Zusammenhang mit der Flickaffäre, wo es ja auch schon um bestimmte rechtliche Unsicherheiten ging, die das ganze Problemfeld der Parteienfinanzierung leider immer begleitet haben. In der Frage der Spendenaffäre mit dem Ehrenwort ist mir immer klar gewesen, dass das für einen Mann wie Helmut Kohl ein fast unauflösliches Dilemma ist. Wenn ein Mann wie Kohl sein Ehrenwort gibt, dann nimmt er das sehr, sehr ernst. Er hat sich ja auch in diesem Sinne, wie ich denke, richtig verhalten, indem er erstens gesagt hat: "Ich habe falsch gehandelt. Ich habe gegen das Gesetz verstoßen. Und ich mache diesen Schaden wieder gut!" Er meinte damit, dass er das, was die Partei dann zahlen musste an Strafgebühren für die entsprechenden Spenden, alles bezahlt. Das hat Helmut Kohl alles bezahlt. Er hat sogar eine Hypothek auf sein Haus aufgenommen, um das bezahlen zu können. Aber das Zweite ist dieses Ehrenwort: Das ist die menschliche Seite in Helmut Kohl. Ich glaube wirklich, dass das für ihn ein fast unauflöslicher Konflikt gewesen ist. Lindenmeyer: Helmut Kohl stand auf der pay-roll des großen Filmhändlers Leo Kirch. Scholz: Ob das wirklich so war, weiß ich nicht. Lindenmeyer: Ich glaube, Helmut Kohl hat dem nicht widersprochen. Scholz: Ich weiß das nicht. Lindenmeyer: Ihr Name wurde auch genannt im Zusammenhang mit Honoraren von Leo Kirch. Scholz: Ich habe als Wissenschaftler sehr viel Medienrecht gemacht. Und ich habe gutachtlich auch für Leo Kirch gearbeitet. Das ist richtig. Diese Gutachten sind selbstverständlich auch bezahlt worden. Lindenmeyer: Ich frage auch nicht, um Sie bloßzustellen, sondern ich möchte Sie gerne fragen, ob Sie es für richtig halten, dass in Bezug auf die Nebeneinkünfte von Politikern Transparenz hergestellt wird, solange sie ein parlamentarisches Mandat haben oder gar in der Exekutive, also in einer Regierung sitzen. Sind Sie für die schonungslose Veröffentlichung aller Nebeneinkünfte von Politikern? Scholz: Grundsätzlich ja. Aber ich sage bewusst "grundsätzlich ja", denn es gibt Bereiche, in denen das nicht voll umsetzbar ist. Nehmen Sie z. B. einen Parlamentarier, der von Beruf Arzt oder Rechtsanwalt ist. Das sind freie Berufe, die der Schweigepflicht im Hinblick auf ihre Patienten und Klienten unterliegen. Da kann man nicht sagen, dass das alles offengelegt werden muss. Offengelegt werden muss allerdings die Beziehung. Das heißt, es muss z. b. angegeben werden, wen man überhaupt vertritt als Anwalt. Aber das, was dieser Mandant als Honorar bezahlt, kann nicht veröffentlicht werden, wenn der Mandant damit nicht einverstanden ist. In diesem Fall kann man also vom Parlamentarier nicht erwarten, dass er dieses Honorar offenlegt. Ich bin auch sicher, dass das Bundesverfassungsgericht in dieser Sache so entscheidet, denn dort ist ja im Moment ein Prozess diesbezüglich anhängig. Ich finde es gut, dass jetzt das Bundesverfassungsgericht mit seiner Autorität diese Frage abschließend klären und die Notwendigkeiten wie auch die Grenzen von Veröffentlichungspflichten definieren wird. Lindenmeyer: Die dritte Person, auf den ich Sie gerne ansprechen möchte, ist eine Politikerin. Mit dieser Politikerin haben Sie gelegentlich sehr eng zusammengearbeitet und hatten doch vermutlich immer einen großen Abstand ihr gegenüber. Ich meine Herta Däubler-Gmelin, die frühere Bundesjustizministerin. Wie sieht Ihre Einschätzung von Herta Däubler- Gmelin aus? Scholz: Ich kenne Herta Däubler-Gmelin nun schon sehr lange. Sie hat in Berlin damals in den "heißen" Jahren an der FU Jura studiert, in Zeiten, in denen ich dort bereits Assistent war. Ich habe sie also durchaus erlebt bei irgendwelchen Aktionen, als Vorlesungen gesprengt wurden usw. Sie war eine richtige Rebellin. Aber damals haben wir uns bereits kennengelernt. Lindenmeyer: War Ihnen das sympathisch oder eher weniger sympathisch? Scholz: Nein, das war mir natürlich nicht sympathisch, absolut nicht. Aber wir haben uns damals schon kennengelernt und sind uns dann über Jahre hinweg immer wieder begegnet. In den Zeiten, in denen sie dann Justizministerin und ich rechtspolitischer Sprecher der Union und stellvertretender Fraktionsvorsitzender war, haben wir natürlich auch viel miteinander gestritten, z. B. bei Bundesrichterwahlen. Wir haben auch inhaltlich viel miteinander gestritten, aber bei allem inhaltlichen Streit ging es immer fair und offen zu. So muss es in der Politik sein: Es darf keine Feindschaften geben. Man kann Gegner sein, und wir waren Gegner, aber wir haben diese Gegnerschaft in wechselseitigem Respekt ausgetragen. Lindenmeyer: Wir wechseln in diesem Gespräch den Ort und gehen auf die Hardthöhe oberhalb von Bonn, dem früheren Sitz des Bundesverteidigungsministeriums. Dort hatten Sie – man kann das vielleicht doch so nennen – eine Auseinandersetzung, als Sie damals Ihren Staatssekretär Peter Kurt Würzbach entließen. Warum mussten Sie das machen? Scholz: Es ist immer schwierig, darüber in der Öffentlichkeit zu sprechen, weil das ja eine Personalangelegenheit war. Trotzdem kann man es hier doch zumindest folgendermaßen darlegen. Es gab eine bestimmte Situation nach dem Flugzeugunglück von Remscheid – nicht nach dieser fürchterlichen Katastrophe von Ramstein –, als ein amerikanisches Flugzeug abstürzte, aber zum Glück kein wirklicher Personenschaden entstand. Ich war zu dieser Zeit in den USA und flog dann zurück. Herr Würzbach hat in der Zwischenzeit gemeint, er sei mein Vertreter und könnte bestimmte Entscheidungen treffen z. B. im Hinblick auf Tiefflüge der Bundeswehr, mit denen das aber gar nichts zu tun hatte. Das war nicht vertretbar, das geht nicht: Der Minister trägt die Verantwortung und der Minister entscheidet auch. Und deswegen ging das nicht mehr. Lindenmeyer: Sie waren im Jahr 1988 der erste deutschen Verteidigungsminister, der nach Moskau zum Staatsbesuch fuhr. Wen haben Sie dort angetroffen? Scholz: Ich bin mit Helmut Kohl dort gewesen, aber ich hatte, wie man so schön sagt, ein eigenes Programm. So habe ich, von Gorbatschow angefangen, natürlich die Spitzen der Sowjetunion getroffen. Aber ich habe vor allem intensive Gespräche geführt mit dem damaligen sowjetischen Verteidigungsminister Jasow. Das waren schon sehr eindrucksvolle und teilweise auch bewegende Momente: Man spürte, wie man es schaffen konnte, Eis zum Brechen zu bringen. Lindenmeyer: Wie haben Sie das geschafft? Scholz: Mit Offenheit, Härte, aber auch mit der Bereitschaft, selbst das Herz aufzumachen. Lindenmeyer: Und wie war das in Bezug auf die legendäre Trinkfestigkeit der Gastgeber? Viel Wodka? Scholz: Die musste man natürlich schon auch beweisen, das ist klar. Lindenmeyer: Das war tatsächlich so? Scholz: Natürlich war das so. Aber ich erzähle Ihnen kurz von unserer ersten Begegnung. Wir saßen uns in Moskau im Verteidigungsministerium an riesengroßen Tischen gegenüber. Jasow saß dort mit seiner ganzen "Marschalleska", während ich nur eine kleine Schar von Zivilisten und meinen damaligen Stabschef Herrn Schönbohm dabei hatte. Jasow fragte also: "Wie wollen wir vorgehen? Gehen wir gleich zur Sache?" Ich antwortete: "Ja!" Jasow meinte daraufhin: "So habe ich Sie auch eingeschätzt!" "Und ich Sie auch!" So haben wir uns dann ausgetauscht. Er behauptete, wir, also die NATO, würden ihn bedrohen, woraufhin ich gesagt habe: "Nein, Sie bedrohen uns mit Ihrer Übermacht!" Dabei hatte natürlich jede Seite ihre Akten vor sich liegen. Ich sagte dann zu ihm: "Passen Sie mal auf, Ihr Generalsekretär Gorbatschow spricht immer von Glasnost. Machen wir doch mal Glasnost. Hier meine Akten!" Ich schob ihm meine hoch geheimen Akten über den Tisch rüber und meinte: "Schauen Sie nach! Da sehen Sie wie unsere …" Lindenmeyer: Das war ja ein Abgrund von Landesverrat! Scholz: Na ja, dicht dran. Im Gegenzug wollte ich natürlich seine Akten haben: "Schieben Sie mir bitte Ihre Akten rüber! Denn dann ist das Thema sofort geklärt." An dieser Stelle hat er zum ersten Mal gelacht, wirklich herzlich gelacht. Und er sagte: "Nein, das kann ich noch nicht machen. Denn die Verteidigungsminister des Warschauer Pakts haben gerade beschlossen, ihre Zahlen noch nicht offen zu legen." "Aber die Verteidigungsminister des Warschauer Pakts sind doch Ihre Satelliten! Das heißt, Sie haben das entschieden! Also, geben Sie Ihre Akten doch rüber!" Natürlich kam es dabei nicht zu einem Austausch der Akten, aber dadurch ist das Eis gebrochen. Lindenmeyer: Wie war denn die Reaktion der amerikanischen Freunde? Sie waren ja vorher im Weißen Haus in Washington gewesen. Scholz: Ja, ich bin ja viel in Amerika gewesen. Lindenmeyer: Dort hatten Sie auch den amerikanischen Präsidenten Reagan getroffen. Scholz: Ja, den Präsidenten, den Verteidigungsminister und den Außenminister. Aber das war ja der normale Gang in einem solchen Amt. Lindenmeyer: Das war in jenen Zeiten, in denen Politiker noch öffentlich rauchen durften. Haben Sie es damals auch im Weißen Haus probiert? Scholz: Ich habe es damals probiert und bekam auch die Erlaubnis dazu. Lindenmeyer: Wie war das? Scholz: Es war ein bisschen schwierig, so ohne Aschenbecher. Ich bekam stattdessen nur eine abgesägte Konservenbüchse. Lindenmeyer: Und Reagan rauchte nicht. Scholz: Nein, er rauchte nicht. Lindenmeyer: Während Sie das Weiße Haus vollpafften. Scholz: Ich habe mir das erlaubt und ich rauche auch heute noch gerne. Lindenmeyer: Eines Ihrer großen Themen im Deutschen Bundestag und in der Bundesregierung war der Einsatz der Bundeswehr in besonderen Fällen im Interesse der inneren Sicherheit. Vertreten Sie diese Position, über die in Deutschland auch in den letzten Jahren sehr viel diskutiert wurde, noch genauso wie damals? Wie denken Sie heute über den Einsatz der Bundeswehr in der Bundesrepublik Deutschland zur Wahrung der inneren Sicherheit? Scholz: Ich vertrete diese Position unverändert, weil sie notwendig ist, was übrigens in jeder Demokratie unstrittig ist: In der Situation, in der wir uns heute im Zeichen des internationalen Terrorismus befinden, ist das notwendig. Seit den Anschlägen vom 11. September wissen wir, dass der internationale Terrorismus im Grunde genommen eine quasi militärische Aggression darstellt, der gegenüber man sich verteidigen muss. Selbstverständlich, Terroristen sind Kriminelle und gegen Kriminalität hat die Polizei tätig zu werden. Aber es gibt Bereiche, in denen die Polizei nicht hinlänglich handlungs- bzw. verteidigungsfähig ist. Alles, was aus der Luft oder auch aus der See kommt, stellt so einen Bereich dar. Oder denken Sie an potentielle Angriffe – die der Herr verhüten möge, die aber bekanntlich nicht auszuschließen sind – mit nuklearen, biologischen oder chemischen Kampfstoffen. All das, was heute droht, kann man nur mit den Mitteln bekämpfen, die die Bundeswehr, die das Militär zur Verfügung hat: Nur mit diesen Mitteln kann man das zu vermeiden versuchen. Deshalb muss es subsidiär eine Zuständigkeit der Bundeswehr geben, und zwar, wenn Sie so wollen, in Amtshilfe, um der Polizei helfen zu können. Lindenmeyer: Manche Vergeblichkeit militärischer Einsätze gegenüber dem Terrorismus zeigt sich doch heute in der amerikanischen Politik. Denken wir nur einmal an die Erfahrungen im Irak. Auch das Militär hat also seine Grenzen. Im Übrigen müssten Sie dafür in Deutschland in der Tat das Grundgesetz ändern. Scholz: Ja, das Grundgesetz muss man ändern, das ist richtig. Und das sollte man auch möglichst rasch tun und auch gleich die entsprechenden Grenzen einbauen. Denn das Grundgesetz ist in diesen Bestimmungen nun einmal, wenn man so will, auf einem Entwicklungsstand, bei dem es um die Landesverteidigung ging. Man konnte sich nur klassische militärische Kriege vorstellen. Die Vorstellung war also: Wir werden von irgendeinem anderen Staat angegriffen, d. h. unsere äußere Sicherheit ist bedroht: In diesem Fall ist die Bundeswehr natürlich zur Verteidigung aufgerufen. Äußere und innere Sicherheit lassen sich jedoch heute nicht mehr voneinander trennen. Das ist das Problem, das ist das fundamental Neue und das unendlich Gefährliche in der heutigen Lage, und zwar weltweit. Lindenmeyer: Haben Politikerinnen und Politiker, die das anders sehen, unrecht? Scholz: Ich verstehe jemanden, der hier vorsichtig sein will, der sagt: "Lieber nicht!" Ich kann das verstehen. Das liegt daran, dass es eine deutsche Tradition gibt, dass man sehr strikt trennt zwischen innerer Sicherheit – Zuständigkeit der Polizei – und äußerer Sicherheit – Zuständigkeit der Bundeswehr. Dass wir das so strikt getrennt haben, ist eine Erfahrung, die zurückreicht bis in nationalsozialistische Zeiten. Diese strikte Trennung hat übrigens kein einziger vergleichbarer westlicher Staat. Aber man muss eben auch erkennen, und das erwarte ich von demjenigen, der heute sagt, dass er die Bundeswehr nicht im Inneren einsetzen möchte, dass man sich diesen Fragen stellen muss. Ich finde, dieses Thema vertritt der jetzige Innenminister Wolfgang Schäuble sehr verantwortlich und sehr gründlich und in sehr, sehr nachdenklicher Weise, zu Recht in nachdenklicher Weise. Er wirbt dafür, hier eine vernünftige Regelung zu schaffen. Und er hat recht damit. Lindenmeyer: Der 23. Mai ist in Deutschland der Tag, an dem das Grundgesetz gefeiert wird. Sie feiern jedes Jahr am 23. Mai Ihren Geburtstag. Ich habe entdeckt, dass der 23. Mai auch noch der Weltschildkrötentag ist. Scholz: Oh, das ist neu für mich. Lindenmeyer: Sie leben in Berlin-Grunewald. Haben Sie Haustiere? Scholz: Nein. Lindenmeyer: Sie leben dort mit Ihrer Frau, einer Bundesrichterin. Muss ich mir das Zusammenleben von zwei Juristen als ständigen Austausch von juristischen Plädoyers vorstellen? Scholz: Nein, es gibt eine sehr klare Entscheidung bei uns, die ich, wenn Sie so wollen, getroffen habe: Meine Frau ist die Juristin im Haus und ich darf etwas anderes machen. Lindenmeyer: Bleiben wir noch ein wenig bei der Bundeswehr. Die Bundeswehr hat immer wieder große Diskussionen über sich ergehen lassen müssen in Bezug auf ihren inneren Zustand. Kürzlich war erneut zu hören, dass Soldaten nicht zufrieden seien mit der Bundeswehr, dass die Stimmung und die "Unternehmenskultur" dort schlechter seien als in jedem anderen Unternehmen. Lassen wir offen, ob stimmt, was der Bundeswehrverband aufgrund einer nicht ganz repräsentativen Studie da in die Welt gesetzt hat, es mag stimmen oder nicht stimmen. Wie beurteilen Sie denn heute den Zustand der Bundeswehr? Scholz: Ich sehe ihn mit Sorge. Lindenmeyer: Warum? Scholz: Weil die Bundeswehr in der Tat seit Jahren unterfinanziert ist, massiv unterfinanziert. Wir müssen in die Bundeswehr investieren: in die Entwicklung der internationalen Rüstung, in die Ausbildung. Wir haben die Bundeswehr zu lange als Sparschwein der Republik behandelt. Das muss man sehr klar so sehen. Das war natürlich schon auch zu erkennen nach dem Ende des Kalten Kriegs, nach der Wiedervereinigung. Damals sagte man, man könne die Investitionen bei der Bundeswehr zurückfahren, es gäbe ja keine Bedrohung mehr. Das war ja in der Tat dieser glückliche Eindruck in den Jahren 1990 und folgende. Wie wir heute wissen, hat dieser Eindruck jedoch getrogen: Wir haben neue, veränderte Bedrohungen. Und die Bundeswehr muss hier wirklich tauglich sein, auch für Auslandseinsätze. Ich denke daher, dass es dringend erforderlich ist, dass mehr in die Bundeswehr investiert wird: Die Soldaten haben ein Recht darauf. Die Soldaten haben als einzige einen Beruf, der ihnen abverlangt, für ihr Land ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Das muss man sich immer wieder vergegenwärtigen. Und wenn ein Staat von einem Menschen so etwas verlangt, dann hat dieser Mensch den Anspruch auf die bestmögliche Ausbildung und die bestmögliche Ausrüstung. Lindenmeyer: Das ist wie bei der Feuerwehr. Scholz: Ja, etwa wie bei der Feuerwehr. Trotzdem gibt es einen Unterschied. Ich habe großen Respekt vor der Polizei und der Feuerwehr, aber der Soldat muss in den Krieg ziehen. Lindenmeyer: Sie haben am 25. Juni 2005 in der "Welt" erklärt, eine Befehlsverweigerung sei ein "esoterischer Kurzschluss". Was ist eine Befehlsverweigerung im Hinblick auf einen Einsatzbefehl z. B. in ein ausländisches Krisengebiet? Scholz: Meine Aussage, eine Befehlsverweigerung sei ein esoterischer Fehlschluss, ist selbstverständlich aus dem Zusammenhang heraus zu sehen. Es kann nicht sein, dass jemand in einem militärischen Einsatz, in dem selbstverständlich Befehl und Gehorsam gelten müssen – dies übrigens auch zur Sicherheit der Soldaten –, ein Soldat plötzlich sagt: "So, jetzt diskutiere ich erst einmal den Sinn dieses Einsatzes und gegebenenfalls sage ich nein zu diesem Befehl, weil er mich nicht überzeugt!" Das geht nicht. Das geht zum eigenen Wohle nicht und das geht wohlgemerkt auch aus Rücksicht auf die Kameraden nicht, die in einem solchen Einsatz mit dabei sind. Die Frage, ob man einen bestimmten militärischen Dienst leisten will, ist nicht eine Frage der Befehlsverweigerung, sondern eine Frage der Wehrdienstverweigerung. Das ist eine Frage, der man sich vorab zu stellen hat: ob man Soldat werden will oder nicht. Aber im konkreten Einsatz hat diese Frage nichts verloren. Lindenmeyer: Jetzt muss ich Sie aber doch fragen: Sie haben damals nicht den Wehrdienst verweigert und Sie sind nicht erfasst worden. Wie kam es, dass Sie nicht zur Bundeswehr mussten? Scholz: Das hatte verschiedene Gründe. Erstens war ich ein sogenannter "weißer Jahrgang". Zweitens war ich Berliner und deshalb betraf mich der entmilitarisierte Status dieser Stadt. Drittens ist mein Vater gefallen. Ich habe das bis jetzt nur selten in der Öffentlichkeit gesagt, aber ich habe mir das damals sehr wohl überlegt: Ich persönlich hätte schon eine große Neigung gehabt, freiwillig zur Bundeswehr zu gehen, was man auch als Berliner mit einem Scheinwohnsitz in Westdeutschland durchaus hätte machen können. Aber es gab einfach bestimmte wirtschaftliche Schwierigkeiten in der Familie: Ich musste sogar schon in der Schule –dann im Studium ohnehin – durchgehend arbeiten, nicht nur um mein Studium zu verdienen, sondern auch um meine Familie, also meine Mutter und meine Schwester, ein Stück weit mit zu ernähren. Das war nicht ganz leicht und deswegen … Lindenmeyer: In welchen Jobs haben Sie gearbeitet? Scholz: Vom Bau bis zu allem Möglichen. Lindenmeyer: Auch Taxifahrer? Scholz: Nein, das nicht, das habe ich leider nie geschafft. Das wäre so eine Luxusvariante gewesen, aber leider hat mich damals keiner genommen dafür. Ich weiß auch nicht warum. Lindenmeyer: Sie waren Mitglied im Sachverständigenrat "Schlanker Staat". Scholz: Ja, den habe ich damals geleitet. Lindenmeyer: Ist der Staat heute schlank genug? Scholz: Nein, keinesfalls! Dieser Sachverständigenrat "Schlanker Staat" war mir damals sehr wichtig. Das war eigentlich eine der wichtigsten Sachen im Hinblick auf Deregulierung, auf Privatisierung, auf den Abbau staatlicher Überkapazitäten, auf eine wirklich substantielle Aufgabenkritik. Dieser Sachverständigenrat war wissenschaftlich und fachlich wirklich hochkarätig besetzt: von hervorragenden Wissenschaftlern über Spitzenmanager aus der Wirtschaft bis zu wichtigen Politikern. Er hat wirklich wichtige und bis auf den heutigen Tag weiterführende und wesentliche Anregungen entwickelt. Wir haben damals 1997 unsere Arbeit beendet: Das war ein Jahr vor der Bundestagswahl, die dann ja für die Union bzw. die christlich-liberale Koalition verloren ging. Es kam dann die rot-grüne Regierung, die das alles im Grunde genommen sehr schnell ad acta gelegt hat. Ich erinnere mich noch an das Wort von Herrn Schily, dem damaligen Innenminister, der gesagt hat: "Wir wollen nicht den schlankeren, wir wollen den aktiveren Staat haben." Das sind fundamentale politische Auffassungsunterschiede. Ich denke, dass der aktivere Staat das falsche Bild ist und dass wir nach wie vor wirklich dringend aufgefordert sind, unseren Staat zurückzuführen. Lindenmeyer: Sei es , oder , seien es viele, viele andere Politiker: Die Öffentlichkeit interessiert sich für das Privatleben der Politiker und sie zieht Schlüsse aus diesem Privatleben für die öffentliche Relevanz dieses Politikers. Wie privat darf in der Politik das Private bleiben? Scholz: Ich finde, das Private muss privat bleiben. Lindenmeyer: Wissen das auch Ihre Parteifreunde? Scholz: Ach, das muss letztlich jeder für sich entscheiden. Ob man, wie das ja heute viele machen, sein eigenes Privatleben meinetwegen über eine Website auf dem öffentlichen Markt darbietet, das obliegt der eigenen Freiheit. Aber meine eigene, meine persönliche Ansicht ist, dass das Private das Private bleiben soll. Das ist auch, wenn man so will, ein Stück notwendiges Rückzugsgebiet, das man auch mal braucht, um Ruhe und Besinnung finden zu können. Politik ist heute sehr bestimmt von den Medien. Lindenmeyer: Sie gehen von der Situation aus, in der das Private harmonisch ist. Das Privatleben kann aber auch unharmonisch sein. Scholz: Ja, aber das gehört auch dazu. Wenn das Privatleben nicht harmonisch ist, dann ist auch das ein Stück der eigenen privaten Persönlichkeit, wenn ich das mal so sagen darf. Und insofern gehört es, jedenfalls meiner Meinung nach, nicht auf den öffentlichen Markt. Lindenmeyer: Ich frage Sie jetzt etwas ganz Privates: Ihr Schreibtisch steht in Berlin- Grunewald. Wenn Sie aus dem Fenster blicken, was sehen Sie dann? Scholz: Den Hundekehlesee, einen wunderschönen See. Lindenmeyer: Und wenn Sie auf den Schreibtisch blicken, welches Stück unvollendeter Arbeit liegt da ganz oben auf? Scholz: Das wechselt von Tag zu Tag, aber das wächst, das wird immer mehr, zumal ich mir jetzt nach meiner Emeritierung an der Universität noch einen alten Lebenstraum erfüllt habe und als Rechtsanwalt arbeite. Lindenmeyer: Sie haben eine Kanzlei aufgemacht? Scholz: Nein, ich bin in einer Kanzlei, in einer der angesehensten deutschen Kanzleien, nämlich bei Gleiss Lutz. Das macht mir sehr, sehr großen Spaß. Lindenmeyer: Und Sie sind gleichzeitig auch noch Kommentator. Sie waren auch ein großer verfassungsrechtlicher Kommentator zusammen mit Theodor Maunz und auch mit Roman Herzog. Scholz: Und mit Günter Dürig. Lindenmeyer: Als Nicht-Jurist würde ich aber doch noch ein paar Takte zu Theodor Maunz fragen wollen. Er war ein hoch angesehener Politiker und Verfassungsrechtler mit einer sehr schwierigen Vergangenheit im Dritten Reich und einer im Grunde nicht enttarnten bzw. erst sehr, sehr spät entdeckten Nebentätigkeit für die "National-Zeitung" von Gerhard Frey. Sie haben das bestimmt auch nicht gewusst. Scholz: Nein, wir haben das alle nicht gewusst. Als es dann bekannt wurde, hat man sich natürlich gefragt, warum und weshalb. Das war nicht gut, um es mal so zu sagen. Natürlich haben wir dann auch im Herausgeberkreis des Maunz/Dürig, dieses Grundgesetzkommentars, darüber gesprochen. Diesen führenden Grundgesetzkommentar hat ja Theodor Maunz wesentlich geprägt: Er hatte ihn mit Günter Dürig begründet und er hat dann in ihm für die Entwicklung unseres demokratischen Rechtsstaates wirklich fundamentale Kommentierungen verfasst. Das muss man alles mit großem Respekt sehen. Aber wenn man sich mal diese Artikel von ihm in der "National-Zeitung" ansieht – bzw. diese Artikelchen, wie ich meine, denn man soll das auch nicht überschätzen –, dann stellt man fest, dass da nichts gewesen ist, was man irgendwie inhaltlich hätte beanstanden können. Beanstanden konnte man, dass er in einer solchen Zeitung geschrieben hat, aber das war wohl auch irgendwie so eine Nachbarschaftsgeschichte da draußen in Gräfelfing. Die Einzelheiten kenne ich jedoch nicht. Und das war einfach auch der alte Theodor Maunz und deswegen würde ich doch sagen, hier darf man auch vergeben. Lindenmeyer: Ein Gnadenakt? Scholz: Nein, kein Gnadenakt, sondern ich würde das einen versöhnlichen Akt nennen. Man muss auch das große Lebenswerk dieses Mannes sehen – und da darf jemand auch mal einen Fehler machen. Lindenmeyer: Auch aus der Sicht derer, die damals zu den Opfern gezählt haben? Scholz: Nein. Hier bei diesen Artikeln geht es ja nicht um Opfer. Da gibt es ja keine Opfer. Lindenmeyer: Gut, kommen wir jetzt vielleicht zum Verein Hertha BSC Berlin. Ich kann hier nur einen Namen herausnehmen, denn Sie sind in vielen, vielen Vereinen, Verbänden und Vorständen Mitglied: u. a. in der Adenauer- Stiftung, in der Stiftung Deutsche Sporthilfe, in der Aktiengesellschaft Colonia-Konzern … Scholz: Da bin ich nicht mehr dabei. Lindenmeyer: Aber Sie waren dort. Wie schaffen Sie es eigentlich, eine Übersicht zu behalten über all diese Mitgliedschaften und vor allem dort, wo Sie eine Kontrollfunktion haben, auch die Infrastrukturen zu kennen? Scholz: Ich bemühe mich darum und das gehört natürlich dazu. Aber das Erste ist: Meine Frau hat vermutlich recht, dass sie mich zu einem unheilbaren Workaholic erklärt hat. Das ist wohl so. Lindenmeyer: Sie nicken da nur mit dem Kopf und sagen: "Ja, das ist so!"? Scholz: Ich muss einfach zugeben, dass das stimmt. Und ich fühle mich ja wohl dabei, es macht mir ja Spaß. Lindenmeyer: Ich muss allerdings dazusagen, dass Sie jetzt gerade aus dem Urlaub kommen, wenn auch nur aus einem kurzen Urlaub. Scholz: Ja, ich komme aus einem kurzen Urlaub, denn auch dafür muss gelegentlich Zeit sein, selbstverständlich. Aber es gibt einfach auch Dinge, bei denen der Spaß das Entscheidende ist. Sie haben den Fußball schon angesprochen: Ich bin ein Fußballverrückter. Auch das ist übrigens ein Zitat meiner Frau. Lindenmeyer: Geht sie mit ins Stadion? Scholz: Nein, dazu hat sie keine Beziehung, aber sie sagt, dass ich als Fußballverrückter ruhig ins Stadion, ruhig zu meinem Verein gehen und auch dieses und jenes machen soll. Das ist einfach ein Hobby von mir seit ich überhaupt denken kann. Lindenmeyer: Sie gelten in Deutschland als Konservativer. Welche Zukunft hat der Konservativismus bei uns in Deutschland? Scholz: Der Konservativismus hat nicht nur eine Vergangenheit, sondern immer auch Gegenwart und Zukunft. Lindenmeyer: Ich frage Sie deshalb, weil viele Menschen über eine Ökonomisierung der Werte klagen und sie darüber staunen, wie schnell auch konservative Positionen plötzlich weggefegt werden zugunsten einer eher wirtschaftsorientierten Politik. Sie kennen solche Vorbehalte? Scholz: Ja, schon, aber zum Konservativismus gehört z. B. auch Liberalität, gehört Marktwirtschaft, gehört also in dem Sinne auch Ordoliberalismus, denn das sind konservative Grundwerte. Lindenmeyer: Die soziale Marktwirtschaft? Scholz: Die soziale Marktwirtschaft ist ein konservativer Wert. Nach meinem Gefühl wird "konservativ" immer viel zu schnell gleichgesetzt mit "von gestern" oder gleich gar mit "reaktionär". Das ist aber falsch. Konservativ sein heißt, ein bestimmtes Wertebewusstsein zu haben, ein Wertebewusstsein aus der Erfahrung heraus, wie sich bestimmte Werte bewährt haben. Aber Werte wandeln sich und Werte müssen auch immer wieder neu definiert werden. Das nenne ich einen aufgeklärten Konservativismus. Für mich ist das etwas Unverzichtbares und dazu bekenne ich mich auch ganz persönlich. Lindenmeyer: Kommen wir am Ende ganz kurz noch zu einem neuen Thema. Sie haben gefordert, die Strafmündigkeit von Jugendlichen auf das Alter von 12 Jahren zu senken. Scholz: Nein, das stimmt nicht. Lindenmeyer: So habe ich es gelesen. Aber dann können Sie das hier auch wunderbar korrigieren. Scholz: Das Problem ist, dass wir heute ein Jugendstrafrecht haben, das das volle Erwachsenenstrafrecht eigentlich erst mit 21 Jahren zum Zuge kommen lässt. Ich bin der Meinung, dass mit 18 Jahren, wenn man also volljährig ist, wenn man mündig ist, wenn man wählen darf, auch auf jeden Fall das Erwachsenenstrafrecht beginnen muss. Der zweite Punkt ist, dass ein Jugendstrafrecht natürlich vor allem den Erziehungsgedanken in den Vordergrund zu stellen hat. Weil aber die Jugendkriminalität leider altersmäßig immer weiter nach unten rutscht, muss man eben auch dafür sorgen, dass bestimmte erzieherische Maßnahmen und Möglichkeiten des Jugendstrafrechts auch schon in früheren Altersstufen greifen können. Das ist mein Votum. Aber Strafmündigkeit mit 12 Jahren ist natürlich Unfug, das habe ich nie gesagt. Lindenmeyer: Gut, dass wir das klargestellt haben. Am Schluss dieses Gesprächs würde ich gerne noch zwei kurze Zitate bringen wollen. Albert Schweitzer hat einmal geschrieben: "Das Fundament des Rechts ist die Humanität." Sie kennen diesen Satz vielleicht. Konrad Adenauer sagte: "Natürlich achte ich das Recht, aber auch mit dem Recht darf man nicht so pingelig sein." Welcher Satz ist Ihnen sympathischer? Scholz: Sympathischer ist mir der Satz von Albert Schweitzer. Aber hinter dem, was da der alte Adenauer in seiner ihm eigenen flapsigen Art gesagt hat, steckt natürlich vor allem der Politiker. Gemeint ist damit aber nicht, dass man, weil die Politik nun einmal so ist, wie sie ist, weil es politisch opportun ist, bestimmte Sache so und nicht so zu machen, das Recht ein bisschen zurückstellen soll. Das ist selbstverständlich undenkbar in einem Rechtsstaat. Lindenmeyer: "Man kann nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen." Scholz: Ja, das ist dieser schöne Satz von Hermann Höcherl. Aber man muss einfach auch sehen, dass es zwischen Politik und Recht schon auch ein gewisses Spannungsfeld gibt. Politik ist an Recht gebunden, aber das Recht gibt auch Spielräume. Und innerhalb dieser Spielräume muss Politik verantwortlich gestaltet werden. Dieses Spannungsverhältnis muss man sich gelegentlich vor Augen halten. Lindenmeyer: Aus diesem Spannungsverhältnis, meine Damen und Herren, verabschieden wir uns nach diesem Gespräch im alpha-forum. Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. Herr Minister im Ruhestand, Herr Professor Dr. Scholz, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

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