Lucias Augen Zu Francesco Furinis Patronin Der Kunstbetrachtung
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Zurich Open Repository and Archive University of Zurich Main Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich www.zora.uzh.ch Year: 2005 Lucias Augen – zu Francesco Furinis Patronin der Kunstbetrachtung Weddigen, Tristan Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-74531 Book Section Published Version Originally published at: Weddigen, Tristan (2005). Lucias Augen – zu Francesco Furinis Patronin der Kunstbetrachtung. In: Schütze, Sebastian. Kunst und ihre Betrachter in der frühen Neuzeit: Ansichten, Standpunkte, Perspek- tiven. Berlin: Reimer, 93-143. Tristan Weddigen Lucias Augen Zu Francesco Furinis Patronin der Kunstbetrachtung Ein Pseudoporträt Francesco Furinis aus den 1630er Jahren (Abb. 1) erlaubt es, einen der dominierenden Sehdiskurse des Seicento nachzuvollziehen und somit einen Aspekt des Sehens und Aussehens des Zeitalters der katholischen Reform zu rekonstruieren.1 Mit dem Rücken zum Betrachter Nur wenig ist auf den ersten Blick zu sehen, kaum mehr als ein milchiger, von Schatten umgebener Fleck, dessen verschwimmende Konturen sich bei näherer Betrachtung als der Rücken einer jungen, vom Betrachter abgewandten Frau vor einer tiefbraunen Wand herausstellen. Von ihrem verlorenen Profi l sind allein die rechte Wange und das Ohr zu erahnen, und unser Auge weilt auf dem kastanien- braunen, locker gefl ochtenen und mit einem blauen Band geschnürten Haar. Das steile Licht fällt auf Nacken, Schulter, Rücken und Gewandfalten. Es beleuchtet einen Körper in einem geschlossenen, intimen Bildraum, dessen Öffnung, sei es Fenster oder Tür, mit der ästhetischen Grenze der Bildfl äche zusammenfällt. Die Porträtierte würdigt den implizierten Betrachter keines Blickes, man erkennt nicht, wer sie sein, wen das Gemälde darstellen soll. Die Sehgewohnheit, die beim Porträtformat Identität und Frontalität erwarten läßt, wird enttäuscht. Es ist, als wolle sich die Figur unserem fragenden Blick entziehen, indem sie uns den Rücken kehrt. Ihre ostentative Abwendung wirkt, als ignoriere sie uns bewusst.2 Das Bild nimmt uns wahr, ohne uns anzuschauen, und wir erfahren uns als solche, deren Blick wahrgenommen, aber nicht erwidert wird – ein „schein- bar sinnloses Bild“, ein „perverses Porträt“, das uns als Betrachtende konstituiert.3 94 Tristan Weddigen Abb. 1: Francesco Furini, Heilige Lucia, 1630er Jahre, Öl auf Leinwand, 68,5 x 51,8 cm, Rom, Galleria Spada Amor artifi cialis Indem wir veranlasst werden, uns als Beschauer zu identifi zieren und uns zu ver- halten, als ob das Bild uns wahrnähme, wirkt die scheinbar lebendige Präsenz der nur halb Dargestellten umso greifbarer. Daß bloßes Andeuten durch teil- weises Verbergen, Verdunkeln und Verschleiern die Gegenwart, Lebendigkeit und Begehrlichkeit des Sichtbaren potenziert, ist ein wahrnehmungspsycholo- gischer Gemeinplatz, der von Plinius dem Älteren, über Leon Battista Alberti und Gianlorenzo Bernini, bis zur heutigen Rezeptionsforschung reicht.4 Von der entblößten Schulter der jungen Frau scheinen der dunkelgrüne Umhang, der die elfenbeinerne Haut des Rückendekolltés konträrfarbig belebt, und das hauchdünne weiße Untergewand hinabzugleiten.5 Die skopophile Neu- gier des Betrachters wird durch die wenigen sichtbaren Details, wie das dem Rückgrat aufl iegende Haarband, die ausfransende Haarlocke, deren Schatten sich im Nacken schlängelt, die angedeutete Achselfalte und die funkelnde Ohrringperle zu haptischem Verlangen gesteigert. Das entspricht den lyrischen und ästhetischen Topoi der frühen Neuzeit, wonach Liebe durch den Blick entfacht wird, um schließ lich den sinnlichsten, den Tastsinn, anzuregen.6 Lucias Augen – Zu Francesco Furinis Patronin der Kunstbetrachtung 95 Abb. 2: Francesco Furini, Frauenhaupt, 1630er Jahre, Zeichnung, 25,3 x 17,9 cm, Florenz, Gabinetto disegni e stampe degli Uffi zi, Inv. 9693 F Studien weiblicher Hinterköpfe (Abb. 2) und zahlreiche Darstellungen von Frauen im verlorenen Profi l dokumentieren Furinis besonderes Interesse für weibliche Frisuren nach der Natur oder im Stil antiker Plastik.7 Furini hätte sich diesbezüglich mit dem griechischen Malerfürsten Parrhasios vergleichen dürfen: Nach Plinius sei er nicht nur für seine kleinformatigen erotischen Gemälde und für seine Konturen bekannt gewesen, die auch das durch sie Verborgene andeute- ten, sondern er sei auch deswegen in die Geschichte der Kunst eingegangen, weil er als erster dem Haar Eleganz verliehen habe.8 Das lässig offene, vielfach gewundene Haar – das an Ovids Bemerkung „ars casus similis“ über die Fri- sierkunst erinnert – mag zudem, wie Cesare Ripa vorschlägt, als Symbol der Phan tasie der Pittura zu verstehen sein, doch sollen das halb aufgelöste Haar und die halb entblößte Schulter hier vor allem der Dargestellten erotische Prä- senz verleihen.9 Zwischen autonomer Natürlichkeit und vergegenständlichender Ornamentalität schwankend, ersetzt das gebundene und zugleich sich entwindende Haar das Gesicht und die Individualität der Dargestellten, und das Haar wird, wie in Giambattista Marinos Sonetten auf die blonden, fesselnden chiome oder in Dar- stellungen der büßenden Magdalena als Venus im eigenen Pelz, zum Fetisch der 96 Tristan Weddigen Abb. 3: Johann Heinrich Lips zugeschrieben, Frauenhaupt, vor 1798, Kreidezeichnung, 322 x 220 mm, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Porträtsammlung, Inv. XI/128/16348 Frau.10 Die makellose Haut wird durch die grünen Gewandfalten so eingerahmt wie die Perle durch die Goldfassung des Ohrrings, wodurch die Frau – ein gesichtsloses Mädchen mit dem Perlenohrring – zu einem kostbaren, begehrens- werten Leib, zu einem schlichten Schmuckstück verdinglicht wird. Dieses Frauenbild ist zweifellos für einen Männerblick geschaffen und bedient sich eines alten Geschlechterstereotyps: Der Aufmerksamkeits- und Liebesentzug der vergegenständlichten Frau, der durch Verhüllung und Rückenansicht erreicht wird, soll das besitzergreifende Begehren des Voyeurs anfeuern.11 Diese sexis- tische Vision des sich selbst annihilierenden ‚schwachen Geschlechtsʻ bringt Johann Heinrich Lips Weibliche Kopfstudie (Abb. 3) auf den Punkt, die er, ver- mutlich nach einem Vorbild Benedetto Lutis, für Johann Caspar Lavaters Physio- gnomische Fragmente zeichnete:12 „Wenig sieht man von Dir./doch sieht man, dass/du nicht dumm bist./L./1798.“ – Dieser Kommentar Lavaters, der sich in seine frauenfeindliche Physiognomik einreiht, zeugt von der projektiven Imagi- nation eines männlichen Auges, das den Gegenständen erst dann fetischisierte Existenz beimißt, wenn sie noch nicht in seiner Verfügungsgewalt stehen oder sich dieser entziehen.13 Die Attraktivität des weiblichen Bildgegenstandes fördert jene Liebe zum Kunst werk und zur Kunst, die Maler und Sammler teilen: Obwohl sie das Gemälde Lucias Augen – Zu Francesco Furinis Patronin der Kunstbetrachtung 97 Abb. 4: Francesco Furini, Lot und seine Töchter, um 1634, Öl auf Leinwand, 123 x 120 cm, Madrid, Museo del Prado erschaffen und besitzen, entzieht sich ihnen das Dargestellte, je mehr es Hand und Auge verlebendigen und verselbstständigen. So bekannte Bernini, dessen Werk Furini in Rom studierte und bewunderte, daß er seine Skulpturen, seine innamorate, liebe und ihren Marmor nicht behaue, sondern leidenschaftlich ver- zehre.14 Furinis elfenbeinweißes, wachsweiches Rückenporträt stellt seine Farb- fl ächigkeit in einen paragone mit Berninis skulpturalem Pygmalionismus und verbirgt durch erotische Verlebendigung die Künstlichkeit der Kunst – „ars adeo latet arte sua“, wie es in der ovidischen Metamorphose heißt.15 So erstaunt es nicht, wenn Furini in mehreren seiner Figuren, zum Beispiel im Rückenakt in Lot und seine Töchter (Abb. 4), die von ihm vergötterte Medicivenus zitiert, deren Rückseite besondere Wertschätzung genoß, wie dies etwa Johann Joseph Zoffanys Tribuna illustriert.16 Die paradoxe Bildmechanik dieses Gemäl des, des- sen verschatteter Gegenstand kaum eine andere Funktion zukommt, als den Betrach terin nen und Betrachtern die kalte Schulter zu zeigen, verlängert und inten siviert unsere Wahrnehmung. So beobachtete Bernini, daß man von geist- vollen, aber schroffen Kunstwerken, im Gegensatz zu bloß anmutigen, den ersten Blick eher abwende; doch würden diese das Auge sogleich zu sich zurückrufen, um es mit Charme in ihren Bann zu ziehen, wodurch diese Werke immer schöner und schöner wirkten.17 Furinis erotisches Pseudoporträt – ein Bild für den zweiten Blick. 98 Tristan Weddigen Blinde Flecken Beim Abtasten der Malfl äche entdeckt man zwei Flecken, die der erste liebes- blinde Blick übersehen hatte: Die dargestellte Frau präsentiert einen Augapfel und einen zweiten, kaum mehr sichtbaren, in einer fl achen Silbertazza mit Balusterschaft, die sie in der Linken hochhält, als blicke sie über die Schulter zu uns zurück. – Es sind die herausgerissenen Augen der heiligen Lucia von Syrakus.18 Wie die Legenda aurea des Jacobus de Voragine überliefert, verschenkte die verlobte Jungfrau Lucia zur Zeit der diokletianischen Verfolgung ihr zeitliches Erbe an die Armen von Syrakus zum Dank dafür, dass die heilige Agatha ihre Mutter Euthicia geheilt hatte.19 Daraufhin zog ihr Bräutigam sie vor Gericht, wo sie des christlichen Glaubens und der Unzucht angeklagt wurde.20 Um den Heiligen Geist aus ihr zu vertreiben, befahl der Richter Paschasius den Huren- knechten, Lucia zum Freudentempel zu bringen, auf daß sie vom versammelten männlichen Volk zu Tode entehrt würde. Der Heilige Geist machte sie jedoch so schwer, daß tausend Männer und etliche Ochsen sie nicht vom Fleck bewegen, ihre Begießung mit Harn