Wissenschaftund Lehrerbildung

Band 1

Herausgegeben von Peter Geiss und Roland Ißler Peter Geiss /Roland Ißler / Rainer Kaenders (Hg.)

Fachkulturen in der Lehrerbildung

Unter Mitarbeit vonVictor HenriJaeschke

V&Runipress

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ISBN 978-3-8471-0559-6 ISBN 978-3-8470-0559-9 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0559-3 (V&ReLibrary)

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Bonner Zentrums fürLehrerbildung.

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 2016, V&Runipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen /www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenenFällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild:  Rainer Kaenders Druck und Bindung:CPI buchbuecher.de GmbH, Zum AltenBerg24, D-96158Birkach

Gedruckt aufalterungsbeständigem Papier. Inhalt

Robert Glaum Grußwort...... 7

Peter Geiss, Roland Ißler und Rainer Kaenders Fachkulturen in der Lehrerbildung.Einleitung ...... 11

Stephan Berendonk Mathematik als Prozess –amBeispiel des Pythagoras ...... 19

Reinhold Boschki ReligionsdidaktikinTheorieund Praxis.Exemplarische aktuelle Entwürfe 39

Peter Geiss »Wozu brauche ich das alles im Unterricht?«–Geschichtswissenschaftin der Lehrerbildung ...... 61

Roland W. Henke Die Entwicklung philosophischer Urteilskompetenz durch kognitive Konflikte ...... 95

Roland Ißler Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt.Ein bildungsorientierter Ansatz fürdie romanischenFremdsprachendidaktiken ...... 107

Ursula Jünger Grundpositionen zur Ausbildung vonDeutschlehrerinnen und -lehrern am Zentrumfürschulpraktische Lehrerausbildung Bonn ...... 155

Rainer Kaenders Die Ableitung von f ðxÞ¼xnin Schulbücherndreier Zeitphasen .....161 6 Inhalt

Uwe Küchler Fremdsprachendidaktik als interdisziplinäre Wissenschaft: Ökologie, Umweltund die Inhaltsfrage...... 179

Volker Ladenthin Zum Verhältnis vonFachwissenschaft, Fachdidaktik und Bildungswissenschaft...... 195

UlrikeMess Das Leitziel der interkulturellen kommunikativen Handlungskompetenz und seine Konsequenzen fürdie Ausbildungvon Lehrerinnen und LehrernimFach Englisch ...... 213

Florian Radvan Texttheater.Literarische Edition und Bühne im Deutschunterricht....221

Annette Scheersoi Lebewesenerforschen –biologiedidaktische Ansätze in der Lehrerbildung ...... 241

Werner Schumann Raumkonzepte als Leitlinien fachdidaktischer Ansätze ...... 251

Hiltrud Stärk-Lemaire »Perspektivenwechsel« und »Unterscheidungskunst«. Überlegungenzu den Spezifikaeiner Fachkultur evangelischer Religionanhand einer Umfrage unter Studenten ...... 257

Barbara Utz Bedeutung vonfachdidaktischen und fachwissenschaftlichen Vorkenntnissen fürdie zweite Phase der Lehrerausbildung.Perspektive einer Seminarausbilderin ...... 263

Vera Wethkamp, Thomas Hildebrand und Ulrich Blum Lehramtsstudium Physik an der UniversitätBonn. Praxisorientierte und fachdidaktische Begleitung vom Lernenden zum Lehrenden ...... 281

Abbildungsverzeichnis ...... 301

Autorenverzeichnis ...... 303 Grußwort

Die Lehrerbildung an der UniversitätBonnerfolgtunter besonderen Rahmen- bedingungen. Der Zusammenarbeit der verschiedenen Fachdidaktiken über Fakultätsgrenzen hinweg,mit der Bildungswissenschaftund mit allen anderen Akteuren der Lehrerbildung in der Region Bonn, allen voran dem Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL) Bonn, kommt dabei zentrale Bedeu- tung zu. Als Plattform fürden Austausch zwischen den verschiedenen Betei- ligten wurde die AG Fachdidaktiken am Bonner Zentrum fürLehrerbildung (BZL) ins Lebengerufen. Der vorliegende Band enthält eine Zusammenstellung vonBeiträgen zur ersten Tagung der Arbeitsgemeinschaftam5.und 6. Juni 2014. Dabei spiegeln bereits die Institutionen der Autoren die enge und vertrauens- volle, überdie Grenzen der Universitäthinausgehende Zusammenarbeit in der Lehrerbildung innerhalb der Region Bonn wider. Ichmöchte die Möglichkeit nutzen, zur Veranschaulichung der Besonder- heiten der Lehrerbildung an der UniversitätBonnund zur Bedeutung der AG Fachdidaktiken einige Erläuterungen zu geben. Seit 2011 bietet die Universität Bonn wieder Studiengänge fürdas Lehramt an Gymnasien,Gesamtschulen und Berufskollegs an und setzt damit eine 200-jährige Tradition in Bonn fort, die für ein Jahrzehntunterbrochen war.Maßgeblich fürdie Entscheidungzur Wie- deraufnahme der Lehrerbildung war und ist die Überzeugung,dass sich eine Universität, die sich als international kooperierende Forschungseinrichtung versteht, in der Lehrerbildung engagieren und damit einen weiterenBeitrag zu einem forschungsgeleiteten Bildungssystem erbringen sollte. Die enge Verzah- nung der Universitätmit den Schulen der Region Bonn und die sich daraus ergebenden Entwicklungsmöglichkeiten stellten einen weiteren Beweggrund dar,die Lehrerbildung –imSpannungsfeld zwischen Praxisbezug und Wis- senschaftsnähe –wieder aufzunehmen. Mit dem Neubeginn erfolgtdie Leh- rerbildung im gestuften System mit den Abschlüssen Bachelor of Arts bzw. Bachelor of Science und Master of Education. Die Konzentration aufzwei Lehr- amtstypen beijährlich knapp 400 StudienanfängernimBachelor ermöglicht 8 Grußwort eine intensive Einbindungder Studierenden in ihre Fächer und die Bildungs- wissenschaftwie auch in die Schullandschaftder Ausbildungsregion. Fürdas Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen bietetdie Universität Bonn 18 Fächer an, fürdas Lehramt an Berufskollegs zweiGroßeberufliche Fachrichtungen (Agrarwissenschaft, Ernährungs- und Hauswirtschaftswissen- schaft, beide in Nordrhein-Westfalen an Universitäten exklusiv). Im Bereich der Bildungswissenschaftstehen fürdas lehramtsbezogene Studienangebot drei Professurenzur Verfügung,die dem Bonner Zentrum fürLehrerbildung zuge- ordnet sind. Seit Wiedereinführung der Lehrerbildung ist die Zahl der fachdi- daktischen Professuren aufzehn gestiegen. In einer Reihe vonFächernerfolgt die fachdidaktische Qualifizierung der Studierenden durch abgeordnete Lehrer. Die fachdidaktischen Professuren und die Abordnungslehrer sind den Fakul- täten zugeordnet, um so dem Anspruch enger wechselseitiger Bezugnahme von Fachwissenschaften und Fachdidaktiken gerechtzuwerden. In den Jahren 2011 bis 2014 sind die Lehramtsstudiengänge komplett ak- kreditiertworden. Trotzdem befindetsich die Lehrerbildung an der Universität Bonn vier Jahre nach ihrer Wiederaufnahme noch in der Aufbauphase. Dabei ist die innovative Verbindung vonPraxisbezug und Wissenschaftsnähe in der Lehrerbildung zugleich Leitbild wiepermanente Herausforderung,deren Ziel darin besteht, die Lehramtsstudierenden umfassend mit den Herausforderun- gen einer komplexen Berufspraxis vertrautzumachen. Gleichzeitig soll das Lehramtsstudium an der UniversitätBonn in Bildungswissenschaft, Fachdi- daktiken und Fachwissenschaften forschungs- und wissenschaftsnaherfolgen und so dem Selbstverständnis einer Forschungsuniversitätund den Heraus- forderungen moderner und global agierender Wissensgesellschaften entspre- chen. Das impliziertdie Integration des Lehramtsstudiums in das fachwissen- schaftliche Studium, beider den Fachdidaktiken eine wichtige Mittlerposition zukommt, aber auch die kontinuierliche wissenschaftliche Begleitung und Re- flexion vonLehrerbildung und Praxisphasen, die wesentlich vonBildungswis- senschaftund Fachdidaktiken getragen wird. Ziel ist es, die Absolventen des Lehramtsstudiums als »reflectivepractitioner« (Donald A. Schön) fürReferen- dariat und Berufstätigkeit qualifiziertzuhaben. Es ist sicher eine Stärkeder Lehrerbildung an der UniversitätBonn, dass sich durch zehnjährige Unterbrechung und Neustartzum Wintersemester 2011/12 besondereGestaltungsmöglichkeiten ergeben haben. Dazu gehört die vollstän- dige Umsetzung der Strukturvorgabendes Lehrerausbildungsgesetzes 2009: Polyvalenz des Bachelorabschlusses beiEinbettung berufsbezogenerPraktika, Ausrichtung des Master of Education aufdas Berufsziel Lehramt mit den Pflichtmodulen »Deutsch fürSchülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsge- schichte« sowie»Diagnose und Förderung« (Stichwort: Heterogenität) und das Praxissemester. Grußwort 9

Eine Besonderheit innerhalb der Lehrerbildung in Nordrhein-Westfalen ist der Zuschnitt der Ausbildungsregion Bonn:Dem BZL ist genauein ZfsL zuge- ordnet. Zudem ermöglichtdie räumliche Nähe einen sehr engen Austausch mit den 42 Ausbildungsschulen der Region.Diese enge Verzahnung der verschie- denen Bereiche der Lehrerbildung,wie sie die Region Bonn aufweist,ist in Nordrhein-Westfalen einzigartig. Sie hat bisher bereits ihren Ausdruck in der gemeinsamen Vorbereitung des Praxissemesters gefunden, beider in fächer- spezifischen Arbeitsgruppen Fachdidaktiker,die Fachleiter des ZfsL Bonn und Lehrer der Ausbildungsschulen eng kooperierten und aufeinander abgestimmte Curricula fürdie Lernorte Universität, ZfsL und Schule entwickelten. Wiedie ersten Reaktionen vonLehrenden und Studierenden im seit September 2015 laufenden ersten Durchgang des Praxissemesters zeigen, war die Einführung des Praxissemesters im Rahmen des Studiengangs Master of Education sehr er- folgreich. Trotz der mehrjährigen Unterbrechung kann die Lehrerbildung an beste- hende intensiveKontakte zu den Schulen der Region, etwa überdas Fördern- Fordern-Forschen-Programm1 anknüpfen. Zudem bestehen mit sechs Gymna- sien in der Region (davoneines mit einem Schwerpunkt in der Hochbegab- tenförderung,hinzu kommt eine Kooperationsschule in Spanien) feste Koope- rationsvereinbarungen. Zahlreiche Fächer bieten seit Jahren Maßnahmen zur Fortbildung vonLehrernan. Bewährte Kontakte bestehen auch zu außerschu- lischen Bildungseinrichtungen, insbesondere zum Deutschen Museum Bonn, zum Forschungsmuseum Alexander Koenig,zum Haus der Geschichte und zum RheinischenLandesmuseum. In dem nunvorliegenden Band mit den Beiträgen zur ersten Tagung der AG Fachdidaktiken unter dem Motto »Fachkulturen in der Lehrerbildung« wird die vorstehendskizzierteSituationder Lehrerbildung an der UniversitätBonnund der Region widergespiegelt.Dazu gehören die Herausarbeitung der Unter- schiede und Gemeinsamkeiten der verschiedenen Fachdidaktiken ebenso wie der intensiveAustausch mit dem ZfsL und den Schulen der Region. Ichfreue mich sehr,dass diese Bedeutung auch vom Ministerium fürInnovation, Wis- senschaftund Forschung Nordrhein-Westfalen anerkanntwird, was sich in der expliziten Zusagevon Mitteln fürdie Durchführung vonNachfolgetagungen in den nächsten Jahren manifestiert. Die nachfolgenden Beiträge enthaltenBeob- achtungen, Erfahrungen, Analysen, Schlussfolgerungen und Ausblickevieler Kolleginnen und Kollegen ausUniversitätund ZfsL zum gegenwärtigen Stand der Lehrerbildung.Mit den dabei beleuchteten sehr unterschiedlichen Facetten der Lehrerbildung und der Fachdidaktikengibt der Band zugleich eine Stand- ortbestimmung und sehr anregende Ausblickezur weiteren Entwicklung. In

1Nähere Informationen hierzu unter URL:www.fff.uni-bonn.de [19.12.2015]. 10 Grußwort diesem Sinn wünsche ich den Herausgebernviel Erfolg und guteResonanz mit der nunbegonnenen Reihe.

Bonn, im Dezember 2015 Prof. Dr.RobertGlaum, Vorsitzender des Vorstandsdes Bonner Zentrums fürLehrerbildung (BZL) Peter Geiss, Roland Ißler und Rainer Kaenders

Fachkulturen in der Lehrerbildung. Einleitung

»Lehrer sollen Schüler unterrichten, nichtFächer!«1 –Wer hat ihn nichtir- gendwann gehört,diesen beliebten und scheinbar so richtigen Satz?Aberauch wenn er gerade am Übergang vonder Wissenschaftswelt der Universitätindie schulische Praxis überzeugend wirken mag,soist er doch beinäherer Be- trachtung absurd. Wasbedeutet »unterrichten«, wenn es nichtumeinen Ge- genstand geht, der unterrichtet werden soll?Will die Schule sich nichtmit reinen Erziehungsfunktionen begnügen, so kann Unterrichtnichtanders legitimiert werden als durch die Vermittlung vonInhalten in Fächern. Es müsste daher heißen:»Lehrer sollen Schüler unterrichten, und zwar durchaus und nichtzu- letzt in Fächern.«2 Zwar trifft es zu, dass die gesellschaftlicheWirklichkeit heute eine Vielzahl vonAnforderungen an Lehrkräftestellt,die mit den vonihnen studierten Dis- ziplinen nichtviel zu tun haben. Da gilt es etwa, schwierige Gespräche mit Eltern zu führen, die sich durch die Erziehung ihrer Kinder überfordertsehen, Schüler zu schützen, die sich im Internet der Anprangerung durch Gleichaltrige aus- gesetzt sehen;esgilt, soziale Leistungen vonEinzelnen und Gruppen durch ermutigendes Lob zu würdigen, und es gehört zu den grundlegenden Notwen- digkeiten des Lehrberufs, der Vielfalt der Schüler in einer Klasse täglich aufs Neue gerechtzuwerden. Gefragtsind Persönlichkeiten, die durch Humor und vielleichtsogar eine Portion Selbstironiedeutlich machen, dass Lehrer auch nur Menschen sind –und eben nichtenzyklopädische Wissensvermittler und un- fehlbare Richter überdie Leistung anderer.3 All dies sind Herausforderungen, die wenig mit den universitären Wissenschaftsdisziplinenzusammenhängen

1Hierzit. nach GertraudEibl, Lehrer sollen Schüler unterrichten, nichtFächer. Überden Erfolg alternativer Bildungskonzepte, in:Die Zeit, 24.01.2004, zit. nach URL:http://www.zeit.de/ 2004/27/alternbildung [16.10.2015]. 2Bei aufPersonen bezogenen Begriffen wie»Schüler«, »Lehrer« etc. stehtdie grammatisch männlicheForm immer fürbeide Geschlechter. 3Vgl.dazu z.B. Hermann Giesecke, WasLehrerleisten. Porträteines schwierigen Berufes, Weinheim /München 2001. 12 Peter Geiss, Roland Ißler und Rainer Kaenders und aufdie man sich überdies auch durch noch so ausgefeilte Lehrangebote und ›Trockenübungen‹ schlechtvorbereiten kann,weil sie nichtmit vermittelbaren Techniken, sondernzentral mit dem zusammenhängen, was man mit den zu UnrechtimRuch des Altmodischen stehenden Begriffen ›Persönlichkeit‹ und ›Erfahrung‹ bezeichnen kann.4 Ein Denkfehler mancher Teilnehmer an aktuellen Bildungsdebatten besteht darin, pädagogische Fähigkeiten gegen fachspezifische Qualifikationen auszu- spielen und so fast den Eindruck zu vermitteln, es sei fürErfolg im Lehrberuf nichtsowichtig, ob man nun Ahnung vom eigenen Fach habe oder nicht, so- lange man nur ›mit Menschen umgehen‹könne. Dieses Auseinanderdividieren fachlicher und pädagogischer beziehungsweise allgemein menschlicher Vor- aussetzungen untergräbt die Professionalitätdes Lehramts. Spätestens wenn Referendareinder gymnasialen Oberstufe innovativen Geschichtsunterrichtzu so komplexen Längsschnitt-Reihen wie»Friedensschlüsse und Ordnungen des Friedens in der Moderne« konzipieren und dabei mit ihren Schülerneinmal eben »die Stabilitätder Friedensordnungen von1815 und 1919« im Vergleich »beurteilen«müssen, stellen sie fest, dass fachliches Wissen und die Beherr- schung fachwissenschaftlicher Methoden alles andereals praxisfernund un- wichtigsind.5 Ähnlichesgilt fürdie modale Verwendung vonTempora in den romanischen Schulsprachen oder fürkomplexe gesellschaftliche und politische Einschätzungen im Kontext des Fremdsprachenunterrichts, etwa zur Unab- hängigkeit Kataloniens, zum Laizismus in Frankreich oder zum italienischen Parteiensystem. Mathematiklehrer sollen ihre Schüler dazu bringen, dass sie »mathematische Gegenstände und Sachverhalte, repräsentiertinSprache, Symbolen und Bildern, als geistige Schöpfungen verstehen und weiterentwi- ckeln.«6 Sie unterrichten griechischeGeometrieund modernen Zahlbegriff, wozu sie den Unterschied zwischen Inkommensurabilitätund Irrationalität kennen und dannbeispielsweiseinder Lage sein sollten, schriftliche Division, den euklidischen Algorithmus der Wechselwegnahme, die Irrationalitätvon

4Zur Lehrerpersönlichkeit und zur Bedeutung vonHumor jüngst der ehemalige Schulleiter und Beschwerdemanager Dirk Stötzer im Interview mit Julia Schaaf:Die Lehrerpersönlichkeit kannman nichtlernen, in:Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 23.08.2015, zit. nach dem Digitalisat, erreichbar unter URL:http://faz-archiv-approved.faz.net/intranet/biblionet/ r_suche/FAZ.ein [16.12.2015];vgl.zur Rolle der Persönlichkeit auch im Kontext der schul- praktischen Lehrerausbildungden Beitrag vonBarbara Utzimvorliegenden Band. 5Inhaltsfeld 7in: Ministerium fürSchule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan fürdie Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein- Westfalen. Geschichte, Düsseldorf 2014, S. 33, zit. nach URL:http://www.schulentwicklung. nrw.de/lehrplaene/upload/klp_SII/ge/KLP_GOSt_Geschichte.pdf [16.10.2015]. 6Ministerium fürSchule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen(Hg.), Kern- lehrplan fürdas Gymnasium –Sekundarstufe I(G8) in Nordrhein-Westfalen. Mathematik, Frechen 2007, S. 11, zit. nach URL:http://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/ lehrplaene_download/gymnasium_g8/gym8_mathematik.pdf [16.10.2015]. Einleitung 13

Zahlen, das Schubfachprinzip, den kleinen Satz vonFermat und den Satz von Euler oder die Polynomdivision fürdie langfristige Begriffsentwicklung zu nutzen. Beispiele ausanderen Fächernließen sich mühelos finden. Schon in der Sekundarstufe Iund selbst im Primarstufenunterrichtwird sich schnell die Erfahrung machen lassen, dass fachwissenschaftlicheund –untrennbar damit verbunden –fachdidaktische Qualifikationen fürdas Meisternalltäglicher Un- terrichtsherausforderungen unabdingbar sind.7 Wiesoll ein fachlicher Inhalt denn kindgerechtaufbereitet und perspektiviertwerden, wennerzuvor nicht wenigstens ansatzweise in seinem wissenschaftlichen Gehalt erfasstwurde?Der ChemiedidaktikerDavid S. Di Fuccia hat dazu im Rekurs aufdie COACTIV- Studie eine ebenso schlichte wietreffende Einsichtformuliert: »Was man nicht weiß,kann man nichtverstehen[,] und was man nichtverstanden hat,kann man nichterklären.«8 Kinder sind Forscher –und zwar oft schon lange bevorsie erstmals im Leben die Schwelle eines Schulgebäudes überschreiten. Es ist ein Irrtum, zu glauben, guter Unterrichtmüsse sie gewissermaßen vor der Wissenschaftschützen, und daraus die Forderungabzuleiten, schon LehramtsanwärternFragen, Methoden und Erträge fachwissenschaftlicher Forschung nachMöglichkeit nur in ho- möopathischen Dosen zu verabreichen. Werander Schule unterrichtet, erlebt vielfach,dass Kinder den Dingen aufden Grund gehen wollen und fachlich fundierte Antworten aufihre Fragen erwarten.9 Schon ein Fünfjähriger kann nach der Unendlichkeit der Zahlen fragenoder sich dafürinteressieren, wiesich

7Auf einen Zusammenhang zwischen fachlichem und fachdidaktischemWissen weisen Krauss u.a. mit Blick aufgymnasiale Lehrkräftehin, sehen ihn aber weniger fürLehrkräfteanderer Schulformen:Stefan Krauss u.a.,Die Untersuchung des professionellen Wissens deutscher Mathematik-Lehrerinnen und -LehrerimRahmen der COACTIV-Studie, in:Journal für Mathematikdidaktik(JMD) 29, 3/4 (2008), S. 223–258, hier S. 251, zit. nach URL:http://www. mathematik.uni-regensburg.de/Didaktik/studium_krauss_downloads_art1_COACTIV. pdf[02.10.2015]. 8David S. Di Fuccia, Fachlichkeit als wichtiger Baustein der Lehrerbildung:Blick in die ver- schiedenen Bundesländer,Rede im Rahmen der Fachtagung »Lehrerbildung in Bayern. Professionalitätund Qualität«, 20. November 2010, ausgerichtet vonder Arbeitsgemeinschaft Bayerischer Lehrerverbände, S. 3, zit. nach URL:http://www.abl-lehrerverbaende.de/mobile/ smartphone/downloads/vortrag-prof-di-fuccia.pdf [02.10.2015]. 9Vgl.etwa die vonder Deutschen Kinder-und Jugendstiftung herausgegebene Broschüre »Kinder entdecken die Welt. Forschendes Lernen in Lernwerkstätten vonKitas und Grund- schulen«, Berlin o. J.,verfügbar unter URL:https://www.dkjs.de/fileadmin/Redaktion/user_ upload/Broschuere_Kinder_entdecken_die_Welt.pdf[16.10.2015].Auf Forschungsinteres- sen vonKindern und Jugendlichen reagiertdie UniversitätBonn u.a. mit folgenden Ange- boten:»Kinderuni«, Informationunter URL:http://www3.uni-bonn.de/studium/junge-uni/ kinderuni [20.10.2015];»Fördern, Fordern, Forschen. Frühstudium fürSchüler«, koordiniert vonThoralf Räsch, Information unter URL:http://www.fff.uni-bonn.de/projekt [20.10. 2015]. 14 Peter Geiss, Roland Ißler und Rainer Kaenders

Vulkanausbrüche vorhersagenlassen, warum Ebbeund Flut einander in be- stimmten Zeiträumen abwechseln, welche Akkorde dissonantklingen, wo das Weltall endet und wann es entstandenist oder warum die Menschen gegen- einander Krieg führen. Damit betritt ein Kind zweifellos vonsich ausdas weite und abenteuerliche Land der Forschung.Warum sollte man ihm durch ver- meintlich ›kindgerechte‹ Wissenschaftsferne in Erziehung und Unterrichtdie Suche nach Antworten verweigern? Mit Blick aufeine motivierende Gestaltung schulischer Lernprozesseist die in einem wissenschaftlichen Studium erworbene Fachkompetenz ebenso unab- dingbar wiedie Identifikation mit der eigenen Disziplin bzw.den Disziplinen. Fürein Fach begeisternkannbekanntlich nur,wer selbst Feuer und Flamme dafürist –und dies setzt eine Vertrautheit mit disziplinärenFragen, Gegen- ständen und Methoden voraus, die sich ohne ein dezidiertwissenschaftlich ausgerichtetes Studium wohl kaum erreichen lässt.10 Nurdie sichere Kenntnis fachwissenschaftlicher Inhalte ermöglichtauch die richtige Einschätzung ihres didaktischen Potenzials, ihrer Komplikationen und Grenzen.11 Fachliche Talente kann nurein Lehrer entdecken, der mit beiden Beinen aufdem Boden des Faches steht. Auch die pädagogische Autoritätist zwar nichtausschließlich, aber doch wesentlich davonabhängig,dass Lehrkräfte überein solides fachwissenschaft- liches Fundamentverfügen. Wenig unterminiertdiese AutoritätimSchulalltag stärker,als vonanderen Leistungen zu verlangen, die man selbst nichterbringen und beiehrlicher Betrachtung auch nichtbeurteilenkann. Werdagegen insge- samt überein hohes fachwissenschaftliches Kompetenzniveauverfügt,wird Wissenslücken ohne Angst vor einem Gesichtsverlust einräumen können und so auch deutlich machen, dass der Prozess des fachlichen Lernens mit dem Uni- versitätsabschluss keineswegs endet. Ausgehendvon derAnnahme, dassgerade ein in hohemMaßepraxis- orientiertesLehramtsstudiumwesentlich ausden universitärenDisziplinen heraus zu entwickelnist, habendas Bonner Zentrum fürLehrerbildung(BZL) und dieHerausgeber desvorliegenden Bandesgemeinsam Kollegen aus Uni- versitätund schulpraktischer Lehrerausbildungdazueingeladen, sich Ge- danken überdie Rolle derFachkulturen12 in der Lehrerbildungzumachen.

10 Vgl. Krauss u.a.,Die Untersuchung des professionellen Wissens deutscher Mathematik- Lehrerinnen und -Lehrer,S.228;fürden Geschichtsunterricht: Horst Gies, Geschichtsun- terricht. Ein Handbuch zur Unterrichtsplanung,inZusammenarbeit mit Michele Barricelli und MatthiasToepfer,Köln u.a. 2004 (UTB 2619), S. 27, zit. nach dem Digitalisatunter URL: http://www.utb-studi-e-book.de/ [17.10.2015]. 11 Vgl. Lieselotte Steinbrügge, Didaktische Transformationen.Fremdsprachendidaktik zwi- schen Unterrichtspraxis und philologischer Wissenschaft, in:AdelheidSchumann /Dies. (Hg.), Didaktische Transformation und Konstruktion.Zum Verhältnis vonFachwissenschaft und Fremdsprachendidaktik, Frankfurt a.M. 2008, S. 13–21, hier S. 19. 12 Vgl. Ludwig Huber,Fachkulturen: Überdie Mühen der Verständigungzwischen den Dis- Einleitung 15

Hieraus sindVorträge einer Tagung derBonner Fachdidaktiken am 5. und 6. Juni 2014 –der ersten seit Wiedereinführung desLehramtsstudiumsander Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität–hervorgegangen,die der vor- liegende Band in teilweise erweitertenund überarbeiteten Aufsatzfassungen dokumentiert. Sehr gefreuthaben wiruns darüber, dass mehrereVertreter des Bonner Zentrums fürschulpraktischeLehrerausbildung(ZfsL) die Tagung durchStatements um eineunmittelbarePraxisperspektive bereichert haben. IhrenBeitrag möchtenwir auchdeshalb mit besonderer Dankbarkeither- vorheben, weil diesnichtzuihrem Alltagsgeschäft gehört.Die unterdem Rubrum »Praxisperspektiven« versammeltenBeiträge rekurrieren unmittel- bar aufunterrichtspraktische Erfahrungen und aktuelleAusbildungsdiskurse der schulpraktischen Lehrerausbildung. Besonders in den hier leider nichtzudokumentierenden Diskussionen zwi- schen den fachbezogenen Vorträgen wurde deutlich, dass die Bonner Lehrer- bildung interdisziplinäre Brückenschläge unterstützt, die in einem so weiten Fächerspektrumwohl sonst nurinwenigen Bereichen der Universitätmöglich sind. Vielleichtkönnen sie überdas Feldder Didaktiken hinaus dabei helfen, das Gespräch zwischen Disziplinen zu fördern, die fürgewöhnlich nichtsohäufig miteinander in Kontakt kommen. Ludwig Huberging davonaus, dass »Hoch- schulkultur« als Resultatenger und nichtnur oberflächlicher interdisziplinärer Vernetzung dann entstehen kann, wenn ausden Horizonten der verschiedenen Fachkulturen heraus gemeinsamaneiner »Dritten Sache« gearbeitet wird.13 Möglicherweise kann die Lehrerbildung genaudie Funktion einer solchen nicht in den Einzeldisziplinen aufgehenden »Sache« übernehmen, sofern sie –wie in Bonn glücklicherweise der Fall –inden Fächernverankert ist und nicht unverbunden neben ihnen steht. Zur interdisziplinärenkommtdie interinsti- tutionelle Dimension:Das Praxissemester,dessen erste Durchführung ausge- sprochen wieunausgesprochen einen wesentlichen perspektivischen Flucht- punkt der Tagung bildete, führte bereits in seiner Planungsphase zu einer in dieser Form zuvor wohl kaum erreichten Intensitätdes didaktischen Dialogs und der Zusammenarbeit zwischen den Institutionen der Schule bzw.schul- praktischen Lehrerausbildung und der Universität.

ziplinen, in:Neue Sammlung 31, 1(1991), S. 3–24, zit. nach URL:http://pub.uni-bielefeld. de/luur/download?func=downloadFile&recordOId=1781659&fileOId=2313403[02.10. 2015]. 13 Ebd.,S.21(im Rekurs aufBrecht). 16 Peter Geiss, Roland Ißler und Rainer Kaenders

Dank

An der Tagung »Fachkulturen in der Lehrerbildung« und der ausihr hervor- gegangenen Publikation haben zahlreiche Akteure mitgewirkt, denen wiran dieser Stelle herzlich danken möchten. Unser besonderer Dank gilt selbstver- ständlich den Autoren der in diesem Band versammeltenBeiträge sowieHerrn Professor Dr.RobertGlaum als dem Vorsitzenden des BZL fürsein Grußwort. Zu großem Dank verpflichtet sind wirauch HerrnDr. Robert Steegers, dem Ge- schäftsführer des BZL, der nachgemeinsamenkonzeptionellen Überlegungen im Vorfeld die Leitung der Tagungsorganisation übernommen hat. Dankende Erwähnung verdient überdies die großzügige Übernahme des Druckkostenzu- schusses durch das BZL, die das Erscheinen des vorliegenden Bandes ermöglicht hat. Unserherzlicher Dank gilt nichtzuletzt Herrn Victor HenriJaeschke, der uns als studentische Hilfskraft beim Korrekturlesen maßgeblich unterstützt, immer wieder sinnvolle Verbesserungsvorschläge gemachtund die formale Vereinheitlichung der Manuskripte mit einem Höchstmaß an Präzision über- nommen hat. Fürdie routinierte Mitwirkung an der Korrespondenz mit den Beteiligten danken wirFrauKerrinPeschke, fürdie professionelle Betreuung der Publikation dem Verlag,insbesondere Herrn Oliver Kätsch und FrauAnke Moseberg.

Die Herausgeber

Literaturund weitere Informationsquellen

Deutsche Kinder-und Jugendstiftung (Hg.), Kinder entdecken die Welt. Forschendes Lernen in Lernwerkstätten vonKitas und Grundschulen,Berlin o. J.,verfügbar unter URL:https://www.dkjs.de/fileadmin/Redaktion/user_upload/Broschuere_Kinder_ent decken_die_Welt.pdf[16.10.2015]. Di Fuccia, DavidS., Fachlichkeit als wichtiger Baustein der Lehrerbildung:Blick in die verschiedenen Bundesländer,Rede im Rahmen der Fachtagung »Lehrerbildung in Bayern. Professionalitätund Qualität«, 20. November 2010, ausgerichtet vonder Ar- beitsgemeinschaftBayerischer Lehrerverbände, zit. nach URL:http://www.abl-lehrer verbaende.de/mobile/smartphone/downloads/vortrag-prof-di-fuccia.pdf[02.10. 2015]. Eibl, Gertraud, Lehrer sollen Schüler unterrichten, nichtFächer. Überden Erfolg alter- nativer Bildungskonzepte, in:Die Zeit, 24.01.2004, zit. nach URL:http://www.zeit.de/ 2004/27/alternbildung [16.10. 2015]. Gies, Horst, Geschichtsunterricht. Ein Handbuch zur Unterrichtsplanung,inZusam- menarbeit mit MicheleBarricelli und Matthias Toepfer,Köln u.a. 2004 (UTB 2619), zit. nach dem Digitalisatunter URL:http://www.utb-studi-e-book.de/ [17.10.2015]. Einleitung 17

Giesecke, Hermann, WasLehrer leisten. Porträteines schwierigen Berufes, Weinheim / München 2001. Huber, Ludwig,Fachkulturen: Überdie Mühen der Verständigung zwischen den Diszi- plinen, in:Neue Sammlung 31, 1(1991), S. 3–24, zit. nach URL:http://pub.uni-biele feld.de/luur/download?func=downloadFile&recordOId=1781659&fileOId=2313403 [02.10.2015]. Krauss, Stefanu.a., Die Untersuchung des professionellen Wissens deutscherMathema- tik-Lehrerinnen und -Lehrer im Rahmen der COACTIV-Studie,in: Journal fürMa- thematikdidaktik (JMD) 29, 3/4 (2008), S. 223–258, zit. nachURL:http://www.ma thematik.uni-regensburg.de/Didaktik/studium_krauss_downloads_art1_COACTIV. pdf [02.10. 2015]. Ministerium fürSchule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan fürdie Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein- Westfalen.Geschichte, Düsseldorf 2014,zit.nach URL:http://www.schulentwicklung. nrw.de/lehrplaene/upload/klp_SII/ge/KLP_GOSt_Geschichte.pdf[16.10. 2015]. Dass. (Hg.), Kernlehrplan fürdas Gymnasium –Sekundarstufe I(G8) in Nordrhein- Westfalen.Mathematik, Frechen 2007, zit. nach URL:http://www.schulentwicklung. nrw.de/lehrplaene/upload/lehrplaene_download/gymnasium_g8/gym8_mathematik. pdf [16.10. 2015]. Rheinische Friedrich-Wilhelms-UniversitätBonn,Programm »Kinderuni«, Internetprä- sentation unter URL:http://www3.uni-bonn.de/studium/junge-uni/kinderuni [20.10. 2015]. Dies.,Programm »Fördern, Fordern, Forschen. Frühstudium fürSchüler«, koordiniert vonThoralf Räsch, Internetpräsentation unter URL:http://www.fff.uni-bonn.de/pro jekt [20.10.2015]. Steinbrügge, Lieselotte, Didaktische Transformationen. Fremdsprachendidaktikzwi- schen Unterrichtspraxis und philologischer Wissenschaft, in:Adelheid Schumann/ Dies. (Hg.), Didaktische Transformation und Konstruktion.Zum Verhältnis von Fachwissenschaftund Fremdsprachendidaktik, Frankfurta.M. 2008, S. 13–21. Stötzer,Dirk, im Interview mit Julia Schaaf:Die Lehrerpersönlichkeit kannman nicht lernen, in:Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung,23.08. 2015, zit. nach dem Digi- talisat, erreichbar unter URL:http://faz-archiv-approved.faz.net/intranet/biblionet/r_ suche/FAZ.ein [16.12.2015].

Diese Einleitung bindet ausschließlich die Herausgeber des vorliegenden Ban- des.

Stephan Berendonk

Mathematik als Prozess–am Beispiel des Pythagoras

1. Rhetorisches (aus der Mathematikdidaktik)

»Vom Künstler hatte man schon lange gefordert, daß er ein Schöpfer sei, aber wer Wissenschaftbetrieb,hieß ein Gelehrter, savant, learned man,einer,der gelernt hatte, der wusste. Heute heißterForscher.Man lernt nichtWissenschaft,sondern man er- schafftsie, wiedererschaffend oder neuschaffend. Aufden Höhen des Wissenschafts- betriebs ist uns das heute geläufig;aberbedeutet das auch etwas in den Niederungen? […] Istdies Wiedererschaffendürfen ein Vorrechterwachsener Mathematikeroder haben Heranwachsende –Studenten und Schüler –auch das Recht, sich die Mathe- matik wiedererschaffend zu assimilieren?[…] Wortewie ›Sprache‹ oder ›Mathematik‹ haben eine Doppelbedeutung.Sie können eine Tätigkeit bezeichnen oder auch das Resultat dieser Tätigkeit. Nach diesen zwei Gesichtspunkten kann man sie auch un- terrichten, als ein Fertigprodukt oder als etwas neu zu Entdeckendes,zuErfindendes. Das erste ist die traditionelle Methode, zum zweiten streben heute die Erzieher.«1 Diese Wortestammen vonHans Freudenthal ausdem Jahr 1963. Wieist die Situation heute?Streben die Erzieher noch immer an, Mathematik als etwaszu Entdeckendes zu unterrichten?Bevorwir dieser Frage nachgehen, werden wir uns selbst in die ›Niederungen‹ der Schulmathematikbegeben und schauen, ob wirdorterfolgreich wiedererschaffend tätigsein können. Der Traumvom Entdeckenden Lernen im Mathematikunterricht, der durch Hans Freudenthal so wortgewaltig propagiertund im deutschsprachigen Raum beispielsweisevon Heinrich Winter und Erich Wittmanngelebt und konkreti- siertwurde, ist auch heute noch Teil mathematikdidaktischer Forschung.In seinem Beitrag »Entdeckendes Lernen –Produktives Üben«2 weiß Timo Leuders

1HansFreudenthal, Wasist Axiomatik und welchen Bildungswertkannsie haben?, in:Der Mathematikunterricht, Heft 4(1963), S. 5–29, hier S. 11f. 2Timo Leuders, Entdeckendes Lernen –Produktives Üben, in:Helmut Linneweber-Lam- merskitten,Fachdidaktik Mathematik–Grundbildung und KompetenzaufbauimUnterricht der Sek. Iund II, Seelze 2014, S. 236–263. 20 Stephan Berendonk inzwischen vier verschiedene Formen des Entdeckenden Lernens zu unter- scheiden. Übereine dieser Varianten, das problemgenetische Lernen,schreibt er:

»Genetisches Lernen wird aufgefasst als der durch Probleme angestoßeneindividuelle, aktiveVollzug eines Prozesses der Konstruktion eines mathematischen Begriffes oder Zusammenhangs, der sich schließlich als Lösung des Ausgangsproblems erweist.[…] Damit lässt sich genetisches Lernen sowohl als Form des problembasierten Lernens verstehen, mitunter auch als ›learning by design‹. […] Eine besondere Qualitätdes problemgenetischen Lernens bestehtdarin, dass Lernende hier ›Mathematik in statu nascendi‹ erleben. […] Schülerinnen und Schüler werden nichtmit ›fertiger Mathe- matik‹ konfrontiert, sondern nähernsich den mathematischen Inhalten überderen ›Kernideen‹ ausder Vorschauperspektive. […] Ein genetischerLernweg trägt so zur Sinnstiftung fürdas schulischeMathematiklernen bei.«3

Freudenthal, dem wirhier durch die Wahl des einleitenden Zitats die Hauptrolle im Bemühen um das Entdeckende Lernen zugespielt haben, ist jedoch keines- wegs der Erste, der das Entdecken, nichtdas schließlich Entdeckte, als wich- tigstes Unterrichtsziel sieht. Zeitgleich mit Freudenthal fordertbeispielsweise Alexander Wittenberg einen Unterricht, der die

»Gestaltung des Unterrichtsstoffes ausnützt, um an ihm den Prozeß der Wiederent- deckung Wirklichkeit werden zu lassen.Die geschilderten Grundsätze der Stoffge- staltung laufen ja darauf hinaus:die Gegenstände des Unterrichts so zu organisieren, wiesie tatsächlich in einersachgemäß fortschreitendenUntersuchung ursprünglich hätten erschlossen werden können. Damit ist die Voraussetzung geschaffen, um den Unterrichttatsächlich als eine solcheUntersuchung durchzuführen,und das soll nun wirklich geschehen. Der Schüler soll in folgerichtiger,verhältnismäßig vielseitiger und tiefschürfender Weise in einige wenige und interessante Themenkreise eindringen, deren Gehalt sichallmählich seinem staunenden Blick erschließt. Es soll ein Stück ›lebendiger Mathematik‹ in der Schule erstehen.«4

VonFreudenthals Vorgängernsind, zeitlich rückwärtsschreitend, George Pólya, Otto Toeplitzund Felix Klein zu nennen. Pólya forderte, neben demonstrativen Schlussweisen auch Arten des plausiblen Schließens, die beim Mathematik- treiben eine entscheidende Rolle spielen, wiebeispielsweisedas Bilden von Analogien oder das induktiveSchließen zu vermitteln.5 Toeplitzversuchte nicht nureinzelne Probleme, sondern eine gesamte mathematische Theorie, die In- finitesimalrechnung, aufeine vonihm sogenannte genetische Weise darzustel- len, sodass die in der Theorie vorkommenden Begriffe aufeine natürliche Weise ausder Situation heraus entstehen. Klein kämpft gegen die Sichtweise von

3Ebd.,S.246. 4Alexander I. Wittenberg,Bildungund Mathematik, Stuttgart1963, S. 145. 5Vgl.George Pólya, Mathematik und plausiblesSchliessen, Bd. 1: Induktion und Analogie in der Mathematik, Basel 1962. Mathematik als Prozess –amBeispiel des Pythagoras 21

Mathematik als einem zu konsumierenden Fertigprodukt,indem er in seinen Vorlesungen die historische Entwicklung der Mathematik betont. Felix Klein wäre eine gute Wahl, unsere kleine (subjektive) Zusammenstel- lung vonPersonen, die sich um das Entdeckende Lernen verdientgemacht haben, abzuschließen. Wirmöchten jedoch noch einen in diesem Zusammen- hang wenig rezipierten Mann des 18. Jahrhunderts zu Wort kommen lassen, da er uns beiunserem sogleich in Angriff zu nehmenden Unterfangen, den Satz des Pythagoras wiederzuentdecken, behilflich sein wird. Es gehtumAlexis-Claude Clairaut. Dieser Mann,der bemerkenswerterweise schon im Alter vonachtzehn Jahren in die Französische Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde, veröffentlichtimJahr 1741 ein Lehrbuch zur Geometrie, das, moderngespro- chen, nichtnach der Euklidischen Systematik, sondernnach dem genetischen Prinzip konzipiertsein will. Im Vorwortzudiesem Buch, den Anfangsgründen der Geometrie (ÉlØments de gØomØtrie), schreibt Clairaut: »Mankann, wiemich bedünkt, nichtinAbrede sein, daß diese Methode zum min- desten dazu geschickt sei, diejenigenaufzumuntern,die vor der Trockenheit geome- trischer Wahrheiten,wenn sie ohne Anwendungerscheinen, einen Ekel bekommen könnten. Ichhoffe aber,dass sie einen noch wichtigeren Nutzen haben werde, ich meine, den Verstand zum Nachforschen und Entdecken zu gewöhnen: dennich ver- meidesorgfältig,einen einzigen Satz unter der Gestalt eines Lehrsatzesvorzubringen, nämlich vonderjenigen Beschaffenheit, da bewiesen wird, daß eine Wahrheit ist, ohne zu zeigen, wieman dorthin gelangtist, sie zu entdecken.«6 Nachdem wiruns vonden eindrucksvollen Zitaten haben anstecken lassen, müssen wirklären, ob und wie Entdeckendes Lernen7 im Mathematikunterricht überhaupt zu realisieren ist. Freudenthal denkthierbei an ein Wiederentdecken unter Führung des Lehrers. Um jedoch geeignet führen zu können, benötigt der Lehrer8 wohl ein Repertoire denkbarer Entdeckungswege fürdas jeweils zu Entdeckende. Wirprüfen nunexemplarisch, ob solche Entdeckungsgeschichten dem Lehrer wenigstens fürden populärsten Satzder Schulmathematik, den Satz des Pythagoras,zur Verfügung stehen.

6Alexis-Claude Clairaut, Anfangsgründe der Geometrie, übers. v. F. I. Bierling, Hamburg1753, S. 4f.(des Vorberichts des Verfassers). 7Vgl.Heinrich Winter,Lernen durch Entdecken?, in:mathematik lehren 28 (1988), S. 6–13. 8Mit Lehrer ist immer auch die Lehreringemeint. 22 Stephan Berendonk

2. Heuristisches (zum Satz des Pythagoras)

2.1. Aus Zwei mach Eins

Clairauts Ankündigung,keinen Lehrsatz ohne seine Entdeckung vorzubringen, hat uns neugierig gemacht. Tatsächlich finden wirinseinem Lehrbuch auch den Satz des Pythagoras. Als Ausgangspunkt wählt er ein einfachesund natürliches Problem:Wie kann man auszwei kongruenten Quadraten durch Zerschneiden und Zusammensetzen ein einziges Quadrat (mit doppeltem Flächeninhalt) herstellen?Eine Antwortauf diese Frage ist schnell gefunden. Manzerschneide die beiden gegebenen Quadrate jeweils entlang einer ihrer Diagonalen und setze die vier so entstandenen rechtwinklig-gleichschenkligenDreiecke, wieinAb- bildung 1jeweils Kathete an Kathete, zu einem Quadrat zusammen.

Abbildung1

Wienun, wenn die beiden gegebenen Quadratenichtkongruentsind?Zer- schneiden entlang der Diagonalen und Neuzusammensetzen liefertkein Qua- drat, sondern eine der folgenden Figuren.

Abbildung2

Die linkeFigur können wiraus zwei rechtwinklig-gleichschenkligen Dreiecken zusammengesetzt sehen. Die Katheten des linken Dreieckssind dabei zu lang, die des rechten Dreieckszukurz fürdas gesuchte Quadrat. Mit einem Schnitt, der nurdurch das kleine gegebene Quadrat verläuft, können wirdie Seitenlänge des gesuchten Quadrats also gar nichtherstellen, schließlich hat die Diagonale Mathematik als Prozess –amBeispiel des Pythagoras 23 schon die maximale Schnittlänge. Aufgrund dieser Einsichtkleben wirdie bei- den gegebenen Quadrate zunächst wieinAbbildung 3zusammen.

Abbildung3

Wirschneiden nun nichtwieder wieimlinken Bild vonAbbildung 4entlang der Diagonalen, sondernwie im rechten Bild ausgehend voneinem Punkt P etwas weiter links. Die linkeSchnittlinie ist dann kürzer als die Diagonale des großen gegebenen Quadrats, die rechte Schnittlinie länger als die Diagonale des kleinen gegebenen Quadrats.

Abbildung4

Beipassender Wahl des Punkts P sind die beiden Schnittlinien dann sogar gleich lang.Die beiden abzuschneidenden Dreieckesehen in diesem Fall kongruent aus. Wirwählen den Punkt P daher so,dass die Streckeauf der linken Seite des Punkts genauso lang ist wiedie Seite des kleinen Quadrats. Die Streckeauf der rechten Seite des Punkts hat dann die Länge der Seite des großen Quadrats, da ja beide Strecken zusammen die Summe der Kantenlängen ergibt. Beide abzu- schneidenden Dreieckesind rechtwinklig und haben jeweils eine Kathete, die so lang ist wiedie Seite des großen Quadrats und eine Kathete, die so lang ist wiedie Seite des kleinen Quadrats. Somit sind sie kongruent. Schneiden wirnun wie geplantund legen die beiden abgeschnittenen Dreieckeauf geeignete Weise an die Restfigur an (siehe Abbildung 5), so erhalten wir–was leichtnachzuweisen ist –ein Quadrat. Die beiden kongruenten abgeschnittenen Dreieckesind rechtwinklig.Ihre kürzere Kathete ist gleich der Seite des kleineren gegebenen Quadrats, ihre längere Kathete gleich der Seite des größeren gegebenen Quadrats. IhreHypo- tenuse schließlich ist gleich der Seite des gesuchten Quadrats, dessen Flächen- inhalt die Summe der Flächeninhalte der gegebenen Quadrate ist. Bezeichnen wirdie kürzereKathete mit a,die längere Kathete mit b und die Hypotenuse mit c,dann gilt also: c2 = a2+b2. Indem wirunsere Lösung aufdas abgeschnittene 24 Stephan Berendonk

Abbildung5

Dreieck beziehen, erhalten wirgewissermaßen als ›kostenlosen Bonus‹ den Satz des Pythagoras. Wirkehren noch einmalzum Ausgangsproblem mit zweikongruenten Quadraten zurück. Statt beide Quadrate entlang einer Diagonale aufzuschnei- den, können wirauch eines der Quadrate ganz lassen, und stattdessen das an- dere Quadrat entlang beider Diagonalen zerschneiden. Das zweite Quadrat zerfälltdabei in vier Teildreiecke, die wirdem ersten Quadratals Hüte aufsetzen können (siehe Abbildung 6).

Abbildung6

Ist daszweite Quadrat größer als das erste Quadrat, so sind die entstehenden Hüte zu groß fürdas erste Quadrat. Setzen wirsie ihm dennoch auf, so ergibt das die folgende mühlenartige Figur.

Abbildung7

Zwar ist die Figur selbst kein Quadrat, doch immerhin bilden die Spitzen der Hüte ein Quadrat. Sollte das etwa schon das gesuchte Quadrat sein?Wir zeichnen das Quadrat in die Figur ein. Es macht den Eindruck, dass die Teile der Mathematik als Prozess –amBeispiel des Pythagoras 25

Mühlenfigur, die außerhalb des eingezeichneten Quadrats liegen, genauindie noch aufzufüllenden Lücken passen (siehe Abbildung 8). Ist man einmalzu dieser Vermutung gelangt, wird sie mit Hilfe der Kongruenzsätze schnell zur Sicherheit.

Abbildung8

2.2. Freudenthals Taschentuch

Den nun folgenden Wegzum Satz des Pythagoras verdanken wirWolfgang Kroll.9 Ausgangspunkt unserer Betrachtungen ist diesmal eine Faltfigur.Wir nehmen eine Serviette (oder ein quadratisches Taschentuch) und faltendie Ecken aufihre Mitte. Dadurch entstehtwieder ein Quadrat, dessen Flächeninhalt halb so groß ist wieder Flächeninhaltder noch ungefalteten Serviette (siehe Abbildung 9; Die Serviette besitzt eine helleund eine dunkle Seite).

Abbildung9

9Wolfgang Kroll, Das gefaltete Taschentuch, in:mathematik lehren 28 (1988), S. 48f. 26 Stephan Berendonk

Nachdem wirdies gesehen haben, fragen wiruns, welche weiteren Möglich- keiten es gibt, die Ecken zu einem Quadratumzuschlagen.Damit das Falten ein Quadrat ergibt, müssen die entstehenden Faltlinien gleich lang sein und senk- rechtaufeinander stehen. Wirbeobachten, dass rechte Winkel zwischen den Faltlinien offenbardann entstehen, wenn die eingeschlagenen Dreieckegenau KanteanKante liegen. Abbildung 10 liefertdie zugehörige Begründung.

Abbildung10

Das Kante-an-Kante-Liegen bedingtauch zugleich, dass die eingeschlagenen Dreieckegleiche Winkel haben. Da zudem die Faltlinien, also die Hypotenusen der eingeschlagenen Dreiecke, gleich lang sein sollen, müssen die Dreiecke kongruentsein. Schondie Ecke, mit der wirbeim Falten beginnen möchten, kann daher nicht überall hin gefaltet werden, denn das beim Falten entstehende eingeschlagene Dreieck muss Kathetenlängen haben, die sichzur (ursprüngli- chen) Seitenlänge der Serviette addieren. Das Falten der anderen drei Eckenliegt danach durch die ›Kante-an-Kante-Bedingung‹ fest.

Abbildung11

Angenommen,die Serviette hat die Seitenlänge s und wirschlagen zunächst ein (rechtwinkliges) Dreieck mit den Kathetenlängen a und b = s–aein. Danach schlagen wir, der ›Kante-an-Kante-Bedingung‹ folgend, die restlichendrei Ecken ein (siehe Abbildung 11). Wiegroß ist das dadurch entstandene Quadrat? Mathematik als Prozess –amBeispiel des Pythagoras 27

Der Flächeninhalt c2 des entstandenen Quadrats ist gleich dem Flächeninhalt (a+b)2 der Serviette abzüglich der vier eingefalteten kongruenten Dreiecke, die jeweils Flächeninhalt 1 ab besitzen. Somitgilt: 2 c2 = (a+b)2 –4·1ab = a2 + 2ab + b2 –2ab = a2 + b2. 2

2.3. Diagonale im Rechteck

Beider Suche nach einfachen Ausgangspunktenfürmögliche Entdeckungsge- schichten zum Satz des Pythagoras drängtsich noch die Frage nach der Länge d der Diagonalen eines Rechteckes mit den Seitenlängen a und b auf. Um überhaupt aufeinen möglichen Ansatz zu kommen, betrachten wirzu- nächst wieder einen einfacherenSpezialfall:das Quadrat.Zerschneidet man ein Quadrat der Seitenlänge a entlang einer seiner Diagonalen d,sokann man die beiden entstehenden rechtwinklig-gleichschenkligen Teildreieckezueinem größeren rechtwinklig-gleichschenkligenDreieck zusammensetzen (siehe Ab- bildung 12). Dieses Dreieck hat den gleichen Flächeninhalt wiedas Quadrat, also a2. Aufgrund des rechten Winkels können wirdie Katheten des Dreiecks als Grundseite und Höhe auffassen.Damit hat das Dreieck zugleich den Flächen- 1 2 2 2 inhalt /2 d . Also gilt d = 2a ,und wirhaben die Diagonale d des Quadrats in Abhängigkeit vondessen Seitenlänge a ausgedrückt.

Abbildung12

Nunnehmen wirdas Rechteck und versuchen dabei das Vorgehen beim Quadrat zu imitieren. Nachdem wirentlang einer Diagonale geschnitten haben, gilt es die Teildreieckeneu zusammenzusetzen. Hierfürgibt es nun zwei Möglichkeiten (siehe Abbildung 13):

Abbildung13 28 Stephan Berendonk

Links haben wirwieder ein Dreieck. Dieses ist jedoch leider nichtrechtwinklig, sodass unser Plan,den Flächeninhalt des Dreiecksauf zwei Weisen auszudrü- cken, an dieser Stelle scheitert. Die rechte Figur ist zwar leider kein Dreieck, aber immerhin liegtzwischen den beiden Diagonalen des ursprünglichen Dreiecks ein rechter Winkel. Unsere Wunschfigur wäre natürlich ein rechtwinklig- gleichschenkligesDreieck mit Grundseite und Höhe d. Wieweitweichtdie rechte Figur flächeninhaltsmäßig vondiesem Wunschdreieck ab?

Abbildung14

Fügen wirzuunserem Wunschdreieck noch das dunkle Dreieck hinzu (siehe die linkeFigur in Abbildung 14), so ergibt dies die gleiche Figur,wie wennwir zu der tatsächlichen Figur das dunkle Rechteck hinzufügen (siehe die rechte Figur in Abbildung 15). Den Flächeninhalt der so entstandenen Figur können wirnun aufgrund der beiden Zerlegungenauf zwei Weisen bestimmen. So erhalten wir die folgende Gleichung: 1 d2 + 1 (a + b)(a – b) = ab + a(a – b). 2 2

Lösen wirdiese Gleichung nach d auf, so erhalten wir d2 = a2 + b2,alsoden Satz des Pythagoras.

3. Dogmatisches (in den Schulbüchern)

Wirsindvon drei verschiedenenAusgangspunkten jeweils aufmehroderminder genetischeWeise zumSatzdes Pythagoras gelangt. Nebenden geschilderten Zugängen,die wederneu noch gänzlich unbekannt sind, findet maninder ma- thematikdidaktischen Literaturnoch weitere. Einen schönen Zugang ausgehend von einerParkettierungder Ebenefindetman beiPaulusGerdes.10 Zugänge, die mitder Quadraturdes Rechtecks alsAusgangsproblem starten,werdenvon Anna

10 Vgl. Paulus Gerdes, AWidespread Decorative Motif and the Pythagorean Theorem, in:For the Learning of Mathematics 8, 1(1988), S. 35–39. Mathematik als Prozess –amBeispiel des Pythagoras 29

MariaFraedrich in »Die Satzgruppe desPythagoras«11 beschrieben.DiesesBuch istwohlgleichzeitigdie ausführlichstedeutschsprachigeZusammenstellungvon Überlegungen zurGenesedes Pythagoras.Daneben sind auch die Beiträge von PeterBaptist12 undErich Wittmann13 zu nennen.Genetische Überlegungen,die aufVerallgemeinerungen des Satzes von Pythagoras abzielen,findetman unter anderembei Brown & Walter,14 Deschauer,15 Hartmann16 und Weth.17 Kaum ein anderermathematischer Satz, dassollhierdurch dokumentiert werden,ist ähnlich intensiv ausgenetischer Sichtuntersuchtworden. Wirdürfen daherfeststellen, dass diemathematikdidaktischeLiteratur im Falledes Pythagoras eine ausge- zeichneteGrundlage fürdie Konzeption vonUnterrichtimSinne des Entde- ckendenLernens bietet.Wir werden nuneinen Blickindie aktuellenSchulbuch- kapitelzum Satz desPythagoraswerfenund sind gespannt,obwir unsere genetischen Zugängedortwiederfindenkönnen. Das Lehrbuch »Lambacher Schweizer« eröffnet das Thema mit der folgenden Aufgabe(siehe Abbildung 15):18

Abbildung15,  Ernst Klett Verlag GmbH

11 Vgl. Anna MariaFraedrich, Die Satzgruppe des Pythagoras, Mannheim 1995. 12 Vgl. Peter Baptist, Pythagoras und kein Ende?, Leipzig 1997. 13 Vgl. ErichCh. Wittmann, Designing Teaching:The Pythagorean Theorem, in:Thomas J. Cooney /Stephan I. Brown/John A. Dossey /Georg Schrage /Ders. (Hg.), Mathematics, Pedagogy, and SecondaryTeacher Education,Portsmouth 1996, S. 97–165 und Ders.,Vom Tangram zum Satz des Pythagoras, in:mathematik lehren 83 (1997), S. 18–20. 14 Vgl. Stephen I. Brown/Marion I. Walter, The ArtofProblem Posing,Philadelphia 1983. 15 Vgl. Stefan Deschauer,Verallgemeinerung und Analogiebildung am Beispiel der Satzgruppe des Pythagoras, in:Der Mathematikunterricht1(1999), S. 25–36. 16 Vgl. Mutfried Hartmann, AnalogisierenamBeispiel des Pythagoras, in:Beiträge zum Ma- thematikunterricht (2007), S. 811–814. 17 Vgl. Thomas Weth, Mathematische Erfindungen im Umfeld des Satzes vonPythagoras, in: Praxis der Mathematik42, 2(2000), S. 70–75. 18 Lambacher Schweizer 9, MathematikfürGymnasien, Nordrhein-Westfalen, Stuttgart 2009, S. 72;inder Folge kurz »Lambacher Schweizer« genannt. 30 Stephan Berendonk

Die Signalwörter Erkundungen und Forschungsauftrag suggerieren, dass es bei dieser Aufgabeetwaszuentdecken gebeund dass die Aufgabeeine gewisse Freiheit beiihrer Bearbeitung zulasse. Beim Lesen der Aufgabenstellung ent- larvensich die Signalwörter jedoch vorallem als Rhetorik. Es soll hier gar nichts entdeckt,sondernlediglich begründet werden, »dass die gelbeFläche genauso groß ist wiedie Summe der beiden grünen.«19 Dies soll nichtirgendwie, sondern »durch geeignetes Zerlegen und neues Zusammensetzen«20 gezeigtwerden. Die Freiheit beider Suche nach einer geeigneten Begründung wird hierdurch ein- geschränkt. Ausgenetischer Sichtstört vor allem die unvermitteltePräsentation der fertigen Beweisfigur(Fig.1). Welche Betrachtungen haben zum Zeichnen dieser Figur geführt? Waswar die ursprüngliche Frage? Nachdem verschiedene Erkundungen zum Satzdes Pythagoras gemacht wurden, folgtnun im »Lambacher Schweizer«, wohl fürden Fall, dass die Er- kundungen im Unterricht übersprungen wurden, ein zweiter Einstieg in die Thematik (siehe Abbildung 16):21

Abbildung16,  Ernst Klett Verlag GmbH

Wieder stehthier zu Beginn statt einer Frage die Präsentation eines Beweises. Als Frage hätte sich beispielsweiseangeboten:Wie kann man ein Quadrat durch geradlinige Schnitte in Teile zerlegen, sodass diese Teile mit einem weiteren Quadrat zu einem dritten Quadrat zusammengelegt werden können?Dann gilt es alsoselbst ein Puzzle zu entwerfen. Im »Lambacher Schweizer« dürfen die Lernenden jedoch nurdas vorgegebene Puzzle lösen. Schnellstellt sich dabei die Frage nach dem Entwurfdes Puzzles. Ist es wichtig, dass die Schnittlinien durch die Mitte des Quadrats laufen oder wäre es auch mit anderen Schnittlinien

19 Ebd.,S.72. 20 Ebd. 21 Ebd.,S.74. Mathematik als Prozess –amBeispiel des Pythagoras 31 gegangen?Die Verbindungzur nachfolgend abgebildeten Parkettierung der Ebene wäre hier erhellend, doch der »Lambacher Schweizer« greift diese Frage nichtauf.

Abbildung17

Der Aufgabefolgtein belehrender Text, der überdie Bedeutung des Satzes des Pythagoras aufklärensoll. Der letzte Satzlautet:»Um den Satz herzuleiten, werden in Fig.1zunächst Flächeninhalte betrachtet.« Dieser Satz verwundert. Die Lernenden haben den Satz doch schon mit Hilfe des Zerlegungsbeweises hergeleitet. Vonhier an folgtder »Lambacher Schweizer« zunächst streng der »Regeldetri des Mathematikunterrichts«.22 Diese Bezeichnung wurde vonThomas Jahnke fürdie folgende Beobachtung eingeführt:

»Mathematikunterrichtverschleiftsich zum Ritual, in dem Mathematiknur noch begrifflich-nominal verfahrensmäßig-prozedural an- oder eher abwesendist. Dieses Ritual hat drei regelhafte Elemente;naheliegender Weise spreche ich daher vonder Regeldetri des Mathematikunterrichts. Ichgebesie hier in der Reihenfolge wieder,in der sie sich meist nichtnur unterrichtlich[,] sondernauch in Schulbüchernfinden, wobei es zuweilen zu Variationen der Abfolge kommen mag. Die Regeldetri des Mathematikunterrichts[:]

23 * So heißtdas. * So gehtdas. * So ist das.«

Die folgenden drei Ausschnitteaus dem »Lambacher Schweizer« zeigen, wiedie vonJahnkebenannteTriade konkret beim Satzdes Pythagoras aussieht. Zu- nächst ein Beispiel von So heißtdas (siehe Abbildung 18):24

22 Thomas Jahnke, Die Regeldetrides Mathematikunterrichts, in:Beiträge zum Mathematik- unterricht(2012), S. 413–416. 23 Ebd.,S.413. 24 Lambacher Schweizer 9, S. 74. 32 Stephan Berendonk

Abbildung18,  Ernst Klett Verlag GmbH

Nachdem die beiden Vokabeln Kathete und Hypotenuse eingeführtsind, folgtein typischer Fall von So ist das.25 Der Lernende wird in Kenntnis gesetzt, dass neben dem Satz des Pythagoras auch dessen Umkehrung gilt und dass diese mit dem Satz des Thales begründet werden kann (siehe Abbildung 19).

Abbildung19,  Ernst Klett Verlag GmbH

Daraufhin wird vorgeführt, wie es geht,genauer,wie man auszweigegebenen Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks die dritte Seite berechnet (siehe Abbil- dung 20).26 Wasdann folgt, ist ein schier endloser Beschäftigungsmarathon auszum Teil sterilen und zum Teil eingekleideten Reformulierungen der immer gleichen Aufgabe, die da lautet:Bestimme auszwei gegebenen Seiten die dritte. Als Beleg sei hierzu der folgende Ausschnitt (Abbildung 21) angeführt.27 Wirkönnen den Aufbaudes bis hierhin betrachteten Schulbuchkapitels stichpunktartigwie folgtzusammenfassen:unvermittelte Präsentation eines Beweises, Präsentation der Formulierung eines Merksatzes, Präsentation eines unmittelbaren Verwendungszwecks, Training im Rezitieren des Merksatzes,

25 Ebd.,S.75. 26 Ebd. 27 Ebd.,S.76. Mathematik als Prozess –amBeispiel des Pythagoras 33

Abbildung20,  Ernst Klett Verlag GmbH

Abbildung21,  Ernst Klett Verlag GmbH

Training im trivialen Anwenden des Merksatzes. Auch die sich anschließende Behandlung des Höhen- und des Kathetensatzes folgtgenaudiesem Schema. Unsere möglicherweise überspitzte Darstellung lässt den »Lambacher Schweizer« nunals ein radikalantigenetisches Schulbuch erscheinen, daseinen belehrenden, gängelnden und kleinschrittigen Unterrichtvorschlägt und be- 34 Stephan Berendonk dient. Auch und gerade eine solche Kleinschrittigkeit ist Thomas Jahnkeein DornimAuge:

»Zusammenhänge kann man nur sehen, wenn sie auch auftreten, das heißteine hin- reichend komplexeSituation oder Sachlage untersuchtwird. Wenn aber –wie es in vielen Schulbücherngeschieht–jede KomplexitätimVorhineinaus sicher wohl mei- nenden didaktischenGründen in einzelne Häppchen zerlegt wird, dann kann der Lernende die Zusammenhänge nichtsehen, er kann sie ausden Häppchen auch nicht rekonstruieren.Während wirals Schulbuchautoren vielleichtmeinen, wirhätten in methodisch geschickter Weise alle möglichenFälle in ansteigendem Schwierigkeits- grad behandelt, stellt sich dieseBehandlung den Lernenden möglicherweise nur als eine schwer überschaubare Kasuistik dar,weil sie beider sorgsamen Fallunterschei- dung gar nichtdabei waren. Man hat sie ihnen vorgesetzt. Diese Filetierung im Vor- hinein verhindertgeradezu das Verständnis vonZusammenhängen und übrigens auch vonBegriffen, die ja nur dann etwas beinhalten, wenn auch anderes da ist, was sie nicht beinhalten.«28

Dass dem betrachteten Schulbuchkapitel ausproblemgenetischer Sichtdie lei- tende Ausgangsfrage fehlt, hatten wirschon festgestellt. Auch hierzu finden wir beiThomas Jahnke klare Worte:

»Obgleich es etwas lapidar klingt, dass der,der die Frage nichtkennt, die Antwortnicht verstehen kann,ist dieser Gedankedochauch didaktisch richtig. Ständig werden im MathematikunterrichtAntworten unterrichtet, ohne dass die Fragen, die sie beant- worten, überhaupt gestellt werden. Das Waswird gar nichtthematisiert[,] sondernnur das prozedurale Wie, also nur[,] wieman Dinge abwickelt und nicht, wo sie eigentlich herkommen und warum man sich überhaupt mit ihnen befasst. Die durchgängige Fraglosigkeit mancherSchulbücher machtsie zu schlechten Vorlagen füreinen Ma- thematikunterricht, in dem tatsächlich auch Mathematik betriebenwird.«29

Die Regeldetri des Mathematikunterrichts kommtbeim Satz des Pythagoras nichtnur im »Lambacher Schweizer«, sondernauch in den folgenden Schul- büchernzur Anwendung: »Schnittpunkt Mathematik«,30 »EinblickeMathema- tik« (Klett),31 »Pluspunkt Mathematik«,32 »Fokus Mathematik« (Cornelsen),33 »MatheForum«34 und »Mathematik Neue Wege« (Schroedel).35 Mit der vielleicht viel zu groben genetischen Brille kann man kaum Unterschiede zwischen den Kapiteln zum Satz des Pythagoras in den genannten Schulbüchernfeststellen.

28 Jahnke, Die Regeldetrides Mathematikunterrichts, S. 415. 29 Ebd. 30 Schnittpunkt9,Mathematik, Nordrhein-Westfalen, Stuttgart2008, S. 122–139. 31 EinblickeMathematik 9, Nordrhein-Westfalen, Stuttgart2012, S. 46–65. 32 Pluspunkt MathematikKlasse 9, Nordrhein-Westfalen, Berlin 2011, S. 107–130. 33 Fokus Mathematik, Gymnasium Klasse 9, Nordrhein-Westfalen, Berlin 2009, S. 93–142. 34 MatheForum9,Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Braunschweig 2009, S. 58–81. 35 Mathematik Neue Wege 9, HamburgNordrhein-Westfalen, Hessen, Schleswig-Holstein, Braunschweig 2001, S. 153–189. Mathematik als Prozess –amBeispiel des Pythagoras 35

Vereinfachend könnte man daher,imSingular,von ›dem‹ Schulbuchkapitel zur Satzgruppe des Pythagoras sprechen. Jedenfalls müssen wirzur Kenntnis nehmen, dass sich genetische Konzep- tionen zum Satz des Pythagoras in den Schulbüchernwenn überhaupt, dann nur implizit wiederfinden lassen. Vielversprechend beginntnur das Kapitel im »Schnittpunkt«. Es beginntmit der Aufforderung,zwei gleich großeQuadrate entlang ihrer Diagonalen zu zerlegen und sie zu einem größeren Quadrat zu- sammenzusetzen (siehe Abbildung 22). Doch statt anschließend mit zwei un- terschiedlich großen Quadraten fortzufahren, wird unvermittelt ein Beweis, zudem kein Zerlegungsbeweis, des Satzes des Pythagoraspräsentiert:36

Abbildung22,  Ernst Klett Verlag GmbH

Im Jahr 1764 schreibt Voltaire: »Der verstorbene Herr Clairaut nahm sich vor, die jungen Leute die Grundlagen der Geometrieleichtlernen zu lassen;erwollte zur Quelle zurückkehren und dem Weg unserer Entdeckungen und unserer Bedürfnisse folgen, die jene hervorgebrachthaben. Diese Methode schien annehmbar und nützlich zu sein;aberman folgtihr nicht.«37 Obwohl sich in der Zwischenzeit viele um das genetische Prinzip und um das Entdeckende Lernen im Mathematikunterricht bemüht und verdientgemacht haben, lassen zumindest die gängigen Schulbuchkapitel noch stets viele Wün- sche offen.

36 Schnittpunkt9,Mathematik, Nordrhein-Westfalen, Stuttgart2008, S. 124. 37 Hans-Joachim Sander,Die Lehrbücher› ›ElØmentsdeGØomØtrie‹ und ›ElØmentsd’Alg›bre‹ vonAlexis-Claude Clairaut, Dortmund 1982. 36 Stephan Berendonk

4. Programmatisches (für die Lehrerbildung)

Ausunserer Analyse der Schulbuchkapitel dürfen wirkeine voreiligen Schlüsse überden tatsächlich stattfindenden Unterrichtziehen. Mündige Lehrerinnen und Lehrer,insbesonderejene, die Entdeckendes Lernen ernst nehmen, ver- wenden die Schulbücher nichtals Vorlagen fürihren Unterricht, sondern bei- spielsweisefürdas Training bestimmter Aufgabentypen während der Vorbe- reitung aufeinen Test. Sie verwenden das Buch nichtals Rundumlösung, sondern als ein punktuell einsetzbares Werkzeug.Esgibt jedoch Lehrpersonen, besonders die unerfahrenen, die Schulbücher mit ihren Einführungen in das jeweilige Thema,ihren vermeintlichen Erkundungs- und Entdeckungspassagen und ihren Aufgaben zum Weiterdenken als Vorlagen fürden zeitgemäßen Ma- thematikunterrichtauffassen.Allen Debatten um die Förderung sogenannter prozessbezogenerKompetenzen zum Trotz ist Entdeckendes Lernen offenbar nichtinihrem Unterrichtvorgesehen. Wieerklären wiruns diese Tatsache? Wenn die professionellen Schulbuchautoren, wenigstens im Falle des Satzes des Pythagoras, das genetische Prinzip aufsokonsequente Weise übergehen, dann sollten sie dies auch explizit deutlich machen. Es hat den Anschein, dass dieses Prinzip fürsie nureine theoretische und vor allem wirklichkeitsferne didakti- sche Konzeption darstellt. Ein Blick aufdie typische universitäre Ausbildung des gymnasialen Mathe- matiklehrers bietetuns eine plausible Erklärung.Wovon möglicherweise in den Didaktikvorlesungen geträumt wird, davonsind wirinden Fachvorlesungen häufig noch weit entfernt.Bei der Planung solcher Fachvorlesungen spielt das genetische Prinzip meist eine untergeordnete Rolle. Prioritäthat der systema- tische Aufbau, die Suche nach der effizientesten Reihenfolge der zu behan- delnden Themen. Zudem wird in Vorlesungen –das liegtnun einmal am Wesen dieser Unterrichtsform–Mathematik noch stets präsentiert,und zwar,was vielleichtschwererwiegt, hauptsächlich in ihrer fertigen Form. Die Präsentation folgtdabei üblicherweise wieder einer strengen Regeldetri,diesmalbestehend aus Definition, Satz und Beweis. Die Lehramtsstudierenden lernen im Kern ihres Studiums, eben in den Vorlesungen, Mathematik als Fertigprodukt kennen. Mathematikals Prozess kennen sie häufig nur als inhaltsleere didaktische Idee und bildetfürsie daher keine ernst zu nehmende Alternative. Wirbenötigen daher dringend genetischere Versionen der Kernvorlesungen Analysis, lineare Algebra und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Fürdie Analysis bieten sich als Vorlage »Die Entwicklung der Infinitesimalrechnung«38 vonOtto Toeplitz und »Infinitesimalrechnung in genetischer Darstellung«39 vonErich Wittmann an.

38 Otto Toeplitz, Die Entwicklungder Infinitesimalrechnung–Eine Einleitung in die Infini- tesimalrechnungnach der genetischen Methode, Berlin 1949. Mathematik als Prozess –amBeispiel des Pythagoras 37

Auch die großen Vorbehalte gegenüber Endeckendem Lernen im Mathema- tikunterrichtdürften mit der bisherigen Ausgestaltung des Lehramtsstudiums an vielen Standorten zu tun haben. Den tiefen Wunsch, anderen dasmathe- matische Entdeckenzuermöglichen und sie dabei zu fördern, haben nurdie- jenigen, die selbst entdeckend tätigsind, oder die zumindest das Gefühl einer mathematischen Entdeckungkennen. Typischerweise bietetdas Studium jedoch nurwenige fest vorgesehene Gelegenheiten, eigene mathematischeErkundun- gen durchzuführen. Regelmäßig treten Lehramtsstudierende daher ohne das Rückgrat eigener mathematischer Entdeckungen in den Schuldienst ein. Die Lösung muss lauten:Gebt den Lehramtsstudierenden mehr Raum füreigene, insbesondereelementarmathematischeForschung!

Literaturverzeichnis

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39 Erich Wittmann, Infinitesimalrechnungingenetischer Darstellung, Düsseldorf 1973. 38 Stephan Berendonk

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Schulbücher

EinblickeMathematik 9, Nordrhein-Westfalen, Stuttgart 2012. Fokus Mathematik, Gymnasium Klasse 9, Nordrhein-Westfalen, Berlin 2009. Lambacher Schweizer 9, Mathematik fürGymnasien, Nordrhein-Westfalen, Stuttgart 2009. MatheForum9,Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Braunschweig 2009. Mathematik Neue Wege 9, Hamburg Nordrhein-Westfalen, Hessen, Schleswig-Holstein, Braunschweig 2001. Pluspunkt MathematikKlasse 9, Nordrhein-Westfalen, Berlin 2011. Schnittpunkt 9, Mathematik, Nordrhein-Westfalen, Stuttgart2008. Reinhold Boschki

Religionsdidaktik in Theorie und Praxis. Exemplarische aktuelle Entwürfe

Hinführung

Jede Didaktik einer bestimmten Disziplin, also jede natur-oder geisteswissen- schaftliche Fachdidaktik, ist angewiesen aufeine eingehende Reflexion des ihr zugrundliegenden Bildungsbegriffs. Denn das jeweilige Bildungsverständnis, das implizit oder explizit vorliegt, prägt die Theoriebildung didaktischer Pro- zesse ebenso wiedie Konzeptualisierung vonPraxis –obinder Hochschuldi- daktik oder in den schulbezogenen Didaktiken. Virulentinder gegenwärtigen Debatte wird diese Voraussetzung insbesondere in der Diskussion um den Kompetenzbegriff, der in starkem Maßevon dem verwendeten Bildungsbegriff konnotiertwird.Wer Kompetenzen formuliertund sie in didaktischen Arran- gements beiden Lernenden ausbilden will, muss sich seiner oder ihrer Verste- hensweisevon Bildung in Bezug aufdas jeweilige Fach bewusst sein.Dazu bedarf es eines Theorierahmens, der in der aktuellenBildungsdebatte verortet ist und der gleichzeitig die jeweilige Fachkultur im Blick hat, denn im Kontext didak- tischer Reflexion kann Bildung nieallgemein, sozusagen im luftleeren Raum definiertwerden, sondernmuss stets aufein bestimmtes Fach hin oder von einem Fach her konturiertwerden. Vondaher werden die folgenden Ausführungen in einem ersten Schritt den Begriff vonBildung näher betrachten, der fürdas Nachdenken überLehren und Lernen im SchulfachReligionunter den Bedingungen der bundesdeutschen Rechtslage und der ausihr folgenden Bildungslandschaftfruchtbar gemacht werden kann. Dazu wird in Abschnitt 1die Debatte um Bildung, wiesie derzeit im deutschsprachigen Raum geführtwird, zumindest ausschnittweise in den Blick genommen, um zu einem integrierenden Verständnis fürBildung zu ge- langen, das fürden ReligionsunterrichtanSchulen hierzulande maßgebend sein kann. In Abschnitt 2wird eine zweite Voraussetzung fürreligionsdidaktische Theoriebildung zumindest kurz angesprochen, nämlich die Frage nach der zugrundliegenden religionspädagogischen Anthropologie, die eng mit dem Bildungsbegriff und dem Verständnis vonDidaktikbzw.Religionsdidaktik 40 Reinhold Boschki verwoben ist. Schließlich werden in Abschnitt3 einige exemplarische reli- gionsdidaktische Modelleaufgezeigt, die in den aktuellen theoretischen De- batten und fachdidaktischen Realisierungen eine zentrale Rolle spielen. Ein Plädoyer fürbildungstheoretische Reflexionen in allen Fachdidaktiken beendet als Fazit die Ausführungen.

1. Die Frage nach Bildung als Grundlage fachdidaktischer Reflexion

1.1. Bildung in der Diskussion

»Bildung« wird in den heutigen öffentlichen Debatten meist vordem Hinter- grund dessen diskutiert, was für Ökonomie und Technik, fürwirtschaftlichen Fortschritt und den internationalen Wettbewerb erforderlich ist.1 Bildung soll vor allem der Nützlichkeit und Verwertbarkeit dienen, sie soll die Menschen fit machen fürden ökonomischen Wettbewerb und zur Effizienz des Wirtschafts- systems beitragen. Somit ist Bildung zu einer entscheidenden GrößeimProzess der gesellschaftlichen Transformation, der Europäisierung und Globalisierung geworden –nichtzuletzt der Globalisierung der Märkte. »Wissen ist Macht«, hieß es früher,heute könnte man etwas detaillierter formulieren:Bildung ist ökonomische Macht.Menschen mit guten Ausbildungen und Universitätsab- schlüssen werden überall aufdem Weltmarkt dankbar willkommen geheißen. Nationen und Bildungsverbünde –wie der europäische Hochschulraum EHEA (European Higher Education Area) –stehen mit anderen Bildungsnationen und Zusammenschlüssen in Konkurrenz. Bildung ist ein Schlüsselthema der Zu- kunft. Alltagssprachlich wird Bildung oftmit »viel Wissen«, »reich ausgestattet mit Informationen« verwechselt. Die schöne Unterhaltungssendung »Wer wird Millionär?«mit Günther Jauch führtesuns wöchentlich amüsantvor Augen: Reich wird,wer am meisten weiß.Dochbei diesem Verständnis ist bildungs- theoretisch zu fragen, ob Bildung tatsächlich mit Informationsfülle gleichgesetzt werden darf. Der Wiener Philosoph und BildungskritikerPaulKonrad Liess- mann siehtfürdie selbsternannte Bildungsgesellschaftdie Gefahr des Daten- ozeans, zumal eines digitalen, ohne erkennbaren, sinnvollen Zusammenhang.2 Wirproduzieren täglich unvorstellbar neue Meere vonWissenseinheiten, die

1Vgl.Friedrich Schweitzer,Bildung, Neukirchen-Vluyn 2014, S. 135. 2Vgl.Konrad Paul Liessmann, Theorie der Unbildung.Die Irrtümerder Wissensgesellschaft, München 2009;imFolgendenbeziehe ich mich aufdie Argumentation Liessmanns;vgl.auch: Ders., Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift, Wien 2015. Religionsdidaktik in Theorie und Praxis. Exemplarische aktuelle Entwürfe 41 gespeichert, kopiertund wieder gespeichertwerden, ein Prozess, der prinzipiell unendlichfortgeschrieben werden kann. Bildung wird landläufig mit Quantität an Wissen gleichgesetzt, was mit fatalen Auswirkungen aufeine didaktische Realisierung verbunden wäre,daDidaktik diese Quantifizierung in Lehr-Lern- Arrangements umzusetzen hätte. Das 1999 erstmals erschienene Buch vonDietrich Schwanitz,»Bildung. Alles, was man wissen muss«, scheintVorläufer und gleichzeitig Ausdruck dieser Entwicklung zu sein.3 In unzähligen Auflagen aufden Markt geworfen (z. B. palettenweise als TaschenbuchausgabeanICE-Bahnhöfen und Flughäfen), wurde es vonvorbeihuschendenBildungswilligen gierig gekauft und ver- schlungen, um an der Illusion vonBildung teilzuhaben. Die gesamte europäische Geistes- und Kulturgeschichte zwischen zweiBuchdeckeln –das wollte sich kein gebildeterZeitgenosse entgehen lassen. Tatsächlich handelt es sich jedoch auch hier um eine Aneinanderreihung vonInformationen, ein Sammelsurium von Fakten, die kaum einen inneren Zusammenhang erkennen lassen und vor allem, beidenen die Subjekte, die konkreten Menschen nur als Statistik in den Blick kommen. Eine menschenleere Geistesgeschichte? Bildung, hält Liessmann dagegen, ist mehr als Informationsfülle, mehr als pure Gelehrsamkeit. Bildung bedeutet Verstehen im Kontext, Frage nach Sinn, Bedeutung,Zusammenhängen. Es kann nichtnur darum gehen, dass wir »wissen, wo es steht« (z.B. in Wikipedia), wieesdie »Desinformationsgesell- schaft«4 vorgibt. Wirkliches Wissen wäre,etwa im Sinne vonAristoteles, als Weisheit zu beschreiben,die aufdie Frage nach Wahrheit als Grundvorausset- zung vonWissen nichtverzichten kann. Demgegenüberfolgt, so Liessmann weiter,heutige Bildungspolitikund deren Bildungsverständnis weitgehend der »Produktionslogik«, die als »mechani- sierte, automatisierte Herstellung vonidentischen Produkten unter identischen Bedingungen mit identischen Mitteln«5 beschrieben werden kann. Die Pro- duktionslogik bedeutet »Standardisierung,Mechanisierung und Angleichung«,6 was auch mehr und mehr zur Logikvon Bildung in unserer Gesellschaftwird. Die Festsetzung vonBildungsstandards scheintdieser Produktionslogik zu entsprechen. Hier entfernen sich nichtnur Bildungspolitiker,sondernauch Universitäten weit vonWilhelm vonHumboldts Bildungsidee, die er 1793 als »Theorie der Bildung des Menschen« formulierthat und aufder das traditionelle System der

3Vgl.Dietrich Schwanitz, Bildung. Alles, was man wissen muss,Berlin 1999. 4Liessmann, Theorie der Unbildung,S.27. 5Ebd.,S.38. 6Ebd.,S.39. 42 Reinhold Boschki modernen Universitäten ruht (bzw.ruhte).7 Wissen, so Humboldt, brauchtGeist, brauchteine synthetisierende Kraft, die nichtunkritische Verehrung des Alten sein solle, sondernein Programmder Menschen-Bildung oder Persönlichkeits- Bildung darstellt. SchonTheodor W. Adorno hatte in einem Vortrag aufdem Deutschen Soziologentag 1959 Bildung der Gegenwartals geistlose Bildung, als »Halbbildung« kritisiert, die immer mehr den Produktionsverhältnissen un- terworfen ist.8 Er beklagte den entfremdeten Geist, die Vergegenständlichung der Bildung, die zu einem Sammelsurium vonKulturgüternmutiert, die trans- feriertwerden, ohnedass dabeiirgendein Zusammenhang verstehbar wäre.Statt Bildung handelt es sichumInformationspartikel, die als Bildung ausgegeben werden. Wissen wird zusehends partikularisiertund fragmentiert. In der Schule, so Adornos Kritik, wird diese Form vonBildung institutionalisiert.9 Liessmann radikalisiertAdornos kritischen Ansatz und sprichtvon »Unbil- dung«: In Abgrenzung zur »Halbbildung« meint»Unbildung«, »daß die Idee von Bildung in jeder Hinsichtaufgehört hat, eine normativeoder regulative Funk- tion zu erfüllen.«10 Übrig bleiben Vorurteile und Stereotype, unfertige Wis- sensfragmente, die nichtingrößere Zusammenhänge eingebettet sind. In der Rede vonKompetenzen erfolgtschließlich, so Liessmanns scharfe Kritik, die endgültigeAbkehr vonder Idee vonBildung.11 Nichtmehr Mündigkeit des Subjekts ist das Ziel vonBildungsprozessen, sondern bestimmte »skills«, Fer- tigkeiten, eben Kompetenzen, die zur »employability«, Beschäftigungsfähigkeit, beitragen. Die Bildungslandschaftwird konsequentauf Effizienz und Verwert- barkeit umstrukturiert. Humboldts Bildungsidee, beider Wissen in das Per- sönlichkeitskonzept vonMenschen integriertist, bleibt endgültig aufder Stre- cke.

1.2. Ein integrierendes Verständnis von Bildung

Derlei Bildungskritikhat angesichts aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen durchaus Berechtigung,wobei die philosophische Schärferelativiertwerden muss.Schaut man sich aufBildungsservern der Bundesländer,selbst der Eu-

7Vgl.Wilhelm vonHumboldt,Theorie der Bildung des Menschen, in:Ders.,Werke, Bd. I, hg.v.AndreasFlitner und Klaus Giel, Darmstadt 1980, S. 234–240. 8Vgl.Theodor W. Adorno,Theorie der Halbbildung, in:Ders.,GesammelteSchriften, Bd. 8, hg.v.Rolf Tiedemann u.a.,Frankfurt1972, S. 93–121; auch einzeln erschienen:Theodor W. Adorno,Theorie der Halbbildung, Frankfurt2006;vgl.hierzu die Analyse vonAdornos Konzept der Halbbildungin: Liessmann,Theorie der Unbildung, S. 68f. 9Vgl.Adorno, Theorie der Halbbildung, S. 111. 10 Liessmann, Theorie der Unbildung,S.70. 11 Vgl. ebd.,S.71. Religionsdidaktik in Theorie und Praxis. Exemplarische aktuelle Entwürfe 43 ropäischen Union, um, wird Bildung nichtallein in ökonomischer Hinsicht verstanden. Das Ziel von »education« beispielsweise wird aufzahlreichen EU- Servern mit »personalfulfillment, social cohesionand employability«12 angege- ben. Nebendem höchst sinnvollen (Aus-)Bildungsziel der Beschäftigungsfä- higkeit werden immerhin die persönliche Selbstverwirklichung und dassoziale Zusammenleben als zentrale Aufgaben vonBildungsprozessen genannt. Hier deutet sich ein breiteres Verständnis vonBildung an, das in aktuellen Bildungsdebatten immer wieder eingeklagtwerden muss:Umder Ökonomi- sierung vonBildung zu wehren, ist bildungstheoretisch die Bedeutung des Subjekts und seiner Beziehungen in den Mittelpunkt zu stellen. Denn im Hin- tergrund einer jeden konkreten Entscheidungzur Organisationvon Bildung im eigenen Land oder in der EU stehtein bestimmtes Verständnis vonBildung, das genaugeprüft werden muss. Bildung ist eben nichtgleich Bildung. Wervon Bildung spricht, muss offenlegen, was er darunter verstehtund welche Ziele er damit verfolgt. Eine kurze bildungstheoretische Vergewisserung kann im Blick aufdie Fra- gestellung nach einer adäquaten fachdidaktischen Realisierung Klärung brin- gen. Der Bildungswissenschaftler HerbertGudjons definiertBildung in erster Linie subjektorientiert:

»Bildung meint… –die Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung und Solidaritätsfähigkeit mit andern, –die Subjektentwicklung im Medium der Objektivationen bisheriger menschlicher Kultur;das bedeutet:Bildung ist immer als ein Selbst- und als ein Weltverhältnis auszulegen, das nichtnur rezeptive, sondernverändernd-produktiveTeilnahme an der Kultur meint, –die Gewinnung vonIndividualitätund Gemeinschaftlichkeit, –eine allgemeingültige, d.h. füralle Menschen gleich gültige Bildung, –Vielseitigkeit, vor allemdie moralische, kognitive, ästhetischeund praktische Di- mension.«13

Die Definitionbetontdie Selbstverwirklichungsdimension vonBildung,die auch die Fähigkeit zur Teilhabeansozialen und kulturellen Bereichen ein- schließt, Bildungsgerechtigkeit einfordertund schließlich an einer Pluralitätdes Weltzugangs festhält,was als Präfiguration vondiversen fachdidaktischen Konzeptualisierungen (ethisches Lernen, ästhetisches Lernen etc.) gelesen

12 Z.B. in:Europäisches Parlamentund Rat der Europäischen Union, Recommendation of the European Parliamentand of the Councilof18December 2006 on keycompetences for lifelonglearning, zit. nach URL:http://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri= CELEX:32006H0962&from=EN [21.03.2015]. 13 HerbertGudjons, Pädagogisches Grundwissen. Überblick, Kompendium, Studienbuch, 2. Aufl.,Bad Heilbrunn 2008,S.204. 44 Reinhold Boschki werden kann. Bildung ist also ein umfassenderProzess der Befähigung des Menschen zu sich selbst und seinen Möglichkeiten, wobei die soziale Dimension einen wesentlichen Faktor darstellt.14 Karl Ernst Nipkow,ursprünglich Erziehungswissenschaftler,dann Reli- gionspädagoge, hat in einem grundlegenden Werk zur Bildungsfrage die abendländische Bildungstradition seit der Aufklärung zusammengefasst. Von den großen Bildungstheoretikernwurde Bildung nie eindimensional oder eng- geführt, sondernineinem Konzertmehrerer Dimensionen verstanden, die nicht voneinander isoliertwerden dürfen:15 Bildung und Gesellschaft: Bildung ist nie nurein privates und individuelles Phänomen,sondernist Bestandteil der gesellschaftlichen, öffentlichen und politischen Kultur. Bildung bewirkt und sichertFreiheit, umfasst aber gleich- zeitig stets ein gesellschaftskritisches Moment. Bildung und Utopie: Bildung will nichtnur in die Gesellschafteingliedernund anpassen, sondernweist überdie bestehenden Verhältnisse hinaus. Sie ist nie bloß Schulung fürdie Wirklichkeit, wiesie ist oder sein sollte, sondernimmer auch Bildung füreine Lebenswirklichkeit, wiesie sein könnte. Bildung und Subjektivität: Vonder philosophischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts her wird Bildung als Prozess des persönlichen Mündigwerdens verstanden, der aufEigenständigkeit, freie Entscheidungsfähigkeit und selbst- verantwortliches Denken und Handeln weist. Ziel des Bildungsprozesses ist das mündige Subjekt. Bildung und Überlieferung: Angelpunkt des Sich-Bildens sind die überlie- ferten geistigen und kulturellen Güter,mit denen sich das mündig werdende Subjekt auseinandersetzt. Der Bildungsprozess vollziehtsich im »Medium der Tradition«, in deren Deutung und Interpretation, aber auch in deren kritischer Relecture und Weiterentwicklung. Bildung und Verständigung: Bildung heißt: Leben im Gespräch. Bildung ist schon im Werden ein dialogischer Prozess der Auseinandersetzung mit Lehr- personen und Bildungsgütern;Verständigung ist aber auch ein Bildungsziel,das aufdialogische Kompetenz, aufVerständigungsfähigkeit innerhalb der eigenen (heute pluralen) Gesellschaftund nach außen im Blick aufandereKulturen, Ethnien, Religionen ausgerichtet ist. Einen derartigumfassenden Zugang zum Thema Bildung möchte ich als integrierendes Verständnis vonBildung bezeichnen, da es die vielfältigen Auf- gaben und Felder vonBildung umschließtund den Wegfüreine fachdidaktische

14 Vgl. auch Martin Rothgangel /RobertSchelander,Art.»Bildung«, in:Das wissenschaftlich- religionspädagogische Lexikon (www.wirelex.de),2015 [11.02.2015]. 15 Vgl. Karl Ernst Nipkow,Bildungals Lebensbegleitung und Erneuerung. Kirchliche Bil- dungsverantwortung in Gemeinde, Schule und Gesellschaft, 2. Aufl.,Gütersloh 1992, S. 32–37. Religionsdidaktik in Theorie und Praxis. Exemplarische aktuelle Entwürfe 45

Realisierung eröffnet. Das Ziel vonBildungsprozessen kann seit der Aufklärung mit Mündigkeit beschrieben werden. Bildung soll den Menschen befähigen, eigenverantwortliche Entscheidungenfürseine Lebensbereiche (persönlich, sozial, arbeitsbezogen, öffentlich) zu fällen, sie zu verantworten und zu ver- wirklichen. »In bildungstheoretischer Hinsichtmeintder Begriff Mündigkeit die Fähigkeit des Menschen, die eigene Lebensführung zu reflektieren und zu dieser sowiezuden Formen menschlichen Zusammenlebens Stellung nehmen zu können.«16 All diese Vorklärungen sind wichtig, um die Bedeutung,Vielfalt und Aus- formung religionsdidaktischer Theorie und Praxis zu kontextualisieren. Reli- gionsdidaktik ist heute nämlich zu einem Überbegriff fürzahlreiche Theorie- konzepte und Praxisvorschläge geworden, die äußerst heterogen und kaum noch aufeinen Nenner zu bringen sind. Der rote Faden ist ein integrierendes Bil- dungsverständnis, das das lernende Subjekt in den Mittelpunkt stellt, die oben entwickelten Bildungszugänge produktiv aufnimmt und um die Dimension der Gottesbeziehung bzw., allgemeiner gesagt, um die religiöse Dimension erwei- tert.

2. Religionspädagogische Anthropologie

Die gegenwärtige Grundlagendiskussioninder Religionspädagogik hat ein Themenfeld wiederentdeckt,das lange vernachlässigtwar,das aber gerade zur Frage der Neukonzeption vonReligionsdidaktik angesichts gesellschaftlicher Heterogenitätund Pluralitätneue Impulse geben kann. Denn neben einem in- tegrierenden Verständnis vonBildung fußtReligionsdidaktik (mit ihr die Reli- gionspädagogik als übergeordnete Theorie religiöser Bildung) in einem be- stimmtenVerständnis vom Menschen, genauer:Jedes Bildungsverständnis setzt ein bestimmtes Menschenbild voraus.17 Der Mensch wird in religionspädago- gischer Perspektivegrundsätzlich als religionsbegabt, in christlich-theologi- scher Perspektiveals »gottbegabt« gedeutet.18 Das bedeutet nicht, dass Religion zwangsläufig zur Biographie eines Menschen gehören muss bzw.dass mensch-

16 Dietrich Benner,Art.»Mündigkeit«, in:Ders. /Jürgen Oelkers (Hg.), Historisches Wör- terbuch der Pädagogik, Darmstadt 2010, S. 687–699, hier S. 687. 17 Vgl. Reinhold Boschki, Einführung in die Religionspädagogik, 3. Aufl.,Darmstadt 2016, S. 41–49;vertiefend:Bernhard Grümme, Menschen bilden?Eine religionspädagogische Anthropologie, Freiburg 2012;Thomas Schlag /Henrik Simojoki (Hg.), Mensch –Religion – Bildung. Religionspädagogik in anthropologischen Spannungsfeldern, Gütersloh 2015. 18 Vgl. Johann Baptist Metz, Memoria passionis. Ein provozierendesGedächtnis in pluralis- tischer Gesellschaft, Freiburg i.Br.2006, S. 111–117;vgl.auch Grümme, Menschen bilden?, S. 458–497. 46 Reinhold Boschki liches Lebennichtvoll und ganz gelebt werden könnte, wenn Religion und Glaubenichtvorhanden sind. Religions- oder Gottesbegabung heißtzunächst nur: Jeder Mensch hat die Fähigkeit, sich mit Fragen der Religionund des Glaubens auseinanderzusetzen. Damit hat jede und jeder Lernende auch die Möglichkeit, Entscheidungskompetenz in religiösen Fragen zu erwerben. Genau dies entsprichtdem grundlegendenZiel jeder Religionsdidaktik:dem Menschen Entscheidungskompetenz zu Fragen des Glaubens, der eigenen Religion und der vonanderen zu vermitteln. Das Menschenbild der religionspädagogischen Theorie –und damit das Bild vom Lernenden –ist in erster Linie beziehungsorientiert: Der Mensch wird als »Beziehungswesen«gedeutet. Er stehtineiner fundamentalen Beziehung zu sich selbst, zu anderen Menschen, zur ihn umgebenden Welt,zur Zeit, und schließlich und in all diesen Beziehungsebenen besitzt er eine Fähigkeit zur Gottesbeziehung.19 Die Gottesbeziehung qualifiziertdie anderen Beziehungs- ebenen, weshalb religiöses Lehren und Lernen alle Beziehungsdimensionen ansprechen muss. Religiöse Bildung will, so verstanden, den ganzen Menschen bilden, nicht isolierte Teilbereiche der menschlichen Existenz. »Religionund Bildung sind auf das Ganze der Menschen angelegt, aufihr Verhältnis zum Einzelnen und zur Gesellschaft, aufWeltund Geschichte, aufdas Bedingte und Unbedingte.«20 Aus diesem Grunde umfasst das religionspädagogische Menschenbild die Dimen- sionen Körper,Leib,Geist, Sexualität, Endlichkeit, Geschichtlichkeit, Identität, Sozialität, Freiheit, Versagen, Schuld, Sünde, Zeit,Rationalitätund nichtzuletzt Religion.21 Aufgrund der daraus resultierenden Vielfalt an Lernbereichen sind vielfältige religionsdidaktische Ansätze vonnöten. »Menschen bilden« kann man nichtdurch ein Einheitskonzept religiöser Bildung oder eine Einheitsdi- daktik. Nebender Heterogenitätund Pluralitätder Schülerschaftist dies einer der Hauptgründe fürdie Heterogenitätund Pluralitätder Religionsdidaktik.

19 Ausführlich begründet in:Reinhold Boschki, »Beziehung« als Leitbegriff der Religionspä- dagogik. Grundlegung einer dialogisch-kreativenReligionsdidaktik, Ostfildern2003. 20 Gottfried Bitter,Bildung und Religion, ein Verhältnis in Kontakt und Distanz, in:Ders. / Martina Blasberg-Kuhnke(Hg.), Religion und BildunginKirche und Gesellschaft (FS NorbertMette), Würzburg 2011, S. 240–265, hier S. 257. 21 Vgl. Grümme, Menschen bilden?, S. 156–490. Religionsdidaktik in Theorie und Praxis. Exemplarische aktuelle Entwürfe 47

3. Überblick über religionsdidaktischeAnsätze

3.1. Grundmodelle der Religionsdidaktik

Trotz der Vielfalt religionsdidaktischer Theorie- und Praxisansätze gibt es so- genannte Grundmodelle, die in den diversen Konkretisierungen ihren Prinzi- pien nach zur Anwendung kommen. Sie repräsentieren Grundansätze oder Grundoptionen, die austheologischen und bildungstheoretischen Argumenten entwickelt wurden und in übergreifender Weisedie religionsdidaktische Landschaftprägen. Drei solcher Grundmodelle sind Korrelation, Elementari- sierung und dialogisch-kreative Religionsdidaktik. Korrelation zwischen Erfahrung und Glauben: Korrelation ist ein theologi- sches, hermeneutisches und didaktisches Prinzip,das eine kritische Interrela- tion vonGlaubens- und Lebenserfahrungen ermöglichen und anregen will. Namen wiePaulTillich, Karl Rahner und EdwardSchillebeeckx stehen fürdas theologische Vordenken einer im Anschluss an theologische Denkmuster ent- wickelten Didaktik. Die sogenannte Korrelationsdidaktik ist ein Konvergenz- modell, das die Lebenserfahrungen der Menschen in Korrelation mit den Glaubenserfahrungen ausBibel und Tradition bringen will.22 Die Korrelations- didaktik ist nichtohne Schwierigkeiten und kritische Punkte, die seit den 1990er Jahren diskutiertwerden.23 Vielfach wurde die theologisch und hermeneutisch anspruchsvolle Korrelation durch ein simples Schema methodisch derartrea- lisiert, dass die Lebenserfahrung der Lernenden mit der Glaubenserfahrung aus Bibel und Tradition einfachhin ›beantwortet‹ wird,was jedoch weder in Bezug aufdie Würde der menschlichen Erfahrungen noch im Blick aufderen Hete- rogenitätineiner pluralen Gesellschaftfruchtbringend sein kann. Inzwischen wird Korrelation als ein religionspädagogisches Grundprinzip verstanden, das durch eine Vielzahl möglicher Didaktiken verwirklichtwerden kann (und muss!).Als weiterführend können deshalb Vorschläge gelten, die Korrelation und Elementarisierung miteinander verbinden:Elementarisierung ist eine mögliche religionsdidaktische Realisierung vonKorrelation. Dennoch, das Prinzip der Korrelation ist nach wievor ein Leitprinzip in religionsdidaktischer Theoriebildung, übrigens auch in der Lehrplanentwicklung. Schülererfahrun- gen dürfen nichtunabhängig vonden Glaubenserfahrungen gesehen werden, die es im Religionsunterrichtzuthematisieren gilt –und umgekehrt. Elementarisierung: zwischen Inhalt und Subjekt. Das Elementarisierungs-

22 Vgl. Georg Baudler,Korrelation vonGlaube und Leben, in:Gottfried Bitter u.a. (Hg.), Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, München 2006, S. 446–451;Ders.,Kor- relationsdidaktik. Lebendurch Glauben erschließen, Paderborn1984. 23 Vgl. zusammenfassend:Rudolf Englert, Religionspädagogische Grundfragen. Anstößezur Urteilsbildung,Stuttgart2007, S. 122–158. 48 Reinhold Boschki konzept ist eines der Grundkonzepteevangelischer und inzwischen auch ka- tholischer Religionsdidaktik.24 Es gehtauf Karl Ernst Nipkow und Friedrich Schweitzer zurück, die das Modell in einer umfassenden Theorie religiöser Bildung verorten. Elementarisierung zieltnichtallein aufElementartheologie, also die möglichst dichte und kondensierte Darstellungtheologischer,dogma- tischer oder biblischer Inhalte, sondernvielmehr aufein Wechselspiel zwischen lernenden Subjekten und elementaren Inhalten. Elementarisieren kann man nichtabstrakt, sondernimmer nurmit Blick aufdie Lernenden. Die entschei- dende Frage lautet:Fürwen soll ein Thema elementar werden?Auf die bil- dungstheoretische und kritisch-konstruktiveDidaktik Wolfgang Klafkis zu- rückgehend, ist eine Doppelbewegung zwischen Lernenden und Inhalten intendiert, die, wieKlafki formuliert, als »wechselseitige Erschließung«25 von Person und Sache fungiert: die Erschließung der Sache fürdie Person bei gleichzeitiger Erschließung der Person fürdie Sache. Insgesamtgiltesimreli- gionsdidaktischen Prozess fünf Pole zu beachten: ElementareStrukturen sind das grundlegend Einfache eines Themas, z.B. aus der religiösen Überlieferung oder Theologie. Hiermit sind nichtSimplifizie- rungen intendiert, sondernsach-und textgemäßeKonzentrationen aufdas Wesentliche. ElementareWahrheiten stellen die Reflexion aufdas gewissmachendWahre dar,das ›hinter‹ den inhaltlichen Strukturen liegt. Hiermit ist nichteine An- einanderreihung vonEinzelinformationen, sondern die Tiefendimension der religiösen Themeninihrem Bedeutungsgehalt fürdie Lernenden gemeint: Welche existenzielle Wahrheit kann sich durch dasThema fürdie Lernenden eröffnen? ElementareZugänge bringen die Verstehensvoraussetzungen der Lernenden in den Fokus, d.h. ihre entwicklungsbedingten, altersgemäßen, herkunfts- und kontextabhängigen Ausgangsbedingungen. Gefragtwird nachden Möglichkei- ten der Lernenden, sich die Themen,Strukturen und Wahrheiten zu eigen machen zu können bzw.sich damit auseinanderzusetzen. ElementareErfahrungen sinddie Vorerfahrungen der Lernenden in religiöser oder existentieller Hinsicht. Im Sinne einer lebensbedeutsamen Erschließung der Inhalte sollen die Glaubens- und Lebenserfahrungen der Subjekte in Dialog, man könnte sagen:›in Korrelation‹, mit den Glaubens- und Lebenserfahrungen treten, die in den Themen repräsentiertsind.

24 Vgl. Friedrich Schweitzer (Hg.), Elementarisierung im Religionsunterricht.Erfahrungen, Perspektiven, Beispiele, 2. Aufl.,Neukirchen-Vluyn 2007. 25 Wolfgang Klafki, Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. ZeitgemäßeAllgemein- bildung und kritisch-konstruktiveDidaktik, 6. Aufl.,Weinheim 2007, S. 96;vgl.auch Ders., Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung, Weinheim 1964. Religionsdidaktik in Theorie und Praxis. Exemplarische aktuelle Entwürfe 49

ElementareLernformen sind die den elementaren Strukturen, Wahrheiten, Zugängen und Erfahrungenangemessenen Lernwege und Methoden, die ja nicht zufällig gewählt, sondernzum Lernprozess ›elementar‹ passend sein sollen. Insgesamtgilt:Elementarisierung bedeutet nichtSimplifizierung.ImGe- genteil!Esgehtumdie hohe Kunst, das wissenschaftlicheund theologische Niveau zu halten bzw.zuerreichen und trotzdem verständlich und entsprechend den Verstehensvoraussetzungen der Lernenden zu unterrichten. Elementari- sierung stehtdemnach zwischen Inhalten und Subjekten, zwischen Vermittlung und Aneignung,hat allerdings eine Schwäche im Blick aufdie Beziehungsdi- mension religiösen Lernens. Korrelation und Elementarisierung gehen aufdidaktische Theorien ausden 1970er Jahren zurück, was bedeutet, dass sie mit Blick aufdie neuere didaktische Diskussion weiterentwickelt werden müssen. Insbesondere ist der Elementari- sierungsansatz aufgrund seiner differenzierten didaktischen Struktur offen für eine dynamische Fortschreibung und Anpassung, beispielsweisedie Aufgabe, fachdidaktische Theorie und Praxis kompetenzorientiert›durchzubuchstabie- ren‹.26 Die Frage nachden »elementaren Strukturen« zielt aufeine Förderungder Sach- und Wahrnehmungskompetenz, ästhetischen Kompetenz und Deu- tungskompetenz, die Frage nach den »elementaren Wahrheiten« aufOrientie- rungs-, Dialog-, und Verantwortungskompetenz. Die Auseinandersetzung mit den »elementaren Zugängen« der Lernenden zielt aufderen personale Kompe- tenz und Urteilskompetenz, die »elementaren Erfahrungen«auf Sprach-,Selbst- und Sozialkompetenz. Schließlich will die Reflexion und Realisierung »ele- mentarer Lernwege« die Methoden-, Handlungs- und Gestaltungskompetenz entwickeln. Elementarisierendes didaktisches Handeln kann demnach ein ganzes Bündel vonKompetenzen der Lernenden stimulieren und im Idealfall vergrößern. Dialogisch-kreativeReligionsdidaktik lenkt das Augenmerk aufdie Tatsache, dass Religion ein Beziehungsgeschehen darstellt, weshalb sie den Beziehungs- begriff theologisch und anthropologisch in den Mittelpunkt setzt.27 Gleichzeitig nimmt sie die Lernenden in ihren Beziehungen wahr und ernst. Beziehungen sind fürden Menschen aufmehreren Ebenen essenziell, was sichimreligiösen Lebenwiderspiegelt. Alle großen Religionen (so auch dasChristentum) wollen den Menschen in seiner elementaren Beziehung zu sich selbst ansprechen, seine Selbstwahrnehmung schulen, sein Selbstwertgefühl, sein Selbstvertrauen stär-

26 Vgl. Friedrich Schweitzer (Hg.), Elementarisierung und Kompetenz. WieSchülerinnen und Schüler von»gutem Religionsunterricht«profitieren, Neukirchen-Vluyn 2008. 27 Vgl. Reinhold Boschki, Dialogisch-beziehungsorientierte Religionsdidaktik, in:Bernhard Grümme /Hartmut Lenhard/Manfred L. Pirner (Hg.), Religionsunterrichtneu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik. Ein Arbeitsbuch fürStudie- rende und Lehrer/innen, Stuttgart2012, S. 173–184. 50 Reinhold Boschki kenund seineFähigkeit zur Selbstreflexion unterstützen. Weransich selbst arbeitet, beginntinanfanghafter Weise eine religiöse Tätigkeit, da die weiteren Beziehungsdimensionenbei der Selbstbeziehung bereits angesprochen sind. Zweifellos sind alle Religionen interessiertanden Beziehungen der Menschen untereinander. In den monotheistischen ebenso wieinden fernöstlichen Reli- gionen gibt es ausgeprägteethische Reflexionen, moralische Gebotssysteme und soziale Verhaltensregeln. Die »goldene Regel« beispielsweise, wonach man dem anderen tun sollte, was man selbst vonihm erwartet, findet sichinallen Welt- religionen, denn sie alle wollen das menschliche Zusammenlebenordnen. Weiterhin lebt der Mensch in einer grundlegenden Beziehung zur ihn umge- benden Welt und Wirklichkeit, die fürreligiöses Lernen entscheidend ist, denn Religion prägt diese Beziehung in signifikanter Weise. Sie bietet Deutungs- möglichkeiten zum Verständnis der Wirklichkeit und ihrer Phänomene an (Liebe, Leid, Todetc.), die sich zu einem sinnhaften Kohärenzsystemgestalten können. Schließlich rückt die dialogisch-kreative Religionsdidaktik die Bezie- hung des Menschen zur Zeit in den Mittelpunkt. Zeitbeziehung ist elementar für unseren Lebensrhythmus (z.B. Alltagszeit,Zeitstruktur,Zeittaktung,knappe Zeit, begrenzte Lebenszeit). Stets stehen wirineinem bestimmten Verhältnis zur Zeit. Religiöse Bildung will fürdiese Zeitbeziehung sensibilisieren und sie damit intensivieren (Gebetszeiten, Zeiten fürMeditation, Feier,Fest, Trauer etc.). All diese Beziehungsdimensionen werden –imchristlichen Verständnis – qualifiziertvon der Gottesbeziehung. Sie umgreiftdie menschlichen Beziehun- gen und gibt ihnen (im Idealfall) eine neue Qualität. Ein Beispiel:Die Identi- tätskonstruktion von(jungen) Menschen ist heute unter den Voraussetzungen der Postmoderne mehr denn je gefragt.Die Sozialwissenschaftsprichtvon unsicherer,verflüssigter,flüchtiger Identitätoder vonIdentitätinFormeines Patchworks.28 In diesen Identitätskonflikten will religiöse Bildung den Menschen Orientierung bieten. In religionsdidaktischer Konkretisierung heißtdies, dass jede Unterrichtseinheit daraufhin befragtwerden muss, wo Elemente der Selbstbeziehung,der Beziehung zu anderen etc. zum Tragen kommen können. Identitätsarbeit ist Beziehungsarbeit, was religiöses Lernen wesentlich als Be- ziehungslernen charakterisiert. Beispielsweisekönnen biblische Geschichten aufihre Beziehungsstrukturen hin untersuchtwerden, um Lernende fürihre eigenen Beziehungsstrukturen zu sensibilisieren. Konkret:Gottes grundlegende Annahme des Menschen und sein Vertrauen in ihn kann den Menschen helfen, sich selbst anzunehmen, eigenes Selbstvertrauen aufzubauen und andereMen- schen anzunehmen.Inder dialogisch-kreativenReligionsdidaktik werden alle Unterrichtsfelder mit beziehungsorientierten »Leitfäden« durchzogen, die dar-

28 Vgl. Heiner Keupp, Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spät- moderne, 2. Aufl.,Reinbek b. Hamburg 2008. Religionsdidaktik in Theorie und Praxis. Exemplarische aktuelle Entwürfe 51 aufabzielen, die Beziehungskompetenz als Deutungs- und Partizipationskom- petenz der Lernenden zu fördern (im Blick aufdie Bezugsreligion ebenso wieauf die anderen Religionen und die Gesellschaft). Wichtigzusehen ist, dass die verschiedenen religionsdidaktischen Grund- modelle, ebenso wiedie weiteren Entwürfe, nichtisoliertneben- oder gar ge- geneinander stehen. Im Gegenteil, sie sind komplementär, ergänzen sich ge- genseitig und können Defizite, die in einem anderen Ansatz bestehen, ausgleichen. So ist die Beziehungsorientierung der dialogisch-kreativenReli- gionsdidaktik ein wesentliches Korrektiv der Elementarisierung,die die Bezie- hungen der Akteure im Bildungsprozess untereinander sowiederen Beziehun- gen zu sich selbst, zu anderen, zur Welt, zu Gott und zur Zeit tendenziell vernachlässigt. Deshalb schlage ich vor, dass die oben erwähnten Pole der Ele- mentarisierung um eine weitere, entscheidende Dimension ergänzt werden, die »elementaren Beziehungen«.29 Die Frage nach den Beziehungen sollte den ge- samten Prozess der Elementarisierung durchdringen und beiden verschie- densten didaktischen Entscheidungen eine Rolle spielen. Umgekehrtkann der dialogisch-kreative Ansatz elementarisierend realisiertwerden.

3.2. Weitere ausgewählte religionsdidaktische Ansätze

Gewollte und sinnvolle Vielfalt. Die gegenwärtige Landschaftreligionsdidakti- scher Ansätze stellt sich wieein großer,bunter Flickenteppich dar:Diverse Ansätze sind ›flickenartig‹ zusammengenäht,scheinbar wahllosnebeneinander gesetzt und haben nur deshalb etwasmiteinander zu tun, weil sie sich im glei- chen ›Teppich‹ namens ›religiöse Bildung‹ befinden. Aktuelle Handbücher der Religionsdidaktik verzeichnen Ansätze wieSymbol- und Zeichendidaktik, Kinder-und Jugendtheologie, Bibeldidaktik, ökumenisches Lernen, interreli- giöses Lernen, konstruktivistische Religionsdidaktik, erinnerungsgeleitetes Lernen (im Sinn einer religiösenBildung nach Auschwitz), mystagogische Di- daktik, biographisches Lernen, problemorientierte Religionsdidaktik, gender- sensibles Lernen, handlungsorientierter Religionsunterricht, ethisches Lernen, Spiritualitätsdidaktik, interkulturelles Unterrichten, performativeReligionsdi- daktik, dialogisch-kreative Religionsdidaktik und Weiteres.30 Alle Ansätze

29 Reinhold Boschki, Elementare Beziehungen. Der Elementarisierungsansatz in der Per- spektivereligionspädagogischerAnthropologie,in: Schlag /Simojoki, Mensch –Religion – Bildung, S. 467–477. 30 Zusammengestelltaus folgenden Überblickswerken zur gegenwärtigen Religionsdidaktik: BernhardGrümme /Hartmut Lenhard/Manfred L. Pirner (Hg.), Religionsunterricht neu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik. Ein Arbeitsbuch für Studierende und Lehrer/innen, Stuttgart 2012;HansMendl, Religionsdidaktik kompakt. Für 52 Reinhold Boschki wollen die unterschiedlichen Bereiche dessen ansprechen und fördern, was unter »religiöser Kompetenz« zu fassen ist. Kompetenzorientierte Religionsdidaktik. Die Aufgabezur Kompetenzorien- tierung aller Fachdidaktikenhat auch der Religionsdidaktik entscheidende Impulse zur Weiterentwicklung gegeben.31 Allgemein gesehen zielt Religions- didaktik darauf ab,konkrete Kompetenzen zu schulen, die fürden Umgang mit religiösen Themen unerlässlich sind. Nach dem sogenannten »Berliner Modell religiöser Kompetenz«32 erstreckt sich religiöse Kompetenz –erstens aufdie Bezugsreligion (bewusst wird nicht›eigene‹ Religion gesagt, da viele Schüler/innen keine ›eigene‹ Religion mitbringen (1.);hier gehtesum die Religion bzw.Konfession, ausderen Perspektiveunterrichtet wird), –zweitens aufdie anderen Religionen und Weltanschauungen (2.) sowie –drittens aufdie »außerreligiösen Bereiche« wiedie Gesellschaft(3.).

In diesen drei Bereichen brauchen die Lernenden –ein allgemeines (z.B. religionskundliches) Wissen (A.), das die Basis für weitere Kompetenzen darstellt, –sodanneine entsprechende Deutungskompetenz (B.) –sowie schließlich eine Partizipationskompetenz (C.).

Alle drei Bereiche (1.,2., 3.) und alle drei Kompetenzniveaus (A.,B., C.) sind miteinander verwoben und aufeinander bezogen. Bibeldidaktik zielt stark aufFörderungder interpretativen Kompetenz im Blick aufdie eigene Bezugsreligion (im Kontext eines christlichen Religions- unterrichts):33 Welt und Wirklichkeit, insbesonderedie eigene Erfahrungs- und Alltagsweltsollen vonden Lernenden (zumindest ansatzweise) mit Hilfebibli- scher Welt-, Menschen- und Gottesbilder gedeutet werden können. Alle bibel- didaktischen Ansätze wollen die Erfahrungen, die in den biblischen Texten

Studium, Prüfung und Beruf, München 2011;Georg Hilger/Stephan Leimgruber /Hans- Georg Ziebertz, Religionsdidaktik. Ein Leitfaden fürStudium, Ausbildungund Beruf, München2010;Christina Kalloch u.a.,Lehrbuch der Religionsdidaktik. FürStudium und Praxis in ökumenischer Perspektive, Freiburg i.Br.2009;Jahrbuch der Religionspädagogik 18 (2002), Themenband»Religionsdidaktik«. 31 Vgl. Martin Rothgangel, Kompetenzorientierter Religionsunterricht:theoretische Potentiale –empirische Desiderate–problematische Implementierung, in:Zeitschrift fürTheologie und Pädagogik 66, 4(2014), S. 311–328;HeikeLindner,Kompetenzorientierte Fachdidaktik Religion, Göttingen 2012. 32 Dietrich Benner u.a. (Hg.), Religiöse Kompetenz als Teil öffentlicher Bildung, Paderborn 2011. 33 Vgl. Mirjam Zimmermann /Ruben Zimmermann (Hg.), Handbuch Bibeldidaktik,Stuttgart 2013;Burkard Porzelt, Grundlinien biblischer Didaktik, Bad Heilbrunn 2012;Gottfried Adam u.a. (Hg.), Bibeldidaktik. Ein Lese- und Studienbuch,Münster 2007;Jahrbuch der Religionspädagogik 23 (2007),Themenband »Bibeldidaktik«. Religionsdidaktik in Theorie und Praxis. Exemplarische aktuelle Entwürfe 53 aufbewahrtsind und die ihnen zugrunde liegen, ins Gespräch, in Beziehung,in Austausch (»in Korrelation«) mit den Erfahrungen der Menschen vonheute, den Lernenden bringen. Dabei können unterschiedliche Zugangsweisenzum Tragen kommen:34 Lernprozesse, die vomText ausgehen und zum Subjekt hinführen wollen, können als hermeneutische Bibeldidaktik bezeichnet werden.Sie stellen den Text in den Mittel- bzw.anden Ausgangspunkt und versuchen mit den Ler- nenden zusammen zu ergründen, was der Text den Lesernoder Hörern sagen will. Der entgegengesetzte didaktische Wegführtvom Subjekt zum Text. In neuerer Zeit setzen sich immer stärker rezeptionsästhetische Denkmuster durch, die davonausgehen, dass sich der Sinn des Textes erst in seiner Rezeption erschließt. Eine Bibel, die nichtgelesen wird,ist an sich nichts wert, sie erschließt sich erst durch die Rezeption der Lesenden, in deren Kopf und Herz der Bibeltext und dessen Bedeutung generiertwerden. Leser/innen und Hörer/innen werden zu Konstrukteuren oder zumindest Ko-Konstrukteuren des Textsinns. Hier wird Bibeldidaktik vonden Lernenden her konzipiert. Zwischen beiden Herange- hensweisen stehen dialogischeAnsätze: Der Sinn liegtnichtimText als solchem, auch nichtausschließlich im Rezipienten, sondernerschließtsich in der Be- gegnung und Beziehung zwischen Text und Subjekt. Im Hin und Herzwischen Bibel und Lernenden entwickeltsich ein schöpferischer und sinngenerierender Austausch. »Interaktionale« oder »dialogische Bibeldidaktik« stellen eine Art Vermittlungsposition zwischen den erstgenannten Ansätzen dar.35 An dem Beispiel der Bibeldidaktik wird deutlich, wieunterschiedlich und vielfältig sich die religionsdidaktische Situationdarstellt, aber auch, dass di- vergierende Ansätze nichteinander ausschließen, sondern bisweilen dialektisch aufeinander verweisen. In der pluralen und multireligiösen bzw.multikulturellen Gesellschaftliegt aufder Hand: Interreligiöses und interkulturelles Lernen gewinnen immense Bedeutung,was sich in der gegenwärtigen religionsdidaktischen Landschaft widerspiegelt.36 Derzeit bekommt Religionsdidaktik gerade wegen ihres inter- religiösen Auftrags neue Relevanz, da die Gesellschaftaufgrund ihrer Multire- ligiositätimmer stärker aufMenschen angewiesen ist, die sich nichtnur in der eigenen Religion auskennen, sondern auch in der Lage sind, Fremdphänomene zu verstehen und einzuordnen.Von daher verändernsich religiöse Bildung und Religionsdidaktik in Richtung einer Instanz, die die interreligiöse (und inter-

34 Vgl. Mirjam Schambeck, BibeltheologischeDidaktik. Biblisches Lernen im Religionsunter- richt, Göttingen 2009, S. 17–67. 35 Vgl. Julia Lehnen, Interaktionale Bibelauslegung im Religionsunterricht, Stuttgart2006 (Praktische Theologie heute, 80). 36 Vgl. Friedrich Schweitzer, Interreligiöse Bildung.Religiöse Vielfaltals religionspädagogische Herausforderung und Chance, Gütersloh 2014. 54 Reinhold Boschki kulturelle) Kompetenz der Lernenden fördert. Diesen Gedanken bringt etwa Gabriel Moran zum Ausdruck:

»Myclaim is that religious education is one of the central issuesofinternational understanding in today’s world.Future peace and security depend not only on politics, economicsand technology, but on the successful transformation of religious education. […] We still have along waytogoinshifting the term›religious education‹sothat it is recognized as aserious participantinworldwide struggles for peace, justice and freedom.«37

Will Religionsdidaktik diese Aufgabewahrnehmen(was auch dem Auftrag und den formulierten Bildungsstandardsder Kirchen entspricht), muss sie sich neben der Bezugsreligion besonders den anderen Religionen und Weltan- schauungen zuwenden. Voraussetzungen fürden Dialogzwischen den Religio- nen sind bestimmte Kompetenzen, die in der interreligiösen Bildungsarbeit erlernt werden müssen:38 Begegnungskompetenz umschließtdie Fähigkeit, Menschen anderer Religionen mit Respekt, Hochachtung und religiöserTole- ranz gegenüberzutreten, wieesdem Geist der »Erklärung zum Verhältnis der KatholischenKirche zu den nichtchristlichenReligionen« Nostra Aetate ent- spricht.39 Differenzkompetenz kann erworben werden, indem die Unterschiede zwischen Glaubenssystemen erlebtund reflektiertwerden. Weitere interreli- giöse Kompetenzen sind: Interreligiöse ästhetische Kompetenz, Inhaltskompe- tenz, Kommunikationskompetenz und interreligiöse Handlungskompetenz. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass die Bedeutung einer interreligiösorien- tierten Religionsdidaktikinden nächsten Jahren noch wachsen wird, insbe- sondereimZusammenhang mit der in vielen Bundesländernbeginnenden Einführung muslimischen Religionsunterrichts und der damit zusammenhän- genden Verankerung islamischer Religionsdidaktik an Universitäten. Die mul- tireligiöse Gesellschaftbrauchtkompetente religiöse Handlungssubjekte, wobei der Schule –und dortbesonders dem Religionsunterrichtverschiedenster Couleur –eine immense Aufgabezukommt. Performative Religionsdidaktik ist ein Beispiel füreinen relativ jungen Ge- danken in der Religionsdidaktik, der sich in besonderer Weisedem Verlust von

37 Gabriel Moran, Religious Education and InternationalUnderstanding, in:Dennis Bates / Gloria Durka/Friedrich Schweitzer (Hg.), Education, Religion and Society. Essays in honour of John M. Hull, London/NewYork 2006, S. 38–48, hier S. 38. 38 Vgl. Stefan Altmeyer,Competencesininter-religious learning,in: Kath Engebretson u.a. (Hg.), International handbook of inter-religious education,New Yo rk u.a. 2010, S. 627–641; Stefan Leimgruber,Interreligiöses Lernen, München 2007, S. 100f.;vgl.insges. Mirjam Schambeck, Interreligiöse Kompetenz. Basiswissen fürStudium, Ausbildungund Beruf, Göttingen 2013. 39 Text und weitere Informationensiehe:Reinhold Boschki (Hg.), Nostra Aetate. Dialog und Erinnerung, verfügbar unter URL:http://www.nostra-aetate.uni-bonn.de/[05.03.2015]. Religionsdidaktik in Theorie und Praxis. Exemplarische aktuelle Entwürfe 55 religiösen Erfahrungen heutzutage stellt und die Möglichkeit der tätigen An- eignung religiöser Traditionen erweitert.40 Aufgrund zunehmender Ahnungs- losigkeit der Schülerinnen und Schüler gegenübergelebter Religion soll im Religionsunterrichtnichtnur über Religion gesprochen und Inhalte mitgeteilt werden (Vermittlung), sondern religiöse Formen sollen in Szene gesetzt und dargestellt werden, was aufeine zunächst probeweise erfolgende Aneignung durch die Lernenden setzt. Dabei gehtesumeine szenische Erweiterung des Religionsunterrichts, der den gestalterischen und inszenierenden Elementen durch Aufführungen,Rituale und bewegliche Darstellungen Raum gibt. Darin können sich Schülerinnen und Schüler ›ausprobieren‹, was die Lerngruppe im Anschluss reflektiertund deutet. Durch die bestimmte Form (lat. per formam) sollen die ästhetische Dimension des Religiösen hervorgehoben, Wahrnehmung und Ausdruck geschult und der Wegzueigenen religiösen Erlebnissen eröffnet werden. Wichtigist das Nach-Denkendes Inszenierten und Erlebten, womit nach der szenischen die intellektuelle Aneignung ermöglichtwird. Es bleibt abzuwarten, inwieweit der performativeAnsatz in religionsunterrichtlicher Praxis rezipiertwerden wird. Das Motto performativer Religionsdidaktik könnte formuliertwerden als: Religion ist mehr als Reden überReligion, sie ist wesentlich Handlung.Damit gehtihretheoretischeGrundlegung zurück aufdie Sprachtheorie (Ludwig Wittgenstein) und insbesondereSprechakt-Theorie (John R. Searl;John L. Austin). Religiöse Sprache wird in hohem Maßeals performativ erkannt. Per- formativeReligionsdidaktikwill Lernende mit religiösen Vollzügen vertraut machen, ohne dabei eine kirchlich-verkündigende Religionsdidaktik darzu- stellen. Sie richtet ihr Augenmerk aufreligiösbedeutsame Bereiche wieKörper (z.B. körperlich-sinnliche, spürbare Symbolhandlungen;Körperhaltungen, Gebetshaltungen, Gesten wieSegnen), Raum (sakrale Orte, Besuch vonKirchen, Klöstern, Kapellen, Wallfahrtsorten), Sprache (z. B. liturgische Sprache, Ge- betssprache, Predigt), Kunst (religiöse Musik, überlieferte Gesänge, Kirchen- musik, geistliche Musik, sakrale Musik, Malerei, Bildhauerei, Architektur als steingewordeneTheologie), Spiritualität(Ausdrucksgestalt des Glaubens;me- ditativeElemente). Zu beachten ist, dass interreligiöses und interkulturelles Lernen sehr häufig performative Vollzüge einschließt(z.B. Ausziehen der Schuhe beim Betreten einer Moschee;Beschäftigung mit den Gebetshaltungen anderer Religionen). Religiöses Lernen, so der Grundsatz, ist nichtdas Ergebnis vonInformation, sondern vonVollzug.PerformativeReligionsdidaktik will re-

40 Vgl. Thomas Klie /SilkeLeonhard (Hg.), PerformativeReligionsdidaktik. Religionsästhetik –Lernorte –Unterrichtspraxis, Stuttgart2008;Mirjam Schambeck, Religion zeigen und Glauben lernen in der Schule. Zu den Chancen und Grenzeneines performativen Religi- onsunterrichts, in:Religionspädagogische Beiträge 58 (2007), S. 61–80;SilkeLeonhard / Thomas Klie, Grundzüge einer performativen Religionsdidaktik, 2. Aufl.,Leipzig 2006. 56 Reinhold Boschki ligiöse Bildung vonreinem »Sprechen überReligion« hin zu einem verstehenden Vollziehen vonreligiösen Formen vertiefen und damit die Kompetenzen der Lernenden differenziertfördern. Eine weitere Tendenz der Religionsdidaktik zeichnet sichab: Interdiszipli- naritätwird nichtnur in der Wissenschaft, sondernauch in der Didaktik immer wichtiger.Eine fächerübergreifende, integrierende Perspektive ausreligionsdi- daktischer Sichtstehtzwar erst am Anfang.Erstmals haben Manfred L. Pirner und Andrea Schulte in ihrem Sammelwerk »Religionsdidaktik im Dialog–Re- ligionsunterrichtinKooperation« religiöse Didaktikkonsequentinden Fä- cherverbund einbezogen.41 Sie leuchten konkrete Formen des fächerübergrei- fenden Unterrichts aus, wozu das Gespräch mit anderen Fachdidaktikengesucht und realisiertwird:Indieser Religionsdidaktik schreiben erstmals nichtnur Religionspädagog/innen, sondernauch Musik-, Anglistik-, Mathematik-, Geo- graphie-,Allgemein- und Geschichtsdidaktiker/innen sowieWirtschaftspäd- agogen. Vernetzung,Respekt fürdie Eigenständigkeit des Anderen, Offenheit im Dialog mit dem gleichberechtigten Diskurspartner sind zentrale Stichworte und Leitideen. Damit wird Religionsunterrichtaus der marginalisierten Eckeher- ausgeholt und sein Profil als Kooperationspartner mit anderen Fächerngestärkt. In Abgrenzung zu defizitären oder vereinnahmenden Kooperationsformen werden »Begegnung als Schlüsselbegriff fürfächerverbindendes Arbeiten« im Religionsunterrichtauf theoretischer Ebene eingeführtsowie Grundzüge und Grenzen fächerübergreifenden Unterrichts aufgezeigt.42 In diesem Ansatzwer- den interdisziplinäre Ausarbeitungen zur Zusammenarbeit des Religionsun- terrichts mit den FächernDeutsch,Englisch, Musik, Geschichte, Politik, Geo- graphie, Ökonomie, Mathematik, Naturwissenschaften im Allgemeinen, Physik und Sport›durchbuchstabiert‹. In einer solchen Annäherung an ein integrierendes Bildungsverständnis, wie es hier eingangs dargelegtwurde, wird ein deutlicher Akzentgegen Fragmen- tarisierung des Wissens und der (religiösen) Bildung gesetzt. Dies gilt auch für Überlegungen, Religionsdidaktik nichtallein aufdas Klassenzimmer zu fo- kussieren, sondernimHorizontder Schulkultur zu verankern. Der Wiener Ansatz einer religionsdidaktisch begründeten, auf Schulkultur und Schulent- wicklung zielenden »Kultur der Anerkennung« trägt der Tatsache Rechnung, dass letztlich jedes in der Schule unterrichtete Fach, in besonderer Weise jedoch der Religions- und Ethikunterricht, am Zusammenleben der Schüler/innen und Lehrer/innen sowieder Elternund anderer an Schule Beteiligter interessiert ist

41 Vgl. Manfred L. Pirner /Andrea Schulte (Hg.), Religionsdidaktik im Dialog –Religionsun- terrichtinKooperation, Jena 2010 (Studien zurReligionspädagogik und Praktischen Theologie, 2). 42 Vgl. ebd.,S.11–45. Religionsdidaktik in Theorie und Praxis. Exemplarische aktuelle Entwürfe 57 bzw.sein sollte.43 Eine »Kulturder Anerkennung« gehtkonsequentvon der pluralen Wirklichkeit unserer Gesellschaft und der Schule aus, in der Diversität und Heterogenitätzum Normalfallgeworden sind. Schule solle ein Ortder Verständigung vonMenschen verschiedener Herkunft, kultureller Prägung und religiöser Zugehörigkeit werden und insofernzur echten Lernschule fürGe- sellschaft. Dabei sei eine schulkulturell ausgerichtete Religionsdidaktik ein we- sentliches Ferment. Zu erwähnen bleiben zum Schluss noch zwei immens expandierende Felder religionsdidaktischer Theorie und Praxis, die in ihrer Bedeutung meist unter- schätzt werden: die berufsorientierte und die integrative Religionsdidaktik.44 Sie können hier nur angedeutet werden, weil sie eigener Ausarbeitungen bedürften. Erstere reflektiertUnterrichtunter den Bedingungen vonberuflicher Ausbil- dung im weit verzweigten Netz berufsorientierender,zur beruflichen Ausbil- dung hinführender (Stichwort: »Übergangssystem«)und berufsbildender Schultypen, in denen der Religionsunterrichtgesetzlich verpflichtend verankert ist, jedoch in vielen Fällen nurzeitweise, manchmal auch gar nichtetabliert wird (aufgrund vonLehrermangelodermangelndem Willen zur Organisation reli- giöser Bildung). –Integrative Religionsdidaktik widmet sich dem immer wichtiger werdenden Bereich der bildenden Arbeit mit Menschen mit Behin- derung,was in Zeiten der bundesweit eingeführten Regelung zur »Inklusion« auf allen Ebenen des Bildungssystems besondere Dringlichkeit erfährt.45 Wieer- wähnt, all diese (und noch viele weitere) religionsdidaktischeAnsätze stehen zeitgleich nebeneinander,ohnesich gegenseitig abzulösen. Die weitere Ent- wicklung religionsdidaktischer Theorie und Praxis bleibt ebenso dynamisch wie spannend.

Fazit

Bildung, so der Ausgangspunkt dieser Überlegung,ist als theoretisches Konzept prägend fürdidaktische bzw.fachdidaktische Ansätze. Ein zu eng geführtes Bildungskonzept kann Verengungen im jeweiligen fachdidaktischen Ansatz

43 Vgl. Martin Jäggle u.a. (Hg.), lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung,Wien 2010. 44 Zum Überblick:Vgl.Gesellschaft fürReligionspädagogik und dem Deutschen Kateche- tenverein (Hg.), Neues Handbuch ReligionsunterrichtanberufsbildendenSchulen, 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn2006;Annebelle Pithan /Gottfried Adam /Roland Kollman (Hg.), Handbuch IntegrativeReligionspädagogik. Reflexionen und Impulse fürGesellschaft, Schule und Gemeinde, Gütersloh 2002. 45 Vgl. SabinePemsel-Maier /Mirjam Schambeck(Hg.), Inklusion!? Religionspädagogische Einwürfe,Freiburg 2014. 58 Reinhold Boschki bewirken. Fürreligionsdidaktische Theoriebildung ist eine Konzeption von Bildung vorteilhaft, die die verschiedenen Aspekte des Menschseinsvor dem Hintergrund einer religionspädagogischen Anthropologie berücksichtigt.Für fachdidaktische Entwürfeinanderen Fächernkönnten jeweils andere Ver- ständnishorizonte vonBildung tragend sein. Wichtigist, sich die Bildungsvor- stellungen innerhalb der Fachdidaktik bewusst zu machen, sie theoretisch und im Anschlussandie aktuelle Bildungswissenschaftzureflektieren und aufgrund einer fachdidaktischen Kriteriologie aufderen Anschlussfähigkeit zu prüfen. Das Fazit der obigen Ausführungen mündet demnach in ein Plädoyerfürrege bildungstheoretische Diskussionen innerhalb der einzelnen Fachdidaktiken sowieininterdisziplinärenSettings zwischen den Fachkulturen in der Lehrer- bildung.

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»Wozu braucheich das allesimUnterricht?« – Geschichtswissenschaft in der Lehrerbildung

1. Einleitung1

»Sehen Sie vor dem Hintergrund Ihrer Unterrichtspraxis Entwicklungsbedarf fürdas universitäre Geschichtsstudium?Welchen?« –Diese Frage beantwortete eine Referendarin oder ein Referendar2 im Rahmen einer anonymen Erhebung mit folgenden Stichpunkten: »Mehr fachdidaktische Kurse die [sic] aufden Schulunterrichtvorbereiten ! mehr Praxis ! Mehr Veranstaltungen, die Überblickswissen vermitteln + aufdie Themen des Schulunterrichts abgestimmt sind.« Die Antworteiner weiteren befragten Person lautet:

–»Konkrete Vorbereitung, z.B. Heranführung an Lehrpläne, Kompetenzorientierung, mehr Praxissimulation,Phasierung –Weniger Anhäufung vondetailierten [sic] Fachwissen, sondernBehandlung voninden Lehrplänenvorkommenden Themen –Anleitung zur didaktischenReduktion statt immer weitere Vertiefung vonDetails«

Diese Äußerungen gehören zum Ertrag einer kleinen Umfrage, die der Lehrstuhl fürDidaktikder Geschichte an der UniversitätBonn mit Unterstützung von Fachleitern der Köln-Bonner Region durchführthat.3 Die zitierten schriftlichen

1Fürkritische Rückmeldungen und Verbesserungsvorschläge zu diesem Beitrag dankeich Frau Magdalena Kämmerling. Füreine exzellente Einführungindie älteregeschichtsdidak- tische Literatur,die fürdiesen Beitrag wichtigist, gilt mein Dank meinemehemaligen Fachleiter am Staatlichen Studienseminar fürdas Lehramt an Gymnasien in Koblenz, Herrn Dr.Anton Golecki. 2Das Geschlechtder schriftlich befragten Personen wurde nichterfasst. Nachfolgend bezieht sich die grammatisch männlicheForm beiBegriffenwie Lehrer,Schüler,Fachleiter etc. immer aufbeide natürlichen Geschlechter. 3Ziel der Umfrage war es, vor dem Hintergrund der praktischen Herausforderungen des Re- ferendariatsmehr überErwartungen angehender Lehrer gegenüberGeschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik im Lehramtsstudium zu erfahren. FürUnterstützung beider Durchführung der anonymen schriftlichen Erhebungdankeich folgenden Fachleitern der 62 Peter Geiss

Antworten vom7.Mai 2014 sind einer Seminargruppe zuzuordnen,aus der es 18 Rückläufe gab.Innerhalb dieser kleinen Stichprobe können sie als typisch gel- ten,4 auch wenn zu betonen ist, dass sie nureinen schlaglichtartigen Eindruck vermitteln, dessen Repräsentativitätdurch die Auswertung vonvorliegenden Antworten ausanderen befragten Gruppen zu überprüfen wäre.5 Die Zitate scheinen mir Meinungs- und Erwartungstrends widerzuspiegeln, die ich auch im Rahmen meiner geschichtsdidaktischen Lehrveranstaltungen an der Uni- versitätbeobachtet habe: Gewünschtwerden Breite und Überblick statt»De- tails«, »lehrplanrelevante« Themen anstelle vonExotischem.6 Diese Wünsche sind meines Erachtens Ausdruck vonernstzunehmenden Erfahrungen. Sie deuten aufeinen Handlungsbedarfhin, den die Universität erkennen muss, wenn sie sich als lernendes System versteht. Vordiesem Hin- tergrund möchte ich in meinem Beitrag der Frage nachgehen, wiedie univer- sitäre Lehrerbildung im Fach Geschichte ohne Verlust ihres Wissenschaftsbe- zugs den praxisorientierten Erwartungen vonReferendaren und Studierenden gerechtwerden kann.Gegenwärtig scheintmir im Bereich der Hochschule noch ein Konsens in der Auffassung zu bestehen, dass universitäre Lehrerbildung nichtauf Ausbildung reduziertwerden kann.7 Sie muss –umesmit Wilhelm von

Köln-Bonner Region:FrauAnne Frey,FrauUrsula Tempel, HerrnThomas Kahl, HerrnDr. Frank Schweppenstette und FrauDr. GudrunTscherpel. FürGegenlektüre und Verbesse- rungsvorschläge zum Fragebogen bin ich Frau Magdalena Kämmerling, fürdie digitale Er- fassung der Daten und die Transkription der Äußerungen FrauKerrin PeschkezuDank verpflichtet. 4Vgl.dazu die weiterenAntwortbeispiele ausderselben Gruppe im Anhang. 5Weitere Fragenbögen ausanderen Referendarsgruppen –insgesamt wurdenfünf Gruppen befragt–vermitteln beierster Durchsichtein ähnliches Bild. Die übrigen Antworten und Angaben zu 15 weiterenFragen können hier nichtvorgestellt werden. 6Lediglich eine Antwortlässt Zufriedenheit mit dem Studium und Bedenken gegenübereiner Lehrplanabhängigkeit der Studieninhalte erkennen. Vgl.Anhang, Nr.16. 7Vgl.hierzu ausführlich den Beitrag vonVolker Ladenthin im vorliegenden Band. Folgerichtig wird an der UniversitätBonndie fürdie Lehramtsstudiengänge fakultätsübergreifend zu- ständigeInstitution, die zugleich Sitz der Bildungswissenschaftist, als »Bonner Zentrum für Lehrerbildung« –und ebennichtals »Zentrum fürLehrerausbildung« –bezeichnet. Kritisch zur Reduzierung vonBildungauf Ausbildung: vgl. die Zusammenfassungeines Vortrags von Frank-Olaf Radtke, in:BeatKissling /HansPeter Klein, Bildungsstandards aufdem Prüfstand –Der Bluff der Kompetenzorientierung. Aufdem Wegzum homo oeconomicus, 18.05.2011, zit. nach URL:http://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/bildungsstandards-auf-dem-pruf stand.html[04.05.2014],S.5 sowieDieter Lenzen, Bologna zerstört unsereakademische Bildung,in: Die Welt (online),13.04.2014, zit. nach URL:http://www.welt.de/126898676 [31.05.2014].Fürden freundlichen Hinweis aufdiesen Artikeldankeich Roland Ißler.Zur Abgrenzung vonautonomiebezogener »Bildung« einerseits und »education«sowie »Ausbil- dung« andererseits in begriffsgeschichtlicher Perspektive: ReinhartKoselleck, Zur anthro- pologischenund semantischen Struktur der Bildung, in:Ders.,Begriffsgeschichten. Studien zur Semantikder politischen und sozialen Sprache, mit zwei Beiträgen vonUlrikeSpree und Willibald Steinmetz sowieeinem NachwortzuEinleitungsfragmenten ReinhartKosellecks vonCarsten Dutt, Frankfurta.M. 2006, S. 105–158, hier S. 110f.;vgl.ferner MichaelMaaser / Geschichtswissenschaft in der Lehrerbildung 63

Humboldt zu sagen –»Wissenschaftimmer als ein noch nichtganz aufgelöstes Problem behandeln und dabei immer im Forschen bleiben«.8 Dies schließteine bloße›Übersetzung‹ der gerade aktuellenschulpolitischen Vorgabeninuni- versitäre Lehrangebote aus.9 Möglich und notwendig ist dagegen die Verzah- nung vonFachwissenschaften, Fachdidaktiken, Bildungswissenschaftund Schulpraxis, wiesie etwa die Rahmenkonzeption fürdas in Nordrhein-Westfalen neu eingeführte Praxissemester nahelegt.10 Die zentrale Herausforderung liegthierbei darin,die Identitätder genannten Bereiche in ihren spezifischen Herangehensweisen und Traditionen einerseits konsequent zu bewahren, Fachwissenschaft, Fachdidaktik, Bildungswissen- schaftund schulische Ausbildung aber andererseits so miteinanderzuverbin- den, dass sie fürdie Studierendenals jeweils unverzichtbare Komponenten eines kohärenten Gesamtkonzepts erkennbar werden. Die Bewahrung unterschiedli- cher institutioneller Rollen innerhalb des Bildungssystems schließtesaus, das arbeitsteilige Zusammenwirken vonSchulpraxis und universitären Disziplinen

Gerrit Walther,Einleitung in:Dies.,Bildung. Ziele und Formen, Traditionen und Systeme, Medien und Akteure,Stuttgart2011, S. XI–XV,hier S. XIIIf. 8Wilhelm vonHumboldt, Überdie innereund äußere Organisation der höheren wissen- schaftlichen Anstalten in Berlin [1810],in: Ders.,WerkeIV: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, hg.v.Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt 2010, S. 255–266, hier S. 256. 9Vgl.Bernd Schönemann, Lehrpläne und Richtlinien, in:HilkeGünther-Arndt (Hg.), Ge- schichts-Didaktik. Praxishandbuch fürdie Sekundarstufe Iund II, 2. Aufl.,Berlin 2005 (Cornelsen Scriptor), S. 48–62, hier S. 50. Schönemann warnt völlig zu Rechtvor einem »praxeologisch«, »präsentisch« und »affirmativverkürzten« Umgang mit Richtlinien und Lehrplänen (ebd.). 10 In genaudiese Richtung zielt die Forderung eines Teilnehmers an der oben vorgestellten Umfrage unter Referendaren (aus einer der weiteren, hier nichtsystematisch erfassten Gruppen): »stärkere thematische Verzahnung vonfachwissenschaftlichen VL [Vorlesung] / PS [Proseminar] /HS[Hauptseminar] und fachdidaktischenVeranstaltungen. […]«; zum bildungspolitisch intendierten Verknüpfungsansatz:Ministerium fürSchule und Weiter- bildung und lehrerbildende Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen, Rahmenkon- zeption zur strukturellen und inhaltlichen Ausgestaltung des Praxissemesters im lehr- amtsbezogenen Masterstudiengang, unterschriebenvon Ministerin Barbara Sommer und dem Vorsitzenden der Landesrektorenkonferenz Axel Freimutham14. April 2010, S. 4, zit. nach URL:http://www.bzl.uni-bonn.de/dokumente/praxiselemente/rahmenkonzept-pra xissemester [29.11.2014],nachfolgend zit. »Rahmenkonzeption«. Vonder Notwendigkeit einer »Verschränkung der fachlichen Gegenstandslogik und der inneren Aneignungslogik lernender Subjekte« sprichttreffendBernhard Dressler,Wie Stricken ohne Wolle?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.3.2013, S. 7, hier zit. nach dem Digitalisat,erreichbar unter URL:http://faz-archiv-approved.faz.net/intranet/biblionet/r_suche/FAZ.ein [23.12. 2014];zur Verzahnung fachwissenschaftlicherund fachdidaktischer Studienanteile:vgl. ferner Matthias Bauer,Schwerpunkt:»Lehramt Plus«, in:Newsletter »Uni Tübingen aktuell«, Nr.2/2013, zit. nach URL:http://www.uni-tuebingen.de/aktuelles/newsletter-uni-tue bingen-aktuell/2013/2/schwerpunkt/4.html[03.07.2014];zur Verwendung des Singulars für den Begriff ›Bildungswissenschaft‹: vgl. den Beitrag vonVolker Ladenthin im vorliegenden Band. 64 Peter Geiss durch den ExportschulpolitischerSteuerungsinstrumente in den universitären Raum hinein sicherzustellen,11 so wieauch in umgekehrter Richtung ein Ein- greifen der Hochschulen in die schulpraktischeAusbildungskultur nichtziel- führend wäre.Voraussetzungen fürein sinnvolles Zusammenwirken der Akteure sind vielmehr der Respekt fürdie jeweiligen institutionellenRollen und Tradi- tionen, das Verständnis fürdie jeweils anders ausgerichteten Aufgaben im Ge- samtprozess der Lehrerbildung und das Erkennen der Bereicherung,die in der Verbindung unterschiedlicher Perspektivenund Potenziale liegt.12 Inneruniversitärgiltesfürden Bereich des Faches Geschichte insbesondere, das in der Literatur beschworene Aufeinanderangewiesensein vonhistorischer Fachwissenschaftund Geschichtsdidaktik nichtnur zu proklamieren, sondern im Studium erlebbar zu machen. Einerseits stehtfest, dass die didaktische Re- flexion ohne Bezug zu Themen, Problemen, Methoden und Erkenntnissen der historischen Forschung nichts anderes sein kann als »Stricken ohne Wolle« (Bernhard Dressler);13 andererseits bleibt eine Geschichtswissenschaftsinn- und wirkungslos, die sich nichtfürdie Mitteilung ihrer Ergebnisse an ein Lai- enpublikum interessiert.14 Karl-Ernst Jeismann ging so weit, zu sagen, dass Geschichte »von vornherein und unabweisbar ein didaktisches Geschäft«sei.15 Das Gefühl einer Zusammengehörigkeit beider Bereiche scheintmir auch in manchen Antworten der eingangserwähnten Umfrage unter Referendaren zum Ausdruck zu kommen:Drei Teilnehmer fordernexplizit eine Verbindung von Fachwissenschaftund Fachdidaktik.16

11 Die in Anhang 2der Rahmenkonzeptionvorgeschlagenen »Kompetenzenund Standards für den LernortUniversität« (S. 19f.) sind in ihrer stark an schulpolitischen Steuerungsrastern orientierten Form nichtglücklich und stehen in einem Spannungsverhältnis zu einer freien, ihre eignen didaktischen Prämissen ergebnisoffen mitreflektierenden universitärenLehre. 12 Dabei kommt es, um mit BerndSchönemann zusprechen,darauf an, dass die Universität weiterhin »der Ort« sein wird,»an dem kritische Diskussionen überstaatlich verordnetes Schulwissen ohne Sanktionsgefahr stattfinden können.« Schönemann, Lehrpläne und Richtlinien,S.50. 13 Diese an ein Zitat vonUwe Walteranknüpfende Formulierung verwendet BernhardDressler mit Blick aufmögliche Risiken des Praxisschubs in der Lehrerbildung. Dressler,Wie Stricken ohne Wolle? 14 Vgl. Joachim Rolfes, Geschichte und ihreDidaktik, 3. Aufl.,Göttingen 2005,S.9f. 15 Karl-Ernst Jeismann, Zum Verhältnis vonFachwissenschaft und Fachdidaktik –Ge- schichtswissenschaftund historischesLernen, in:Ders.,Geschichte und Bildung.Beiträge zur Geschichtsdidaktik und zur Historischen Bildungsforschung,hg.v. Wolfgang Jacob- meyer und BerndSchönemann, Paderbornu.a.2000, S. 73–86,hier S. 80. Ähnlich stellt auch Rolfes fest, dass die »didaktische Dimension« der Geschichte »inhärent« sei. Rolfes, Ge- schichte und ihreDidaktik, S. 9. 16 Vgl. die im Anhang zitierten Antworten Nr.1,10und 17. Geschichtswissenschaft in der Lehrerbildung 65

2. Wissenschaftsbezugund Kompetenzdebatte

Werdas Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaftund Geschichtsdidaktik erörternwill, muss sich heute mit dem Paradigma der politischgewollten »Kompetenz-« und »Outputorientierung« befassen, soweit sie das Fach Ge- schichte in besonderer Weise betrifft.17 Eine grundsätzliche, überdie Disziplin hinausgehende Auseinandersetzung mit dieser bildungspolitischen Agenda ist hier nichtzuleisten.18 Die vomParadigma der »Kompetenz«- und »Output- orientierung« ausgehenden Herausforderungen sind an sich nichtneu. Ein Rückblick in die 1970er Jahre zeigt, dass damals unter anderen Leitbegriffen ähnliche Diskussionen geführtwurden wieheute.19 Dies gilt etwa fürdie Aus- einandersetzung um die »Hessischen Rahmenrichtlinien fürGesellschaftslehre« von1972, die sichstark an politisch-gesellschaftlichen Zielvorgaben orientier- ten.20 Karl-Ernst Jeismann und Erich Kosthorst stellten ein Jahr später in ihrer

17 »Wurde unser Bildungssystem bislang ausschließlich durch ›Input‹ gesteuert, […],soist nun immer häufiger davondie Rede, die Bildungspolitik und die Schulentwicklungsollten sich am ›Output‹ orientieren, das heißtanden Leistungen der Schule, vor allem an den Lernergebnissen der Schülerinnen und Schüler.« Bundesministerium fürForschung und Bildung(Hg.), Zur Entwicklungnationaler Bildungsstandards –Expertise,Bonn 2007 (unv. Nachdr.2009), S. 11f.,zit. nach URL:http://www.bmbf.de/pub/zur_entwicklung_natio naler_bildungsstandards.pdf [08.10.2014],nachf. zit. als »Klieme-Expertise«; kritische Stimmen zur Kompetenzorientierung u.a. in:Klara Keutel /Jan Großrath, Der Kompetenz- Fetisch, in:Frankfurter Allgemeine Zeitung,14./15.2.2015, S. C3;zuden Auswirkungen auf die Geschichtsdidaktik: vgl. Franziska Conrad, »AlterWein in neuen Schläuchen« oder »Paradigmenwechsel«? –Von der Lernzielorientierung zu Kompetenzen und Standards, in: Geschichte in Wissenschaftund Unterricht63, 5/6 (2012), S. 302–323, hier insbes. S. 307–309; ferner:Hans-Jürgen Pandel, Geschichtsdidaktik. Eine Theorie fürdie Praxis, Schwalbach/Ts. 2013, S. 207–221, u.a. mit überaus kritischen Beobachtungen zur soge- nannten »Urteilskompetenz«, ebd.,S.218–220. 18 Vgl. hierzu mit grundsätzlicher Kritik:Volker Ladenthin, Kompetenzorientierung als Indiz pädagogischer Orientierungslosigkeit, in:Profil, Mitgliederzeitung des Deutschen Philolo- genverbandes, Heft 09/2011,S.1–6, zit. nach URL:http://bildung-wissen.eu/wp-content/ uploads/2012/03/ladenthin-kompetenz.pdf[24.05.2014].Mit Blick aufdie Universitätsieht AndreasDörpinghaus einen fundamentalen Gegensatz zwischen Bildungund Kompetenz- orientierung. Vgl.Ders.,Post-Bildung. VomUnortder Wissenschaft, in:Forschung und Lehre 7(2014), S. 540–543; grundlegendferner:Andreas Gruschka/Ulrich Herrmann / Frank-Olaf Radtke/Udo Rauin /Jörg Ruhloff /Horst Rumpf /Michael Winkler,Das Bil- dungswesen ist kein Wirtschafts-Betrieb! Fünf Einsprüche gegen die technokratische Um- steuerung des Bildungswesens,Frankfurta.M.,Juli 2005 (»Frankfurter Einsprüche«), zit. nach URL:http://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2010/06/Thesen10.pdf [12.12. 2014]. 19 Zu Parallelen zwischen den 1970er Jahren und der Gegenwart: vgl. ebd.,S.1. 20 Zu den mir leider nichtimOriginal verfügbaren Hessischen Rahmenrichtlinien:vgl.Rolfes, Geschichte und ihre Didaktik, S. 205f.;ferner:BernhardSutor,Politische BildungimStreit um die »intellektuelle Gründung« der Bundesrepublik Deutschland, in:Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage der Wochenzeitung »Das Parlament«, B45/2002, S. 17–27, hier S. 22f.,zit. nach URL:http://www.bpb.de/apuz/26620/politische-bildung [13.12.2014]. 66 Peter Geiss kritischen Auseinandersetzung mit den hessischen und den nordrhein-westfä- lischen Richtlinien fest, dass sich das »oberste Lernziel« der »Befähigung zur Selbst- und Mitbestimmung« beiall seiner prinzipiellenBerechtigung eben nichtaus der Wissenschaftheraus legitimieren lasse.21 Sie bemängelten, dass die Bundesrepublik der frühen 1970er JahreimRahmen des hiervonabgeleiteten Lernzielsystems als eine Gesellschaftdes sozialen Konflikts präsentiertwerde, die es –sodie vonJeismannund Kosthorst angenommene Grundtendenz der Richtlinien–aufein »Harmoniemodell des Ausgleichs aller Ungleichheit« hin weiterzuentwickeln gelte.22 In dieser Bestrebung sahen die beiden Autoren die Didaktik zur »Fortsetzung der Politik mit pädagogischen Mitteln« degradiert.23 Wiepräsentiertsich die Situation übervierzig Jahrespäter?–Historisches Lernen hat sich heute gemäß dem »Kompetenz«-Paradigma zu organisieren, obwohl in der neueren Literatur treffend darauf hingewiesen wurde, dass die Geschichtsdidaktik der 1970er und 1980er Jahre schon weitaus konkretere und vor allem fachgemäßere Zugänge zu bieten hatte:Sovermisst etwa Helmut Meyer zu Rechtden behaupteten Mehrwert des kompetenzorientierten Ge- schichtsunterrichts gegenüber älteren Ansätzen wiedem vonHeinz Dieter Schmid vertretenen, denen Unrechtwiderfahre, wenn sie im Zeichen einer tri- umphierenden Kompetenzdidaktik als »stofflastig« abgetan würden.24 Die den frühen 1970er Jahren und der Gegenwartgemeinsame Problematikliegtnichtin der notwendigen Perspektivierung des Unterrichts aufaußerschulische und außerakademischeLebensrealitäten und -anforderungen, sondernineiner be-

Ähnlichkeiten zwischen den lernzielorientierten Modellen der 1970er Jahre und dem kompetenzorientierten Geschichtsunterrichtstellt bereitsFranziska Conrad fest. Sie arbeitet Parallelen heraus –u.a.die Möglichkeit des einfachen Umformulierens vonnichtwissens- bezogenen Lernzielen in Kompetenzbeschreibungen –, schreibt Letzteren aber im Ender- gebnis dann doch einen Mehrwertzu. Vgl.Conrad, »Alter Wein«?, insbes. S. 321–323. 21 Karl-Ernst Jeismann /ErichKosthorst, Geschichte und Gesellschaftslehre. Die Stellung der Geschichte in den Rahmenrichtlinien fürdie Sekundarstufe IinHessen und den Rahmen- plänen fürdie Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen –Eine Kritik, in:Geschichte in Wissenschaftund Unterricht24, 5(1973), S. 261–288, hier S. 263. Diese Kritik ließesich auch aufTendenzenzur außerfachlichen Steuerung in der heutigen Hochschuldidaktik übertra- gen. Vgl.den vonAndreas Frings verfassten Beitrag »Was brauchtgute Lehre?«, Blog »Ge- schichte verwalten«, abgelegt am 21.03.2014, zit. nach URL:http://geschichtsadmin.hypo theses.org/199 [26.03.2015]. 22 Jeismann /Kosthorst, Geschichte und Gesellschaftslehre,S.264. 23 Ebd. 24 Vgl. HelmutMeyer,Von den Lernzielen überdie Kompetenzenzuden Lernzielen?Der Fall Lena B.,in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht65, 7/8 (2014), S. 472–481, hier insbes. S. 474 (terminologische Beliebigkeit), S. 479 (Umetikettierung älterer lernzielori- entierter Ansätze) und S. 480f. (falscher Vorwurfder »Stofflastigkeit« gegenüber älteren Ansätzen wiedem vonHeinz Dieter Schmid vertretenen). Zur Abstraktion und tendenziellen Wissensfeindlichkeit des Kompetenzparadigmas:vgl.die Kritik vonAndreasGruschka, zusammenfassend zit. in:Kissling /Klein, Bildungsstandards aufdem Prüfstand, S. 3. Geschichtswissenschaft in der Lehrerbildung 67 sonders starken Verschiebung der Gewichte hin zum Politischen und –ja–auch Ideologischen:damals unter dem Vorzeichen einer sozialutopischen Lernziel- orientierung,heute unter dem Signumvon »Kompetenz« und »Output«. Be- sonders bedenklichist dabei in der Gegenwartdie Tendenz,komplexe menschliche Denkoperationen in testbare Teilleistungen auflösen zu wollen.25 Das Problem liegtvielleichtweniger im Gedanken der Kompetenzorientie- rung an sich als in einer Geisteshaltung,die Wolfram Meyerhöfer zufolge einen Anspruch aufdie restlose »Vermessung«, ja vielleichtsogar Normierung des Denkens erhebt.26 Anlass zu Optimismus bietet beiallem Bedauern überdiesen Trend die Beobachtung,dass die Fachkulturen27 offenbar selbst im Bereich der direkt politisch kontrollierten Vorgaben ihreWiderstandskraftnichtverloren haben. So entrichtet der Kernlehrplan des Landes Nordrhein-Westfalen fürdas Fach Geschichte (Sekundarstufe II) zwar durchaus seinen Tribut an den bil- dungspolitischen Mainstream der »Kompetenz-« und »Outputorientierung«, indem er etwa achtverschiedene, teilweise nichtklar gegeneinander abgrenz- bare Typen vonUrteilskompetenz auflistet;28 den radikalen Wegeiner aufdas Messbare reduzierten Kompetenzdidaktik gehtdieser Lehrplan aber nichtmit. Vielmehrbleibt er beiallem Bekenntnis zum Kompetenzparadigma wichtigen Ansätzen älterer Geschichtsdidaktik verpflichtet, so etwa dem »problemorien- tierten Geschichtsunterricht« Uwe Uffelmanns oder dem unter anderemvon Klaus Bergmann propagierten Prinzip der »Multiperspektivität«.29 Vorallem

25 Vgl. Ladenthin, Kompetenzorientierung,S.4. 26 Wolfram Meyerhöfer sprichtvon einem »Glauben an die mathematische Modellierbarkeit des menschlichen Geistes«. Ders., Empirische Gewissheit gibt es nicht, in:Frankfurter Allgemeine Zeitung,27.9.2013, S. 7. Fürden freundlichen Hinweis aufdiesen Beitrag danke ich Rainer Kaenders; kritisch zum »Vermessungsanspruch« auch Lenzen,Bologna zerstört unsereakademische Bildung. 27 Zum Begriff der »Fachkultur«: vgl. Ludwig Huber,Fachkulturen: Überdie Mühen der Verständigung zwischen den Disziplinen, in:Neue Sammlung 31, 1(1991), S. 3–24, zit. nach URL:http://pub.uni-bielefeld.de/luur/download?func=downloadFile&recordOId=178165 9&fileOId=2313403 [02.10.2015];vgl.auch die Einleitung dieses Bandes. 28 Ministerium fürSchule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kern- lehrplan fürdie Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Ge- schichte, Düsseldorf 2014, S. 28, zit. nach URL:http://www.schulentwicklung.nrw.de/lehr plaene/upload/klp_SII/ge/KLP_GOSt_Geschichte.pdf [15.02.2016],nachf. zit. als »Kern- lehrplan Geschichte Sek. II (NRW)«. Das Problem fehlender Trennschärfebestehtauch beim Versuch der Abgrenzung der übergeordneten Kategorien»Sachkompetenz«, »Methoden- kompetenz«, »Urteilskompetenz« und »Handlungskompetenz«. Vgl.Conrad,»Alter Wein«?, S. 314. 29 Klaus Bergmann, Multiperspektivität, in:Ulrich Meyer /Hans-Jürgen Pandel /Gerhard Schneider (Hg.),Handbuch MethodenimGeschichtsunterricht,2.Aufl.,Schwalbach/ Ts.2007, S. 65–77;vgl.zum Prinzip der MultiperspektivitätimLehrplan:Kernlehrplan Geschichte Sek. II (NRW), S. 12 und 23;Uwe Uffelmann, Vorüberlegungen zu einem Pro- blemorientierten Geschichtsunterricht im sozialwissenschaftlichen Lernbereich [erstmals erschienen 1975],in:Ders. (Hg.), Problemorientierter Geschichtsunterricht–Grundlegung 68 Peter Geiss aber bieteterinseinen sieben»Inhaltsfeldern«erfreulicherweise eines:viel historischen Stoff zum Nachdenken oder –umbei DresslersMetapherzublei- ben–»Wolle zum Stricken«.30 Welche Rolle siehtdie Bildungspolitik im Zeichen von»Kompetenzorientie- rung« fürdie Fachdidaktiken vor?–Die Expertise »Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards« (nachfolgend kurz »Klieme-Expertise«), die 2007 im Auf- trag des Bundesministeriums fürBildung und Forschung neu aufgelegtwurde,31 präsentiertein überaus ambitioniertes Projekt:Esgehtumden Aufbruch in ein neues Bildungszeitalter,indem nichtmehr Fächer und ihre spezifischen diszi- plinären Traditionen, sondern –wie es in der Expertise heißt–»allgemeine Bildungsziele« den Ausgangspunkt fürdie Definitionvon »Bildungsstandards« darstellen, die wiederum »Kompetenzen« festlegen, überwelche die Lernenden zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer schulischenEntwicklung verfügen sol- len.32 Den Fachdidaktiken wird die Aufgabeeiner »Vertiefung« dieser bil- dungspolitischen Vorgaben »in Kompetenzmodellen« zugewiesen.33 Auch wenn die Klieme-Expertise die Bedeutung der fachwissenschaftlichen Fundamente anerkennt,34 bleibt festzuhalten, dass die primären Bezugspunkte der fachdidaktischen Arbeit in dieser Perspektive nichtdie Wissenschaftsdis- ziplinen, sondern bildungspolitische Vorgaben sind, welche die Didaktik durch Gestaltung vonKompetenzmodellenumzusetzen hat. Die Autoren der Expertise hoffen, sich durch die Festlegung aufKompetenzmodelle »traditionelle[n] Bil- dungs- und Lehrplandebatten« entziehen zu können und charakterisieren diese ihre Herangehensweise als »pragmatisch«.35 Dassein so verstandener »Prag- matismus« dasAuswahlproblem nichtlöst, zeigtein Blick in den Kernlehrplan Geschichte des Landes Nordrhein-Westfalen fürdie Sekundarstufe II. Dortwird die Geringschätzung der Klieme-Expertise fürfachliche Inhaltsdiskussionen nichtwiederholt. Den Lehrplanautoren scheintbewusst zu sein, dass Inhalte keine vonKompetenzen ableitbare Nebensache sind:Wie sollte man etwa aus- gehend vonKompetenzen festlegen, dass das Inhaltsfeld »Erfahrungen mit

und Konkretion, Villingen-Schwenningen 1990, S. 18–45. Das Adjektiv »problemorientiert« erscheintimLehrplan an folgenden Stellen:Kernlehrplan Geschichte Sek. II (NRW),S.21, 35, 48 und 57. 30 Vgl. Übersicht, ebd.,S.17–19;Dressler,Wie Stricken ohne Wolle? 31 S.o.,Anm. 17. 32 Klieme-Expertise, S. 9. Voneinem »radikalen Bruch mit der Vergangenheit traditioneller Lernzielbestimmungen« gehtimZusammenhangmit der Kompetenzorientierung bereits Volker Ladenthin aus: Ders.,Kompetenzorientierung als Indiz pädagogischer Orientie- rungslosigkeit, S. 1. Zur Einordnung der Klieme-Expertise in den geschichtsdidaktischen Diskussionshorizont:vgl.Conrad, »Alter Wein«?, S. 302f. 33 Klieme-Expertise, S. 10;soauch Conrad, »Alter Wein«?, S. 309. 34 »Fachlichkeit« wird sogar als erstes Merkmal »guter Bildungsstandards« betrachtet. Klieme- Expertise, S. 10. 35 Ebd.,S.9. Geschichtswissenschaft in der Lehrerbildung 69

Fremdsein in weltgeschichtlicher Perspektive« unter anderem am Beispiel der römischen Wahrnehmung der Germanen behandelt wird?36 Eine Bezugnahme aufPerser und Griechen zur Zeit Alexandersdes Großen oder im nachfolgenden Hellenismus wäre ja ebenfalls denkbar –soetwa mit einem Schwerpunkt auf Fragen kultureller Transformationen im Alexanderreich und seinen hellenisti- schen Nachfolgestaaten.37 Ausdem Kompetenzmodell, das dem Lehrplan zu- grundeliegt,ergibt sich die Auswahl des Beispiels »römische Wahrnehmung der Germanen«jedenfalls ebenso wenig,wie sie sich von»allgemeinen Bildungs- zielen«38 ableiten lässt. Kompetenzorientierung erlaubt es keineswegs, ältere Diskussionen überLehrplaninhalte hinter sich zu lassen.Diese sind legitim und müssen geführtwerden.39 In Nordrhein-Westfalen ließesich –und wahrscheinlich hatten die Lehr- planautoren auch ausgutem Grund genaudies im Sinn –zugunsten vonRömern und Germanen das gewichtige Argumentdes regionalen Bezugs vorbringen:In einem archäologisch derartreichen Bundesland gibt es eine außerordentlich großeZahl vonaußerschulischen Lernorten und Lernobjekten, die eine Befas- sung mit diesem antikenThema unterstützen:Ein anschauliches Beispiel fürdie Verschmelzung vonGermanischem –vielleichtauch Keltischem –und Römi- schem findet sich etwa in den Beständen des LVR-Landesmuseums (vormals RheinischesLandesmuseum)inBonn. Es handelt sich um einen Weihestein des Kölner Quaestors Q. Vettius Severus,der unter dem Bonner Münster gefunden wurde (vgl. Abbildung,S.71).40 Diese und weitere Weihungenrömischer Bürger

36 »Die Darstellung der Germanen in römischerPerspektive«. KernlehrplanGeschichte Sek. II (NRW), S. 22. 37 Zur Frage nach völkerverbindenden Konzeptionen beiAlexander dem Großen:vgl.Wolf- gang Will, Alexander der Große. Geschichte und Legende, Darmstadt 2009 (Geschichte erzählt), S. 69–75;zum Problem des aufder Idee einer kulturellen »Verschmelzung«unter griechischer Dominanz basierenden Hellenismusbegriffs:vgl.Linda-Marie Günther,Grie- chische Antike,2.Aufl.,Tübingen /Basel 2011 (Studium Geschichte, UTB 3121), S. 302f., hier zit. nach der digitalen Fassung unter URL:http://utb-studi-e-book.de/viewer/main. php?ojid= [01.12.2014]. 38 Vgl. oben, Anm. 32. 39 Zur Bedeutung der Inhaltsebene:vgl.Ladenthin, Kompetenzorientierung, S. 4; fürdas Fach Geschichte (im Rekurs aufThomas Nipperdey): vgl. Horst Gies, Geschichtsunterricht. Ein Handbuch zur Unterrichtsplanung, in Zusammenarbeit mit Michele Barricelli und Matthias Toepfer,Köln u.a. 2004 (UTB 2619), S. 108, zit. nach dem Dititalisatunter URL:http:// www.utb-studi-e-book.de/ [17.10.2015];Rainer Bendick, Das niedersächsische Zentral- abitur im Fach Geschichte, in:Geschichte in Wissenschaft und Unterricht5/6 (2013), S. 349–360;MartinStupperich, Orientierung in der Geschichte –aberwie?, in:Geschichte in Wissenschaftund Unterricht 60, 11 (2009), S. 612–628. 40 Vgl. Heinz Günter Horn, Das Lebenimrömischen Rheinland, in:Ders. (Hg.), Die Römer in Nordrhein-Westfalen, Hamburg 2002 (Nachdruck der Originalausgabe Stuttgart1987), S. 139–317, hier S. 250;zum Matronenkult:vgl.ebd. 278 (u.a. auch zur Frage germanischer und keltischerElemente). 70 Peter Geiss ohne erkennbaren germanischen oder keltischenHintergrund weisen darauf hin, dass die Römer solche fremden Gottheiteninrömischem ›Design‹ verehr- ten.41 Gegenstand der Verehrung waren im gegebenen Beispiel die Aufanischen Matronen, weibliche Gottheiten nichtrömischen Ursprungs.42 Es wäre didaktisch ergiebig,inhaltsbezogen überdie Bedeutung solcher und anderer Beispiele fürdas Lehrplanthema »Erfahrungen mit Fremdsein in welt- geschichtlicher Perspektive« nachzudenken. Die Bonner Weihesteine zeigen, dass die Römer dem religiösFremden in der Regel nichtmit Ablehnung, sondern sehr häufig mit Übernahme ins eigene kultische Spektrum begegneten.43 Von konkreten Materialhinweisen, problemorientierten Fragen und Arbeitsanre- gungen hätten Schüler und Lehrer mehr als vonabstrakten Formulierungen, etwa zur Kompetenzprogression.44 Dies ist aber den Lehrplanautoren nicht anzulasten, da ihre Arbeit den bildungspolitischen Rahmenvorgaben der Exe- kutiveunterliegt.45 Es ist gerade vor diesem Hintergrund sehr zu begrüßen und zeugtvon fachlicher Souveränität, dass sich die Autoren des nordrhein-west- fälischen Kernlehrplans nichtmit abstrakten Kompetenzkatalogen begnügen, sondern aufinhaltlicher Ebene ein höchst anspruchsvolles und erkenntnisför- derndes Themenangebot erarbeitet haben. An vielen Stellen werden direkt oder

41 Vgl. ebd. 42 Zu den Bonner Matronenweihungen:vgl.GerhardBauchhenß,Götter im römischenBonn, in:Manfred van Rey(Hg.), Geschichte der StadtBonn, Bd. 1: Vonder Vorgeschichte bis zum Ende der Römerzeit, Bonn2001, S. 265–311, hier S. 285–287 und Tabelle der Weihenden, ebd. S. 289f.;zuHintergründen, Entwicklungund teilweise ›elitärer‹ Ausrichtung des Kultes ferner ausführlich:Frank Biller,Die Matronenverehrung in der südlichen Germania inferior, Portal »Rheinische Geschichte« (LVR), zit. nach URL:http://www.rheinische-geschichte.lvr. de/themen/Das%20Rheinland%20in%20der%20Antike/Seiten/Matronenverehrung.aspx [08.10.2014]. 43 Vgl. KarlChrist, Geschichte der römischenKaiserzeit, 2. Aufl.,München 1992, S. 565. Die neuereForschung nimmt davonAbstand, Romanisierungausschließlich als einen Prozess der kulturellen Vereinheitlichung unter römischem Vorzeichen wahrzunehmen. Vgl.Dirk Krause, Das Phänomen der Romanisierung.Antiker Vorläuferder Globalisierung?, in:Ar- chäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg (Hg.), Imperium Romanum. Roms Provinzen an Neckar, Rhein und Donau, Darmstadt 2005 (Ausstellungskatalog), S. 56–62, hier insbes. S. 56 und 59 (zum Teilaspekt der interpretatio Romana). 44 Vgl. etwa Kernlehrplan Geschichte Sek. II (NRW),S.53–60. Zur Bedeutung problemorien- tierter und dezidiertfachbezogener Leitfragen fürdie Qualitätvon Lernprozessen:vgl. jüngst Holger Thünemann, Historische Lernaufgaben:Theoretische Überlegungen, empi- rische Befunde und forschungspragmatische Perspektiven, in:Zeitschrift fürGeschichts- didaktik 12 (2013), S. 141–155, hier S. 146f. Die Relevanz des Fragens erkenntauch Waltraut Schreiber im Rahmen ihres gemeinsam mit der FUER-Gruppe entwickelten kompetenz- orientierten Ansatzes an, indem sie sich fürdie Kategorie der »historischen Fragekompe- tenz« ausspricht. Waltraut Schreiber, Ein Kompetenz-Strukturmodell historischen Denkens, in:Zeitschrift fürPädagogik 54, 2(2008), S. 198–212, hier S. 204, zit. nach URL:http:// edoc.ku-eichstaett.de/2359/2/Edoc1.pdf [26.03.2015]; zur FUER-Gruppe:vgl.ebd.,S.199f. 45 Zur (bildungs-)politischen Steuerungsfunktion:vgl.Pandel, Geschichtsdidaktik, S. 181f. Geschichtswissenschaft in der Lehrerbildung 71

Abbildung: Weihestein des Q. Vettius Severus fürdie Aufanischen Matronen im (vormals Rheinischen) Landesmuseum Bonn, Foto:Jürgen Vogel. LVR-LandesMuseum Bonn. 72 Peter Geiss indirekt fachliche Fragen aufgeworfen, die gegenüberfachwissenschaftlichen Diskussionen anschlussfähig sind, so etwa im Lehrplanlängsschnitt »Friedens- ordnungen und Ordnungen des Friedens in der Moderne«.46 FachlicheAbsur- ditäten, wiesie Rainer Bendick fürdas niedersächsische Zentralabiturbe- gründet kritisiert, finden sich hier trotz einzelner diskussionsbedürftiger Punkte nicht.47 Der Begriff »Kernlehrplan« suggeriert, dass sich Zentrales und Nebensäch- liches fürein Fach objektiv und zugleich »pragmatisch« im Sinne der Klieme- Expertise unterscheiden ließen. Doch wiesoll dies möglich sein?Seit Max Weber ist bekannt, dass die »Kulturbedeutung« eines Phänomens nichteinfach ein für alle Mal wissenschaftlich feststeht, sondern vonbestimmten, veränderlichen Wertvorstellungen abhängt.48 Max Weberwürde sich heutesicherlich mit Nachdruck dafüraussprechen, in der Begrifflichkeit bescheidener zu sein und bei»Richtlinien« oder »Lehrplänen« zu bleiben, da damit nichtdie Anmaßung verbunden ist, den »Kern« eines Faches unverrückbar zu definieren.49 Solche Dokumente sind, wieJürgen Pandel feststellt, »zentrale Elemente staatlicher Steuerung« –nichtmehr und nichtweniger.50 Das Paradigma der Kompetenzorientierung will nichtnur die Unterrichts- gestaltung radikalverändern; es erhebt auch den Anspruch, das Lehramtsstu- dium zu prägen. Fürdie fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Anteile der Lehrerbildung sind die »Ländergemeinsamen Anforderungen« der Kultus- ministerkonferenz vonbesonderer Relevanz.51 Die Spannung zwischen bil-

46 Kernlehrplan Geschichte Sek. II (NRW), S. 42 (LK-Variante). Diesem Inhaltsfeld habender Lehrstuhl fürDidaktik der Geschichte und das Zentrum fürHistorische Friedensforschung der UniversitätBonn in Zusammenarbeit mit dem Haus der Geschichte am 6. und 7. No- vember 2014 eine Tagung und Lehrerfortbildunggewidmet:»Friedensordnungeninge- schichtswissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer Perspektive«. 47 Vgl. Bendick, Das niedersächsische Zentralabitur im FachGeschichte, S. 349–360. 48 Vgl. Max Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Er- kenntnis, in:Ders.,Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg.v.Johannes Winckel- mann, 7. Aufl.,Tübingen 1988, S. 146–214, hier S. 175f. und 180, zit. in:Pandel, Ge- schichtsdidaktik, S. 25. Die Klieme-Expertise gestehtdies im Grunde selbst ein, wenn sie im Rückgriff aufvon Hentig und Luhmann konstatiert, dass Bildungsstandardsnichtunab- hängig von»diskursiverLegitimation« denkbar seien, da sie sonst nur auf»Legitimation durch Verfahren«gründen würden (Klieme-Expertise, S. 69). Aufdie Bedeutung vonKultur fürdie Herstellungvon »Bedeutsamkeit« verweist auch Ladenthin, Kompetenzorientierung, S. 4. 49 Dieser Anspruch scheintimVorwortdes Kernlehrplans angelegt, wenn festgehalten wird: »Die curricularen Vorgaben konzentrieren sich dabei aufdie fachlichen ›Kerne‹, ohne die didaktisch-methodische Gestaltung der Lernprozesse regeln zu wollen.« Kernlehrplan Ge- schichte Sek. II (NRW), Vorwort. 50 Pandel, Geschichtsdidaktik, S.181. Zur Funktion und Problematik dieses Instruments vgl. zudem Schönemann, Lehrpläne und Richtlinien, S. 48–62. 51 Kultusministerkonferenz (Hg.), »Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen fürdie Geschichtswissenschaft in der Lehrerbildung 73 dungspolitischem Regulierungsanspruch und Freiheit der universitärenLehre wurde hier insofern entschärft, als die ausgewiesenen Kompetenzen allge- meinster Natursind:Wer wird schon etwasdagegen haben, dass Studierende »überstrukturiertes historisches Grundwissen ausallen historischen Epochen« verfügen?52 Auch die Fähigkeit, »bei historischen Fragestellungen zu rationalen Urteilen« zu gelangen,53 dürfte als derartselbstverständlich gelten, dass sie wohl kaum Widerspruch hervorrufen kann.Fürnormative Selbstverständlichkeiten, die seriöse LehreimFach Geschichte immer schon prägen, brauchtman aller- dings kein neues Anforderungsprofil. Ähnliches gilt fürdie inhaltlichen Vor- gaben. Natürlich muss es um »Quellenkunde und Quellenkritik« gehen; selbstverständlich sind »Herrschaftsstrukturen« eine epochenübergreifend wichtige Kategorie. Manches ist aber auch unverständlich und wirkt eher zu- fällig:Wieso spielen »Krieg,Konflikt und Frieden« fürdas Mittelalter eine Rolle, fürdie Frühe Neuzeit, in die immerhin der Dreißigjährige Krieg fällt, aber wieder nicht?54 Die Entscheidung darüber, was in den fachwissenschaftlichen Modulen der Lehramtsstudiengänge behandelt wird,sollte der Geschichtswissenschaft überlassen bleiben –und zwar gerade im Interesse der vonder Politik vertre- tenen Gesellschaft. Auch dazu möchte ich die bereits angeführte SchriftHum- boldts zum Berliner Hochschulwesen zitieren:

»Der Staat muss seine Universitäten weder als Gymnasien noch als Specialschulen behandeln […].ErmussimGanzen […] vonihnennichts fordern,was sich unmit- telbar und geradezu aufihn bezieht, sondern die innere Ueberzeugunghegen,dass, wennsie ihren Endzweck erreichen, sie auch seine Zweckeund zwar voneinem viel höheren Gesichtspunkte auserfüllen […].«55 Ein dem Humboldtschen Ansatz verpflichtetesLehramtsstudium bietet gegen- überder bildungspolitischen Regulierungsdynamik unserer Zeit ein Element des Bewahrens, aber auch der erkenntnisgeleiteten Innovation:Die Lehramts- studierenden vonheute sind die Lehrplanautoren vonmorgen. Wenn sie nur aktuell »Lehrplanrelevantes« lernen, führtdas langfristig zur Perpetuierung eines erstarrten Kanons.56 Unddies liegtnatürlich letztlich auch nichtimIn-

Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung (Beschluss der KMK vom 16. 10.2008 i.d.F. vom 16.5.2013)«, abrufbar unter URL:http://www.kmk.org/fileadmin/ver oeffentlichungen_beschluesse/2008/2008_10_16_Fachprofile-Lehrerbildung.pdf [27.09. 2013],S.28f. 52 Ebd.,S.28. 53 Ebd. 54 Vgl. ebd.,S.29. 55 Humboldt, Überdie innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen An- stalten in Berlin, S. 260. 56 Hierzu die Kritik Schönemanns, vgl. oben, S. 63 Anm. 9; vgl. ferner auch die Skepsis ge- 74 Peter Geiss teresse der Politik, die auferkenntnisgeleitete Entwicklung setzen muss.Vor- aussetzungfürdas Gelingen Humboldtscher Lehrerbildung ist allerdings das Grundvertrauen darauf, dass die universitären Disziplinen vonsich ausinder Lage sind, bezogen aufihreGegenstände gesellschaftlich bedeutsame Fragen zu stellen.57 Ohne dieses Vertrauen ist die Universitätals Bildungsinstitutionnicht denkbar.Ohne dieses Vertrauen kann es –wie Dieter Lenzen jüngst festgestellt hat –nur noch Berufsschulen geben.58

3. Der spezifische Bildungsbeitrag des Faches Geschichte innerhalb des schulischen Fächerkanons

Dass weder Schule noch Universitätohne gesellschaftlich bedeutsame Fragen auskommen, ist selbstverständlich. Schulischer Geschichtsunterrichtist aller- dings in direkterer Weise als universitäre Forschung und Lehre darauf ange- wiesen, in Öffentlichkeit und Bildungspolitik Akzeptanz zu finden.59 Diese Problematikist keineswegs neu. Sie beschäftigte unter anderemschon 1972 Thomas Nipperdey in seinem Aufsatz »ÜberRelevanz«, in dem er sich mit dem Rechtfertigungsdruck auseinandersetzt, der in den frühen 1970er Jahren vonder bereits angesprochenen bildungs- und gesellschaftspolitischen Diskussion auf die Geschichtswissenschaftund den Geschichtsunterrichtausging.60 Ein zen- traler Zielbegriff der Debatte war die gesellschaftliche »Emanzipation«, zu der

genüberweitergehender Lehrplanorientierung,die in Antwortbeispiel Nr.16aus der oben erwähnten Umfrage unter Referendaren deutlich wird (s. Auszug ausden Umfrageergeb- nissen im Anhang dieses Aufsatzes). 57 Klaus Bergmann wies diese Aufgabe fürden Bereich des historischenLernens in einer die Fachwissenschaft vielleichtzusehr ausder Pflichtnehmenden Artund Weise vor allem der Geschichtsdidaktik zu. Vgl.Klaus Bergmann, Geschichte als Steinbruch. Anmerkungen zum Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht, in:Bernd Schönemann /Waltraut Schreiber / Hartmut Voit (Hg.), Zeitschrift fürGeschichtsdidaktik, Jahresband 2002, Schwalbach/ Ts.2002, S. 138–150, hier 139. 58 Lenzen, Bologna zerstört unsereakademische Bildung;vgl.jüngst auch LambertT.Koch, Die vereinnahmte Universität. Ein Appell fürOffenheit und Augenmaß,in:Forschung und Lehre 12/2015, S. 1002–1004;Peter Geiss, Lehrerbildung»all inclusive«?, in:Frankfurter Allge- meine Zeitung, 28.1.2016, S. 6. 59 Der unterschiedliche Legitimationsdruck, dem Geschichtswissenschaft und Geschichtsun- terrichtunterliegen, lässt sich allerdings mit Rolfes als ein gradueller,nichtals ein prinzi- pieller verstehen. Vgl.Rolfes, Geschichte und ihreDidaktik, S. 10. 60 Thomas Nipperdey, ÜberRelevanz, in:Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 10 (1972), S. 577–596, hier S. 585. Zur Situationder Geschichtsdidaktik in den 1970er Jahren:vgl.auch Rolfes, Geschichte und ihre Didaktik, S. 15 und 205f. Geschichtswissenschaft in der Lehrerbildung 75

Unterrichteinen Beitrag leisten sollte:61 Es ging um den Wegzur »besseren«, gerechteren, freieren Gesellschaft.62 Thomas Nipperdey plädierte nun keineswegs fürden Rückzug in den El- fenbeinturmreiner zweckfreier Wissenschaft. Er erkannte ausdrücklich an, dass sich Geschichtswissenschaft überGegenwartsbezüge legitimiertund gesell- schaftliche Funktionen zu übernehmen hat.63 Allerdingsdefinierte er diese ganz anders als die bildungspolitischen Kräfte, gegen die sein Aufsatz vornehmlich gerichtet war.Inder Auseinandersetzung mit damaligen gesellschaftspoliti- schen Vereinnahmungen vonGeschichte wies er darauf hin, dass sich die »Re- levanz« historischer Sachverhalte fürdie Gegenwartgerade dann erschließe, wenn sie nichtinverkrampft-verbissener Weise gesuchtwerde, wennman die Vergangenheit nichtzwanghaftwie eine »Pappelallee« aufdie Gegenwartzu- führe.64 Nipperdey hätte vermutlich wieMax Webergegenüberdem heutigen Begriff des »Kernlehrplans« allergrößte Vorbehalte angemeldet, gerade weil sich die Auswahl des »Relevanten« und damit der Fokus der Weberschen »Kulturbe- deutung« verändernkann und nichtein füralle Mal objektivierbar ist.65 Dies sei an einem Beispiel verdeutlicht: Mochte es noch vorKurzem als entbehrlich erscheinen, der Geschichte der Sowjetunion–sie war ja mit dem Ende des Kalten Krieges 1991 verschwunden –imUnterrichtgrößere Aufmerksamkeit zu wid- men, so zeigte sich 2014 unter dem Eindruck der krisenhaften Zuspitzung im postsowjetischen Raum, dass historische Kenntnisse überdie staatliche und gesellschaftliche Verfasstheit dieses ehemaligen Riesenreiches fürdas Ver- ständnis der europäischen Gegenwartvon großem Interesse sind. Im nordrhein- westfälischen Kernlehrplan Geschichte fürdie Sekundarstufe II tauchtdie innere Entwicklung der Sowjetunion kein einziges Mal auf, obwohl mit dem Kalten Krieg und der Überwindung der deutschen Teilung Themenfelder behandelt werden, fürdie sie zentral war.66 Denvielleichtwichtigsten Bildungsbeitrag desFachesGeschichtesah Nipper-

61 Zu emanzipatorischen Zielsetzungen der 70er Jahre:vgl.Nipperdey, ÜberRelevanz, S. 585; Uffelmann, Vorüberlegungen zu einem Problemorientierten Geschichtsunterricht, S. 23. 62 Vgl. Nipperdey, ÜberRelevanz, S. 584f.;Uffelmann, Vorüberlegungen zu einem problem- orientierten Geschichtsunterricht,S.23. 63 Nipperdey, Über Relevanz,S.582f.;Eine differenzierte Typologie des Gegenwartsbezugs liefertKlaus Bergmann, Geschichte als Steinbruch. 64 Nipperdey, ÜberRelevanz, S. 592f. Nipperdey schreibt den Begriff »Pappelallee« von Raumer zu. Vgl. ebd.,S.593. Ähnlich argumentierte auch HerbertLüthygegen politische und gesellschaftliche Indienstnahmen vonGeschichtswissenschaft. Vgl.Ders.,Wozu Ge- schichte?, Zürich1969 (Edition ArcheNova), S. 34f. 65 Vgl. oben, S. 72 und Anm. 48. 66 Vgl. Inhaltsfelder 6und 7imKernlehrplan Geschichte Sek.II(NRW), S. 40–43 (LK-Vari- ante). 76 Peter Geiss dey in der Vermittlung einer skeptischen Grundhaltung gegenüberallzu fest zementierten Wahrheitsansprüchen und Vereinnahmungen des Menschen durch ideologische Entwürfejedweder Art:Gerade weil die Geschichte zeige, wie Absichten und Wirkungen auseinanderklaffen könnten, mache sie misstrauisch gegenüberHeilsversprechungen –und zwar auch solchen, die im Zeichen der Freiheit des Menschen daherkämen.67 Tatsächlich hat es der Geschichtsunter- richtimmer wieder mit Gegenständen zu tun, an denen das Auseinanderdriften vonAbsichten und Wirkungen erkennbar wird –seien es die Paradoxien der jakobinischen Revolutionsregierung als »Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei« (Robespierre)68 oder die Diskrepanz zwischen WoodrowWilsons berühmten »Vierzehn Punkten« und der europäischen Friedensordnung von 1919.69 Ein Fach, das »skeptisch« im Sinne Nipperdeys macht, wird aber –umdie Terminologie des nordrhein-westfälischen Kernlehrplans aufzugreifen –eher keine »Handlungskompetenz« vermitteln, sondernerst einmalZögern, Ab- warten oder eine kritische Haltung gegenübergegenwärtigen Gesellschafts- und Politikentwürfen fördern.70 Gerade hierin, in der Stärkung des kritikfähigen, schwer zu vereinnahmenden Individuums, ist aber eine der wesentlichen Vor- aussetzungen fürdas Gelingen einer freiheitlich-demokratischen Grundord- nung zu sehen.71 Aufeiner übergeordneten Ebene kann diese Haltung vielleicht auch wieder »handlungskompetent« machen. Es gehtaberjedenfalls nichtum eine »messbare«Kompetenz –umnichts, was sich sinnvoll als Summe von tabellarisch aufzulistenden Teilleistungen beschreiben ließe.72 Solche Kataloge

67 Vgl. Nipperdey, ÜberRelevanz, S. 590f. In eine ähnliche Richtung scheintmir Ursula Frost zu denken, wenn sie feststellt, »Bildung« heiße»nichtAnpassung,sondernWiderstand.«Zit. nach:Kissling/Klein,Bildungsstandards aufdem Prüfstand, S.5.Von einem fürLernende geltenden »Rechtauf Zweifel« sprechen Gruschkau.a.Dies.,Das Bildungswesen ist kein Wirtschaftsbetrieb!,S.4. 68 Maximilien Robespierre,5.Februar 1794 (17. Pluviôse An II): Überdie Prinzipen der po- litischen Moral, in:Peter Fischer,Reden der Französischen Revolution, München 1974 (dtv text-bibliothek), S. 341–362, hier S. 349. Die Frage nach den Paradoxien ist etwa angelegt in Heinz Dieter SchmidsLernzielen zur Französischen Revolution:zit. nach Conrad,»Alter Wein«?, S. 321;vgl.ferner ReinhardSturm, Einstiege in problemorientierten Geschichts- unterricht, in:Geschichte lernen, Sammelband Geschichte lernen und lehren, Velber1997 (Redaktion Michael Sauer), S. 4–8, hier S. 7. 69 Zur verkürzten Rezeption vonWilsons Denken:vgl.Trygve Throntveit, The Fable of the Fourteen Points:Woodrow Wilson and National Self-Determination, in:DiplomaticHistory 35, 3(2011), S. 445–481, zit. nach URL:http://scholar.harvard.edu/files/throntveit/files/ fable_of_the_fourteen_points_dh_35.3_june_2011.pdf [15.05.2014]. 70 Nipperdey sprichtvon einer »Relativierung gegenwärtiger Absolutheitsansprüche an die Zukunft«. Nipperdey, ÜberRelevanz, S. 590. 71 Zu diesem Zusammenhang:vgl.Gruschkau.a., Das Bildungswesen ist kein Wirtschafts- betrieb!,S.3. 72 Aufdieses Problem hat Volker Ladenthin am Beispiel des Religionsunterrichtsund des Geschichtswissenschaft in der Lehrerbildung 77 sind allenfalls fürdie methodisch-technischen Komponenten des Faches vor- stellbar;sobald man diesen Bereich verlässt, betritt man mit Standards und Kompetenzen bald das Land der sinnlosen Abstraktion oder –wie vonRainer Bendick treffend betont –der Gemeinplätze.73 Wasgewinntman etwa mit fol- gender Formulierung ausdem nordrhein-westfälischen Kernlehrplan, welche die Kompetenzerwartungen im Bereich des Urteilens am Ende der Einfüh- rungsphase (Sekundarstufe II) beschreiben soll?

»Die Schülerinnen und Schüler beurteilen historischeSachverhalte angeleitet unter Berücksichtigung bzw.Gewichtung verschiedener Kategorien, Perspektiven und Zeitebenen (UK3) […]«74

Das liest sich gut und richtig. Dem Anspruch einer »outputbezogenen« Kon- kretisierung oder gar Überprüfbarkeit kommt man mit solchen Formulierungen aber nichtnäher.Was bedeutet es denn überhaupt, einen »historischen Sach- verhalt« zu »beurteilen«? Sollen die Schüler ein moralisches Urteil überdie jakobinische Schreckensherrschaftfällen (schlimme Sache, viele unschuldige Opfer!),gehtesumdie Beurteilung ihrer langfristigen Bedeutsamkeit oder ist nichtdocheher eine kausal erklärende Denkoperation gemeint(wiekam es dazu)?75 Die Unbestimmtheiten sind nichtden Lehrplanautoren anzulasten, sondern der schlichten Unmöglichkeit, das im Fach Geschichte Wesentliche in überprüfbare Kompetenz- und Standardkataloge zu übersetzen. Seit langem wird in der didaktischen Diskussiondarauf hingewiesen, dass schulischer Geschichtsunterrichtnichteinfach eine Variante universitärerLehre sein kann.76 Schulischer und geschichtswissenschaftlicher Umgang mit Quellen unterscheiden sich in zentralen Punkten:Während der Historiker idealerweise sehr viele Quellen heranzieht, um aufdieser Basis interpretatorische Aussagen überdie Vergangenheit zu machen, gehtder Geschichtslehrer den umgekehrten Weg:77 Quellenarbeit dientdazu, historische Zusammenhänge »in exemplari- scher Abgrenzung und als pars pro toto« (Rudolf Renz) verständlich zu ma-

Glaubensbegriffs hingewiesen. Er übt scharfe Kritik an der »Zerlegung« komplexer geistiger Prozesse, die er mit dem Terminus des »Taylorismus« in Verbindungbringt.Ladenthin, Kompetenzorientierung,S.4und 5. 73 Vgl. die kritischen Ausführungen vonAndreas Gruschka, zit. in:Kissling /Klein, Bil- dungsstandards aufdem Prüfstand, S. 3; zur Tendenz, didaktische Gemeinplätze zu for- mulieren:vgl.Bendick, Das niedersächsische Zentralabitur im Fach Geschichte, S. 353. 74 Kernlehrplan Geschichte Sek. II (NRW),S.21. 75 Aufdie besondereProblematik des Konzepts »Urteilskompetenz« weist hin:Pandel, Ge- schichtsdidaktik, S. 218–220. Zum Urteilen im Fach Philosophie:vgl.den Beitrag vonRo- land W. Henkeimvorliegenden Band. 76 Rolfes, Geschichte und ihre Didaktik, S. 13;vgl.Rudolf Renz, Prinzipien wissenschaftlicher Quellenanalyse und ihreVerwertbarkeit im Geschichtsunterricht, in:Geschichte in Wis- senschaft und Unterricht13(1962), S. 536–551, S. 537. 77 Vgl. Rolfes, Geschichte und ihre Didaktik, S. 283f. 78 Peter Geiss chen.78 Es gehtalso fürden Lernenden darum, wieJoachim Rolfes treffend formulierthat, sich in den Bahnen dessen zu bewegen, »was anderelängst entdeckt und fürden Unterrichtszweck präparierthaben.«79 Dass sich dieses »Präparieren« nichtimRaumreiner Werturteilsfreiheit vollzieht,80 magdas Beispiel der nordrhein-westfälischen Vorgaben fürdas Zentralabitur 2014 ver- deutlichen. Diese Vorgaben sehen unter den inhaltlichen Schwerpunkten nicht einfach das Thema »Reichsgründung 1871« vor, sonderndefinieren gleich mit, wiedieses Ereignis zu interpretieren ist, nämlich als »Reichsgründung von oben«.81 Folgtman der differenzierten Darstellung ThomasNipperdeys, so lagen die Dinge 1871 weniger klar:Die »bürgerliche Nationalbewegung« sei fürden Erfolg der Reichsgründung vonfundamentaler Bedeutung gewesen, auch wenn Nipperdey ihr die Rolle eines »Juniorpartners« zuschrieb.82 Die Festlegung der Vorgaben aufdie Formulierung »Reichsgründung vonoben« zeigt, dass es in den großen Deutungsfragen gerade nichtdie Schüler sind, die aufder Grundlage von Quellen zu einem eigenen Urteil kommen sollen. Dies stehtineinem Span- nungsverhältnis zu der im Lehrplan geforderten »Dekonstruktion vorhandener historischer Orientierungsangebote«, sofern nichtdie »Dekonstruktion« der in den Vorgaben enthaltenen Themenformulierungen mitgemeintist.83

78 Renz, Prinzipien wissenschaftlicher Quellenanalyse, S. 348 und Rolfes, Geschichte und ihre Didaktik, S. 283f. 79 Ebd.,S.283. 80 Diese Werturteilsfreiheit ist entgegen einer verbreiteten Annahme Max Weberzufolge auch in der Wissenschaft nichtmöglich, soweit sie sich mit sozialen und kulturellen Phänomenen auseinandersetzt. Vgl.Weber,»Die Objektivität«, S. 170. 81 »Reichsgründung vonoben: Innen- und außenpolitische Grundlagen des Deutschen Kai- serreichs«,Teilthema des Schwerpunkts »Das ›lange‹ 19. Jahrhundert«, in:Ministerium für Schule und Weiterbildung Nordrhein-Westfalen, Vorgaben zu den unterrichtlichen Vor- aussetzungen fürdie schriftlichen Prüfungen im Abitur in der gymnasialen Oberstufe im Jahr 2014, S. 2, zit. nach URL:http://www.standardsicherung.schulministerium.nrw.de/ abitur-gost/fach.php?fach=12 [20.05.2014 –zum Zeitpunkt des Drucks nichtmehr ver- fügbar]. 82 Thomas Nipperdey,Deutsche Geschichte, 1866–1918, Band II:Vom Machtstaatzur Demo- kratie, München 1998 (Studienausgabe), S. 80. Eine größere analytische Offenheit bezogen auf1871 stehtnichtimWiderspruch zu einem kritischen Blick aufdas Kaiserreich, welchen die freiheitlich-demokratische Werteorientierung des Geschichtsunterrichtsselbstver- ständlich und zu Rechtverlangt. 83 Kernlehrplan Geschichte Sek. II (NRW),S.12. Der Lehrplan rekurriert hier vermutlich auf das in folgendem Beitrag vertretene Verständnis von»De-Konstruktion«:Schreiber, Ein Kompetenz-Strukturmodell historischen Denkens, S. 204. Geschichtswissenschaft in der Lehrerbildung 79

4. Konsequenzen für die Lehrerbildung:Verzahnung von fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Studienanteilen

Wielassen sich fachwissenschaftlicheund fachdidaktische Studienanteile so miteinander verzahnen, dass sie im eingangs beschriebenen Sinne als Ganzes erlebt werden können?Ich möchte zwei zeitlichweit voneinanderentfernte Beispiele anführen –eines ausdem 20. Jahrhundertund ein zweites ausder römischen Antike.Zunächst zum zeitgeschichtlichen Beispiel:ImRahmen einer Lehrveranstaltung zur internationalen Politik der Zwischenkriegszeit könnten Studierende auffolgende Passage auseinem britischen Kabinettsprotokoll vom 24. September 1938 stoßen, die der Historiker R.A.C. Parker in seinem Werk »Chamberlain and Appeasement«84 zitiert. Diese Archivquelle dokumentiert einen im Kabinett vorgetragenen Berichtdes damaligen Premierministers Neville Chamberlain überdie schwierigen Gespräche, die er unmittelbar zuvor mit Hitler in Bad Godesberg geführthatte.85 Ziel der Reisewar es gewesen, im persönlichen Kontakt mit Hitler eine politische Beilegung der Sudetenkrise zu erreichen, die sich in den vorangehenden Wochen zu einer ernsten Bedrohung fürden Frieden in Europaentwickelt hatte.86 Der Diktator hatte unter dem Vorwand des Schutzes der deutschsprachigen Minderheit in der Tschechoslo- wakei schwere zwischenstaatliche Spannungen heraufbeschworen, um einen Eroberungskrieg gegendas Nachbarland führen zu können.87 Gegenüberseinen Kabinettskollegen vertrat Chamberlain nach seiner Rückkehr folgende Ein- schätzung der Ziele und der ›Verlässlichkeit‹ Hitlers:

84 R.A.C. Parker,Chamberlain and Appeasement. British Policyand the Coming of the Second World War, London u.a. 1993. 85 Knapp zu Ereignisgeschichte und Kontext der Krise:Klaus Hildebrand,Das Dritte Reich, 7., durchges. Aufl.,München2009 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, 17), S. 38–41, zit. nach dem Digitalisatunter URL:http://www.degruyter.com/viewbooktoc/product/218863 [10.03.2015];sehr detailliertzur Ereignisgeschichte mit zahlreichen Quellenangaben:David Faber,Munich.The 1938 AppeasementCrisis, London2008, insbes. S. 325–355 (Kap.12). Die massive Kriegsangst nach der Godesberger Konferenz schildertebenso knappwie ein- drucksvoll Stephanie Seul, Appeasementund Propaganda, 1938–1940: Chamberlains Au- ßenpolitik zwischen NS-Regierung und deutschem Volk, Europäisches Hochschulinstitut Florenz2005, S. 1, zit. nach CADMUS/EUI Research Repositoryunter URL:http:// hdl.handle.net/1814/5977[29.05.2015]/DOI:10.2870/94615. 86 Vgl. Hildebrand, Das Dritte Reich, S. 38f. 87 Vgl. ebd. Hitlers militärische Weisungen füreinen Angriff ab 1. Oktober 1938 lagen seit dem 30. Mai vor (vgl. ebd). Quelle hierzu:Der Oberste Befehlshaber der Wehrmachtandie Oberbefehlshaber des Heeres, der Marine und der Luftwaffe. Weisung fürPlan »Grün«, 30. Mai 1938, abgedruckt in:RaymondJames Sontag u.a. (Hg.), Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918–1945. Ausdem Archiv des Auswärtigen Amtes, Baden-Baden 1950, Serie D(1937–1945), Band II:Deutschland und die Tschechoslowakei (1937–1938), Nr.221, S. 281–285. 80 Peter Geiss

»The Prime Minister then gave his colleagues his views on the position.[…] In his [Chamberlain’s, PG] view Herr Hitler had certain standards. […] Herr Hitlerhad anarrowmind and was violently prejudicedoncertain subjects;but he would not deliberately deceive aman whom he respected and with whom he had been in nego- tiation, and he [Chamberlain, PG] was surethat Herr Hitler nowfelt some respectfor him. […] The Prime Minister was surethat Herr Hitlerwas extremely anxious to securethe friendship of Great Britain. The crucial questionwas whether Herr Hitler was speaking the truth, when he said that he regarded the Sudeten question as aracial question which mustbesettled,and that the objectofhis policywas racial unity and not the domi- nation of Europe. Much depends on the answer to this question. The Prime Minister believed that Herr Hitler was speaking the truth. Herr Hitlerhad also said that, once the presentquestion had been settled, he had no more territorial ambitions in Europe. He had also said that if the presentquestion could lie settled peaceably,itmight be aturning-pointinAnglo-German relations.«88 Dass diese Quelle fachwissenschaftlich fürdas Verständnis der britischen Politik im Vorfeld der berüchtigten Münchner Konferenz von1938 vonInteresse ist, bedarfkaumeiner weiteren Erläuterung.Parker zitiertsie so ausführlich,weilsie seine zentrale These stützt:Chamberlains Appeasement-Kurs erklärt er gegen einen Teil der älteren Forschung nichtausschließlich als Folge unabänderlicher Sachzwänge, sondernals das Resultat vonEntscheidungen.89 In den zitierten Passagen kann der Leserauch ohne Detailkenntnis zur Sudetenkrise beobach- ten, wiesich Chamberlain in der Argumentation aufgrund seiner völlig sub- jektiven Gesprächseindrückedafürentscheidet, der –bekanntermaßen durch und durch verlogenen –Zusicherung Hitlers Glauben zu schenken, nachEin- verleibung der Sudetengebiete in das Deutsche Reich keine weitereExpansion mehr anzustreben.90

88 [National Archives –britisches Nationalarchiv, Kew, bereitstellende Institution], Cabinet 42 (38). Protokoll der Kabinettssitzung vom 24. September 1938,Beginn:17.30 Uhr,CAB 23/95, fol. 178f. (Protokollseite 11f.), hier zit. nach dem vonden National Archives bereitgestellten Digitalisat unter URL:http://discovery.nationalarchives.gov.uk/details/r/D7654082 [09.03. 2015];Zitatbei Parker im gewählten Textausschnitt minimal abweichend:Parker,Cham- berlain and Appeasement, S. 169. 89 »This book argues thatChamberlain and his colleagues made choices amongalternative policies.« Ebd.,S.347. Zur Positionierung dieses Neuansatzes gegenüberder älteren »revi- sionistischen« Forschung:vgl.Marie-Luise Recker,Appeasement-Politik. Wissenschaftliche Karriere eines außenpolitischen Konzepts, in:Ursula Lehmkuhl /ClemensA.Wurm/Hubert Zimmermann (Hg.), Deutschland, Großbritannien, Amerika. Politik, Gesellschaft und In- ternationale Geschichte im 20. Jahrhundert,unter Mitarbeit vonPetra Dolata Kreutzkamp, Stuttgart2003 (FS GustavSchmidt), S. 9–25, hier S. 22f. (dortauch das oben zitierte Fazit Parkers). 90 Zu Rechthat Clemens darauf hingewiesen, dass »die Propagierung des Bildes eines ausrei- chend vertrauenswürdigen Adolf Hitler« eine entscheidende Voraussetzungdes Appease- ment-Kurses war,auch wenn er die Frage nach einer absichtlichen Täuschung der Öffent- lichkeit durch Chamberlain füroffen hält:Detlev Clemens, Herr Hitler in Germany. Geschichtswissenschaft in der Lehrerbildung 81

Wieließesich nunfürdiese Quelle und die aufsie bezogene Forschungs- diskussion eine Verzahnung vonFachwissenschaftund Fachdidaktik realisie- ren? Unter idealen ›Laborbedingungen‹ wäre folgendes Szenario denkbar: Studierende besuchen parallel ein fachwissenschaftliches Seminar zur den in- ternationalen Beziehungen der Zwischenkriegszeit und eine geschichtsdidak- tische Veranstaltung,inder unter anderem zuvor Klaus Bergmanns ge- schichtsdidaktische Überlegungen zu Problemen des Gegenwartsbezugs behandelt wurden.91 Ausgehend vonder Quelle und den aufsie bezogenen Forschungsinterpretationen ließesich diskutieren, inwieweit in Chamberlains Äußerungen von1938 zentrale, auch in der GegenwartbedeutsameGrundfragen des Umgangs demokratischer Staaten mit Aggressoren erkennbar werden.92 Die Diskussion hierüberwäre genuin geschichtsdidaktisch, da sie nach Möglich- keiten des Lernens ausder Geschichte fragt93 oder –wie es Bergmann unter Verwendung einer FormulierungKlafkis ausdrückt –»epochale Schlüsselpro- bleme der Gegenwartund der vermutlichen Zukunft« thematisiert.94 Zu be- rücksichtigen wäre dabei die vonNipperdey betonteTatsache, dass sich ausder Beobachtung der Vergangenheit keine, wieeresformuliert, »Rezepte« fürdie Gegenwartableiten lassen, sondern nurmit vielen Fehlerquellen behaftete An- näherungen an mögliche Entwicklungsszenarien.95 Dies kann auch als ge- schichtsdidaktische Warnung davorgelesen werden, die »lessons of the 1930ies«96 ohne genauere Reflexion überdie veränderten weltpolitischen und technologischen Rahmenbedingungen in eine Gegenwartzuübertragen, in der –

Wahrnehmungen und Deutungendes Nationalsozialismus in Deutschland 1920 bis 1939, Göttingen /Zürich 1996 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, 39), S. 430. Voneiner EntscheidungChamberlains, »warning signs« auszublenden, gehtauch Faber aus: Faber,Munich, S. 329. Parker zufolge gab es fürChamberlain schon vor der Kabinettssitzungkein Zurück mehr.Vgl.Parker,Chamberlain and Appeasemenent, S. 168. 91 Vgl. Bergmann, Geschichte als Steinbruch. Eine ähnlicheStruktur aufeinander abge- stimmter fachwissenschaftlicher und didaktischer Veranstaltungen scheintdie oben in Anm. 10 zitierte Teilnehmeraussage ausder Referendarsumfrage nahezulegen. 92 In dieser Perspektivewurdedie Sudetenkrise vielfach diskutiertund politischargumentativ verwendet:vgl.Norrin M. Ripsman /Jack S. Levy,Wishful Thinking or Buying Time?The Logic of British Appeasementinthe 1930s,in:International Security33, 2(2008), S. 148–181, hier S. 148. 93 Dazu grundlegendinideengeschichtlicher Perspektive: vgl. ReinhartKoselleck, Historia Magistra Vitae. Überdie Auflösung des Topos im Horizontneuzeitlich bewegter Geschichte, in:Ders.,Vergangene Zukunft.Zur Semantikgeschichtlicher Zeiten, Frankfurta.M. 1979, S. 38–66. 94 Bergmann, Geschichte als Steinbruch, S. 140. 95 Nipperdey, ÜberRelevanz, S. 591;warnend auch:Bergmann, Geschichte als Steinbruch, S. 142f. 96 Ripsman /Levy,Wishful Thinking or Buying Time, S. 148. 82 Peter Geiss anders als 1938 –ein Einsatz nuklearer Massenvernichtungswaffen als höchste Eskalationsstufe des Konflikts zwischen Großmächten möglich ist.97 Nebeneiner Sensibilisierung fürdie Problematik gefährlicher Handlungs- strategien, die sich auseinseitigen oder verkürzenden Gegenwartsbezügen98 ergeben können, ließesichdurch die Bezugnahme aufdas ausdem fachwis- senschaftlichen Seminar bekannte Kabinettsprotokoll auch eine Erweiterung des im deutschen Unterricht üblicherweise berücksichtigten Quellenkorpus erreichen. Dieses Korpus konzentriertsich beider Behandlung der internatio- nalen Beziehungen in den späten 1930er Jahren aufdeutsche Quellen, wieetwa Hitlers »Friedensrede« vom17. Mai 1933, während die ausden oben genannten Gründen wichtige Außenperspektiveder durch die nationalsozialistische Be- drohung herausgeforderten Demokratien kaum Beachtung findet.99 Ausder fachwissenschaftlichen Begegnung mit in Schulbücherneher selteneren Quel-

97 Die Verwendungdes Appeasement-Vergleichs in Politik und Medien seit Beginn der Ukraine-KriseimJahr 2014 könnte Gegenstand einer eigenen Untersuchung sein. Vgl. hierzu nur exemplarisch folgende Meldung:»John McCain wirftMerkel Appeasement-Politik vor«, in:Die Zeit online, 6.2.2014, zit. nach URL:http://www.zeit.de/politik/ausland/2015–02/ ukraine-angela-merkel-john-mccain-kritik-waffen/komplettansicht[09.03.2015].Gegen die Verwendungvon Geschichte als »Rezeptbuch« hat sich jüngst offenbar HenryKissinger ausgesprochen:Tobias Rüther,Geschichte ist kein Kochbuch, in:Frankfurter Allgemeine Zeitung,9.10.2014, S. 9; zur Problematik der Heranziehung historischer »Lehren« fürdie Ukraine-Krise:vgl. [NorbertFreiu.a.],Aus der Geschichte lernen, Diskussionsbeiträge von Historikernund Diplomaten zur Danziger Rede des Bundespräsidenten anlässlich des 75. Jahrestagesdes deutschen Angriffs aufPolen, in:Süddeutscheonline, 6.9.2014, zit. nach URL:http://sz.de/1.2115983 [10.03.2015]. 98 Vgl. zu dieser Gefahr u.a. die Aussagen UteFreverts, James D. Bindenagels, Jochen Hellbecks und Magdalena Waligórskain: [Frei u.a.],Aus der Geschichte lernen. 99 Vgl. exemplarisch:Karin Laschewski-Müller /RobertRauh(Hg.), Kursbuch Geschichte. Neue Ausgabe. Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern. Vonder Antike bis zur Gegenwart, 2009.Das Kapitel überden »Weg in den Krieg« bietet mit Hitlers »Friedensrede« vom 17. Mai 1933 (ebd.,S.455, M5), der Hoßbach-Niederschrift (5. November 1937, ebd., S. 446, M7), dem geheimen Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt (23. August 1939, S. 448, M11) und Beobachtungen der Historikerin Marie-Luise Recker zum Charakter der NS-Außenpolitik sinnvolle Materialien;die demokratische Außenperspektive bleibt aberinder Quellenauswahl aufbritische und amerikanische Karikaturen beschränkt (S. 445, M4, S. 446, M6, S. 447 M9 und M10). Im Bereich der Textquellenwirddiese Per- spektiveallenfalls in einem Auszug ausden TagebüchernVictor Klemperers indirekt er- kennbar (französische Illusionen überdie Absichten Hitlers, Propagandaeffekte der Olympiade aufdas Ausland, ebd.,S. 447,M8). Vgl.hierzu Hildebrand, Das Dritte Reich, S. 19 (»Friedensrede«), S. 35 (Hoßbach-Niederschrift) und S. 48 (deutsch-sowjetischer Nichtan- griffspakt). Fürden bilingualen Unterrichtist die skizzierte Konzentration aufdeutsche Quellen sicher nichtanzunehmen, da hierz.B.die nordrhein-westfälischen Vorgabenfürdas Zentralabitur 2014 den Schwerpunkt »Britisch-deutsche Beziehungen 1919–1939« vorsehen. Vgl. Ministerium fürSchule und Weiterbildung Nordrhein-Westfalen,Vorgabenzuden unterrichtlichen Voraussetzungen fürdie schriftlichen Prüfungen im Abitur in der gym- nasialen Oberstufe im Jahr 2014, S. 3. Geschichtswissenschaft in der Lehrerbildung 83 len100 wieder hier vorgestellten heraus lassen sich fachdidaktisch sinnvolle Re- flexionen fürdie Gestaltung eines intellektuell herausfordernden und an Grundproblemen demokratischer Außen- und Sicherheitspolitik orientierten Geschichtsunterrichts entwickeln, zu denen Studierende durch die Beschäfti- gung mit didaktischen Theorien, gängigen Lehrmaterialien und Lehrplänen allein kaum angeregtwürden. Erst die Verzahnung vonFachwissenschaftund Fachdidaktik ermöglichtdiesen Ertrag. Doch wiestehtesmit Lehrveranstaltungen, die in vordergründig weniger lehrplanrelevanten Themenfeldernliegen?Ich möchte ein Beispiel ausdem von FrauProf. Dr.HildegardTemporini-Gräfin Vitzthum angebotenen Hauptsemi- nar »Christentum und Römischer Staat (1.–3. Jahrhundert)« aufgreifen,andem ich vor gut 20 Jahren als Tübinger Studentteilgenommen habe.101 Im Rahmen meines Seminarbeitrags hatte ich mich mit den religionspolitischen Maßnah- men des römischen Soldatenkaisers Decius in den Jahren 249/50 n.Chr. zu beschäftigen, die traditionell als die erste das gesamte Reichsgebiet umfassende Christenverfolgung galten.102 Schondieser Themenkomplex dürfte in Lehrplä- nen oder Schulgeschichtsbüchernallenfalls am Rande berücksichtigt werden103 und hat in meiner späteren schulischenUnterrichtspraxis als Thema nie eine Rolle gespielt. Noch weniger ›lehrplanrelevant‹ sind die während der Verfolgung entstandenen griechischen Papyri,die man in Ägypten gefundenhat, soge- nannte libelli: In diesen Bescheinigungen wurde Reichsbewohnerndurch eigens dafüreingerichtete Kommissionen bestätigt,dasssie die vonKaiser Decius

100 Dass diese Quellen fürdie Außenperspektivenichtgänzlich fehlen, zeigt etwa folgendes Beispiel:Kommentar des französischen Botschafters in Berlin, FranÅois-Poncet, über die Rheinlandbesetzung im März 1936,auszugsweise abgedruckt in:Daniela Bender /Mathias Gröbel/ReinhardSturm/Hartmann Wunderer,NS-Außenpolitik bis 1939 [Unterkapitel 9.2.],in: Tobias Arand u.a.,Geschichte und Geschehen. Oberstufe. Nordrhein-Westfalen, Stuttgart2011, S. 454–458, hier:S.454f. (M3). 101 Seminar fürAlteGeschichte an der UniversitätTübingen, Sommersemester1994. 102 Vgl.HansA.Pohlsander,The Religious PolicyofDecius, in:Aufstiegund Niedergang der römischenWelt II, 16, 9, Berlin /New Yo rk 1986, S. 1826–1842, hier S. 1831;Christ, Ge- schichte der römischen Kaiserzeit, S. 660f.;zur Datierung der Maßnahmen:Joachim Molthagen, Der römische Staat und die Christen im zweiten und dritten Jahrhundert, Göttingen 1970 (Hypomnemata 28), S. 66. Einen aktuellen Überblick überdie hier nur in einem kleinen Ausschnitt vorzustellende Literatur bietet:Bruno Bleckmann, Zu den Mo- tivender Christenverfolgungdes Decius, in:Klaus Peter Johne /Thomas Gerhardt /Udo Hartmann (Hg.), Deleto paene imperioRomano.Transformationsprozesse des Römischen Reiches im 3. Jahrhundert und ihre Rezeption in der Neuzeit, Stuttgart2006, S. 57–71;zum reichsweiten Fokusder Verfolgung:vgl.ebd.,S.57. 103 So etwa ohne Nennungdes Decius und unter allgemeinem Hinweis aufeinen Zusam- menhang zwischen Krisenerfahrung, Opferzwang und Christenverfolgung im 2. und 3. Jahrhundert: Hans-Jürgen Lendzian (Hg.), Zeiten und Menschen 1, Braunschweig u.a. 2008 (Nachdruck 2012), S. 162f. 84 Peter Geiss angeordneten Opfer fürdie Staatsgötter und die vergöttlichten Kaiser darge- brachthatten.104 Inwieweit kann ein derartspezieller Quellentypineinem so unterrichtsfernen Themenzusammenhang fürdie Unterrichtspraxis vonInteresse sein?–Er kann es sein, weil sich daran fürdas Schulfach insgesamt wichtige Erkenntnisse festmachen lassen:Erstens wird deutlich, dass schon eine kleine unscheinbare Einzelquelle Geschichtsbilder zu verändernvermag,wennsie sinnvoll kontex- tualisiertund präzise interpretiert wird;zweitens wird erkennbar,welche politische Bedeutung dem Faktor Religion zukommen kann, wenn eine Gesell- schafteine schwere Krise durchlebt;105 drittens zeigen die Opferbescheinigun- gen das Ausmaß gesellschaftlichen Anpassungs- und Uniformierungsdrucks, das auseinem allgemeinen Krisenbewusstsein resultieren kann.106 Eine der Opferbescheinigungen wurde füreine gewisse Aurelia Ammonous ausgestellt, eine Priesterin des ägyptischen Gottes Petesouchos.107 Das kleine Stück Papyrus belegt, dass sich das Opferedikt des Decius offenbar nichtnur aufChristen bezog.108 Dies stellt diechristliche Überlieferung in Frage, welche diereligions- politischenMaßnahmen des Deciusauf den Aspektder Christenverfolgung re- duzierte.109 Die Politik des Deciuserscheintnun eher als Ausdruck einer fürdie Krise charakteristischen Rückbesinnung auftraditionelle religiöse Werteim Rahmen einer reichsweiten Kampagne obligatorischerOpfer;110 oder sie zielte,

104 Vgl.John R. Knipfing, The Libelli oft he Decian Persecution,in: The HarvardTheological Review,XVI (1923), S. 345–390, S. 345 und 350f.;zur Identitätder verehrten Gottheiten und »divi«. Vgl.Pohlsander, The Religious PolicyofDecius, S. 1836. 105 Vgl.hierzu insbesonderedie Literaturangabenunten, Anm. 110. 106 Dies giltauchdann, wenn dievon Ulrich HuttnervorgeschlageneCharakterisierung der Opferpolitik desDeciusals »totalitär« zu weit geht.Vgl.UlrichHuttner,Zwischen Traditio- nalismus undTotalitarismus. ZurIdeologieund Praxis derRegierungdes KaisersDecius, in: Johne/Gerhardt /Hartmann(Hg.),Deletopaene imperioRomano, S. 37–51, hier S. 49–51. 107 Vgl.Peter Guyot /RichardKlein (Hg.), Das frühe Christentum bis zum Ende der Verfol- gungen. Eine Dokumentation,Band I: Die Christen im heidnischen Staat,Darmstadt 1993 (Texte zur Forschung), S. 125, dazu die Anmerkungen aufS.373–375. 108 Vgl.Guyot /Klein (Hg.), Das frühe Christentum, S. 374;Knipfing,The Libelli of the Decian Persecution, S. 353;Pohlsander,The Religious PolicyofDecius, S. 1832; Bleckmann, Zu den Motiven der Christenverfolgung des Decius, S. 57f.;soauch schonEugen Liesering, Untersuchung zur Christenverfolgung des Kaisers Decius, Würzburg 1933, S. 21. 109 Vgl. Molthagen, Derrömische Staatund dieChristen, S. 65f.;PaulKeresztes geht vordem Hintergrund dersonstigen Überlieferung dennochvon einerChristenverfolgung ausund betrachtet selbst AureliaAmmonous alsmögliche Christin.Vgl.PaulKeresztes,The Decian libelli andContemporary Literature,in: LatomusXXXIV (1975),S.761–781,hierS.763 und 777. 110 Vgl.Liesering, Untersuchung zur Christenverfolgung des Decius, S. 63 (»Wiedergeburtdes Reiches im Geist der vom Senat verkörperten altrömischen Tradition«); Molthagen, Der römischeStaatund die Christen, S. 74;Josef Vogt,Zur Religiositätder Christenverfolger im Römischen Reich, Heidelberg 1962 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historischeKlasse, 1962), S. 20f.;Pohlsander,The Reli- Geschichtswissenschaft in der Lehrerbildung 85 wieBruno Bleckmann jüngst betont hat, aufdas Einforderneiner Loyalitäts- bekundung zur Absicherung der unter turbulenten Umständen vollzogenen Herrschaftsübernahme des Soldatenkaisers ab.111

5. Schlussbetrachtung

»Wozubrauche ich das alles im Unterricht?«–Diese studentische Frage lässt sich durch eine starkeVerzahnung vonFachwissenschaftund Fachdidaktik im Rahmen des Lehramtsstudiums beantworten. Aufdiesem Wege wird die Überwindung einer in der Sache überhaupt nichtgegebenen, aber vonStudie- renden häufig empfundenen Polaritätzwischen Fachwissenschaftund Fachdi- daktik möglich. Erforderlich sind dafürkeine kleinschrittigen Lehrvereinba- rungen zwischen Fachwissenschaftlernund Fachdidaktikern, kein neues Raster, das nurzuweiterer Bürokratisierung des Lehramtsstudiums führen würde. Erforderlichist vielmehrdie ausder akademischen Freiheit heraus zu entwi- ckelnde Bereitschaftvon Lehrenden und Lernenden, fachwissenschaftliche und didaktische Reflexionsebenenzueinander in ein Verhältnis zu setzen. Dazu gehört in einem fachwissenschaftlichen Kontext bereits das Aufgreifen der von Leopold vonRankeausgehenden Anregung,das Allgemeine im Besonderen deutlich hervortreten zu lassen.112 Wenn dies gelingt, werden Studierende auch die Beschäftigung mit kleinen Papyrusschnipseln ausdem ägyptischen Wüs- tensand nichtmehr als irrelevantund praxisfernerleben. Dann wird der Reichtum eines wissenschaftlichen Studiums nichtmehr als unsinnigerBallast aufeinem Wegindie Praxis, sondernals Quelle fachlicher Souveränitätim Lehramt erfahrbar. Schüler wissen es sehr zu schätzen, wenn Lehrkräftenichtnur aufSchul- buchquellen zurückgreifen, sondernihren Unterrichtdurch den Ertrag eigener geistiger Arbeit anreichern können. Dies setzt voraus, dass sie nichtnur im Lehrplan, sondernvor allem anderen in der vonihnen studierten Wissenschaft

gious PolicyofDecius, S. 1838und 1841f.;zum religiösen »Konservativismus« der »do- nauländischen Soldatenkaiser«: Geza Alföldy,Die Krise des römischen Reiches. Geschichte, Geschichtsschreibung und Geschichtsbetrachtung,Stuttgart1989, S. 383. 111 Vgl.Bleckmann, Zu denMotiven der Christenverfolgung des Decius, S. 62f. und 68. 112 »Ich bin vielmehrder Meinung, dass die Geschichtswissenschaft in ihrer Vollendung an sich selbst dazu berufen und befähigtsei, sich vonder Betrachtung und Erforschung des Einzelnen aufihrem eigenen Wege zu einer allgemeinen Ansichtder Begebenheiten, zur Erkenntnis ihres objektivenZusammenhangszuerheben.« Leopold vonRanke, Fragment ausden dreißiger Jahren,zit. nach:Fritz Stern/Jürgen Osterhammel, Moderne Historiker. Klassische Texte vonVoltaire bis zur Gegenwart, München 2011, S. 95–98, hier S. 97;zum Zusammenhang zwischen Besonderemund Allgemeinem in der Geschichtswissenschaft ferner:Lüthy, Wozu Geschichte?, S. 19 und 44f. 86 Peter Geiss zu Hause sind. Genauhierauf weist BerndSchönemann in heilsamer Zuspitzung hin, indem er feststellt, dass »selbstbewusste Professionalitätund das Festhalten am Wissenschaftsanspruch schulischer Bildung wenn nichtimmun, so doch resistenter machen können gegen allzu plumpe Versuche des Staates, den Ge- schichtsunterrichtfürpolitische Zweckezumissbrauchen.«113 Welchen Part hat die Didaktikzuübernehmen?–Sie ist aufgerufen, das Gespräch mit der Fachwissenschaftzusuchen, Unterrichtnichtimluftarmen Abstraktionsraum vonKompetenzmodellen zu denken, sondernimKontakt mit den Stoffen und Problemender Forschung.Zugleich hat sie die Aufgabe,ge- meinsam mit Praktikerndes Geschichtsunterrichts intensiv überdas im schu- lischen Raum Machbareund Wünschbare nachzudenkenund hierzu empirisch zu forschen. Alsweitere wichtige Funktion kommt ihr die Beobachtung der Gegenwartzu, in der Schüler leben, empfinden und denken. Es ist mit den Worten Klaus Bergmanns die Pflichtder Geschichtsdidaktik, das»Wissen- schaftswissen« nach Gegenwartsbezügen zu »befragen«, die eine Beschäftigung mit Geschichte in der Wahrnehmung vonSchülernsinnvoll machen.114 Dabei helfen nichtneue Kompetenzmodelle und ihr Durchdeklinieren in seitenlangen schulinternen Lehrplantabellen, die vielbeschäftigte LehrkräfteinFachkonfe- renzen zu Rechtmurrend fürdie Schublade anfertigen. Vielmehrgehtesumeine Rückbesinnung aufdas, was Heinz Dieter Schmid in seinem programmatischen Lehrwerkstitel Mitte der 1970er Jahrezum Zentrum des historischen Lernens gemachthat:»Fragen an die Geschichte«.115

113 Schönemann, Lehrpläne und Richtlinien, S. 54. 114 Bergmann, Geschichte als Steinbruch, S. 146. 115 Heinz Dieter Schmid (Hg.), Fragen an die Geschichte. Geschichtliches Arbeitsbuch fürdie Sekundarstufe I, 6.,neubearb.Aufl.,Bd. 1: Weltreiche am Mittelmeer,bearb.v.Heinz Dieter Schmid /Manfred Lampl /Klaus Reyhl /Dieter Rothenhöfer,Frankfurta.M. 1983. Die erste Auflage ist nach Ausweis des Katalogsdes Georg-Eckert-Instituts fürinternationale Schulbuchforschung 1974 erschienen. Vgl. URL:http://opac.lbs-braunschweig.gbv.de/ DB=6.1/SET=2/TTL=31/SHW?FRST=36 [01.12.2014];zur Konzeptiondes Lehrwerks: Heinz DieterSchmid, Entwurfeiner Didaktik der Mittelstufe, in:Geschichte in Wissen- schaftund Unterricht 21, 6(1970), S. 340–363;Ders.,EntdeckendesLernen im Ge- schichtsunterricht, in:HansSüssmuth (Hg.), GeschichtsdidaktischePositionen. Be- standsaufnahme und Neuorientierung, Paderborn/München /Wien /Zürich 1980, S. 283–314. Zur Bedeutung des Fragens fürdas Lernen und Verstehen:Vgl.neben Thü- nemann und Schreiber (Anm. 44) den mathematikdidaktischen Beitrag vonStephan Be- rendonk im vorliegenden Band. Geschichtswissenschaft in der Lehrerbildung 87

Anhang

Umfrage in der Köln-BonnerRegion:Geschichtsdidaktikund GeschichtswissenschaftimLehramtsstudium–Fragebogen für Referendarinnen und Referendare (Sommersemester2014)116

Frage:»Sehen Sie vordem Hintergrund Ihrer Unterrichtspraxis Entwicklungs- bedarffürdas universitäre Geschichtsstudium?Welchen?«

Antworten auseiner der befragten Seminargruppen:

Nr.1 »Das (auslaufende) Staatsexamen forderte lediglich eine [sic] fachdidaktische Veranstaltung im gesamten Studium. Die universitäre Ausbildung fürange- hende Lehrer muss stärker fachdidaktisch ausgerichtet werden bzw.fachliche u. fachdidaktische Inhalte besser verknüpfen«

Nr.2 »Mehr fachdidaktische Kurse die [sic] aufden Schulunterrichtvorbereiten ! mehr Praxis ! Mehr Veranstaltungen, die Überblickswissen vermitteln + auf die Themen des Schulunterrichts abgestimmt sind.«

Nr.3 »Lehrangebot im späten Verlauf des Studiums stärker an die [sic] Inhalte der Lehrpläne ›orientieren‹.«

Nr.4 »- sollte sich mehr um Überblickedrehen, keine speziellen Sonderthemen«

Nr.5 »Ausbauder verbindlichen fachdidaktischen Seminare, die in meinem Studium nureinen Bruchteil ausgemachthaben.«

Nr.6 »vertiefende EinblickeinUnterrichtsplanung, Materialbeschaffung und -Aus- wahl [sic].«

116 Umfrage unterstützt durch Fachleiter der Köln-Bonner Region,FrauAnne Frey,FrauUrsula Tempel, HerrnThomasKahl, HerrnDr. Frank Schweppenstette und Frau Dr.Gudrun Tscherpel;Gegenlektüre der Fragebögen und Verbesserungsvorschläge:Magdalena Käm- merling;digitale Erfassung der Daten und Transkription:KerrinPeschke. Vier weitere der insgesamt fünf Gruppen bleiben hier ebenso unberücksichtigtwie 15 weitere Fragen. 88 Peter Geiss

Nr.7 »Ja! Verstärkung (deutlich) fachdidakt. Anteile«

Nr.8 »mehr fachdidaktische Angebote!«

Nr.9 [Die beantwortende Person hat den Begriff »Geschichtsstudium« in der Frage unterstrichen und dazu »LA?« am Rand notiert.] –»Konkrete Vorbereitung, z.B. Heranführung an Lehrpläne, Kompetenz- orientierung,mehr Praxissimulation,Phasierung –Weniger Anhäufung vondetailierten [sic] Fachwissen, sondernBehandlung voninden Lehrplänen vorkommenden Themen –Anleitung zur didaktischen Reduktion statt immer weitere Vertiefung von Details«

Nr.10 –»Bezug zur Praxis /sinnvolle Verknüpfung der Didaktik & Fachwissenschaft –Studium zu kurz fürvertiefendeSeminare, Überblickswissen /breites Wissen – überhaupt fachdidaktische Seminare«

Nr.11 »Stärkere Vorentlastung d. Referendariats«

Nr.12 Keine Antwort

Nr.13 »mehr Praxisbezogenheit /sowohl in den Seminaren als auch in der Schule (Praxissemester /studienbegleitend)«

Nr.14 »mehr Praxisbezug;klarereTrennung zw.den einzelnen Studiengängen (zu meiner Zeit gemischte Abschlüsse) ›Themenzentrierung‹ fürdie Schule«

Nr.15 »Hinweise, welche Themen in der Schule relevantsind, sodass man sich in- haltlich besser aufdie Schule vorbereiten kann.« Geschichtswissenschaft in der Lehrerbildung 89

Nr.16 »bin dabei zögerlich. Wenn Lehrplan sich ändert, müsste dann VL-Verzeichnis sich auch ändern bin eigentlich rel. zufrieden, auch wenn ich einige /viele hist. Sachgebiete / Themengebiete nacharbeiten muss Habe meiner Meinung nach solide hist. wissenschaftliche Grundlage bekom- men«

Nr.17 »Verknüpfung vonfachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Inhalten und Veranstaltungen Erhöhter Anteil fachdidaktischer Veranstaltungen«

Nr.18 »mehr Gelegenheitenzum Einübendidaktischer Reduktion stärkerer Praxisbezug«

Quellen- und Literaturverzeichnis

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Die Entwicklung philosophischer Urteilskompetenzdurch kognitive Konflikte

»Wenn die Macht der Vereinigung ausdem Lebender Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendigeBeziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entstehtdas Bedürfnis der Philosophie.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel1

Washeißt und wozu benötigt man philosophische Urteilskompetenz?

Philosophieunterrichtist bis heute oft genug Unterrichtzur Erschließung phi- losophischer Texte. Das zeigen nichtnur Beobachtungen vonAlltagsunterricht, sondern auch einschlägige VeröffentlichungenzuMethoden selbstständigen und kooperativenLernens fürden Philosophieunterricht, die überwiegend Anregungen zur Texterschließung in unterschiedlichen methodischen Forma- ten geben.2 Undeswird auch durch die Aufgabenformatedeutlich, die z.B. in NRWim(Zentral-)Abitur dominierenund aufderen Bewältigung die Schüle- rinnen und Schüler im Unterrichtvorbereitet werden müssen.Dass ein voneiner klaren Problemstellung ausgehender Texterschließungsunterrichtseinen guten didaktischen Sinn hat, ist unbestritten. Die Schülerinnen und Schüler werden aufdiese Weise zum Nach-Denken philosophischer Gedanken, d.i. zur ge- danklichen Rekonstruktion vonThesen und diese begründenden Argumenta- tionen angehalten, die –darauf hat schon frühHegel hingewiesen –inder Philosophie immer schon ein Selbstdenken bedeutet, welches das Subjekt über allen (messbaren) Kompetenzerwerb zur Texterschließung hinaus in einen philosophischen Lern-und Bildungsprozess verstrickt.3

1Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie. Hamburg1962, S. 14. 2Z.B.Michael Wittschier,Textschlüssel Philosophie. 30 Erschließungsmethoden mit Beispie- len, München 2010. 3Georg WilhelmFriedrich Hegel, Überden Vo rtrag derPhilosophie aufGymnasien.Privatgut- achten fürden KöniglichBayrischenOberschulratImmanuelNiethammer(1812), in:Ders., 96 Roland W. Henke

Gleichwohl ist es in der gegenwärtigen Philosophiedidaktik weitgehend un- bestritten, dass die Fähigkeit zur Erschließung philosophischer Texte nichtdie überdie Sphäre der Schule hinausweisende Kernkompetenz des Philosophie- unterrichts darstellt. Diese lässt sich viel eher in der Urteilskompetenz ausma- chen. Darunter ist nichtdie zum Handeln im Alltag wichtige Fähigkeit zu ver- stehen, Sachverhalte und Situationen angemessen einzuschätzen, sonderndas Vermögen, im Dschungel vielfältiger weltanschaulicher Positionen und Orien- tierungsangebote einen begründeten eigenen Standpunkt einzunehmen und sich so »im Denken zu orientieren«.4 Die textbasierte Erschließung philoso- phischer Positionen ist füreine so bestimmte Urteilskompetenz eine notwen- dige, aber keine hinreichende Bedingung:EsgiltPositionen und ihre argu- mentativenBegründungen zu kennen und zu verstehen,umvon dortaus zu einer eigenen Einschätzung,einem Urteil zu gelangen.5 Spätestens seit Kantgiltdie Urteilskraft als die Intelligenz der Philosophen: »Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nichtabzuhelfen«, schreibt Kantinder »Kritik der reinen Vernunft«.6 Dass eine solche Intelligenz in einer pluralistischen Ge- sellschaftnichtnur fürPhilosophen, sondernfürjedermann vonnöten ist, zeigt im Anschluss an KantHannah Arendt in ihrem Fragment gebliebenen Werk »Das Urteilen«.7

Nürnberger undHeidelbergerSchriften,Theorie-Werkausgabe,Bd. 4, hg.v. EvaMoldenhauer undKarlMarkusMichel, Frankfurt a.M. 1970,S.403–416,hierS.410–412;zur Bildungsaufgabe desFachesPhilosophie in derGegenwart vgl. auch Volker Steenblock,Was istPhilosophie- didaktik?Fünf Bemerkungenzuihrer interdisziplinären Identitätaus Anlass derKompetenz- debatte, in:Zeitschrift fürDidaktikder Philosophieund Ethik2(2011), S. 90–95. 4Immanuel Kant, Washeisst:sich im Denken orientieren?, in:Ders.,Werkausgabe, Bd. 5: Schriften zur Metaphysik und Logik I, hg.v.Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1977, S. 267–283. 5Die besonderedidaktische Bedeutung der Entwicklung der eigenen Urteilsfähigkeit spiegelt sich auch im neuen Kernlehrplan Philosophie in Nordrhein-Westfalen wider,der neben sechs Sachkompetenzen fünf Urteilskompetenzen ausweist und als neuen, auch fürdas (Zentral-) Abitur zugelassenen Aufgabentypdie »Erörterung eines philosophischen Problems« vorsieht. Vgl.hierzu auch Roland W. Henke/BerndRolf, Kompetenzorientiertunterrichten. Der neue Kernlehrplan Philosophie in NRW(SII), in:ZeitschriftfürDidaktikder Philosophie und Ethik 3(2013), S. 69–75. 6Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in:Ders.,Werkausgabe, Bd. 3, hg.v.Wilhelm Weischedel, Frankfurta.M. 1974, S. 185 (A 133/ B172). 7Hannah Arendt, Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, hg.v.Ronald Beier, München /Zürich 1985. »Das Urteilen« sollteursprünglich Arendts letzter Band ihres drei- bändigen Werkes »Vom Lebendes Geistes« werden. Er wurdenichtmehr ausgeführt. Die hierfürwesentlichen Texte hat Ronald Beier ausdem Nachlass, ebenfalls unter dem Titel »Das Urteilen«, herausgegeben. Die folgende Zusammenfassungvon Arendts Interpretation der politischen Philosophie Kants stützt sich besonders aufdie siebente und die zehnte bis letzte Stunde einer dreizehnstündigen Vorlesung zum genannten Thema, die Arendtander New School for SocialResearch, NewYork, im Herbstsemester 1970 hielt. Die Entwicklung philosophischer Urteilskompetenz durch kognitive Konflikte 97

Schon Kanthatte in der »Kritik der Urteilskraft«das Geschmacksurteil zwischen dem Anspruch aufObjektivitätbzw.Wahrheit erhebenden Erkennt- nisurteil, wozu fürihn auch ethische Urteile gehören, und dem bloß subjektiven Urteil überdas Angenehme verortet, weil es Anspruch aufMitteilbarkeit und allgemeine Zustimmung erhebt.8 Davonausgehend stellt Arendt heraus, dass in einer pluralistischen Gesellschaft, die auf(metaphysische oder apriorische) Letztbegründungenvon konkurrierenden weltanschaulichen Orientierungen verzichtet und um die tragfähigsten Meinungen im offenen Raum des Politi- schen ringt,9 der vonKantgeltend gemachte reduzierte Wahrheitsanspruch des ästhetischen Urteils der einzig mögliche ist. Zwar wird jedes Urteil aufder Grundlage eigenen Denkens im Sinne des »sapere aude« allein gefällt, aber es ist durch die Einbildungskraft aufdie anderen und ihren sensus communis (Ge- meinsinn) bezogen und wird ihnen hypothetisch in der eigenen Vorstellung mitgeteilt und damit zugleich zur Zustimmung und »Evaluation« unterbreitet. So führtdie Einbildungskraft zur »Erweiterung des Geistes« und machtuns zu potenziellen Weltbürgernim»kritischen Denken«.10 Nach Kantbedeutet das Geschmacksurteil eine Wahl:Etwas gefälltoder missfällt. In Arendts politischer Deutung vonKants ästhetischer Theorie ak- zentuiertauch das Urteil im offenen Raum des Politischen eine Wertung bzw. Entscheidung im Hinblick aufdie Übernahme oder Ablehnung vonAussagen bzw. Überzeugungen –eine Wertung allerdings, die durch Gründe und Argu- mente legitimiertwerden muss, um ihr Zustimmungsanliegen zu realisieren. Urteilskompetenz schließtalso Argumentationskompetenz ein, weil erst diese die Mitteilbarkeit des Urteils sowieseinen Anspruch aufallgemeine Zustim- mung verbürgt.11 Dass in derPhilosophie in ersterLinie substanziell und nichtbloß tautologisch –wie etwa in einemSyllogismus–argumentiert wird,hat deramerikanische PhilosophStephen Toulminbereits in den 1950er Jahren herausgearbeitet.Umdie

8Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in:Ders.,Werkausgabe, Bd. 10, hg.v.Wilhelm Weischedel,Frankfurta.M. 1977, bes. §§ 18–22. Während Erkenntnisurteile durch eine Anwendung vorgegebener Verstandeskategorien aufeinen Einzelfall zustande kommen,also Ausdruck der bestimmenden Urteilskraftsind, kommen ästhetische Urteile ohne ein solches gesetztes Allgemeines aus. Dieses bildet sich vielmehr erst in der Kommunikation überihre Berechtigung, weshalb hier die reflektierende Urteilskraft am Werkeist. 9Zur Begründung der menschlichen Pluralitätund eines ihr entsprechenden politischen Handlungsraumes vgl. Hannah Arendt, Vita activa,München /Zürich 1981, bes.Kap.2und 5. 10 Vgl. Arendt, Das Urteilen, S. 64–73 (Manuskript zur siebenten Vorlesungsstunde). Dort weist sie auch darauf hin, dass kritisches Denkennichts mit einer besonderen Empathie zu tun habe,die uns sage, was wirklich in den Köpfen der anderen vorgehe; kritisches Denken meine vielmehr die Fähigkeit, sich in seinem eigenen Denken an bloß möglichen Urteilen anderer zu orientieren (a.a.O.,S.68f.). 11 Vgl. ebd.,S.112–115. 98 Roland W. Henke

Eigenart philosophischerArgumentationen zu durchleuchten, entwickelteerdas sogenannte»Toulmin-Schema«. Dessen Kernstruktur besagt, dass derWahrheits- oderGeltungsanspruchvon ausInformationen oderDaten abgeleiteten vorläu- figenBehauptungendurch nichtempirischeallgemeineGründe, sogenannte Warrants,begründet wird,die ihrerseits nochmals durchprinzipielle Vorausset- zungen,sogenannteBackings, gerechtfertigt werden.Diese Backingsstellen, werden siehinreichend abstrakt gefasst, grundsätzlichephilosophischebzw. weltanschauliche Positionierungendar.Sie bilden dasimAlltagoft unreflektierte Fundamentfüraus ihnenfolgendeEntscheidungen (= Urteile),welches durchdie philosophische Begründungallererstbewusst wird.12 An der ökologischen Ethik lässt sich diese Argumentationsfolge, ausgehend vonden Handlungskonsequenzen, gut illustrieren:Sokönnte ein Vegetarier als Grund fürseine Ernährungsweise angeben, dass er nichtfürdas qualvolle Leben und Sterben von(Wirbel-)Tieren (mit)verantwortlich sein möchte. Als tieferen, abstrakteren Grund, der seinen Vegetarismusund seine vorläufige Begründung rechtfertigt,könnte er anführen, dass (Wirbel-)Tiere wieMenschen empfin- dungs- und damit leidensfähige Wesen seien. Diese (pathozentrische) Begrün- dung könnte weiter fundiertwerden durch die Aussage:Inder Welt sollte möglichst viel Lust vermehrtund möglichst viel Leid vermieden werden (Ba- cking). Damit sind wirbei einem wesentlichen Grundsatz der utilitaristischen Ethik angelangt. Dieser kann natürlich noch weiter gerechtfertigt oder auch kritisiertwerden, etwa durch einen deontologischen bzw.anthropozentrischen Ansatz. Dieser Abriss der EigenartphilosophischenArgumentierens zeigt: Die Aus- bildung philosophischer Urteils- und Argumentationskompetenz ist füreine pluralistische Gesellschaftnotwendig,umden fürsie konstitutiven Raum der offenenOrientierungsfelder in Sinn- und Weltanschauungsfragen mit diskursiv vermitteltem Lebenzufüllen. Sie ist zugleich fürdas Individuum nötig, um ihm in einer solchen GesellschaftOrientierung im Denken zu geben, zu der die Fähigkeit der Rechtfertigung vonEntscheidungen durch prinzipielle Positionen gehört.Daesein Proprium solcher Positionen ist, dass ihnen stets auch andere prinzipielle Orientierungen argumentativplausibel entgegengesetzt werden können, bedeutet die Ausbildung vonUrteilskraftzugleich die Entwicklung der Fähigkeit zur diskursiven Selbstreflexioningrundlegenden Orientierungen. Damit ist sie die beste Prophylaxe gegen jedwede Artvon Fundamentalismus, insoweit dieser die Abschottung der Fundamentalüberzeugungen eines Indivi-

12 Vgl. Stephen E. Toulmin,The Uses of Argument, Cambridge 1958. Eine erhellende Erläu- terung der Bedeutung des Toulmin-Schemas findet sich bei HerbertSchnädelbach, Philo- sophischeArgumentationen, in:Ekkehard Martens /HerbertSchnädelbach (Hg.), Philo- sophie. Ein Grundkurs, Bd. 2, Reinbek 1985, S. 683–707. Die Entwicklung philosophischer Urteilskompetenz durch kognitive Konflikte 99 duums vor diskursiver Durchklärung und damit verbundener potenzieller Veränderung bedeutet. Die Entwicklung vonphilosophischer Urteilskompetenz ist damit die vornehmste und dringlichste Aufgabedes Philosophieunterrichts.13

Die philosophische Spannung zwischen Exoterik und Esoterik als didaktisches Potenzial zur Anregungder Urteilskraft

Im Folgenden möchte ich ein unterrichtliches Arrangementskizzieren, durch das sichgezielt die eigenständige Urteilskraftder Lernsubjekte ausbilden lässt.14 Dabei verstehe ich im Anschluss an die vorherigen Ausführungen unter Urteils- bzw.Argumentationskompetenz im Fach Philosophie insbesonderedie –etwa in einer Problemerörterung manifest werdende –Fähigkeit, –eigene Entscheidungen bzw.Handlungsoptionen (z.B. Vegetarismus) durch tiefer liegende nichtempirische Begründungen argumentativ abwägend zu rechtfertigen, –dabei die zur Rechtfertigung verwendeten Backings oder prinzipiellen Vor- aussetzungen zu kennen und zu explizierensowie –diese im Kontext kontroverser philosophischer Positionen aufeiner ange- messenen Abstraktionsebene weiter diskursiv zu begründen.15

Seit ihren Anfängen hat sich die Philosophie mit ihrem Verhältnis zum gesunden Menschenverstand und damit zu dem, was gemeinhin fürWahrheit gehalten wird,beschäftigt. Während der historische Sokrates noch aufdem Marktplatz mit jedermann um die wahre Begriffserkenntnis rang,markierte spätestens seine Hinrichtung durch das Athener Volksgerichteinen Bruchmit den gängi- gen Alltagsüberzeugungen. Dieser Bruchwurde durch Platons Ideenlehre zum tiefen philosophischen Graben, zur Spannung zwischen Exoterik und Esoterik, versinnbildlichtetwa im Höhlengleichnis, das die metaphysische Differenz zwischen den in der Höhle verbliebenen (verblendeten) vielen Blinden und den der Ideenschauteilhaftigen wenigen Philosophen zementiert.16

13 Diese Aussage gilt unabhängig vonder Antwortauf die Frage nach der Messbarkeit philo- sophischer Urteilsfähigkeit:Vgl.Vanessa Albus, Ist philosophische Bildungmessbar?,in: Zeitschrift fürDidaktik der Philosophie und Ethik 4(2012), S. 336–345. 14 Ausführungen zu zwei weiteren die Urteilskraft fördernden Lernarrangements finden sich in:Roland W. Henke, Die Förderung philosophischer Urteilskompetenz durch kognitive Konflikte, in:Julian Nida-Rümelin /Irina Spiegel /MarkusTiedemann (Hg.), Handbuch Philosophie und Ethik,Bd. 1: Didaktik und Methodik,Paderborn 2015, S. 90–94. 15 Vgl. auch die im Kernlehrplan NRWals UK5 ausgewiesene Urteilskompetenz:Kernlehrplan fürdie Sekundarstufe II, Gymnasium /Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen, Philosophie, Frechen 2013. 16 Vgl. Platon, Der Staat, übers. und hg.v.Karl Vretska, Stuttgart1982, 7. Buch [514a–542b]. 100 Roland W. Henke

In Hegels idealistischer Philosophie erreichtder Hiatzwischen dem natür- lichen Bewusstsein und dem philosophischen Standpunkt einen kaum über- bietbaren Kulminationspunkt. So schreibt der junge Hegel im Affrontgegen die in der Aufklärung verbreitete Popularphilosophie:

»Die Philosophie ist ihrer Natur nach etwas Esoterisches, fürsich weder fürden Pöbel gemacht, noch einer Zubereitung fürden Pöbelfähig;sie ist nur dadurch Philosophie, daß sie dem Verstande, und damit noch mehr dem gesunden Menschenverstande, worunter man die lokale und temporäre Beschränktheit einesGeschlechts der Men- schen versteht, gerade entgegengesetzt ist;imVerhältnis zu diesem ist an und fürsich die Welt der Philosophieeine verkehrte Welt.«17

Die Wissenschaft, d.i. die systematische Philosophie, stellt sich fürHegel »im Verhältnisse zum unmittelbaren Selbstbewusstsein […] als ein Verkehrtes dar«, und dem natürlichen Bewusstsein muss zum Eingang in die Wissenschaft, wenn er ihm überhaupt gewährtwird, zugemutet werden, »auch einmalauf dem Kopfe zu gehen.«18 Man muss nichterst an Marx‹ Diktum erinnern, der Hegel in materialisti- scher Absichtwieder vom Kopf aufdie Füßestellen wollte, um sich bewusst zu machen, dass gegen den Bruch mit dem natürlichen Bewusstsein respektivedem gesunden Menschenverstand eine langwährende philosophische Tradition steht: Aristoteles mit dem Ausgang seiner philosophischen Unterscheidungen und Deduktionen vonden herrschenden Ansichten (endoxa), Descartes mit seinem gegen die Scholastikgewandten Rekurs aufdas natürliche Licht, die ›bestverteilte Sache in der Welt‹(»la chose du mondelamieux partagØe«), Locke und Hume mit ihrem Beharrenauf der Sinneserfahrung (sensation) als einziger zuverlässiger Erkenntnisquelle sind nur einige Kronzeugen dafür.19 Auch Kants oben angesprochener Bezug des Geschmacksurteils aufden Gemeinsinn gehört in diese (aufklärerische) common-sense-Tradition –ebenso wiedie heute nicht mehr nurimangelsächsischen Raum dominierende analytische Philosophie. Die philosophische Traditionwar beiallen Irritationen, die sie dem Alltags-

17 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Überdas Wesen der philosophischen Kritik überhaupt und ihr Verhältnis zum gegenwärtigen Zustande der Philosophie insbesondere (1802), in:Ders., Jenaer Schriften, Theorie-Werkausgabe Bd. 1, hg.v.Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurta.M. 1970, S. 182. 18 Georg Wilhelm FriedrichHegel, Vorrede, in:Ders.,Phänomenologie des Geistes, Theorie- Werkausgabe Bd. 3, hg.v.Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurta.M. 1970, S. 11–67,hier S. 30. Erst in seiner Nürnberger Zeit als Philosophielehrerund Schulrektor entwickelt Hegel einen didaktischen Zugang fürSchüler zu seinem System:Vgl.RolandW. Henke, Hegels Philosophieunterricht,Würzburg 1989. 19 Auch fürden Philosophieunterrichtbrauchbareeinschlägige Auszüge ausLockes »Versuch überden menschlichen Verstand« und Humes »Untersuchungen überden menschlichen Verstand« finden sich in:Lothar Aßmann u.a.,Zugänge zur Philosophie, Berlin 2002, S. 47–70. Die Entwicklung philosophischer Urteilskompetenz durch kognitive Konflikte 101 bewusstsein zumutete, immer auch an seiner Seite. Cumgrano salis kann man die gesamte abendländische Philosophiegeschichte als die Ausfaltung des Spannungsverhältnisses zwischen dem gesunden Menschenverstand und seiner idealistischen Verkehrung,zwischen Exoterik und Esoterik also,verstehen. Wenn auch die idealistischen Spekulationen eines Platon, Schelling oder Hegel, in ähnlicher Weise auch Heideggers (Spät-)Philosophie schwer zugäng- lich sind, so übensie doch, hat man sie erst einmal nachvollzogen, eine große intellektuelle Faszination aus. Verantwortlich dafürsind offensichtlich die ko- gnitiven Dissonanzen, die sie gegenüberunserem Alltagsbewusstsein markie- ren. Diese machen selbstverständlich scheinendeGrundüberzeugungen bewusst und ermöglichen es,sie in Frage zu stellen, womit das eigenständige Philoso- phieren im Sinne selbstständigen Urteilens beginnt. Der dem Anfang der abendländischen Philosophie eingeschriebene und in der weiteren Geschichte der Philosophie fortgeführte Bruch mit dem Alltagsbewusstsein birgtalso ein beträchtliches didaktisches Potenzial:Erkann daseigene philosophische Ur- teilen der Lernsubjekte anregen, d.h. sie dazu anreizen, sich ihrer oftunre- flektierten Backings, das heißtihrer prinzipiellen philosophischen Standpunkte bewusst zu werden und sie argumentativweiter zu begründen. Bekanntlich sind Hegel, Schelling und Heidegger,nichtzuletzt Platon in seinen die Dialektik der höchsten Ideen entfaltenden Spätdialogen, gedanklich und sprachlich schwierige, geradezu hermetische Autoren, die im Philoso- phieunterricht üblicherweise nichtvertreten sind. Wassie besonders zum Schulstoff ungeeignet macht, ist ihre metaphysisch legitimierte Überschreitung des Standpunktes der endlichen Subjektivität, den etwa Hegel mit dem Begriff der Reflexionsphilosophie geißelte. Dieser Standpunkt bildet aber nach meiner Auffassung,zumindest fürden durch das cartesische »cogito« geprägten abendländischen Kulturkreis, einen unaufkündbaren Ankerpunkt fürden Phi- losophieunterricht.20 Didaktisch ergiebiger als die genannten idealistischen Philosophien sind daher die Positionen, die man in der modernen Philosophie schlichtals kon- traintuitiv bezeichnet. Sie verdanken ihreFrontstellung zum common sense nichteiner metaphysischen Spekulation, sondern enthalten eine vom Alltags- verstand abweichende und kognitiv herausfordernde Antwortauf eine philo- sophische Fragestellung.Solche kontraintuitiven Problemlösungsvorschläge sind in der Geschichte der Philosophie Legion:Zuihnen gehört in der Leib- Seele-Diskussion etwa die These vonThomas Metzinger,nach der das Icheine Simulation des Gehirns darstelle;21 in der Ethik könnte man aufKants ratio-

20 Vgl. Roland W. Henke, Dialektik als didaktisches Prinzip,in: ZeitschriftfürDidaktik der Philosophie und Ethik 2(2000), S. 117–124, hier S. 120. 21 Vgl. Thomas Metzinger,Der Ego-Tunnel, München 2014, bes. S. 15–26. 102 Roland W. Henke nalistische Auffassung verweisen, nach der eine Handlung ausMitleid keine moralischeQualitätaufweist;22 in der Staatsphilosophie ist es die Vorstellung vonPhilosophenherrschern, die ausihrem überlegenen Prinzipienwissen allein den Staat kompetentzulenken verstehen.23 Diesen Positionen ist ihre Ferne vom Alltagsbewusstsein gemein,die idealiter dazu führt, dass die Lernsubjekte, haben sie die kontraintuitiven Ansätze erst einmal erschlossen, sich ihrer ei- genen Denkvoraussetzungen bewusst werden und diese als Basis fürihreUrteile diskursiv reflektieren –eine Voraussetzungdafür, sie ggf. auch durch Über- nahme eines neuen Standpunktes zu revidieren. So gewinnen Schülerinnen und Schüler etwa durch die Auseinandersetzung mit Kants kategorischem Imperativzumindest ein bewussteres Verhältnis zu ihrem oft unreflektiertvertretenen ethischenRelativismus, nach dem »jeder selbst wissen muss«, wieermit normativen Ansprüchen umgeht. Vergleichbares geschiehtinnerhalb der Erkenntnistheorie mit einem allwärtsverbreiteten naiven Realismus als Antwortauf die Frage, wiewir zu sicherer Erkenntnis gelangen; durch seine Kontrastierung mit konstruktivistischen oder rationa- listischen Ansätzen wird er seiner Naivitätentkleidet und verwandelt sich in einen reflektierten Realismus–wo er nichtsogar in eine konstruktivistische respektive rationalistische Auffassung vonErkenntnis umschlägt. Füreinen die eigenständige Urteilsfähigkeit aktiv anregenden Philosophie- unterrichtgiltesalso zuerst einmal, ein philosophisches Problem zu entwickeln und klar und deutlich zu bestimmen.24 Daraufhin müssen die Alltags- oder Präkonzepte der LernsubjekteimHinblick aufdie Problemlösung diagnostiziert werden. Die in der Philosophiegeschichte vertretenen common-sense-Positionen lieferndazu heuristische Anhaltspunkte:Mit ihrer Hilfe können entsprechende Hypothesen formuliertwerden, die es mit Hilfe geeigneter Diagnoseinstrumente zu erhärten gilt.Hier tut sich ein beträchtliches Forschungsfeldauf, zu dem in der Philosophiedidaktik –etwa im Gegensatz zur Didaktik der Naturwissen- schaften25 –bisher erst wenige Überlegungen vorliegen.26

22 Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg.und eingef. v. Theodor Valentiner,Stuttgart1961, S. 35f. 23 Vgl. Platon, Der Staat;die viel zitierte Forderung nach Herrschaftder Philosophen, der sog. Philosophenkönigssatz, findet sich im 5. Buch, S. 277 [473d]. 24 Vgl. MarkusTiedemann, Problemorientierte Philosophiedidaktik, in:ZeitschriftfürDi- daktik der Philosophie und Ethik 1(2013), S. 85–96. 25 Z.B. Reinders Duit, Schülervorstellungen und Lernen vonPhysik, Piko-Brief Nr.1,Mai 2004, IPN –Leibniz-Institut fürdie Pädagogik der Naturwissenschaften, Kiel, zit. nach URL: http://www.idn.uni-bremen.de/schuelervorstellungen/material/Piko-Brief_Schuelervor.pdf [29.05.2015]. 26 Ein aufder Grundlage der vier Kantfragen operierender Versuch zur Diagnose philoso- phischer (Prä-)konzepte liegtbereitsvor:Wolfgang Buschlinger /Bettina Conradi /Hannes Rusch, PHILOMAT. Apparatfürweltanschauliche Diagnostik, Stuttgart2009. Auszüge aus dem Band könnengut im Unterricht eingesetzt werden, u.a. weil die dortformulierten Die Entwicklung philosophischer Urteilskompetenz durch kognitive Konflikte 103

Liegteine klare Fragestellung und im Hinblick aufihre intuitiveBeantwor- tung ein belastbarer Diagnosebefund vor, dann bildetdieser den Ausgangspunkt fürdie Planung des Unterrichtsvorhabens. Vondieser Basisaus sollten, im In- teresse der Anregung philosophischer Urteilskraftdurch kognitiveKonflikte, die Unterrichtsgegenstände so ausgewählt werden, dass die diagnostizierten All- tagskonzepte im Verlauf des Vorhabens durch kontraintuitivephilosophische Positionen oder zumindest solche mit kontraintuitiven Elementen irritiert werden. Ist z.B. in Hinsichtauf die Frage, wem gegenüberman aufrichtigund ehrlich sein sollte, die Bevorzugung der eigenen Gruppe als dominierendes moralisches Alltagskonzept in einer Lerngruppe festgestellt worden, ist die Entscheidung füreine universalistische Vernunftethik, also fürKant, didaktisch besonders sinnreich. Die Diagnoseresultate bilden also eine wichtige Grundlage fürdie Auswahl der Unterrichtsgegenstände. KontraintuitivePositionen markieren gegenüberdem Alltagsbewusstsein kognitiveund zumeist auch damit verbundene affektiveDissonanzen. Sie be- deuten eine intellektuelle und emotionale Perturbation, die oft, je nach indivi- dueller Disposition der Lernenden, vonAffekten wieVerblüffung,Ablehnung oder Neugier aufdie Begründung flankiertwerden. Wichtigist daher,dass Brücken geschlagen werden vonden Alltagskonzepten zu den sie irritierenden Kontra-Positionen, die deren Verstehen erleichternund sie dem Lernsubjekt zugänglich machen. Weretwa weiß,wo, bedingtdurch Alltagsorientierungen wie Mitgefühl oder die Bevorzugung der eigenen Gruppe (sogenannte Nahbe- reichsmoral), Hindernisse in der Erschließung der Kantischen Ethik liegen, der kann, bezogen aufdas spezifischeVorverständnis seiner Lerngruppe, die Er- arbeitung ihres rationalistischen und universalistischen Grundzuges durch entsprechende Vorentlastungen und /oder Transferaufgabenvertiefen. Diese Brücken können auch in verunsichernden Anfragen an die festgestellten All- tagskonzepte bestehen oder darin liegen, die intellektuelle Aneignung der Kontra-Positionen durch langsam zu ihnen hinführende Argumente zu er- leichtern. Ist das Verständnis der präsentierten Ansätze mit ihren kontraintuitiven Elementen sichergestellt,kannder kognitiveKonflikt seine eigentlicheWirkung entfalten. Selbstgesteuertwerden die Lernsubjekte, durch ihn provoziert, eine

Diagnosefragen ihren Ausgang jeweils vonlebensweltlichen Situationen nehmen, die eine philosophische Frage aufwerfen. Auch Johannes Rohbeckhat in Aufnahme psychologischer Untersuchungen Schematavon lebensweltlichen (Schüler-)Intuitionen zusammengestellt, die der alltäglichen moralischen Urteilspraxis zugrunde liegen:Diese auch Proto-Ethik genannten Moralmodule sind etwa das Mitgefühl, das Prinzip der Gegenseitigkeit (vgl. Goldene Regel)oder die Unterscheidung zwischen eigener und fremder Gruppe. Vgl.Jo- hannes Rohbeck, Experimentelle Philosophiedidaktik, in:ZeitschriftfürDidaktik der Phi- losophie und Ethik 2(2014), S. 3–8. 104 Roland W. Henke argumentative Beurteilung dieser Ansätze vornehmen. Dabei werden ihnen ihre eigenen diagnostizierten Alltagskonzepte als Basis fürdie kritische Beurteilung bewusst;diese erfahren zugleich eine argumentative Durchklärung.Sobilden die kontraintuitiven Philosopheme Katalysatoren zur Anregung der Urteilsfä- higkeit, weil sie deren philosophische Voraussetzungen (Backings) explizit machen und zu ihrer weiteren Begründung oder auch reflektierten Revision Anlass geben. Aufdiese Weise werden die Backings bzw.die philosophischen Grundorientierungen diskursiv verflüssigt. Die aufder Diagnose vonAlltagskonzepten fußende Auswahl vonkontrain- tuitiven philosophischenPositionen vermag also beihinreichender Sicherung ihres Verständnisses die philosophische Urteilsbildung in besonderem Maße anzuregen. Vorallem können sich die Lernsubjekte so ihrer je eigenen Denk- und Urteilsvoraussetzungen bewusst werden und diese im philosophischen Unterrichtsdiskurs einer weiteren argumentativen Klärung aussetzen, die sie vor abschirmender Verhärtung bewahrt. Aufdiese Weise kann das die abendlän- dische Philosophie prägende Spannungsverhältnis zwischen Exoterik und Esoterik, in entsprechender Transformation, sein didaktisches Potential ent- falten.

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Roland Ißler

Mehrsprachigkeitund kulturelle Vielfalt. Ein bildungsorientierter Ansatz für dieromanischen Fremdsprachendidaktiken

Vorbemerkung

»6UY^bcS_S]^_T__RaQXYVc_ –Forenet imangfoldighed –InVielfalt geeint– United in diversity – Ühinenud mitmekesisuses–Moninaisuudessaan yhtenäinen –Uniedans la diversitØ – Emyl]moi stgm pokuloqv_a –Aontaithe san Øagsffllacht–Unitinella diversità –Ujedinjeni urazlicˇitosti–Vienotidaudzv- eidı¯ba¯ –Suvienijusi i˛ vairove˛ –Magh– quda fid-diversità –Inverscheidenheid verenigd –Zjednoczeni wróz˙norodnos´ci –Unidade na diversidade –Unitate în diversitate –Förenade imångfalden–Zjednotení vrozmanitosti–Zdruzˇeni v razlicˇnosti–Unida en la diversidad –Jednotnµ vrozmanitosti–EgysØgaso- kfØlesØgben« –solautet offiziell das Motto der Europäischen Unioninihren vierundzwanzig aktuellen Amtssprachen.1 Tatsächlich ist die Verschiedenar- tigkeit aufunterschiedlichen Ebenen, wiesie sich hier am Beispiel der Spra- chendiversitätpräsentiert, als einer der charakteristischen Wesenszüge unseres Kontinents anzusehen, und dies nichtallein in seiner gegenwärtigen Gestalt, sondern bereits in seiner historischen Entwicklung. Namentlich kulturelle Vielfalt–nichtnur im Bereich der Sprachen –zeichnet Europa vonjeher aus, und die Europäische Union (EU) bekenntsich deutlich zu ihrem heterogenen Kulturraum, dessen Diversitätsie nichtetwa als hinderliche Einschränkung, sondernvielmehr ausdrücklich als Bereicherung und Gewinn

1Nacheinander in alphabetischer Reihenfolge:Bulgarisch, Dänisch, Deutsch, Englisch, Est- nisch, Finnisch, Französisch, Griechisch, Irisch, Italienisch, Kroatisch, Lettisch, Litauisch, Maltesisch, Niederländisch, Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch, Schwedisch, Slowakisch, Slowenisch, Spanisch, Tschechisch, Ungarisch, zit. nach URL:http://europa.eu/about-eu/ basic-information/symbols/motto/index_de.htm [21.05.15].Zur Vielfalt der Sprachen in Europavgl. Jürgen Trabant, Sprachenvielfalt.Vielfaltder Sprachen in der Europäischen Union, in:Pim den Boer /Heinz Duchhardt /Georg Kreis /Wolfgang Schmale, Europäische Erinnerungsorte, Bd. 1: Mythen und Grundbegriffe des europäische Selbstverständnisses, München 2012, S. 257–271;zuden Regional-und Minderheitensprachenvgl.Franz Lebsanft/ Monika Wingender (Hg.), Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen. Ein Handbuch zur Sprachpolitik des Europarats, Berlin /Boston2012. 108 Roland Ißler begreift: »Das Motto bringtzum Ausdruck, dass sichdie Europäer in der EU zusammengeschlossen haben, um sich gemeinsam fürFrieden und Wohlstand einzusetzen, und dass gleichzeitig die vielen verschiedenen europäischen Kul- turen, Traditionen und Sprachen den gesamten Kontinentbereichern.«2 Die Bedeutung gerade der Sprachen füreine Kultur des friedvollen Zusammenlebens betontauch die deutsche Bildungspolitik:

»Sprache ist das wichtigste Medium der zwischenmenschlichen Kommunikation und ein zentrales Elementder Bildung. Sie vermag unterschiedliche Interessen auszuglei- chen und Gewalt zu vermeiden. Fu¨rEuropaheißtdas:Esist wichtig, die Vielfalt der Sprachen als kulturellen Reichtum Europas anzuerkennen und die Sprachen der Nachbarnzuverstehen, um so gegenseitiges Verständnisund Verständigungzuer- möglichen. Voraussetzung ist die Offenheit und persönliche Bereitschaftdes Einzel- nen, eigenverantwortlich zu diesemZiel beizutragen. In diesem Sinne ist Sprachen- politik auch Friedenspolitik.«3

Vordiesem Hintergrund ist kulturelle Vielfalt vonnichthochgenug zu schät- zender Bedeutung als eine »Quelle des Austauschs, der Erneuerung und der Kreativität[…] und fürdie Menschheit ebenso wichtigwie die biologische Vielfalt fürdie Natur«.4 Die Vielfalt wird in Europaauch durch die unterschiedlichen Bildungssys- teme repräsentiert. Voneinem vielfältigen Bildungsangebotist nichtzuletzt Deutschland geprägt.Die durch den Föderalismus bedingte Heterogenitätof- fenbartsich hier maßgeblich in den verschiedenen Schulsystemen und tritt u.a. deutlich sichtbar im Bereich der Lehrerbildung und -ausbildung zutage,die sich in Deutschland derzeit beide in einer Phase des umfassenden Umbruchs be- finden. Der Stand der Umsetzung der bildungsstrukturellen Umgestaltungen im Zuge der jüngsten Reformen ist zum gegenwärtigen Zeitpunktnochimmer unterschiedlich weit fortgeschritten und wird angesichts der Länderdifferenzen in der Konzeption der Lehrerbildung absehbar auch in Zukunftkeine bundes- weit einheitliche Struktur aufweisen. Wird überden Veränderungs- und An- passungsbedarfbereits seit einigen Jahrzehnten fortwährend kontrovers dis- kutiertund um sinnvolle Reformschritte in der Lehrerbildung anhaltend gerungen, so bietet spätestensdie weitgehend flächendeckende Einführung konsekutiver,d.h.gestufter Bachelor-und Masterstudiengänge den Anlass zu einer umfassenden Neustrukturierung der vormals grundständigen, in Grund-

2Europäische Union, Das Motto der EU,zit. nach URL:http://europa.eu/about-eu/basic-in formation/symbols/motto/index_de.htm [21.05.15]. 3BMBF (Bundesministerium fürBildungund Forschung), Sprachenlernen fördern: Zehn Thesen fürein Handlungskonzept, o. J.,S.1,zit. nach URL:http://www.bmbf.de/pub/ejs- zehn_thesen.pdf [21.05.15]. 4UNESCO-Kommission, Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt, 2001, zit. nach URL: www.unesco.de/443.html[21.05.15]. Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt 109 und Hauptstudiumgegliederten und mit dem Ersten Staatsexamen abschlie- ßenden Lehramtsstudiengänge.5 Gleichwohl halten einige Bundesländer bis heute weiterhin ausschließlich (Mecklenburg-Vorpommern, Bayern, Hessen, Sachsen, Saarland) bzw.alternativ(Sachsen-Anhalt, Thüringen) am traditio- nellen Staatsexamen fest. Die Rheinische Friedrich-Wilhelms-UniversitätBonnhat die 2001 vorüber- gehend eingestellte Lehrerbildung im Jahr 2011 wieder eingeführtund darin folgerichtigdas in Nordrhein-Westfalen geltende konsekutiveSystem verwirk- licht, beidem aufein in der Regel sechs Semester umfassendes Bachelor-Stu- dium der neu etablierte Studiengang des Master of Education mit einer Dauer vonvier Semestern folgt. Nebendie füralle Studentinnen und Studenten einheitlichen bildungswissenschaftlichen Studienanteile treten zwei Unter- richtsfächer,sodassjede Lehramtsstudentinund jeder Lehramtsstudentin mindestensdreiFachkulturen (je nach Wahl der Fächer ggf. sogar überFakul- tätsgrenzen hinweg) akademisch sozialisiertund vonihnen geprägt,fürdie wissenschaftlicheVernetzung mithin prädisponiertist.6 Die Verbindung eines fremdsprachlichen Faches mit einem nichtsprachlichen zweiten Schul- und Studienfach bietet –iminternationalen Vergleich durchaus keine Selbstver- ständlichkeit –hervorragende Voraussetzungen nichtnur füreine bilinguale Ausrichtung,sondern auch fürdie spätere Gestaltung vonSchul- und Lern- projekten im Rahmen fächerübergreifenden Unterrichts. Der pluridisziplinäre Dialog und die Kooperationsbereitschaftsollten daher in der Lehrerbildung von Beginn an gestärkt werden.Auch tritt so wiederum das Prinzip der Vielfaltin seiner gestalterischen Krafthervor.Die beachtlicheBandbreite der achtzehn Fächer,die an der UniversitätBonn allein mit dem Ziel des Lehramtsfür Gymnasien und Gesamtschulen studierbar sind und in den jeweiligen Fächer- kombinationen aufunterschiedliche Weise miteinander verbunden werden, lässt den Blick in die einzelnen Fachkulturen und die Auslotung der Möglich- keiten ihrer wechselseitigen Annäherung,insbesondere in einander verwandten Fächernwie den Fremdsprachen, als lohnenswerterscheinen. Dem Leitgedankender Lehrerbildung an der UniversitätBonngemäß wurden die einzelnen Fachdidaktiken an den diversen Instituten angesiedelt und sind in den Fakultäten der Universitätbeheimatet. Diese Richtungsentscheidung er- weist sich als konsequentnichtnur im Hinblick aufdas Selbstverständnis der

5Vgl.Melanie Rischke/Christin Bönsch /Ulrich Müller,Monitor Lehrerbildung –Ein In- strumentzur Herstellungvon Transparenz, in:AxelGehrmann /Barbara Kranz /Sascha Pelzmann /AndreaReinartz (Hg.), Formationund Transformation der Lehrerbildung. Ent- wicklungstrends und Forschungsbefunde, Bad Heilbrunn 2013, S. 36–49, hier S. 43;Roland Ißler,Aufgaben universitärer Lehrerbildung, in:Hans-Ludwig Krechel (Hg.), Französisch- Didaktik. Praxishandbuch fürdie Sekundarstufe Iund II, Berlin 2015,S.50–61. 6Vgl.dazu den Beitrag vonBarbara Utzindiesem Band. 110 Roland Ißler

RheinischenFriedrich-Wilhelms-Universitätals einer Forschungsuniversität, sondern durchaus auch als folgerichtigmit Blick aufdie Situation der Bildung im Europa des 21. Jahrhunderts. In Bonn herrschtdie Überzeugung,dass eine enge Verzahnung der fachdidaktischen Disziplinen mit den Fachkulturen der ihnen zugeordneten Fachwissenschaften –inZeiten zunehmender bildungspolitischer Marginalisierung vonFachinhalten in der Lehrerbildung gilt dies umso mehr – fürdie Lehrerbildung eine wesentliche Voraussetzung darstellt;mit diesem Ziel tritt auch die Didaktik der RomanischenSprachen und Literaturen an. Die Romanistik ist an der UniversitätBonnmit der Klassischen Philologiever- bunden;inden beiden Abteilungen des InstitutsfürKlassische und Romanische Philologie sind die traditionellen Unterrichts- bzw.Lehramtsfächer und Schul- sprachen Latein und Griechisch sowieFranzösisch, Spanisch und Italienisch gebündelt, die fürdas hier vorgestellte Bonner Mehrsprachigkeitskonzept zen- trale Bedeutung haben. Vordem Hintergrund dieser fünf Fachkulturen, gleichwohl jedoch in roma- nistischer Perspektive, wird sich der vorliegende Beitrag mit der Mehrspra- chigkeit als einem fächerübergreifenden fremdsprachendidaktischen Konzept beschäftigen. Der Fokus liegthierbei ausdrücklich aufder Lehrerbildung.7 Die Mehrsprachigkeit wird in den folgenden Ausführungen aufdreiEbenen be- gegnen:zunächst in der Konturierung der Fachkultur der RomanischenPhilo- logie, sodann, mit dieser verbunden, in der Didaktik der RomanischenSprachen und Literaturen und zuletzt,aus beidem synthetisch abgeleitet, in ausgewählten Beispielen ausdem Curriculum der Master of Education-Studiengänge des In- stituts fürKlassische und Romanische Philologie.8 Die Beispiele mögen zeigen, dass die ausdrückliche Hinwendung zur Fachwissenschaftnichtetwa als eine Abkehr vonunterrichtspraktischen Fragen zu verstehen, sonderndass beides, ganz im Sinne der Zielsetzung der reformierten Lehrerbildung,inwelcher der Schulpraxis schon während der Phase der universitärenLehrerbildung größeres Gewichtzukommt, durchaus vereinbar und möglich und zudem dem Bil- dungsauftrag universitärerund gymnasialerLehrezuträglich ist.

7Inwieweit sich Reflexe des in der Folge vorgestellten Bonner Konzepts in den schulischen Unterricht einbeziehen lassen,ist nichtzentrales Thema des Aufsatzes;essei jedochbemerkt, dass –angesichts der mit den aktuellenKernlehrplänen des Landes Nordrhein-Westfalen in den letzten Jahrengewachsenen inhaltlichen Gestaltungsfreiheit im schulischen Unterricht einerseits und der bildungspolitischen Öffnung gegenüberplurilinguistischenTheorien und Methoden andererseits –die Chancen fürdie Umsetzung mehrsprachigkeitsorientierter Ideen durchaus gestiegen sind. 8Dieses Curriculumist in enger Zusammenarbeit mit den abgeordneten Lehrern fürdie neueren und alten Sprachen, Simone Lentzen und Stephan Römer,entstanden und konnteim Rahmen eines gemeinsamen Moduls im Co-Teaching-Verfahren mit bis zu drei Lehrenden im Wintersemester 2014/15 erstmalserfolgreich erprobt werden. Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt 111

1. Die philologische Fachkultur:Zur Konturierung der Romanistik und ihrer Bedeutung für die Lehrerbildung

Die Einführung des MasterofEducation stellt nichtnur eine historische Weg- markeder europäischen Bildungsgeschichte dar,Bonn repräsentiertzudem einen historischen Ort, an dem sich die Geschichte der romanistischen Fach- kultur besonders eindringlich vergegenwärtigen lässt. Gleichsam »ein in der Fülle seiner Sondergebiete und in der historisch-geographischen Disparatheit ›unmögliches Fach‹«,9 ist die Romanistik bzw.Romanische Philologie im Grunde eine vielgestaltige Mischung mehrerer Fächer –und damit genuin mehrsprachigkeitsaffin. Als Wesensmerkmal ist ihr die Vielfalt geradezuein- geschrieben. Die Disziplin beschäftigtsich insbesonderemit den Sprachen und Literatu- ren, aber auch weiteren kulturellen Erzeugnissen der sogenannten Romania, jenem aufEuropa nichtbegrenzbaren geographischenund kulturellen Raum, der maßgeblich unsere Schulsprachen Französisch,Spanisch und Italienisch umfasst, zudem aber auch das Portugiesische, Rumänische, Rätoromanische, das Katalanische, Okzitanische, Sardische und noch mancheweitere Sprache einschließt, die mündlich wieschriftlich großen Teilen der Menschheit zur Verfügung stehen und in regem Gebrauch sind. Tatsächlich zählen

»[d]ie romanischenSprachen[…] zu den wichtigsten Sprachender heutigen Welt. 800 Millionen Menschen (12 %der Weltbevölkerung) sprechen sie als Mutter- sprache, für über1,1 Milliarden Menschen(17 %) haben sie offizielle Funktion als Nationalsprachenfürdie internationale Kommunikation. Eine der beiden Amtsspra- chen und zwei der sechs Arbeitssprachen der Vereinten Nationen sind romanische Idiome. Die politische, soziale und kulturelle Bedeutungder romanischen Sprachen ist unermesslich, ihr Einfluss aufzahllose grundverschiedene Sprachen weltweit unkal- kulierbar. Das Englische […],das sich zur unangefochtenen Nummereins in der Welt entwickelt hat, ist zutiefst vonromanischenElementen durchdrungen –esist keines- wegs abwegig,das Englische als eine germanisch-romanische Mischsprache zu cha- rakterisieren.«10

Der vielgestaltige Gegenstandsbereich der romanistischen Fachwissenschaft umfasst aber nichtnur den globalen Raum,sondern auch das übertausend-

9RichardBaum/Willi Hirdt /Birgit Tappert, Vorwort, in:Willi Hirdt (Hg.), Romanistik. Eine Bonner Erfindung,2Bde.,Bd. I, Bonn1993, S. 5–44, hier S. 5, unter Anspielungauf den gleichnamigenSammelbandvon Fritz Nies und Reinhold R. Grimm, Tübingen 1988. 10 Georg Bossong,Die romanischen Sprachen. Eine vergleichende Einführung,Hamburg 2008, S. 7. –Horst G. Klein und TilbertD.Stegmann, deren EuroComRom-Methode in der Folge noch vorgestellt werdenwird, bezeichnen das Englische explizit als »in hohem Maßelexi- kalischeine romanische Sprache« (Horst G. Klein /TilbertD.Stegmann, EuroComRom –Die sieben Siebe, Aachen 2000, S. 13). 112 Roland Ißler jährige Zeitintervall vom Entstehen der volkssprachlichen romanischen Schriftkultur ausdem Vulgärlateinischen im 9. Jahrhundertbis in unsere Tage. Indem die Romanistik also das kulturelle Gedächtnis der romanischen Gebiete und Nationen, ihre kulturellen Identitäten in Geschichte und Gegenwartzu ihrem Forschungsgegenstand erhebt, betreibt sie grenzüberschreitende Sprach-, Kultur-und Literaturforschung wiekaumeine andere wissenschaftliche Diszi- plin.11 Die Romanistik ist eine »Bonner Erfindung«.12 In der Bibliothek des dortigen RomanischenSeminarserinnerteine Gedenktafel an den Begründer der Dis- ziplin, Friedrich Diez (1794–1876), der in Bonn seit 1821 als Lektor,seit 1830 als ordentlicher Professor »Mittlere und neuere Literaturgeschichte« lehrte. In dieser Lehrstuhldenominationklingtan, was die Philologen jener Zeit gerade intensiv beschäftigt: Die Konstituierung des Faches fällt mit der Wiederentde- ckung des mittelalterlichen Schrifttums durch die Romantikzusammen, aber schon klassischeAutoren bahnen diesen Weg.13 In den neu entstandenen aka- demischen Disziplinen der Germanistik und Romanistik werden daher die textkritischen Methoden der Klassischen Philologie erstmals systematisch und akribisch aufTexte des Mittelalters angewandt und diese nach und nach in modernen Editionen verfügbar gemacht. Allein die vonDiez hinterlassenen Schriften geben einen Einblick in das Aufgabenfeld der ersten Romanisten –und übrigens auch in die frühschon internationale Wirkung der Disziplin.14 Die

11 Vordem Hintergrund der globalen Wirklichkeit charakterisiertzum Beispiel Ottmar Ette die Romanistik auch als eine »multiperspektivisch[e],viellogisch[e] und transareal[e]« Wis- senschaft.Vgl.Ottmar Ette, Zukünfte der Romanistik im Lichte der TransArea Studien,in: Dieter Lamping(Hg.), Geisteswissenschaft heute. Die Sichtder Fächer,Stuttgart2015, S. 93–116,hier S. 105. 12 Vgl. auch den Titel der vonWilli Hirdt herausgegebenen zweibändigen Fachgeschichte. 13 Erinnertsei etwa an die Pionierleistung Johann Gottfried Herders, der durch erste Beispiele spanischer,französischer und italienischer Volkspoesie in seiner Sammlung»Stimmen der Völker in Liedern« (1778;Stuttgart2001) die Faszinationfürdie romanischen Kulturen weckt und beiden literarischen Vertreternder Romantikauf breites und nachhaltiges In- teresse stößt. Aufgenommen wurden z.B. spanische Romanzen (Erster Teil:Erstes Buch, Nr.8–11, 17–18;ZweitesBuch, Nr.19–21;Drittes Buch, Nr.8–9;ZweiterTeil:Erstes Buch, Nr.22; Zweites Buch, Nr.17–19;Zweiter Teil, Drittes Buch, Nr.9,14, 22), aber auch fran- zösische Renaissance- und Troubadourdichtung (Zweiter Teil:Erstes Buch, Nr.3–4, 10, 14, 18) sowieitalienische (Zweiter Teil:Erstes Buch, Nr.26; Drittes Buch, Nr.17, 29) und ein peruanisches Lied (Zweiter Teil:Drittes Buch, Nr.2). Eine weitereAuswahl bietet der Anhang ausHerders Nachlass von1807 (im voranstehend zitierten Band). 14 Ab dem Gründungsjahr der UniversitätBonn bis zu seinem Lebensende erscheinen von Friedrich Christian Diez u.a. folgende Schriften:Altspanische Romanzen, Frankfurta.M. 1818;Beiträge zur Kenntniß der romantischen Poesie. Über die Minnehöfe, Berlin 1825 (Essai sur les cours d’amour,Traduit de l’allemand et annotØ par le baron Ferdinand de Roisin, Paris1842);Die Poesie der Troubadours, nach gedruckten und handschriftlichen Werken derselben dargestellt, Zwickau 11826;Leipzig 21883 (hg.v.KarlBartsch) [La poØsie des troubadours, Øtudes traduites de l’allemand et annotØes par le baron Ferdinand de Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt 113 frühe Romanistik unterscheidet noch nichtwie heute zwischen Literatur-und Sprachwissenschaft. So ist Diez nichtnur ein Pionierinder wissenschaftlichen Erforschung der Trobadorlyrik, er behandelt auch die romanischen Sprachen erstmals systematischimhistorischen Vergleich. Die Romanistik, die mit der Gründung der Bonner Universität1818 ihre Arbeit aufnahm,15 hat ihr Aufgabenfeld in den letzten zweihundertJahren noch beträchtlich erweitert, und zwar einerseits, in zeitlicher Hinsicht, durch diffe- renzierte Analyse und Beschreibung der Gegenwartssprachen und Literaturen der Frühen Neuzeit und Moderne;andererseits, in räumlicher Dimension,durch die Erforschung der sogenannten Romania nova in Mittel- und Südamerika, durch die Frankophonie in Kanada und Afrika;und schließlich mit Blick auf sprechsprachliche Varietäten und Register und eine Erweiterung des Textbe- griffs, der etwa auch Unterhaltungs-, Sach- und Gebrauchsliteratur einschließt.16 Nebender nationalsprachlichen und nationalphilologischen Differenzierung werden die Inhalte der Romanistik heute, anders als noch im 19. Jahrhundert, der romanischen Sprach- bzw.Literaturwissenschaft, in jüngerer Zeit zuneh- mend auch der Kulturwissenschaftzugeordnet. Erkenntnisse der Medienwis-

Roisin, Paris1845];Leben und Werkeder Troubadours. Ein Beitrag zur nähernKenntniß des Mittelalters, Zwickau 11829;Leipzig 21882 (hg.v.Karl Bartsch);Grammatik der romanischen Sprachen, 3Bde.,Bonn 1836 (Bd. 1), 1838 (Bd. 2), 1844 (Bd. 3);Grammairedes langues romanes, Paris1874 (Bde. 1, 2), 1876 (Bd. 3) [Introduction to the of the , translated by C[harles] B[agot] Cayley,London1863;Introduction à la Gram- maire des langues romanes, traduite de l’allemand par GastonParis, Paris1863];Etymo- logisches Wörterbuch der romanischen Sprachen, Bonn 1853;Altromanische Sprach- denkmale berichtigt u. erklärt,nebst einer Abhandlung überden epischenVers, Bonn: Weber, 1846; Überdie erste portugiesische Kunst- und Hofpoesie, Bonn 1863;Altromani- sche Glossare, berichtigt und erklärt,Bonn1865 [Anciens glossaires romans, corrigØset expliquØspar FrØdØric Diez, traduits par Alfred Bauer,Paris 1870];Romanische Wort- schöpfung,Bonn 1875. –Wie die frühe romanistische Forschung in die zeitgenössische Lehrerbildung ausstrahlt, davonzeugt zum Beispiel die »Französische Grammatikfür Gymnasien und Studierende«, nach Friedrich Diez bearb.von E[ckhard] Collmann, Mar- burg /Leipzig 1849. 15 Die ersten Lehrveranstaltungen der Bonner Romanistik betreffen komparatistische und literaturwissenschaftliche Themen:»Ueber den französischen Styl, in Verbindungmit schriftlichen Ausarbeitungen über gegebene Themata«, vor sieben bis neun Hörern gehalten vonProfessor PhilippStrahl vom 19. Oktober 1818 bis 19. Februar 1819. Ebenfalls im Wintersemester 1818/19 kündigt Strahl an:»Französische und Englische Sprache, und Russische Sprache und Litteratur«. Eine weitere,von August Wilhelm Schlegel angekündigte Vorlesung ausdem Gründungsjahr der Universität überdie »Geschichte der schönen Lit- teratur in Italien, Spanien, Frankreich und England« belegtdie mehrsprachige Ausrichtung schon der Romanisten der ersten Stunde. Schlegel hat seine Veranstaltung im Sommerse- mester 1819 vor zwölf Hörern nachgeholt. Vgl.Barbara Jaster,Bonner romanistische Lehrveranstaltungenund Doktorarbeiten (1818–1916), in:Willi Hirdt (Hg.), Romanistik. Eine Bonner Erfindung,2Bde.,Bd. I, Bonn1993, S. 323–456, hier S. 323. 16 Vgl. zum Beispiel AlbertGier,Orientierung Romanistik. Wassie kann, was sie will, Reinbek 2000, S. 52. 114 Roland Ißler senschaften fließen in die Romanistik ein, weil zum Beispiel auch Filme, Wer- bung und anderemediale Dokumente erfasst und behandelt werden;klassische Inhalte der Romanistik gehenVerbindungen etwa mit den Wirtschafts- oder Rechtswissenschaften ein und münden in neue, zum Teil interdisziplinäraus- gerichtete Studiengänge wiebeispielsweiseKulturwirtschaft, Wirtschaftsro- manistik oder Europäische Rechtslinguistik, wiesie die Universitäten in Passau, Kassel oder Köln anbieten. Aber auch im Studienangebot der Bonner Roma- nistik spiegelt sich die vielfältig differenzierte Fachkultur.Allein vonder Ab- teilung fürRomanischePhilologie werden derzeit nichtweniger als 25 Stu- diengänge angeboten, die ihrerseits nichtnur nationalsprachliche, sondernauch thematische Schwerpunkte abbilden und dabei ebenfalls teilweise interdiszi- plinärvernetzt sind.17 Ein Blick in die beiden letzten Kongressprogramme (2013 und 2015) der im Zwei-Jahres-Turnus abgehaltenen Romanistentage bezeugtdie aktuelle Vielfalt der traditionell aufBreite und Mehrsprachigkeit angelegten Disziplin:Von afrokaribischer Literatur ist dortdie Rede ebenso wievon der Relektüre und Neubestimmung lateinamerikanischer Essays, vonAutorschaftinden romani- schen Literaturen des Mittelalters wievon Kinder-und Jugendliteratur der Romania, vonliterarischen und filmischen Modellierungen ›kapitaler‹ Er- schütterungen in Finanz- und Krisennarrativen und der ökonomischen Rhetorik der Liebeinder Singlebörse, vondiachroner Varietätenlinguistik, empirischer Prosodie-Forschung,von Unternehmenskommunikation und Wirtschaftsdiskursen, vom ökonomischen Wandel in der Romania und Dis- kursformen im 21. Jahrhundert, Philologieund Grammatik,digitaler Textedi- tion, vonLiteraturverfilmungen, Sprachwandel in den audio-visuellenMedien,

17 Gegenwärtig lassen sich in der Abteilung fürRomanistik des Instituts fürKlassische und Romanische Philologie folgende Studiengänge belegen. Bachelorstudiengänge:Romanistik (Kernfach-B.A.), Französistik (2-Fach-B.A. oder Begleitfach), Hispanistik (2-Fach-B.A. oder Begleitfach), Italianistik (2-Fach-B.A. oder Begleitfach), Lateinamerika- und Altamerika- studien (Kernfach-B.A.), Deutsch-Französische Studien / Études franco-allemandes(B.A. als binationaler DoppelabschlussinKooperation mit der UniversitØ ParisIV-Sorbonne), Deutsch-Italienische Studien /Studi Italo-Tedeschi (B.A. als binationaler Doppelabschlussin Kooperationmit der Università degli Studi di Firenze), Französisch (LA GymGe, B.A.), Spanisch (LA GymGe, B.A.), Italienisch (LA GymGe, B.A.). Masterstudiengänge:Romanistik (M.A.), Deutsch-Französische Studien / Études franco-allemandes (M.A. als Doppelab- schlussinKooperation mit der UniversitØ ParisIV-Sorbonne), Deutsch-Italienische Studien /Studi Italo-Tedeschi (M.A. als DoppelabschlussinKooperationmit der Università degli Studi di Firenze),Renaissance-Studien (M.A.), Mittelalterstudien (M.A.), Spanische Kultur im europäischen Kontext /Cultura ypensamiento europeo ysuproyección(M.A.), Kul- turstudien Lateinamerika (M.A.), Altamerikanistik /Ethnologie (M.A.), Französisch (LA GymGe, M.Ed.), Spanisch (LA GymGe, M.Ed.), Italienisch (LA GymGe, M.Ed.);Zwei-Fach- Master werden entwickelt.Promotionsstudiengänge:Romanistik, Italianistik (Trinationaler Promotionsstudiengang), »Gründungsmythen Europas« (Trinationales Graduiertenkolleg), Didaktik der RomanischenSprachen und Literaturen. Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt 115

Sehverstehen im Unterrichtund vielem mehr.18 Hier endlich begegnet auch die Lehrerbildung als genuines Aufgabenfeld der Romanistik:Mindestens jeder zweite Romanist in Deutschland möchte Lehrer werden. Undauch wenn der Lehramtsstudiengang in Bonn erst angelaufenist, gehört der Lehrberuf auch hier zu den wichtigsten Studienzielen des Instituts. Die Auffächerung der Fachkultur sollte wenigstens in Ansätzen gezeigt haben, wiebreit die kulturelle Vielfalt unserer Welt in der Romanistik ihre Abbildung und lebendige Auseinandersetzung findet. Insbesonderedie Viel- gestaltigkeit der europäischen Kultur ist in dem Fach –wie unweigerlich auch in den Schulsprachen –enthalten. Vordem Hintergrund der romanistischen Fachkultur und ihrer tiefen Verwurzelung in der Philosophischen Fakultätgriffe es mithin entschiedenzukurz, die akademischeLehrerbildung fürden Unter- richtder Fächer Französisch, Spanisch bzw.Italienisch allein aufdas Erlernen der jeweiligen Fremdsprachezureduzieren. So grundlegend der Fremdspra- chenerwerb auch fürden schulischen Fremdsprachenunterrichtist –inihm allein kann und darfsich dieser nichterschöpfen. Speziell die romanischen Sprachen wurzeln in einer jahrtausendealten Kulturgeschichte, deren Tradition sich in ihren Verzweigungen bis heute ohne Unterbrechung fortschreibt;19 sie sind aufgrund ihrer Geschichte das Ergebnis interkultureller Transferprozesse, die es zuerst nachzuvollziehen und zu verstehen gilt, um die gegenwärtige Sprache und Kultur in ihrer Wesenheit zu erfassen;ehrlicherweise können erst dann methodische Reflexionenzuihrer Vermittlung folgen. Als eine wichtige Aufgabeder Fremdsprachendidaktik am Bonner Institut für Klassische und Romanische Philologie betrachten wiresdaher,den Begriff der Lehrerbildung im Sinne eines Bildungsauftrags,wie er sich konstitutiv ausun- seren Fachkulturen ableitet und, wiegezeigt, an der UniversitätBonnauf be- sondereWeise präsentist, ernstzunehmen und der Bildungsorientierung auch in der Didaktik der Romanischen Sprachen und Literaturen angemessenen Raum zu geben, ihn einerseits zu bewahren, andererseits aber auch zu aktualisieren

18 Vgl. die Tagungsprogramme zum XXXIII. und XXXIV.Romanistentag des Deutschen Ro- manistenverbandes (Julius-Maximilians-UniversitätWürzburg, 22.–25. September 2013, Rahmenthema »Romanistik –Herausforderungen und Chancen«; UniversitätMannheim, 26.–29. Juli 2015, Rahmenthema »Romanistik und Ökonomie:Struktur,Kultur, Literatur«). Zum interdisziplinärenForschungsfeld multilingualer Literatur zwischen Übersetzungs- wissenschften und Vergleichender Literaturwissenschaft vgl. übrigens auch K. Alfons Knauth (Hg.), Translation & Multilingual Literature. Traduction & LittØratureMultilingue, Münster2011 sowieDers. /Hans-Georg Grüning (Hg.), Imaginaire et idØologie du pluri- linguisme littØraire et numØrique. Immaginario eideologia del plurilinguismo letterario e digitale, Münster 2014. 19 Die Forschung sprichtdaher vonder sogenannten Romania continua im Gegensatz zur Romania submersa als den untergegangenen romanischen Sprachen und zur außereuro- päischen Romania nova. 116 Roland Ißler und in vielfältiger Weise lebendig zu erhalten.20 Insofernsei die Aussage des Fachdidaktikers Daniel Reimann unterstrichen, der sich desgleichenfüreine bildungsnahe Inhaltsorientierung ausspricht: »Bildungsrelevante Inhalte […] waren und sind […] ein distinktives Kriterium des gymnasialen Fremdspra- chenunterrichts und sollten in diesem weiterhin eine konstitutiveStellung in- nehaben.«21 Ohne dabeidie pragmatisch-kommunikativeFunktion der Gegen- wartssprachenaus dem Blick zu verlieren, richtet sich unser Augenmerk aufden heute scheinbar zunehmend marginalisierten, obschon fürdas Gelingen von Unterrichtungemein relevanten persönlichkeitsbildenden Wert unserer Fä- cher,22 in denen Sprache und Kultur,Literaturen und Künste als untrennbare Einheiten zusammengefügt sind. »Sprache ist nichtnur ein Ausdrucks- und Kommunikationsmittel, sondern menschenbildend im anthropologischen Sinne:durch sie gelingtdie Personalisation und Enkulturation des Schülers« wie auch des Studierenden und Lehramtsanwärters.23 Die Untrennbarkeit von Sprache und Kulturkann innerhalb der Fächer unseres Instituts als eine wichtige Legitimation fürdie Verknüpfung der Fremdsprachendidaktiken mit den Fachwissenschaften gelten;vor diesem Hintergrund erscheintdie Verbindung beider als eine Notwendigkeit. Die wechselseitige Verkettung vonFachwissen- schaften und Fachdidaktiken, auch im Hinblick aufdie Gestaltung schulischer und universitärer Curricula, kann dabei durchaus auch zu den Desideraten der gegenwärtigen romanistischen Forschung gezähltwerden. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei nochmals zwischen Lehrerbildung und schulischem Unterrichtdifferenziert. Komplexeund hochspezielle fach- wissenschaftlicheForschungsdebatten in Curricula zu verankernund in die Schulen zu tragen, wieeslange Zeit durchaus üblich war,kann ebensowenig das Ziel einer modernen und zeitgemäßen Lehrerbildung sein wie überder Schulung funktionaler sprachlicher Kompetenzen bildungsrelevantes Lernen hintanzu- stellen und gar eine Gleichgültigkeit gegenüberUnterrichtsinhalten zuzulassen. Die universitäre Lehrerbildung richtet sich ja eben nichtanSchülerinnen und

20 Das nachfolgend vorgestellte Modul ist dabeials bildungsorientierte Ergänzung zu einer grundlegenden fremdsprachendidaktischen Lehre zu begreifen, nichtals ausschließliches Lehrkonzept fürdie Lehrerbildung. 21 Daniel Reimann, Transkulturelle kommunikative Kompetenz im Unterricht der romani- schen Sprachen, in:Ders.,Transkulturelle kommunikative Kompetenz in den romanischen Sprachen. Theorie und Praxis eines neokommunikativenund kulturell bildenden Franzö- sisch-, Spanisch-, Italienisch- und Portugiesischunterrichts, Stuttgart 2014, S. 12. 22 Die großeBedeutung der Lehrerpersönlichkeit fürschulisches Lernen hat vor kurzem erst der australische Bildungsforscher John Hattie nachgewiesen;vgl.John A. C. Hattie, Visible Learning.Asynthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement, London2009 [dt. Ausg.: Lernen sichtbar machen, besorgtvon Wolfgang Beywl, Baltmannsweiler 2014]. 23 Rüdiger Pfromm, Vonder Grundschule zum Abitur.Leistungsprofile Französisch und Spanisch an allen allgemeinbildenden Schulen. Eine interdisziplinäre Studie, Rheinbach 1998, S. 86. Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt 117

Schüler,sondernzuallererst an die künftigen Lehrerinnen und Lehrer;ihnen muss sie überdie praktische Fremdsprachenverwendung hinaus solide Fach- kenntnisse zugänglich machen, damit sie im vielgestaltigen Aufgabenfeld der Schule später selbständig und reflektiertzuagieren vermögen. Vordiesem Hintergrund trägt die Fachdidaktik dazu bei, die Lehramtsstudentinnen und -studenten fürdie Verknüpfbarkeit fachwissenschaftlicher Probleme und Er- kenntnisse mit im schulischen Unterrichtzuvermittelnden Fertigkeiten zu sensibilisieren und ihnen hierbei »die Kompetenz zu vermitteln, das didaktische Potenzialund die didaktischen Schwierigkeiten ihrer Unterrichtsgegenstände zu erkennen.«24 Die Konzeption, Planung und erfolgreiche Durchführung von Fremdsprachenunterrichtbedarfeiner fundierten Sachkenntnis. So ist vonden Lehramtsanwärternneben dem fremdsprachlichen Fundament und der mit ihr einhergehenden kommunikativen bzw.insbesondere »inter- kulturellen Handlungsfähigkeit«25 durchaus eine mehr als nuroberflächliche Kenntnis der europäischen Kulturgeschichte, ein mehr als nurflüchtiger Überblick überdie kulturelle Vielfalt Europas zu erwarten:Wer,wenn nicht unsere heutigen Studentinnen und Studenten, die späteren Lehrerinnen und Lehrer unserer Kinder und Enkel, soll sich künftigmit dem europäischen Kul- turerbe auskennen, wer sie anleiten, es zu entdecken, wer die Tradition fort- schreiben und sein Weiterleben sichern?Undwer,wennnichtdie Lehrenden im Bereich der universitärenLehrerbildung,kann heute dafürSorge tragen? Die Bildungsorientierung fremdsprachlicher Lehr-und Lernprozesse, ins- besondereihreVerbindung mit literarisch-ästhetischen oder gar ›klassischen‹ Inhalten, magindiesen Tagen nichtebenpopulärsein;26 sie ist aber fürdie Persönlichkeitsentfaltung der Studentinnen und Studenten ebenso wertvoll wie leichtherzustellen. Um so mehr sehe ich es als unsere Pflichtan, im Sinne der Philosophischen Fakultätmit vernehmbarer Stimme fürsie einzutreten und die

24 Lieselotte Steinbrügge, Didaktische Transformationen.Fremdsprachendidaktik zwischen Unterrichtspraxis und philologischer Wissenschaft, in:Adelheid Schumann /Dies. (Hg.), Didaktische Transformation und Konstruktion.Zum Verhältnis vonFachwissenschaft und Fremdsprachendidaktik, Frankfurta.M. 2008, S. 13–21, hier S. 19. 25 Die interkulturelle Handlungsfähigkeit ist »Leitziel« der aktuellen sogenannten Kernlehr- pläne fürdie Fächer der romanischen Schulsprachen;vgl.KernlehrpanNRW Französisch, Düsseldorf 2013, S. 10;Kernlehrplan NRWSpanisch, Düsseldorf 2013, S. 10;Kernlehrplan NRWItalienisch, Düsseldorf 2013, S. 10. 26 Am Beispiel des modernen Englischunterrichts weisen SabineDoff und Annina Lenz pa- radigmatisch aufdiesen Missstand hin, der auch fürdie romanischen Schulsprachen gilt: »Die eher einseitige Orientierung am Nutzen des Englischunterrichts hat das Nachdenken überden Begriff der sprachlichen Bildung in den Hintergrundtreten lassen.« (Sabine Doff / Annina Lenz, Ziele und Voraussetzungen eines fächerübergreifenden Fremdsprachenun- terrichts am Beispiel vonEnglisch und Latein, in:Pegasus-Onlinezeitschrift 11, 1(2011), S. 31–49,hier S. 34). Vgl. aktuelle Aufwertungsbemühungen wiez.B.in: Der fremdsprach- liche UnterrichtSpanisch 49 (2015): »Literarästhetisches Lernen«. 118 Roland Ißler in jüngerer Zeit viel zu oft unbedachtund leichtfertiggegeneinander aus- gespielten Tendenzen des Sprachenerwerbs aufder einen und der Bildungs- orientierung aufder anderenSeite sinnvoll und dabei unpolemischund mit Augenmaß miteinander zu harmonisieren. Zu diesem Zweck eignet sich das Feld der Mehrsprachigkeitsdidaktik, daslange Zeit eine eklatante »Lückeinder Geschichte der Lehrerbildung« geblieben ist,27 in hervorragenderWeise, dientes doch dem Sprachenerwerbauf der Basis vergleichender Betrachtung und lässt sich wievon selbst an sprachenübergreifenden Inhalten festmachen, mit denen aufGemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Sprachen und damit aufkulturelle Vielfalt hingewiesenwerden kann. Die fürdie Fremdsprachen geltende Bindung an den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (2001),28 dessen funktionalistisches Sprachverständnis Standardisie- rungsprozesse zwar erheblich erleichtert, darfauf der anderen Seite nichtdazu führen, den Wert literarisch-ästhetischer Inhalte fürden Fremdsprachenerwerb geringzuschätzen oder gar ausLehr-und Lernprozessen auszublenden.29

2. Mehrsprachige Realität und Fremdsprachenerwerb in Europa

Mehrsprachigkeit im Sinne einer mehrsprachigen Diskursfähigkeit gehört ge- wiss zu den wichtigen Bildungsaufgaben und großen Herausforderungen, denen sich die Fremdsprachendidaktiken der Gegenwartzustellen haben.30 Das Phä- nomen der Mehrsprachigkeit, nichtallein als Erscheinung der Migrationsge- sellschaft,31 ist überdies längst eine alltägliche europäische und weltweite Rea- lität; zu ihr tragen TagfürTag internationale politische und globalisierte ökonomische Beziehungen bei. Die Fußball-WeltmeisterschaftinBrasilien 2014 ist nureines vonvielen anzuführenden Beispielen mit Gegenwartsbezug,in denen vorkurzer Zeit erst mit dem brasilianischen Portugiesisch eine roma-

27 Franz-Joseph Meißner,Mehrsprachigkeit in Richtlinienentwicklung und Aus- und Fortbil- dung vonLehrenden fremder Sprachen, in:Ders. /Marcus Reinfried (Hg.), Mehrsprachig- keitsdidaktik. Konzepte, Analysen, Lehrerfahrungen mit romanischen Fremdsprachen, Tübingen 1998, S. 93–108, hier S. 94. 28 Vgl. Europarat/Ratfürkulturelle Zusammenarbeit, Gemeinsamer europäischer Referenz- rahmen fürSprachen:lernen, lehren,beurteilen, Berlin /Madrid u.a. 2001. 29 Aufdie besondere Eignung der Literatur fürdie Förderung vonMehrsprachigkeit weist u.a. schon Inez De Florio Hansen hin:Pennac, L’agenceBabel et le plurilinguisme. Zur Sensi- bilisierung fürMehrsprachigkeit durch Literatur,in: Fremdsprachenunterricht 46 (2002), S. 183–186. 30 Vgl. dazu zuletzt:Der fremdsprachliche UnterrichtSpanisch 51 (2015) mit dem Themen- schwerpunkt »Mehrsprachigkeit«. 31 Vgl. Adelheid Hu,Fremdsprachenunterrichtund Migrationsgesellschaft. Perspektiven von Lehrer(inne)n und Schüler(inne)n vor dem Hintergrund didaktischer und kulturwissen- schaftlicher Theoriebildung, Tübingen 2004. Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt 119 nische Fremdspracheinden globalen Fokus gerückt ist. Aufdie mehrsprachige Realitätmuss auch der FremdsprachenunterrichtinEuropa reagieren, um Schülerinnen und Schüler aufdie Kommunikation in mehreren Sprachen vor- zubereiten, deren lebensweltliche Bedeutung mittel- und langfristig vermutlich eher noch zunehmen wird. Eine Konsequenz der globalen Vernetzung könnte auflinguistischer Ebene in dem Streben nach Einsprachigkeit liegen, wiesie mit dem Englischen als lingua franca bereits stark verbreitet ist. Unter rein pragmatischen Gesichtspunkten betrachtet, funktioniertsodie Verständigung. Aber wollen wirnichtmehr er- reichen?Reichtbloße Verständigung aus, um einander wirklichzuverstehen? Nimmt man Europas Leitidee vonder »Einheit in der Vielfalt« (in varietate concordia)ernst, so kann die sprachliche Gleichschaltung nichtdie anzustre- bende Lösung sein. Ganz abgesehen vonder fortschreitenden ›kulturellen Ent- kernung‹ des Englischen,32 die sich ausder dezentralen globalen Nutzung der Sprache ergibt, führte das Prinzip der lingua franca zum Verlust jener fürdie europäische Kultur konstitutiven Vielfalt,33 fürderen ErhaltEuropa zu Recht eintritt und einzustehen hat –gar nichteinmalnur auskulturellen Gründen, sondern auch aufgrund politischer Motive.Tatsächlich erweist ein Blick in das Parlamentder Europäischen Union die Präsenz einer Vielzahl vonSprachen; entgegen der weltweiten Dominanzdes Englischen hat sich aufder Ebene der EU das Prinzip der Mehrsprachigkeit konsequentdurchgesetzt und wird vonihr auch offiziell vertreten:»Wirmüssen« –soargumentiertdie Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europaschon 1975 –»dievielen Sprachen erhalten, um die vielen Kulturen erhalten zu können. Wirmüssen die vielen Kulturen erhalten, um den inneren Frieden in Europa zu erhalten«.34 Zwanzig Jahre später hat die EU das Prinzip der Mehrsprachigkeit im »Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung« festgeschrieben:»Jeder«, so ist darin wörtlich als »Allgemeines Ziel« formuliert, »sollte drei Gemeinschaftssprachen beherrschen«. Undwiederum wird zur Beglaubigung der Mehrsprachigkeit die kulturelle Vielfalt aufgerufen:

»Ihre Beherrschung [gemeint ist zunächst die Beherrschung vonSprache schlechthin] trägt […]zur Stärkung des Gefühls der Zugehörigkeit zu Europamit seiner reichen kulturellen Vielfalt sowiezur Verständigungder europäischenBürger bei. […] Der

32 Vgl. Laurenz Volkmann, Fachdidaktik Englisch:Kulturund Sprache, Tübingen 2010, S. 6. Zum Englischen und seinen globalen Varietäten vgl. ebd.,S.4–9. 33 Vgl. etwa JürgenTrabant, Europäisches Sprachdenken. VonPlaton bis Wittgenstein, Mün- chen 2006, S. 11. 34 Zit. nach Werner Wiater,Zur Einführung:Gedanken zur Sprachenvielfalt, in:Ders. (Hg.), Didaktik der Mehrsprachigkeit, München 2006, S. 11–14, hier S. 12. Vgl.dazu auch:»Kon- ferenz überSicherheit und Zusammenarbeit in Europa«, URL:https://www.osce.org/de/mc/ 39503?download=true[21.10.15]. 120 Roland Ißler

Kontakt zu einer anderen Sprache ist mit der Beherrschung der Muttersprache nicht nur vereinbar,sondernfördertdiese sogar noch. Er bringtdie geistige Entwicklung und Regsamkeit zur vollen Entfaltung. Natu¨rlich erweiterterauch den kulturellen Horizont[.] Die Mehrsprachigkeit ist ein wesentliches Elementsowohl der europä- ischen Identitätund Zugehörigkeit als auch der kognitiven Gesellschaft.«35

Wieist es nunaberumdas Fremdsprachenlernen in Europabestellt? Ein Stimmungsbild aufder Basiseiner vonder Europäischen Kommission(Gene- raldirektion Bildung und Kultur,Generaldirektion Übersetzung und General- direktion Dolmetschen) in Auftrag gegebenen und vonder Generaldirektion Kommunikation koordinierten Umfragevon Anfang 2012 ergibt, dass zwar fast die Gesamtheit der EU-Bürger das Fremdsprachenlernen fürihre Kinder be- grüßt:

»Die EU-Bürger haben eine sehr positiveSichtweise der Mehrsprachigkeit. Ein Anteil von88% istdavon überzeugt, dassessehr nützlich ist, neben der Muttersprache weitere Sprachen zu sprechen und nahezu jeder EU-Bürger (98 %) ist der Meinung, dass das Erlernen einer Sprache sehr wichtigfürdie Zukunftder Kinder ist.«36

Die Befragten leiten daraus sogar mehrheitlich die Forderung wenigstens nach einer umfassenden Zweisprachigkeit ab:

»Einebreite Mehrheit der EU-Bürger ist der Ansicht, dass jederinder EU in der Lage sein sollte, neben der Muttersprache noch mindestens eine weitere Sprache zu spre- chen und die meisten Befragten erklären,die Menschen sollten mehr als nur eine Fremdsprache beherrschen.«37

Entgegen dieser verbreiteten Einsichtinden Nutzen der Mehrsprachigkeit mag es jedoch überraschen, dass fast die Hälfte der EU-Bürger neben ihrer Mutter- sprache faktisch gleichwohl überkeinerlei weitere Fremdsprachenkenntnisse verfügt.38 Immerhin aber ist »[d]er Anteil europäischer Bürger,die nie eine Fremdsprachebenutzen, [inzwischen] von13%im Jahr 2005 auf9%imJahr 2012 gefallen.«39 54 %der Befragten halten sich selbst fürfähig,ineiner Fremdsprachezu

35 Europäische Kommission, Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung.Lehrenund Lernen –Auf dem Wegzur kognitiven Gesellschaft, Luxemburg 1996, S. 72. 36 Spezial Eurobarometer 386 (2012), zit. nach URL:http://ec.europa.eu/public_opinion/ar chives/ebs/ebs_386_de.pdf [21.05.15],S.167. 37 Ebd.,S.129. 38 Diese Feststellung ließ sich bereits aufgrund einer früheren Eurobarometer-Umfrage von 2005 treffen;vgl.Marcus Bär, Einführung in die (romanische) Mehrsprachigkeitsdidaktik, in:ElkeHildenbrand /HanneloreMartin/Ursula Vences (Hg.), Mehr Sprachen durch Mehrsprachigkeit. Erfahrungen ausLehrerbildungund Unterricht,Berlin 2012, S. 7–22, hier S. 8. 39 Spezial Eurobarometer 386 (2012), S. 169. Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt 121 kommunizieren, 25 %inzwei, 10 %indrei Fremdsprachen.40 Dabei ist die meisterlernte Fremdsprache in der EU erwartungsgemäß das Englische.41 Weite Verbreitung hat also gerade das lingua franca-Prinzip gefunden,das gar nicht dem erklärten politischen Ziel entspricht. Die statistischen Untersuchungen erweisen paradoxerweise auch für Deutschland diese dem europäischen Plurilingualitätsideal zutiefst zuwider- laufende Tendenz:Hierzulande dominiertderzeit beiweitem das Modell »Muttersprache + Englisch«. Diese Zweisprachigkeit ist vordem Hintergrund der Mehrsprachigkeitsidee zwar durchaus zu begrüßen, jedoch nurals ein erster Schritt, der fürMehrsprachigkeit eine wichtige Grundlage schafft. Vomtrilin- gualen Bürger sind wirnach wievor weit genug entfernt,umdie individuelle Mehrsprachigkeit zu fördernund –gerade in der Lehrerbildung bestehthier Bedarf–gezielt weiterzuentwickeln.42 Dazu gehört strenggenommen ein Umdenken aufder Ebene der Schulfächer, deren traditionelle Gliederung einem wirklichen Mehrsprachigkeitsunterricht im Grunde eher hinderlich als dienlich ist. Das Schulsystem folgtbis heutedem Fächerprinzip des 19. Jahrhunderts, das in der preußischen Bildungspolitik aus den philologischen Disziplinen erwachsen ist. Demnach werden Fremdsprachen traditionell sukzessiveund damit gleichsam additiv erlernt,43 was dem inte- grierenden inferentiellen Lernprinzip des menschlichen Gehirns geradezuent- gegensteht.44 Dessen grundsätzlich übergreifender Sprachfähigkeit gemäß sollte Fremdsprachenunterrichtjedoch vielmehrParallelisierung,Vernetzung,Trans-

40 Wörtlich heißtesdazu in der Auswertung der Umfrage:»Etwas mehr als die Hälfte der EU- Bürger (54 %) ist in der Lage, sich in mindestens einer Fremdsprache zu unterhalten, ein Viertel (25 %) sprichtmindestens zwei zusätzliche Sprachen und einer vonzehn (10 %) kann in mindestens drei Sprachen eine Unterhaltung führen. In Anbetrachtder Tatsache, dass nur wenig mehr als die Hälfte der EU-Bürger mindestenseine Fremdsprache sprechen, gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass die Mehrsprachigkeit zunimmt.« (Ebd.,S.168). 41 Englisch als meistgesprochene Fremdsprache (38 %) wird gefolgt vonFranzösisch (12 %), Deutsch (11 %), Spanisch (7 %) und Russisch(5%); vgl. ebd.,S.7. 42 Ein Zuwachs an Dreisprachigkeit verzeichnetdie Umfrage lediglich in Italien (Anstiegum sechs Prozentpunkte auf22%)und Irland (Anstieg um fünf Prozentpunkte auf18%); in neun Mitgliedsstaaten der EU hingegen ist sogar ein deutlicher Rückgang zu beobachten; vgl. ebd.,S.6. 43 Selbst das in dem Bestreben, Mehrsprachigkeit zu fördern, in Nordrhein-Westfalen einge- setzte sogenannte Doppellerner-Modell, nach dem Schüler die erste und zweite Fremd- sprache (Englisch und Latein) zeitgleich beginnen, stimmt den Spracherwerb beider Spra- chen nichtaufeinanderab. Fürden Hinweis sei Stephan Römer gedankt. 44 Zur lerntheoretischen Verortung der Inferenz vgl. Franz-Joseph Meißner /Marcus Reinfried, Mehrsprachigkeit als Aufgabe des Unterrichts romanischer Fremdsprachen, in:Dies. (Hg.), Mehrsprachigkeitsdidaktik. Konzepte, Analysen, Lehrerfahrungen mit romanischen Fremdsprachen, Tübingen 1998, S. 9–22, hier S. 15;zur Sprachverarbeitung des Gehirns vgl. etwa Jörg Roche, Mehrsprachigkeitstheorie. Erwerb –Kognition –Transkulturation– Ökologie, Tübingen 2013, S. 109–159;neurowissenschaftliche Hintergründe vgl. Manfred Spitzer,Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, München 2007. 122 Roland Ißler fer und ein Interagieren der Sprachen fördern.45 In einem aufMehrsprachigkeit basierenden Unterrichttritt die Fixierung aufeine einzelnesogenannte Ziel- sprache hinter die Bündelungdes Sprachenlernens zurück. Zwar setzt auch die Universitätdas Fächerprinzip fort, indem sie die Schulsprachenals einzelne Lehramtsstudienfächer anbietet. Dassdas Institut fürKlassische und Romani- sche Philologie gerade in der Lehrerbildung geschlossenauftritt, bietet aber immerhin die Chance einer behutsamen Systemöffnung im Bewusstsein der Studentinnen und Studenten, zumal aufdem Feld der Mehrsprachigkeit und speziell fürdiejenigen Lehramtskandidatinnen und -kandidaten, die zwei fremdsprachliche Unterrichtsfächer belegen und dadurch fürden synergeti- schen zwischensprachlichen Transfer ebenso sensibilisiertsind wiefürPro- bleme und Risiken der Interferenz, d.h. der Sprachmischung durch unbeab- sichtigte Übertragung zwischen verschiedenen Sprachen. Eines der Ziele,welche die Bonner Didaktik der Romanischen Sprachen und Literaturen verfolgt, ist die ›Versöhnung‹ der alten und neuen Sprachen, was eine bedachtsame Interaktion des alt- und neusprachlichen Unterrichts einschließt. Beziehtsich die Mehrsprachigkeitsdidaktik gemeinhin allein auf»die neueren, heute international gesprochenenSprachen, nichtdie alten Sprachen«,46 so sieht der Bonner Ansatz vor, in die Überlegungen zur integrierten und vernetzten Mehrsprachigkeit das Lateinische und Altgriechische einzubeziehen. Die klas- sischen Sprachen eignen sich aufhervorragende Weise als Brückensprachen nichtnur im Sinne eines interkomprehensiven Ansatzes, sondern zugleich mit Blick aufdie europäische Kultur.47 Nebenbei ergibt sich dadurch die Möglichkeit, die lernhemmende Konkurrenzsituation zu entschärfen, in der sich im schuli-

45 Wörtlich formuliert der Gemeinsameeuropäische Referenzrahmen fürSprachen:»die Sprachen [stehen] miteinander in Beziehung und interagieren« (Europarat /Rat fürkultu- relle Zusammenarbeit, Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen fürSprachen: lernen, lehren,beurteilen, Berlin /Madrid u.a. 2001, S. 17). 46 Werner Wiater,Didaktikder Mehrsprachigkeit, in:Ders. (Hg.), Didaktik der Mehrspra- chigkeit, S. 57–72, hier S. 58. Ausdrücklich konstatierenauch Sabine Doff und Annina Lenz, dass in der aktuellen Mehrsprachigkeitsdidaktik und im sprachenübergreifenden Fremd- sprachenunterricht»die ›alten Sprachen‹ […] bisher in der Regel nichtmitgedachtwerden« (Doff /Lenz, Ziele und Voraussetzungen eines fächerübergreifenden Fremdsprachenunter- richts, S. 33). Wenn Wiaterden alten Sprachen an anderer Stelle als allgemeinbildende Spezifika»Sprachenbewusstsein und Horizonterweiterung in literarischer,mythologischer, rhetorischer,musischer und philosophischer Hinsicht« zuerkennt(Wiater, Allgemeine Di- daktik –Fachdidaktik –Sprachendidaktik, in:Ders. (Hg.), Didaktik der Mehrsprachigkeit, S. 17–49, hier S. 34), so verweist er implizit aufdie Ergänzung wesentlicher Aspekte, die der Bonner Ansatz fürdie neueren Sprachen gerade vorsieht. 47 Vgl. aktuell auch Britta Hufeisen, Zur möglichen Rolle der sog.klassischenSprachen für Gesamtsprachencurriculumskonzepte, in:Sabine Hoffmann /Antje Stork (Hg.), Lerner- orientierte Fremdsprachenforschung und -didaktik, Tübingen 2015, S. 45–57. Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt 123 schen Kontext das Französische, Spanische und Italienische gegenüberdem Lateinischen und Griechischen nach wievor befinden.48 Dass übrigens die altsprachliche Didaktik selbst ähnliche Wege durchaus bereits beschritten hat und gegenwärtig parallel zum BonnerKonzept insbe- sondereinder Verbindung des Lateinischen mit dem Englischen fortentwickelt, belegt, dass hier offenkundig ein humanistisches Desiderat mit einem gewissen inhaltlichen Nachholbedarfdes Fremdsprachenunterrichts nach der Bologna- Reformkoinzidiert, das sinnvollerweise durch die Fachperspektiveder Didak- tikender neueren Sprachen und Literaturen kompensiertund mit Gegen- wartsbezügen neu kontextualisiertwerden könnte.49 In einem solchen grund- sätzlich zu beiden Seiten hin offenen Verständnis vonKultur erweitertder Horizontder romanischenSprachen die altsprachliche Perspektiveebenso,wie die Beschäftigung mit antiken, spätantikenund mittelalterlichen Kulturzeug- nissen die Sichtauf die europäische Gegenwartskultur zu erweiternund zu bereichernvermag.50 Wenn sich der im Zuge bildungspolitischer Reformkaskaden des 21. Jahr- hunderts voneinem humanistischen Bildungsideal emanzipierte Mensch nicht mehr,wie es einst Bernard de Chartres im 12. Jahrhundertausdrückte,51 als ein ›Zwerg aufden Schultern vonRiesen‹ fühlt, sondernden Vergleich implizit umkehrtund die gigantischen Vordenker seiner Gegenwartund ihre überlie-

48 Vgl. z.B. Daniela Caspari/Andrea Rössler, Französisch gegen Spanisch? Überlegungen aus Sichtder romanischen Mehrsprachigkeitsdidaktik, in:Zeitschrift fürFremdsprachenfor- schung 19, 1(2008), S. 61–82;KatrinHummel, ¿Hablas espaÇol?Ein Konkurrenzkampf: Spanisch verdrängtLatein ausden Schulen, in:Frankfurter AllgemeineSonntagszeitung19, 12. Mai 2013. 49 Vgl. etwa Werner Nagel, Latein und romanische Sprachen. IhreVernetzung in Unter- richtseinheiten, Bamberg 2003;Ders.,Latinitas Fons. Fortwirken des Lateinischen im Spektrum moderner Sprachen, Wien 2006;Barbara Guthier,Mit Lateinunterwegs in Frankreich und Italien. Französisch und Italienisch im Anfangsunterricht einer 7. Klasse, in: Ingvelde Scholz (Hg.), Latein lernen –mit allen Sinnen. Unterrichtsprojekte, Planungshilfen, Kopiervorlagen, Bamberg 2007,S.7–57;Michael Hotz, Latein und Europa. Spurensuchein Texten und Bildern, Bamberg 2011;Sabine Doff /Stefan Kipf (Hg.), English meets . Unterrichtentwickeln –Schulfremdsprachen vernetzen, Bamberg 2013;Friedrich Ungerer, Salve & hello.Portfolio fürden parallelen Fremdsprachenunterricht in Latein und Englisch, Bamberg 2014;Der altsprachliche Unterricht1(2016): »Latein und Spanisch«. 50 Als einen »Ausweis vonBildungund Humanität« bezeichnet zum Beispiel Dietmar Frickedie (romanische) Mehrsprachigkeit und betont schonfrühderen Bedeutung fürdie Entwicklung des kulturellen Europas:»Wassie [die neulateinischen Sprachen] an Kultur,damit an Bil- dung und Humanität, mit sich führen, bildet zum einen eine persönliche Bereicherung,vor allem aber eine wichtige Basis fürein noch zu schaffendes polyglottes und polytropes Eu- ropa.« (DietmarFricke, Romanische Mehrsprachigkeit:ein noch fragwürdiger Versuch, die Mehrsprachigkeit in Europadidaktisch aufden Wegzubringen. Eine kritische Bestands- aufnahme, in:Meißner /Reinfried(Hg.), Mehrsprachigkeitsdidaktik, S. 81–92, hier S. 89). 51 Zum Ursprung des Vergleichs vgl. Robert K. Merton,Auf den Schultern vonRiesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinthder Gelehrsamkeit, Frankfurta.M. 1983, insbes. S. 223. 124 Roland Ißler ferten Erkenntnisse aufdie leichte Schulter nimmt, so muss er aufpassen, dass der Verlust seiner Demut nichtlangfristig dazu führt, dass die Riesen aufseinen Schultern beginnen, ihn zu erdrücken.

3. Eurolinguistische und interkomprehensionstheoretische Vorüberlegungen

Die Erforschung vonMehrsprachigkeit, etwa durch Sprachvergleich, ist durchaus nichtneu;52 jüngeren Datums hingegen sind die daraus gewonnenen sprachlerntheoretischen Konsequenzen und die aufdiesen fußende didaktische Aufbereitung ihrer Erkenntnisse.Die fremdsprachendidaktische Forschung ist bereits seit mehreren Jahrzehnten eifrig darumbemüht,multilinguale Ansätze und Lernstrategien zu entwickeln. Angesichts des pluridisziplinärenInteresses des vorliegenden Bandes mögen hier einige Hinweise aufgrobe Linien der Forschung genügen. Als ein maßgeblicher Forschungszweig kann die sogenannte Eurolinguistik angeführtwerden, welche sich der Erforschung gemeinsamer Strukturen spe- ziell der europäischen Sprachen und Sprachfamilien widmet.Dabei gehtsie grundsätzlich linguistischvor,nimmt jedoch auch eine kulturwissenschaftliche Perspektive ein und untersuchtneben sprachpolitischen und -soziologischen Aspekten auch sprachhistorische, allgemeinkulturgeschichtliche und inter- kulturelle sowiezunehmend varietätenlinguistische und pragmatische, d.h. auf den Akt der Kommunikation bezogene Aspekte.53 In diesem Kontext erklärt zum

52 Vergleichende Sprachbetrachtung ist wohl so alt wiedie Sprachenvielfaltund die mensch- liche Kommunikation selbst, und nichterst die oben angedeutete Fachgeschichte der Ro- manischen Philologie im 19. Jahrhundert ist vonSprachvergleichen durchtränkt. Der ita- lienische Dichter Dante Alighieribezeugt bereits im 13. Jahrhundertmit seinem Traktat De vulgari eloquentia ein vergleichendes Interesse an den romanischen Sprachen. –Im 20. Jahrhundertverglich zum Beispiel Ferdinand Sommer die europäischenSchulsprachen aufsyntaktischer Ebene (vgl. Vergleichende Syntax der Schulsprachen, 3. Aufl.,Leipzig / Berlin 1931) oder legte der Romanist Frederick Bodmer eine Abhandlung überdas ›Ver- wobensein‹ der Sprachen vor (vgl. The Loom of Language, zuerstLondon 1943;dt. Ausg.: Die Sprachen der Welt.Geschichte –Grammatik–Wortschatz in vergleichender Darstellung, Köln 1997). Die darin sorgfältig zusammengestellten Wortlisten im Kapitel »Sprachmuse- um«, die rund ein Drittel des Werks umfassen, bieten nach Sprachfamilien gegliederte Synopsen ausgewählterLexeme, aufderen Grundlage sich linguistische Gemeinsamkeiten und morphologische Regelmäßigkeiten unschwer erkennen lassen. Vgl.auch Ernst Lewy, Der Bauder europäischen Sprachen, 2. Aufl.,Tübingen 1964 (zuerst Dublin 1942). Eine umfassende vergleichende Grammatik stammt vonHansGlinz (GrammatikenimVergleich, Tübingen 1994). 53 Vgl. Uwe Hinrichs, Geschichte der Eurolinguistik, in:Ders. (Hg.), Handbuch der Eurolin- guistik,Wiesbaden 2010, S. 931–952;Ders.,Geschichte, Standund Perspektiven der Euro- Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt 125

Beispiel Joachim Grzega seinen eurolinguistischen Ansatz als die Bemühung,zu beschreiben, »was Europaauszeichnet hinsichtlich Sprachgeschichte, Sprach- kontakt, Sprachsoziologie, Sprachpolitik, Sprachsystemen und Interkultureller Kommunikation«.54 Zu den wichtigen Vorläufernder eurolinguistischen For- schung avantlalettre –erselbst zog den aufden Schweizer Indogermanisten AlbertDebrunner zurückgehenden Begriff der Interlinguistik vor55 –zählt der österreichische Sprachwissenschaftler MarioWandruszka (1911–2004), dem die Wissenschafteine ganze Reihe romanistischer Studien und Monographien zum Vergleich der romanischen, englischen und deutschen Sprache und Kultur verdankt.56 Enger aufden Fremdsprachenerwerb bezogen, hat schließlich dasKommu- nikationsphänomen der Interkomprehension57 einen wichtigen Zweig der Mehrsprachigkeitsforschung eröffnet:Ausgehendvon der Sprachenverwandt- schaft–im konkreten Falle des Französischen, Spanischen und Italienischen: vonder romanischenSprachfamilie –, befähigtdie Interkomprehension Ler- nende, »einesprachliche Varietätoder eine Sprache zu verstehen, ohne sie in zielsprachlicher Umgebung aufnatürliche Weise erworben oder mittels Fremdsprachenunterrichterlernt zu haben.«58 Indem linguistische Gemein- samkeiten in den Vordergrund treten, können einzelne Sprachen intentional als sogenannte Transferbasen nutzbargemachtwerden. Insbesondere gelesene,

linguistik, in:Ders. /NorbertReiter /SiegfriedTornow(Hg.), Eurolinguistik.Entwicklung und Perspektiven, Wiesbaden 2009, S. 1–49. 54 Joachim Grzega, Europas Sprachen im Wandel der Zeit, Tübingen 2012, S. 5. 55 Vgl. Mario Wandruszka, Interlinguistik. Umrisse einer neuen Sprachwissenschaft, München 1971. 56 Vgl. Ders.,Sprachen, vergleichbarund unvergleichlich, München 1969;Ders.,Die Mehr- sprachigkeit des Menschen, München 1981;Ders.,Das Lebender Sprachen. Vommensch- lichen Sprechen und Gespräch, Stuttgart1984;Ders.,»Werfremde Sprachen nichtkennt…«. Das Bild des Menschen in Europas Sprachen, Darmstadt 1991;Ders.,Die europäische Sprachengemeinschaft:Deutsch –Französisch –Englisch –Italienisch –Spanisch im Ver- gleich, 2. Aufl.,Tübingen /Basel 1998 (11990). 57 Als intuitive Kommunikationsstrategieist das Phänomen der Interkomprehension»uralt« und »begleitet die Menschheit, seitdem es verschiedene Sprachen oder Varietäten gibt, deren Sprecher/innen miteinander in Kontakt treten.« (Franz-Joseph Meißner,Interkomprehen- sion,in:Carola Surkamp(Hg.), Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik, Stuttgart/Weimar 2010, S. 120–121, hier S. 120.). Zur Definition des Interkomprehensionsbegriffs vgl. Peter DoyØ,Interkomprehension. Versuch einer Begriffserklärung, in:ZeitschriftfürFremd- sprachenforschung 17, 2(2006), S. 245–256. 58 Franz-Joseph Meißner /Bernd Tesch /Graciela Vµzquez, Interkomprehension und Kom- petenzförderung mit Blick aufdie Konstruktion vonLehrwerken, in:Franz-Joseph Meißner / Ulrich Krämer (Hg.), Spanischunterrichtgestalten. Wege zu Mehrsprachigkeit und Mehr- kulturalität, Seelze 2011, S. 81–122, hier S. 81. Vgl.auch die Definition vonFranz-Joseph Meißner:»Interkomprehensionmeintdie Fähigkeit, fremde Sprachen oder Varietäten zu verstehen,ohne sie in ihrer natürlichen Umgebung erworbenoder formal erlernt zu haben.« (Interkomprehension, S. 120). 126 Roland Ißler aber auch mündlicheTexte mehrerer Sprachen werden damit durch direkte Vergleiche systematisch semantisch, morphologisch, lexikalischund syntak- tisch erschließbar.Als Brückensprache kommt zum Beispiel gerade dem Fran- zösischen eine wichtige Rolle unter den Schulsprachen zu.59 Durch den Rückgriff aufbereits erlernteSprachen und sprachliche Strukturen –»keine Fremdsprache ist absolutes Neuland«60 –gewährleistetdie Interkomprehension in erheblichem Maßeein (lern)ökonomisches Vorgehen und kommt so ganz nebenbei dem gegenwärtig stark ausgeprägten bildungspolitischen Rationalisierungseifer entgegen. Das Ziel einer sprachenübergreifenden Verständigungauf der Grundlagevon Sprachfamilien beigleichzeitiger Einbettung in den Rahmen der kulturellen Vielfalt Europas formulieren die Entwickler der sogenannten EuroCom-Me- thode mit den folgenden Worten:

»Einsprachigkeit ist heilbar.Mehrsprachigkeit in Sprachenfamilien ist überrezeptive Methoden sehr schnell erreichbar.Die Sprachen im Haus Europasind einander nicht fremd. In den romanischen, germanischen und slawischen Sprachfamilien versteht man sich.Europäische Interkomprehension ist die kultursensitiveErgänzung zum Englischen als Welthilfssprache.EuroCom schützt den sprachlichen und kulturellen Reichtum Europas. EuroComweist den Wegzur Mehrsprachigkeit in Europa.«61

Um jedoch einer ungesteuerten Sprachvermischung vorzubeugen und einer Beliebigkeit entgegenzuwirken, wird dieser Wegmethodisch reflektiertbe- schritten:Mit »EuroCom« ist das rezeptionsbasierte Konzept der »sieben Siebe« gemeint, das Horst G. Klein und TilbertStegmann fürdie romanischenSprachen entwickelt und ausgeführthaben;großeSchulsprachen finden darin gleicher- maßen Berücksichtigung wieMinderheitensprachen. Das Prinzip des ›Siebens‹ beschreiben die Autoren gleichsam als ein »Abschöpfen« verschiedener sprachlicherStrukturen –imengeren Sinne lexikalisch, phonologisch, graphematisch, morphologischund syntaktisch sowiemorphosyntaktisch leichtrekonstruierbarer Elemente –bei der Dekodierung eines fremdsprachli-

59 Vgl. etwa Horst G. Klein, Das Französische:die optimaleBrückezum Leseverstehen ro- manischer Sprachen, in:Französisch heute 1(2002), S. 34–46. 60 Klein /Stegmann, EuroComRom, S. 13. Mehr noch:»Beim Erwerb einer zweitenoder dritten Fremdsprache ist das Wissen überdie einem Lerner bekannten Sprachen Teil dieses [zu erwerbenden, R.I.] Wissens selbst. Es ist sowohldeklarativ(man kann überdieses Wissen sprechen) als auch prozedural. Letzteresbildet die Grundlage fürdas eigentliche Sprechen-, Hören-, Schreiben- und Lesenkönnen.« (Meißner /Tesch /Vµzquez, Interkomprehension und Kompetenzförderung,S.83). 61 Horst G. Klein, EuroComRom:Basiskurs, zit. nach URL:www.eurocomrom.de [21.05.15]. Den drei Sprachfamilien in Europasind je eigene Ausprägungen der hier vorgestellten sprachgruppenbasierten Methode zugeordnet, so EuroComSlavund EuroComGerm neben EuroComRom. Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt 127 chen Textes.62 Ein interkomprehensionstheoretischgeschulter Leser –Klein und Stegmann vergleichen ihn explizit mit einem »Goldsucher«63 –wird einen un- bekannten Text demnach strategisch ›durchseihen‹ und aufsieben verschiedene Strukturen hin untersuchen,gleichwohl ohne die linguistischen ›Siebe‹ strikt in einer bestimmten hierarchisch motivierten Reihenfolge anwenden zu müssen.64 So aktiviertereinerseits seine Vorkenntnisse hinsichtlich eines internatio- nalen bzw.speziell panromanischen Wortschatzes (erstes und zweites Sieb), erschließtlautliche und orthographische Entsprechungen (drittes und viertes Sieb), reflektiertund erkenntinder Romania übergreifend geltende syntakti- sche Strukturen (fünftes Sieb) ebenso wiemorphosyntaktische Elemente wieder (sechstes Sieb) und ermittelt schließlich die Bedeutung eines Textes überdiverse bekannte Affixe aufder Basis der griechischen oder lateinischen Sprache, von Klein und Stegmann »Eurofixe« genannt.65 Insbesonderebeim ersten und beim letzten Sieb erweist sich gerade die le- xikalische und strukturelle Kenntnis der klassischenalten Sprachen als probates Hilfsmittel fürdie Texterschließung.Inihnen wurzelt letztendlich auch der in- ternationale Wortschatz des Englischen. Anhand der Internationalismen be- stätigen die EuroComRom-Autoren beispielsweiseausdrücklich:

»Diesen [internationalen]Wortschatz haben alle lebenden Standardsprachen im Zuge der modernen Entwicklung menschlichen Lebens und Denkens geschaffen.Erist ihnen in beachtlichem Ausmaß gemeinsam –zueinem sehr großen Teil auflateinisch- romanischer Basis, was in diesem erstenSieb die romanischen Sprachen außeror- dentlich privilegiert. Ein Erwachsener verfügt über etwa 5000 solcher Wörter,die er in den anderen Sprachen mühelos wiedererkennen kann, weil sie meist nur geringfügig verändertsind. Diese internationalen Wörter bilden zusammen mit den international bekannten Namen vonPersonen, Institutionen, geographischen Begriffen etc. den Textanteil, der in einem Zeitungsartikel, z.B. internationaler Politik, als erstersofort verstehbar und zudem dortbesonders häufig ist, d.h. einen besonders großen Text- anteil ausmacht.«66 Ähnlichesgiltfürdas Erkennen der Affixe: »Manbrauchtsich nureine kleine, überschaubareZahllateinischer und griechischer Prä-und Suffixeinihrer Be- deutung ins Gedächtnis zurückzurufen, um damit ein Vielfaches an Wörtern erschließen zu können.«67

62 Vgl. Klein /Stegmann, EuroComRom, S. 14 u.ö. 63 Ebd.,S.14. 64 Vgl. ebd. 65 Ebd.,S.139. 66 Ebd.,S.14. 67 Ebd.,S.15. Selbst fürdas muttersprachliche Erschließen fremder Texte eignet sich die Kenntnis altsprachlicher Affixe, wiesich u.a. an einem Lesetempotraining nachweisen lässt; vgl. das Kapitel »Wortschatzerweiterung« mit tabellarisch aufgelisteten Wortprä-und 128 Roland Ißler

Die zitierten Andeutungen skizzieren bereits, wiedie Texterschließung über die interkomprehensiveMethode funktioniert. Durch strategisches Wieder- erkennen und Anknüpfen an bekanntes sprachlichesMaterial werden die Leerstellen eines unbekannten Textes in einer romanischenFremdsprache sukzessiveerheblich minimiert:

»Nachdem die Sprache sieben Mal aufBekanntes hin durchgesiebtist, stellt man fest, daß ein Zeitungstext in der neuen Sprache (z.B. zu auswärtiger Politik) in seinen Hauptinformationenleichtzugänglich ist und daß man davonausgehend den Sinn der übrigen Textteile mit gutem Annäherungswert verstehen kann.«68

Fremdsprachenlernende erhalten einen Zuwachs an Lernmotivation, indem sie ganz nebenbei erfahren, »welch ein umfangreiches Repertoire an Bekanntem ih[nen] zur Verfügung steht[…],[und zwar] nichtnur für eine weitere Sprache, sondern gleich fürachtweitere Sprachen.«69 Als mehr oder minder selbsterklärendes70 Beispiel sei nunein zentraler Text der europäischen Kultur –die Quelle wird hier ausdidaktisch-methodischen Gründen zunächst bewusst verschwiegen –ineiner mehrsprachigen, hier ab- sichtlich überdie Schulsprachen hinausgehenden Zusammenschauvon fünf verschiedenen romanischenSprachen abgedruckt. Das Beispiel mag an dieser Stelle zugleich als Leserimpuls, Anregung zum Entdecken und Ermunterung zum Forschenden Lernen dienen und kann vonder Leserin bzw.dem Leser des vorliegenden Aufsatzes beiInteresse als Selbstversuch genutzt werden:

PREffMBULO. Considerando que oreconhecimento da dignidade inerente atodos os membros da família humana edos seus direitos iguais einalienµveis constitui ofun- damento da liberdade, da justiÅa edapaz no mundo… PREÀMBUL. Considerantque el reconeixementdeladignitat inherentidels drets iguals iinalienables de tots els membres de la família humana Øselfonament de la llibertat,lajustícia ilapau en el món… PREMBULO. Considerando que la libertad, la justicia ylapaz en el mundo tienen por base el reconocimiento de la dignidad intrínseca ydelos derechos iguales einalienables de todos los miembros de la familia humana… PREAMBULO. Considerato che il riconoscimento della dignità inerente atuttii membridella famiglia umana edei lorodiritti, uguali ed inalienabili, costituisce il fondamentodella libertà,della giustizia edella pace nel mondo…

-suffixen sowieWortwurzeln in:Christian Peirick, Rationelle Lesetechniken. Schneller lesen –mehr behalten, 5. Aufl.,Bad Honnef, 2015, S. 70–78. 68 Klein /Stegmann, EuroComRom, S. 14. 69 Ebd.,S.15. 70 Klein und Stegmann gehen selbst durchaus vonder »Selbsterklärungskraft eines Textes« aus (ebd.,S.26) und erläutern diese anhand eines fachsprachlichen Beispiels zum Zentralner- vensystem vonInsekten in der (deutschen) Muttersprache (vgl. ebd.). Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt 129

PRÉAMBULE. ConsidØrant que la reconnaissance de la dignitØ inhØrente à tous les membres de la famille humaine et de leurs droits Øgaux et inaliØnables constitue le fondementdelalibertØ,delajustice et de la paix dans le monde… Unter Anwendung der oben beschriebenen ›Siebe‹ (internationaler und pan- romanischer Wortschatz, Lautentsprechungsformeln, Graphien und Ausspra- chen, syntaktischer und morphosyntaktischer Transfer,Prä-und Suffixtransfer) kann der zunächst unbekannte Text schrittweise –zum Teil spontan, zum Teil reflektiert–dekodiertwerden. Auch wenn hier ausPlatzgründen nichtauf Aussprachebesonderheiten und andere linguistische Einzelheiten eingegangen werden kann, lässt doch bereits das Schriftbild unschwer erkennen, in welchem Maßedie romanischen Sprachen einander ähneln bzw.anwelchen Stellen und in welcher Weise sie divergieren. Der Sprachenvergleich wird die Erschließung in Abhängigkeit vomindividuellen Vorwissen merklich erleichtern, auch wenn die Textquellebisher unbekanntist. In seinem Titel birgtdieser Text eine Reihe vonInternationalismen, die nach der EuroComRom-Methode durch das erste Sieb verlässlich ›aufgefangen‹ werden. Eine tabellarische Notierung allein der Überschrift, hier um das Ok- zitanische erweitert, lässt bereits Unterschiede und Gemeinsamkeiten augen- fällig werden.

Portugiesisch Declarażouniversal dos direitos humanos Katalanisch Declaració universal de dretshumans Okzitanisch Declaracion universala dels dretshumans Spanisch Declaraciónuniversal de derechoshumanos Italienisch Dichiarazione universale dei dirittiumani Französisch DØclarationuniverselle des droits de l’ homme

Die vorstehende Synopse erbringtzugleich die Auflösung,welcher Text dem hier ausgewählten Beispiel zugrundeliegt:Es handelt sich jeweils um den Beginn der Präambel zur Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von1948 in den Sprachen Portugiesisch, Katalanisch, Okzitanisch, Spanisch, Italienisch und Französisch.71

71 Im Rahmen des ursprünglichen Vortrags diente das Beispiel gleichsam als experimenteller Einstieg in die Mehrsprachigkeitsproblematik und konnte dem Auditorium in Form von mehrsprachigen Hörbeispielen präsentiertwerden. Texte und Hörbeispiele wurden ent- nommen aus: Bossong,Die romanischen Sprachen, S. 341–347;dortfindet sich die Men- schenrechtserklärung zudeminweiteren romanischen Sprachen in Schriftund Ton. Gegen dieses Beispiel mag man einwenden, dass Verfassungstexte –und juristische Texte schlechthin –inihrer stoffbedingten Nähe zur Rechtssprache Latein naturgemäß geringere Schwierigkeiten in der interlingualen Erschließung aufweisen als beispielsweise literarische, journalistische, feuilletonistische oder alltagssprachliche Texte. 130 Roland Ißler

Vordem Hintergrund der ersten Annäherungen an die Erschließung mehr- sprachiger Texte sei hier vorläufig festgehalten:Sprachkenntnisse und sprach- liche Erfahrungenliegen im menschlichen Gehirnnichtsepariertvor,sondern sind aufkomplexeWeise miteinander vernetzt. Der Erwerb jeder neuen Sprache knüpftalso unmittelbar an bereits vorhandene Kenntnisse vonFremdsprachen und der Muttersprache an und mobilisiertfrühere und latente Sprachlerner- fahrungen. Das Erlernen vonFremdsprachen schult Kenntnisse, Einsichten und Fertigkeiten und übt zudem Haltungen ein, mit denen jeder weitereFremd- sprachenerwerb erheblich erleichtertwird.72 Die Erkenntnis dieser Sprach- lernvoraussetzung bietet ungeahnte Möglichkeiten fürden modernen Fremd- sprachenunterrichtund lässt sich insbesonderefürden Sekundär- und Tertiärsprachenerwerb nutzen, in dem bekanntermaßen die klassischen und romanischen Sprachen gegenüberdem als erste Fremdspracheverbreiteten Englischen besonders stark vertreten sind. Mit Hilfe der Interkomprehension wird aufder Basis einer bereits erworbe- nen Sprache der romanischen Sprachfamilie vorallem die rezeptiveSprachfä- higkeit im Sinne einer ausgeprägten Multiliteralitätgeschult;die übrigen Fer- tigkeiten können dann aufdieser Grundlage, anders als im gewohnten Fremdsprachenunterricht, ausder erheblich höheren Ausbildung der sprachli- chen Rezeption heraus, dafürjedoch um so schneller und effektiver, entwickelt werden. Um die Schriftbasiertheit als einen möglichen Einwand gegen einen solchen Ansatz zu entkräften, sei betont,dass hier unter den im Fremdspra- chenunterrichteingeübtenFertigkeiten die pragmatischeKommunikation zwar nichtimVordergrund steht, dass sich das vorgestellte Moduljedoch als ein Zusatzangebotgerade an alle diejenigen Studierenden richtet, die ohnehinbe- reits in zwei Fremdsprachendie reguläre Fremdsprachenlehrerbildung mit ihrer dezidiertkommunikativen Orientierung durchlaufen.73 Wienichtzuletzt aus dem vorgestellten Beispiel erhellt, misst die Interkomprehension nichtnur der Lerneraktivierung,sondernzugleich auch dem interkulturellen Lernen –beides stehtgeradezu im Zentrum aller gegenwärtigen Entwicklung vonFremdspra- chenunterricht–einen hohen Stellenwertbei.

72 Diese Erkenntnis hat durchaus auch aufden Erwerb des Englischen als erster Fremdsprache gewichtigen Einfluss, vgl. im Rahmen der Englischdidaktik etwa EngelbertThaler,Englisch unterrichten:Grundlagen –Kompetenzen –Methoden, Berlin 2012, S. 24. 73 Franz-Joseph Meißner siehtsogar in der Mehrsprachigkeitsdidaktik eine »erweiterte Legi- timation« des romanischen Sprachunterrichts;amBeispiel des Französischunterrichts be- scheinigterihm eine besondere Verantwortung:»Offensichtlich vermitteltder Franzö- sischunterricht die Selbsteinschätzung und Motivation, weitere Sprachen hinzulernenzu können und zu wollen.« (Franz-Joseph Meißner,Französischunterricht im Rahmenvon Mehrsprachigkeitskonzepten, in:Bernd Tesch /Eynar Leupold /Olaf Köller (Hg.), Bil- dungsstandards Französisch:konkret. Sekundarstufe I:Grundlagen,Aufgabenbeispiele und Unterrichtsanregungen, Berlin2008,S.35–43, hier S. 36). Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt 131

Tatsächlich ist den aktuellen Kernlehrplänen Nordrhein-Westfalens fürdie romanischen Schulsprachen nichtnur die Unterstützung vonSprachbewusst- heit (language awareness), sondernauch ein ausdrücklicher Fokus aufMehr- sprachigkeit eingeschrieben:

»Durch die Beschäftigung mit der literarisch-ästhetischen Dimension des Französi- schen soll Schülerinnen und SchülernFreude an Sprache,Sprachenlernen und Sprachgebrauch vermittelt und die Motivation gestärkt werden, sich auch außerhalb vonSchule und überdiese hinaus neuen Spracherfahrungen zu stellen. Damit unter- stützt der Französischunterrichtsie beider Entwicklung individueller Mehrsprachig- keitsprofile.Dies geschiehtauch mittels einer gezielten Anbahnung von Sprachlern- kompetenz,welche Lernernhelfen soll, weitere Sprachen bewusster und kompetenter zu erlernen.Ein stärkeres Bewusstsein hinsichtlich der Varietäten und Verwendungs- formen der französischen Sprache sowievertiefte Einsichten in derenStruktur und Gebrauch (Sprachbewusstheit)setzenzusätzlich einen oberstufengemäßen Akzentin der Sprachbeherrschung.«74 »Die Förderung der interkulturellen Handlungsfähigkeit beinhaltet im Zusammen- hang mit dem Auftrag der Persönlichkeitsbildung sowieder wissenschafts- und be- rufspropädeutischenAusprägung die Verpflichtung,die Schülerinnen und Schüler in der Entwicklung vonMehrsprachigkeit und lebensbegleitendemSprachenlernenzu unterstützen. Dieses geschiehtauch überdie gezielte Anbahnung von Sprachlern- kompetenz,welche den Lernernhilft, weitere Sprachen reflektierter und kompetenter zu erlernen. Ein stärkeres Bewusstsein hinsichtlich der Varietäten und Verwendungs- formen der spanischen Sprache sowievertiefte Einsichten in deren Struktur und Ge- brauch (Sprachbewusstheit)setzen zusätzlich einenoberstufengemäßen Akzentinder Sprachbeherrschung.«75 »Durch die Beschäftigung mit der literarisch-ästhetischen Dimension erleben die Schülerinnen und Schüler die Verwendungder italienischen Sprache als Ausdruck kultureller Zeugnisseder italienischen Lebenswelt. Gleichsam entwickeln sie durch die herausforderndeAuseinandersetzung mit diesbezüglichenTexten Strategien, die in- dividuelle Mehrsprachigkeitsprofile fördern und ihnen neue Sprachlernerfahrungen ermöglichen. Dies geschiehtauch,indem der Sprachlernkompetenz besondere Auf- merksamkeit gewidmet wird. Kompetenzen sowieEinstellungen und Haltungen, wel- che die Schülerinnen und Schüler im Umgangmit Fremdsprachen erworben haben, sollenihnen helfen, weitere Sprachenzulernen. Ein stärkeres Bewusstseinhinsichtlich der im Italienischenverwendeten Sprachregister,der Unterschiede zwischen lingua scritta und lingua parlata sowieexemplarischer regionaler Besonderheiten der sich wandelnden italienischen Sprache (Sprachbewusstheit)setzen einen oberstufenge- mäßen AkzentimBereich der Sprachbeherrschung und fördern die interkulturelle Handlungsfähigkeit.«76

74 Kernlehrplan NRWFranzösisch, S. 11. 75 Kernlehrplan NRWSpanisch, S. 11. 76 Kernlehrplan NRWItalienisch, S. 11. 132 Roland Ißler

Die interkomprehensiveStrategie bietet ferner fürbilinguales Lehren und Ler- nen ausgezeichnete Voraussetzungen. In die Lernformdes Projektunterrichts lässt sie sich ebenso leichtintegrieren wieinFormen des Entdeckenden bzw. Forschenden Lernens.77 Da sie insbesonderedie Bewusstheit fürdas Lernen im Allgemeinen und das Sprachenlernen im Besonderen schärftund so zur Her- ausbildung und intentionalen Anwendung höchst nützlicher Lernstrategien sowiezur sogenannten language awareness beiträgt,78 hat sie wesentlichen Anteil an der im modernen Fremdsprachenunterrichtangestrebten Lerner- autonomisierung:Tatsächlich »entpuppt sich die Interkomprehensions- oder Mehrsprachigkeitsdidaktik als ein Mittel zur Förderung vonLernstrategien und -techniken. Mit Hilfe interkomprehensionsdidaktischer Verfahren entwickeln Schüler eine hohe Sensibilitätfürdie eigenen Lernwege.«79 Indem durch die Interkomprehension die individuelle Mehrsprachigkeit und Sprachlernbewusstheit geschult werden, zählen Identitätsentwicklung und Persönlichkeitsbildung zu den wichtigen positiven Effekten und Zielen dieses Ansatzes. Eine so verstandene Mehrsprachigkeit kommt mithin dem oben be- schriebenen bildungsorientierten Zugang zum Fremdsprachenlehren und -ler- nen in der Lehrerbildung in hohem Maßeentgegen. Entsprechend liegen den Überlegungen zu dem in der Folge vorgestellten fächerübergreifenden Modul wesentlich eurolinguistische und interkomprehensionstheoretische Konzepte zugrunde.

4. Beispiele der curricularenImplementierung einer bildungsorientierten Mehrsprachigkeitsdidaktik in die Lehrerbildung der Fächer Französisch, Spanisch, Italienisch, Latein und Griechisch

Ausgehend vonden bislang dargelegten Vorüberlegungen soll nun exemplarisch ein Einblick in Teile ihrer curricularen Ausgestaltung und ihren didaktischen OrtimRahmen der Lehrerbildung an der UniversitätBonngegebenwerden. Das Bonner Konzept der MehrsprachigkeitsdidaktikamInstitut fürKlassische und Romanische Philologie führtineinem mehrsprachigkeitsdidaktischen Modul des Studiengangs Master of Education gezielt diejenigen Lehramtsstudentinnen und -studenten zusammen, die als Unterrichtsfächer zwei Fremdsprachenaus

77 Vgl. etwa Bär, Einführung in die (romanische) Mehrsprachigkeitsdidaktik, S. 17f. 78 Zur Sprachbewusstheit im Sinne einer Sprachenbewusstheit an der »Schnittstellezwischen sprachlicherBildung und lebenslangem Sprachenlernen« vgl. Doff /Lenz, Ziele und Vor- aussetzungen eines fächerübergreifenden Fremdsprachenunterrichts, insbes. S. 36f. 79 Meißner,FranzösischunterrichtimRahmen vonMehrsprachigkeitskonzepten, S. 40. Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt 133 dem fünf Fächer umfassenden Kontingentder beiden philologischen Abtei- lungen des Instituts(Französisch,Spanisch, Italienisch, Latein, Griechisch) studieren. Einbezogen in dieses Bonner Modell und mit ihren romanistischen Kommilitoninnen und Kommilitonen in Austausch gebrachtwerden bewusst auch die Studentinnen und Studenten der altsprachlichen Fächer,sodass nicht nurinnerhalb der Romanistik fächerübergreifend gearbeitet wird,sonderndie mehrsprachigkeitsorientierten Lehramtsstudentinnen und -studenten des ge- samten Instituts fürKlassische und Romanische Philologie im Sinne der oben angedeutetenVerzahnung zugleich auch in der Lehre unter einem gemeinsamen Dach vereintwerden können. Als zusätzlicher Vorteil erweist sich dabei, dass direkte Synergien mit am Institut angesiedelten Forschungsprojekten und internationalen Kooperationen genutzt und erweitertwerden können. Damit wird, so die Hoffnung,ein früher Grundstein gelegtfürdie Versöhnung der oft unseligen und arbeitsbehindern- den Komplementaritätdes Lateinischen mit dem Fach Französisch bzw.zu- nehmend auch mit dem Fach Spanisch im deutschen Schulsystem. Durch den verbreiteten Automatismus der Betrachtung des modernen romanischen Fremdsprachenunterrichts als Konkurrenz zum schulischenLateinunterricht und umgekehrtverschenkt man bislang vielerorts noch immer eine hervorra- gende Chance aufdem Wegzueiner europäischen Mehrsprachigkeit. Ein Umdenken –auch überden Tellerrand der traditionellen Fachgrenzen hinweg –muss dortansetzen, wo künftige Lehrerinnen und Lehrer aufihren Berufsalltag vorbereitet werden.80 Einen solchen Wegbahntdie Bonner Leh- rerbildung fürdie Lehramtsstudentinnen und -studenten direkt mit ihrem Eintritt in das Masterstudium seit dem Wintersemester 2014/15. Die Modul- teilnehmerinnen und -teilnehmer werden dabeiselbst in die Konzeption mehrsprachiger Unterrichtseinheiten eingebunden. Dies eröffnet die Möglich- keit, vonder besonders ausgeprägten sprachlichenSensibilitätder bereits mehrerer Fremdsprachen mächtigen Studentinnen und Studenten zu profitieren und durch wechselseitigen Austausch unterschiedlicher Sprachkenntnisse die individuelle Mehrsprachigkeit aller Lehramtsstudierenden zu unterstützen und

80 Es ist erwiesen, dass trotzihrer hohen Wirksamkeit und positivenAufnahme seitens der Schülerinnen und Schüler »die Anwendunginterkomprehensiv basierter Strategien in der Breite der Lehrerschaftschwerfällt« (Meißner /Tesch /Vµzquez, Interkomprehensionund Kompetenzförderung,S.89). »In Gesprächen zu notwendigen Bedingungen sprachen- übergreifenden Lernens betonen die befragtenLehrkräfte häufig,dass sie zunächst selbst überSprachenbewusstheit verfügen müssten, bevor an deren Förderungauf Seiten der Schülerinnen und Schüler gedachtwerdenkönne.« (Doff /Lenz, Ziele und Voraussetzungen eines fächerübergreifenden Fremdsprachenunterrichts, S. 45). Tatsächlich kann eine grö- ßere Offenheit gegenüberder Interkomprehensionsdidaktik kaum besser als dadurch erzielt werden, dass sie Lehramtsstudentinnen und -studenten bereitswährend der ersten Phase der Lehrerbildung vertrautgemachtwerden. 134 Roland Ißler zu erweitern. So wiedie gesellschaftlich vorhandene Mehrsprachigkeit in der Schule als Ausgangspunkt fürmehrsprachiges Lernen dienen kann,81 können die Studentinnen und Studenten verschiedener fremdsprachlicher Fächer an der Universitätihrevielsprachigen und interkulturellen Lern-und Lehrerfahrungen, spracherwerbsstrategisches Wissen und Vorkenntnisse einbringen und ge- meinsam und interaktiv weiterentwickeln. Nichtnur wird hierbei die später auch als schulisches Unterrichtsziel angestrebte Lernerautonomie und Indivi- dualisierung bereits im universitären Kontext erprobt und gelebt, auch Offenheit und Neugier fürunbekannte Sprachen werden gefördertund die Motivation erheblich gesteigert. Die Konstellation der Studentinnen und Studenten in mehrsprachigen Lern- und Expertengruppen hat somit Modellcharakterund antizipiertauf einer Metareflexionsebene mögliche Unterrichtsformen und -projekte im zukunfts- weisenden Bereich der Mehrsprachigkeit. Ausder Arbeit an den diversen The- menfeldernsollen im Modulauch sprachvergleichende Unterrichtsmaterialien entstehen, so dass eine unmittelbare Bezogenheit aufunterrichtspraktische Überlegungen gegebenist.82 Nichtwenige der mehrsprachigen Studentinnen und Studenten werden vonden in diesem Modulgemachten mehrsprachig- keitsdidaktischen Erfahrungen direkt in ihrem Praxissemester profitieren, wenn nichtsogar selbst konzipierte Lernmaterialien erproben und vor dem Hinter- grund der unmittelbaren schulpraktischenErfahrung und dem konkreten Be- darfbestimmter Lerngruppen fortentwickeln können. Dass hier das Forschende Lernen bereits eine tragende Rollespielt,83 indem das Prinzip des autonomen Lernens und die sprachliche Entdeckung aufder Basis der eigenen individuellen Mehrsprachigkeit in den Vordergrund rücken,84 kann als zusätzlicher Impuls für

81 Naturgemäß treten in der schulischen Realitätgleichwohl in viel höherem Maßeverschie- dene Sprachfamilien auf. Diesem Sachverhalt wird in der BonnerLehrerbildung im Rahmen der LehrveranstaltungenfürDeutsch als Fremd- und Zweitsprache zum sprachsensiblen UnterrichtRechnung getragen. Zu der in diesem Aufsatznichtzentral berücksichtigten migrationsgesellschaftlich bedingten Mehrsprachigkeitvgl.wiederum Hu,Fremdspra- chenunterrichtund Migrationsgesellschaft. 82 Erste kreativestudentische Ergebnisse ausdem Wintersemester 2014/15 schlagen sich nieder in mehrsprachigen Unterrichtsmaterialien zum Thema»Weihnachten«, »Nationale My- then«, »Religion in Romund Spanien«, »Die Welt der Tiere« u.v.m. Im Wintersemester 2015/ 16 entstanddie Bachelorarbeit vonAnne Giebisch unter dem Titel »Auf den Spuren der Römer in Spanien.Eine Untersuchung des landeskundlichen,interkulturellenund mehr- sprachigkeitsdidaktischen Ansatzes im modernen Fremdsprachenunterricht«. 83 Zum Konzept des ForschendenLernens in der BonnerLehrerbildung vgl. Roland Ißler /Uwe Küchler /Florian Radvan, Leitfaden zum Forschenden Lernen im Praxissemester des Master of Education, Bonn:AG Fachdidaktiken an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn /Bonner Zentrum fürLehrerbildung(BZL),2015. 84 Marcus Bärbeschreibt die »Schülerinnen und Schüler als Hypothesengenerierer und -tester in Bezug aufdas Funktionieren einer Fremdsprache«, die »im Unterricht[…] systematisch organisierte intra- und interlinguale Vergleichsprozesse [durchlaufen],die grundsätzlich Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt 135 die bevorstehende Herausforderung des Praxissemesters aufgefasst werden. Im Idealfallträgt eine gelungene Umsetzung des geplanten Moduls nichtnur auf neuartige und fortschrittliche Weise zum reflektierten mehrsprachigen Fremdsprachenunterrichtbei, sondern wird außerdem ebenso der humanisti- schen Verantwortung der doppelten, klassisch-romanischenFachkultur gerecht. Mit diesem zweifachen Anspruch sind diverse mehrsprachigeinterkulturelle Themenfelder umkreisende Beispiele entstanden, deren Bandbreite in der Folge exemplarisch aufgefächertwerden soll. Die umfangreiche Aufzählung impliziert natürlich, dass es im Modul stets einer Auswahl bedarf, beider nach Möglichkeit wiederum die jeweilige Lerngruppe mit ihren Fächerkombinationen und In- teressenschwerpunkten berücksichtigt werden sollte. Vordem Hintergrund der ausdrücklich angestrebtenwechselseitigen Ver- schränkung sprachvergleichender linguistischer Ansätze mit interkulturell an- regenden Inhalten der europäischen Gegenwartskultur und ihren kulturge- schichtlichen Voraussetzungen werden im Modul sinnvollerweise zunächst bereits vorliegendemehrsprachigkeitsdidaktische Materialien fürverschiedene Altersstufen und Spracherwerbsniveaus analysiert, erprobt und unter Berück- sichtigung verschiedener didaktischer Aspekte weiterentwickelt.85 Im Laufe der folgenden Semester wird aufdiese Weise ein vielseitiger Materialpool entstehen, der vonden späteren Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern nach Belieben und Bedarferweitertund im Unterrichteingesetztwerden kann. Die lerntheo- retisch fundierte und kreative Erstellung mehrsprachigkeitsdidaktischen Ar-

alle Bereiche der sprachlichen Architektur (Lexik, Morphosyntax, Syntax, …) betreffen (können)« (Bär, Einführung in die (romanische) Mehrsprachigkeitsdidaktik, S. 16). 85 Vgl. u.a. Ursula Behr (Hg.), Sprachen entdecken –Sprachen vergleichen. Kopiervorlagen zum sprachenübergreifenden Lernen Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, Latein, Berlin 2005;Dies. (Ltg.), Anregungen zum sprachenübergreifenden Lernen in der Sekun- darstufe I. Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, Latein, hg.v.Thüringer Institut für Lehrerfortbildung(ThILLM), Bad Berka 2006;Sonja Döll-Schmidt/Christina Gentzik (Hg.), Salve! Hello!Salut!Dreisprachiges Arbeitsheft, Jahrgangsstufe5,Darmstadt: Ludwig-Ge- orgs-Gymnasium, 2010;daran anknüpfend:Britta Hufeisen, Wiesich mehrsprachigkeits- didaktische Ideen in Lehrmaterialien umsetzen lassen –Vorstellung einiger konkreter Bei- spiele, in:Fremdsprachen Lehrenund Lernen 40, 2(2011), S. 106–119;Franz-Joseph Meißner,Aufgabenbeispiele im Bereichder Interkomprehensionsdidaktik, in:Andreas Müller-Hartmann /Marita Schocker-vonDitfurth (Hg.), Aufgabenorientierung im Fremd- sprachenunterricht. Task-Based Language Learning and Teaching, FestschriftfürMichael K. Legutke, Tübingen 2005, S. 83–98;Ursula Vences, Türen öffnen fürMehrsprachigkeit. Praktische Vorschläge fürden Spanischunterricht, in:HØl›ne Martinez /Marcus Reinfried (Hg.), Mehrsprachigkeitsdidaktik gestern, heute und morgen, FestschriftfürFranz-Joseph Meißner zum 60. Geburtstag,Tübingen 2006, S. 321–337. U. a. mit Sprachvergleichstabellen arbeitet auch die in Österreich entwickelteinterlinguale Lehrbuchserie »DØcouvrons le franÅais« /»Descubramos el espaÇol« /»Scopriamo l’italiano«(Michaela Rückl u.a., DØcouvrons le franÅais. Französisch interlingual, Wien 2013;Dies.,Descubramos el espaÇol. Spanisch interlingual, Wien 2012;Dies.,Scopriamo l’italiano.Italienisch interlingual, Wien 2012). 136 Roland Ißler beitsmaterials gehört noch immer zu den erklärten Desideratender Mehr- sprachigkeitsforschung. Aufder Basis voneurolinguistischen und interkomprehensionstheoretischen Modellen fürden mehrsprachigkeitsorientierten Unterrichtkonzipierte Ar- beitsmaterialien gehen oftmals (wenn auch didaktisch nichtinjedem Fall uneingeschränkt zweckmäßig,mitunter wenig authentisch und ohne lebens- weltlichen Kontext) vonsynoptischen Wortlisten und Lexemtabellenmit mehrsprachigen Spalten aus, in denen zum Beispiel Zahlwörter und Buchsta- bieralphabete,Eigennamen,Grußformeln, Personaldaten u.a. in mehrsprachi- gen Tabellennebeneinandergestellt und unter verschiedenen linguistischen Gesichtspunkten,etwa der Lexik und Wortbildung, miteinander verglichen werden. Die im Folgenden versammeltenAbbildungenaus diesem Kontext zeigen ausgewählte aktuelle Beispielaufgaben ausinterlingualen und mehr- sprachigkeitsorientierten Lehrwerken, hier zu den ThemenfeldernUhr (Uhr- zeiten), Schule (Stundenpläne mit Ordnungszahlenund Bezeichnungen der Schulfächer), Haus (Wohnräume),Identitätund Vorstellung (Personaldaten).

6 ¿Qué hora es? Escribe las expresiones adecuadas en español.

Español Français Italiano Quelle heure est-il ? Il est une heure. È l’una.

Il est neuf heures moins dix. Il est midi. È mezzogiorno. Il est minuit.

Il est huit heures du soir.oir

Abb. 1: »¿QuØ hora es?«, aus: Michaela Rückl u.a.,Descubramos el espaÇol. Spanisch inter- lingual, Lehr-und Arbeitsbuch mit interaktiver Übungs-CD-ROM, Wien 2012, S. 62.

Internationalismen, sogenannte Interlexeme, und deren morphologische Be- sonderheiten (Affixe, Substantivierungen, Konjugationen) können so er- schlossen und dabei auch ihre Wortstämme in Fremdwörternder Muttersprache erklärt werden. Auch fachterminologischem Vokabular lateinisch-griechischen Ursprungs, etwa ausMedizin, Natur-und Rechtswissenschaften, lassen sich Regel- und Gesetzmäßigkeiten entnehmen,die sich beiunreflektiertem Ge- brauch nichtimmer unmittelbar erschließen. Um hier der Gefahr der Gleich- förmigkeit und des Schematismus entgegenzuwirken, können die Entwicklung Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt 137

Tabula scholarum — Emploi du temps

Schola Dies Lunae Dies Martis Dies Mercurii Dies Jovis Dies Veneris

prima Lingua Artes Lingua Graeca Lingua Mathematica Germanica figurativae Germanica secunda Lingua Artes Lingua Graeca Lingua Latina Mathematica Germanica figurativae tertia Mathematica Historia Chemia Lingua Latina Lingua Germanica quarta Mathematica Geographia Chemia Historia Lingua Latina quinta Mathematica Musica Historia sexta Lingua Graeca Musica Geographia septima Intervallum octava Lingua Latina nona Lingua Latina

Lingua J’aime Germanica l’allemand, mais placet et je n’aime pas la Geographia non géographie. placet!

Classe Lundi Mardi Mercredi Jeudi Vendredi

première allemand arts plastiques grec allemand maths deuxième allemand arts plastiques grec latin maths troisième maths histoire chimie latin allemand quatrième maths géographie chimie histoire latin cinquième maths musique histoire sixième grec musique géographie septième Récréation huitième latin neuvième latin

Und jetzt erzählst du dem lustigen Vogel auf Lateinisch und Französisch, welches Fach du am liebsten hast und welches du gar nicht magst. Die Pausen darfst du gerne einbeziehen. Abb. 2: »Tabula scholarum –Emploi du temps«, aus: SonjaDöll-Schmidt/Christina Gentzik (Hg.), Salve!Hello!Salut!Dreisprachiges Arbeitsheft, Jahrgangsstufe 5, Darmstadt:Ludwig- Georgs-Gymnasium,2010, S. 19. 138 Roland Ißler

Abb. 3: »Wörter ausromanischen Sprachen erschließen«, aus: Ursula Behr (Hg.), Sprachen entdecken –Sprachen vergleichen. Kopiervorlagen zum sprachenübergreifenden Lernen Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, Latein, Berlin 2005, S. 48. und Gestaltung mehrsprachiger Bildwörterbuchseiten angesteuertund weiter- führende, aufHypothesenbildung zielende Aufgabentypen konzipiertund dis- kutiertwerden.86 Ein zentrales Anliegen des Bonner Mehrsprachigkeitsmoduls ist die Bil- dungsrelevanz der ausgewählten Inhalte. Mit der plurilingualen Erfahrung soll auch kulturelle Bildung einhergehen, wiedie folgenden Schwerpunkte illus- trieren mögen. So ist ausder eurolinguistischen Forschung als thematisches Feld

86 Plurilinguale Bildwörterbücher eignen sich ohnehin gut fürdie Erarbeitungvon Wortfeldern im mehrsprachigkeitsorientierten Unterricht,vgl.etwa Jean-Claude Corbeil /Ariane Ar- chambault, PONS Bildwörterbuch Deutsch-Englisch-Französisch-Spanisch-Italienisch, Stuttgartu.a.2003. Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt 139

Abb. 4: »Personal-Daten«, aus: Werner Nagel, Latein und romanische Sprachen. Ihre Vernet- zung in Unterrichtseinheiten, Bamberg 2003, S. 31. fürein Mehrsprachigkeitscurriculum u.a. die diachrone Betrachtung der in- ternationalen Verkehrs- bzw.Weltsprachen abzuleiten, verbunden mit Fragen der Sprachhierarchie und Rangfolge vonSprachen im internationalen Fremd- sprachenunterricht87 und der erwähnten Mehrsprachigkeitsforderung der EU. Die vielbeschworene lingua franca-Rolle des heutigen Englischen wäre im

87 Vgl. Brigitta Busch, Mehrsprachigkeit, Wien 2013, S. 107. 140 Roland Ißler

Kontext der historischen Fach- und Weltsprachen vom Griechischen in der Antike und Lateinischen als Gelehrtensprache bis ins 18. Jahrhundert überdas Französische als Diplomatensprache und das Spanische als Kolonialsprache bis hin beispielsweisezum Italienischen als Universalsprache der Musik und des Bankwesenszurelativieren. WieLatein als Brückezuden romanischen Sprachen gilt, so kann das Französischeals interromanische Brückensprache dienen. Solche Fragen können in der Lehrerbildung ebenso wieimbildungsorientierten Mehrsprachigkeitsunterrichtreflektiertund an authentischen Textprobendis- kutiertwerden.88 Mit dem Feld der literarischen Texte, der Rhetorik und Philosophie vonder griechisch-römischen Antike überdie romanischen Kulturen bis hin zu ihrem Fortleben in den aktuellen Gegenwartssprachen stehtein schier unerschöpfli- cher Fundus zur Verfügung,indem mehrsprachige Wechselbezüge bereits an- gelegtund in großer Zahl vorhanden sind. Mit der Verwendung authentischer Literatur unterschiedlicher sprachlicherund historischer Provenienz im Sinne einer bewussten Inhaltsorientierung verbindet sich ein durchaus anspruchs- volles Ziel,das jedoch nichtvon vorneherein gemiedenwerden sollte, wiees inzwischen viel zu oft geschieht. Eine gute Textauswahl,die zum kommunika- tivenAustausch herausfordert, trägt zur Persönlichkeitsbildung beiund schafft zudem individuelle Lernbezüge, indem sie an vorhandene Kenntnisse sprach- licher Phänomene intentional anknüpft. Als denkbareBeispiele genanntseien literarische Gattungen wieFabeln und Liebesdichtung,Briefe, Chansons und Songtexte internationaler Künstler,Tra- gödien und Opernimmehrsprachigen Szenenvergleich, zumal beiweltliterari- schen Werken zumeist Übertragungen in mehrereSprachen vorliegen. In die- sem Zusammenhang untersuchtund diskutiertwerden könnten auch Übertragungen durch verkürzte oder gegenüberdem Original modifizierte Obertitel bzw.Untertitel beiBühnenmitschnitten und Verfilmungen, außerdem Musicals und Filmemit mehrsprachigen Untertiteln und synchronisierten Au- diospuren mit und ohne Bild;und schließlich bietetdas komplexeund fürdie Lehrerbildung erst annähernd erschlossene Gebiet der Kinder-und Jugendli- teratur ein ergiebiges Untersuchungsfeld.89 Selbst philosophische Strömungen der Antike –Pythagoras und Platon, Aristotelesund die Scholastik, Seneca, MarcAurel und der Stoizismus, Epikureismus und Zynismus–und ihre Re-

88 Vgl. Grzega, Europas Sprachen im Wandel der Zeit;Bodmer,Die Sprachen der Welt, Kap. »Das lateinische Erbe« und »Heutige Nachkommen des Lateins«; WilfriedStroh,Latein ist tot, es lebeLatein!Kleine Geschichte einer großen Sprache, Berlin 2007;Horst G. Klein, Das Französische:die optimale Brückezum Leseverstehen romanischer Sprachen, S. 34–46. 89 Insbesonderefürdie romanische Kinder-und Jugendliteratur vgl. zuletzt Ludger Scherer / Roland Ißler (Hg.), Kinder-und Jugendliteratur der Romania. Impulse fürein neues ro- manistisches Forschungsfeld, Frankfurta.M. 2014. Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt 141 zeption in der europäischen Kulturgeschichte bieten sich im Rahmen von Mehrsprachigkeitsüberlegungen an, weil sie in alle Sprachen ausgestrahlt und vielerorts Spuren hinterlassenhaben.90 Durch die Verwendung ausgewählter aphoristischer Kurztexte und deren Rückbindung an persönliche Erfahrungs- werte der Lerngruppe lassen sich hier Voraussetzungsreichtum und Komplexität durchaus minimieren. Angesichts des im Fremdsprachenunterrichtetablierten erweiterten Text- begriffs91 bieten sich auch Textvergleiche ausder Werbesprache an, die aufder Grundlage mehrerer Sprachen durch spielerischen Umgang untersuchtund fortentwickelt werden können. Die rhetorische Verwendung vonStilfiguren zu erkunden und selbst kreativmit ihnen zu arbeiten, muss nichtzwangsläufig mit kanonisierter Höhenkammliteratur einhergehen: Werbetexte sind in allen Sprachen oft mit einfachen alltagssprachlichen Mitteln und dennoch komplex und raffiniertkonstruiertund eignen sich mithin hervorragend fürmehrspra- chigkeitsorientierte Betrachtungen. Nichtselten greiftgerade die Werbung sogar die Präsenz der Mehrsprachigkeit aufund machtsie sich subtil zunutze.92 MehrsprachigeBeispiele ausSchlagzeilen des Feuilletons, Reden, plurimediale Werbung,Dichtung etc. können so in hohem Maßezulanguage awareness und sprachlicherSensibilitätbeitragen. Zu den fürden europäischen Raum kulturgeschichtlich höchst bedeutsamen Themenfelderngehörenauch religiöse Textzeugnisse;seit der Christianisierung Europas liegen sie in unzähligen lateinischenund später volkssprachlichen Fassungen der Spätantike und des Mittelalters vor.Zunennen wären hier bi- blische Texte, zum Beispiel Geschichten und Episoden, Gleichnisse oder die großen Mehrsprachigkeitserzählungen des Alten Testaments vomTurmbauzu Babel und ihrer neutestamentarischen Entsprechung vom Pfingstwunder,93

90 Derlei Fragen spielen immer wieder auch in der Gegenwartsliteratur eine nichtunbedeu- tende Rolle, und man mussnichteinmal philosophieaffine Autoren wieUmberto Eco oder Roberto Calasso bemühen, um dies zu belegen. So stellt etwa FranÅois Lelord in seinem Roman »Hector und das Wunder der Freundschaft« (2010), um nur ein Beispiel zu nennen, philosophische Gedanken vonAristoteles und Thomas vonAquin zur Freundschaft in einen lebensweltlichen Kontext. 91 Vgl. Kernlehrplan Französisch,S.15; Kernlehrplan Spanisch, S. 14;Kernlehrplan Italie- nisch, S. 15. 92 Solche Beispiele zitiertetwa AlbertRaasch, Englisch?Oder Französisch?Oder »auch« Französisch?oder Mehrsprachigkeit?Und die Frankophonie?, in:Zielsprache Französisch 30 (1998): »The pastis nØ in the countryofthe calanques«,S.114, bzw.»The pastis nØ in the countryofthe mistral«,S.115. 93 Eine synoptische Textprobe des Berichts vom Pfingstwunder in lateinischer und elf roma- nischen Sprachen findet sich etwa bei Rainer Schlösser,Die romanischen Sprachen, Mün- chen 2001, S. 123–125. Zur ›Babel‹-Figur in der Literaturvgl.aktuell K. Alfons Knauth, La Tour de Babel comme figure rØversible:ruine et chantier du multilinguisme, in:Ders. /Hans- 142 Roland Ißler ferner liturgische Gesänge oder Messtexte,gegebenenfalls mit klassischen Ver- tonungen, das apostolische und nizäanische Glaubensbekenntnis in verschie- denen Sprachen, Heiligenlegenden, etwa der Heilige Martinvon Tours, woran sich wiederum interkulturelle Fragen der europäischen Festkultur und des Brauchtums anschließen können, und saisonal passendzum Wintersemester auch mehrsprachige Weihnachtslieder.94 Reichhaltiges Material fürmehrsprachigkeitsbasierte Untersuchungen bieten auch Satiren, Witze und Karikaturen mit Analysenvon Spott und Humor im Kulturvergleich, mehrsprachige Horoskopeaus internationalen Zeitungen,an- tike und moderne Beschreibungenvon Naturkatastrophen (Vulkanausbrüchen, Sonnenfinsternissen und Überschwemmungen),95 geographische und astrono- mische Karten, Nationalstereotypeund Sprachenklischees in historischer Di- mension und im aktuellen Vergleich, Nationalhymnen und die Europahymne, Redewendungen mit antikenElementen in den romanischen Alltagssprachen der Gegenwart, mehrsprachige Sprichwörter und Merkverse. Aufmehrsprachiger Basiskönnte ferner die Universitäts- und Bildungsge- schichte vonden platonischen Akademien in Athen,imHumanismusund der Neuzeit überdie Septem Artes Liberales und die Artistenfakultätbis hin zum Magister Artium, Bachelor of Arts und Master of Education im Kontext der europäischen Schul- und Bildungssysteme vonbesonderem autoreflexivemIn- teresse sein, ferner der Fremdsprachenunterrichtinseiner historischen Di- mension, zum Beispiel mehrsprachige Lehrwerkedes 16. oder 17. Jahrhun- derts.96 Anregend können auch die Idee des Museums in Geschichte und

Georg Grüning (Hg.), ImaginaireetidØologie du plurilinguisme littØraireetnumØrique. Immaginario eideologia del plurilinguismo letterario edigitale, Münster 2014, S. 115–137. 94 Der Entstehungsgeschichte des Weihnachtsliedes »Stille Nacht, heilige Nacht« nachzugehen, das in einer Vielzahl vonSprachen weltweit Verbreitunggefunden hat (z.B. »Douce Nuit, Sainte Nuit«; »Noche de Paz«; »Astro del Ciel«; »Alma nox« u.v.m.), ist nureines vonvielen Beispielen interkulturellerund zugleich bildungsorientierter Inhalte. Zugleich könnte man in diesem Zusammenhang nach dem Einflussfremdsprachigerbzw.speziell romanischer Weihnachtslieder in der deutschen Festkultur fragen. Im Kontext des Fremdsprachenun- terrichts können Weihnachtslieder in der Adventszeit auch mit Schülernmehrsprachig ge- sungen und möglicherweise sogar anderen Lerngruppenpräsentiertwerden. 95 Werner Nagel parallelisiertbeispielsweise Ovids Sintflutbeschreibung (Ov.met. 1,291–312) mit Artikeln zu einer Flutkatastrophe in Mosambik ausder italienischen, spanischen, französischen und portugiesischen Presse oder die Beschreibung einer Sonnenfinsternis von Cicero (rep.1,25) mit Berichten verschiedensprachiger Tageszeitungen (vgl. Nagel, Latein und romanische Sprachen, S. 122–139 bzw.140–149;Ders.,Latinitas Fons, S. 101–112 bzw.112–121, »Sachfeld Katastrophe«). 96 Dass Mehrsprachigkeit auch im Fremdsprachenunterricht nichteine Erfindung unserer Zeit ist, zeigt eindrücklich zum Beispiel das Lehrbuch »Tyrocinium Gallicum, Italicum et Ger- manicum« vonJuan Angel de Sumaran (München 1617). Zweisprachige Ansätze fürden Lateinunterricht bietet beispielsweise auch AmosComenius’ »Orbis sensualium pictus« im Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt 143

Gegenwart, Formen des Kulturtransfers und der Translatiostudii et imperii sein, aber auch die politikgeschichtliche Auseinandersetzung mit teilweise bis heute charakteristischen europäischen Staatsformen wieder griechischenDemokra- tie, dem römischen Imperium,der französischen und spanischen Monarchie, der italienischen Stadtrepublik, dem italienischen Faschismus und seinem Rückgriff aufdie römische Antike,der Französischen Revolution und der Ent- stehung der modernen Demokratien, was mit vorbildhaften oder umstrittenen historischen oder zeitgenössischen Herrscherfiguren wieAlexander dem Gro- ßen, Caesar,Karl dem Großen, Karl V. ,Napoleon, Mussolini, Francou.a.ein- hergehen kann. In diesem Zusammenhang könnten Imperium bzw. Empire als politische und kunstgeschichtliche Begriffe vordem Hintergrund nationaler und supranationalerPerspektiven untersuchtwerden. Beialledem kann selbstverständlich keine geschichtswissenschaftlicheExaktheit angestrebt wer- den, sondern sollte die Erkenntnis im Zentrumstehen, dass sich bis in die Gegenwartnachwirkende Gesellschaftsentwürfeansatzweise den einzelnen Kulturnationen zuordnen lassen, die bis heute durch die gängigen Schulspra- chen repräsentiertsind. Ausgehend davonkann der Frage nachgegangen wer- den, wiedie entsprechenden Staaten und Europa heutemit ihrem Erbeumge- hen. Schließlich sind diverse Erinnerungsorte Europas als Ziel imaginärer Bil- dungsreisen zu entdecken:97 Aktuelle Reiseberichte und Touristenführer,dar- unter auch Sprachführer,decken allenthalben Spuren der Antike in romanischen Städten und Bauwerken auf;98 daneben könnte auch Arkadien als wirkmächtige geistige Landschaftsprachenübergreifend in ausgewählten Textzeugnissen er- forschtwerden. Nichtzuletzt bergen Architektur und Kunstgeschichte eine Reihe vonWerken, die wiederum mit literarischen Texten korrespondieren oder kulturhistorische Entwicklungen spiegeln99 und sich so zum Beispiel fürden mehrsprachigen Vergleich ikonographischer und literarischer Symbole, Meta- phernund Attribute eignen. Fürsolche die Gedächtniskultur betreffende The-

17. Jahrhundert. Die genannten Beispiele sind füralle hier behandelten Sprachen leichtzu erweitern. 97 Vgl. dazu u.a. die Unterrichtsreihenvorschläge vonDaniel Reimann, Erinnerungsorte im Unterrichtder romanischen Sprachen:transkulturelle kommunikative Kompetenz und europäische Identität, in:Ders.,Transkulturelle kommunikative Kompetenz in den roma- nischen Sprachen. Theorie und Praxis eines neokommunikativenund kulturell bildenden Französisch-, Spanisch-, Italienisch- und Portugiesischunterrichts, Stuttgart2014, S. 547–582;Ders.,Luoghi della memoria im Italienischunterricht. Ein kulturwissenschaft- liches Konzept und sein fremdsprachendidaktischesPotential im Hinblick auftranskultu- relle kommunikative Kompetenz und europäische Identitätsbildung, ebd.,S.583–610. 98 Vgl. wiederum Guthier,Mit Latein unterwegs in Frankreich und Italien. 99 Als prägnantes Beispiel sei nur die Statueder Nike vonSamothrakeerwähnt, die im italie- nischen Futurismus als Inbegriff verachtenswerter Rückwärtsgewandtheit herhalten musste. 144 Roland Ißler menfelder eignen sich besonders kommunikative Aufgabentypen der mehr- sprachigen Sprachmittlung,bei denen Schülerinnen und Schüler Inhalte sinn- gemäß auseiner dritten oder vierten in die Zielfremdsprache übertragen.100 Natürlich sind auch mehrsprachigeMischtexte zu entdecken, an die sich alle diejenigennichtherantrauen, die sich ihnen nurinder Perspektiveeiner ein- zigen Sprache nähern. Undneben der sogenannten makkaronischen Dichtung und dem Feld des Küchenlateins könnten auch Übertragungen literarischer Kurztexte oder Sach- und Gebrauchstexte, etwa mehrsprachigeBedienungsan- leitungen technischer Geräte, mehrsprachig bedruckte Kosmetik- oder Le- bensmittelverpackungen sowieKochrezepte im nationalen oder historischen Vergleich in Vorbereitung aufden mehrsprachigkeitsorientierten Fremdspra- chenunterrichtzum Einsatz kommen.101 Nebengeistesgeschichtlichen Ent- wicklungen könnten Kanonisierungsfragen im internationalen Vergleich diskutiertwerden, wodurch sich wiederum Anknüpfungen an fachwissen- schaftliche Forschungsprojekte und Gastdozenturen europäischer Partneruni- versitäten Bonns ergeben.102 Im Sinne des doppelten didaktischen Anspruchs einer bildungsorientierten Mehrsprachigkeit stehen Themenkreise im Vordergrund, die sich einerseitsfür mehrsprachigkeitszentrierte linguistische Entdeckungen eignen, andererseits aber nach Möglichkeit gleichsam en passant europäische Bildungsinhalte transportieren.103 Ein hierfürbesonders geeignetes Themenfeld bilden die an- tike Mythologie und die moderne Mythenrezeption.104 Die enorme Verbreitung

100 Vgl.beispielsweise Frank Schöpp,Kommunikativstark –Sprachmittlung Italienisch. 33 Aufgaben, Niveau A1-B1, Stuttgart2013, S. 43. Hier sollen Informationen über das Museo Dalí im katalanischen Figueres überdie Brückensprache Italienisch mündlich ins Deutsche (oder Englische) übermitteltwerden. 101 Zu Sprachvergleichen anhand vonzweisprachigen Lebensmittelverpackungenvgl.zum Beispiel Roland Ißler,Universitäre Lehrerbildung im Fach Französisch:Aufgaben, Struktur und Entwicklung. Mit Bemerkungen zum fremdsprachendidaktischen Potential der dia- chronen Sprachwissenschaft, in:Kristina Bedijs /Karoline Heyder (Hg.), Linguistische Kompetenzen zuku¨nftiger Französischlehrer.Perspektiven fu¨rdie Hochschuldidaktik, Saarbrücken 2016 (Saarbrücker Schriften zu Linguistik und Fachdidaktik, im Druck), S. 15–68. 102 Vgl.hierzu insbes. das Forschungsnetzwerk »Europäische Kulturen –europäische Identi- tät« der Bonner Romanistik mit den Universitäten ParisIV-Sorbonne, Florenz, Warschau, Toulouse, St Andrews, Salamanca und Fribourg; vgl. http://www.europaeische-kulturen. uni-bonn.de [21.05.15]. 103 Exemplarische Anregungen neben Nagel, Latein und romanische Sprachen, bieten auch: Friedrich Maier,»In unserem gemeinsamen Haus…«. Bausteine Europas, München / Düsseldorf /Stuttgart2005;Dorothea Klein /Lutz Käppel(Hg.), Das diskursiveErbe Europas. Antike und Antikerezeption,Frankfurta.M. 2008. 104 Zur Aktualitätmythischer Konzepte in der Gegenwartvgl.zum Beispiel Stephanie Wodi- anka/Juliane Ebert(Hg.), Metzler Lexikon moderner Mythen, Stuttgart/Weimar 2014, das eine Vielzahl vonOrten, Ereignissen und Figurender Moderne in ihren je mythischen Deutungsspektra vorstellt. Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt 145 und andauernde Aktualitätvon Mythen des griechischen und römischen Al- tertums in kunst- und alltagssprachlichem Gebrauch aller späteren Epochen stehtineklatantem Gegensatz zu den heute allgemein vorhandenen Kenntnissen mythologischer Zusammenhänge. Ein profunder Wissenserwerb in diesem Bereich ist insofern nichtnur vonhoher Bildungsrelevanz, er bringtauch Licht in bis heute gültige Redewendungen:Nur wenige Stichwörter wie›Argusaugen‹, ›Herkules-‹oder ›Sisyphosarbeit‹, ›reich wieKrösus‹, ›Achillesferse‹, ›Janus- kopf‹, ›Jovialität‹, ›Kassandrarufe‹, ›Damoklesschwert‹, ›Prokrustesbett‹ und ›Phönix ausder Asche‹ mögen dies illustrieren –fürsie alle finden sich neben den griechischenund römischen Quellen reichhaltige Belege in den romani- schen Kulturen bis in das journalistische Schreiben der Gegenwart.105 Mytho- logischer Eigennamen und Zusammenhänge bedienen sich mit Vorliebe auch Werbung und Produktentwicklung beider Bezeichnung vonWaren und Marken. Vokabeln wiespan. anfitrión (Gastgeber) oder frz. cØrØales (Getreide, Müsli) bzw.span. cerveza (Bier), abgeleitet vom thebanischen Feldherrn Amphitryon bzw.von der römischen Ackerbaugöttin Ceres, lassen sich angesichts mytho- logischer Kontextualisierung umso effektiver im mentalen Lexikon verankern. Zum Sprachenvergleich tritt so gleichsam eine zusätzliche, kulturgeschichtliche Dimension hinzu,106 aufderen Basis die kulturelle VielfaltimFremdsprachen- unterrichtauf anregende Weise in Erscheinung treten und gepflegtwerden kann. Im Rahmen eines aufMehrsprachigkeit ausgerichteten Fremdsprachenunter- richts könnte so das Bewusstsein fürantikeMythen und ihre internationalen und überzeitlichen Anschlusspotentiale systematisch geschärftund damit ein wichtiger Beitrag zu einer umfassenden Bildung geleistet werden. Fürden Be- reich der Antikenrezeption bietet die Bonner Abteilung fürKlassische Philologie sogar eigens die Bachelorstudiengänge »Griechische Literatur und ihr Fortle- ben« und »Lateinische Literatur und ihr Fortleben« sowieden Masterstudien- gang »Griechischeund Lateinische Literatur und ihr Fortleben« an, in denen die antike Kultur in einen europäischen Kontext gestellt wird. So ist in der Lehrer- bildung ein vernetztes Arbeiten auch überdie Grenzen der Lehramtsstudien- gänge hinweg leichtmöglich;ander UniversitätBonnbestehen zudem gute

105 Zur kulturellen Dimensionder Mythen und ihrer Präsenz in der Alltagssprache vgl. z.B. Luc Ferry, Lebenlernen:Die Weisheit der Mythen, ausdem Französischen vonLis Künzli, München 2009 [Orig.: La Sagesse des mythes. Apprendre à vivre2,Paris 2008],S.15–19. 106 Möglichkeiten der Behandlung kulturgeschichtlichen Wissens im Lateinunterrichtlotet z.B. ReinhardBodeaus:Kulturgeschichte, Archäologie und Bilder im Lateinunterricht. Kulturgeschichtliches Wissen im Lateinunterricht,in: Friedrich Maier/Klaus Westphalen (Hg.), Lateinischer Sprachunterrichtauf neuen Grundlagen II. Innovationen in der Praxis, Bamberg 2008, S. 72–103; viele Beispiele bieten Anknüpfungspotential fürden neu- sprachlichen Unterricht. 146 Roland Ißler

Voraussetzungen füreinen inhaltlichen Austausch mit Nicht-Lehramtsstudie- renden des Instituts. Nichtzuletzt,doch um den Kreiszuschließen,gehört auch dieErklärungder Menschenrechteinden Reigen möglicher Inhalteeines bildungsorientierten Mehrsprachencurriculums –vieldiskutiert aufder weltpolitischenBühne,werden dieMenschenrechte im Dialog mitRussland, China, Nordkorea, afrikanischen undvielenweiterenStaaten allenthalben eingefordert, ihrWortlaut istdagegen kaum bekannt.Einemehrsprachige Unterrichtssequenzkönnte dieseund viele andere Wissenslücken sowohl im universitärenals auch im schulischenKontext schließen. DieBeschäftigungmit Themenfeldern wieden genanntenauf mehr- sprachiger Basisfördertdie Sprachlernbewusstheit undMultiliteralitätbei gleichzeitiger Achtungdes Bildungswertsder ausgewähltenInhalte.

5. »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.«107 –Zum Gewinn der philologischen Fachkulturen für die romanischenFremdsprachendidaktiken

Mehrsprachigkeit ist ein bedeutendes kommunikatives Ziel im Dienste der kulturellen Vielfalt in Europa, die sie spiegelt und ausstrahlt. Anzustreben ist sie daher nichtallein im Sinne ihres funktionalen Nutzens, beidem die Verstän- digung pragmatischen, oftmals ökonomischen Interessen folgt, sondernauch um ihres Bildungswerts willen, der mit den einzelnen Sprachen untrennbar verbunden ist und dessen Früchte der Einzelne ebenso wiedie Gesellschaft davonträgt.Vor diesem Hintergrund gehtgerade mit der Lehrerbildung eine humanistische Schuldigkeit den folgenden Generationen gegenübereinher,die sich füruns als Lehrende auch als Verpflichtung gegenüberder Tradition der PhilosophischenFakultät äußert. Hieraus beziehtdie universitäre Lehrerbildung insgesamt ihre raison d’Þtre:Als humanistisches Korrektiv tritt sie –mit langem Atem –neben stets notwendigerweise aufbedeutend kürzere Zeitintervalle angelegte bildungspolitische Zielsetzungen. Unsere Gesellschaftdürstet –wie übrigens jede vor ihr –nach selbständigen, kritischen Geistern. Eigenständige, gestärkte Persönlichkeiten herauszubilden und sie menschlich aufdas Lebenvorzubereiten, ist nach wievor wesentlich Aufgabeder Universitäten. Speziellauf der Philosophischen Fakultätlastet hier eine besondereVerantwortung,tragen doch die vonihr vermittelten Fachkul- turen dezidierter als die mancher anderer Fakultätzueiner profunden Per- sönlichkeitsbildung bei. In deren Dienste stehtdie romanistische Fachwissen-

107 Wittgenstein, Ludwig,Tractatus logico-philosophicus, in:Ders.,Schriften, Frankfurta.M. 1960,S.7–83, Satz 5.6, S. 64. Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt 147 schaftseit ihrer GeburtsstundeinBonn; in ihrem Dienste sollte auch die Leh- rerbildung stehen. Dass die Lehrerbildung an der UniversitätBonnneben der Gesamtschule speziell aufdie Schulformdes Gymnasiums zielt, rechtfertigt hier umso mehr eine aufgewertete Bildungsorientierung in der Lehrerbildung.Fremdsprachen sind als »zentrales Elementder Bildung«108 besonders geeignet, selbst Bil- dungsinhalte zu transportieren –u.a.vor diesem Hintergrund wurde der bi- linguale Sachfachunterrichtgeschaffen. Zumal in Bonn, wo die Lehrerbildung nach reformiertem Modell nach zwei Jahrhunderten zum zweiten Mal völlig neu ersteht, bietet sich im 21. Jahrhundertdie Aussicht, hilfreiche Erkenntnisse der Mehrsprachigkeitsdidaktik fürdie Lehrerbildung zukunftsweisend nutzbar zu machen und im Rahmen des Master of Education umzusetzen. Damit wird überdies einer rekurrenten Forderung der Forschung nach Aufnahme mehr- sprachiger Module in die Sprachlehrerausbildung entsprochen. Da die Mehrsprachigkeitsdidaktik –sehr zu Unrechtund unter starken Rei- bungsverlusten –die alten Sprachen in der Regel ungenutzt lässt oder sogar exkludiert, ist der hier vorgestellte Ansatz insofern innovativ, als er die roma- nische Mehrsprachigkeit mit dem Bildungshorizontder klassischenSprachen zusammendenkt. Dieser Anspruch korrespondiertnichtnur außerordentlich gut mit den institutionellen Voraussetzungen der Klassischen und Romanischen Philologie, er passt zudem ausgezeichnet zum Leitbild der UniversitätBonn, die sich als »traditionell modern« verstanden wissen will.109

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108 BMBF, Sprachenlernen fördern: Zehn Thesen, S. 1. 109 Mit dem Leitspruch »Traditionell modern« eröffnet die UniversitätBonn ihreaktuelle Webpräsentation:»Tradition und Modernität–das sind in Bonn keine Gegensätze. Hier forschtund lernt es sich schonseit zwei Jahrhunderten besonders gut:Weltweit anerkannte Spitzenforschung und ein historisches Ambiente prägen das Bild der Bonner Universität, die 1818 vonKönig Friedrich-Wilhelm III. vonPreußen gegründet wurde. Mit fast 32.000 Studierenden, 550 Professoren und 5.500 Beschäftigten ist sie heute eine moderne For- schungsuniversitätmit internationaler Strahlkraft.« (http://www3.uni-bonn.de/die-uni versitaet [21.05.15]). 148 Roland Ißler

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Grundpositionen zur Ausbildung von Deutschlehrerinnen und -lehrern am Zentrum für schulpraktische LehrerausbildungBonn

Wenn alle an der Einführung des Praxissemesters in Bonn Beteiligten –die Institutionen ebenso wiedie Einzelpersonen –die Bedeutung eines stetigen Dialogs betonen, ist es an der Zeit zu überlegen, aufwelcher Grundlage dieser Dialog mit Blick aufdie zukünftigen Deutschlehrerinnen und -lehrer geführt wird.Denn nur, wenn die beiderseitigen Erwartungen und Zielvorstellungen ebenso wiedie Ressourcen offengelegtwerden, wenn sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen der universitärenLehrerbildung einerseits und dem Referendariat andererseits ausgelotet werden, kann dieser Dialoggelingen. Diese Überlegungen mögen nach dem ersten Durchgang durch das Praxisse- mester bereits ›Schnee vongestern‹ sein und schon deswegen ihre Bedeutung verlieren, weil sie ganz ähnlich auch in den anderen Fächerndiskutiertwerden; fürdie augenblickliche Unsicherheit,1 welchen Part die beiden Institutionen genauund im Detail in der praktischen Ausgestaltung des Praxissemesters denn nun übernehmen werden, hat eine derartige eher allgemeine Standortbestim- mung aber immerhin eine temporärbegrenzte Bedeutung aufdem Wegzu einem fachdidaktischen DialogzufachspezifischenEinzelthemen.

Zur fachwissenschaftlichen Lehrerbildung an der Universität

Wenn Deutschfachleiterinnen und -fachleiter beieinem neuen Jahrgang frisch gebackener Referendarinnen und Referendaredarübernachdenken, was sie denn vonden Absolventinnen und Absolventen erwarten oder glaubenerwarten zu können, sind sie sich ihrer Schnittstellenfunktion zwischen dem fachlichen Lernen der Studierenden der Germanistik einerseits und dem Lernen der Schülerinnen und Schüler andererseits, wiesie in den Kernlehrplänen fürdie beiden Sekundarstufen in knapper Form als verbindliche Kompetenzerwar-

1Zum Zeitpunktdes diesem Beitrag zugrundeliegenden Vortrags lagen in Bonnnoch keine Erfahrungen zum Praxissemester vor. 156 Ursula Jünger tungen gebündelt sind,2 sehr bewusst. Diese verbindlichen Vorgaben spielen eine bedeutende Rolle im Referendariat,dasie etwa 75 %, in der Lebenswirk- lichkeit oft einen noch größeren Anteil der Unterrichtszeit einnehmen, und werden am Zentrum fürschulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL) häufig als Gegensatz zur universitären Freiheit wahrgenommen, wiezwei kleine Bege- benheiten mit Deutschreferendarinnen zeigen: Die eine Referendarin möchte wissen, welche Bedeutung denn ihren Studi- enschwerpunkten –mittelalterliche Literatur und interkulturelles Lernen –im täglichen Deutschunterrichtzukommt, und ist erstauntzuhören, dass beide Themen sich zumindest nichtdirekt in den Kernlehrplänen finden und im ersten Fall keine Rolle in der Praxis des Deutschunterrichts spielt, während das zweite Thema zwar in klassische Unterrichtsvorhaben wieetwa Märchen und Sagen integriertwerden kann, insgesamt aber eher ein Nischendasein im Deutschunterrichtführt. Eine andere Referendarin berichtet vonihren inter- essanten fachdidaktischen Veranstaltungen zur Filmanalyse an der Universität, siehtimAugenblick aber noch nicht, wo und wiesie ihre Expertise in diesem Bereich in die vorgefundene Unterrichtswirklichkeit integrieren kann, empfin- det ihre fachdidaktischen Kenntnisse als ›viel zu speziell‹. Es wäre allerdings eine absurdeSchlussfolgerung, wenn dieDeutschfachleite- rinnenund -fachleiteroderdie Studierenden erwarteten,dassetwadie Obligatorik desZentralabiturs unmittelbar Eingangfände insVorlesungsverzeichnis, unter anderemdeswegen, weil dieseObligatorik regelmäßig wechselt und damit Schmalspur-Deutschlehrerausgebildet würden,die nichthinreichend über den Tellerrandihrer Lernenden hinausblickenkönntenund nichtfähigwären, ihren Deutschunterrichtständig weiterzuentwickeln.Vielmehrist eine breite fachliche Ausbildung an derUniversitätaus derSicht desZfsLunverzichtbar,damit die zukünftigen Deutschlehrerinnen undDeutschlehrer sich zügig undzielführendin neue Themengebietedes Deutschunterrichts einarbeitenkönnen, ganz gleichob etwa »Faust«, Multi-Ethnolekte,der Unterschiedzwischen adverbialerBestim- mung undPräpositionalobjekt oderdie Metaphorik in Eichendorffs »Mondnacht« aufder Agenda stehen.Die dafürnötigenanspruchsvollen Vorstellungen von den Lernbereichen desDeutschunterrichtssollten zur Konsequenz haben, dass die zukünftigen Deutschlehrerinnen und -lehrermehrals nurzweiSeitenweiterim Deutschbuchsindals dieLernendenund dass siedidaktischeMaterialien wieetwa Unterrichtsmodelleder Reihe»EinFachDeutsch« angemessen hinsichtlich ihres fachlichen Gehaltseinschätzen können.Vor allemaberist einbreites Fachstudium an derUniversitätVoraussetzung dafür, dass diezukünftigen Deutschlehrerinnen

2Vgl.z.B.den Kernlehrplan Deutsch fürdie gymnasiale Oberstufe, Kap. 2(»Kompetenzbe- reiche, Inhaltsfelder und Kompetenzerwartungen«), zit. nach URL:http://www.schul entwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/klp_SII/d/KLP_GOSt_Deutsch.pdf [01.09.15]. Praxisperspektiven:Deutsch 157 und-lehrer flexibelauf denLernbedarf ihrerSchülerinnenund Schülerreagieren können, wieesein schülerzentrierterDeutschunterricht erfordert, unddasssie die Ergebnisse ihrerSchülerinnenund Schülerhinsichtlichder fachlichen Richtigkeit wiedes Gradsder notwendigeninhaltlichenDifferenziertheit überwachen kön- nen. Um dies in der universitären Lehrerbildung zu gewährleisten, könnten sich Lehrende an folgenden erkenntnisleitenden Fragestellungen orientieren: –Welche Schlüsselqualifikationen (z. B. unterschiedliche Texterschließungs- verfahren und Interpretationstheorien) sind Voraussetzung fürdie Bewälti- gung fachdidaktischer Fragestellungen? – Überwelche sprachwissenschaftlichen Kenntnisse müssendie Absolventen verfügen, um die Rolle des sprachlichen Vorbilds auszufüllen, als Grundlage der sprachlichen Förderung und um sich selbstständig in entsprechende Inhaltsfelder des Deutschunterrichts einarbeiten zu können (z.B. Konzepte des Grammatik- und Rechtschreibunterrichts, Sprachwandel, Mehrspra- chigkeit): –auf der Sprachsystemebene –auf der Ebene der Sprachverwendung und der Sprachverwendungstheo- rien? – Überwelche literaturwissenschaftlichen Kenntnisse müssen die Absolventen verfügen: –inBezug aufdie literarischen Gattungen, –inBezug aufbeispielhafte Epochen, –inBezug aufliteraturtheoretische Grundlagen?

Nebender gemeinsamen Klärung dieser Fragen wäre eine weitere Wunschvor- stellung seitens des ZfsL, das metakognitiveWissen etwa hinsichtlich der Epo- chenkonzepte und Gattungen zu stärken, um den Transfer in neue Epochen und Gattungen, also das Einarbeiten in neue Themenfelder,zuerleichtern. Dieses ›intelligente‹, also transferierbare germanistische Fachwissen könnte die Stu- dierenden danndazu befähigen, die Exemplaritätdes an der UniversitätGe- lernten zu erkennen und aufneue Unterrichtsgegenstände zu übertragen.

Zum Beitrag des ZfsL Bonn zur Ausbildung kompetenter Deutschlehrerinnen und -lehrer

Diesen Wünschen an das System ›universitäre Ausbildung vonDeutschlehre- rinnen und -lehrern‹ stehen die Themenfelder gegenüber, die das ZfsL als ge- nuine Schwerpunkte seiner schulpraktischen Ausbildung siehtund die –hof- 158 Ursula Jünger fentlich –die Universitätund insbesondere die Fachdidaktik ein Stück weit entlasten können. Hier seienanerster Stelle Aspekte genannt, die im Kerncur- riculum fürdie zweite Phase der Lehrerausbildung ins Handlungsfeld 1(»Un- terrichtgestalten und Lernprozesse nachhaltig anlegen«) gehören.3 Nach den ersten Unterrichtserfahrungen der Studierenden während der Praktika und im Praxissemester ist dasZiel des Referendariats die Professionalisierung des Lehrerhandelns in den Kompetenzbereichen und Inhaltsfelderndes Deutsch- unterrichts der Sekundarstufe einschließlich der curricularen Legitimation der Unterrichtsgegenstände. Das Herzstück dieser Professionalisierung ist die standard- und kompetenzorientierte Aufgabenentwicklung als logische Fort- setzung des universitären Germanistikstudiums, die auch Bereiche umfasst, die an der Universitätvoraussichtlich keine großeRolle spielen wieder Bereich »Sprechen und Zuhören«.4 Werkzeug dieser Lernaufgaben und damit Ausbil- dungsschwerpunkt am ZfsL mit dem Ziel, diese funktional und in Passung an die Unterrichtsgegenstände anwenden zu können, sind in vielen Fällen Fachme- thoden etwa ausdem Bereich der Handlungs- und Produktionsorientierung oder Lese- und Schreibstrategien. Dieses Themenfeld wird im Dialog zwischen Universitätund ZfsL in den nächsten Jahren sicherlich eine bedeutende Rolle spielen, da derzeit die Referendarinnen und Referendareohne wesentliche Vorkenntnisse aufdiesem Gebiet die schulpraktische Ausbildung beginnen, demnächst aber mit wesentlich besseren Eingangsvoraussetzungen der Absol- venten nach Einführung des Praxissemesters zu rechnen ist und die inhaltlichen Schwerpunkte zwischen beiden Institutionen möglichst präzise aneinander angepasstwerden sollten. Verbunden mit der standard- und kompetenzorientierten Aufgabenent- wicklung ist in vielen Fällen die Anleitung zur ästhetischen Erziehung,die dem Handlungsfeld 2des Kerncurriculums (»den Erziehungsauftrag in Schule und Unterrichtwahrnehmen«) zuzuordnen ist. Anspruchsvolle Aufgabenentwicklung im Deutschunterrichtkann nurge- lingen, wenn die Referendarinnen und Referendare»Vielfalt als Chance im Deutschunterrichtwahrnehmen« – dasentsprichtdem Handlungsfeld 5des derzeitigen Kerncurriculums5 –und sich in die Praxis individueller Förderung

3Vgl.hier und im Folgenden:Ministerium fürSchule und Weiterbildung des Landes Nord- rhein-Westfalen (Hg.), Kerncurriculum fürdie Ausbildung im Vorbereitungsdienst für Lehrämter in den Zentren fürschulpraktische Lehrerausbildungund in den Ausbildungs- schulen, Düsseldorf 2014, S. 3, zit. nach URL:https://www.schulministerium.nrw.de/docs/ LehrkraftNRW/Vorbereitungsdienst/Kerncurriculum.pdf [01.09.15]. 4Bonner Zentrum fürLehrerbildung, FachspezifischeCurricula der Vorbereitungs- und Beg- leitseminarezum Praxissemester. Beschreibungen der Standards und Kompetenzen, o. J., S. 20, zit. nach URL:http://www.bzl.uni-bonn.de/praxiselemente/Praxissemester/dokumen te/fachspezifische_curricula [02.01.2015]. 5Ministerium fürSchule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kern- Praxisperspektiven:Deutsch 159 sowieindie Themenfelder ›Deutsch als Zweitsprache‹ und ›Mehrsprachigkeit‹ unter entsprechenderAnleitung durch die Ausbilderinnen und Ausbilder am ZfsL wieinder Schule einarbeiten. Da die zukünftigen Praxissemesterstudie- renden bereits ein Modulindiesem Themenbereich absolvierthaben werden und im Gegensatz zu den derzeitigen Referendaren schon überVorkenntnisse verfügen werden, ist die sorgfältige Anpassung der inhaltlichen Schwerpunkte zwischen Universitätund ZfsL ein weitererzentraler Aspekt fürden zukünftigen Dialog zwischen beiden Institutionen. Weitere Voraussetzungen fürgelingenden Deutschunterrichtsind Diagnostik der Lernstände und Lernberatung –diese Aspekte sind den Handlungsfeldern3 und 4zuzuordnen. Hier könnte das ZfsL auch zukünftigdie eher theoretisch orientierte Einführung wiedie praxisorientierte Anleitung übernehmen, wenn es beispielsweiseumLese- oder Rechtschreibprobleme geht. Nebendiesen auf individualisierendes Lernen im Deutschunterrichtabzielenden Handlungssi- tuationen und inhaltlichen Bezügen stehen die Einführung und Anleitung in die standardorientierte Konstruktion vonLeistungsaufgaben und deren angemes- sene, kriterienorientierte Bewertung als klassisches Thema der Ausbildung am ZfsL und in der Schule.

Zur Vernetzungsperspektive als gemeinsamer Aufgabe

Wiedas eine oder andere Missverständnis zwischen Vertretern der Universität und des ZfsL beider Konstruktion des Praxissemester-Curriculums lehrt, sollte das Verständnis vonFachdidaktik und Fachmethoden an den beiden Lernorten Universitätund ZfsL kontinuierlich geklärt werden hinsichtlich der unter- schiedlichen Bedeutungsschattierungen dieser Begriffe, wiesie an beiden Lernorten verwendet werden, und als Voraussetzung eines zielführenden Dia- logs zwischen den beiden Institutionen. Dieser Dialog und damit die Ausbildung zu kompetenten Deutschlehrerinnen und -lehrern gelingt, wenn die Beteiligten an beiden Lernorten sowohl die unterschiedlichen Schwerpunkte als auch die gemeinsamen Ziele wahrnehmen, reflektieren und in möglichst genauer Kenntnis beider Systeme akzeptieren. Hatties Grundsatz, dass es darum gehe, »Lernen sichtbar zu machen«,6 be- deutet dementsprechend, die Lernzusammenhänge zwischen Universität, ZfsL und Schule kontinuierlich erkennbar werden zu lassen, um aufSeiten der Leh-

curriculum fürdie AusbildungimVorbereitungsdienst fürLehrämter in den Zentren für schulpraktische Lehrerausbildungund in den Ausbildungsschulen, S. 8. 6Vgl.John Hattie, Lernen sichtbar machen. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von »Visible Learning« besorgtvon Wolfgang Beywl und Klaus Zierer,Baltmannsweiler 2013. 160 Ursula Jünger renden die Möglichkeiten der curricularen Vernetzung auszuloten, vorallen Dingen aber,damit den Studierenden die Lernzusammenhänge überdie Sys- temgrenzen hinweg deutlich werden können. Erst dann können sie selbstständig Verknüpfungen herstellen zwischen den Lernfeldernanbeiden Ausbildungs- orten, also zum Subjekt ihrer Ausbildung werden, wieesdie Anforderungenfür den Vorbereitungsdienst, aber auch die entsprechenden universitären Anfor- derungenvorsehen. Nursokann der Übergang vom Germanistikstudierenden zum zukünftigen Deutschlehrer oder zur Deutschlehrerin gelingen. Die Umsetzungdieser großen Wortekann im Alltagsgeschäft durchaus schwierig werden und aufden einen oder anderen Widerstand stoßen. Um dieses Ziel nichtaus den Augen zu verlieren, könnte ein Lessing-Zitat eine kleine germanistentypische Erinnerung sein. Nathan der Weise verstand etwas von Systemgrenzen und Übergängen:»Wohlan!/Es eifre jeder seiner unbestoch- nen /Von Vorurteilen freien Liebenach!«7

Quellen- und Literaturverzeichnis

Bonner Zentrum fürLehrerbildung,FachspezifischeCurriculader Vorbereitungs- und Begleitseminare zum Praxissemester.Beschreibungen der Standards und Kompeten- zen, o. J.,zit. nach URL:http://www.bzl.uni-bonn.de/praxiselemente/Praxissemester/ dokumente/fachspezifische_curricula [02.01. 2015]. Hattie, John, Lernen sichtbar machen. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabevon »Visible Learning«, besorgtvon Wolfgang Beywlund Klaus Zierer,Baltmannsweiler 2013. Lessing,Gotthold Ephraim, Nathan der Weise (III,7), in:Ders.,Werkeindrei Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand unter Hinzuziehung der Erstdrucke, Bd. 1, München o. J. Ministerium fürSchule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kerncurriculum fürdie Ausbildung im VorbereitungsdienstfürLehrämter in den Zentren fürschulpraktische Lehrerausbildung und in den Ausbildungsschulen, Düs- seldorf 2014,zit.nachURL:https://www.schulministerium.nrw.de/docs/LehrkraftNRW/ Vorbereitungsdienst/Kerncurriculum.pdf [01.09.15]. Ministerium fürSchule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan Deutsch fürdie gymnasiale Oberstufe, Düsseldorf2014, zit. nach URL: http://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/klp_SII/d/KLP_GOSt_ Deutsch.pdf [01.09.15].

7Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise (III,7), in:Ders.,WerkeindreiBänden. Nach den Ausgaben letzter Hand unter Hinzuziehung der Erstdrucke, Bd. 1, München o. J.,S.777. Rainer Kaenders

Die Ableitung von f ðxÞ¼xnin Schulbüchern dreier Zeitphasen

1. Einleitung

Welche Rolle spielt die Fachkultur in der Lehrerbildung Mathematik?Bei dieser Frage begegnen wireiner ganzen Skala möglicher Auffassungen. An einem Ende stehtdie Auffassung,dass das Studium tiefere Kenntnis der modernen Mathe- matik vermitteln solle, womit mandann geradezu aforteriori in der Lage sei, die viel elementarere Mathematik in der Schule zu unterrichten. Der Rest sei eine Sache der Persönlichkeit und der Begabung als Lehrerin oder Lehrer.1 Am an- deren Ende findet man die Position, dass vertiefte Fachinhalte und ihre Hin- tergründe in der Lehrerbildung eher als Reliktaus früheren Zeiten gesehen werden können, in denen es noch keine so gut ausgearbeiteten Lehrmaterialien gegeben habeund in denen man noch nichtgewusst habe, welche allgemeinen Methoden den Lernfortschritt förderten. Erziehungswissenschaftliche Metho- den und Inhalte, Kenntnis einiger pädagogischer Strömungen und praktische Erfahrungen in der Schule sollten ausdieser Perspektiveinder Lehrerbildung zentral stehen. Der ›Stoff‹ bestehtindieser Wahrnehmung auseiner Sammlung vonfertigem Wissen und Informationen, beider man ja selbst schon als Abi- turientgezeigthabe, dass man sie beherrsche und anwenden könne. In jedem Fall sei dieser Stoff an vielen Stellen nachlesbar.Der Lehrer wird in dieser Per- spektiveals eine Art Ober gesehen, der das Essen bringe, das er allerdings selbst nichtgekocht habenmüsse. Dazu müsse er auch nichtunbedingtinder Lage sein.2 Statt an dieser Stelle eine solche allgemeine Diskussion zu führen, fokussieren wirindiesem Beitrag aufeinen ganz speziellen fachinhaltlichen Aspekt, nämlich die Behandlung der Ableitung von fxðÞ¼xn,den wirinSchulbüchernaus drei

1Später sind mit Lehrer, Schüler,Abiturient und Professor immer gleichberechtigt beide Ge- schlechter gemeint. 2Diese Beschreibung des Lehrers als Oberwird Josvan Kemenade, dem niederländischen Minister fürUnterrichtund Wissenschaft(1973–77und 1981–82) zugeschrieben. 162 Rainer Kaenders unterschiedlichenZeitperioden in der Bundesrepublik Deutschland betrachten. Dabei möchten wirexemplarisch aufdas Verhältniszwischen Fachkultur und Schulbüchernaufmerksam machen. Schulbücher sagen gleichwohl nurbedingtetwas überden jeweiligen Un- terrichtaus, den ein Lehrer mit ihnen gestaltet. Daher werden Schulbücher immer auch in Zusammenhang mit den Unterrichtskulturen ihrer Zeit gesehen werden müssen. Eingedenk dieser Relativierung nehmen wireine Reihe allge- meiner mathematikdidaktischer Blickwinkel und Positionen in Bezug aufjene Aspekte ausSchulbüchernein, die wirinder Umsetzung im jeweiligen Unter- richtanzutreffen, wahrzunehmen oder zu vermissen meinen. Damit unterneh- men wirandiesem Exempel den Versuch einer Antwortauf die Ausgangsfrage, sodass sich Schlussfolgerungen fürdie Lehrerbildung im Fach Mathematik anbieten.

2. Über Fachkultur,mathematische Entwicklung und Schulbücher

Wasist das Fach Mathematik?Mathematikprofessoren an Universitäten ver- treten dieses Fach und beanspruchen somit die Deutungshoheit überdiese Frage im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Gemeinschaft. Allerdings gilt diese Auto- ritätnur eingeschränkt in Bezug aufdie Schule, definierendochauch Handel, Industrie, Handwerk, Ingenieur-und alle anderen Wissenschaften sowieauch nichtzuletzt die allgemeine gesellschaftliche Auffassung mit, was unter Ma- thematik zu verstehen ist. Dies betrifftzunächst die Auswahl vonInhalten. Daneben gibt es auch im Lernprozess jedes Individuums unterschiedliche Entwicklungsperspektiven,andenen sich ebenfalls die Geister scheiden, wenn es darum geht, was Mathematiktreiben ausmachen soll. In Bezug aufmathema- tische Forschung denken universitäre Mathematiker hierübermeist im Rahmen vonMeister-Lehrling-Beziehungen und akademischen Schulen nach. Fürdie allgemeine Schule liegtindieser Frage dasTätigkeitsfeld der Mathematikdi- daktik, die hier Aspekte der Bildung ins Spiel bringen muss.Dabei werden mathematische Inhalte anhand ihres Beitrags zur individuellen mathematischen Entwicklung des Lernenden und in Hinblick aufihren Bildungswertgesehen. Etwa die zentrale Frage, warum es sich überhaupt lohnen kann, Mathematik zu lernen, wird an der Universitätnicht mehr gestellt. Solche Fragen können nicht innerhalb der Mathematik alleine beantwortet werden.3 Im aufklärerischen Ideal soll Bildung zu Lebenstüchtigkeit, Mündigkeit, Empowerment, Persönlich-

3Vgl.den Beitrag vonVolker Ladenthin in diesem Band. Die Ableitung von f(x) = xn in Schulbüchern dreier Zeitphasen 163 keitsentwicklung und Qualifikation fürweitere Bildungswege verhelfen. Auch beigleichen mathematischen Themen kann Mathematikunterrichterhebliche Unterschiede aufweisen –jenach angestrebter mathematischer Entwicklungs- perspektive. MathematischeEntwicklung vollziehtsich nichtalleine in einem Individuum; sie ist auch in historisch beschreibbaren Prozessen zu erkennen. Die Verbindung individueller und historischer Entwicklung wird heute mit dem Begriff geneti- sches Prinzip angedeutet. Dieses Prinzip hat sich in der Mathematikdidaktik als eine wichtige Perspektivefürdie individuelle menschliche Begriffsentwicklung herauskristallisiert.4 Der heutige Gebrauch dieses Prinzips wurde wesentlich von Otto Toeplitz geprägt.5 Er hat diesen zunächst vonFelix Klein6 ausder Biologie (Ernst Haeckel) entlehnten Ansatz so nuanciert, dass er voneiner scheinbar zwangsläufigen Gesetzmäßigkeit zu einem gestalterischenAuftrag wurde:»Ich will ausder Historie nurdie Motive fürdie Dinge, die sich hernach bewährt haben, herausgreifen und will sie direkt oder indirekt verwerten.«7 Undschließlich stellt sich die Frage, welche Rolle Schulbücher fürdie ma- thematische Entwicklung spielen. Michael Otte beschreibtdie Rolle des Schul- buchs wiefolgt:

»Auf der einen Seite ist das Lehrbuch das wichtigste Arbeitsmittel fürLehrer und Schüler im Mathematikunterricht. Man kann sagen, daß die Schulmathematik seit Bestehen des allgemeinbildenden Schulwesensbei uns entscheidenddurch die Ver- fügbarkeit des Buches geprägt worden ist. Sogar die Herausbildung des öffentlichen Schulwesensselbst und die Einführung der allgemeinen Schulpflichtwaren an ein bestimmtes technologisches Entwicklungsniveaudes Buchdrucks und der Buchher- stellung gebunden. Erst diese Technologie ermöglichtdas Loslösen vonBedeutungen ausden sehr unterschiedlichen Kontexten des individuellen Handelnsund Erlebens.«8

Aufder anderen Seite führteraus:

»Der Lehrbuchtext ist kein Unterrichtsmodell. Er kann erst rechtnichtguten Unter- richtersetzen, sondern er ist umgekehrtzuseinem sinnvollen Einsatz aufeine sehr

4Vgl.Lutz Führer,Pädagogik des Mathematikunterrichts. Eine Einführung in die Fachdidaktik fürSekundarstufen, Braunschweig 1997, S. 45–56;ErichChristian Wittmann, Grundfragen des Mathematikunterrichts, Braunschweig 1981, hier S. 130;GerdSchubring, Das genetische Prinzip in der Mathematikdidaktik, Stuttgart 1978. 5Otto Toeplitz, Die Entwicklung der Infinitesimalrechnung–eine Einleitung in die Infinite- simalrechnungnach der genetischen Methode,herausgegeben ausdem Nachlass vonGott- friedKöthe 1949. 6Vgl.Wittmann, Grundfragen des Mathematikunterrichts, S. 130. 7Otto Toeplitz, Überdas Problem der Universitätsvorlesungen überInfinitesimalrechnung und ihrer Abgrenzung gegenüberder Infinitesimalrechnung an den höheren Schulen, in: JahresberichtDMV (1927), S. 88–100, hier S. 94. 8Michael Otte, Das Schulbuch im Mathematikunterricht,in: Mathematiklehrer3(1981), S. 12–24, hier S. 12. 164 Rainer Kaenders

differenzierte Struktur des Unterrichts angewiesen. Zu dieser Struktur gehört auch der persönliche Dialog zwischenLehrern und Schülern, in dem ganz andere Notwendig- keiten der Vereinfachung,Veranschaulichung und der situationsspezifischen Darle- gungbestehen. Die mündliche Kommunikation orientiertsich stärker an sozial-psy- chologischen Besonderheitender Situation, die Kommunikation mit Hilfedes Buchdrucks eher an den objektivenoder sogar an den formal-logischen.«9

Die Gestaltung der Schulbücher darfalso nichtmit dem tatsächlichen Unterricht verwechselt werden. Schondie Frage, fürwen die Schulbücher geschrieben sind, liefertein differenziertes Bild, wenn manbedenkt, dass sich viele Lehrerinnen vonden Herangehensweisen in den Schulbücherninspirieren oder gar leiten lassen.10 Gleichzeitig sollen die Schüler mit oder ohne Anleitung mit diesen Büchernarbeiten, was andereFormen annehmen kann, als ein naiver Blickindie Bücher suggeriert, wieSebastian Rezat untersuchthat.11 Schon Otte erkenntinden achtzigerJahrenzudem ein Problem in der Me- thodisierung. Unter diesem Begriff fasst er die »folgenden Tendenzen zusam- men: –immer größereTextanteile dienen allein der Übermittlung von›technischen Hinweisen‹und der optischen Auflockerung, –die Lehrbuchtexte verstehen sich immer mehr als eine Festlegungeinzelner Handlungsschritte, in zunehmendem Maßeentwickelt jedes Lehrbuch eine nurmethodisch begründete Terminologie und einen eigenen Begriffsapparat, jeweils spezifische Veranschaulichungsmittel und Verfahren, –Aufgaben und Veranschaulichungen werden in zunehmendem Maßein oberflächlicher Weise ›motivierend‹ dargestellt, d.h.,eswerden unterstellte Interessen der Schüler und lebenspraktische Bezüge als ›Verpackung‹ ein- geführt.«12

Paradoxerweise sind gerade Schulbücher,die fachliche Inhalteauf die oben beschriebene Weise methodisieren, problematisch fürpropädeutisches Erler- nen vonWissenschaft. Schüler erlernen bis zur Reifeprüfung nichtdie Lektüre wirklicher Mathematikbücher oder anderer propädeutischer wissenschaftlicher Lektüre. Tatjana Ehrenfest-Afanassjewa formulierte dieses Paradox so:

»Ich möchte gernenocheine weitere Forderung an den Mathematikunterrichtstellen: Die Schüler müssen die Kunst, ein Mathematikbuch zu lesen, erlernen.Der Mensch

9Otte, Das Schulbuch im Mathematikunterricht,S.13. 10 Vgl. Sebastian Rezat, Die Struktur vonMathematikschulbüchern, in:JournalfürMathe- matik-Didaktik 29, 1(2008), S. 46–67. 11 Vgl. Ders.,Wozu verwenden Schüler ihreMathematikschulbücher?Ein Vergleich voner- warteter und tatsächlicher Nutzung, in:Journal fürMathematik-Didaktik 32, 2(2011), S. 153–177. 12 Otte, Das Schulbuch im Mathematikunterricht,S.12. Die Ableitung von f(x) = xn in Schulbüchern dreier Zeitphasen 165

kannnichtewigein Kindermädchen hinter sich haben, das ihm hilft, etwas zu ver- stehen. Es ist auch falsch, ihn bis in die höchstenKlassen der weiterführenden Schule auf›pädagogische Weise‹ zu unterrichten. Wenn diese Weise effektiv ist, dann musssie sich nach einerbestimmten Zeit vonselbst erübrigen.«13 Otte zitierthierzu Mader: »Sinndes Schulbuches ist es nichtnur,daßsich die Schüler den Unterrichtsstoff aneignen, daß sie bestimmte Fertigkeiten erwerben und Fähigkeiten entwickeln, sondern daß sie mit seiner Hilfe auch an das Studium im gesellschaftlichen Leben gebräuchlicherliterarischerWerkealler Artherangeführtwerden, diese Literatur auch richtigerfassen und nutzenkönnen. Die ›zunehmende Methodisierung‹der Schul- bücher,z.B.das Einstreuen vonZwischenfragen und Hinweisen –oder gar die Pro- grammierung mit dem Ziel des Kenntniserwerbs und der Kenntnisfestigung–,steht dieser Aufgabedes Schulbuchs teilweisesogar entgegen. Es sind zahlreiche Stimmen vonBerufs-, Fach- und Hochschullehrern,aberauch vonBetriebsingenieuren über mangelhafte Fähigkeiten der jungen Studenten, Facharbeiter und Techniker in der selbständigen Nutzung vonFachliteratur bekanntgeworden.«14 Er sprichthier die mangelnde Studierfähigkeit in den MINT-Fächernan, die sich heute zu einem existenziellen Problem dieser Fächer entwickelt hat.15 Beider Methodisierung beklagtOtte zudem eine »terminologische Inflation«,wobei »Abbildungenlediglich als Reizvorlagen« eingesetzt werden:»Ein Vorurteil begleitet nämlich das Lehrbuch im Unterricht: Der Lehrbuchtext als eine feste Größe, die eine bestimmte Invarianz gegenüberzeitlichen und örtlichen Ver- änderungen aufweist, wird als Gegensatz zu der notwendigen unterrichtlichen Prozeßorientierung empfunden.«16 Otte führtdann weiter aus: »Die Gegenüberstellung vonProzeß und Struktur,die Unterrichtals prozessual und Lehrbuch als strukturell charakterisiert, erscheintanvielen Stellen in der Didaktik und Pädagogik als eine grundlegende:Der kreativenTätigkeit wird die Vermittlungdes Wissens gegenübergestellt, das Handeln der Sprache,das Lernen dem Wissen und die unmittelbare Erfahrung der überTexte vermittelten Information. Extrem prozeß- orientierte didaktische Konzeptionen gehen vonder Grundannahme aus, daß je ›di- rekter‹ die Erfahrung,desto direkter auch das Lernen, insbesondere das Lernen fürdas ›Leben nachder Schule‹. Diese Grundannahmegleichtnun allerdings verblüffend

13 TatjanaEhrenfest-Afanassjewa, Didactische opstellen, Zutphen 1960.(Übers. des Verf.). 14 OskarMader,ZueinigenFragen der Schulbuchgestaltung,in: Mathematikinder Schule 4 (1966), S. 458–462, hier S. 462, zit. in Michael Otte, Das Schulbuch im Mathematikunterricht, S. 12. 15 Vgl. ErhardCramer /Sebastian Walcher /Olaf Wittich, Mathematik und die »MINT«-Fächer, in:Jürgen Roth /Thomas Bauer /HerbertKoch/Susanne Prediger (Hg.), Übergänge konstruktiv gestalten –Ansätze füreine zielgruppenspezifische Hochschuldidaktik Ma- thematik, Wiesbaden 2015, S. 51–66. 16 Otte, Das Schulbuch im Mathematikunterricht,S.12. 166 Rainer Kaenders

derjenigen,auf der auch die alte Pauk- und Drillschule beruhte: der Stoffbzw.die Fertigkeiten werden so erinnert, wiesie gelernt worden sind.«17 Das eine Schulbuch unterstützt manche methodische Ansätze mehr,als das andere dies tut.Hans Aebli (1923–1990) hat als Schüler vonJean Piaget das so genannte operative Prinzip betont.Zum Aufbaueiner Operation ist neben ihrer Verinnerlichung auch eine operative Durcharbeitung nötig. Erich Ch. Wittmann schreibt hierzu: »Aufgabedes Lehrersist es, die jeweils untersuchten Objekte und das System (›Gruppierung‹) der an ihnen ausführbaren Operationen deutlichwerden zu lassen und die Schüler aufdas Verhalten der Eigenschaften, Beziehungen und Funktionen der Objekte beiden transformierenden Operationengemäß der Frage ›Was geschiehtmit …, wenn…?‹ hinzulenken(operatives Prinzip)«.18 Objekte erfassen bedeutet, zu erforschen, wiesie konstruiertsind und wiesie sich verhalten, wenn aufsie Operationen (Transformationen, Handlungen, …) ausgeübt werden. Ein Teil dessen ist die später vonJØrôme Bruner im Rahmen des Spiralprinzips betonte Variation der Darstellungsebenen (zwischen enakti- ver,ikonischer und symbolischer Ebene).19 Wirschauen uns nun einen sehr klassischen Gegenstand ausdem gymna- sialen Unterrichtder Oberstufe an, der in jedem Kurs zur Differentialrechnung vorkommt:die Ableitung der Funktion fxðÞ¼xn.Aus dem bisher Gesagten ergeben sich folgende mögliche Perspektivenfürdie Betrachtung der Behand- lung der Ableitung von fxðÞ¼xn: –Mathematische Inhalte –Genetisches Prinzip –Methodisierung und Propädeutik –Unabhängigkeit vonder Lernerfahrung –Individuelle Entwicklungsperspektiven –Studierverhalten –Operatives Prinzip

Um einige der oben beschriebenen Perspektiven einnehmenzukönnen, ordnen wirkurzden Gegenstand ein und stellen mögliche Herangehensweisenandiesen Gegenstand zu drei verschiedenen Zeiten vor.

17 Ebd.,S.14. 18 Wittmann, Grundfragen des Mathematikunterrichts, S. 79. 19 Vgl. JØrôme S. Bruner,Der Prozess der Erziehung, Berlin 1970, S. 85. Die Ableitung von f(x) = xn in Schulbüchern dreier Zeitphasen 167

3. Genetische Aspekte der Ableitung von fxðÞ¼xn

Seit der Erfindungder Differential- und Integralrechnung durch (1642–1726) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) stellt die Berechnung der Ableitung der Funktion fxðÞ¼xneine anspruchsvolle begriffliche und lo- gische Hürdeinder mathematischen Entwicklung dar,die in der Geschichte zu vielen kontroversen Diskussionen geführthat.

Das Problem ist das folgende. Füreine Funktion f : Df ! R und eine kleine Zahl h 6¼ 0wird an einer Stelle x der so genannte Differenzenquotient

fxðÞþhÀfxðÞ h betrachtet. Nunmöchte mandiesen Ausdruck für h mit möglichst kleinem Betrag verstehen. Doch der Fall h ¼ 0ist explizit ausgeschlossen, da man sonst eine Division durch Null durchführen müsste, was mathematisch zunächst keinen Sinn ergibt. Undein h 6¼ 0mit minimalem Betrag gibt es nicht. Wastun? Die Lösung ist intuitiv gesprochen, dass h gegen Null streben soll. In der Regel begegnet dieses widersprüchliche Phänomen den Lernenden zuerst beiFunktionen der Form fxðÞ¼xn.Das Ergebnis notieren wirheutekurz –unter Benutzung der LeibnizschenNotation mit Differentialquotienten (die eigentlich keine Quotienten sind):

df Dy f ðx þ hÞ À f ðxÞ ðxÞ¼ lim ¼ lim ¼ nxnÀ1 dx Dx!0 Dx h!0 h Die historischen Schwierigkeiten hiermit lassen sich vielfach belegen. Berühmt wurde der Kommentar des Bischofs George Berkeley (1685–1753), der ebenfalls seine Probleme mit dieser Berechnung hatte, wobei damals h mit o bezeichnet wurde. »Bisher habeich vorausgesetzt,dass xfließt, dass xein wirkliches Inkrementhat,dass o etwas ist,und ich bin immer an Hand dieser Voraussetzung,ohne die ich nichteinmal eineneinzigen Schritt hätte machen können, vorgegangen. Ausdieser Voraussetzung erhielt ich das Inkrementvon xn,durch sie konnte ich es mit dem Inkrementvon x vergleichen und das Verhältnis der beiden Inkrementefinden. Nunaberbitte ich darum, eine neue Annahmemachen zu dürfen, die der ersten entgegengesetzt ist, d.h. ich werde annehmen, dass es kein Inkrementvon xgibt, oder dass onichts ist. Diese zweite Annahmevernichtet meine erste, sie ist mit ihr unverträglich und also auch mit allem,was sie voraussetzt. Ichbitte trotzdem darum, nxnÀ1 beibehalten zu dürfen, obwohl es ein Ausdruck ist, der mit Hilfe meiner erstenAnnahmegewonnen wurde, der notwendig diese Annahmevoraussetzt, und der ohnesie nichtgewonnen werden 168 Rainer Kaenders

könnte. All das scheinteine höchst widerspruchsvolle Artder Beweisführung und eine solche, die man in der Theologie nichterlauben würde.«20

Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts21 konnten die hiermit verbundenen mathe- matischen Widersprüche durch einen korrekt definierten Grenzwertbegriff aufgelöst werden. Nachdem die Meraner Reformvorschläge ausdem Jahr 1905 umgesetzt wurden und seitdem die Differential-und Integralrechnung in Deutschland in der Schule unterrichtet wird,stellt sich das oben beschriebene konzeptionelle Problem fürSchüler und ihre Lehrer als Problem der individuellen Entwicklung schon in der Schule dar.

3.1. Schulbücher verschiedener Epochen

Als Zeuge fürdie fünfziger Jahredientuns das Lehr-und Arbeitsbuch fürden mathematischen Unterricht vonHansBrandes (1883–1965).22 Fürdie siebziger Jahre schauen wirinein Schulbuch, das im Schwann-Verlag erschienen ist.23 Dieses Schulbuch stammt ausder Zeit der Modernen Mathe- matik oder NewMath. Damit wird eine umfassende Veränderung des Mathe- matikunterrichts in der westlichen Welt (nach dem Sputnik-Schock) bezeichnet, in dem die Vermittlung vonmathematischen Strukturen zentral stand. Öffent- lich wahrgenommen wurden hier vorallem die lautstarken Auseinanderset- zungen zur Mengenlehre in der (Grund-)Schule.24 Die heutige Zeit wird durch die Schulbuchserie »Neue Wege« vertreten,25 und fürdie universitäre Lehreziehen wirdas Analysisbuch vonBarner und Flohr26 zu Rate.

20 Zit. nach Thomas Sonar,3000 Jahre Analysis, Berlin /Heidelberg 2011, S. 425. 21 Vgl. beispielsweise:C.H.Jr. Edwards, The Historical Developmentofthe Calculus, Hei- delberg 1979. 22 HansBrandes, Lehr-und Arbeitsbuch fürden mathematischen Unterricht,Oberstufe I, Braunschweig:Friedrich Vieweg & Sohn, 1950;füreine Biographie des Autors siehe Man- fred Goebel /Christian Schlensag, HansBrandes (1883–1965). Promotion in Halle –Lehrer in Braunschweig,in: Reports on HistoryofMathematics:ReportNo. 08 (2008), S. 1–45. 23 Wilhelm Kuypers (Hg.), Mathematikwerk fürGymnasien /Oberstufe:Analysis 1, 8. Aufl., Düsseldorf:Pädagogischer Verlag Schwann, 1975. 24 Vgl. beispielsweise:Morris Kline, WhyJohnnyCan’t Add: The Failure of the NewMathe- matics, NewYork 1973. 25 Arno Lergenmüller /Günter Schmidt(Hg.), MathematikNeue Wege. Arbeitsbuch für Gymnasien. 10. Schuljahr –Einführungsphase, Braunschweig:Westermann Schroedel Diesterweg Schöningh Winklers GmbH, 2010. 26 MartinBarner /Friedrich Flohr, Analysis 1: Differential- und Integralrechnung einer Ver- änderlichen, 11. Aufl.,Wiesbaden:Springer-Spektrum, 2013. Die Ableitung von f(x) = xn in Schulbüchern dreier Zeitphasen 169

4. Mathematischer Inhalt

Zunächst schauen wiruns die Artund Weise an, wieder Inhaltmathematisch behandelt wird und wiediese Behandlungeingebettet ist in die Artund Weise der mathematischen Entwicklung,den die jeweiligen Schulbücher offenbaren.

4.1. Die Ableitung von fxðÞ¼xnim Unterricht der fünfziger Jahre

Schaut man aufdie Inhalte des Schulbuches vonBrandes, erkenntman, dass mathematisch anspruchsvolle geometrische Zusammenhänge (geometrische Reihen, Additionstheoreme, komplexeZahlen, Nomographie, …) und zugehö- rige Techniken viel umfangreicher und sorgfältiger behandelt und geübt werden, als dies in heutigen Schulbüchernder Fall ist. Zudem findetman eine Vielzahl relevanter Anwendungen der im Unterrichtentwickelten Mathematik wieetwa die genaue Berechnung einer (dreidimensionalen) Bienenwabeund ihrer Mi- nimalitätseigenschaften. Beiunserem Beispiel fxðÞ¼xnwird der Differenzenquotientsorgfältig er- kundet, und seine algebraischen Eigenschaften werden analysiert. Dabei gibt es generell zwei unterschiedliche Zugänge:einen überden binomischen Lehrsatz vonNewton und einen überdie geometrische Reihe in der Form n n nÀ1 nÀ2 nÀ2 nÀ1 x1 À x0 ¼ðx1Àx0Þðx1 þ x1 x0 þ ...þx1x0 þx0 Þ.Ersterer ist die auf der Hand liegende Herangehensweise, die allerdings zu einer algebraisch an- spruchsvollen Umformung führt. Letzterer ist der viel elegantere Weg, da dort keine Binomialkoeffizienten vorkommen, und er weist wohl auch darauf hin, dass die Autoren selbst überdie nötige Erfahrung beim Umgang mit algebrai- schen Umformungen verfügen. Ein weiterer Vorteil der geometrischen Reihe bestehtdarin, dass die Monotonie dieser Funktion schon vollkommen ver- standen werden kann, ohne die nachher übliche Herangehensweise überdie Ableitung und deren Eigenschaften zu bemühen, die dann konzeptionell auf- wendig wieder fürdie Funktion interpretiertwerden müssen. Die Ableitung von fxðÞ¼xnwird im Buch vonBrandes mit Hilfe der geo- metrischen Reihe algebraisch bestimmt. Genauso werden dann auch alle ra- tionalen Exponenten beiPotenzfunktionen aufgeeignete Weise algebraisch vollständig behandelt. Einen formal sauber entwickelten Grenzwertbegriff fin- den wirnicht. Stattdessenfindensich sprachlich genaue Beschreibungen der beobachtbaren Phänomene und viele Übungen, in denen umfangreiche Re- chenfertigkeiten gefördertwerden, die das Gefühl fürdas Verhalten vonFormeln beiUmformungenvon Termen und beim Einsetzen von(kleinen) Zahlen schulen. 170 Rainer Kaenders

4.2. Die Ableitung von fxðÞ¼xnin der Modernen Mathematik

In der Modernen Mathematik wurde ein konzeptionell sauberer Grenzwertbe- griff mit Hilfe einer so genannten e-d-Definitionvermittelt, der historisch den theoretischen Stand vomEnde des 19. Jahrhunderts27 darstellt. Diese Defini- tionen sind nurmöglich, weil schon vorher anderewichtige mathematische Ausdrucksmöglichkeiten wiedie Mengenlehre und Logikmit entsprechenden sehr differenzierten Argumentationsweisen vermittelt wurden. Es wird nichtnur die Differential- und Integralrechnung der in der Schule vorkommenden Funktionen entwickelt, sondern es werden auch die viel anspruchsvolleren Konzepte vonStetigkeit und Differenzierbarkeit als solche eingeführt. Zudem finden sich dort–unabhängig vonder konzeptuellen Entwicklung der zentralen Begriffe –auch Kontexte und Anwendungen.28 Beispielsweisesind hier Volu- menberechnungen dreidimensionaler Körper,Kegelschnitte oder anspruchs- volle Problemeaus der Physik zu nennen, die auch –anders als in fast allen zeitgenössischenSchulbüchernder Mathematik –inder korrekten physikali- schen Sprache und entsprechend den physikalischen Standards behandelt werden. DieDifferentiation vonFunktionen derForm fxðÞ¼xnzu ihrerAbleitung f 0ðÞ¼x nxnÀ1 wird mitvollständiger Induktiondurchgeführt, einerspeziellen logischenVorgehensweise, dieauf einem axiomatischenZugang(Peano-Axiome) zurEntwicklung desZahlbegriffsberuht. DieseArt derlogischenHerangehens- weisewurde in denJahrenzuvor –seitder Grundschule–mitder Einführungder Mengensprache undder Aussagenlogik vorbereitet. Potenzfunktionen mitallge- meinen rationalen Exponenten werden abgeleitet mittelsProdukt-und Ketten- regelund ebenfallsvollständig behandelt.

4.3. Die Ableitung von fxðÞ¼xnim gegenwärtigen Mathematikunterricht

In dem zeitgenössischen Schulbuch29 wird die Ableitung von fxðÞ¼xnbe- trachtet, indem zunächst die Funktion fxðÞ¼x2studiertwird. Hierbei wird die so genannte ›h-Methode‹ eingeführt, die suggeriert, eine Methode zu sein, die in vielen Fällen dazu beitrage, die Ableitung der FunktioninErfahrung zu bringen. Die eingangs skizzierten logischen Probleme werden durch die Einführung einer fürdie Schüler befremdlichen Sprache umgangen. So,wie beispielsweiseJäger von Schweiß oder Lampe reden, wenn sie Tierblutoder einen Hasenschwanz

27 Vgl. Edwards, The Historical Developmentofthe Calculus. 28 Kuypers (Hg.), Mathematikwerk fürGymnasien /Oberstufe, S. 296 und S. 303f. 29 Lergenmüller /Schmidt(Hg.), MathematikNeue Wege SII. Die Ableitung von f(x) = xn in Schulbüchern dreier Zeitphasen 171 meinen, so pflegen Mathematiker eine seltsame Sprache, wenn sie etwa h ¼ 0in Formeln einsetzen, wo dies ausdrücklich verboten war.Der Mathematikersagt dann:»hstrebt gegenNull«.30 Phänomenologisch wird dies experimentell un- terstützt, indem kleine Zahlen für h in den Differenzenquotienten eingesetzt werden. Allerdingswird die Vergeblichkeit dieses Tuns nichtthematisiert, da es eine kleinste vonNull verschiedene Zahl ja nichtgibt. Genauso wenig wieetwa die Tatsache, dass man immer wieder eine Primzahl findet, als Beleg fürdie Unendlichkeit der Primzahlen gelten kann, wird das Einsetzen kleiner Zahlen für h in diese Formeln dem infinitesimalenCharakter des Grenzübergangs ge- recht. Die eigentliche ›Ableitungsregel fürPotenzfunktionen‹ wird überden Modus der Verkündigung vermittelt,wobei keine besonderen Unterschiede zwischen natürlichen oder allgemeinen rationalen Koeffizienten gemachtwerden –ob- wohl dies mathematisch sehr unterschiedlich zu behandelndeFälle sind. Die Einübung dieser Regeln geschiehtdannmittels Mustererkennung,und die Au- toren scheuen sich nicht, entsprechende Aufgaben auch so zu überschreiben (siehe Tab. 1):

fxðÞ f0ðÞx Mustererkennung –Eine Regel fürdie Ableitungen der Potenzfunktionen x2 2x a) Erkennst du in der Tabelle bereits ein Muster?Hastdueine Ver- mutung, wieesweitergeht? Formuliereeinen Vorschlag füreine 3 3 x 3x Regel. 4 4 5 x & b) Überprüfe für fxðÞ¼xund fxðÞ¼xmit der Sekantensteigungs- funktion (GTR oder CD) und korrigiereggf.die Regel. . . c) Gilt die gefundene Regel auch fürdie Sonderfälle fxðÞ¼x1oder . . fxðÞ¼x0? xn ??? Tab. 1: Aktuelles Schulbuch31 zur Einübung der Ableitungsregelbei Potenzfunktionen.

Wirsehen, dass hier –anders als in früheren Zeiten –der graphische Ta- schenrechner oder andereelektronische Hilfsmittel dazu benutzt werden, sich vondiesem Sachverhaltzuüberzeugen, wobei die logische Problematiksolcher Überzeugungsversuche außer Acht gelassenwird. Vomlogischen Standpunkt wird in mehrfacher Hinsichtmit Induktion gearbeitet –allerdings mit ›unvoll- ständiger‹. In einer späteren Übungsaufgabeskizzieren die Autoren die Behandlung des Differenzenquotienten überden binomischen Lehrsatz vonNewton. Fürdiesen binomischen Lehrsatz selbst allerdings wird aufdie Formelsammlung verwie- sen. Dieser Ansatz ist also einerseits der algebraisch ungeschicktere, und an-

30 »Es irrt der Mensch, solangerstrebt.«,Johann Wolfgang Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, hg.v.Florian Radvan und Anne Steiner,bearb.v.Michael Graef, Berlin 2013, S. 28 (»Prolog im Himmel«). 31 Lergenmüller /Schmidt(Hg.), MathematikNeue Wege, S. 174. 172 Rainer Kaenders dererseits vermag er durch den Verweis aufunverstandeneFormeln ausder Formelsammlung kein wirkliches Verständnis, weder algebraisch noch kon- zeptuell, zu erzeugen. Die Anwendungen, die wirindem Schulbuch finden,sind überwiegend ir- relevante Anwendungen, die eine Nützlichkeit der Mathematik zwar suggerie- ren, jedoch nichtwahr machen. Typisch ist hier etwa folgende Beispielaufgabe: »Klippenspringen ist eine Sportartfürwagemutige Athleten. Angenommen, die Flugbahn des Springers, der aus27Meter Höhe abspringt, kann mit der qua- dratischen Funktion hxðÞ¼Àx2+2x+27 modelliertwerden. Stelle die Flugbahn mit dem GTR dar.Wie weit springtder Springer?«32 Die eigentlich interessanten Fragen –nämlich die Frage danach, mit welcher Artvon Funktionen solche ›Flugbahnen‹ beschrieben werden und warum das so ist, sowiedie nachgeord- nete Frage, welche genaue Funktiondies in diesem Kontext ist, werden nicht gestellt. Die hier gestellte Frage nach der Weite des Sprungs ist absurd, wenn man schon die quadratische Funktion gegeben hat. Eine solche Aufgabevermitteltein intellektuell unehrliches Verhalten praktischen Problemen gegenüber, dasso sehr akzeptiertist, dass es Eingang in alle großen Schulbuchserien und zentrale Prüfungen gefundenhat.33

4.4. Die Ableitung von fxðÞ¼xnin der universitären Lehre

In der universitärenLehre werden die Begriffe der Analysis systematisch aufden Axiomen der reellen Zahlen aufgebaut. Das Axiom der Vollständigkeit stellt dabei jeweils die Existenz vonGrenzwerten sicher,die aufdie moderne Weise mit e-d-Definitionen eingeführtwerden. Leitdrahtbei dieser Entwicklung ist vorwiegend die Logik, die es erlaubt, aufbauend aufeinem Gebäude vonDefi- nitionen, Sätzen, Propositionen, Lemmata, Korollaren etc. ein jeweils neues Stockwerk logisch fest zu verankern.Sowird der Begriff der Differenzierbarkeit aufdem Begriff der Stetigkeit aufgebaut, womit die historische Entwicklung dieser Begrifflichkeiten ignoriertwird. In dem vorliegenden Buch vonBarner und Flohr34 wird fürdie Ableitung der Funktion fxðÞ¼xnallerdings auch die geometrische Reihe und nichtdie vollständige Induktion verwendet, was wohl als eine didaktische Entscheidung in diesem logischen Rahmen gesehenwerden kann.

32 Ebd.,S.21. 33 Fürweitere derartige Beispiele vgl. ThomasJahnke/Hans Peter Klein /Wolfgang Kühnel / Thomas Sonar /Markus Spindler, Die Hamburger Abituraufgaben im Fach Mathematik– Entwicklung von2005 bis 2013, in:Mitteilungen der DMV 22 (2014), S. 115–122. 34 Barner /Flohr,Analysis 1. Die Ableitung von f(x) = xn in Schulbüchern dreier Zeitphasen 173

5. Operatives Prinzip, Methodisierung und Propädeutik

Das Schulbuch der fünfziger Jahreentwickelt die mathematischen Inhalte an- hand geschlossen formulierter Aufgaben, in denen jeweils relevante Gegen- stände zu entdecken sind, die zuvor in die Aufgaben gesteckt wurden. DerUn- terschied zur zeitgenössischen Vorlage wird deutlich, wenn wiruns das Pendant zur AufgabeinAbb.1genauanschauen.

A.1. Bilde den Differenzenquotienten und alsdanndurch Grenzübergangden Differentialquotienten der Funktionen a) y ¼ x;b)y¼x2;c)y¼x3.Was ergibt sich bei induktiver Verallgemeinerung als Ableitungder Funktion y ¼ xn (n positiv ganz)? Genügt der induktiveSchluss als Beweis? Tab. 2: Mustererkennunginden fünfziger Jahren35

Wirsehen hier eine sprachlich genaue Unterscheidung der zentralen Begriffe Differenzenquotient und Differentialquotient. Die Aufgabe verschafftdie Gele- genheit, eine Vermutung aufzustellen,dochwird sie nichtals Aufforderung verstanden, eine allgemeine Einsichtauf dem Wege der Mustererkennung zu gewinnen. Die Formulierung erweckt den Eindruck, dass auch an vielen anderen Stellen des Unterrichtswerkes schon aufdie Unzulänglichkeit induktiver Schlüsse in der Mathematik(waseinen Unterschiedzuanderen Fächerndar- stellt) aufmerksam gemachtwurde;sonst wäre die Formulierung induktive Verallgemeinerung den Schülernnichtverständlich. Unddochwird die induk- tive Verallgemeinerung hier eingesetztals das, was sie ist:ein wichtiges Mittel, Zusammenhänge zu erraten. Die Problematikdieses Vorgehens wird gleichwohl explizit angesprochen, und mit einer etwassuggestiven Frage wird die einzelne Schülerin oder die ganze Klasse zu einer Diskussion eingeladen. Damit zeigt diese Aufgabeeine viel größereTiefe als ihr zeitgenössisches Pendant. Die al- gebraisch fundierteAbleitung der entsprechenden Formelnfolgtdann als nächster –und noch notwendiger –Schritt in dieser angestrebten konzeptio- nellen Entwicklung. In den siebziger Jahren ist das Schulbuch, wiedie universitärenLehrbücher, zweigeteilt in Teile der Theorieentwicklung und daran anschließende Übungs- aufgaben. In der Theorieentwicklung wird vonden Schülernnichterwartet, dass sie diese mit eigenen Mitteln selbst weiter fortführen können. Undsofehlen eben gerade solche Aufgaben wiedie oben beschriebene, welche die Schüler dazu anhalten, die nächsten Schritte der Entwicklung vorwegzunehmen, eigene Formulierungen oder eigene Schritte der Konzeptualisierung zu versuchen. Die Entwicklung der so genannten Epsilontik (oder »Dedekindkur«, wieToeplitz

35 Brandes, Lehr-und Arbeitsbuch fürden mathematischen Unterricht, S. 78. 174 Rainer Kaenders dies nannte36)hat Jahrhunderte gebraucht, und wiesollten Schüler dies auch in diesem Rahmen auseigener Kraftentwickeln oder auch nurrekapitulieren?Die Aufgabeder Schüler ist vielmehr, diese Abschnitte zu studieren. Dies bedeutet, zu versuchen, ihnen einen Sinn oder ein Verständnis abzugewinnen. Dazu muss man Teile des Textes sehr sorgfältig lesen, das Buch dann weglegen und fürsich selbst versuchen zu formulieren, was sinngemäß dortsteht. Man muss sich mathematische Aussagen kurz anschauen und dann selbst einen –meist un- vollkommenen –Beweis versuchen, bevorman dann den perfekt inszenierten Beweis des Schulbuches liest, beidem in der Regel die Schritte, die man beider Entdeckung durchlaufen hat,inihrer Reihenfolge umgekehrtwurden (didak- tische Inversion). Undvielleicht das Allerwichtigste:Esgiltzuverstehen, was gemeintist, wenn mathematische Texte dazu auffordern, eine Formel, einen Ansatz, eine Idee, eine Vermutung, eine Größeoder was auch immer zu be- trachten. Einfach lesen kann man diese Texte jedenfalls nicht. Undsicher sind Lehrerinnen, die solche Artmathematischen Studierens nichtselbst ausgiebig kennengelernt und betrieben haben, nichtinder Lage, diese Aktivitätzuver- mitteln. Ein Mathematikbuch, das aufdiese Weise aufgebautist, verlangtden Lesernab, den Prozess zu den Lernresultaten selbst zu gestalten. In ihm kann man, wieOtte dies oben schon formulierthat, den Prozess des Lernens im Gelernten nichtmehr erkennen;esstehtdamit den oben vonOtte angespro- chenen »prozeßorientierten didaktischen Konzeptionen« fundamental gegen- über. Die Prozessorientierung müssen die Lehrerinnen vollkommen unabhängig vom Lehrbuch mit den Schülernfürihren eigenen Unterrichtentwickeln, was eine sehr großeAnforderung an die mathematikdidaktischen Fähigkeiten der Lehrerinnen darstellt. Später dienen solche richtigen Mathematikbücher dazu, die Sachverhalte und Argumentationsgänge schnell und effektiv rekapitulieren zu können. Doch liefertdie Vorgehensweise im Buch eben keine explizite pro- zessorientierte didaktische Konzeption,dasie das Betreiben vonMathematik als das Studieren solcher Texte und Bearbeiten geschlossener,dazu passender Übungsaufgaben darstellt. Diese Arbeitsweise, die wirhier einfach das Studieren mathematischer Vor- lagen nennen wollen, wird später beider Aufnahme eines Studiums erwartet, und in diesem Sinne können solche Schulbücher als propädeutisch angesehen werden. Die Tatsache, dass heutige Schulbücher bis zum Abiturals Kinderbü- cher mit vielen bunten Bildernund pädagogisch wohlmeinendenAnleitungen aufwarten, lässt erahnen, warum es gerade in der Mathematik Studierenden im ersten Jahr eines Mathematikstudiums so schwer fällt, diesen Wechsel der Lernkulturen zu vollziehen. Durch den Mangel an mathematischen Techniken

36 Toeplitz, Überdas Problem der Universitätsvorlesungen überInfinitesimalrechnung und ihrer Abgrenzung gegenüberder Infinitesimalrechnunganden höheren Schulen, S. 88. Die Ableitung von f(x) = xn in Schulbüchern dreier Zeitphasen 175 führtdann häufig auch die eigenständige Beschäftigung mit eigenen Fragen in diesem zeitgenössischen UnterrichtzuFrustrationen, da zwar eventuell eigene Fragen vorliegen, doch die Mittel fehlen, sie in irgendeinererfolgversprechen- den Weise anzugehen. Der Ausweg wird in zwar relevantklingenden, aber häufig vom mathematischen und vom praktischen Standpunkt her unsinnigen Auf- gaben gesucht.Das Tückischedabei ist, dass Schüler,Lehrer und Eltern hiermit zufrieden sind, wennauch die einen aufgrund der niedrigen Anforderungen, die anderen aufgrund der praktischen Unterrichtbarkeit, die nurnochwenige di- daktische Schwierigkeiten erzeugt, und letztere aufgrund ihres mangelnden Urteilsvermögens in Hinblickauf Aktivitäten, die ja nachsinnvollen Lebens- vorbereitungen klingen. Didaktische Zugänge zur Ableitung von fxðÞ¼xnbleiben auch in Zukunft eine Herausforderung fürdie Mathematikdidaktik, überdie auch aktuell noch nachgedachtund gearbeitet wird.Zum Beispiel finden sich in Kirfel (2014) und Kaenders (2014, 2015) stoffdidaktisch innovative Herangehensweisen an dieses Problem, indem alte Ideen des flämischen Jesuiten Gregorius vanSt-Vincent (1584–1667) neu belebt, erweitertund fürdie Mathematikdidaktik nutzbar ge- machtwerden.37

6. Résumé

Welche Rolle spielt die Fachkulturinder Lehrerbildung Mathematik?Nach wie vor ist es unmöglich, hier eine allgemeine Antwortzugeben. Jedoch haben wir gesehen, dass sich schon beieinem einfachenSachverhaltwie der Ableitung von fxðÞ¼xneine Vielzahl vondamit verbundenen Aspekten ergibt. Wirhaben versuchtaufzuzeigen,wie die Fachkultur in dieser sehr einge- grenzten Frage die schulischen Inhalte berührt, welche Formen des Mathema- tiktreibens im reinen Fachstudium zunächst nichtvorkommen, und warum dies eine spezielleFachkultur in der Schule erfordert. Weiterhin haben wirange- deutet, welche Veränderungen des Schulfaches sich während eines Lehrerlebens vollziehen, das sich übermehreresolche Epochen erstrecken kann und wie notwendig dabeieine kritische Begleitung ausSichtder Fachkultur ist. Immer stellt sich die Frage, was das Erlernen vonMathematik als Inhalt und

37 Vgl. Christoph Kirfel, Integration by geometrical means –aunified approach, in:Mathe- matics Teaching 239 (2014), S. 23–25;Rainer Kaenders, Voneinem kognitiven Konflikt zur Quadratur der Parabel, in:Jürgen Roth /Judith Ames (Hg.), Beiträge zum Mathematikun- terricht, Münster 2014, S. 583–586und RainerKaenders, Flächenbestimmungmit Ähn- lichkeit als Alternative zur so genannten h-Methode, in:Franco Caluori /HelmutLinne- weber-Lammerskitten/Christine Streit (Hg.), Beiträge zum Mathematikunterricht, Münster 2016. 176 Rainer Kaenders als Tätigkeit ausmacht. Ist das Wesen des Erlernens vonMathematik das selb- ständige Entdecken?Ist es eine aktiveEntwicklung der Theorie anhand von Aufgaben die der Lernende formuliert–möglicherweise mit Hilfe pädagogi- scher Anleitung und methodisch ausgewählter enaktiver und ikonischer Un- terstützung der Begriffsentwicklung?Werden Inhalte durch klare, einfache relevante Anwendungen illustriert? Oder ist es die Rekapitulation des axioma- tischen Aufbaus der Theorie, zu der man die Fähigkeit des Studierens benötigt? Ist es das Bestehen vonzentral entworfenen Tests oder der Gebrauch unver- standener Begriffe aufeine Weise, die durch dasUmfeld akzeptiertist? Wieauch immer man sich hier positioniert, Studierende im Lehramt der Mathematik können in solchen Fragen erst dann qualifizierte Standpunkte vertreten, wenn ihnen die Mathematik in all diesen Aspekten im Laufe des Studiums vertrautgeworden ist und sie darüberzureflektieren gelernt haben.

Literaturverzeichnis

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Uwe Küchler

Fremdsprachendidaktik als interdisziplinäre Wissenschaft: Ökologie, Umwelt und die Inhaltsfrage

In den Seminaren zur Lehrerbildung,bei öffentlichen wissenschaftlichen Vor- trägen, in Berufungsverfahren und in der Debatte um die wissenschaftlich- theoretischeoder schulpraktische Ausrichtung des Praxissemesters –immer wieder tauchtdie Frage nach dem Verhältnis vonTheorie und Praxis auf. Explizit oder implizit wird damit aufdie Legitimation bestimmter wissenschaftlicher Fragestellungen, inhaltlicher Schwerpunktsetzungen oder gar Themen verwie- sen. Nebenschulpraktischen Komponenten oder der Breite und Tiefe fachwis- senschaftlicher Ausbildung rückt beider Neugestaltungvon Lehramtsstudien- gängen insbesonderedie (mögliche) Ausrichtung und das Selbstverständnis der jeweiligen Fachdidaktiken ins Zentrum des Interesses:Durch welche Bezüge ordnet die Fremdsprachendidaktik Englisch sich in den fachwissenschaftlichen, pädagogischen und allgemeindidaktischen Kontext ein?Welche Themen bear- beitet sie und wiekommtsie zu ihrem Wissen und ihren Methoden? Dem Selbstverständnis, der Ausrichtung und den interdisziplinärenVer- knüpfung der Englischdidaktik soll aufden nächstenSeiten exemplarisch an- hand ökologischer Themen nachgegangen werden. Ökologie ist in diesem Zu- sammenhang ein sehr reizvolles Thema, weil es in der gegenwärtigen medialen, politischen und wissenschaftlichen Diskussion allgegenwärtig zu sein scheint. Es besitzt damit höchste Aktualitätund Authentizität. Gleichzeitig aber liegt noch keine dezidiertfachdidaktische Konzeptionfürdie Bearbeitung des The- mas im modernen Fremdsprachenunterrichtvor. Ferner dürfte die Umkehrung der oben gestellten Frage ein interessantes, doch auch kritisches Lichtauf die Fremdsprachendidaktik Englisch werfen: Welche Rolle spielt die Fremdsprachendidaktik im Kontext des Ökologiedis- kurses und beider Bearbeitung dieses grundlegenden Themas unserer Zeit? 180 Uwe Küchler

1. Thematische Bestandsaufnahme:Umwelt ›in Englisch‹ oder ›auf Englisch‹?

Seit vielen Jahren bereits werden Umweltthemen in Unterrichtsmaterialien für Englisch berücksichtigt und teilweise auch in Lehrplänen verankert. Zahlreiche Zusatzmaterialienzum Thema wurden in Umlauf gebracht, wiedie Text- sammlungen »Saving the Planet:The Environmental Debate« oder »Our Envi- ronment: AState of Emergency«.1 Lehrbüchernwurde ein Kapitel gegeben, das sich mit der Umweltthematikbefasst, wie»Saving the Planet:Our Environment in Danger« in »English in Context«2 oder »Saving the Planet« im Themenheft »Abi-WorkshopEnglisch:Globalisation«3.Offensichtlich findetdas Thema im Englischunterrichtrechthäufig Verwendung und Anklang.Gibt es hier über- haupt ein Problem in Bezug aufdie Umweltthematik?Die Frage lässt sich nur beantworten, wenn ein genauerer Blick aufdie thematischen Inhaltegelenkt wird.4 BeiDurchsichtder Lehrwerkeund Materialien stecheneinige Merkmale ins Auge. Bereits beider Betitelung der Hefteund Kapitel fällt ein entscheidendes Kriterium auf: Es handelt sich –fast ausschließlich –umUmweltthemen bei- spielsweiseaus den semantischen Feldern Verschmutzung,Zerstörung oder Aussterben. Fast keine Schattierung ökologischer Katastrophenszenarien wird den Schüler/inne/n erspart, obwohldiese einseitig negativen Attribuierungen, Bedrohung und die populistisch-reißerische Darstellung in Massenmedien recht deutliches Desinteresse und Frustration, vielleichtgar Ängste hervorrufen können. In den 1990er Jahren lernten die Schüler/innen mit »English in Context«

1Geoff Sammon(Hg.), Saving the Planet:The Environmental Debate, Berlin 1995. Stephen Speight (Hg.), Our Environment: AStateofEmergency?, Braunschweig /Paderborn/ Darmstadt 2009. 2Harald Beck u.a. (Hg.), English in Context, Berlin 1995, S. 25–48. 3Christine Meißner /Thomas Tepe, AbiWorkshopEnglisch:Globalisation, Stuttgart2008, S. 24–33. 4Der Autor arbeitet an einer umfassenden theoretischen und qualitativenStudie zum Thema, in der diese Merkmale systematisiertund kategorisiertwerden. Die hier dargestellten An- merkungen sollen lediglich einen Eindruck vonder Problemlage vermitteln, erhebenjedoch keinen Anspruch aufVollständigkeit, systematische Auswahl oder Darstellung.Vgl.auch folgende Artikel: Uwe Küchler,›Am IGettingThrough to Anyone?‹ ForeignLanguage Edu- cation and the Environment,in:Alexander Brock /Ders. /Anne Schröder(Hg.), Explorations and Extrapolations: Applying Englishand American Studies,Münster 2011,S.105–135; Ders.,LinkingForeignLanguage Education and the Environment: InterculturalCommuni- cative Competence and Environmental Literacy,in: Serpil Oppermann/Ufug Özdag /Nevin Özkan /Scott Slovic (Hg.), The FutureofEcocriticism:New Horizons, Cambridge 2011, S. 436–452;Ders.,›HowDeep the WoodsAre and Lightless‹ Seeking Opportunities for En- vironmental and Intercultural Teaching, in:Sylvia Mayer /Graham Wilson (Hg.), Ecodidactic Perspectives on EnglishLanguage, Literatures and Cultures, Münster2006, S. 163–177. Fremdsprachendidaktik als interdisziplinäre Wissenschaft 181 beispielsweiseDetails zu Verschmutzung und Mülltrennung,zur Energiethe- matik und zum Funktionieren eines Atomreaktors, zur übermäßigen Motori- sierung (»Autogeddon«) und zu »direct action« Kampagnen der Umwelt- schutzorganisation GREENPEACE.5 Die Tendenz, sich aufProblemhaftigkeit zu kaprizieren und der Umweltthematik nichtetwa auch schöne, kreative, ästhe- tische und beglückende Momente, Texte oder Aufgabenstellungen abzugewin- nen, ist als deutlicher Kritikpunkt anzusehen. Ausgewählte Texte und Themen präsentieren die Umweltfragen in einem alarmierenden und häufig zugleich moralisierenden Ton. Oftliegtder Darstellung des Themas eine anthropozen- trische oder wirtschaftsorientierte Sichtweise zugrunde, mitunter kombiniert mit großem Vertrauen in technische Lösungen. Die Bearbeitung der Umweltthematikscheinteiner Hypothese zu folgen, die durch Wissen Verhaltensänderungen hervorrufen möchte. Den Schüler/inne/n werden erschreckende Bilder,Ereignisse oder Erfahrungen präsentiert, um sie zu bewussterem und disziplinierterem Umgang mit Ressourcen zu bewegen oder vielleichtgar zu (Konsum-)Verzichtzuanimieren. Ist es überhaupt rea- listischund effektiv,mit der Vermittlung vonWissensbeständen dasVerhalten der Schüler/innen ändernoder auch nur beeinflussen zu wollen?Abgesehen davon, dass andere Themen und Units der Lehrwerkeund Materialien diesem Ansinnenentgegenwirken, muss die Hypothese vonVerhaltensänderung durch Wissenszuwachs heuteals widerlegtangesehen werden. Der Erziehungswis- senschaftler UdoKuckartz kommtinseiner Studie »Trends im Umweltbe- wusstsein« zu dem Schluss, dass Wissen überdie Umweltproblematik zu genau dem gegenteiligen –nämlich nicht ökologisch sensiblem –Verhalten führen kann.6 Die Textzusammenstellung und Auswahl vonTexttypen orientiertsich an den fremdsprachendidaktischen Prinzipien der Aktualitätund Authentizität. In der Folge liegtein Schwerpunkt rechteinseitig auf(Sach-)Texten massenmedialer Zeitschriften und Zeitungen. Andere, womöglich kreativere oder fiktionale Texttypen finden dagegen nurselten Berücksichtigung.Weiterhin fällt auf, dass –imSinne einer global education –Themen ausgewählt werden, die überNa- tionalgrenzen hinaus Relevanz besitzen. Dies ist ein bedeutungsvolles Kriteri-

5Beck, EnglishinContext, S. 25–48. 6Vgl.hierzu UdoKuckartz/AnkeRheingans-Heintze, Trends im Umweltbewusstsein:Um- weltgerechtigkeit, Lebensqualitätund persönliches Engagement, Wiesbaden 2006;füreine zusammenfassende Kommentierung der Studie vgl.:Ders.,Nichthier,nichtjetzt, nichtich – Überdie symbolische Bearbeitung eines ernsten Problems, in:Harald Welzer /Hans-Georg Soeffner /Dana Giesecke(Hg.), KlimaKulturen:Soziale Wirklichkeiten im Klimawandel, Frankfurta.M. 2010, S. 144–160;zur Kontextualisierung der Studie fürden Fremdspra- chenunterrichtsiehe:Uwe Küchler,Where ForeignLanguage Education Meets, Clashes and Grapples with the Environment, in:Roman Bartosch /Sieglinde Grimm (Hg.), Teaching Environments:Ecocritical Encounters, Frankfurta.M. /New Yo rk /Wien 2014, S. 23–34. 182 Uwe Küchler um, wenn es –durch Ignorieren vonThemen oder Inhalten –nichtzueinseitiger Textauswahl führt. Globale Themen sind häufig rechtweit vonder Lebens- wirklichkeit der Schüler/innen entfernt und stellen aufdiese Weise eine große emotionale Distanz her.7 Sie müssten durch regionale und den Schülererfah- rungen naheThemen ausbalanciert werden.Vor dem Hintergrund abschmel- zender Polkappen, in jedem Umweltkapitel auftauchender Bilder vonEisbären und abgeholzter Regenwälder erscheintdas unmittelbare Umfeld der Schüler/ innen, ihregreifbare Lebenswirklichkeit, paradoxerweise ›in Ordnung‹. Aus interkultureller Sichtverstärkt der einseitige Fokus auf›die anderen‹ klischee- haftes Denken. Indem die Themenauswahl, insbesondereder Materialhefte, sich beinahe ausschließlich aufauthentische Sachtexte und Themen der Massen- medien beschränkt, gleichzeitig vor allem den Blickinlandeskundlicher Manier aufdie Zielkulturlenkt, statt nach interkulturellem Impetus auch herkunfts- kulturelle zu berücksichtigen, werden die Chancen fürinterkulturelles und globales Lernen entlang der Umweltthematikstark eingeschränkt. Vielmehr kann der Eindruck entstehen, dass das postulierte Umdenken womöglich nur für andere Kulturen, insbesondereanglophone und amerikanische, notwendig sei. Schüler/innen wieLehrer/innen könnten der Vorstellung anheimfallen, dass in Deutschland eine ›Verhaltensveränderung‹ überflüssig sei, da hier bereits eine erkleckliche Anzahl vonWindrädernaufgestellt und der Müll seit Jahrzehnten minutiösgetrenntwird. Ein weiterer Kritikpunkt liegtinder häufig nurscheinbaren Thematisierung vonUmwelt:Werden in Lehrwerken und Materialien tatsächlich Natur oder Umweltangesprochen, dann stehen vielfach sprachliche Mittel und funktionale Sprachfertigkeiten im Vordergrund. Dies ist insofern nachvollziehbar,als sich in der Verfügbarkeit sprachlicher Mittel und in funktionalen Kommunikations- kompetenzen nichtzuletzt die Notwendigkeit vonEnglischunterrichtbegrün- det. Ein Übungstext oder eine Aufgabenimmt sich zwar den Klimawandel, die Verschmutzungsproblematik oder den Wassermangel zum Thema, richtet sich eigentlich aber aufdas Einübenbestimmter Grammatikregeln.8 Der thematische Inhalt spielt beieiner solchen Übung keinerlei Rolle, und Umweltfragen werden gar nicht›wirklich‹ thematisiert, sondern dienen lediglich der Demonstration

7Vgl.beispielsweise»Windpark and highway near Los Angeles«, »Industrial area in China«, »South Africanchildrenatplay«, in:Meißner /Tepe, AbiWorkshopEnglisch, S. 24. 8Vgl.beispielweise die Übungen 7und 8(»Revision:Tenses /The Passive«): HaraldWeisshaar / Frank Haß (Hg.), Green Line 4fürKlasse 8anGymnasien, Stuttgart2008. Als Aufgaben- stellung ist hier angemerkt:»Put the sentence parts together and find out moreabout the environment in California.« Vgl.auch Übungen und Beispielsätze zu »Conditional Senteces«: Beck, English in Context, S. vii. Hier heißtes: »TypeI:Ifwewanttostopglobal warming,we will have to actnow.« Fremdsprachendidaktik als interdisziplinäre Wissenschaft 183 vonAktualitätund Relevanz sowieder Illustration (scheinbar)authentischer Kommunikationsanlässe. Weil Englisch ein kommunikatives Fach ist, richten sich zahlreiche Übungsformen aufDebatte und kritische Urteilsbildung. Die Meinungsbildung darfjedoch nichtnur zum Schein erfolgen oder gar –auf Grundlageder vonden Massenmedien übernommenen Sachtexte –soziale Erwünschtheit hervorheben. Unbestreitbar birgtjedes einzelne der fürLehrwerkeund Materialien aus- gewählten Themen viel Diskussionsstoff und bietet Möglichkeiten zur Ausein- andersetzung in der fremden Sprache. Dennoch wirftdie überblicksartige Kommentierung deutliche Probleme des derzeitigen Umgangs mit Umweltthe- men im Englischunterrichtauf:Die Thematisierung vonUmweltund Ökologie lässt eine Rezeption aktueller,fachwissenschaftlicher Erkenntnisse vermissen. Weder wird deren Behandlungden Zielenund Prinzipien der Englischdidaktik gerechtnochentsprichtdas hier vermittelte Wissen dem aktuellen Wissensstand der Bezugsdisziplinen. Eine Auseinandersetzung mit Sprachbewusstheit –wie sie nichtnur der Kernlehrplan vonNordrhein-Westfalen vorsieht9 –findet bei- nahe gar nichtstatt. In den meisten Fällen werden (dem Fach inhaltlich fremde) Umweltthemen aufEnglisch präsentiert. Währenddessen erfolgteingehendes Befassen mit dieser Thematik in Englisch und in engen Bezügen zu Sprache, Kultur,Wahrnehmung oder Bewusstheit nurrudimentär.

2. Fachdidaktik als interdisziplinäres Forschungsfeld

BeiBetrachtung des Themenkomplexes Naturund Umwelt werden neben fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Erkenntnissen auch grundsätzli- che Fragen zum interdisziplinärenSelbstverständnis der Fremdsprachendi- daktik aufgeworfen. Es gehtumFragen und inhaltlich-thematische Aspekte, die in jüngster Zeit ins Hintertreffen geraten sind und in aktuellen Debatten kaum mehr eine Rolle zu spielen scheinen. Aufgrund dessen muss wiederkehrend neu gefragtwerden: Woher beziehtdie Fremdsprachendidaktik ihr Wissen?Auf welcher Basis werden Empfehlungen oder gar Entscheidungen fürdie Ausrichtung und Ge- staltung vonLehr-und Lernprozessen getroffen und wissenschaftlich begrün- det?InStandardwerken zur Lehrerbildung wird die Fachdidaktik unmissver- ständlich in ein interdisziplinäresUmfeld gestellt. Werner Jank und Hilbert

9Ministerium fürSchule und Weiterbildung desLandes Nordrhein-Westfalen, Kernlehrplan fürdie Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen:Englisch, Düs- seldorf 2013, S. 16f. 184 Uwe Küchler

Meyer10 beschreibendie Fachdidaktik als Schnittstelle zwischen den verschie- denen Ausrichtungen und Ansprüchen der Lehrerbildung,den akademischen Kerndisziplinen (hier Anglistik und Amerikanistik), weiteren wissenschaftli- chen Bezugsdisziplinen (etwa Komparatistik, Cultural Studies und vielen wei- teren) und dem Schulfach Englisch mit seinem spezifischen Aufgabenfeld.11 Als weitere Schnittstelle dientdie Fachdidaktik der Vermittlung zwischen bil- dungspolitischen Ansprüchen und bildungswissenschaftlichen Erkenntnissen sowiezahlreichen weiteren wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Anforde- rungen. Nach diesem Selbstverständnis soll die Fachdidaktik ihr Wissen und ihre Erkenntnisse ausdem Zusammenspiel rechtdisparater fachwissenschaft- licher Bezugsdisziplinen und dem Unterrichtsfach gewinnen:Sie machtessich zur Aufgabe, die fachwissenschaftlichen Erkenntnisse in die Gestaltung des Unterrichts –mittels Lehramtsstudium, Weiterbildungen, Publikationen und Materialerstellung –einzubringen. Darüberhinaus ist es ebenfalls ihre Aufgabe, Impulse ausdem Unterrichtsfach und dem schulischen Geschehen aufzuneh- men, »theoretisch umfassend und praktisch folgenreich« zu erforschen12 und daraus gewonnene Erkenntnisse an die Fachwissenschaften, weitereBezugs- wissenschaften und die Schule zu spiegeln.Die Definition der Fachdidaktik gibt Anlass, dasVerhältnis vonTheorie und Praxis beständig im Blick zu behalten und anhand einzelner Theorien, Themen oder gesellschaftlicher Fragestellun- gen zu überprüfen, wieesder Fachdidaktikgelingt, ihre Rolle als Vermittlerin zwischen disparaten Wissensbereichen und als Produzentineigenen Wissens gerechtzuwerden. Im Eifer der Neuerungen und Re-Konzeptualisierungen ist gleichzeitig darauf zu achten, wieausgewogen das Verhältnis vonTheorie und Praxis berücksichtigt wird und ob bestimmte Bereiche zugunsten anderer Themen ausdem Blickfeld geraten. Gegenüberder Umgestaltungdes Schulsystems und der Neuausrich- tung aller Lehr-Lern-Szenarien aufOutput und Kompetenzorientierung hat sich auch die Fremdsprachendidaktik –teilweise rechtkritisch –engagiert.13 Mit der Kompetenzorientierung,soscheintes, wird das Verhältnis zur theoretischen Arbeit der Bezugsdisziplinen und Fachkulturen vernachlässigt. Die Beziehung zwischen Theorie und Praxis in der Lehrerbildung,vor allem zwischen Fachwissenschaften und Fachdidaktiken, war jedoch nie ganz unge-

10 Werner Jank /HilbertMeyer,Didaktische Modelle, Berlin 1991. 11 Vgl. hierzu die Abbildungin: Ebd.,S.33. 12 Ebd. 13 Vgl. hierzu:Wolfgang Hallet /Ulrich Krämer (Hg.), KompetenzaufgabenimEnglischun- terricht: Grundlagen und Unterrichtsbeispiele, Seelze 2012;Adelheid Hu u.a.,Kompe- tenzorientierung, Bildungsstandardsund fremdsprachliches Lernen –Herausforderungen an die Fremdsprachenforschung (Positionspapier vom Vorstand und Beirat der DGFF), in: Zeitschrift fürFremdsprachenforschung 19, 2(2008), S. 163–186. Fremdsprachendidaktik als interdisziplinäre Wissenschaft 185 trübt. Die permanenten strukturellen und konzeptuellen Veränderungen in der Amerikanistik und auch Anglistik, die leidenschaftlichen, scharfen Dispute mit stetem Interesse an Verschiedenheit, an Widersprüchen, an argumentativen Bruchstellen, an verdeckten Bedeutungenund verstecktenkonzeptuellen Hin- tergedanken–dieser starketheoretischeFokus hat die Schulpraxis und ebenso die Fachdidaktik vonden Fachwissenschaften entfernt,wie Peter Freese dar- legt.14 Dem Befremden scheintdie Annahme zugrundezuliegen,dass das theo- retische Niveau,oder zugespitzt fachwissenschaftlicheTheorie allgemein, keine Bedeutung fürdie Unterrichtswirklichkeit hätten. Freese bringtdas Dilemma zwischen Theorie und Praxis aufden Punkt, wenn er die Amerikanistik, und damit stellvertretend alle fürdas Fach Englisch heranzuziehenden Fachwis- senschaften, ermahnt:

»Americanists whodeplore that their first-year studentsare insufficiently prepared need to realize that by implication they criticize these students’ teachers, and since these teachers oncewere their students, in the end criticize themselves. Therefore, it seemstomethat we should not only ask ourselves whether we are offering our future teachers the texts and theories that makethem fit for their profession,but demand that we be asked to contribute our scholarlyexpertise when new school curricula are devised, and takeanactiveinterest in the sorely neglected field of Lehrerfortbildung.«15

Indem Freese das geringe Interesse der Fachwissenschaften an schulischen und fachdidaktischen Belangen bedauert, rügt er gleichzeitig auch die fehlende Konsultation fachwissenschaftlicher,hier anglistischer und amerikanistischer, Forschungsergebnisse beider jüngsten Überarbeitung vonRahmenrichtlinien und Curricula. Während die Deutsche GesellschaftfürAmerikastudien (DGfA) beiihren jährlichenTagungen regelmäßig einen fachdidaktischen Workshop anbietet, lassenjedoch die Jahrestagungen des Anglistenverbandes bis dato eine fachdidaktische Auseinandersetzung vermissen. Gerhard Bach und Jürgen Donnerstag haben die spannungsreiche Situation zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik adäquat zusammengefasst:

»The academic discipline does not help in selecting texts suitable for advanced learners of English as aforeign language and the oftentimes highly theoretical orientation of American studies is considered to be beyond the intellectual capacityofHighschool students –and frequently of universitystudents as well.«16

Jedoch kann den Fachwissenschaften nichtallein ein Vorwurfgemachtwerden. Auch die Fachdidaktikvernachlässigt, zumindestinBezug aufden Themen-

14 Peter Freese, American Studies und EFL-Teaching in Germany :ATroubled Relationship,in: Amerikastudien /American Studies 50, 1/2 (2005), S. 183–229. 15 Ebd.,S.220. 16 GerhardBach /Jürgen Donnerstag,Introduction:Teaching American Studies in the Twenty- First Century, in:Amerikastudien /American Studies 52, 3(2007), S. 315–320, hierS.315. 186 Uwe Küchler komplex ›Natur –Umwelt‹, aktuelle Forschungsergebnisse der deutschen und internationalen Fachwissenschaften.

3. Das Thema ›Natur –Umwelt‹ und ökologische Forschungsimpulse

Beidem Bereich ›Natur –Umwelt‹ handelt es sich um ein Thema, dem große gesellschaftspolitische Relevanz zugeschrieben wird.Der einflussreiche Erzie- hungswissenschaftler Wolfgang Klafki hatte bereits vor fast 25 Jahren gefordert, dass Ökologie beijedem pädagogischen Unterfangen zu berücksichtigen sei, weil es sich hier um ein »epochaltypisches Schlüsselproblem« handelte.17 Beider Recherche vonfachdidaktischer Sekundärliteratur stellt sich die Frage:Wenn es sich um ein wichtiges Thema handelt, warum gibt es dazu kaum fachdidaktische Grundlagenforschung? Um die Position vonThemen wieNatur und Umweltzuverdeutlichen, möchte ich aufeine Polemik des kanadischen Literaturwissenschaftlers Greg Garrard verweisen, der in seinem Einführungsband zum Ecocriticism treffend veran- schaulicht:

»Todescribe something as an ecological problem is to makeanormativeclaim about howwewould wish thingstobe, and while this arises out of the claims of ecological scientists,itisnot defined by them. A›weed‹ is not akind of plant, only the wrongkind in the wrongplace. Eliminating weeds is obviously a›problem in gardening‹, but defining weeds in the first place requires acultural, not horticultural, analysis.«18

GarrardsKritikist gleichermaßen fürdie Fremdsprachendidaktik relevant, weil sie die Aufgaben geisteswissenschaftlichen Arbeitens in den Mittelpunktdes Interesses rückt. Die Vorstellung einer »Abbilddidaktik« ist entschieden abzulehnen.19 Gleichwohl verweist die erste Konstituente ›Fach‹ im Terminus Fachdidaktik Englisch aufdie Bestimmung geisteswissenschaftlicher Disziplinen, ihre er- kenntnistheoretischen Orientierungen und ihre Fragestellungen ebenso wiedas forschungsmethodologische Instrumentarium. Dieser Verweis aufdie Fach- wissenschaften gibt Aufschluss darüber, entlang welcher Prämissen dasVer- hältnis zwischen fachwissenschaftlicher Theorie und Unterrichtspraxis sich entfalten kann. Welche Beziehung zwischen Theorie und Praxis wird angestrebt?Welche

17 Wolfgang Klafki, Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik:ZeitgemäßeAllgemein- bildung und kritisch-konstruktiveDidaktik, Weinheim /Basel 1991, S. 50–51. 18 Greg Garrard, Ecocriticism, London/NewYork 2004, S. 5. 19 Jank /Meyer ,Didaktische Modelle, S. 32. Fremdsprachendidaktik als interdisziplinäre Wissenschaft 187 theoretischen Erkenntnisse werden überhaupt in Unterrichtspraxis übertragen? Welche Praxisfragen findenEingang in die fachdidaktische und insbesondere auch die fachwissenschaftlicheTheorieforschung?Allgemein gesprochenist es Aufgabegeisteswissenschaftlicher Disziplinen, die Besonderheit des menschli- chen Zusammenlebens, seiner Produkte und Institutionen in ihrer Historizität und Kulturalitätzudurchleuchten.20 Geisteswissenschaften haben, so Marcus Beiner,eine »lebenspraktische Orientierungsfunktion«.21 Insbesondere in Zei- ten des Umbruchs und der Unsicherheit tragen sie dazu bei, die Welt zu ver- stehen:

»Die Geisteswissenschaften haben fürdas menschliche Selbstverständnis heute eine zentrale Rolle, weil sie in der gesellschaftlichen Arbeitsteilungsozusagen zuständig sind fürdie komplizierten Fälle sprachlicher Verfaßtheit vonGegenständen vonall- gemeinem oder speziellem Interesse.WoVerständnis schwierig wird, da sind die Geisteswissenschaften gefragt–und da, wo es fürunser individuelles wiegesell- schaftliches Lebenbesonders wichtigist.«22

Dieses Fundamentdes geisteswissenschaftlichen Arbeitens spiegelt sichauch in dem traditionellen Verständnis vonPrinzipien und Aufgaben der Schulfächer. Der vorliegende Kontext wirftmithin Fragen prinzipieller Artauf: Waswill Englischunterrichtleisten?Was soll ein Lehramtsstudium –zumal in den Geisteswissenschaften –leisten?Ist der EnglischunterrichtLieferantdes angemessenen,funktionalen Fachvokabulars zur eloquenten Verwendung in späteren Berufen?Oder sollen im FremdsprachenunterrichtEnglisch Chancen aufeine spezifisch sprach- und kulturvergleichende, damit kultursensible, sprachbewusste und interkulturelle Einordnung und Gestaltung des gesell- schaftlichen Diskurses ergriffen werden?Aktuelle Lehrpläne und Curricula lassen diese Entscheidungen offen. In Nordrhein-Westfalen wird sowohl der Bezug zu »Verwendungssituationen im Alltag,inder Aus- und Weiterbildung sowieinSituationen der berufsorientierten Kommunikation«23 hergestellt als auch Sprachbewusstheit als »kognitiveDimension des Erkundens vonSprache« als Kriterium betont.24 Welchen Beitrag will die Englischdidaktik im gesellschaftlichen Diskurs um aktuelle Schlüsselthemen leisten?Kann diese Fremdsprachendidaktik als in-

20 Marcus Beiner,Humanities:Was Geisteswissenschaftmacht. Undwas sie ausmacht, Berlin 2009, S. 11. 21 Ebd.,S.62. 22 Ebd.,S.95f. 23 Ministerium fürSchule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, Kernlehrplan fürden verkürzten Bildungsgang des Gymnasiums –SekundarstufeI(G8) in Nordrhein- Westfalen:Englisch, Düsseldorf 2007, S. 11. 24 Ministerium fürSchule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, Kernlehrplan fürdie Sekundarstufe II, S. 16f. und 27. 188 Uwe Küchler terdisziplinäre Wissenschafteine Theorie fürden eigenständigen, kritischen Umgang mit der Thematik ›Natur –Umwelt‹ entwerfen? Vordem Hintergrund dieser Auslotung des fremdsprachendidaktischen Selbstbildes erhalten die Aussagen der Soziologen Harald Welzer,Hans-Georg Soeffner und Dana GieseckeinBezug aufdie hier diskutierte Thematik stärkeres Gewicht, wenn sie mit den Geisteswissenschaften (und ihren Disziplinen) recht streng ins Gerichtgehen.25 In Bezug aufKlimawandel (als lediglich einem der vielen möglichen Themen ausdem Komplex ›Natur –Umwelt‹) sagen sie:

»Die systematische kulturwissenschaftlicheUnterbelichtung eines Phänomens,das die Lebenskonditionen des 21. Jahrhunderts in vielfacher Hinsichtmitbestimmen wird, ist nichtnur deshalbfatal, weil sich die Sozial-, Geistes-und Kulturwissenschaften mit ihrer Indolenz gegenüberder Konsequenzerstmaligkeit des Klimawandels selbst um einenGegenstand vontiefem heuristischen Wert bringen.«26

Diese harsche Aussage erzeugtUnmut beieinigen Geisteswissenschaftlern, denn es gibt durchaus Wissenschaftler/innen und geisteswissenschaftliche Bereiche, wenngleich bis in die 1990er Jahrehinein nur vereinzelt, die sich mit ökologi- schen Fragestellungen befassen. Der Vorwurfeiner gewissen Trägheit gegenüberneuen Erkenntnissen und Entwicklungen muss sich jedoch die Fremdsprachendidaktik gefallen lassen. Es wärendie Erkenntnisse jener neuen, ökologisch ausgerichteten Bezugsdiszi- plinen, die Stoff, Konzepte und sogar methodische Ideen füreinen interessanten, fachlich angemessenenUmgang mit der Thematik ›Natur –Umwelt‹ im Eng- lischunterrichtermöglichen könnten. Erstaunlicherweise fassen einige dieser ökologischen Subdisziplinen in Deutschland nursehr schwer Fuß. Wolfgang Hallet und Frank G. Königs unterscheiden in ihrer Definition der Fremdsprachendidaktik zwischen Forschungsimpulsen vonaußen und von innen.27 Die oben beschriebene Beobachtung lässt vermuten,dass die Verän- derungender Bildungslandschaft seit der Jahrtausendwende dazu geführt haben, dass vorallem äußereImpulsgeber die Forschung der Fremdsprachen- didaktik vorgeben. Die dynamischen Anforderungen von Ökonomisierung und Globalisierung (auch des Bildungssektors), voninternationalem Wettbewerb und scheinbar alternativlosen Wirtschaftssituationen werden in die Sprach- ausbildung getragen. Die Lehrpläne betonen Berufsorientierung,heben die Position der englischen Sprache als lingua franca hervoroder akzentuieren Wettbewerbsfähigkeit und Globalisierung (auch inhaltlich-thematisch). Diese

25 Harald Welzer /Hans-Georg Soeffner /Dana Giesecke, KlimaKulturen, in:Harald Welzer (Hg.), KlimaKulturen:Soziale Wirklichkeiten im Klimawandel, Frankfurta.M. 2010, S. 7–19. 26 Ebd.,S.15. 27 Wolfgang Hallet/Frank G. Königs (Hg.), Lehrpläne und Curricula, in:Wolfgang Hallet (Hg.), Handbuch Fremdsprachendidaktik, Seelze-Velber2010, S. 56. Fremdsprachendidaktik als interdisziplinäre Wissenschaft 189

Forschungsimpulse vonaußen betreffen jedoch nichtden Kern dessen, was Fremdsprachenunterrichtund interkulturelles Lernen ausmachen (sollte), nämlich Sprachlernen, Kulturlernen, interkulturelles Miteinander und der sachgerechte Umgang mit verbalen, visuellen,kulturellen Medien. Ausgehend vondieser Beobachtung ließen sich folgende Fragen formulieren: –Was passiertmit Forschungsimpulsen ausdem Zentrumder philologischen und fremdsprachlichen Fachkulturen beziehungsweise des Fremdsprachen- unterrichts? –Welchen ForschungsanreizfürFremdsprachendidaktik und Unterrichtbie- ten die fachwissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahre? –Wie setzt sich die Fremdsprachendidaktik mit den längst auch curricular verankerten Themen Sprachbewusstheit und Kulturbewusstheit auseinan- der?

Es fehlen Impulse voninnen und somit ausdem Kern der geisteswissenschaft- lichen und fachdidaktischen Debatte. Würdedie fremdsprachendidaktische Forschung jedoch auch vondiesen Impulsen voninnen inspiriert, könnten die Inhalte fremdsprachendidaktischer Forschung und der fremdsprachliche Un- terrichtimEinvernehmen mit dem Selbstverständnis und den interdisziplinären fachwissenschaftlichen Verknüpfungen kritisch reflektiertund analysiertwer- den sowiewegweisende Anreize fürzukünftige Entwicklungen erfahren. Die Fremdsprachendidaktik Englisch kann als interdisziplinärerNexus jener anverwandten Bezugsdisziplinen verstandenwerden. Sie befasst sich explizit mit Situationen des Lehrens, des Lernens und ihres jeweiligen Erforschens im Bereich des Fremdsprachenlernens und des Kulturlernens. Dabei ziehtsie die spezialisierten Erkenntnisse anderer Disziplinen und Forschungsfragen hinzu,28 so dass in jüngerer Zeit die Positionierungder Fremdsprachendidaktik zu ihren Bezugswissenschaften auch als interdisziplinärerImpuls und als Bereicherung verstanden wird.Umsie fürdie Fachdidaktik fruchtbar zu machen, müssen Erkenntnisse anderer Wissensbereiche jeweils fürden fremdsprachlichen Un- terrichtkontextualisiertund spezifiziert werden. In ihrer Definition vonFach- didaktik betonen Werner Jank und HilbertMeyer die Interdisziplinaritätdieses angewandten Wissensbereichs und übertragen der Fachdidaktik diese wichtige Funktion:»Aufgabeder Fachdidaktiker ist es, den Dialog der verschiedenen Fachwissenschaften mit der Allgemeinen Didaktikund den übrigen Grundla- genwissenschaften einzuleiten und ihn zu strukturieren«.29 Fürdas Schulfach Englisch sollte dies bedeuten, dass die Fremdsprachendidaktik neben wissen- schaftlichen Impulsen der Bildungswissenschaften, der (Neuro-)Psychologie,

28 Vgl. Jank /Meyer,Didaktische Modelle, S. 10–12. 29 Ebd.,S.34. 190 Uwe Küchler der Pädagogischen Psychologie oder der Geschlechterforschung,insbesondere die einzelnen neueren Fachbereiche der Anglistik/Amerikanistik und anver- wandter geisteswissenschaftlicher Wissensbereiche in den Blick nimmt. Fürdie Fremdsprachen sind dies Erkenntnisse der Linguistik, der Literaturwissen- schaften und der Cultural Studies (ausgerichtet aufdie jeweiligen anglophonen Regionen, die fürden modernen Englischunterrichteine Rolle spielen:Groß- britannien, Nordamerika, Südafrika, der indische Subkontinentund Australien/ Neuseeland). Die Fachdidaktik verstehtsich hier jedoch nichtals Filter fürbezugswis- senschaftliche Maximen, sondern bindet diese in das komplexeGefüge aus Einflussfaktoren des Fremdsprachenunterrichts ein.30 Die Fachdidaktik ist daher als ein eigenständiger Wissensbereich zu verstehen, der sich der Erfor- schung vonfremdsprachigen Lehr-und Lernprozessen verschreibt und seine Erkenntnisse aufinterdisziplinärenAustausch mit verschiedenen Bezugswis- senschaften stützt:

»Die Eigenständigkeit der Fremdsprachendidaktik erweist sich u.a. gerade dadurch, daß sie, ausgehend vonihren speziellen Erkenntniszielen und Problemstellungen, in der Lage ist, aufdie benachbarten Disziplinen auszugreifen und mit den schon länger etablierten Wissenschaften in einen beiderseits fruchtbaren Dialog zu treten.«31 Aufdiese Weise ergibt die Bündelungund fachdidaktische Anwendung fach- wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden mehr als die Summe der ein- zelnen Teile. Wenn die Fachdidaktik gesellschaftlicheEntwicklungen ebenso wieerzie- hungswissenschaftliche und fachwissenschaftliche Erkenntnisse und Neuerun- gen spiegeln soll, müssen auch Themen und Inhalte, deren Veränderungen und methodische Zugänge stärker in der fachdidaktischen Diskussion Berücksich- tigung finden. Themen und Inhalte sind vordem fachdidaktischem Hintergrund fortwährend zu aktualisieren, neu zu diskutieren und gegebenenfalls innovativ zu überarbeiten, etwa im Hinblick aufSprachbewusstheit, Heterogenität, die Rolle vonLehrer/inne/n und Schüler/inne/n oder jedweden anderen Aspektdes Fremdsprachenlernens (Literatur,Einsprachigkeit, Grammatik und Lexik, sprachliche Fertigkeiten). Zusammenfassend kann festgehalten werden,dass in den vergangenen Jahrzehnten alle Bezugswissenschaften der FremdsprachendidaktikEnglisch mitunter sehr forschungsstarkeund einflussreiche Subdisziplinen entwickelt haben. Jede dieser Subdisziplinen befasst sich mit der Frage, wiesich Mensch- heit und ihre nichtmenschliche Umweltaufeinander beziehen oder zueinander

30 AndreasDigeser,Fremdsprachendidaktik und ihre Bezugswissenschaften, Stuttgart1983, S. 4–5. 31 Ebd.,S.4. Fremdsprachendidaktik als interdisziplinäre Wissenschaft 191 verhalten. Jede dieser Subdisziplinen versuchtzuklären, welche Rolle innerhalb dieser Beziehung jeweils Sprache, Literatur oder Kultur spielen und in welcher Verantwortung das eigene Fach in Bezug aufihre »Orientierungsfunktion« beim derzeit sich vollziehenden epochalen Wandel steht.32 In jüngster Zeit konstitu- iertsich sogar der übergreifende, transdisziplinäre Bereich der Environmental Humanities.33 Das Themenfeld ›Natur –Umwelt‹ machtoffenbar,dass sich zu allen relevanten Disziplinen längst ökologisch ausgerichtete Fragestellungen und Subdisziplinen gebildet haben: Ecolinguistics/ Ökolinguistik34 sind heute ebenso etabliertwie Ecocriticism,35 Cultural Ecology/Kulturökologie36 oder auch Environmental Education/Bildung fürnachhaltige Entwicklung.37 Es stellt sich die Frage, warum die Erkenntnisse dieser Partnerdisziplinen bisher kaum zu Transfer-oder Forschungsarbeiten in der Englischdidaktik geführthaben, warum ihre Erkenntnisse nurrechtzögerlich rezipiertzuwerden scheinen. Zwar gibt es vereinzelte Artikelund auch Querverbindungen zu den ökologischen Bezugsdisziplinen.Eine integrierte theoretische Positionierung der Fachdidaktik im Themenfeld ›Natur –Umwelt‹ jedoch stehtnochaus. Die fachdidaktische Auseinandersetzungmit Sprachbewusstheit seit den 1980er Jahren wendet sich ab voneiner rein funktionalistischen Schulung der Sprachfertigkeiten und erhebt den Anspruch, durch fremdsprachlichen Unter- richt, insbesonderemit der europäischen Forderungnach Mehrsprachigkeit, auch etwas überdie Sprache als ein Ausdruckssystem zu vermitteln. Das Land Rheinland-Pfalz formuliertinseinen »Fachimmanenten Zielsetzungen« fürden

32 Beiner,Humanities, S. 62. 33 Daniel J. Philippon, Sustainabilityand the Humanities:AnExtensive Pleasure, in:American LiteraryHistory24, 1(2012), S. 163–179;Stephanie Lemenager /Stephanie Foote, The Sustainable Humanities, in:PMLA 127, 3(2008), S. 572–578. 34 Alwin Fill /Peter Mühlhäusler (Hg.), The Ecolinguistics Reader:Language, Ecology, and Environment,London/NewYork 2001;Peter Mühlhäusler,Language of Environment, En- vironmentofLanguage:ACourse in Ecolinguistics, London2003;Arran Stibbe, Ecolin- guisticsand Globalization, in:Nikolas Coupland (Hg.), The HandbookofLanguage and Globalization, Malden, Mass. 2010, S. 406–425. 35 Serpil Oppermann /Ufuk Özdag /Nevin Özkan/Scott Slovic(Hg.), The Future of Ecocri- ticism:New Horizons, Cambridge2011;RichardKerridge/Neil Sammells (Hg.), Writing the Environment:Ecocriticism and Literature, London /New Yo rk 1998;Cheryll Glotfelty / Harold Fromm (Hg.), The Ecocriticism Reader:LandmarksinLiteraryEcology, Athens 1996. 36 Hubert Zapf /Christina Caupert(Hg.), Kulturökologie und Literatur:Beiträge zu einem transdisziplinärenParadigma der Literaturwissenschaft, Heidelberg 2008;Jhan Hochman, Green Cultural Studies:NatureinFilm, Novel, and Theory, Moskau1998. 37 Arran Stibbe, Environmental Education Across Cultures:Beyondthe Discourse of Shallow Environmentalism, in:Language and Intercultural Communication4,4(2004), S. 242–260; Andrew Stables, Environmental Literacy :Functional, Cultural,Critical. The Case of SCAA Guidelines, Environmental Education Research 4, 2(1998), S. 155–164;Katrin Hauenschild / Dietmar Bolscho,Bildung fürNachhaltige Entwicklung in der Schule, Frankfurta.M. 2005. 192 Uwe Küchler fremdsprachlichen Englischunterricht, dass die Schülerinnen und Schüler »die Freiräume (beispielsweisebei fächerbezogenen oder fächerübergreifenden Projekten) fürdie Entwicklung ihrer Kreativität(Sprache als ästhetisches Ge- staltungsmittel), ihres Weltverständnisses (Sprache als Ausdruck der Den- kungsartund Kultur eines Volkes)«38 nutzen sollen. Diese Ziele und Impulse müssen wieder Beachtung finden, um Themenkomplexen wie›Natur–Umwelt‹ gerechtzuwerden. Das Verdrängen vongut durchdachten, an die Aufgaben des Fremdspra- chenunterrichts angepassten Inhalten zugunsten vonmessbaren Kompetenzen zeigtsich hier als eklatanter Fehler.Insbesonderedie interdisziplinäre und theoretisch begründete Beschäftigung mit Naturund Umweltkann Sprachbe- wusstheit sowiedie kulturkomparativenElemente des Fremdsprachenunter- richts stärken. Die Erkenntnisse der ökologischen Bezugswissenschaften dienen dem Begreifen des mächtigen Potenzials vonSprache als ästhetischem Gestal- tungsmittel, als Ausdruck kulturellen Denkens und Verstehens der Welt. Als Ausblick möchte ich aufdie Zentralitätvon Sprachbewusstheit nichtnur in der Muttersprache, sondernauch in Fremdspracheund individueller Mehrspra- chigkeit verweisen:

»operations to create and process knowledgeare intrinsic to language, for they depend, as research tells us, on verbaland cultural codes used by differentpeoples to perceive the environmentaround them and makesense of their experiences. It is the use of language in the broadest sense that allows people to clarifyand assess their views on the world. […] Matters of language,then, including its foreignness, become central to understanding context. The comparatist […] learning of atarget language from the perspective of someone else’s first language […] gains unique insightsintothe similarities and differences of alternativeworldviews.«39

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Zum Verhältnis von Fachwissenschaft, Fachdidaktikund Bildungswissenschaft

1.

Lassen Sie mich mit zwei Erfahrungen beginnen, die vermutlich nichtnur meine sind. Wiralle in der Lehrerbildung werden sie so oder ähnlich gemachthaben. Es ist einmal die stete Konfrontation mit der Frage vonStudierenden, warum sie denn »so viel studieren« müssten, wennsie doch später nurganz wenig davon »vermitteln« könnten. Besonders ausder Mathematik hört man immer wieder diese Verwunderung,aberebenso in der Pädagogik, beider ich immer gefragt werde, warum man »ältere« Texte lesen müsse –man solle doch lieber »nur mal eben erklären«, wieUnterrichten ginge. Die zweite Erfahrung fand an einem Kalten Büfett statt, an dem sichein Universitäts-Mediziner darüberereiferte, warum man denn ausbildende Ärzte pädagogischschulen müsse:»Die werden doch wohl noch ohne Pädagogik einer Krankenschwester erklärenkönnen, wieman eine Spritzesetzt oder einem Pa- tienten, wieman eine Pille einnimmt.« Es scheintplausibel, was die Studierenden und der Kollege ausder Medizin sagen. Natürlich gehtesums Handeln, im Lehramtsstudium speziell um den HandlungsortSchule. Undumgekehrtmuss man wirklich kein Studium absol- vieren, um eine Spritze zu setzen oder eine Tablette zu schlucken –jeder Junkie aufder Bahnhofstoilette kann das. Aber hinter diesen beiden Alltagstheorien, der studentischen und der pro- fessoralen, verbirgt sich ein gemeinsamesgroßes Missverständnis, und dieses soll und muss kurz angesprochen werden. Im Grunde träumen beide, die auf Praxis drängenden Studierenden wieder die Theorie gering achtende Mediziner, voneiner schönen alten Welt. Sie träumen voneiner Welt,inder Theorie und Praxis eins waren, und Wissen und Handeln identisch. Es ist die Welt der –wie Georg Lukµcs es nannte –»geschlossenen Kulturen«,1 in denen man nurlernte,

1Georg Lukµcs, Die Theorie des Romans.Ein geschichtsphilosophischer Versuch überdie Formen der großen Epik, Neuwied /Berlin 1971, S. 21f. 196 Volker Ladenthin was man fürden Berufbrauchte und im Berufnur anwenden durfte, was man gelernt hatte. Zugleich war der Erwerb vonFachwissen mit dem Erwerb einer sittlichen Haltung verbunden:Europäische Mediziner durften bis ins 13. Jahr- hundertaus kulturell-religiösen Gründen z.B. keine Leichen sezieren –und hatten es deswegen erst gar nichtgelernt.2 Eine vergleichbare Haltung kann man auch in der Handwerkerausbildung nachweisen:Ein Geselle bekam seinen Ge- sellenbrief nur,wenn er nachden sittlichen Regeln der Zunftgelebt hatte und weiterhin zu leben versprach.3 Wissen und Haltung fielen zusammen. In dieser Welt erwarb man alles relevante Wissen in der Praxis, und Praxis war nichts anderes als angewandteTheorie. In dieser Welt brauchte man keine Schule, weil man ja schon im Lebenalles fürdas Lebenlernen konnte –und nur in Ausnahmefällen und d.h. fürmaximal 10 Prozentder Gesellschaftgab es Schulen und Universitäten. Die aber bereiteten nichtauf das Leben, sondernauf einen ganz speziellen Berufvor. In diesen geschlossenen Kulturen brauchte man auch nur eine Wissenschaft, oder wenigstenseine, die alles überdachte und regulierte:FürAristoteles z.B. ist es die Philosophie, im europäischen Mittelalter ist es die Theologie. Sie beide arbeiten an der umfassenden Welterklärung.Alles ist vorab geordnet und de- finitorisch bestimmt und aufein Telos ausgerichtet.4 Aristotelesschreibt:Die »Natur ist eben Endziel;denn diejenigeBeschaffenheit, welche ein jeder Ge- genstand erreichthat,wennseine Entwicklung vollendet ist, eben diese nennen wirdie Naturdesselben […]. Auch ist das Ziel und der Endzweck das Beste«.5 Undfürdas christliche Weltbild bekanntist Paulus’ Brief an die Kolosser (1, 16f.): »Denn durch jn ist alles geschaffen /das im himel vnd auff erden ist /das sichtbare vnd vnsichtbare /beide die Thronen vnd Herrschafften /vnd Fuerst- enthuemen /vnd Oberkeiten /esist alles durch jn vnd zu jm geschaffen /vnd er ist vorallen /vnd es bestehet alles jnn jm.«6 Das teleologische Weltbild be- stimmte die Bildungstheorie:7

2Vgl.GerhardWolf-Heidegger /Anna Maria Cetto,Die anatomische Sektion in bildlicher Darstellung, Basel /New Yo rk 1967. 3Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. II (1250–1650), Reinbek beiHamburg 1973, passim, bes. S. 253f.,Kapitel: »Das gute, alteRecht«. 4Vgl.Eva MariaMaier,Teleologie und politische Vernunft. Entwicklungslinien republikani- scher Politik beiAristoteles und Thomas vonAquin, Baden-Baden2002. 5Aristoteles, Politik. Nach der Übersetzung vonFranz Susemihl,bearbeitet mit Numerierung, Gliederungen und Anmerkungen v. Nelly Tsouyopoulos /Ernesto Grassi (Hg.), Reinbek bei Hamburg 1965, S. 10 (= VIII,2/1252b) [Hervorheb.v.mir,V.L.]. 6Die Epistel S. Pauli /Andie Colosser,zit. nach Biblia –das ist /die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Mart. Luth. Wittemberg. A.D.XXXIII. Das Newe Testament, zit. nach:Die Luther- Bibel von1534. Vollständiger Nachdruck [Faksimile],hg.v. Stefan Füssel, Köln 2002, S. CXLII.v. 7Vgl.Jörg-Dieter Wächter,Vom Zweck der Erziehung:das Teleologieproblem in der Erzie- hungs- und Bildungstheorie, Hildesheim /Zürich /New Yo rk 1991. Zum Verhältnis von Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Bildungswissenschaft 197

»Da aber das Endziel des ganzen Staates ein einzigesist, so liegteszutage, daß auch die Erziehung füralle eine und dieselbeund die Sorge fürsie eine gemeinsame sein muß und keine private, wieesjetzt gehalten wird, wo ein jeder privat sich um seine Kinder kümmert und sie privat unterrichten läßt, wieesihn gut dünkt. Denn was gemeinsame Angelegenheit ist, das muß auch gemeinsam geübt werden.Außerdemabermußman auch nichtglauben, daß irgendein Bürger sich selbst gehört,sondern daß alle dem Staat angehören, dennjeder ist ein Glied des Staates;die naturgemäßeSorge fürdas einzelne Glied aber istimmer nur diejenige,welche dabei die fürdas Ganze im Auge hat.«8 Es war eine wundervolle Welt. Undeine Welt,inder alles in Ordnung war – zumindest im »ordo«. Jeder wusste, wohin er gehörte, welchen Berufererwarten konnte –nämlich mit Sicherheit den des Vaters und den der Mutter.Lernen und Lebenwaren identisch und man siehtBilder,wie Kinder in den Werkstätten der Handwerkselternsaßen und lernten, mit Giftstoffen Felle zu gerben, wieJungs als elfjährige Knappen den Schwerterkampf übten,man liest vonKindernbeim monatelangen Viehhüten aufder abgelegenen Alm, Kinderninden dunklen Bergwerken und verstaubten Kohlegrubendes Harzes. Das war dann ihr Leben. Dies ist die Welt, in der man fürdie Praxis lernt und das, was man braucht, vonder älteren Generation »vermittelt« bekommt. Das Ziel stehtfest, die Pä- dagogik suchtdie geeigneten Mittel.

2.

Warumnur haben wirdiese harmonisch geordnete Welt hinter uns gelassen? Vielleichtweil sie inhuman war?Weil sie den einzelnen Menschen bevormun- dete?Weil sie ihm keine Wahlfreiheit gewährte?Weil einige wenige den Le- benssinnfüralle fanden, bestimmten und verordneten?Weil in ihr schon beider Geburtdarüberentschieden wurde, wieder Einzelne zu leben und was er zu tun hatte?Weil das Lebenfremdbestimmt war?Weil diese Welt keinen systemati- schen Fortschritt zuließ,nicht mal Veränderung?Nochdie Reformation wollte »re-formatio« sein –»Zurückbildung«. In der mittelalterlichen Verserzählung vom Meier Helmbrecht kann man auf belehrend-unterhaltsame Weise nachlesen, an welchem Strick ein Bauernsohn endete, der Ritter werden wollte.9 Undwer das teleologische System insgesamt anzweifelte, fürden hielt man schon in der Antike Schierlingsbecher oder Kreuz, später in der Geschichte dann Strick und Scheiterhaufen bereit, oder er galt, wie schon Aristoteles feststellte,entweder als dumm, als verrückt oder als hoffärtig.10

8Aristoteles, Politik, S. 268 (= VIII,1/1337a). 9Vgl.Wernher,der Gärtner,Helmbrecht. Mittelhochdeutsch /Neuhochdeutsch, hg., übers. und erl. v. Fritz Tschirch, Stuttgart 2002. 10 Fürden Bereich der Schönen Literatur vgl. meine Belege in:Volker Ladenthin, Literatur als 198 Volker Ladenthin

Fürdiese drei mentalen Deformationendes Menschen zur »Torheit«, zum »Wahnsinn« oder zur »Häresie« gab es eindeutige Lösungen. Ichglaube, ich muss in diesem Kreis weder die Neugeburtdes Individuums ausdem Geist der Renaissance11 noch die Entstehung der modernen Wissen- schaftnachzeichnen –ich kann mich aufdie systematische Bedeutung beider historischer Prozessebeschränken. Die Anthropologie der Moderne zeigte, dass die einzige überzeitliche Be- stimmungdes Menschen die sei, dass er keine habe: Der Mensch ist dazu be- stimmt, sich selbst zu bestimmen. Man kann dasAufklärung,Mündigkeit, Re- formation, Demokratieoder Freiheit und artspezifische Weltoffenheit nennen – immer ist genaudies gemeint: Der Mensch ist dazu bestimmt, sich selbst zu bestimmen. BeiKantheißtes:»Freiheit im Denken (bedeutet) die Unterwerfung der Vernunftunter keine andere Gesetze, als:die sie sich selbst gibt.«12 Undanden Naturwissenschaften ließ sich zeigen, dass die »Vernunftnur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt(…) und die Natur nötigen müsse, aufihreFragen zu antworten.«13 Die Naturwissenschaften bilden mithin die Naturnichtab, sondern stellen beliebige Fragen an die Natur,sodass alle Erklärungen und Erkenntnisse hypothetischund konditional sind. Alles war daher plötzlich möglich. Da man jede Frage an die Naturstellen kann, bildeten sich unterschiedliche Wissenschaften heraus, die unterschiedliche Fragen stel- len –und die keinesfalls mehr ein Ganzes ergeben. Die Erkenntnis erweitertsich, differenziertsich aus: Eine Superwissenschaftgibt es nichtmehr.Sinn ist keine Vorgabe, sondernbestenfalls eine Aufgabe. Die Intention dieser neuen Artvon Wissenschaftwar die Erkenntnis unter dem Anspruch vonWahrheit. Ihre Funktionen aber konnten variieren:Wissenschaftler konnten ausschließlich der Wahrheit dienen wollen,ebenso aber dem Krieg oder dem Frieden, dem Geld- erwerb oder dem Machterhalt.Man siehtesebeneiner chemischen Formel nicht an, ob man mit ihrer Kenntnis Menschen vonKopfschmerzen befreien oder im Bürgerkrieg vergiften wird.14 Nichtmehr die Wissenschaften also gestalten kraftihrer je eigenen Para-

Skandal, in:Stefan Neuhaus /Johann Holzner (Hg.), Literatur als Skandal. Fälle –Funk- tionen –Folgen, Göttingen 2007, S. 19–28. 11 Vgl. Paul Geyer, Die Entdeckung des modernen Subjekts:Anthropologie vonDescartes bis Rousseau, 2. Aufl.,Würzburg 2007. 12 Immanuel Kant,Was heißt: sich im Denken orientieren?, in:Ders.,Werkeinzehn Bänden. Schriften zur Metaphysik und Logik, hg.v.Wilhelm Weischedel, Bd. V, Darmstadt 1983, S. 265–283, hier S. 281 (= A327). 13 Ders.,Kritikder reinen Vernunft. (Vorrede zur zweiten Auflage), in:Ders.,Werkeinzehn Bänden, hg.v.Wilhelm Weischedel, Bd. III, Darmstadt 1983, S. 23 (=BXIII). 14 Ausführlich dargelegt in:Volker Ladenthin, Wissenschaft und Bildung, in:Ludger Honne- felder /Günter Rager (Hg.), Bildung durch Wissenschaft?, Freiburg /München 2011, S. 101–120. Zum Verhältnis von Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Bildungswissenschaft 199 digmen die sittliche Praxis –sowie einst die Handwerker durch ihre Zünfte dafürsorgten, dass alle beiihren Leisten oder Zunftrollen blieben, sonderndie Wissenschaften bleiben offen füralles:Soll man zuerst ein Mittel gegen Krebs oder eins gegen Aids entwickeln?Soll man zuerst die Werkevon Walther vonder Vogelweide oder die vonErich Fried herausgeben?Weder die Bio-Chemie noch die Text-Hermeneutik kann diese Frage beantworten. Keine Wissenschaftgibt mehr Handlungsanweisungen. Man kann mit physikalischen Kenntnissen Tunnel bauen oder Städte in die Luft sprengen:Die Physik kann beide Interessen gleichermaßen beraten. Keine Wissenschaftist an sich sittlich –oder gar »sitt- licher« (ein unmöglicher Komparativ) als eine andere: Wasist sittlicher,die Biologie oder die Physik?Eine unsinnige Frage. Rousseauhatte gezeigt, dass mehr Fortschritt in den Wissenschaften nicht unbedingt mehr Sittlichkeit in die Welt brachte;imGegenteil. Je mehr die Wissenschaften expandierten, desto stärker war eine bestimmte weitere Wis- senschaftgefragt, die Ethik nämlich, die den sittlichen Umgang mit Wissen- schaftbedachte. Praktisch wird seitdem eine Wissenschaftalso erst, wenn sie mit der Ethik in Berührung kommt. Wenn es um das lebensweltliche Handeln mit der Wissenschaftgeht. Das gilt auch fürdie Technik, oder die technischen Wissenschaften:Auf den Schienen der hochtechnisierten Eisenbahnsysteme können die Züge mit gleicher Stetigkeit nach Rimini oder nach Auschwitz rollen. Es liegtnichtander Technik. Praktisch werden Wissenschaftund Technik erst, wenn wirzusammen mit anderen Menschen handelnmüssen. In diesem Augenblick erst, also sehr spätinder Menschheitsgeschichte, nach 1750 nämlich, tritt auch die Pädagogik in die Fakultäten der Wissenschaften ein –und zwar deshalb,weil ein Problem der Lebensweltsich lebensweltlich nicht mehr lösen lies: Wenn die Menschen sich selbst bestimmen sollen, wiesollten sie das denn lernen? Denn Selbstbestimmung ist weder einfach private Willkür noch ist Selbstbestimmung Sozialisation:Angesichts der Autonomie des Den- kens stehtjede Traditionauf dem Prüfstand.Allein der Wissenserwerb sicherte nichtmehr eine sittliche Haltung. Weralso selbstbestimmt handeln will, muss erstens wissen, wieman an Wahrheit gelangt–oder wenigstens Aussagen unter Wahrheitsanspruch prüfen können. Undermuss zweitens wissen, was sittlichist. Alles andereunterbietet die aufgeklärteWelt-Kultur. Aber beides, Methoden zur Wahrheitsprüfung und zur Sittlichkeit, kann man beim lebensweltlichen Handeln nichtlernen:Denn beim Handeln wird Wissen angewandt, nichtproduziert. Unddie lebenswelt- lichen Handlungen, die Sitten und Gebräuche sind schon in den Familien von verwirrender Vielfalt–geschweige denn zwischen Nationen und Kulturen. Wie soll man sich wonach entscheiden? Es muss also eine neue Wissensformgeben, die darüberreflektiert, wieman Wissen und Haltung erwirbt und miteinander verbindet. Natürlich muss diese 200 Volker Ladenthin neue Wissensformjenseits vonWillkürsein –sie muss also ebenfalls eine Wissenschaftsein. Andernfalls würde die Regelung des Wissenserwerbs un- wissenschaftlich erfolgen:Das wäre so,als ob wiruns den Umgang mit einer Atomrakete voneinem Hobbybastler erklären ließen. Die Fragestellung der Pädagogik lautet: Wasmussjemand lernen, um selbstbestimmt handeln zu können? Diese Frage wird nur vonder Pädagogik gestellt und kann daher auch nur vonihr beantwortet werden:Denn keinesfalls überblickt ja die Physik, was bedeutsam an der Germanistik ist, und die Ro- manistik kann nichtempfehlen, was bedeutsam an der Chemie ist. Es muss also eine Wissenschaftgeben, die die Wissenschaften ins Verhältnis zueinander setzt. Eine Wissenschaft, die die ganz spezifische Frage danach stellt, was ein Mensch lernen muss, um sich ein Lebenlang selbst bestimmen zu können. Damit stehtdie Pädagogik quer zu allen Wissenschaften –denn sie betrachtet sie alle unter der Frage nach dem gelingenden Leben:Was, wieund wieviel muss ich vonder Mathematiklernen, damit mein Lebengelingt?Diese Frage kann ein Mathematiker allein nichtbeantworten, denn die Anglisten, Biologen oder Chemiker stellen die gleiche Frage und erheben die gleichen Ansprüche fürihr Fach:Was muss ich vonder WissenschaftA,B,Cwissen, damit mein Leben gelingt? Es muss eine neutrale Wissenschaftgeben, die die Ansprüche der einzelnen Wissenschaften kenntund so zueinanderins Verhältnissetzt, dass ihr Erwerb zum Gelingendes Lebens beiträgt.Die Theorie des Zueinander-ins-Verhältnis- setzen vonsachlichen und sittlichen Geltungsansprüchen nenntsich Bildungs- theorie. Insofern heißtdas alte Institut fürErziehungswissenschaftinBonn dann schon ganz zu Recht:Bildungswissenschaft. Freilich ist der Singular vonnöten – denn es ist diese eine Frage, die alles ausdifferenzierte Bemühen eint.

3.

Aber nichtnur Wissenschaft und Ethik lösen sich vonKulturund Sitte und werden zu etwas Universalem. Auch die Ausbildungsorte emanzipieren sich zu ihrer historischen Aufgabe. Vorder Neuzeit wurde der Nachwuchs im Leben, in der Familie angelernt. Das hat überJahrtausende für90Prozentder Menschen einer Gesellschafthervorragend funktioniert. Im 18. Jahrhundertfunktionierte das nichtmehr.Man bemerkte dies zuerst in Europa,genauer in Straßburg und dann später in Preußen. Denn dortzuerst richtete die Obrigkeit allgemeinbil- dende Schulen füralle ein und erließ Gesetze zur Schulpflicht. Bildungsverwei- gerung wird zur Straftat–in einer Demokratie(so muss man ergänzen) ist Bildungsverweigerung sogar unsittlich, da gesellschaftsschädigend. Im deutschen Sprachbereich äußertdiese Einschätzung zuerst Martin Lu- Zum Verhältnis von Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Bildungswissenschaft 201 ther,15 im gesamteuropäischen Kontext Amos Comenius (da dieser seine Di- daktik in lateinischer Sprache schrieb).16 Beide fordern Schulen, aber nunnicht mehr in der bekannten Form als Berufsschulen, sondernals Menschenschulen. Menschen sind wireher »als wirProfessionisten werden«, sagtJohann Gottfried Herder,und fährtfort:Und»wehe uns, wennwir nichtauch in unsermkünftigen BerufMenschen blieben!Von dem, was wirals Menschen wissen und als Jünglinge gelernt haben, kommt unsreschönste Bildung und Brauchbarkeit für uns selbst her,nochohne zu ängstliche Rücksicht, was der Staat ausuns machen wolle.«17 Also muss die Allgemeinbildung der Berufsbildung vorausgehen.Man soll in diesen neuen Schulen lernen, was man als Mensch braucht:Also das, was man im Lebennichtmehr lernen kann. Sowohl Luther wieComeniussagen es eindeutig:Imalltäglichen Lebenkann man richtig zu leben nichtmehr lernen. Man kann nuraußerhalb des Lebens fürdas richtige, das gute, das gelingende Lebenlernen –ebeninder Schule. Damit verbindet sich die Schultheorie mit der Bildungstheorie:Schule soll der Ortsein,andem manlernt,was man braucht, um selbstbestimmt leben zu können. Aber was brauchtman, um selbstverantwortlich zu leben?Auch diese Frage kann keine Einzelwissenschaft allein beantworten, und zwar deshalb nicht, weil es um die Gesamtpraxis des Menschen geht, dem Gegenstand der Bildungstheorie und der Fachwissenschaften:Die Schule bedarfalso der Wis- senschaften und der Bildungstheorie, um überhaupt Schule im modernen Sinn sein zu können –nämlich eine allgemeinbildende Schule. Natürlich kann man ohne Mathematikstudium lehren, wieman zwei Finger und drei Finger zu- sammenzählt. Aber ob,wann und wieund wozu man es lehren soll, kann man nichtohneWissen um die Eigenheit der Mathematik entscheiden.Vielleicht sollte man ja besser nichtmit den Fingernrechnen lernen, denn das hört bei10 auf. Undnatürlich kann man einer Krankenschwester ohne pädagogische Ausbildung zeigen, wieman eine Spritze setzt. Aber ob man spritzen darf, ob man es soll, und was man alles bedenken muss, um es richtigzumachen, kann man nichtsonebenbei erwähnen. Das genaukann man an den Drogensüchtigen aufder Bahnhofstoilette sehen –häufig und trauriger Weiseandem mortalen Ausgang.

15 Vgl. Martinus Luther,Andie Radherrnaller stedte deutscheslands:das sie Christliche schulen auffrichten vnd hallten sollen, Wittemberg.MDXXiiij, buchstabengetreuer Ab- druck in:MartinLuther,Schriften überSchule und Unterricht,ausgewählt und kommentiert v. Heinz Endermann, Hildesheim /Zürich /New Yo rk 2006, S. 1–46. 16 Vgl. Volker Ladenthin, JanAmos Comenius’ tschechische Reformallgemeinpädagogischer Theorie, in:Irina Podtergera (Hg.), Schnittpunkt Slavistik. Ost und West im wissenschaft- lichen Dialog, Teil 1, Göttingen 2012, S. 201–228 (FestschriftfürHelmut Keipert). 17 Johann Gottfried Herder,Vom Zweck der eingeführten Schulverbesserung,in: Ders., Schulreden,hg.v. AlbertReble, Bad Heilbrunn 1962, S. 62f. 202 Volker Ladenthin

4.

Die Pädagogik stellt die Frage, was man lernen muss,umals Mensch selbst- verantwortlich angesichts einer verwissenschaftlichten Welt leben zu können. Da diese Frage die unterschiedlichen Wissenschaften integriert,kann sie selbst nichtunwissenschaftlich organisiert sein –ich hatte darauf verwiesen. Ausbil- dung fürdie Praxis kann also nichtheißen:Anlernen im Beruf. Das ist heute selbst beim Handwerk kein überzeugendes Ausbildungsprogramm mehr.Denn durch Erfahrung kann man nichtnur klug, sondernauch dumm werden. Aus dem praktischen Zirkel geschlossenerKulturen kann in der Moderne ein praktischer Teufelskreis werden:dannnämlich, wenn alte Praxis sichinneuer Praxis unreflektiertperpetuiert.Man kann in der Praxis auch lernen, wieman es falsch macht. Praxis ist nichtansich schon gutartig. Es gibt falsche Praxen –die PISA-Studien mahnten ja sogar an, dass es an deutschen Schulen hauptsächlich falsche Praxis gibt. Nehmen wirdiese Diagnose ernst:Ineinem solchen Falle würde eine praxisnahe Ausbildung doch die Ausbildung in falscher Praxis be- deuten. Die Praxisferne der Universitäten und der Schulen –das war die historische Errungenschaft. Sie dienten der Gesellschaft, indem sie sich nicht mit ihr gleich machten. Man sollte an Universitätund Schule das lernen, was man im Leben nicht lernen kann. Undwas man im Lebennichtlernen kann, ist die Reflexion auf das Leben. Praktische Ausbildung an der Universitätkann in der Moderne also nurheißen, Reflexionanlässlich vonPraxis –keinesfalls aber praktisches An- lernen für die Praxis. Die Universitätwird ihre Bedeutung verlieren, wenn sie praktische Ausbildung gestaltet. Die Universitätverlöre also gerade das, was sie auszeichnet:Erkenntnis vonPraxis, Durchleuchtung,Analyse –kurz:Reflexion vonPraxis. Alle Praktika haben fürdie universitäre Lehre alsoausschließlich die Bedeutung,Reflexionsanlass zu sein. Ziel ist das Erkennen –nichtdas Handeln. Die Aufgabeder Wissenschaftist Erkenntnis unter dem Anspruch vonWahrheit. Noch ein Wort zum Handeln:Oft wird gefordert, fürdie Praxis auszubilden. Sollen unsere Studenten denn später nichtals Lehrer handeln, so dass wirihnen erklärenmüssen, wieman handelt?Hinter diesen Fragen verbirgt sich zum einen eine Verwechslung von(1) Wissenschaft und Technik,zum anderen eine Verwechslung von(2) Technologie und Methodik. (1) Zuerst zur Verwechslung vonWissenschaftund Technik:Kein universi- tärerPhysiker bildet seine Studierenden dafüraus, den neuen BMW zu kon- struieren. Er bildet sie dafüraus, physikalisch denken zu können, so dass sie vielleichtbei der Konstruktion eines Autos mitwirken könnten, ebenso gut aber auch beider Konstruktion eines Flugzeugs oder einer neuen Form der Ener- giegewinnung:Wissenschaftzielt nichtauf eine bestimmte Handlung,sondern aufdie Fähigkeit, handlungsrelevantes Wissen denken zu können. Regulative Zum Verhältnis von Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Bildungswissenschaft 203

Idee ist nichtdie Handlung,sondern die Wahrheit als Voraussetzung der Handlung: Die Philosophen schulen ihre Studierenden nichtdarin, die Gleich- berechtigung vonMann und Frauander Universitätumzusetzen, sondernfor- dernauf, die Differenz vonGerechtigkeit und Gleichheit grundsätzlich zu be- denken. Theologen veranstalten in der Universitätkeine Lehr-Gottesdienste, sondern vergleichen die vier Evangelien und rekonstruieren die Kirchenge- schichte. Bildungswissenschaftler geben keine Tipps, wieman die 9b am Kant- Gymnasium fürWahrscheinlichkeitsrechnung begeistert–sondernreflektieren, warum jeder Mensch nur lernt,was ihm sinnvoll erscheint. Wissenschaft lässt sich nichtbruchlos (d.h. ohne zusätzliche Reflexion) in Technik überführen. Die Übertragung hat der zu leisten, der Wissenschaftgebrauchen will –denn die Zweckesindsomannigfaltig,dass keine Wissenschaftsie vorhersehen kann:Der Tipp fürdie 9b kann fürdie 9a schon der falsche sein. (2) Aber nichtnur die Verwechslung vonWissenschaftund Technik, sondern auch jene von Technologie und Methodik führtzufolgenschweren Irrtümern und vormodernen Deutungsmustern: Die Technologie, alsodie Lehre vom Einsatz der Technik, gehtvon einem Ursache- und Wirkungsprinzip aus: Wenn man Kohle in Energie umwandelt,entstehtzum Nutzen auch ein Abfallprodukt. Das ist immer so.Wenn eine Krankenschwester ein Medikamentspritzt, ver- änderndie chemischenStoffe im Körper des Patienten etwas zum Guten oder Schlechten. Dieses Ursache- und Wirkungsprinzip gilt fürdie Natur,nichtaber fürden Geist des Menschen. Der Grund aber fürdie Geltung eines mathematischen Beweises ist nichtdie persönliche Wirkung des Lehrers, sonderndie fürLehrer wieSchüler gemein- sam verbindliche Logikder Argumentation –die Methode der Mathematik. Angesichts des modernen Wissenschaftsverständnisses ist alle Lehre nichts als Auslösung vonmethodischer Erkenntnis. Die Schüler sollen verstehen und ein- sehen. Sie sollen den Lehrgegenstand selbst denken (also lernen) und in Zukunft selbst denken können (also gelernthaben). Einsichtist nun eine Verstandes- leistung,die man nichtkausal bewirken kann. Denken legtesauf Überzeugung an. Es bedarfder Begründungen und der Einsicht. Im pädagogischen Hand- lungsfeld kann es also keine Technologie geben. Wohl aber gibt es Methoden. Diese jedoch sind nichtden Verfahrensweisen der Technik analog,sondern jenen Verfahren, die die Hermeneutik oder die Wissenschaftstheorie unter dem Stichwort»Erkenntnis« herausgearbeitet hat:EsgehtumVerstehen und Er- klären. Es gibt daher in der Schulpädagogik auch nureine einzige Lernmethode:Die der Erkenntnis eines Gegenstandes gemäß den Regeln des Faches:Eine Quelle nach Laswellanalysieren. Einen Satzdurch Ersatzprobeanalysieren. Eine Be- hauptung mit Zirkel und Lineal beweisen. Durchs Mikroskop schauen und aufzeichnen, was man sieht. Diese Erkenntnisse werden vom Lehrer nicht für 204 Volker Ladenthin den Schüler vorgenommen. Vielmehr regt er den Schüler nuran, die Erkenntnis selbst zu vollziehen:Esgibt daher auch nureine einzige Lehrmethode, nämlich den Dialog–also die (wie auch immer gestaltete) Aufforderung an den Schüler, selbst etwas einzusehen. (DerDialog muss kein Gespräch sein;auch Projekt- unterrichtoder forschendes Lernen sind –bildungstheoretisch betrachtet – Dialoge um der Gültigkeit vonErkenntnis willen.) Spätestens seit Rousseauist es Konsens, in der Pädagogik, dass sie keine Handlungsanweisungen im technologischen Sinne geben kann:Denn keine Theorie kann die Mannigfaltigkeit vonHandlungen vorhersehen und dann für alle Situationenpassende Handlungsregelnaufstellen.Das wussten schon Platon und Aristoteles. Kein Bildungswissenschaftler kann wissen,wer seiner Studierendenim Lehramt wann, was, wieund wozu lehren wird. Er kenntdie Adressaten der künftigen Lehrer nicht, und schon gar nichtdie dannzufällig aktuellen Schul- systeme:Hier in Bonn studieren Nordrheinwestfalen neben Rheinland-Pfälzern –inbeiden Bundesländerngibt es Schultypen, die es im anderen Bundesland nichtgibt. Wirbilden nichtzum Mathematiklehrer in Bezug aufWahrschein- lichkeitsrechnung der Klasse 10a aus–sondern dazu, Menschen bilden zu können. Ausder Unmöglichkeit, Wirklichkeit vorwegnehmen zu können, und ausder Eigenheit des Bildungsziels verbietet es sich, akademische Lehre als Anlernen zu gestalten. Es gibt aber einen weiteren Grund:Pädagogisches Handeln betrifftein Sollen. Lehrer lehren Kinder,wie sie einst handeln sollen. Da sie aber nur selbst und vor ihrem eigenen Gewissen darüberentscheiden können, was sie tun sollen – müssen Lehrer so lehren, dass diese Freiheit nichtbeeinträchtigt oder geschädigt wird.Dies ist das pädagogische Paradox: Dass Lehrer beeinflussen müssen, um zu lehren, wieman vonBeeinflussungen unabhängig selbständig denkt.18 Man kann Verantwortung demnach weder so lehren, dass man sie vorenthält noch so, dass mansie übergibt: Lehren findet in diesem paradoxen Verhältnis stattund betrifftetwas, was es noch gar nichtgibt:Den künftigen Menschen. Natürlich gibt es pädagogische Erfahrungen, welche Lehrmethoden günstiger und welche weniger günstig sind:Abersie sind vergangen, und sie sagen uns zudem nicht, ob sie im Einzelfall gelten.19 Pädagogische Theorie kann mithin keine Handlungsanweisungen geben, keine Rezepte. Die wissenschaftliche Pädagogik kann aber Prinzipien aufweisen,

18 Vgl. Leonard Nelson, Das Problem der Möglichkeit der Erziehung.Die ParadoxieimBegriff der Erziehung, in:Ders.,System der philosophischen Ethik und Pädagogik, Göttingen 1932, S. 356–358. 19 Dies hat in letzter Zeit (wieder einmal) die Diskussiondes Literaturberichts vonJohn Hattie gezeigt. Vgl.die Kommentare in:Ewald Terhart(Hg.), Die Hattie-Studie in der Diskussion: Probleme sichtbar machen, 2. Aufl.,Seelze 2014. Zum Verhältnis von Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Bildungswissenschaft 205 aufdie hin das Handeln sich zu beziehen hat. Prinzipien sind allgemeine Ge- setze, die man beim Handeln berücksichtigen muss –aus denen aber keine Handlungsanweisungen abzuleiten sind. Denn auch ableitenkann man aus Prinzipien Handlungen nicht: In alle Entscheidungen gehen Nebenentschei- dungen ein, die sich ausPrinzipien nichtstringentherleiten lassen:Andernfalls – übrigens –bräuchten wirkeine Parteien mehr in Deutschland. Es mag eine Bedienungsanleitung fürAutos geben:Aberwie oft man wohin und wozu fährt, ist damit nichtentschieden. Fürdas Lebengibt es keine Rezepte. Man kann das Lebennicht üben. (Das gilt übrigens auch fürdas Referendariat.) Es ist entweder Ernstfall oder Reflexion –nie aber Probehandeln. Insofernhat der eingangs erwähnte Kollege ausder Medizin recht: Um zu zeigen, wieman eine Spritze setzt, muss man keine Pädagogik studierthaben. Aber um zu lehren, wer,wann, wem, wieund womit Spritzen verabreichen darf, soll oder muss, muss man aufPrinzipien zurückgreifen, die maninder Medizin und in der Pädagogik begründet findet. Erlauben Sie mir eine Bemerkung zum forschenden Lernen. Alle Universi- tätslehre sollte Aufforderung zum forschenden Lernen sein. In dem kleinen Adjektiv »forschenden« liegtder großeUnterschied zwischen dem schulischen und dem universitärenLernen. Der Unterschied zwischen Schule und Univer- sitätist nichtgraduell, sondernkategorisch:Alles Lernen an der Universität sollte forschendes Lernen sein –und wenn ich den Berichten der Studierenden Glauben schenken darf, so ist es dies wohl auch weitgehend. Ein anderes Lernen als forschendes Lernen kann ich mir zumindest in meinem Universitätsfach nichtvorstellen.20 Freilich differenziertsich die Idee forschendenLernens, also des Studierens, in den Fächernunterschiedlich aus. In der Literaturwissenschaftkann for- schendes Lernen beider prinzipiengeleiteten Textinterpretation stattfinden;in der Physik beiAufbauund Auswertung eines Versuchs. In der Bildungswis- senschaftund Fachdidaktik kann forschendes Lernen ebenso beider ideolo- giekritischen Analyse vonSchulkonzepten oder Lehrplänen stattfinden wiebei der Analyse vonBildungstheorien, dem Vortragen vonReferatenoder beiUn- terrichtsanalysen oder Schulporträts. Forschendes Lernen heißtdochEr- kenntnis vonNeuem:»Darum ist auch der Universitätslehrer nichtmehr Lehrer, der Studierende nichtmehr Lernender,sonderndieser forschtselbst, und der Professor leitet seine Forschung und unterstützt ihn darin.«21 So hat es Hum- boldt formuliert, und so sollte es auch –systematisch und hochschuldidaktisch

20 Inzwischen ist dazu erschienen:VolkerLadenthin, Forschendes Lernen in der Bildungs- wissenschaft, Bonn 2014. 21 Wilhelm vonHumboldt, Der Königsberger und der Litauische Schulplan, in:Ders.,Wilhelm vonHumboldt, Werkeinfünf Bänden, hg.v.AndreasFlitner und Klaus Giel, Bd. IV,3.Aufl., Darmstadt 1982, S. 168–195, hier S. 170. 206 Volker Ladenthin betrachtet –sein, wenndenn die Universitätetwas anderes sein soll als eine höhere Schule.22 Diese hochschuldidaktische Grundidee kann sich in unter- schiedlichen Fächernunterschiedlicher Fachmethodenbedienen. In der Päd- agogik richtet sich forschendes Lernen aufErforschung vonPraxis und Theorie.

5.

Spätestens an dieser Stelle zeigtsich die enge Verknüpfung der Bildungswis- senschaftmit den Fächern und den Fachdidaktiken. Es ist keinesfalls ein hier- archisches Verhältnis, in welcher Richtung auch immer.Wenn Bildungstheore- tiker, angesichts der wissenschaftsbestimmten Welt, Lernen als Erkennen beschreiben oder fordern, so können Bildungstheoretiker krafteigenerWis- senschaftdiese Lernmethoden inhaltlich nichtbestimmen:Wie man Sprache erkenntund sinnvoll nutzt, können nur die Sprachwissenschaftler sagen. Wie man Geschichte darstellt, nurdie Historiker.Wie man physikalische Gesetze erkennt, dasweiß nurder Physiker.Die Bildungswissenschaftkann alsonur die Aufgabe benennen –lösen müssen sie die Fachwissenschaftler.Deswegen brauchen Studierende im Lehramt eine grundsolide fachwissenschaftliche Ausbildung, nichtnur eine fachliche, sondern eine fachwissenschaftliche,weil sie wissen müssen, inwiefernund wodurch ihr künftiges Unterrichtsfach eine Wissenschaftist, was sie als Wissenschaftwill, auszeichnetund wiesie wis- senschaftlich arbeitet. Die Bildungswissenschaftklärt in der Bildungstheorie, was man prinzipiell lernen muss, um sinnvoll leben zu können. Material füllen lässt sich diese Aufgabeindes nur mit den Fachwissenschaften. Aber eine Fachwissenschaft dientvielen Herren. Nichtnur der Bildung der nachwachsenden Generation, sondern auch der Wirtschaft, dem Militär, dem Finanzbereich, dem Staat und schließlich der Gesellschaft. Dazu muss sie sich verhalten –ebenso wiezum Problem ihrer Lernbarkeit.

Diese Fragen: –Was ist das Proprium einer Wissenschaft, –wie soll sie sich adressatenbezogen darstellen und –wie ist sie kognitiv erschließbar?

22 Vgl. Lutz Koch, Lernen und Studieren. Oder:Sind Professoren Hochschullehrer?, in:Hil- degard Krämer /Axel BerndKunze /HaraldKuypers (Hg.), Beruf: Hochschullehrer.An- sprüche, Erfahrungen, Perspektiven, Paderborn2013, S. 27–38. Zum Verhältnis von Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Bildungswissenschaft 207 können nunnichtmit den Methoden der Fachwissenschaftbeantwortet werden: Man kann mit chemischenAnalysen nichterklären, was der Sinn der Chemie ist. Man kann mit mathematischen Methoden nichtangeben, was ein Wirtschafts- ingenieur ausder Mathematik lernen muss. Undman kann mit physikalischen Methoden nichtbeschreiben, wieman Physik lernt.Die Allgemeine Didaktik kann aber diese Fragen auch nichtbeantworten, weil es eben in jedem Fach eine fachspezifische Antwortgeben muss und die Allgemeine Didaktik aussich selbst kein fachliches Wissen generieren kann. Es muss also eine Wissenschaftgeben, die überEigenart, Darstellung und Lernbarkeit eines speziellen Faches mit jenen Methoden Auskunftgibt, die das Fach allein gar nichterarbeiten kann:Esist die Fachdidaktik, die sich glei- chermaßen der Methodiken der Allgemeinen Didaktik wieder Fachwissenschaft bedienen muss.Sie bedarfauthentischer Kenntnis überdie Eigenartdes Faches, also dessen, was Humboldteinmalden »ächten Geist«23 eines einzelnenFaches genannthat. Undsie bedarfder Kenntnis überdie »eigenthümlichenFähig- keiten«, »welche die verschiedenen Fächer der menschlichen Erkenntniss zu ihrer glücklichen Erweiterung voraussetzen«.24 Diesen Geist kann sie aber nicht deskriptiv lehren, vom Hörensagen gewissermaßen, im Vertrauen darauf, was die Kollegen vomFach sagen. Vertrauen ist keine wissenschaftlicheMethode. Die Fachdidaktik muss vielmehr selbst am Fach und damit an der Fachforschung teilhaben. Die fachdidaktische Frage bereichertsodie Fachwissenschaftauch inhaltlich: Wieverhält es sich mit der postmoderngeforderten Vieldeutigkeit vonTexten angesichts der geforderten Eindeutigkeit vonKlausurnoten?Was ist der Sinn vonMathematik, wenn er nichtinihrer Funktionalitätfürdie Technik allein liegen kann?Das wären zum Beispiel zwei Fragen der Fachdidaktik, die auch die jeweilige Fachwissenschaftherausfordern könnten. Die Fachdidaktik bedarfaberauch authentischer Kenntnisse überdas,was die Allgemeine Pädagogik als »Bildung« ausgewiesen hat –denn schließlich ist dies die Leitidee, aufdie hin die Fachdidaktikihr Bezugsfach befragt. Aber auch hier ist die Fachdidaktik nichteinfach Rezipientinvorgefertigten Wissens. Denn angesichts des eigenen Faches erweitertund ergänzt sie, was die Bildungswis- senschaftallgemein ausweist. So würde die Frage der Fachdidaktikder Fremd- sprachen schon aufzeigen können, dass eine korrekte Aussprache sich nicht durch Reflexion, sonderndurch Übenergibt. Wasaberbedeutet dies fürden Bildungsbegriff, wenn manihn mit Mündigkeit gleichsetzt?Sowürde eine Di-

23 Wilhelm vonHumboldt,Theorie der Bildungdes Menschen. Bruchstück, in:Ders.,Werkein fünf Bänden, hg.v.Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. I, 3. Aufl.,Darmstadt 1980, S. 234–240, hier S. 234. 24 Ebd. 208 Volker Ladenthin daktik der Mathematik zeigen, dass das Proprium der Mathematiknichtin Kompetenzen aufgeht–wieesdie bildungstheoretischen Implikationen der PISA-Studien fordern. Die Fachdidaktiken sind aufeine enge Zusammenarbeit mit der Forschung des eigenen Faches ebenso angewiesen wieauf eine enge Zusammenarbeit mit der Bildungstheorie und Allgemeinen Didaktik. Gleichwohl können sie weder in den einen noch in den anderen Bereich integriertwerden. Sie entwickelteigene Fragen und Methoden der Erschließung vonpädagogischer Wirklichkeit und Handlungsfähigkeit: Ichmöchte dies am Beispiel der Religionsdidaktik etwas genauer erläutern. Religiositätlässt sich bekanntlich weder wieein mathematischer Beweis lehren noch wieein Klimmzug üben. Religiositätkann nichteingefordertwerden, weder soziologischwie sittliches Verhalten noch zwangsweise wieRechtsge- horsam. Sie erschließtsich nichtinder Lektüre vonTexten oder durch eine Analyse ihrer sozialen Genese. Sie ist kein biologisches Phänomenund doch dem Menschen eigen:Wie also lehrtman das Fach Religion (ich meine jetzt nichtReligionskunde), wenn manesnichtsolehren kann wiealle anderen Fächer?Die fachdidaktisch spezifische Frage kann nichtallgemein beantwortet werden. Alle Fachdidaktiken können solchein nurihnen zustehendes Proprium aufweisen: –Ist mathematisches Denken angeboren oder kulturvariant? Je nach Antwort wird man Mathematik unterschiedlich lehren. –Gibt es Begabung fürFremdsprachen und ist sie geschlechtsspezifisch ver- teilt?Die statistischen Untersuchungen legenLetzteres nahe: Aber was hat sich denn »die Natur« dabei gedacht–vielleichtgar nichts, denn es könnte eher mit den soziokulturellen Geschlechterbildernzusammenhängen als mit den Genen, wer welche Sprache lernt.Umdiese Frage zu erforschen muss man nichtnur etwasvon den Sprachen und der Pädagogik verstehen, sondernauch davon, wieman Sprechen lehrtund lernt.

Die Beispiele ließen sich leichtreihen. Sie alle zeigten, dass die Fachdidaktik als eigene Wissenschaftausgewiesen ist. Undich frage im Hinblick aufdie Hochschulpolitik und gerade die besondere Situation der Lehrerbildung an der UniversitätBonn,25 was die Fächer ohne Fachdidaktiken wären. Niemand wüsste vonihnen. Erst in der fachdidaktischen Reflexion wird ein Fach überhaupt darstellbar –das gilt auch fürFächer ohne institutionalisierteFachdidaktik.

25 Vgl. ausführlich:Volker Ladenthin, Die Frage nach der Selbstdarstellung vonWissen. Über die Notwendigkeit der Didaktik an Universitäten, in:Forschung & Lehre 2001, H. 6, S. 306–308. Zum Verhältnis von Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Bildungswissenschaft 209

Die Aufgabeder Fachdidaktik ist doch nicht–wie oft angenommen –die Vereinfachung komplizierter wissenschaftlicher Aussagen aufdas jeweilige Ni- veauder Adressaten. Umgekehrtist es:Die Aufgabeder Fachdidaktik ist die Analyse dessen, was einem Fach als letzte Intention zugrundeliegt. Denn das kann kein Fachwissenschaftler mit den ihm eigenenMethoden klären. Den Sinn vonChemie kann man nichtchemisch beschreiben. Auch die Bildungstheorie kann diese Frage nichtklären. Es ist die Fachdidaktik, die diese Frage beant- wortet. Die Fachdidaktik ist es, die nach logischer Genese, nach der Lernbarkeit und nach dem Sinn eines Faches fragt. Die Fachdidaktik fragtzudem nach dem systematischen Aufbaueines Faches im Hinblick aufZwecke–zum Beispiel im Hinblick aufdie Bildung des Men- schen –und zugleich nach jenem Aufbau, in dem es gut zu lernen ist:Das ist eine grundlegendeDifferenz (die man an den spektakulärenVorlesungen der Kin- deruniversitätschon betrachten kann). Die Differenz zwischen Fachsystematik und Lernsystematik ist bereits eine Differenz, an der sich jeder Lehrbuchautor abarbeiten muss. Wiesiehtdiese Differenz aber erst angesichts voneiner Schülerschaftmit zwölf Schuljahren aus, mit entwicklungsbedingten Eigenhei- ten der Rezipienten:Mag sein, dass sich der Kosmos fürBiologen ausder Zelle aufbaut. Aber man wäre nichtklug beraten, wenn man im ersten Schuljahr den Aufbaueiner Zelle erklärt und dann im Abitur abfragt, wieman einen Wellen- sittich pflegt. Die Fachlogikist eben nichtidentisch mit der Lernlogik. Die FachdidaktikfragtnachRechtund Grenzen eines Faches, nach dem Proprium, und angesichts dieses Propriums nach dem Elementaren, dem Fun- damentalen und dem Exemplarischen. Sie fragtnachdem pragmatischen Nut- zen –diese Begriffe hat sie der Allgemeinen Didaktik entnommen, weil die Fächer diese Begriffe nichtaus sich selbst heraus produzieren können. Ein Fach ohne Fachdidaktik kann sich nichtauf wissenschaftlich kontrol- lierte, also vernünftige Art öffentlich machen.26 Kein Fachbuch, das sichnicht fachdidaktischer Kriterien bedient–vom Titel überden Aufbau, der Auswahl, der Sprache bis zur Illustration. Die Schule konnte ein Universitätsfach noch nie in Gänze abbilden. Der »didaktische Objektivismus«, der einmalglaubte, mankönne eine Wissenschaft in der Schule verkleinert, aber proportional abbilden, muss angesichts der an- archischen Expansion aller Wissenschaften resignieren. Wenn überhaupt kann die Schule die Idee einer Wissenschaftals Kriterium der Auswahl nehmen.Aber auch daran kann man mit guten Gründen zweifeln. Werinder Germanistik könnte derzeit füralle Germanisten verbindlich darüberAuskunftgeben, was die Idee der Literaturwissenschaftz.B.imUnterschied zu derder Kulturge-

26 Vgl. Susanne Kretschmer,Wissenschaft und Öffentlichkeit am Beispiel der Kinderuni (unveröffentlicht; Dissertation UniversitätBonn; im Verfahren). 210 Volker Ladenthin schichte ist?WelcherChemiker könnte erklären, was die Idee der Chemie ist im Unterschied zu der der Biologie?Und warum sollte man beides lernen? Die moderne Fachdidaktik weiß darum, dass sich WissenschaftinBil- dungsprozessen nie mehr proportional wird abbilden lassen. Sie muss also um der Darstellbarkeit eines Faches willen ausdem Fach auswählen, was sie als bedeutsam am Fach bewertet. Die bildungstheoretische Fachdidaktik trifftihre Auswahl ausder Wissenschaftweder nach ökonomischen, publizistischen oder politischen Kriterien. Sie wählt ausschließlich die Perspektive der Bildung, also der Selbstbefähigung der Menschen zum Handeln. Das Lehramtsstudium sorgtindem interdisziplinärenund dialogischen Dreiklang vonFachwissenschaft, Fachdidaktik und Bildungswissenschaftdafür, dass Studierende nichtLatein oder Geographie oder ein anderes Wissen und Können »vermitteln« können, sondernMenschen bilden. Um dies verantworten zu können, um die Verantwortung dafürzuübernehmen, dass sie später massiv in das Lebenanderer Menschen eingreifen, müssen sie mehr wissen als nur, wie man eine Unterrichtsstunderichtigaufbaut.

Literaturverzeichnis

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UlrikeMess

Das Leitziel der interkulturellen kommunikativen Handlungskompetenz und seine Konsequenzen für die Ausbildungvon Lehrerinnen und Lehrern im Fach Englisch

Die folgenden Ausführungen nehmen den kurzen Filmclip »Whatkind of Asian are you?«zum Ausgangspunkt.1 In dem gezeigten Clip treffen zwei amerikani- sche Jogger aufeinander,die sich gegenseitig in einwandfreiem Englisch be- grüßen, was den Jogger verwundert, da die Joggerin eindeutigasiatische Züge besitzt. Daraufhin befragtersie, warum sie so gut Englisch könne, was sie dadurch erklärt,dass sie Amerikanerin sei. Der Jogger gibt nichtnach, bohrt weiter nach ihren Wurzelnund lobt die kulturelle Bereicherung durch ihre Vorfahren, die als Einwanderer nach Amerikagekommen seien. Dem entgegnet die Joggerin, dass auch ihm und seiner Familie Dank gebührt, denn sie hätten die amerikanische Kultur auch bereichert, durch z.B. Fish ’n Chips. Diese Antwort kann der Jogger nichtverarbeiten und bleibt stehen, während die Joggerin weiter läuft. Wieder Film zeigt, beherrschen die Akteureindem Clip das Sprachsystem »Englisch« perfekt. Sie verfügen überumfangreiche sprachliche Mittel, sie drücken sich grammatikalisch korrekt aus, sie sind grundsätzlich kommuni- kativkompetent, und nichtzuletzt sind beiihnen Aussprache und Intonation authentisch. Man könnte meinen, so sähe das Ziel oder vielmehr das Ideal un- seres gemeinsamen Bestrebens an Schule, Universitätund Zentrum fürschul- praktische Lehrerausbildung (ZfsL) aus. Doch trotz der erkennbaren sprachli- chen Fähigkeiten und Kompetenzenwird in diesem Beispiel deutlich, dass der kommunikative Prozess misslingt. Obgleich der Mann ausnahmsloslexikalisch und grammatisch einwandfreie Äußerungen vonsich gibt, stößterseine Ge- sprächspartnerin vorden Kopf. Ihm fehltdie zentrale Fähigkeit, die der Eng- lischunterrichtoder vielmehr der Kernlehrplan des Faches Englisch postuliert: interkulturelle Handlungskompetenz –das Leitziel des Unterrichts und damit auch ein unverzichtbarer Fokusinder Ausbildung. Der nordrhein-westfälische Kernlehrplan definiertinterkulturelle Handlungskompetenz als

1Vgl.What kind of Asian are you?,online unter URL:www.youtube.com/watch?v= DWynJkN5HbQ [10.03.2015]. 214 Ulrike Mess

»den kompetenten Umgang mit der Kultur und Lebenswirklichkeit englischsprachiger Länder,insbesondereden gesellschaftlichen Phänomenen, Strukturen und Diskursen, der Literatur sowieden Medien […].Die Auseinandersetzung mit anderen Lebens- wirklichkeiten […] soll die Bereitschaft der Schülerinnen und Schüler zur Selbstre- flexion fördern und ihnen die Möglichkeit eröffnen, Distanz zu eigenen Sichtweisen und Haltungenherzustellen, kulturell geprägteLebenswirklichkeiten […] zu verstehen und in ihrem interkulturellen Handeln angemessen zu berücksichtigen.«2

Die Definition verdeutlichtdie komplexen und umfassendenAnforderungen an Lernende und Lehrende. Dass es sich beider Anbahnung interkultureller Kompetenz um ein schwieriges Unterfangen handelt, lässt auch ein kritischer Blick aufden »Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen fürSprachen« er- kennen. Dieser legtnämlich sehr detailliertSprachniveaus fürdas Erreichen kommunikativer Kompetenzen fest (A1 –C2);eine Einteilung in Form eines Stufenmodells im Bereich der interkulturellen Kompetenz fehlt jedoch –nicht zuletzt deswegen, weil eine Messbarkeit im Sinne voneinem Erreichen von Niveaustufen schwierig erscheint.3 Versuchen wirdennoch eine Annäherung. Interkulturelle Handlungskompetenz wird vondem Englisch-Didaktiker EngelbertThaler in Anlehnung an Byrams Modell der sogenannten fivesavoirs4 in drei rechtallgemeine Zielbereiche eingeteilt, knowledge, skill und attitude (Wissen, Können, Haltungen).5 Im schulischen Kontext erscheinen diese als die Teilbereiche »Orientierungswissen«, »Werte, Haltungen und Einstellungen« sowie»Handeln in Begegnungssituationen«.Diese Aufteilung hilft, das kom- plexe Feldder Handlungskompetenz fürLehrende und Lernende zu systema- tisieren und erleichtertdie Arbeit, bezogen aufdie Konstruktion vonLernar- rangements und den Kompetenzerwerb. Der erste (und vielleichtgriffigste) Teilbereich, das Orientierungswissen, auch soziokulturelles Wissen genannt, ersetzt die ausder Mode gekommene Landeskunde. Ging es bis in die 1990er Jahreumeine abgegrenzte Vorstellung vonKultur:history, geography, institutions, literature, art, music und wayoflife –nach Tomalin und Stempleski als »big C« bezeichnet, so gewinntdie mit »little c« gekennzeichnete kulturelle Dimension der sogenannten behaviour culture

2Kernlehrplan fürden verkürzten Bildungsgangdes Gymnasiums–Sekundarstufe II (G8) in Nordrhein-Westfalen. Englisch, hg.v.Ministerium fürSchule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, Frechen 2013;zum interkulturellen Lernen vgl. GerhardBach, Inter- kulturelles Lernen, in:Johannes Peter Timm (Hg.), Englisch Lernen und Lehren. Didaktik des Englischunterrichts, Berlin 1998, S. 192–200. 3Vgl.Europarat/Rat fürkulturelle Zusammenarbeit, Gemeinsamer europäischer Referenz- rahmen fürSprachen:lernen, lehren, beurteilen, Berlin /Madrid u.a. 2001. 4Michael Stuart Byram, Teaching and Assessing InterculturalCommunicativeCompetence, Clevedon 1997, S. 34. 5EngelbertThaler,Englisch unterrichten:Grundlagen –Kompetenzen –Methoden, Berlin 2012, S. 272. Praxisperspektiven:Englisch 215 immer mehr an Bedeutung:»culturally influenced beliefs and perceptions, es- pecially as expressed throughlanguage but also throughcultural behaviours«.6 Diese Dimension findet in einem bestimmten, in der entsprechenden Gemein- schaftakzeptierten (sprachlichen) Verhalten ihren Ausdruck und tritt ergän- zend zum »big C« hinzu.7 Im Zuge der im Alltag und natürlich auch in der Schule immer spürbarer werdenden Globalisierung gewinntdie kulturelle Dimensionfürdas Spra- chenlernen stetig an Bedeutung,nichtzuletzt, weil es –ineinem viel größeren Maßeals je zuvor –zuinterkulturellen Kontakten z.B. in der »virtuellen Welt« der Netzwerke, Blogs etc. kommt, aber auch –und das betrifftLernende nach Beendigung ihrer Ausbildung –imberuflichen Kontext. Die Sensibilisierung und –mehr als das –die Notwendigkeit eines respektvollen und störungsfreien Umgangs mit fremden Kulturen stehtineiner zunehmend krisengeschüttelten Welt außer Frage. Die Welt vonheute ist ohne globale Kontakte nichtmehr vorstellbar. Sprache hat vermittelndeFunktion fürdie Kultur. So betontKramsch, dass »materielle Kulturund gemeinsames Gedankengut nichteinfach gegeben sind und weitergegeben werden«, vielmehr würden diese »zum größten Teil, und zwar fortlaufend, durch Sprache vermittelt, interpretiert und festgehalten.«8 Auf der Grundlagedieses kommunikativorientierten Kulturverständnisses ist kul- turellen Faktoren fürden Fremdsprachenerwerb im Hinblick aufdas Gelingen vonKommunikation eine entscheidende Bedeutung beizumessen. Die zweite Komponente –die Werte, Haltungen und Einstellungen –verfolgt zum einen anhand exemplarischer Themen und Inhaltedie Ausbildung von Interesse und Verständnis fürandere kulturspezifische Denk- und Lebensweisen und Lebensbedingungen. Zum anderen ist die eigene Identitätsbildung in diese Komponente einbezogen,weil das »Fremdverstehen« nurvor dem Hintergrund des Selbstverstehens gelingen kann und das eine das anderebefördertund weiter ausprägt.9 Ein Bewusstsein fürdie eigene Identitätund ihrekulturellen Bedin- gungsfaktoren schärftden Blick fürdas Fremde, was wiederum die eigene Identitätstärkt. Der dritte Teilbereich beschreibtdas Handeln in Begegnungssituationen, sowohl aufinhaltlicher Ebene, die interkulturell schwierige Themen antizipiert

6Barry Tomalin /Susan Stempleski, Cultural Awareness,Oxford1993, S. 3. 7Vgl.ebd. 8ClaireKramsch, AndereWorte –andereWerte:Zum Verhältnis vonSprache und Kultur im Fremdsprachenunterricht,in: Lothar Bredella, Verstehen und Verständigung durch Spra- chenlernen?Dokumentation des 15. Sprachenkongresses fürFremdsprachendidaktik, Bo- chum 1995, S. 51–66, hier S. 54. 9Vgl.LotharBredella,Verstehen und Verständigung durch Sprachenlernen?Dokumentation des 15. Kongresses fürFremdsprachendidaktik, Bochum 1995. 216 Ulrike Mess oder gar vermeidet, als auch aufsprachlicher Ebene, z.B. beider Verwendung vonHöflichkeitsformen. Die Strategien und Fertigkeiten zur Bewältigung realer Begegnungssituationen beinhalten auch Toleranz gegenüber›anderen‹ Normen und deren kritische Reflexion. Wenn man an das Beispiel ausdem Videoclip zurückdenkt, erkenntman die Defizite des jungen Mannes in den hier genannten Bereichen. Jedoch ist davon auszugehen, dass nichtetwa böser Wille vorliegt, sonderneine mangelnde in- terkulturelle Handlungskompetenz. Bezogen aufdie Lehrerausbildung,stellt sich folglich die offensichtliche Frage:Wie kann diese Kompetenz gelerntund vorallem gelehrtwerden?10 Kann ein Lehrer nichtnur dann interkulturelle Handlungskompetenz vermitteln, wenn er sie selber besitzt? Wieerlangtein Studentoder eine Studentinund später ein Referendar oder eine Referendarin die Kompetenz, die er oder sie selber zum Zentrum des ei- genen Unterrichts machen soll?

1. Nebender selbstverständlichenVoraussetzung der Beherrschung der Ziel- sprache benötigt die Lehrperson soziokulturelles Orientierungswissen am besten zu mehr als einem der zielsprachlichen Bezugsländer.Gleichzeitig muss sie sich der Tatsachebewusst sein, dass ihr Wissen nur ›Inselwissen‹ist. Dieses (auch exemplarische) Orientierungswissen sollte auch ein Wissen um kulturspezifische Diskurs- und Denkmuster enthalten: Welche Themen sind Tabuthemen, in welcher Form erscheinenkommunikativeStile (z.B. formelle oder informelle Stile fürunterschiedliche Adressaten), wieprägen kulturspe- zifische Merkmale eine Textsorte, wieviel muss in Worten ausgedrückt werden und was kann oder muss implizit bleiben?

2. Unter den wissenschaftlichen Modellen, die sich theoretischmit der inter- kulturellen Handlungskompetenz auseinandersetzen, sei hier z.B. das von Michael StuartByram genannt, einem der ›Väter‹ der interkulturellen Hand- lungskompetenz. Er nimmt eine Unterteilung in fünf Ebenen vor.Ausgangs- punkt ist eine vonWertschätzung und Neugier geprägteHaltung gegenüberder anderen, neuen, fremden Kultur,Endpunktdas Erreichen eines kritischen kulturellen Bewusstseins. Byram benenntdreiKontexte, in denen die fünf Ebenen durchlaufen werden können und in denen interkulturelle Handlungskompetenz herausgebildet wird:

10 Edgar Otten, Zum Stand der curricularen EntwicklungimAnforderungsbereich »Interkul- turelle Kompetenz«, in:Hans-Ludwig Krechel (Hg.), Mehrsprachiger Fachunterrichtin LändernEuropas, Tübingen 2005, S. 209–222. Praxisperspektiven:Englisch 217

–inpädagogischen Kontexten –und da ist an erster Stelle der Fremdspra- chenunterrichtzunennen, –bei Auslandsaufenthalten und –bei außerschulischen/außerinstitutionellen Lern-und Erfahrungsprozes- sen11

3. Die Lehrperson benötigt didaktisches Wissen, z.B. wiedie Sprache und das soziokulturelle Orientierungswissen vermittelt werden können. An erster Stelle sind da die Verfahren zu nennen, die eigene und fremde Sichtweisen erkunden und Perspektivwechsel und Multiperspektivitätinproduktionsorientierten und analytisch-interpretierenden Zugängen eröffnen.

Wasmüssen Lehrende und Lernende tun, um ihren Unterrichtsozugestalten, dass er das anspruchsvolle Ziel der interkulturellen Kompetenz beiSchülerinnen und Schülernzumindest anbahnen kann? Grundsätzlich gilt es, kommunikativenSituationen im Unterrichteinen hohen Stellenwertbeizumessen. Die gegenwärtig deutlich werdende Verschie- bung vonSchriftlichkeit hin zu mehr Mündlichkeit, die sich u.a. in der ver- bindlichen Einführung mündlicher Prüfungen als Ersatz füreine schriftliche Arbeit widerspiegelt,zeigt, dass die Bedeutung vonKommunikation im Un- terrichtzunimmt.Auf den Unterrichtbezogen heißtdas, –den Schülerinnen und Schülerninhaltliche und sprachliche Mittel an die Hand zu geben, eine Begegnungssituation auch bewältigen zu können (z.B. Höflichkeitsformen), –inRollenspielen Begegnungssituationen zu simulieren, –Möglichkeiten zum interkulturellen Kontakt zu nutzen (im besten Falle reale Kontakte in Austauschprogrammen,aberauch die Vielzahl virtueller Kon- takte, die grundsätzlich schneller, bequemer und günstiger hergestellt werden können, aber der Vor- und Nachbereitung bedürfen), –Orientierungswissen bezogen aufanglophone Kulturen unter Berücksichti- gung vielfältiger Aspekte und stets im Wissen um die Beispielhaftigkeit der Auseinandersetzung zu vermitteln, –geeignete Materialien, die das Eintauchen in fremdeWelten ermöglichen, Perspektivwechsel provozieren und zur Reflexion überdie fremde und eigene Identitätanregen (Sachtexte, literarische Texte, zunehmend Filmeund Vi- deoclips etc.), bewusst auszuwählen, –Inhalte und Aufgabenformate bereitzustellen, die es Lernenden ermöglichen, tatsächlich einen Bezug zwischen der eigenen und der jeweils anderen Kultur herzustellen,

11 Byram, Teaching and Assessing InterculturalCommunicative Competence, S. 64–70. 218 Ulrike Mess

–Perspektivwechsel als Verfahren der Erkundung eigener und fremder Sicht- weisen einzusetzen, –aufgrund eigener Werteund Normen eine nationale Identitätbewusst zu machen, –persönliche Erfahrungen multikultureller Lerngruppen zu nutzen, –zueiner Haltung der Offenheit gegenüberanderen Kulturen zu erziehen (dazu gehört auch das Wissen, vorwelchem kulturellen und gesellschaftlichen Hintergrund die Lernenden das Neue aufnehmen).

Fazit

FürUnterrichtende, die interkulturelle Handlungskompetenz vermitteln sollen, ist es unabdingbar,dass sie selbst eine solche besitzen. Dies ist insbesonderezu erreichen durch: 1. den Blick überden ›Tellerrand‹, z.B. durch einen längeren Auslandslauf- enthalt vor Eintritt in den Vorbereitungsdienst (ihn währenddessen zu ge- stalten, erscheintillusorisch), 2. eine intensiveBeschäftigung mit verschiedenen Kulturen, 3. eine ausgeprägteReflexionsfähigkeit und, damit verbunden, ein Bewusstsein überdie eigene kulturelle Bedingtheit und die der anderen, das sogenannte »Fremdverstehen« (Bredella), 4. eine Auseinandersetzung mit aktuellen fachwissenschaftlichen und fachdi- daktischen Ansätzen zu diesem Thema.

Die interkulturelle kommunikative Handlungskompetenz ist zu einem fremd- sprachendidaktischen Schlagwortgeworden. Es ›erschlägt‹auch fast in dem, was es an Fähigkeiten, Fertigkeiten und volitionaler,emotionaler und sozialer Be- reitschaftumfasst. Gerade deshalb siehtdie Fachgruppe Englisch darin die Herausforderung ihres Faches an die Lernenden und Lehrenden und damit auch an die Lehrerausbildung.

Literatur

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Bredella, Lothar,Verstehenund Verständigung durch Sprachenlernen?Dokumentation des 15. KongressesfürFremdsprachendidaktik, Bochum 1995. Europarat/Rat fürkulturelle Zusammenarbeit, Gemeinsamer europäischer Referenz- rahmen fürSprachen:lernen, lehren, beurteilen,Berlin /Madrid u.a. 2001. Kernlehrplan fürden verkürzten Bildungsgang des Gymnasiums –Sekundarstufe II (G8) in Nordrhein-Westfalen. Englisch, hg.v.Ministerium fürSchule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, Frechen 2013. Kramsch, Claire, Andere Worte–andere Werte: Zum Verhältnis vonSprache und Kultur im Fremdsprachenunterricht, in:Lothar Bredella, Verstehen und Verständigung durch Sprachenlernen?Dokumentation des 15. Sprachenkongresses fürFremdsprachendi- daktik, Bochum 1995, S. 51–66. Otten, Edgar,Zum Stand der curricularen Entwicklung im Anforderungsbereich »Inter- kulturelle Kompetenzen«, in:Hans-LudwigKrechel (Hg.), Mehrsprachiger Fachun- terrichtinLändernEuropas, Tübingen 2005,S.209–222. Thaler,Engelbert, Englisch unterrichten:Grundlagen –Kompetenzen –Methoden,Berlin 2012. Tomalin, Barry /Stempleski, Susan, Cultural Awareness, Oxford 1993.

Florian Radvan

Texttheater. Literarische Editionund Bühne im Deutschunterricht

Lesen ist eine, wenn nicht die fächerübergreifende Schlüsselkompetenz, die in der Schule und insbesondereimDeutschunterrichtvermitteltwird. Die Fähig- keit, Schriftzeichen zu dekodieren, ihnen einen Sinn zuzuschreiben und die Vorstellungen voninTexten dargestellten Sachverhalten und Prozessen (mentale Modelle) zu nutzen, ist in literalen Gesellschaften unabdingbar.Lesen besitzt dabei eine nurschwer zu überschätzende Bedeutung fürdie individuelle Per- sönlichkeitsbildung und Enkulturation. Im vorliegenden Beitrag wird gleichsam hinter –oder besser:auf die Kulissen des Lesens geschaut. Die Machartvon Textausgaben als Lese-Objekte stehtim Fokus. Einenichtnur in der Schule alltäglich stattfindende Praxis, der Umgang mit Literatur in Form vonEditionen, soll aufden Prozess seiner Materialisierung hin befragtwerden.1 Als Leitfrage fungiertdabei der Titel eines im Jahr 2000 veröffentlichten, ästhetischwie inhaltlich sehr gelungenen ›Metabuches‹: Wie kommen die Bücher aufdie Erde? Verfasst wurde es vomVerleger,Buchgestalter und FotografenRainer Groothuis.2 Mit einer Hinwendung zu Aspekten der Materialitätwird eine Perspektive eröffnet, die als Forschungsansatz in den Kulturwissenschaften (material turn) inzwischen weit verbreitet ist:»VonMaterialitätzusprechen ist en vogue«, vermerkte PerRöcken 2008 und nahmgleichzeitig eine Explikation des Begriffes in Bezug aufTexte und ihre Überlieferungsträger vor.3 Dass Materialitätin- zwischen als bedeutender Forschungsgegenstand in der Germanistik gilt und natürlich auch Studieninhalte konstituiert, zeigen Blickeindie Editionsphilo-

1Unter ›Editionen‹ bzw.›Textausgaben‹ werdenhier gedruckte Bücher (als physische Objekte) verstanden, keine E-Books, welche im Deutschunterrichtbisher nur in Ausnahmefällen Verwendung finden. 2Rainer Groothuis, Wiekommen die Bücher aufdie Erde? Über Verleger und Autoren, Her- steller,Verkäufer und das schöne Buch, überarb.und erw. Neuausgabe, Köln 2007. 3Per Röcken, Wasist –aus editorischer Sicht–Materialität?,in:editio 22 (2008), S. 22–46, hier S. 22. 222 Florian Radvan logie, in die Schreibprozessforschung oder auch in die Fachdidaktik.4 Anhand eines konkreten, eng umgrenzten Beispiels –des Vergleichs vonEdition und Bühne als zwei Formen eines ›Texttheaters‹ –wird im Folgenden aufgezeigt, wie der Diskurs zur Materialität, der im Deutschunterrichtbisher keine maßgebliche Rolle spielt, auch in die Schule hineingespiegelt werden könnte.5 Damit sollen konkrete Themen bzw.Handlungsräume fürdas Fach Deutsch aufgezeigtwer- den, etwa fürdie Planung vonUnterrichtssequenzen, in denen die Entstehung vonTexten und/oder die Formen ihrer (materiellen) Veröffentlichung eine Rolle spielen.

1. Texttheater

Im Deutschunterrichtgehen Schülerinnen und Schüler aufvielfältige Weise mit Literatur um:Einerseits ist der Umgang ein rezeptiver,wenn sie Literatur lesen und, zum Beispiel, im Hinblick aufdie jeweiligenStruktur-und Gattungs- merkmale hin untersuchen und deuten. Andererseits ist er produktiv,indem sie sich schriftlich und mündlich zur Form,zuden Inhalten und, gegebenenfalls, den historischen wiesoziokulturellen Kontexten äußern, literarische Texte al- lerdings auch bearbeiten, in neue Zusammenhänge einbetten(wiedies im Rahmen der Produktions- und Handlungsorientierung der Fall ist). Sowohl für die Rezeption als auch beider Produktion besitzen bzw.erlangen Texte eine materielle Präsenz:Sie müssen als ein Körper,der Zeichen trägt,betrachtet, erkannt, gedeutet und verarbeitet werden. Dieser Zeichenkörper,inFormder gedruckten Edition, und die Konventionen seiner medialenVermittlung, etwa im Deutschunterricht, initiieren und steuerndie Kommunikationshandlungen zu Texten. Die Lektüre vonLiteratur impliziertfolglich eine Auseinandersetzung mit der Materialitätvon Texten und, daran anschließend, der Medialitätvon Editionen. Dass diese zumeist wenig reflektiertwerden, mutet erstaunlich an, da Schülerinnen und Schüler im Laufe ihrer (nichtnur schulischen) Lesebiogra-

4Vgl.z.B.MartinSchubert(Hg.), Materialitätinder Editionswissenschaft, Berlin 2010 und Bände ausder Reihe »Zur Genealogie des Schreibens« (www.schreibszenen.net) sowieBei- träge in Achim Barsch /Olaf Gätje (Hg.), Materialitätund Medialitätvon Schrift und Text, München 2013. 5Inden »Ländergemeinsameninhaltlichen Anforderungen fürdie Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung« (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16.10. 2008 i.d.F. vom 11.06.2015) finden sich einige Studieninhalte (wie »Theorien zur Produktion und Rezeption literarischer und pragmatischer Texte«), unter denen eine Erkundung im Bereich der Materialitätvon Editionen subsumiertwerden kann. Ebd.,S.25, zit. nach URL: http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2008/2008_10_16-Fach profile-Lehrerbildung.pdf [25.08.2015]. Literarische Edition und Bühne im Deutschunterricht 223 phien mit einer großen Anzahl an Lektüren, Langtexten oder sogenannten Ganzschriften umgehen, die in Form vonAusgaben publiziertworden sind. So selbstverständlich es fürSchülerinnen und Schüler ist, beim Lesen »den Zusammenhang vonTeilaspekten und dem Textganzenzur Sicherung des in- haltlichen Zusammenhangs heraus[zu]arbeiten«6,also Texte primärals »Ver- mittler vonWissen«7 und Grundlage fürein hermeneutisches Verstehenzu betrachten, so wenig nehmensie mitunter die Konstitution vonTexten aufEbene ihrer Materialität(Typographie, Druck oder Fragen der ›medialen Rahmung‹ wiedie Veröffentlichungsform) wahr.Diese MaterialitätimDeutschunterricht zu berücksichtigen, kann Schülerinnen und Schüler dazu anregen, die Diskurse und Praktiken kennenzulernen, welche die Entstehung vonTexten als Lese- Objekte prägen. Texteditionen, speziell die im Deutschunterrichtoft verwen- deten Schuleditionen, würden dann hinsichtlich ihrer Gestaltungsparameter, ihrer Peritexteund der Instanzen, die an der Produktion beteiligtsind, unter- suchtwerden. Fürdie Schwerpunktsetzungen einer Thematisierung im Unter- richtkönnten die folgenden Fragen als Orientierung dienen: –Welche Instanzen wirken am Produktionsprozess einer Edition aufwelche Weise mit? –Welche Zusammenhänge bestehen zwischen dem Schreibprozess (Textge- nese) und der daraus entstehenden Edition(Textpräsentation)? –Welche (Druck-)Konventionen gibt es beider Gestaltung vonEditionen? –Welche unterschiedlichen Editionsformen eines literarischen Werkes exis- tieren? –Welchen Status besitzen verschiedene Texte (edierter Text und Peritexte) in einer Edition?

Eine solche Herangehensweise veränderte nichtnur die Rezeption eines Textes, sondern ließegleichzeitig Rückschlüsse darüberzu, welche Implikationen durch die Gestalt(ung) vonTexten fürihre Rezeption entstehen. Wenn Editionen als Lese-Objekte wahrgenommen und problematisiertwerden, zeigtsich, dass Texten aufeine bestimmte –und eben nichtwahllose oder erratische –Weise eine Form gegeben wurde. Es lässt sich sowohl deklaratives Wissen zum Ent- stehungsprozess vonTextausgaben vermitteln als auch die Bildung metako- gnitiven Wissens zu ihrer Nutzung anregen.8 Fokussiertman die oben angeführten Fragen, erscheintessinnvoll und zielführend, die Entstehung vonEditionen in Bezug zu setzen zu einer anderen

6Ministerium fürSchule und Weiterbildung (Hg.), Kernlehrplan fürdie Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule Nordrhein-Westfalen –Deutsch, Düsseldorf 2013, S. 19. 7Ebd.,S.15. 8Vgl.Florian Radvan, Edition, Didaktik und Nutzungsforschung,in:editio28(2014), S. 22–49. 224 Florian Radvan

Form vonTextpräsentationen, die Schülerinnen und Schülernaus dem Deutschunterrichtvertrautist:zum szenischen Umgang mit Texten bzw.ihrer Bühneninszenierung.Fürdas Fach Deutsch stellt sie einen inhaltlichen Schwerpunkt in der Sekundarstufe dar.9 Voneinem bekannten curricularen Bereich ausgehend, lassen sich so neue Zusammenhänge erschließen und re- flektieren. Ichmöchte folglich vorschlagen, die Potenziale einer Hermeneutik des Vergleichens zu nutzen –konkret:das Zueinander-in-Beziehung-Setzen von Bühne und Edition als zwei Formen eines ›Texttheaters‹. Dem liegtdie Annahme zugrunde, dass es eine Reihe vonAnalogien (analogiae attributionis)zwischen der Darbietung literarischer Texte aufBühnen und in Editionen gibt. Beide sind maßgeblich geprägt durch den Prozess einer ›Verkörperung‹ qua Inszenierung. Die Arbeit mit Schauspielernoder das In-Szene-Setzen mittels Technik, Büh- nenbild und Maskewird so nichtnur als ein Phänomendes Theaters begriffen, sondern,metaphorisch, auch als eine Darstellungsstrategie zwischen zwei Buchdeckeln. »Im Grunde ist«, vermerkten die Typographen Hans Peter Willberg und Friedrich Forssman einmal, »jede typografische Auszeichnung schon eine kleine Inszenierung«10 –eine Position, die auch Günter Gerhard Lange mit seinem auf der TYPO Berlin 1996 gehaltenen und später berühmt gewordenen Vortrag zur »Inszenierung einer Botschaftinder Fläche«11 vertrat. Ähnlich verwies Rainer Groothuis implizit und explizit aufdie Metapher der Bühne als eine der Mög- lichkeiten, die Arbeit vonTypographen und Buchgestalternzubeschreibenund zu deuten:»Wietritt das Buch auf?So viele Buchtypen, so viele Auftritte, so viele Inszenierungen«12.Indem Buchstaben oder Wörter typographisch gestaltet werden, ergebesich –soschließlich Aleida Assmann aufihrem Wegdurch das Dickichtder (sprachlichen) Zeichen –eine »neue Dimension zur sinnlichen Steigerung und semantischen Komplexitätdes Dargestellten.«13 Auch Assmann argumentiertmit Bezug aufdie Theatermetapher,wenn sie schreibt, dass Schrift durch die Verbildlichung vonZeichen zu einem, den Lesefluss mitunter irri- tierenden »Gegenstand einer literarischen Inszenierung« wird.14 –Lässt man sich aufdas Gedankenexperimentein, die vonTypographen traditionell als Gestaltungseinheit geseheneDoppelseite eines Buches als Bühnenbild zu be-

9Vgl.Ministerium fürSchule und Weiterbildung,Kernlehrplan, S. 36. 10 HansPeter Willberg /Friedrich Forssman, Lesetypographie, Mainz 2005, S. 59. 11 Günter GerhardLange, Die Inszenierung einer Botschaft in der Fläche [Vortrag aufTYPO Berlin 1996],Online-Ressource unter URL:http://www.typoberlin.de/video/index.php?no de_id=9&lang_id=1&ds_target_id=772 [19.03.2015]. 12 Groothuis, Wiekommen die Bücher aufdie Erde?, S. 117. 13 Aleida Assmann, Im Dickichtder Zeichen,Berlin 2015, S. 231. 14 Ebd. Literarische Edition und Bühne im Deutschunterricht 225 greifen, aufdem Texte und ggf. auch Bilder einen (passenden)Auftritt suchen – dann zeigtsich, welches Gestaltungspotenzial sich im Edieren verbirgt. Allerdings stellt sich die Frage, inwieweit Textausgaben tatsächlich inszena- torisch vorgehen und welche Konsequenzen sich daraus fürdie Bedeutungs- konstitution und Interpretation vonTextinhalten ergeben. Im Folgenden wird die oben ins Feld geführte Inszenierungsmetapher daher überprüft,auf ihre Validitäthin befragtund analysiert. Aufwelche Weise ist es mittels der Metapher möglich, zur Wahrnehmung des Edierens als Prozess beizutragen?Kann sie, insbesonderebei Schülerinnen und Schülern, ein Verständnis fürdie kulturelle Praxis vonTextherausgabeevozieren, indem sie aufdas (andere) Medium der Bühne anspielt?Woliegendie Grenzen der Analogiebildung? Setzt man die Bühne und die ihr eigenen Praktiken des Inszenierens als eine »Form und Perspektiveder Beobachtung«15 aufEditionein, ergibt sich An- schluss an einen curricularen Sub-Bereich, der den Lernenden bekanntist:der szenische Umgang mit Texten bzw.deren Bühneninszenierung.ImDeutsch- unterrichtbegegnen sie, spätestensabder Sekundarstufe I, dem Theater als Kunstform. Bereits ein kursorischer Blick in aktuelle Lehrwerkezeigt, dass sich ab der 5. Jahrgangsstufe zahlreiche Dramentexte und dazugehörige Aufgaben finden, die aufden Prozess vonInszenierung abzielen:methodisch umgesetzt etwa im Lesen mit verteilten Rollen, im Erproben vonSprechhaltungen, im Erstellen von(alternativen) Regieanweisungen, im Fortschreiben vonDra- menszenen, im Verfassen vonz.T.nicht-dramatischen Paralleltexten, im Konzipieren vonKostümen, Bühnenbildernund Werbematerialien füreine Klassenaufführung,imErfindenvon Transpositionen wiePantomimen, Stand- bildernoder Stimmenskulpturen.16 Alle diese szenischen Verfahren, die davon ausgehen, dass Schülerinnen und Schüler verschiedenartigmit (Dramen-)Tex- ten interagieren, verschaffen ihnen –inunterschiedlichen Zeichenformen (akustisch, visuell,haptisch, ggf. auch olfaktorisch oder in Mischformen, mit jeweiligen Untergruppen wiez.B.linguistisch und paralinguistisch) –eine Präsenz.17 Gleichzeitig verweisen die Arbeitsaufträge darauf, dass Inszenierung sowohl in einer Prozess- als auch einer Korporalitätsdimension (›Verkörpe- rung‹) wahrgenommen werden soll.

15 HerbertWillems, Inszenierungsgesellschaft?Zum Theater als Modell, zur Theatralitätvon Praxis, in:Ders. /MartinJurga (Hg.), Inszenierungsgesellschaft,Opladen 1998, S. 23–79, hier S. 25. 16 Vgl. BerndSchurfu.a.(Hg.), Deutschbuch. Nordrhein-Westfalen, Berlin:Cornelsen, 2011ff. 17 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters. Das System der theatralischen Zeichen (Bd. 1), 2. Aufl.,Tübingen 1988, S. 28. 226 Florian Radvan

2. Inszenierung:Begriff und Praxis

Mit ›Inszenierung‹ ist hier ein Prozess bezeichnet, der mit dem Suchen und dem Finden unterschiedlicher Zeichen fürein (literarisches) Werk einhergehtund in welchem die Frage gestellt wird, wiediese Zeichen zueinander in Beziehung stehen, welche Möglichkeiten einer ›semiotischen Auffächerung‹ es beispiels- weise gibt. Er resultiertinder Präsentation verschiedener durativeroder nicht- durativerZeichen wieBühnenbild, Stimme, Kostüme etc. Eine Inszenierung ist dabei ein Vorgang,der zur Verwirklichung eines Textes notwendig ist, der den Text im Sinne einer ›Verkörperung‹ organisiertund formatiert.18 Insbesondere die Idee von›Verkörperung‹ –ein polyvalenter Begriff fürden Prozess, wie Texte eine perzipierbareGestaltannehmen –kann dabeiherausgestellt werden, da sie im Rahmen vonInszenierungsprozessen eine zentrale Rolle spielt19 und sich vielfach aufdie Praxis des Edierens übertragen lässt. Verstehtman Editionen als die Bühne eines Textes, ergibt sich daraus die Möglichkeit, einzelne Bestandteile ausder Theaterpraxis an Textherausgabe heranzutragen:Zuedieren hießedann, Texte mit den notwendigen Requisiten auszustatten, durch Formen der Kostümierung und (Hintergrund-)Beleuch- tung,d.h.typographische Auszeichnungund Druck, die Rezeption zu lenken und ein Inszenierungskonzept so zu verfolgen, dass ein rezipientenorientiertes ›Texttheater‹ entsteht. Das eigene Lesen lässt sich dann als etwas wahrnehmen, das sichzwangsläufig aufdiesem ›Texttheater‹ abspielt –also auch als ein Vor- gang,der nie außerhalb eines Mediums stattfindet. Mehr noch:Jedes Medium – hier die Edition als Lese-Objekt –fügt der zu vermittelnden Sache, medien- theoretisch gesprochen, »Bedeutungsdimensionen hinzu und erweitertdas Sinngefüge der Inhalte um die eigenen ontologischen, semantischen und funktionalen Bestimmungen«.20 In Analogie zum AphorismusNietzscheszum Schreibzeug und seinem formativen Einfluss aufkognitiveProzesse21 ließesich formulieren:»Unsere Textausgabearbeitet mit an unseren Gedanken.« Bereits die Annahme, dass Texte qua Edition inszeniertwerden, impliziert, dass dies verschiedenartig geschehen kann. Bedeutsam ist dies fürdas Verhältnis vonPrätext und Edition, also fürden Status editorischer Arbeit in Bezug aufdie

18 Vgl. Theresia Birkenhauer,Verrückte Relationen zwischen Szene und Sprache, in:Dies., Theater /Theorie. Zwischen Szene und Sprache, Berlin 2008, S. 162–174, hier S. 173. 19 Vgl. Marco Baschera, Washeißt›Körper‹ in einer Verkörperung?, in:AndrØ L. Blum u.a. (Hg.), Verkörperungen, Berlin 2012, S. 209–216, hier S. 209–211 und Willems, Inszenie- rungsgesellschaft, S. 43–46. 20 JanUrbich, Literarische Ästhetik, Köln 2011, S. 117. 21 »Sie habenRecht–Unser Schreibzeug arbeitet mit an unserenGedanken«, Friedrich Nietzsche, An Heinrich Köselitz in Venedig (Typoskript). Ende Februar 1882, in:Giorgio Colli /Mazzino Montinari(Hg.), Nietzsche Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, 3. Ab- teilung (Bd. 1), Berlin /New Yo rk 1981, S. 172. Literarische Edition und Bühne im Deutschunterricht 227 zugrundeliegenden Textzeugen (›Prä-Texte‹). Roland Reuß bemerkt dazu:»Im Falle vongedruckten Büchernist der Text zwar allgemein vonSchriftund Ty- pographie abhängig,jedoch normalerweise […] nichtvon einer bestimmten Type oder einem bestimmten Layout«.22 Reuß vertritt hier die Position, dass die Textgestaltung beivielen Textsorten nichtdurch ihren Inhalt (prä-)determiniert werde, es folglich keine unabweisbareRelation zwischen Semantikund Graphik gebe. Diese ›Texttheaterder Unterschiedlichkeit‹ werden durch einen Blick in die Editionsgeschichte einzelnerliterarischer Texte evident, und sie zeigen sich im Kommen und Gehen einzelner Gestaltungselemente (wie Floralmustern, Kapi- tal- und Absatzinitialen oder bestimmten als modisch und schließlich altmo- disch empfundenen Schrifttypen). Demgegenübergibt es eine Konstanz anderer,meist textsortenabhängiger graphischer Realisierungen. Zu solchen beständigen, als typographische Dis- positive23 bezeichneten Musternder Textgestaltung zählen etwa die Konven- tionen vonBriefen oder der überJahrhunderte erstaunlich konstantgebliebene Satz dramatischer Texte (mit seinem Arrangementvon Haupt- und Nebentext). Susanne Wehde formuliertdazu allgemein:

»Dass man Textsorten erkennt, bevorman ein einzigesWortgelesen hat, ist Indiz dafür, dass ein Text immer zuerstals visuelle Gestalt wahrgenommen wird und erst dann sprachlich-inhaltlich;eine Tatsache, die in der Literaturwissenschaftpraktisch gar nichtreflektiertund aufihre produktions- und rezeptionsästhetischen Konsequenzen befragtwird (beispielsweise fürLesemotivation, Textverständnis und Vertextungs- strategien).«24

Auch wenn es neuere Forschung gibt, die sich dem Wissen widmet,welches im Druck steckt –einem Wissen etwa, das Aufschluss geben kann zur Identitätund dem Prestige bestimmter Editionsreihen –, so bleibt unbestritten:25 Typogra- phie wird, zumal im Deutschunterricht, viel zu selten im Hinblick aufEpiste- mologie befragtoder,imRahmen der Inszenierungsmetapher gesprochen, nur vereinzelt werden die vorgefertigten Bühnenbilder und Kostümierungen,auf und in denen Texte auftreten können, ins rechte Rampenlichtgerückt. Eine Inszenierung vonTexten zwischen zwei Buchdeckeln erfolgtallerdings nichtnur typographisch und in Bezug aufdie Buchherstellung,sondern auch peritextuell. Ein literarischer Text kommt nie allein daher:Schon ausrechtli-

22 Roland Reuß,Spielräume des Zufälligen. Zum Verhältnis vonEdition und Typographie, in: Text. Kritische Beiträge 11 (2006), S. 55–100, hier S. 57 [Hervorhebung im Original]. 23 Vgl. Susanne Wehde, Typographische Kultur.Eine zeichentheoretische und kulturge- schichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung, Tübingen 2000. 24 Ebd.,S.125. 25 Vgl. z.B. ChristofWindgätter,Vom »Blattwerk der Signifikanz« oder:Auf dem Wegzueiner Epistemologie der Buchgestaltung,in:Ders. (Hg.), Wissen im Druck, Zur Epistemologie der modernen Buchgestaltung,Wiesbaden 2010, S. 6–50. 228 Florian Radvan chen Gründen ist er vonweiteren Texten wieden verlegerischenPeritexten (Titelei, Impressum) flankiert. Aufbeiden Ebenen –der typographischen und der peritextuellen –wird Text folglich zu einem ›Körper‹ zusammengesetzt, den man einerseitsals materiell, andererseits als ideell bezeichnen kann:26 –materiell, da ein Prozess vonMaterialisierung –mit einer konkreten ›Ver- körperung‹ –vorliegt, der in einem Buch, d.h. einem physischen Objekt mit einer bestimmtenHaptikund einem intentionalen typographischenArran- gement, resultiert: u.a. Cover-und Backcovergestaltung,Schriftartund -grad, Satzbreite und Zeilenfall, Druckfarben, Trägermaterial; –ideell, da es editorisch um die Schaffung einer kontextualisierenden Präsenz zum Text –also die Form einer abstrakten›Verkörperung‹ –geht, die die Rezeption des Textes beeinflusst: u.a. Angabedes Autorennamens und der Titelei, Anmerkungenwie Wort-und Sacherläuterungen, Kommentare und weitere Texte, ggf. im Apparat.

Die beiden Ebenen stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis.27 Eine typogra- phische Gestaltung ist Voraussetzung dafür, dass ein medial schriftlicher Text überhaupt rezipiertwerden kann:Indem Zeichen aufeinem Trägermaterial strukturiertangeordnet werden, ermöglichen sie die Leserlichkeit des Textes. Darauf aufbauend hat die ideelle Form der ›Verkörperung‹ das Ziel, die Les- barkeit des Textes zu steuern, indem sie Kontexte zu unterschiedlichen,z.B. textlinguistischen oder inhaltlichen Aspekten bereitstellt.28 Verstehtman eine Edition als ein Medium, das Texte im doppelten Sinne durch ›Verkörperung‹ inszeniert, dann ist die Annahme grundlegend, dass es keine –zumindest keine kommunizierbaren –immateriellen Texte gibt. Der

26 Vgl. Radvan, Edition, S. 32. 27 Eine Brückenfunktion zwischen diesen beiden Ebenen nehmen die diakritischen Zeichen ein, beidenen es sich im Peirce’schen Sinne um Symbole handelt:InTextausgaben fungieren sie in Form vonHäkchen, Klammernoder Sternchen(Asteriske)als Verweise aufPeri- oder auch Metatexte.Eshandelt sich folglich um typographische Elemente der Inszenierungs- strategie, d.h. um den Hinweis aufdie Existenz einer zweiten Textebene, aberauch aufdie Bedingungen und die Funktion ihrer Produktion. Folgt man GØrardGenette, so handeltes sich hierbei um allographe Texte (vgl. GØrardGenette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurta.M. 2001). Als normalerweise nichtvom Autor eingesetzter Textbe- standteil brechen die diakritischen Zeichen alias Sonderzeichen die Integritäteines litera- rischen Textes aufund bilden den Startpunkt füreine ggf. kursorische Lektüre vonPeri- texten. 28 Die Verwendungder Begriffe ›Leserlichkeit‹ und ›Lesbarkeit‹ erfolgtinder Editionswis- senschaft und Lesedidaktik, aber auch bei Typographen uneinheitlich:In»Lesetypographie« bezeichnen HansPeter Willberg und Friedrich Forssman mit ›Lesbarkeit‹, im Kontrast zum hier vorliegendenBegriffsverständnis,die Frage, wiegut Schriftzeichen rezipiert werden können:»Ein Text ist gut lesbar,wenn der Leser nichtmerkt, dass er liest« (Willberg / Forssman, Lesetypographie, S. 74). Literarische Edition und Bühne im Deutschunterricht 229

Vorgang des Edierens resultiert immer in einer ›Verkörperung‹. Instruktiv ist in dieser Hinsichteine FormulierungimUrheberrecht(UrhG), in dem literarische, wissenschaftlicheund künstlerische Werkeals »persönliche geistige Schöp- fungen« (UrhG §2,Abs. 2) bezeichnetwerden. Darin zeigtsich ein Verständnis vonWerken, aber auch der Genese dieser Werke, das primärauf ihren geistigen Gehalt abzielt,weniger aufMaterialitätund Medialitätals ebenfalls möglichen Bezugsgrößen einer Bestimmung des Werk-Begriffes.29 Damit lässt sich das UrhG im Zusammenhang mit einer Wahrnehmungstradition sehen, die –blickt man aufdie Entstehung literarischer Texte –etwa aufden Topos der Inspiration oder den des Genies und seiner spezifischen Produktionsästhetik zurückgreift. In Bezug aufEditionimpliziertder juristische Werk-Begriff, dass sich streng genommen gar keine literarischen WerkeimSinne des UrhG edieren lassen, sondern nurdie materiellen Residuen der »persönliche[n] geistige[n] Schöp- fungen«, also die bereits vorhandenen Erscheinungs- und Vermittlungsformen dieser Werke. Die »Äußerlichkeit einer Erscheinungsform«30 nichtzumargi- nalisieren, sondern ins Zentrum der Wahrnehmung zu rücken, auch dazu trägt die Parallelisierung der beiden Inszenierungsprozesse in der Edition und aufder Bühne bei.

3. Inszenierung:Bühne und Edition

Welche Ebenen, aufdenen sichBühne und Edition zueinanderinBeziehung setzen lassen, gibt es?Aus der folgenden, aufParallelisierung vonProzessen angelegten Tabelle (Tab.1)wird deutlich, dass Entsprechungen im Ablauf der jeweiligen Produktionslogiken existieren;auf sie verweisen die Vergleichsebe- nen. Gleichwohl lassen sichauf den Vergleichsebenen auch die unterschiedlichen Ausprägungen vonInszenierungen fürdie Bühne einerseitsund die Edition andererseits sichtbar machen. Folgt man einer vonHartmut vonSass entwi- ckelten Vergleichstypologie, so handelt es sich hier um einen synchron-typo- logischen Vergleich. Also einen Vergleich, beidem zwei zur gleichen Zeit vor- liegende Vergleichsgegenstände (tertia)auf Analogien hin untersuchtwerden, auf»die Gemeinsamkeiten und Unterschiededes Unterschiedenen«.31 Es geht folglich nicht darum –wie dies beieinem diachronen und zugleich häufig ge- netischen Vergleich der Fall wäre –, »einen Sinn fürGemeinsamkeiten und

29 Vgl. Reuß,Spielräume, S. 55. 30 Ebd. 31 Hartmut vonSass, Vergleiche(n). Ein hermeneutischer Rund- und Sinkflug, in:Andreas Mauz (Hg.), Hermeneutik des Vergleichs. Strukturen, Anwendungen und Grenzenkompa- rativer Verfahren, Würzburg 2011, S. 25–47, hier S. 35. 230 Florian Radvan

Unterschiede des Identischen«32 zu entwickeln. (Letzteres ergäbe sich beieinem Fassungsvergleich vonz.B.zweiEntstehungsstufen eines literarischen Werkes.) Darüberhinaus wird der Vergleich zwischen Bühne und Edition nichtals prä- ferenzlos gesehen, sondern als asymmetrisch,33 d.h. als ein Vergleich, der die Bühne und die übersie definierten Inszenierungsprozesse als dominanten Be- zugspunkt setzt.

Tab. 1

Im Folgenden werden die einzelnen Vergleichsebenen zwischen Bühne und Edition genauer betrachtet, um Gemeinsamkeiten, aber auch Differenzen der tertia in Bezug aufdie erkenntnisleitendeInszenierungsmetapher aufzuzei- gen:34

32 Ebd. 33 Vgl. ebd.,S.36f. 34 Alle Vergleichestoßen, zumal wenn sie über eine Metapher moderiertsind, an ihreGrenzen. Um nichteiner allzu weitreichenden –und damit ggf. irreführenden–Analogiebildung Vorschub zu leisten, möchte ich aufdie Grenzen einer Parallelführung zwischen Editionund Bühne hinweisen:Natürlich handelt es sich beider Tabelle um die Schematisierung eines als idealtypisch angenommenenProzesses, die davonausgeht, dass die Ebenen in jedem Ein- zelfall tatsächlich existieren. Schon in der Kategorie ›Voraussetzung‹ muss dies allerdings nichtgegeben sein, wenn ein Text nichtals Prätext vorkommt, sondernals erst zu konsti- tuierender Text. Darüberhinaus suggeriertdie Form der Tabelle, dass die Ebenen ein glei- ches Gewichtbesitzen. In der Praxisscheintdie Kategorie ›Realisierung‹ allerdings dominant zu sein. Ferner sind die Bezeichnungen in den einzelnen Spalten –sachlogisch bedingt– unterschiedlichen Bereichen und auch Abstraktionsebenen zugeordnet, nämlich1.Perso- Literarische Edition und Bühne im Deutschunterricht 231

Prätext: Es scheintangemessen, den Prätext kategorial sui generis auszu- weisen, da er Partiturcharakter besitzt, eine Spiel-Vorlage darstellt, aufdie sich alle folgenden Kategorien mit ihren Vergleichsebenen beziehen. Inszenierungen aufeiner Bühne gehen –inder Mehrzahl der Fälle –von bereits existenten Texten aus. Dies ist jedoch nichtunabdingbar,würdebei einigen Theaterformen (wie dem Improvisationstheater) sogar das Darstellungskonzept unterlaufen. Auch beiEditionen impliziertdie Bezeichnung Prätext nicht, dass der Text bereits in einer bestimmten Form vorliegt.Grundsätzlich können zugrundeliegende Textzeugen verschiedenartigtradiertworden sein:Mit unterschiedlichen Schreibgeräten und Speichermedien aufgezeichnet, nehmen sie z.B. die Form vonManuskripten (Autographen),Typoskripten oder Digiskripten an. Ebenso kann es sich um zuvor nurmedial mündlich überlieferte Texte handeln. Auch bereits existierende Editionen können die Grundlagevon (Neu-)Inszenierungen bilden;sie sind in einigen Editionstypen (Ausgaben fürdie Schule) sogar aus- schließlich anzutreffen. Ferner ist es möglich, dass der zu präsentierende Text erst im Laufe des Prozesses entsteht–beiBühnenaufführung beispielsweise durch Streichungen und Umwandlungen oder durch Ergänzungen um andereTexte (Textcollagen), beiEditionen können die folgendenAspekte eine Rolle spielen: – Aktualisierung: Anpassungder Rechtschreibung beiTexten, die z.B. vorder bisher letzten Orthographie-Reform(2006)verfasst wurden – Konstitution: Festlegung einer Reihenfolge oder Auswahl vonAusschnitten beifragmentarisch überlieferten bzw.ursprünglich nichtautorisierten Texten (bei schulisch kanonisierten Texten,zum Beispiel Georg Büchners Woyzeck oder Kafkas Der Prozess) – Selektion: Auswahl und Zusammenstellung vonTexten beiAnthologien, etwa Gedichtsammlungen mit unterschiedlichen Ordnungsparametern(chrono- logisch, thematisch, geographisch, alphabetisch und weitere) – Akkommodation: Vereinfachung und Kürzung vonliterarischen Texten für bestimmte Zielgruppen (easy readers), etwa nach dem Gemeinsamen Euro- päischen Referenzrahmen fürSprachen (2001)

Institution: In der Regel gibt es eine die einzelnen Subprozesseinitiierende und koordinierende sowieden Text selegierende Institution, in deren –auch juris- tischen –Zuständigkeitsbereich die Inszenierung fällt. Als Institution integriert sie die verschiedenen Anforderungen, die sichimRahmen des Inszenierungs- prozesses ergeben, und stellt die notwendigen Ressourcen (Finanzen, Personal, Materialien) bereit, wodurch gleichzeitig die Möglichkeiten abgesteckt sind, wie

nen/gruppen,ggf.auf eine bestimmteFunktion reduziert, 2. Raumstrukturen, 3. Institu- tionsbezeichnungen und 4. Beschreibungskonzepten. 232 Florian Radvan der Text realisiertwerden kann. Sowohl Verlage als auch Theater legitimieren sich gesellschaftlich darüber, dass sie –grobvereinfachend gesprochen –Prä- texte auswählen, sie bearbeiten und präsentieren. Überdie Reputation der je- weiligen Institution wird,unter anderem, gesteuert, unter welchen Prämissen der Text später in seiner edierten oder aufgeführten Form wahrgenommen wird bzw.welche Erwartungen an seine Inszenierung bereits im Vorfeld bestehen. So kann es zu kulturell kodierten Zuschreibungen kommen wieder ›Suhrkamp- Kultur‹ oder dem ›Burgtheater-Stil‹. Raum: Sowohl beider Bühne als auch beider Edition handelt es sich um Räume, in denen der Text eine Präsenz erlangt. Dabei ist das räumliche Moment einerseits durch die architektonische Struktur vonSpielstätten determiniert, andererseits durch Formate wieetwa (standardisierte) Buchgrößen. Siehtman das Buch als eine Bühne an, wird man ihm als einem dreidimensionalen Objekt mit Sehflächen gerecht. Jenseits bestimmter Dimensionen lässt sich der Text in Büchernallerdings beim Lesennichtmehr prozessieren:Zugroßebzw.kleine oder mit zu großem bzw.kleinem Schriftgrad bedruckte Seiten können eine Rezeption schlichtweg verhindern. Doch nichtnur in Bezug aufdie Typographie können Wahrnehmungsgrenzen über- oder unterschritten werden, auch Größe und Gewichtkönnen ein Buch nichtmehr handhabbar gestalten.35 Aufder Bühne sind es auch die auditiven Aspekte, an denen sich die räumlichen Grenzdimensionen vonTextpräsentation verdeutlichen lassen –wenn das Sprechen vonTexten etwa aufgrund der Größeder Spielstätte technischam- plifiziertwerden muss. GroßeUnterschiedezwischen Edition und Bühne er- geben sich in diesem Bereich freilich in der Dimensiondes genutzten und bespielten Raums. Im Theater ist es infolge unterschiedlichster Raumnut- zungskonzepte (Guckkastenbühne, Shakespeare-Bühne und andere Bühnen- formen, variable Bestuhlung) möglich, dass sich die Zuschauer zu den emit- tierenden Zeichensystemen verschiedenartig positionieren, die ›Verkörperung‹ des Textes sie im wörtlichen Sinne umgeben kann. Beim ggf. stillen Lesen hin- gegen bestehtdie Fokussierung aufeine vergleichsweise kleine bedruckte Flä- che.36 Semiotik: Zweifellos ermöglichtesdie Bühne, eine –imVergleich zum Buch –

35 Vgl. Roger E. Stoddard, Morphologyand the Book from an American Perspective, in: Printing History9(1987), S. 2–14, hier S. 8. 36 Roland Reuß problematisiertdie Zuweisung eines Raumes zur Edition, indemerauf die Dichotomie vonOrt undStelle verweist. Diese beiden topographischen Bezeichnungen dienen Reuß als Distinktionsmerkmalfürdie Verteilungvon Schrift- bzw.Druckzeichen auf einer Seite –einerseits typographisch in der Edition, andererseits handschriftlich im Ma- nuskript:»Typographie kenntimHinblickauf den vonihr präsentierten Text nur willkürlich zu wählende oder sich zufällig ergebende Stellen,nichtkonkrete Orte (des Schreibens selbst)« (Reuß,Spielräume, S. 60). Literarische Edition und Bühne im Deutschunterricht 233 größere Anzahl vonemittierenden Zeichensystemenzuaktivieren, also unter- schiedliche Semiotikennutzbar zu machen, in deren Rahmen ein Text präsen- tiertwird (Kostüme, Beleuchtung,Bühnenbild, Requisite, Tonetc.37). Auch Editionen können allerdings aufdie vielfältigen Möglichkeiten der Druckgra- phik zurückgreifen, auch wenn deren Gestaltungspotenzial in der Regel nur visuell, nichtauditiv oder olfaktorisch, dafürjedoch haptisch ist. Betrachtet man den Aspekt vonZeit und Zeitlichkeit, so ist die Vergabevon Zeichen aufder Bühne endlich, es gibt –anders als beiEditionen –keine Präsenz außerhalb einer Aufführung (es sei denn, diese wird durch eine, dann jedoch zweidimensionale Video-Aufzeichnung dokumentiert). Konzept: Die konzeptionellen Dispositionen vonInszenierung sind, zumin- dest teilweise, durch die Institutionen und ihre Rahmenbedingungen festgelegt: So produzieren etwa Schulbuchverlage nur bestimmte Typen vonTextausgaben. Ähnlich ist es beiKinder-und Jugendtheatern, die überwiegend füreine spe- zifische Altersgruppe und vorallem nurbestimmte Genres inszenieren. In Er- gänzung zu diesen makrokonzeptionellen Faktoren stellt sich auch die Frage, wieder Text en detail (mikrokonzeptionell) inszeniertwerden soll. Die mikro- konzeptionellen Faktoren beziehen sich aufParameter,die vonden Herausge- bern festgelegtwerden können, etwa aufdie Quantitätund Qualitätvon Peritexten, aufden Umgang mit Historizität, aufAktualisierung und Gegen- wartsbezug sowieauf Einzelheiten der Zielgruppenspezifik. AnalogeKonzept- überlegungen werden aufdem Theater getroffen, wenn inszenatorische Leit- ideen die Präsentation eines Textes aufder Bühne dominieren(darunter sprachliche Aktualisierungender Repliken). Die Umsetzungeines Inszenie- rungskonzepteslässt sich in beiden Fällen gut beobachten und ggf. auch do- kumentieren, da an diesem Punkt des Prozesses »der Idealitätdes Textes eine schriftliche oder lautliche Materialisierung«38 verschafft wird.Esist ebenfalls möglich, Unterebenen zu bilden, die einzelneSchritte der Inszenierung aufdem Theater (Erstellung der Kostüme, Anfertigung eines Bühnenbildes, Erproben vonSprechhaltungen etc.) und in der Edition (Gestaltung einzelner typogra- phischer Elemente, Verfassen vonWort- und Sacherläuterungen, Apparatkon- zeptionen, Druck und drucktechnische Gegebenheiten etc.) differenzieren. In beiden Fällen findet eine Adaption statt, bedingtvor allem durch die jeweilige Verfügbarkeit vonZeichensystemen, sodass der Prätext durch eine ggf. multi- mediale Kontextbildung neu präsentiertwird. Performanz: So wieein Schauspieler das vermittelnde Medium einer Figur ist, gibt es auch beider Editioneinzelne Akteure, denen eine Rolle beider Insze- nierung des Textes zugewiesen ist –namentlich Bearbeiter,die beispielsweise

37 Vgl. Fischer-Lichte, Semiotik, S. 28. 38 Genette, Paratexte, S. 11. 234 Florian Radvan erläuternde Peritexte verfassen. Hier wiedorttritt zum Urheber des Prätextes eine zweite Instanz hinzu, die ihn in Szene setzt, wodurch eine ArtKo-Präsenz entsteht: Wieein Schauspieler sich aufder Basis eines Inszenierungskonzeptes gegenüberseiner Rolle, die ihm der Dramentext potenziell zuschreibt, positio- niert, so ist der zu edierende Text durch den Bearbeiter kontextualisiert, d.h. auch hier werden unterschiedliche Räume fürdie spätere Wahrnehmung des Textes geöffnet. Editorisch könnte man voneiner Überlagerung unterschiedli- cher Textebenen und -qualitäten sprechen,fürderen Orchestrierung ein Bear- beiter zuständig ist, in Anlehnung an Genette zu bezeichnen etwa als den auktorialen, den verlegerischenund den allographen (Para-)Text.39 Dem Schauspieler erschließen sich –mit Blick aufPerformanz –allerdings wesentlich größere Spielräume, schon dadurch, dass er sich darstellerisch mit einer Figur ›identifiziert‹, ein körperlich (z.B. stimmlich)sich vollziehender Prozess von Aneignung und anschließender Veräußerlichung der Figur und damit auch des Textes in einer Aufführung stattfindet. Referenz: Bedingtdurch die verschiedenartigen semiotischen Potenziale der Edition und der Bühne finden auch Referenzialisierungen aufunterschiedliche Weise statt:Indem der Text theatralischdurch eine Medienkombination40 ver- mittelt wird, ist es möglich, die unterschiedlichen Zeichensysteme intermedial zueinander in Beziehung zu setzen. Dabei können unterschiedliche Span- nungsverhältnisse entstehen, indem ein Zeichensystem sich zu einem anderen etwa kongruent, komplementäroder elaborativ verhält –etwa mit Kostümen, die überihre Farbsymbolik irritierende, zu anderen Zeichen im Widerspruch ste- hende Signale bezüglich der Charakterisierung einer Figur aussenden. Dem- gegenüberfindet in der Edition die Bezugnahme meist rein intertextuell statt. Ausnahmen sind hier Bilder (etwa Autorenporträts, diskontinuierlicheTexte wie Statistiken und Graphiken oder auch anderevisuelle Elemente), die in Büchern ebenfalls als Medienkombinationen vorkommen. Rezeption: Auch in Bezug aufdie Modi der Wahrnehmung, also die Frage nach dem Wieder Rezeption, ergeben sich signifikante Ähnlichkeiten zwischen Bühne und Edition –beeinflusst durch ein medienspezifisches, aber auch sozio- kulturell geprägtes comme il faut,das die Begegnung mit dem Text steuert: Die Präliminarien eines Theaterbesuches(Plakate, Foyer,Garderobe, Programm- heft, ggf. Erlöschen des Lichtes und damit Fokussierung aufden Text in seiner multimedialen Präsentation) lassen sich in ähnlich gelagerten Prozessen bei Editionen wiederfinden –etwa in der Werbung bzw.Vorankündigung,imAuf- schlagen des Buches, ggf. dem Durchschauen der Peritexte, dem Lesen des Textes. In beiden Fällen erfolgtdie initialeWahrnehmungvisuell, überden

39 Vgl. ebd.,S.16. 40 Vgl. Irina O. Rajewsky,Intermedialität, Tübingen 2002, S. 157. Literarische Edition und Bühne im Deutschunterricht 235

Raum der Bühne bzw.des Druckbildes, in dem der Text gezeigtwird:»Denn für den Leser findet die erste Wahrnehmung des Textes –vor dem Beginn des Lesens –immer durch das Sehen statt, d.h. ein Wahrnehmen der typographischen Struktur des Textes.«41 Liegtder Fokus aufden Kontexten, in denen die Prätexte jeweils ›verkörpert‹ werden, so ergeben sichjedoch auch Unterschiede in den Rezeptionssituationen und -weisen:Leser lesen Texte in der Regel einzeln,d.h. mit individueller Lesegeschwindigkeit und lautlos, während Bühnenauffüh- rungen kollektiv rezipiertwerden. Erweiternund fundieren lässt sich der (un- terschiedliche) Charakter der Rezeption, wenn manpsychologische Aspekte bedenkt, im Theater etwa soziale Kontrolle und Gruppendynamik.42 Kommunikation: Sowohl die Bühne als auch Editionen kommunizieren Werke. Wenn man einen literarischen Text liest, so ist der Prozess der ›Ver- körperung‹ qua Edition bereits abgeschlossen:Produktionund Rezeption er- folgen zeitversetzt. Im Gegensatz zu dieser Sukzessivitätstehen die simultan stattfindenden Vorgänge vonProduktionund Rezeption aufder Bühne, bei denen die Zuschauer eine ›Verkörperung‹ in actu erleben. Zusammenschauend kann –imVergleich zur verlegerischen Herausgabe–ein abweichender Kom- munikationscharakter konstatiertwerden:ein dynamischer.Als Unterschei- dungsmerkmallässt sich auch festhalten, dass der schauspielerische Ausdruck situativ Variationen unterworfen ist und in verschiedenenAufführungen –an- ders als im Druck (etwa beim Reprint) –nichtidentisch reproduziertwerden kann. Modus: FürLeser kann die Lektüre eines Textes intermittierend stattfinden. Es ist möglich, dass sie unterbrochen und zu einem anderen Zeitpunkt wieder aufgenommen wird. Bühnenaufführungen sind hingegen –abgesehenvon be- stimmten Formen des Performance-Theaters –aneinen durch die Inszenierung im Großen und Ganzen festgelegten Ablauf gebunden, welcher in der Regel mit der kollektiven Rezeption einhergeht. Demgegenüberkonvergieren beider Edition Nachzeitigkeit und Unterbrechung,d.h.nur infolge der Tatsache, dass kein dynamischer,zur Produktionsimultan ablaufender performativer Prozess stattfindet, ist auch eine zeitversetzte Wahrnehmung der emittierten Zeichen möglich. Eine Konsequenz daraus ist auch die räumlicheFlexibilitätbei der Rezeption, wiesie fürdas Lesen vonTexten charakteristisch ist:zuhause, in der Universitätsbibliothek oder U-Bahn, im Kaffeehaus oder unter einem Baum. Alle Orte können, zumindest potenziell, Leseorte sein, annähernd zu jeder Zeit.

41 Rüdiger Nutt-Kofoth, Text lesen –Text sehen. Edition und Typographie, in:Deutsche VierteljahrsschriftfürLiteraturwissenschaft und Geistesgeschichte 78 (2004), S. 3–19, hier S. 3. 42 In Unterrichtssituationen kommen mitunter ähnlichePhänomene zum Tragen, die sich in bestimmten, vonLehrerinnen und Lehrern häufig gesteuerten (und kontrollierten) Inter- pretationsritualenzeigen. 236 Florian Radvan

4. Schlussfolgerung und Resümee

Wielässt sich dasZusammendenken vonEdition und Bühne, dasauf die Wahrnehmung vonGemeinsamkeiten und Differenzen beiInszenierungsstra- tegien abzielt, sinnvoll einsetzen, um –imRahmen des Deutschunterrichtes – das Herausgeben vonTexten zu beleuchten?Die Analogiebildung zu einer In- stitution, in der sich Inszenierung aufeine viel offensichtlichere und sinnfälli- gere Weise vollzieht, kann dazu dienen, der naiven Vorstellung entgegenzu- wirken, es gäbe einen Text jenseits von›Verkörperung‹. Auch beiEditionen handelt es sich um die Präsentation eines Textes aus zeitlich gebundener Per- spektive–etwa gesetztinmoderner Type sowieforschungsgeschichtlich kon- textualisiertund perspektiviert. Siehtman Editionen als ›Verkörperungen‹, so resultiert dies auch in der Problematisierung eines schulisch gemeinhin als unproblematisch wahrgenommenen Sachverhaltes:Texteditionen werden selten unter text- und editionsphilologischen Kriterien reflektiert. Ob und warum eine bestimmte Ausgabegenutzt wird,richtet sich in erster Linie nach Praktikabilität (Bestellmodalitäten, bereits existierende Unterrichtsvorbereitung,vorhandene Bestände) und anderen textexternen Faktoren, etwa dem Preis.43 Wie ändertsich der Wahrnehmungsraum, wenn ältere Texte moderninsze- niertsind?Oder konkreter,mit Bezug aufeinen unterrichtlich häufig einge- setzten Text gefragt:Wasbleibt vonBüchners Autographen zu Woyzeck ausden 1830er-Jahren (nur fragmentarisch überlieferte Textzeugen) übrig,wenn sie 2015 unter digitalen Typographie- und Druckbedingungen als transkribierter, aber auch normierter und standardisierter Text herausgegeben werden –zu lesen nichtauf dem Trägermaterial Papier,das auch Büchner verwendete,son- dernfürSchülerinnen und Schüler aufeinem E-Book-Reader?Welche Rolle spielt es, dass dabei Schrift- und Auszeichnungsarten verwendet werden, die zur Zeit der Textproduktion noch nichtexistierten?Resultiertdies in einem Wahrnehmungsunterschied, der bereits im Bereich der Materialitätund des Vermittlungsmediums angelegtist?Mindestens ebenso berechtigt scheintal- lerdings die Frage, ob die darin implizierte Vorstellung eines kulturellen Sub- stanzverlustes (»Was bleibt übrig?«) im Kontext vonTextedition (und allgemein dem Lesenals einer Kulturtechnik) überhaupt statthaftist –zumindest solange er sich maßgeblich aufdie Parameter der physischen ›Verkörperung‹ beiEdi- tionen bezieht. Bücher als Medien können so verstärkt in den Kontext me- dienästhetischer Debatten gerückt werden, indem etwa die historische Varia- bilitätvon Zeichen- alias Gestaltungskonventionen verdeutlichtwird. Denn: Dass Schriftträger »materielle Objekte sind, wird zwar nichtvergessen, bleibt

43 Vgl. ReinhardWilczek, Klassiker-Lektüre, in:Deutschunterricht 2(2009), S. 46–47, hier S. 46f. Literarische Edition und Bühne im Deutschunterricht 237 aber irrelevant, solange nur die Signifikate abrufbarsind. Auch ein Einfluss des Materialsauf den metaphysisch konzeptualisierten Sinn wird negiert.«44 Das Alltägliche und damit fürdie Schülerinnen und Schüler auch Selbstverständliche der Schriftgestaltung als ein (neues)Objekt der Erkenntnis zu etablieren, darin bestehtdas Ziel einer möglichen unterrichtlichen Auseinandersetzung mit den Texttheatern –oder kurz formuliert: »Statt des Hindurchschauens durch die Zeichen gehtesumein Schauen auf diese.«45 Waspassiertmit Texten aufeiner Bühne?Was passiertmit Texten in einer Edition?Gehtman diesen beiden Fragen im Deutschunterrichtnach, indem man sie nichtnur (gleichzeitig) stellt, sondern überdie Metapherder Inszenierung vernetzt und integriert, so lässt sich daraus auch methodischer Nutzen ziehen: Durch den Transfer,der eine Fähigkeit zur Abstraktion verlangt, werden die Schülerinnen und Schüler fürden Vergleich als kulturelle Praxis und als In- strumentder Erkenntnisgewinnung sensibilisiert.Schließlich ist es aufeiner operativen Ebene notwendig,Beobachtungs- und Beschreibungskategorien für die tertia zu entwickeln und diese sinnvoll einzusetzen. Dafürist, natürlich, auch eine Bereitschaftzur sprachlichen Reflexion (›Metaphernarbeit‹) unerlässlich. Freilich handelt es sich bei›Inszenierung‹ nichtumdie einzige Metapher,um den Prozess des Edierens in seiner typographischen wieperitextuellen Di- mension zu beschreiben. Hans Peter Willberg und Friedrich Forssman be- trachten die Gestaltung vonBüchern, in einer ähnlich gelagerten Bildlichkeit, als das (Er-)Bauen eines Hauses, das aufbestimmten konzeptionellen Vorstellungen basiere. Ein Typograph müsse wieein Architekt, also dreidimensional, denken: »Der Bauplan ist das eine, die Bewegung der Bewohner vonRaumzuRaumdas andere. […] Beim Umblätternentstehtnichtnur die Bewegung des Blattes, es vergehtauch Zeit;imLeser,der ja weiterlesen möchte, entstehteine Spannung, eine Erwartungshaltung«46.Indem er ebenfalls aufein Sprachbild und die darin implizierten Vergleichsebenen rekurriert, siehtHerbertKraftEditionen als Kristallisationsformen an, also als sich nachregelmäßigen Strukturmustern ausbildende Verhärtungen vonTexten, welche sich in ihrer Bedeutung verän- dern.47 Überdie Zeit wandeln sich diese Kristallstrukturen in ihrer Zusam- mensetzung,dasie aufvariierende Umgebungsmerkmale –beispielsweisedie sozio-kulturellen Bedingungen des Lesens –reagieren: Ändertsich dasVor-

44 Sebastian Böhmer,Was bedeutet die Materialitätder Literatur fürdie Literatur(-ausstel- lung)?, in:Britta Hochkirchen /ElkeKollar (Hg.), Zwischen Materialitätund Ereignis, Bielefeld 2015, S. 87–102, hier S. 87. 45 Christian Kiening,Die erhabene Schrift, in:Ders. /Martina Stercken(Hg.), SchriftRäume. Dimensionen vonSchrift zwischen Mittelalter und Moderne, Zürich 2008, S. 9–126, hier S. 16. 46 Willberg /Forssman, Lesetypographie, S. 69. 47 Vgl. HerbertKraft, Editionsphilologie,Darmstadt 1990, S. 9. 238 Florian Radvan wissen der Rezipienten zu den Themendes Textes oder haben sie kein Wissen zu spezifischen Textmerkmalen, so können sich in Editionen Formen der erklä- renden Kommentierung finden –metaphorisch gesprochen:die Ausgabe er- scheintineiner anderen Kristallisationsform. In vielen Fällen sind Metaphorisierungen zum Edieren dadurch gekenn- zeichnet,dasssie die Typographie und die fürsie charakteristische Zweidi- mensionalitätineinem dreidimensionalen Vergleichsraum (Kristall, Haus, Körper) aufspannen. Sie fügen eine weitere Dimension hinzu und greifen dabei sowohl in der Naturablaufende als auch gesellschaftlich-kulturell geprägte Vorgänge auf. Nichtzuletzt verweisen sie damit aufdie Handhabung des ja ebenfalls dreidimensionalen Gegenstandes Buch –also aufdas Aufschlagen und Auf-den-Tisch-Legen, das Umblätternder Seiten, das Bekritzeln oder Anstrei- chen einzelner Stellen, das immer im Raum stattfindet. Beiden Metaphorisie- rungen gehtesso–allgemeingesprochen –nichtlediglich darum, Prozesse anhand eines anderen Paradigmas zu differenzieren, sondernden Blick aufdiese Prozesse auch zu lenken, sie adressatengerechtzuvermitteln und zu proble- matisieren, neue Räume der Wahrnehmung zu schaffen. Der Vergleich von Bühne und Edition ist –vermittelt überdie Inszenierungs-Metapher –soziel- führend, wenn man einen veränderten Blick aufeinen altbekannten Gegenstand werfen möchte:die literarische Textausgabe.

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Annette Scheersoi

Lebewesen erforschen–biologiedidaktische Ansätze in der Lehrerbildung

1. Wissenschaft vom Leben

Die Biologie ist die Wissenschaftvom Leben(gr. b_or/bíos ›Leben‹). Aufallen Ebenen –von der Untersuchung kleinster Zellstrukturen bis hin zur verglei- chenden Betrachtung von Ökosystemen weltweit–beschäftigen sich Biologen mit dem Lebenund seinen vielfältigen Formen. Sie versuchen,Muster zu er- kennen und Zusammenhänge aufzudecken, um Aussagen überBedingungen des Lebens treffen zu können. Je nach Ausrichtung und Fragestellung findet die Forschung im Laboroder im Freiland statt. Eine zentrale Arbeitsweise aller Biologen ist dasgenaue Betrachten und Beobachten. Nebender optischen Wahrnehmung werden dabei auch andereSinne genutzt, beispielsweiseder Hörsinnbeim Erfassen vonTierlauten. Das Beobachtungsergebnis kann durch die Nutzung vonHilfsmitteln optimiertwerden (z.B. die Vergrößerung von kleinen Objekten mit Hilfe vonLupen oder Mikroskopen oder das Hörbarma- chen vonUltraschalllauten mit Schalldetektoren). Die durch die Beobachtung erfassten Daten werden anschließend verarbeitet, indem sie dokumentiert, miteinander verglichen, klassifiziertoder mit Hilfevon Modellen dargestellt werden, um schließlich die ursprüngliche Fragestellung beantworten und Er- kenntnisse ableiten zu können. Diese werden aufFachtagungen präsentiertund mit den Kollegen diskutiert. Am Ende erfolgtdie Veröffentlichung der For- schungsergebnisse in Fachjournalen, populärwissenschaftlichen Zeitschriften oder Büchern. Durch die Arbeit mit lebenden Systemen unterscheidet sich die Biologie trotz vieler Gemeinsamkeiten deutlich vonden anderen Naturwissen- schaften. Dies betrifftAspekte wiedie Versuchsethik, die Komplexitätbiologi- scher Systeme(z.B. in der Ökologie), die eingeschränkte Generalisierbarkeit (Unterschiedezwischen Tieren, Pflanzen und Bakterien) sowiedie Zeitbindung biologischer Phänomene (z.B. Jahreszeiten). 242 Annette Scheersoi

2. »Forschendes Lernen« im Biologieunterricht

Um aufdie Besonderheiten des Faches eingehen zu können, wird fürden schulischen Biologieunterrichtneben deduktiven Konzepten auch ein indukti- ves Vorgehen empfohlen, welches den oben beschriebenen Wegder biologi- schen Erkenntnisgewinnung nachvollzieht.1 International wird füreinen sol- chen Ansatz der Begriff Scientific Inquiry genutzt, im deutschen Kontext wird er als »Forschendes Lernen« bezeichnet. Der Problemlöseprozess wird beidiesem Vorgehen bewusst in den Vordergrund gerückt. Das prozessbezogene Lernen im Biologieunterrichtdientjedoch nichteinem Selbstzweck, sondernsoll beiden Lernenden die aktiveund eigenständige Erarbeitung des biologischen Fach- wissens fördern, damit sie darauf basierend adäquate Entscheidungen treffen und wissenschaftliche Aussagen bewerten können. Dies entsprichtauch der Forderung nach einer naturwissenschaftlichen Grundbildung (Scientific Lite- racy), welche vonder OECDfolgendermaßen definiertwird: –»Das naturwissenschaftliche Wissen einer Person und deren Fähigkeit, dieses Wissen anzuwenden, um Fragestellungen zu identifizieren, neue Erkennt- nisse zu erwerben, naturwissenschaftlichePhänomene zu erklären und auf Beweisen basierende Schlu¨sse u¨bernaturwissenschaftliche Sachverhalte zu ziehen. […] –Das Verständnis der charakteristischen Eigenschaften der Naturwissen- schaften als eine Form menschlichen Wissens und Forschens. […] –Die Fähigkeit zu erkennen, wieNaturwissenschaften und Technologieunsere materielle,intellektuelle und kulturelle Umgebung prägen. […] –Die Bereitschaft, sich mit naturwissenschaftlichen Themenund Ideen als reflektierender Bu¨rger auseinanderzusetzen. […]«2

Beim Forschenden Lernen eignen sich die SchülerInnen sowohl Inhalte als auch Methoden (deklaratives und prozedurales Wissen) an. Als Elemente dieses Unterrichtsansatzes werden vonMayer und Ziemek genannt: Problemorien- tiertes Lernen, Lernen in Kontexten, kooperativesLernen und eigenständiges, offenesLernen.3 Die Probleme oder Fragestellungen, die als Ausgangspunkte für

1Vgl.z.B.Europäische Gemeinschaften (Hg.), Naturwissenschaftliche Erziehung jetzt:Eine erneuerte Pädagogik fürdie Zukunft Europas (»Rocard-Report«), 2007, S. 17, URL:http://ec. europa.eu/research/science-society/document_library/pdf_06/report-rocard-on-science- education_de.pdf [26.02.2015]. 2Zit. nach OECD (Hg.), PISA 2006:Naturwissenschaftliche Kompetenzen fürdie Welt von morgen, PISA, OECD Publishing, Paris/Bielefeld 2008, S. 41f.,online zit. nach DOI: http:// dx.doi.org/10.1787/9789264041257-de [26.02.2015]. 3Vgl.Jürgen Mayer /Hans-Peter Ziemek, OffenesExperimentieren.Forschendes Lernen im Biologieunterricht,in: UnterrichtBiologie 317 (2006), S. 4–12, hier S. 7–9. Lebewesen erforschen –biologiedidaktische Ansätze in der Lehrerbildung 243

Lernprozesse dienen, sollen in authentische und anwendungsbezogene All- tagskontexte eingebunden sein, die fürdie Lerner Relevanz besitzen, um ihr Interesse und ihre Motivation zu fördern. Das soziale Lernen soll durch Aus- tausch, Diskussion und Reflexion der Arbeitsergebnisse in Partner-oder Gruppenarbeit gefördertwerden. Die Aufgabeder Lehrperson verschiebtsich beim Ansatz des Forschenden Lernens zunehmend weg vonder traditionellen Instruktionsrolle des Lehrers hin zu einem Lernbegleiter,der daseigenständige Lernen der SchülerInnen unterstützt und vondem Offenheit fürunterschiedli- che Vorgehensweisen und Ergebnisse erwartet wird. Im Unterrichtkann die Unterstützung durch die LehrkraftzuBeginn, in den unteren Jahrgangsstufen oder beischwächeren SchülerInnen, noch sehr starkausgeprägt sein –bei- spielsweisegibt die Lehrperson Fragestellung,Materialien und Methoden vor; die SchülerInnen führen die Untersuchungen nach Anleitung durch und dis- kutieren anschließend gemeinsam die Ergebnisse. Aufdiese Weise lernen sie zentrale Vorgehensweisen und Methoden kennen und anzuwenden. Mit zu- nehmender Selbständigkeit der Lerngruppe kann sich die Lehrkraftimmer mehr zurückziehen oder im Idealfall sogar Teil dieser Gruppe werden, wenndie SchülerInnen in der Lage sind, eigene Fragestellungen zu formulieren, Unter- suchungen selbst zu planen und eigenständig durchzuführen und auch die Er- gebnisse selbständig auswerten und interpretieren können. In die Schulpraxis hat der Ansatz des Forschenden Lernens bisher nurbe- dingtEintritt gefunden. Harlen warnt in diesem Zusammenhang sogar vor einer »Pseudo-Forschung« (Pseudo-Inquiry),4 beider die SchülerInnen zwar in das praktische Experimentieren und Untersuchen involviertwerden, beider jedoch die Gefahr besteht, dass sie zu stark schematisiertvorgehtund das aktive Denken der SchülerInnen sowiedas Interpretieren und Schlussfolgernaus den gewonnenen Daten zu wenig berücksichtigt.Esreiche nichtaus, die fachspezi- fischen Arbeitstechniken (hier z.B. Experimentieren, Beobachten, Klassifizie- ren) nur als Fertigkeiten einzuüben. Das reine Sammeln vonDaten oder Erzielen vonEffekten ohneden Bezug zu Theorien und Fragestellungen führe zu einem verzerrten Bild überden Prozess der naturwissenschaftlichen Erkenntnisge- winnung und zu mangelndem Verständnis der Fachinhalte. Harlen formuliert eine Reihe vonTipps und Anregungen,wie das Forschende Lernen in der Schulpraxis bereits mit der Primarstufebeginnend gefördertwerden kann.5 Sie weist aber gleichzeitig darauf hin, dass LehrerInnen diesen Ansatz mit größerer Wahrscheinlichkeit fördernwerden, wenn sie selbst vonseinem Nutzen über- zeugtsind. Es sollte daher als wichtige Aufgabeder Lehrerbildung gesehen

4Vgl.Wynne Harlen,Helpingchildren’s developmentofinquiryskills, in:InquiryinPrimary Science Education (IPSE) 1(2014), S. 5–19, hier S. 12. 5Vgl.edb., S. 13f. 244 Annette Scheersoi werden, Erfahrungen mit dem Ansatz des Forschenden Lernens zu ermöglichen. Lehramtsstudierende sollen demnach die Gelegenheit erhalten, den Wert von gezielten Fragestellungenzuerkennen, Problemlöseprozesse selbst zu durch- laufen und überdiese Artdes Lernens zu reflektieren, um den Ansatz des For- schenden Lernens als einen unter mehreren sinnvollen zu erleben. Beispielhaft wird dieses hier mit den biologischen Arbeitsweisen »Vergleichen«und »Ord- nen« aufgezeigt(siehe Box).

Vergleichen und Ordnen – Überlegungen zur Vermittlung zweier fachspe- zifischer Arbeitsweisen Den biologischen Arbeitsweisen Vergleichen und Ordnen gehtdie Be- trachtung vonLebewesenvoraus. Dieses »genaue Hinsehen«ist nicht willkürlich, sondern durch Hypothesen und Theorien geleitet (wenn diese auch nichtimmer explizit formuliertwerden). Der Wahrnehmung liegen Kriterien zugrunde, die festlegen was betrachtet werden soll und was nicht. Beim Vergleichen werden Beziehungenzwischen Objekten oder Erschei- nungen hergestellt,wobei Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten festge- stellt werden. Darauf basierend können durch die Arbeitsweise des Ord- nens Gruppen mit gemeinsamen Merkmalen gebildet werden. Diese Tätigkeit ist uns auch ausdem Alltag bekannt. Um daran anzuknüpfen, sollten Lernende die Gelegenheit erhalten, persönliche Ordnungssysteme aufzustellen und zu reflektieren (z.B. Ordnung im Kleiderschrank oder in der Besteckschublade). Ziel ist es, ihnen die jeweils genutzten Ordnungs- kriterien bewusst zu machen (z.B. Ordnen nach Farbe,Material,Funktion oder Form). Um anschließend den Unterschiedzum wissenschaftlichen biologischen Vergleichen und Ordnen differenziertaufzeigen zu können, sollte außerdem zwischen Kriterien (z.B. Farbe) und ihren Ausprägungen (z.B. rot, gelb,grün) unterschieden werden. Anders als beim Ordnen im Alltag spielt beim biologischen Ordnen die Objektivitäteine zentrale Rolle: während beim Ordnen im Alltag häufig subjektiveKriterien (wie z.B. Gefallen/Nicht-Gefallen) genutzt werden, ist in der wissenschaftlichen Biologie die personen- und meinungsunabhängige Gruppenbildung wichtig. Die Ausprägungen müssen so gewählt werden, dass sie klar de- finiertund nichtinterpretierbar sind, so dass eindeutige Gruppengrenzen gebildet werden, die unabhängig vonder ordnenden Person bestehen. Um Überschneidungen oder unklareGrenzen zu vermeiden, beruhen wis- senschaftliche Ordnungssysteme außerdem immer aufkriterienstetem Vergleichen –der Gruppenbildung liegtalso immer nur ein Kriterium zugrunde (z.B. die Anzahl der Beinpaarebeim Ordnen vonwirbellosen Tieren nach Verwandtschaftsgruppen). Um diese fachspezifischen Ar- beitsweisen zu üben, werden sowohl interessante Untersuchungsobjekte Lebewesen erforschen –biologiedidaktische Ansätze in der Lehrerbildung 245

als auch geeignete Fragestellungen ausgewählt, die bestenfalls Alltagsre- levanz besitzen, um die Lernenden zu motivieren, sich intensiv mit dem Untersuchungsprozess auseinanderzusetzen. Unterschiede und Gemein- samkeiten mit dem Ordnen im Alltag werden bewusst gemacht, um gezielt daran anzuknüpfenund Missverständnissen vorbeugen zu können. Je nach gewählten Objekten kann die Betrachtung durch das Hinzuziehen vonHilfsmitteln (z.B. Lupe, Mikroskop oder Strukturmodell) vertieft werden. Auch hier gilt es, geeignete Geräte auszuwählen und ihreNutzung gezielt und in sinnvollen Schritten zu übensowie im Hinblick aufschuli- sche Rahmenbedingungen (z.B. Verfügbarkeit vonObjekten/Geräten, Si- cherheitsbestimmungen, Räumlichkeiten, Zeitfaktor etc.) zu reflektieren.

Abb. 1: Übung zum Ordnen im Alltag mit Abb. 2: Wissenschaftliches Ordnen von Hilfe vonSüßigkeiten Lebewesen anhand ihrer Beinzahl

3. Bereichsspezifisches Lehren und Lernen an der Universität

Nebender fundierten fachlichen Ausbildung der Lehramtsstudierendenander UniversitätBonn wird in den biologiedidaktischen Veranstaltungen aufPra- xisnähe und die Nutzung fachspezifischerbiologischer Arbeitsweisen in sinn- vollen Kontexten großer Wert gelegt. Die Biologiedidaktik verstehtsich dabei als Metadisziplin, die die gesamte Biologie in Vermittlungsabsichtsiehtund sich auch mit ihrer Bildungsaufgabe beschäftigt.6 Mit ›Vermittlung‹ ist hier sowohl das ›Nahebringen‹ der Wissenschaftgemeintals auch das ›In-Beziehung-Setzen‹ der Wissenschaftzur Lebenswirklichkeit der Lernenden. Letzteres ist vonzen- traler Bedeutung,daselbst beieinem wissenschaftsorientierten Biologieunter-

6Vgl.Harald Gropengießer /Ulrich Kattmann, BerufswissenschaftDidaktik der Biologie, in: Dies. /Ute Harms(Hg.), Fachdidaktik Biologie, 9. Aufl.,Hallbergmoos 2013, S. 39–45, hier S. 41. 246 Annette Scheersoi richtdie Inhalte, Probleme und Methoden nichteinfach ausdem Wissen- schaftsbereich übernommen werden können. Um das fachliche Lernen zu för- dernund Lernschwierigkeiten zu reduzieren, müssen sie stattdessen in päd- agogischer Zielsetzung »rekonstruiert« werden, indem man sie zu den Lernvoraussetzungen der SchülerInnen in Beziehung setzt (Modell der Didak- tischen Rekonstruktion,7 vgl. Abbildung 3).

Abb. 3: Beziehungsgefüge der TeilaufgabenimModell der Didaktischen Rekonstruktion8

Dem Modell zufolge gilt es beider Planung vonBiologieunterrichtzunächst, zwei Bereiche zu berücksichtigen:Ineinem ersten Schritt werden die biologi- schen Fachinhalte (wissenschaftliche Erkenntnisse, Methoden, Theorien und Termini) im Rahmender »Fachlichen Klärung« in fachdidaktischer Perspektive aufgearbeitet. Hierbeigehtesvor allem um Fragen der Genese vonwissen- schaftlichen Aussagen (»Wie wurden die Ergebnisse gewonnen?«) sowieihrer Anwendungsbereiche, Bedeutung und Grenzen und ihrer ethischenund ge- sellschaftlichen Implikationen (»Wie werden die Ergebnisse verwendet?Gibt es kontroverse Auffassungen?Welche Bedeutung haben die Ergebnisse fürden Einzelnen in der Gesellschaftund die gesamte Biosphäre?«). Außerdem ist zu klären, welche Vorstellungen die wissenschaftlichen Aussagen vermitteln und ob diese fürdas fachliche Lernen förderlich oder hinderlich sind (z.B. hinderliche Fachtermini wie»venöses/arterielles Blut«, da »venösesBlut« auch in Arterien fließen kann und umgekehrt, oder Darwins Ausdruck »Survival of the fittest«, der oft fälschlicherweise mit »Überleben des Stärkeren« stattmit »Überleben des am besten Angepassten« übersetzt wird).

7Vgl.Ulrich Kattmann /ReindersDuit /Harald Gropengießer /Michael Komorek,Das Modell der Didaktischen Rekonstruktion,in: Zeitschrift fürDidaktik der Naturwissenschaften (ZfDN) 3, 3(1997), S. 3–18. 8Nach Harald Großengießer /Ulrich Kattmann /Dirk Krüger,Biologiedidaktik in Übersichten, Hallbergmoos 2010,S.13. Lebewesen erforschen –biologiedidaktische Ansätze in der Lehrerbildung 247

Der zweite Bereich, den es beider Unterrichtsplanung zu berücksichtigen gilt, ist die »Erfassung der Lernerperspektiven«. Diese beziehtkognitive, affektive und psychomotorische Komponenten ein und stellt persönliche Konstrukte (Schülervorstellungen) in den Mittelpunkt, da diese sowohl als Lernvorausset- zung als auch als Lernmittel verstanden werden (»Welche Vorstellungen ver- binden Lernende mit dem Thema?Welche Einstellungen bringen sie mit? Welche Vorstellung habendie Lernenden vonWissenschaft?«etc.). Auf Grundlage der Ergebnisse der fachlichen Klärung sowieder Erfassung der Lernerperspektiven findet anschließend die »Didaktische Strukturierung«, also die eigentliche Planung vonLernangeboten bzw.die Gestaltung vonLernum- gebungen statt. Dabei werden Bezüge zwischen fachlichem Wissen und der Lebenswelt der Lernenden hergestellt, und das Vorverständnis, die Anschau- ungen und die Werthaltungender Lernenden werden als entscheidende Lern- voraussetzungen berücksichtigt (»Welche Lernwege sind erfolgversprechend, um im Kontext des Faches und der Lebenswirklichkeit die Bildung angemes- sener fachlicher Vorstellungen zu fördernbzw.unangemessenen zu begegnen? Welche Schülervorstellungen korrespondieren mit wissenschaftlichen Konzep- ten, wo gibt es Diskrepanzen?Welche Kontexte oder unmittelbar erfahrbare Phänomeneeignen sich, um wissenschaftliche Aussagen zu erschließen?«9 etc.).

4. Praxisbetonte Lehrveranstaltungen

Ziel der biologiedidaktischen Veranstaltungen ist es, das Interesse der Studie- renden am Fach und die Faszination fürbiologische Phänomene aufrechtzuer- halten und zu vertiefen und ihnen motivierende und zielführende Wege fürdie schulische und außerschulische Biologievermittlung aufzuzeigen. Schwerpunkt des praxisbetonten Methodenspektrums ist der gezielteEinsatz der typisch biologischen Arbeitsweisen und der Umgang mit dem Original –von Pflan- zenteilen wieBlüten oder Blättern überTierpräparatebis hin zu lebenden Or- ganismen. Ausgehend vonder Betrachtung biologischer Phänomene (z. B. der Vielfalt vonInsekten, die sich sowohl in ihrem Aussehen und Körperbauals auch in ihren Verhaltensweisen und ihren Lautäußerungen unterscheiden), werden Fragestellungen und Hypothesen formuliert, die vonden Studierenden mit Hilfe der fachspezifischen Techniken und Methoden untersuchtwerden. Zur Daten- aufnahmeund -analyse werden unterschiedliche Hilfsmittel gezielt hinzugezo- gen (z.B. Präparierbesteck, Kameras mit Zeitlupen- oder Zeitrafferfunktion,

9Zudiesen Fragen: Harald Gropengießer /Ulrich Kattmann, Didaktische Rekonstruktion,in: Dies. /Ute Harms(Hg.), Fachdidaktik Biologie, 9. Aufl.,Hallbergmoos 2013, S. 16–24, hier S. 20. 248 Annette Scheersoi

Materialien zum Modellbauoder Laborgeräte fürExperimente). Der Problem- löseprozess und der Einsatz der Arbeitsweisen und -techniken werden jeweils vor dem Hintergrund der Schulrealitätund des Bildungsauftrags reflektiert. Dabei stehen Fragen zur Binnendifferenzierung,zur Progression, zur Unter- stützung des Lernprozesses (Scaffolding)sowie zur Einbettung in geeignete Kontexte, die das Interesse der SchülerInnen wecken und zum Forschenden Lernen anregen, im Mittelpunkt. In diesem Zusammenhang spielen auch die außerschulischen Lernorte eine besondereRolle. Im Rahmenvon Exkursionen besuchen die Studierenden unterschiedliche Lernorte. Diese können bereits didaktisch gestaltet sein –also fürdas Lehren und Lernen vorstrukturiert–wie der Kölner Zoo, das Museum Koenig,das Neanderthalmuseum oder die Bota- nischen Gärten Bonn. Es kann sich aber auch um Lebensräume im Freiland handeln (z. B. Wald, Park, Bach) oder um Beispiele angewandter Biologiewie Imkereien oder Entsorgungsbetriebe. Die ExkursionsteilnehmerInnen lernen diese Orte als sinnvolle Ergänzung zu schulischen Lernumgebungen kennen, da zentrale Kompetenzbereiche hier besonders gut gefördertund grundsätzliche didaktische Forderungen (z.B. Orientierung am Lernenden und seiner Le- benswelt,Lernen in Situationen und Handlungsorientierung) leichter realisiert werden können als in formalen Bildungseinrichtungen. Die spezifischen As- pekte des Lernens außerhalb des Klassenraums betreffen neben wichtigen mo- tivationalen Komponenten wieder originalen Begegnung und der Primärer- fahrung vor allem die Alltags- und Lebensweltbezüge und das ganzheitliche und mehrperspektivische Lernen. Charakteristisch ist, dass die fachlichen Inhalte und Methoden in authentischen Kontexten erschlossen werden, und in diesem Zusammenhang spielt auch die Kommunikation mit Experten vor Ort(Imker, Tierpfleger,Gärtner usw.) eine wichtige Rolle. Im Kontext der Umwelterziehung dienen Exkursionen zusätzlich zur Untersuchung menschlicher Einflüsse aufdie Umweltund zur Sensibilisierung fürProbleme des Landschaft- und Natur- schutzes. Die Fachdidaktik Bonn kooperiertindiesem Zusammenhang bei- spielsweiseauch mit der NABU-Naturschule (Kreisgruppe Bonn). Die Studie- renden lernen die unterschiedlichen außerschulischen Lernorte mit ihren jeweiligen Charakteristika und spezifischen Möglichkeiten kennen. Aufdiese Weise können sie anschließend Folgerungen fürdie sinnvolle Vermittlung spezieller biologischer Themenbereiche am jeweiligen Lernortableiten (z. B. geeignete Fragestellungenund Methoden füreine Verhaltensbeobachtung im Zoooder im Freiland oder fürden Vergleich anatomischer Strukturen im Mu- seum). Lebewesen erforschen –biologiedidaktische Ansätze in der Lehrerbildung 249

Abb. 4: Verhaltensbeobach- Abb. 5: Untersuchung des Abb. 6: Lebensweltbezüge in tungen an lebenden Tieren »Lotus-Effekts« in den Botani- der Lehr-und Versuchsimkerei im Kölner Zoo schen Gärten Bonn der UniBonn

Die Biologie als Wissenschaftvom Lebenwird im Rahmen der fachdidaktischen Lehrveranstaltungen alsobewusst in den Fokus gerückt, um die Auseinander- setzung der Studierenden mit dieser Wissenschaftund mit ihren Besonderhei- ten zu fördern. Die gezielte Nutzungder typisch biologischen Arbeitsweisen zur Untersuchung biologischer Phänomene bietet dabei die Möglichkeit, vielfältige praktische Erfahrungen zu sammeln und sichsowohl Fach- als auch Metho- denkenntnisse zu erarbeiten. Gleichzeitig wird der Wegder biologischen Er- kenntnisgewinnung nachvollzogen. Um die angehendenLehrkräfteangemessen aufihre Rolle als Experte und Multiplikator der Biologie vorzubereiten, werden stets Bezüge zwischen Wissenschaftund Schulpraxis hergestellt. DenErfor- dernissen eines bildenden Biologieunterrichts entsprechend, stehen dabei die Auseinandersetzung mit den Fachinhalten, die Vermittlung eines reflektierten Wissenschaftsverständnisses sowiedie Bedeutung der Biologiefürdie Gesell- schaftund jeden Einzelnen im Mittelpunkt.

Literaturverzeichnis

Europäische Gemeinschaften (Hg.), NaturwissenschaftlicheErziehung jetzt: Eine erneu- erte Pädagogikfürdie ZukunftEuropas (»Rocard-Report«), 2007, zit. nach URL:http:// ec.europa.eu/research/science-society/document_library/pdf_06/report-rocard- on-science-education_de.pdf. [26.02.2015]. Gropengießer,Harald/Kattmann, Ulrich /Krüger,Dirk, Biologiedidaktik in Übersichten, Hallbergmoos 2010. Gropengießer,Harald/Kattmann, Ulrich, Berufswissenschaft Didaktik der Biologie, in: Dies. /Ute Harms (Hg.), Fachdidaktik Biologie, 9. Aufl.,Hallbergmoos 2013, S. 39–45. Gropengießer,Harald /Kattmann, Ulrich, DidaktischeRekonstruktion, in:Dies. /Ute Harms (Hg.), Fachdidaktik Biologie, 9. Aufl.,Hallbergmoos 2013, S. 16–24. Harlen, Wynne, Helping children’s developmentofinquiryskills, in:InquiryinPrimary Science Education (IPSE) 1(2014), S. 5–19. Kattmann, Ulrich /Duit, Reinders /Gropengießer,Harald /Komorek, Michael, Das Modell der Didaktischen Rekonstruktion, in:ZeitschriftfürDidaktik der Naturwissenschaften (ZfDN) 3, 3(1997), S. 3–18. 250 Annette Scheersoi

Mayer,Jürgen /Ziemek, Hans-Peter,Offenes Experimentieren. Forschendes Lernen im Biologieunterricht, in:UnterrichtBiologie 317 (2006), S. 4–12. OECD (Hg.), PISA 2006:Naturwissenschaftliche Kompetenzenfürdie Welt vonmorgen, PISA, OECD Publishing,Paris /Bielefeld 2008, S. 41f.,online zit. nach DOI: http://dx. doi.org/10.1787/9789264041257-de [26.02.2015]. Werner Schumann

Raumkonzepte als Leitlinien fachdidaktischer Ansätze

Die grundlegendenfachdidaktischen Fragestellungen des Faches Erdkunde leiten sich ausden beiden Säulen Physische Geographie und Anthropogeogra- phie/Humangeographie ab und sind bisher in der wissenschaftlichen Forschung in der Regel deutlich getrennt. Die Spezialisierungen finden sich in den Teil- disziplinen des Faches, z.B. der Klimatologie oder auch der Siedlungsgeogra- phie, und habendazu geführt, dass Außenstehende die Teildisziplinen häufig nichtmehr als integralen Bestandteil des Faches Geographie wahrnehmen. Die neuere geographische fachdidaktische Forschung setzt einen deutlichen Schwerpunkt aufhumangeographische Fragestellungen.1 Ein Bindeglied zwischen den beiden Säulen stellt seit den Anfängen der Geographie der Raum als Bezugsgrößedar,zunächst in einem stärker de- skriptiven länderkundlichen Ansatz mit zum Teil geodeterministischen Zu- gängen, später in zunehmend synoptischen Raumanalysen, die in der Schul- geographie didaktisch reduziertals fragengeleitete Raumanalysen curricular z.B. in der Sekundarstufe IinNordrhein-Westfalen implementiertsind.2 Die Raumanalysen dokumentieren die Besonderheit des Faches, indem auf verschiedenen Maßstabsebenen physisch-geographische Systeme mit human- geographischen Systemen zum System ›Mensch –Umwelt‹ verknüpftwerden, z.B. bezüglich der Bildung fürnachhaltigeEntwicklung,die sich in ihren Grundzügen aufden Brundtland-Berichtder World CommissiononEnviron- mentand Developmentaus dem Jahre 1987 bezieht.3 Zahlreiche auch curricular

1Vgl.dazu Hochschulverband fürGeographie und ihreDidaktik e.V.(Hg.), Geographiedi- daktische Forschungen, vgl. Themenschwerpunkte der Bände33–54, Weingarten seit dem Jahr 2000. 2Vgl.Ministerium fürSchule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan fürdas Gymnasium,Sekundarstufe I(G8), Erdkunde, Frechen 2007,S.15, 27, 31. 3Vgl.Deutsche Gesellschaft fürGeographie (Hg.), Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss, 6. Aufl.,Berlin 2010, S. 11, vgl. dazu ferner MatthiasBahr, Bildung fürnachhaltige Entwicklung–ein Handlungsfeld (auch) fürden Geographieunter- richt?!, in:Praxis Geographie 9(2007), S. 10–12. 252 Werner Schumann eingeforderte Themen- und Problemfelder können im System ›Mensch –Um- welt‹ verortet werden. Fürdie Schulgeographie in Nordrhein-Westfalen wird als zentrale Aufgabe des Erdkundeunterrichts in der Sekundarstufe Idie Vermittlung einer »raum- bezogenen Handlungskompetenz«4 ausgewiesen, die ebenfalls die beiden Säulen der physischen Geographie und der Anthropogeographie umfasst. Die raum- bezogene Handlungskompetenz resultiertaus den miteinander verflochtenen Teilkompetenzendes Faches. Da die Teilkompetenzen Sach-, Methoden-, Ur- teils- und Handlungskompetenz im engeren Sinne Gültigkeit füralle Fächer des Lernbereichs Gesellschaftslehre haben, werden sie im schulischen Bereich kri- tisch diskutiert. Im Kernlehrplan fürdie SekundarstufeIIwird bezüglich der Aufgaben und Ziele des Faches Geographie die »Festigung und Erweiterung der raumbezo- genen Handlungskompetenz«5 ebenfalls eingefordert. Der Raum wird »ver- standen als Lebensraum«6 und ist das »Ergebnis gesellschaftlichen und wirt- schaftlichen Handelns und naturräumlicher Prozesse.«7 Bezugsgrößeist ebenfalls dasSystem ›Mensch –Umwelt‹, beieiner Dominanz humangeogra- phischer Kompetenzerwartungen. Zielperspektive des Unterrichts ist ein »ganzheitliches und systemisches Verständnis«8 räumlicher Strukturen und Prozesse. Räume werden subjektiv wahrgenommen und bewertet sowieals ge- sellschaftlicheKonstrukte aufgefasst. Diese Aussagen des Kernlehrplans Geo- graphie fürdie Sekundarstufe II in NRWstehen damit komplementärzuden neueren wissenschaftlichen und fachdidaktischen Forschungen. Bundesweit wird die geographiedidaktische Forschung seit der ersten PISA- Studie im Jahre2000 u.a. vonder Deutschen GesellschaftfürGeographie (DGfG), unter besonderer Berücksichtigung der Schulgeographie, weiterent- wickelt. Seit 2006 existieren bundesweit Bildungsstandards im Fach Geographie fürden Mittleren Schulabschluss unter Zusammenarbeit vonFachwissen- schaftlern, Fachdidaktikernund Schulgeographen. In diesem Kontext wird die RäumlicheOrientierungskompetenz als ein gesonderter Kompetenzbereich ausgewiesen und als »ein Alleinstellungsmerkmal des Faches Geographie«9 ge- sehen. Damit wird die Anwendung unterschiedlicher Raumkonzepte, die gleich-

4Vgl.Ministerium fürSchule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan fürdas Gymnasium, Sekundarstufe I(G8), S. 15. 5Dass. (Hg.),Kernlehrplan fürdie Sekundarstufe II –Gymnasium/Gesamtschule, Düsseldorf 2013, S. 11. 6Ebd. 7Ebd.,S.11f. 8Ebd.,S.12. 9DeutscheGesellschaft fürGeographie (Hg.), BildungsstandardsimFach Geographie, S. 8. Praxisperspektiven:Geographie 253 zeitig die Entwicklung des Faches und die wissenschaftliche Diskussionwi- derspiegeln, bundesweit curricular eingefordert. Trotz diverser Unterschiede in den bildungspolitischen Ansätzen aufLänder-bzw.Bundesebene werden Raumkonzepte durchgehend als wissenschaftliche und fachdidaktische Leitlinie diskutiert. Im wissenschaftlichen Diskurs habensich vier Raumkonzepteetabliert, die mittlerweile auch fürdie Schulgeographie relevantsind und die verschiedene Epochen der geographischenWissenschaftwiderspiegeln.10

Raum im realistischen Sinne als Raum als System von CONTAINER –objektbezogen LAGEBEZIEHUNGEN –objektbezogen –seit dem 19. Jh. –seit den 1970er Jahren –Summe der Geofaktoren –Raumstrukturforschung,z.B. –weiterhin Gegenstand der Forschung Standorte, Lagebeziehungen Raum als Kategorie der Raum in der Perspektiveseiner sozialen, SINNESWAHRNEHMUNG – technischen und gesellschaftlichen subjektbezogen KONSTRUIERTHEIT –subjektbezogen –seit den 1970er Jahren konstruktivistische –seit den 1980er Jahren Entwicklung –geprägt durch menschliche Hand- –subjektivkonstruierte Räume lungen Tabelle 1: Raumkonzepte11

Der Containerraum ist dasErgebnis physisch-geographischerund humangeo- graphischer Faktoren und Prozesse. Physisch-geographische Faktoren wiez.B. Klima, Wasser,Boden, Vegetation und humangeographische Faktoren wiez.B. Siedlungen, Infrastruktureinrichtungen,Verkehrswesen, konstituieren den Raum und stehen in einem permanenten Wechselwirkungsgefüge. Der Con- tainerraum ist real und objektiv zu erfassen.12 Beizunehmender Mobilitätund internationaler Verflechtung rücken Lage- beziehungen, Distanzen und vorallem wirtschaftsräumliche Standorte in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen. Als System vonLagebeziehungen werden auch diese Räume als real und objektbezogen wahrgenommen. Beide objektbezogene Konzepte sind und waren Gegenstand bisheriger traditioneller Geographie.13 Seit den 1970er Jahren zeigtsichein deutlicher Entwicklungsbruch. Unter dem Einfluss sozialwissenschaftlicher und bildungswissenschaftlicher Theorien gewinnen konstruktivistische Ideen an Bedeutung,d.h.Individuen oder auch

10 Zum Folgenden: Vgl. UteWardenga, Alte und neue Raumkonzepte fürden Geographieun- terricht, in:geographie heute 200 (2002),S.8–11. 11 Tilmann Rhode-Jüchtern,Raumkonzepte im Geographieunterricht, Vortrag:Klett Sympo- sium –Geographie und Schule 3(2008), S. 1, zit. nach URL:http://www2.klett.de/sixcms/ media.php/229/raumkonzepte_rohde_juechtern.pdf [25.05.2015]. 12 Vgl. Wardenga, Alte und neue Raumkonzepte, S. 8–11. 13 Vgl. ebd. 254 Werner Schumann

Gruppen nehmen Räume subjektiv wahrund differenzieren dementsprechend räumlich. Der Raum als Kategorie der Sinneswahrnehmung wird zusätzlich subjektbezogen betrachtet.14 Ergänzt wird die subjektbezogene Raumwahrnehmung durch den Aspekt der sozialen, technischen und gesellschaftlichen Konstruiertheit, d.h. durch menschliche Handlungen bestimmter Interessensgruppen. Wirksame Macht- positionen spielen eine nichtzuunterschätzende Rolle beider Konstruktion dieser Räume.15 Ein Fallbeispiel wurde vonder JenaerGeographiedidaktik am Beispiel der ElbeflutinDresden 2002 entwickelt, mit entsprechenden Fragestellungen be- züglich der vier Raumkategorien. 1. »Wie wirken bestimmte (Geo-)faktorenauf die Entstehung des Hochwas- serereignisses? 2. Wieist die Raumstruktur im Hochwassergebiet objektiv beschaffen?Welche regionalen Zusammenhänge verursachendas Hochwasserereignis? 3. Wiewerden das Hochwasserrisikound -ereignis an der Elbesubjektiv ver- schieden wahrgenommen und bewertet? 4. Wie, durch wen und mit welchen Folgen wird das Hochwasserereignis an der Elbezur Katastrophe gemacht?«16

Ähnliche Fragestellungen sind aufandere Räume und Problemstellungen übertragbar.Aufgrund vonSchülerinteressen bieten sich z.B. touristische Räume im Spannungsfeld ökonomischer, ökologischer,sozialer und evtl. poli- tischer Problematikan. Fürden Geographieunterrichtbedeutet dies primär, dass Räume mehrper- spektivisch erfasst und bewertet werden müssen. Gemäß den Leitideen eines radikalen Konstruktivismus ist jeglicher Erkenntnisgewinn individuell, Schü- lerinnen und Schüler sind aktiv Lernende, und der Unterrichtist handlungs- orientiert. Entdeckendes und problemlösendes Lernen dominieren den Lern- prozess des autonomen Lerners. Interessengeleitete binnendifferenzierende Maßnahmen können besonders beiden subjektbezogenen Raumkategorien eine hilfreiche methodische Vari- ante sein. Eigene Unterrichtserfahrungen zeigen, dass Schülerinnen und Schüler die objektbezogenen Räume im Allgemeinen gut erfassen, methodische Unsi- cherheiten jedoch beider Darstellung subjektbezogener Räume erkennbar sind. Daher bietensich Verfahren des moderaten Konstruktivismus zur Bearbeitung komplexer Raumkonzepte an. Unter Beachtung der Heterogenitätvon Lern-

14 Vgl. ebd. 15 Vgl. ebd. 16 Rhode-Jüchtern, Raumkonzepte im Geographieunterricht, S. 2. Praxisperspektiven:Geographie 255 gruppen können heterogene Räume erschlossen und abschließend differenziert und mehrperspektivisch beurteilt werden.17 Insgesamtstehen weniger lineare Entwicklungen im Fokus als vielmehr Vernetzungen und systemischeVerflechtungen. Damit wird den Basiskonzepten zur Analyse vonRäumen Rechnung getragen.18 Fürden Unterrichtsalltag und für die gesamte Außendarstellung des Faches sollte meines Erachtens daraus kon- sequentabgeleitet werden, dass im Sinne des Alleinstellungsmerkmales der Disziplin im Hinblick aufeine deutliche Raumbezogenheit dieser erweiterte Ansatz akzentuiertund der Begriff »Brückenfach«19 nichtgenutzt wird, zumal gymnasialer Unterrichtinder Regel Fachunterrichtist. Abschließend ist zu konstatieren, dass fachwissenschaftlich in der Ver- knüpfung vonphysisch- geographischen und humangeographischen Frage- stellungen noch zusätzlicher Handlungsbedarfbesteht, da die universitäre Lehre zumindest im Grundstudium bzw.imBachelorstudiengang weiterhin über- wiegend zwischen diesen Säulen differenziert. Fachdidaktische Forschung und didaktische Curriculumstheorie weisenda- gegen zahlreiche Schnittmengen auf. Die Chance des universitärenMasterstu- diums liegtdaher darin, dass die erste und zweite Phase der Lehrerausbildung stärker vernetzt und im Sinne einer dritten Säule der Mensch-Umwelt-Bezie- hungen sowohl fachwissenschaftlich als auch fachdidaktisch vertieftwerden. Die Raumkonzepte bieten dazu vielfältige didaktische und methodische Mög- lichkeiten.

Literaturverzeichnis

Bahr,Matthias, Bildung fürnachhaltigeEntwicklung –ein Handlungsfeld (auch) fürden Geographieunterricht?!, in:Praxis Geographie 9(2007), S. 10–12. Deutsche GesellschaftfürGeographie (Hg.), Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss,6.Aufl.,Berlin 2010. Hochschulverband fürGeographieund ihre Didaktike.V.(Hg), Geographiedidaktische Forschungen, Themenschwerpunkte der Bände 33–54, Weingarten seit dem Jahr 2000. Ministerium fürSchule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan fürdas Gymnasium –Sekundarstufe I(G8), Erdkunde, Frechen 2007. Dass. (Hg.), Kernlehrplan fürdie Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule, Geogra- phie, Düsseldorf2013.

17 Vgl. Sibylle Reinfried, Alltagsvorstellungen und Lernen im Fach Geographie –Zur Bedeu- tung der konstruktivistischen Lehr-Lern-Theorie am Beispiel des Conceptual Change, in: Geographie und Schule 268 (2007), S. 19–28. 18 Vgl. Deutsche Gesellschaft fürGeographie (Hg.), Bildungsstandards im Fach Geographie, S. 11. 19 Vgl. ebd.,S.8. 256 Werner Schumann

Reinfried, Sibylle, Alltagsvorstellungen und Lernen im Fach Geographie –Zur Bedeutung der konstruktivistischen Lehr-Lern-Theorie am Beispiel des Conceptual Change, in: Geographie und Schule 268 (2007), S. 19–28. Rhode-Jüchtern, Tilmann, Raumkonzepte im Geographieunterricht, Vortrag:Klett Symposium –Geographie und Schule 3(2008), zit. nach URL:http://www2.klett.de/ sixcms/media.php/229/raumkonzepte_rohde_juechtern.pdf [25.05.2015]. Wardenga, Ute, Alteund neue Raumkonzepte fürden Geographieunterricht, in:geogra- phie heute 200 (2002), S. 8–11. HiltrudStärk-Lemaire

»Perspektivenwechsel« und »Unterscheidungskunst«. Überlegungen zu den Spezifika einer Fachkultur evangelischer Religion anhandeiner Umfrage unter Studenten

Der Begriff der Fachkultur erlaubt eine ganze Reihe von Überlegungen in der Perspektive evangelischer Religionspädagogik:Zunächst kann man ganz schlichtaneine Fachkultur des Schulfachs EvangelischeReligionslehredenken, die sich möglicherweise empirischfassen, sicher aber vonanderen (Schulfach-) Fachkulturen des schulischen Fächerkanons unterscheiden lässt. Weiter kann das Studienfach Evangelische Theologiemit dem Ziel Lehramt1 und seine Fachkultur in den Blick genommen werden. Die Fachkultur des Stu- dienfachskönnte sich z.B. in spezifischen Lernanforderungen und Lehrtradi- tionen zeigen. Aber auch fürdie evangelische Theologie als Ganze wird man Spezifika beschreibenkönnen, die sie vonanderen Disziplinen im Rahmen der Geistes- und Kulturwissenschaften unterscheidet. Schließlich könnte auch von einer Fachkultur innerhalb der Religionspädagogik gesprochen werden, die sich in aktuell in Geltung stehenden Paradigmata zeigt.2 Diese Paradigmata kontu- rieren den Reflexionsrahmen des Fachs. Die BonnerTagung »Fachkulturen in der Lehrerbildung« fragtschließlich nach dem Verhältnis vonFachwissenschaft(en)und Fachdidaktik und danach, wiegerade die Übergänge innerhalb des eigenenFachs bzw.Fächerkanonsdie jeweilige Fachkultur prägen. So wirkt sich die jeweilige fachwissenschaftliche Fachkultur aufdidaktische Überlegungen aus. Gerade auch weil Fachdidaktikes mit dem Erlernen des jeweiligen Fachs und seiner Erkenntniswege zu tun hat, ist der Zusammenhangeng,abernicht als Einbahnstraßevon der Fachwissenschaft

1Mit Blick aufdas komplexeVerhältnis vonBerufsfeld- und Wissenschaftsbezug des Studiums überraschtdie offizielle Bezeichnung des Studienfachs:Das Studienfach,fürdas sich Stu- dierende des polyvalenten Zweifachbachelors einschreiben, heißtwie das Schulfach »Evan- gelische Religionslehre«. 2Vgl.dazu klassisch Thomas S. Kuhn, der unter Paradigmata »allgemein anerkannte wissen- schaftliche Leistungen [versteht],die füreine gewisse Zeit einer Gemeinschaft vonFachleuten maßgebende Probleme und Lösungen liefern.« Ders.,Die Struktur wissenschaftlicher Re- volutionen. Zweite revidierte und um das Postskriptum von1969 ergänzte Aufl.,Frankfurt a.M. 1976 [11967],S.10. 258 Hiltrud Stärk-Lemaire zur Fachdidaktik zu verstehen.Denn Auswirkungen haben auch umgekehrt fachdidaktische Überlegungen aufdie Fachwissenschaften, schon allein weil Fachdidaktik die Relevanz fachwissenschaftlicher Aspekte fürBildungsprozesse zu klären suchtund dabei eigene Akzente setzt. Im Folgenden soll versuchtwerden, exemplarisch Typisches einer Fachkultur evangelischer Religion3 zu umreißen. Dabei wird vonder Wahrnehmung Stu- dierender ausgegangen, deren Statements zum Schulfach EvangelischeReli- gionslehreund zum Studienfach Evangelische Theologie interpretiert werden, um Spezifikader Religionspädagogik herauszuarbeiten.

1. Fachkultur im Blick auf das Schulfach Evangelische Religionslehre

Fragt man Studierende, was das BesondereamSchulfach Evangelische Religion sei,4 erhält man Antworten wiedie folgende. Ein Student/eine Studentin schreibt:»In Religion besprichtman Themen, die die Schüler persönlich be- schäftigen. Häufiger als in anderen Fächernwird überexistentielle Fragen ge- sprochen (z.B. Krankheit und Tod). Wenn er [der Religionsunterricht] gut ist, äußernsich Schüler ganz persönlich.« Der Student/die Studentinbeschreibt in diesem Statementzum einen den Gegenstand des Fachs als ein Spezifikum:Esgehe um existenzielle Fragen – Fragen wohlgemerkt, nichtAntworten. Zum anderen werden die Themen des Religionsunterrichts als fürdie Schülerinnen und Schüler persönlich relevant eingeschätzt. Die Inhaltlichkeit des Fachs spielt demnach eine entscheidende Rolle und zeigtsich in doppelter Weise:Als Gegenstand des Unterrichts im Modusder Frage wieindem, was Schülerinnen und Schüler ›persönlich‹ ein- bringen. Hier kann maneine wichtige und vielfach aufgenommene fachdidaktische Grundeinsichtwiederfinden, nämlich dass es Religionsunterrichtmit dem

3 Evangelische Religion soll hier wieimTitel als Sammelbegriff verwendet werden, auch wenn es eigentlich einer Differenzierung zwischen Religion und Theologie bedürfte;demgegenüber ist die konfessionelle Beschränkung an dieser Stelle nur der Beschränktheit der eigenen Perspektivegeschuldet, nichteinem sachlichen Dissens. 4Die Antworten stammen vonStudierenden fürdas Lehramt ausmeinem Proseminar zur Einführung in die Religionspädagogik im Sommersemester 2014, denen schriftlich die Fragen 1.) Wasist das Besondere am Schulfach Religion?2.) Wasist das Besondere am Studienfach Evangelische Theologie?vorgelegt wurden.Die Umfrage erhebt keinerlei Ansprüche, außer den Versuch zu unternehmen, durch Fremdwahrnehmung, die z.B. durch die anderen Stu- dienfächer der Lehramtsstudierenden und ihren Neueinstiegindie Scientific Community möglich ist, einer religionspädagogischen Fachkulturansichtigzuwerden. Überlegungen zu den Spezifika einer Fachkultur evangelischer Religion 259

Wechsel von»religiöser Rede« und »Rede überReligion«5 zu tun hat. Immer wenn persönliche Einsichten, bekenntnishafte Statements und elementare Wahrheiten geäußertwerden, gehtesumdie religiöse Rede: Es wird ausder Innenperspektiveals Teilnehmer gesprochen.Demgegenüberwahrtdie Rede über Religion die reflexiveDistanz der Außenperspektive: Religiöse und exis- tentielle Fragen können auch ausder Beobachterperspektivebetrachtet werden, dann redet man über Religion. Die Unterscheidung beider Perspektiven und der Wechsel zwischen ihnen, wenn im Religionsunterrichtzumindest hypothetisch die Innenperspektiveeingenommen wird, ist fürden Marburger Religionspäd- agogen Bernhard Dressler so fundamental, dass er nichtnur die Unterscheidung religiöser Rede vonRede überReligion ins Zentrum seiner Überlegungen stellt, sondern Religionsdidaktik insgesamt als »Didaktik des Perspektivenwechsels« qualifiziert: »Ein Religionsunterricht, der diese Fähigkeit zum Perspektiven- wechsel fördert, ermöglicht[…],der Alternative ›Indifferenz [als desinteres- sierter Außenperspektive,HSL] oder Fundamentalismus [als unreflektierter Innenperspektive, HSL]‹ zu entkommen«.6 Gleichwohl seieine solche Didaktik kein Spezifikum des Religionsunterrichts, sonderngelte auch fürandere Fächer7 –beispielsweise, wenn im DeutschunterrichtLyrik nichtnur analysiert, sondern auch produziertwird. Ein weiteres Statementaus der Befragung Studierenderlautet:»Religion ist nichtlernbar wiez.B.Mathe. Es gehtmehr um das gemeinsame Nachdenken, Traditionen reflektieren.« Auch die Frage nach der Lernbarkeit und damit auch der Lehrbarkeit vonReligion ist ein religionspädagogisches Grundthema: Un- terschieden werden muss zwischen der Nicht-Lehrbarkeit des Glaubens, der theologisch als GabeGottes verstanden wird und folglich seiner Nicht-Opera- tionalisierbarkeit als Lernziel und des gleichwohl (nur) als Lern-und Bil- dungsprozess beschreibbaren Zugangs zur Religion.8 Die Frage nach der Lern- barkeit der Religion als fundamentale religionspädagogische Frage ist aber auch fachwissenschaftlich relevantund zeigteinmalmehr die enge Verbindung

5Die einprägsame Formel stammt vonMichael Meyer-Blanck:Ders.,Zwischen religiöser Rede und Rede überReligion.Die Praktische Theologie als Vermittlungstheorie zwischen Theo- logie, Kirche und Kultur,in: EvangelischeTheologie 61 (2001), S. 414–424–und wurde vielfach aufgenommen, zentral z.B. vonBernhard Dressler,»Religiösreden« und »überRe- ligion reden« lernen –Religionsdidaktikals Didaktik des Perspektivenwechsels, in:Bernhard Grümme /Hartmut Lenhard /Manfred L. Pirner (Hg.), Religionsunterrichtneu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart2012 (Religionspädagogik innovativ,1), S. 68–78. Dressler unterscheidet die im Folgenden auch genannteTeilnehmer-von der Beobachterperspektive, vgl. ebd.,S.68. 6Ebd.,S.69. 7Vgl.ebd. 8Diese Grundeinsichtbezeichnet BerndSchröder als »Religionspädagogisches Paradox«.Vgl. Ders.,Religionspädagogik, Tübingen 2012, S. 212. 260 Hiltrud Stärk-Lemaire zwischen theologischen Fachwissenschaft(en) und Fachdidaktik: So wird auch in den anderen theologischen (Teil-)Disziplinen die »Unableitbarkeit mensch- lichen Sich-Verständlich-Werdens« betont, die in »Transzendenz und Unbe- dingtheit Gottes [symbolisiertist]«9. Noch ein drittes, längeres Zitat ausden Studierendenäußerungen möchte ich herausgreifen, das gleich eine spekulativeTheorie des schulischen Fächerka- nons entwickelt:

»Fürmich stellt das Fach Religion einen Sonderfall im Kanon der Schulfächer dar,weil es sich um einen spezifischen Bereich des Menschen kümmert. Währendsich die natur- oder auch geisteswissenschaftlichen Fächer wieDeutsch, Mathe, Biologie und Ge- schichte um Faktenwissen und Methoden bemühen, gehtesimReligionsunterricht […] um die Befindlichkeit des Menschen. Es ist mehr ein musisches Fach, das ich gleichberechtigt neben Sport, Kunst und Musik sehen würde. Ausgehend vonmeiner Ansichteiner Dreiteilung des Menschen in Körper,Geist und Seele,ordneich die Religion und damit auch das Fach Religion die Seele betreffend zu. Mit dem Fach wird also eine Balance gehalten, als Gegengewichtgegen rationale, deutungsgeschlossene Fächer.Dies soll dieseFächer allerdings nichtabwerten, denn genauso wieein Schärfen des Geistes und eine gute physische Konstitution,ist auch das seelische Wohlbefinden fürden Menschen im Ganzenwichtig.« Das Statemententhält sicher strittige Zuschreibungen –z.B.würdeich be- streiten, dass es der Religionsunterrichtvorwiegend mit »Befindlichkeiten« zu tun habe. Dennoch finde ich das Anliegenbemerkenswert, das Spezifikum des Schulfachs Evangelische ReligionslehreimRahmen voneiner ArtAllgemein- bildungsmodellbestimmen zu wollen:ImRahmen dieses Modells wird dem Fach Religion ein Eigenrechtzugesprochen, weil es sich –wie hier formuliert– »um einen spezifischenBereich des Menschen kümmert«. Das erinnertandie berühmte Bestimmung Schleiermachers, Religion sei eine »eigne Provinz im Gemüthe«,10 die anthropologisches Argumentfüreine Begründung religiöser Bildung sein kann. Aber auch der Bildungsforscher Jürgen Baumertunter- scheidet bekanntlich verschiedene »Modider Weltbegegnung«11 als Hintergrund des schulischen Fächerkanons:1.) »Kognitiv-instrumentelle Modellierung der Welt«, 2.) »Ästhetisch-expressive Begegnung und Gestaltung«, 3.) »Normativ- evaluativeAuseinandersetzung mit Wirtschaftund Gesellschaft« sowie4.) »Probleme konstitutiver Rationalität«,12 wobei es Religion und Philosophie mit

9Christian Danz,Einführungindie evangelische Dogmatik, Darmstadt 2010, S. 41. 10 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Überdie Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern(1799), hg.v.Günter Meckenstock, Berlin u.a. 2001, S. 72. 11 Vgl. die tabellarische Darstellung der »Grundstruktur der Allgemeinbildung und des Ka- nons« in Jürgen Baumert, Deutschland im internationalen Bildungsvergleich, in:Nelson Killius /Jürgen Kluge /Linda Reisch (Hg.), Die Zukunft der Bildung, Frankfurta.M. 2002, S. 100–150, hier S. 113. 12 Ebd. Überlegungen zu den Spezifika einer Fachkultur evangelischer Religion 261 letzteren zu tun haben. Religion wird so einerseits als eigenständiger Modus und nichtersetzbarer Weltzugang ausgewiesen, muss andererseits aber ihr Spezifi- kum als RationalitätsformimUnterschied zur Philosophie behaupten. Dressler greift das Modell fürseine»Didaktik des Perspektivenwechsels« auf:

»DasTableauder ›Modider Weltbegegnung‹ folgtder Einsicht, dass mit jeder Welt- wahrnehmung die Welt modelliert wird, dass uns die Wirklichkeit also nie unmittelbar zuhandenist. […] [So nimmt] man jeweils in einer bestimmtenPerspektivezwar keine andere Welt, aber immer die eine Welt als eine andere wahr.«13

2. Fachkultur im Blick auf das Studienfach Evangelische Theologie

Deutlich weniger Studierende äußerten sich im Rahmen der kleinen Umfrage auch zur zweiten Frage nach den Besonderheiten des Studienfachs Evangelische Theologie –sicherlich auch, weil es schwerer fällt, der Fachkultur ansichtigzu werden, an der man teilnimmt und in die man verstrickt ist, als einen Blick auf den Religionsunterrichtaus vergangenen Schülertagen und als Gegenstand der Fachreflexion in der Religionspädagogik zu werfen. Zwei Aussagen können aber als typisch herausgegriffen werden, da sie sich in ähnlicher Weise gleich bei mehreren Studierenden finden. Das erste Statementnimmt Bezug aufdie Ent- wicklung der eigenen Position, das zweite aufdie der Lehrerpersönlichkeit als (implizite) Studienziele:»Evangelische Theologiezustudieren heißtfürmich verschiedene theologische Denkmodelle kennen zu lernen und mich anschlie- ßend zu positionieren. Dies findet hier gut statt. [sic]« –»Die Lehrerpersön- lichkeit ist wichtig! Interesse an Diskussionen, Interesse an der Meinung an- derer,der Schüler!Die Ausbildung der eigenen Persönlichkeit ist wichtig.« Auch wenn beide Voten eher allgemein und möglicherweise mehr mit Blick aufden späteren Berufdes Lehrers formuliertsind als genuin fachbezogen, sehe ich hier Spezifikaeiner evangelisch-theologischen Fachkulturwidergespiegelt: Es gehtzum einen um das Nachvollziehen und Erschließen vonDenkmodellen, also um Theologie als Verantwortung des Glaubens im Denken. Dazu bedarfes sowohl einer inhaltlichen und fachwissenschaftlich gestützten Bestimmung des Gegenstands(bereichs) der Theologieals auch in fachdidaktischem Interesse Überlegungen zu den Aneignungswegen an den verschiedenen Lernorten, hier: der Universität. Zum anderen gehtesumdie eigene Position,darum, dass theologische Antworten selbst verantwortet werden müssen –bei aller Hochschätzung für

13 Dressler,»Religiösreden« und »überReligion reden« lernen, S. 71 [Hervorhebungen im Original]. 262 Hiltrud Stärk-Lemaire

Bibel und Tradition. Biographische Selbstreflexionder Genese eigener Positio- nen und Überzeugungen ist dabei auch fachdidaktisches Interesse. Beide Studienziele, theologische Denkmodelleerschließen wieeine eigene Position und Lehrerpersönlichkeit entwickeln, erinnernauch wieder an die fundamentale Unterscheidung von»Rede überReligion« und »religiöser Rede« fürdie Religionspädagogik und machen deutlich, wieverwoben und interde- pendentdas Verhältnis vontheologischen Fachwissenschaft(en) und Fachdi- daktik sich gestaltet. Die Stellungnahmen der Studierenden zu Schulfach und Studienfach und ihre Interpretation haben hoffentlich einen Einblick in Typisches einer Fachkultur evangelischer Religiongeben können. Die Betonung der Unvertretbarkeit des einzelnen in Glaubensfragenist vielleichtsogar typisch evangelisch. Pointiert formuliertdiesen Gedanken, der hier am Schluss stehen soll, z.B. der Neutes- tamentler GerdTheißen:»Übereinstimmung mit mir hat Vorrang vor der Übereinstimmung mit Dogmen und Kirchen.[E]in Protestant stehtmit solch einer Überzeugung nichtamRande seiner Kirche, sondernmitten in ihr.Der Protestantismus ist eine Religion der Freiheit und Vernunft.«14

Literatur

Baumert, Jürgen, Deutschlandiminternationalen Bildungsvergleich, in:Nelson Killius / Jürgen Kluge /Linda Reisch (Hg.), Die Zukunftder Bildung, Frankfurta.M. 2002, S. 100–150. Danz, Christian, Einführung in die Dogmatik, Darmstadt 2010. Dressler,Bernhard, »Religiösreden«und »überReligion reden« lernen –Religionsdi- daktik als Didaktik des Perspektivenwechsels, in:Bernhard Grümme /Hartmut Len- hard /Manfred L. Pirner (Hg.), Religionsunterrichtneu denken. InnovativeAnsätze und Perspektiven der Religionsdidaktik. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart2012 (Religions- pädagogik innovativ,1), S. 68–78. Kuhn, Thomas S.,Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, zweite revidierteund um das Postskriptum von1969 ergänzte Aufl.,Frankfurta.M. 1976 [11967]. Meyer-Blanck,Michael, Zwischen religiöser Rede und Rede überReligion. Die Praktische Theologie als Vermittlungstheorie zwischen Theologie, Kirche und Kultur,in: Evan- gelische Theologie 61 (2001), S. 414–424. Schleiermacher,Friedrich Daniel Ernst, Überdie Religion.Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern(1799), hg.v.Günter Meckenstock, Berlin u.a. 2001. Schröder,Bernd, Religionspädagogik, Tübingen 2012. Theißen, Gerd,Glaubenssätze. Ein kritischer Katechismus, 3.,ergänzte Aufl.,Gütersloh 2013 [12012].

14 Gerd Theißen, Glaubenssätze. Ein kritischer Katechismus, 3.,ergänzte Aufl.,Gütersloh 2013 [12012],S.12. Barbara Utz

Bedeutung von fachdidaktischen und fachwissenschaftlichen Vorkenntnissenfür die zweite Phase der Lehrerausbildung. Perspektive einer Seminarausbilderin

1. Einleitung

Sehr geehrte Damen und Herren, liebeKolleginnen und Kollegen,1 direkt zu Beginn dieser Tagung zu Ihnen sprechen zu dürfen, deuteich als Privileg und auch als Zeichen der Kolleginnen und Kollegen der Universität, die diese Tagung gestalten, dass ihnen am Dialog mit Ausbilderinnen und Ausbil- dernaus dem Zentrum fürschulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL) und Schule gelegen ist. Im Namenaller ZfsL-Ausbilderinnen und Ausbilder bedankeich mich sehr herzlich fürdiesen besonders wertschätzenden Einstieg in unsere gemeinsame Ausbildungstätigkeit im Praxissemester,mit der wirimnächsten Jahr beginnen. Es erwartet Sie heute Morgen kein wissenschaftlicher Vortrag –obwohl es reizvoll wäre, die zahlreichen Studien der letzten Jahre ausdem Bereich der Wissenschaft, insbesondereaus der Wirkungsforschung aufzuarbeiten, die die Seminarausbildung entscheidend beeinflusst haben, aber darum gehtesmir heute hier nicht. Obwohlinmeinem Vortrag das Verhältnis der beiden Leh- rerausbildungsinstitutionen zueinander immer wieder eine Rolle spielt, gehtes mir im Kern um diejenigen, die sich in Ihrer Institution bilden lassen (im Zentrum fürLehrerbildung)und in unserer Institution schulpraktisch ausge- bildet werden (im Zentrum fürschulpraktische Lehrerausbildung). Es sind ausmeiner Sichtimmer noch viel zu viele künftige Lehrerinnenund Lehrer,fürdie das Referendariat eine Erfahrung mit vielfältigen Überforde- rungen, aufjeden Fall mit zu viel empfundenem Stress ist. Schnelle Schluss- folgerungen, z.B. Studierende lernten zu wenig an der Universitätund würden im Lehrerausbildungsseminar2 zu praxisfernausgebildet,sind hier nichthilf- reich. Schnelle Schlüsse sind eben oft Kurz-Schlüsse,die nichtweiterführen und beidenen es vor allem darum geht, die Verantwortung abzugeben.

1Die Form des mündlichen Vortrags vom 5. Juni 2014 wurde beibehalten. 2Nachfolgend verkürzt als Seminar bezeichnet. 264 Barbara Utz

Es gibt eine Reihe sehr unterschiedlicher Gründe, warum das Referendariat als besondereHerausforderung erlebt wird. Ein wichtiger Aspekt ist ausmeiner Sichtder Übergang vonder Universitätzum Seminar,der bisher viel zu wenig beachtet und gestaltet worden ist. Deshalb lautet eine der zwei zentralen Fragen, aufdie ich in meinem Vortrag eingehen möchte:Welche Chancen der Vernet- zung zwischen Universitätund Seminar ergeben sich in der Perspektivedes Seminars und könnten hilfreich fürdie gemeinsame Aufgabe Lehrerausbildung sein?Ineiner weiteren Frage gehtesumGesichtspunkte und Ausbildungs- prinzipien, die zurzeit die aktuelle Ausbildung in den Zentren fürschulprakti- sche Lehrerausbildung in Nordrhein-Westfalen charakterisieren. Beginnen möchte ich jedoch zunächst mit einigen Gedanken zur Bedeutung des Tagungsthemas fürdie Ausbildung im Seminar.Schließen werde ich mit einem kurzen Blick aufzukünftige Perspektiven unserer gemeinsamen Arbeit.

2. Bedeutung des Tagungsthemas für die Ausbildung im Seminar

Als die Idee zu dieser Tagung mit der Frage an uns herangetragen wurde, ob wir einige kleinereBeiträge beisteuernwürden, stellten wirdie fürLehrerausbilde- rinnen und Lehrerausbilder typische Frage:Mit welcher Zielsetzung ist die Tagung verknüpft? Im Einladungsschreiben des Bonner Zentrums fürLehrer- bildung stehtdazusinngemäß:ImZentrumsoll neben dem persönlichen und fachlichen Kennenlernen der Austausch überindividuelle Arbeitsschwerpunkte, Interessen und Erwartungen stehen–auchaus Seminarsichtein wichtiges An- liegen fürdie zukünftige gemeinsame Arbeit. Darüberhinaus wage ich drei Gedanken zur Bedeutsamkeit des Tagungsthemasfürdie Ausbildung im Semi- nar.

2.1. Differenzerfahrungen während des Studiums in zwei Fächern

Referendarinnen und Referendareunterrichten in der Regel in zwei Fächernund werden auch in zwei Fächernausgebildet. Das heißt, sie begegnen schon in der Universitätmöglicherweise zwei mehr oder weniger unterschiedlichen Fach- kulturen, was sowohl fürdie Fachwissenschaftals auch fürdie Fachdidaktik zutrifft. In meiner Vorstellung gehe ich davonaus, dass dies vonden Studie- renden des Lehramtes zunächst nichtals wesentlich wahrgenommen wird oder sogar zu Irritationen führt–zum einen, weil es fürsie wahrscheinlich wenig Gelegenheit gibt, Einblickeintypische Forschungsvorhaben ihrer Fächer zu Praxisperspektiven 265 nehmen, so dass sie in erster Linie mit mehr oder weniger zentralen Themen der FachwissenschaftinBezug aufihr später zu unterrichtendes Fach in der Schule konfrontiertwerden. Zum anderen, weil sich Konsequenzen dieser Differenzen vor allem in fachdidaktischen Fragestellungen zeigen, die Fachdidaktik jedoch immer noch einen relativ kleinen quantitativen Anteil im Studium ausmacht und erst spätauf dem Stundenplan steht. VonBedeutung wird diese mögliche Differenzerfahrung im Hinblick aufunterschiedliche Fachkulturen meistens erst im Referendariat. Es stellt sichdeshalb die Frage, welche Bedeutung diese möglichen Differenzerfahrungen fürdie Ausbildung im Seminar bzw.die Arbeit in der Schule haben. Gibt es –soließesich weiter überlegen –einen Ort, an dem die Frage nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Fachwissen- schaftund Schulfach einmalgenauer in den Blick genommen, beschrieben und aufihreBedeutung hin hinterfragtwird?Und wem käme diese Aufgabezu: der Fachwissenschaft, der Fachdidaktik, dem Fachseminar oder der Fachlehrerin / dem Fachlehrer?Worin wird überhaupt die Vernetzungzwischen Schulfach und Fachwissenschaftdeutlich?Und vielleichtdie wichtigste Frage:Wie ließen sich mögliche Differenzerfahrungen fürdie Ausbildung konstruktiv nutzen?

2.2. Prägungder Fachkulturen durch gesellschaftliche Veränderungen

Die zweite Frage, die sich fürmich stellt, wenn ich überdie Bedeutsamkeit des Tagungsthemas nachdenke, lautet:Wer oder was bestimmt eigentlich die Fachkultur,welche Einflussfaktoren lassen sich identifizieren und was bedeutet das fürdie Ausbildung im Seminar bzw.die Arbeit in der Schule?Welchen Eindruck hinterlassen aktuelle gesellschaftliche Veränderungen in den Fach- wissenschaften und wiereagieren die Fachdidaktikendarauf?Als Ausbilderin, die Referendarinnen und Referendareseitvielen Jahren in allen Fächernbe- gleitet, erlebeich durchaus sehr unterschiedliche Entwicklungeninden Fach- didaktiken, z.B. wenn ich an Fächer wieGeographie, Latein oder Mathematik denke. In der Geographie als ausgeprägt interdisziplinärerWissenschaftzeigte sich in den letzten Jahrzehnten in vielfältiger Weise, wiesehr die vielen Be- zugswissenschaften die Themenund Forschungsrichtungen in diesem Fach beeinflusst haben, was die Fachdidaktik deutlich veränderthat und ausmeiner Sichtauch übereinen längeren Zeitraum die didaktische Diskussion in vielen anderen Fächernentscheidend hat mitbestimmen lassen. Komplexe Alltags- und Fachfragen zum Ausgangspunkt des Lernens zu machen und z.B. mit hand- lungsorientierten Konzepten das Lernen zu gestalten, war im Fach Erdkunde viel früher zu beobachten als in anderen Fächern. Ein weiteres Beispiel:Aufgrund der Ergebnisse der TIMMS- und PISA-Studien stellte sich fürdas Fach Mathe- matik die Frage nach der Weiterentwicklung vondidaktischen Konzepten sehr 266 Barbara Utz viel dringlicher als z.B. in Fächernwie Latein oder Französisch.Dies sind nur zwei Beispiele fürdie Wechselwirkung vongesellschaftlichen Veränderungen und Entwicklungen in der Fachdidaktik. Auch überfachliche, eher bildungspolitische Einflüsse wiez.B.die Orientie- rung an Standards und Kompetenzen verarbeiten die Fächer –genauer muss ich an dieser Stelle sagen:die Schulfächer –unterschiedlich. Welche Rolle spielen in diesem Kontext die Bildungswissenschaften?Inwieweit beeinflussen sie oder können sie bildungspolitische Entscheidungenbeeinflussen, können sie oder sollen sie ggf. auch so etwas wieEntwicklungsmotor fürdie fachdidaktische Arbeit in den Fachwissenschaften bzw.den Unterrichtsfächernsein? So liegen fürdie gerade vonder Universitätkommenden Referendarinnen und Referendaren aufden ersten Blick oft Welten zwischen den fachdidakti- schen Erfordernissen, mit denen sie in ihren zwei Fächernkonfrontiertwerden, die ihnen das Einübenund das Hineinwachsen in typische fachdidaktische Arbeitsweisen erschwerenkönnen. Kommtdann noch die Forderung aufder pädagogischen Ebene nach Berücksichtigung allgemeindidaktischer Standards hinzu, z.B. differenzierte Aufgaben fürunterschiedliche Lernstände zu entwi- ckeln oder sprachsensiblen Unterrichtzugestalten, um nurzwei Beispiele zu nennen, ist schnell eine Überforderung zu erkennen. Wo gibt es Freiräume, diese Unterschiede zu klären, zu verstehenund zu verarbeiten?Wer übernimmt diese Aufgaben?Müssten Fragen dieser Artnichtschon in der UniversitätimRahmen fachdidaktischer und allgemeindidaktischer Veranstaltungen eine Rolle spielen, um dann im Rahmen der Fach- und Kernseminare im ZfsLwieder aufgenommen zu werden? Mit Abstrichen lassen sich diese Beobachtungen auch aufdie Ebene der Ausbilderinnen und Ausbilder in Universitätund ZfsL übertragen. Ichmöchte dies hier nichtweiter ausführen, jedoch einen Aspekt an einem Beispiel erläu- tern. Immer wieder entschließen sich auch junge Wissenschaftler und Wissen- schaftlerinnen, in den Lehrberuf einzusteigen und absolvieren nach einigen Jahren Tätigkeit an der Universitäteine Ausbildung im Seminar.Invielen Fällen entstehen hier zunächst unüberbrückbarscheinende Differenzerfahrungen, die die Ausbildung und oft auch die Ausbildungsbeziehungen belasten. Ichdenkean einen jungen Naturwissenschaftler,der gerade seine Ausbildung im ZfsL be- endet hat. Er konnte sich bis zum Ende der Ausbildung nichtauf die fach- und allgemeindidaktischen Anforderungen seiner Fächer einlassen und fühlte sich mit seinen umfangreichen fachwissenschaftlichen Vorerfahrungen und Fach- kompetenzen nichtausreichend wertgeschätzt. Man kann dies als ein indivi- duelles persönliches Problem deklarieren, doch zeigtsich an diesem Beispiel, das vielen anderen ähnelt,auch die scharfe Trennlinie, die zwischen in Hoch- schule und Schule Lehrenden bzw.Unterrichtenden bestehtund die auch etwas überdas Verhältnisvon Fachwissenschaftund Unterrichtsfach aussagt. Praxisperspektiven 267

3. Zentrale Gesichtspunkte und Ausbildungsprinzipien in der aktuellen Seminarausbildung

Nach diesem kleinen Exkurs kommeich zu der ersten der beiden angekündigten Fragen:Welche zentralen Gesichtspunkte und Ausbildungsprinzipien prägen die aktuelle Seminarausbildung?Natürlich sind dies die Fachkulturen, also die Themen und Schwerpunkte der Fachwissenschaften sowieder Fachdidaktiken. Weil das Wissen und die bereits erworbenen Kompetenzenaus diesen Bereichen eine zentrale Bedeutung haben, möchte ich darauf kurz eingehen.

3.1. Bedeutung von Fachwissen

Während in der ersten Phase der Lehrerausbildung der Erwerb vonFachwissen3 im Vordergrund steht, ist es in der zweiten Phase die Artund Weise der Ver- mittlung vonFachwissen an Schülerinnen und Schüler.Esist sicher notwendig, hier zwischen dem Fachwissen ausden Fachwissenschaften, Fachdidaktiken und Bildungswissenschaften zu differenzieren. Wissen ausdem Bereich der Bildungswissenschaften und ggf. in diesem Bereich erworbene Kompetenzen bilden ausmeiner Sichtsoetwas wiedas Fundamentder didaktischen Arbeit im Seminar und sind auch Voraussetzung fürdie Umsetzung überfachlicher Per- spektiven in der didaktischen Arbeit, die angesichts der immer größeren Komplexitätder zu behandelnden fachlichen Fragen zunehmend an Bedeutung gewinnt. Beispiele fürsolche überfachlichen Perspektiven in allen Lehrplänen sind Entwicklung und Förderung vonSozial- und Selbstkompetenz, Selbst- ständigkeit, interkulturelle Kompetenz, Sprachkompetenz, Medienkompetenz usw. Zentrale Aufgabe der Lehrenden ist die didaktische Aufbereitung des Fach- wissens. Um nurzwei Beispiele fürgrundlegende didaktische Fragestellungen zu geben:Welche Fragestellungen ergeben sich ausder Perspektivevon Lernenden verschiedener Altersstufen und welche Lernwege sind unter Berücksichtigung der Zielperspektivenbzw.der Kompetenzerwartungen ausden Lehrplänen sinnvoll? Die Ausbildung in den Fachseminaren erfordertstets auch einen Abgleich zwischen dem in der Universitäterworbenen Fachwissen, das sich weitgehend an den Fachwissenschaften orientiert, mit dem Stellenwertdes Fachwissensin den Curricula der Schulfächer.Hier kann eine mögliche Konsequenz auch die punktuelle Nachbesserung des Fachwissens in bestimmten Themenfeldernsein

3Mit dem Begriff »Fachwissen« ist im Folgenden die Vermittlung vonfachspezifischenFra- gehaltungen, Weltzugängen und fachspezifischen Methoden gemeint. 268 Barbara Utz

–eine oft zusätzliche Herausforderung,die die Ausbildung in der zweiten Phase sehr belasten kann. Weiter gilt:Habendie Studierenden eines Faches einen Überblick überak- tuelle fachdidaktische Positionen erworben, ist ihr Repertoire zur didaktischen Aufbereitung vonBeginn an größer als beidenjenigen, die zunächst Grundla- genwissen in Bezug auffachdidaktische Modelle erwerben müssen. Die Erfah- rung der Seminarausbilderinnen und Seminarausbilder ist seit vielen Jahren, dass hier eine sehr große, eine zu großeDifferenz in Bezug aufdie mitgebrachten Wissensbestände, Vorerfahrungen und Kompetenzen besteht. Das gilt auch für die Kenntnis grundlegender pädagogischer und fachdidaktischer Literatur.

3.2. Bedeutung von Vorkenntnissen für das Lernen –individuelle Ausrichtung der Arbeit im Seminar

Nebender Bedeutung des Fachwissens, das so etwas wieeine unverzichtbare Voraussetzungfürdie AusbildungimZfsL ist, gibt es eine Reihe weiterer wichtiger Aspekte, die die Seminarausbildung beeinflussen und kennzeichnen. Trotz der vorgegebenenStandards, die seit einiger Zeit fürdie Lehrerbildung handlungsleitend sind, ist die ProfessionalitätimLehrberuf stark durch die Persönlichkeit geprägt.Sehr knapp und treffend formuliertJean Piaget:»Men- schen bauen eine Meinung durch persönliche und soziale Erfahrung auf.«4 Von Bedeutung fürdie Ausbildung an Universitätund ZfsL sind deshalb besonders auch die unterschiedlichen Vorerfahrungen, die Studierende sowieReferenda- rinnen und Referendaremitbringen. In kaumeinem anderen Berufsfeld wird so viel an vorgefertigten Meinungen überdas Lernen und Lehren mitgebrachtwie beizukünftigen Lehrerinnen und Lehrern. Die lange Schulzeit prägt zwangs- läufig das Meinungsbild, das sich in der wiederum rechtlangen Studienzeit weiter verfestigt. Hier wirkt sich vielleicht zusätzlich noch aus, dass Lehrerinnen und Lehrer eine rechteinseitige Berufssozialisation erfahren:Nach einer langen Schulzeit wechseln sie zur Universität, verstehen sich wieder primärals Schü- lerinnen und Schüler und werden sicher auch oft so angesprochen, um sich dann erneut –wenn auch in einer anderen Rolle –indie Institution Schule zu begeben. Empirisch belegte Theorien5 weisen eindeutignach, dass vertikaler Wis-

4FredA.J.Korthagen, Erstellung eines realistischen Lehrerausbildungsprogramms, in:Ders. / JosKessels /Bob Koster /Bram Lagerwerf /Theo Wubbels (Hg.), Schulwirklichkeit und Lehrerausbildung(Staatliches Studienseminar fürdie Lehrämter an Hamburger Schulen), übers. v. Wolfgang Meyer,Hamburg2002, S. 74–94, hier S. 76. 5z.B.Christian Schmid, Lernen und Transfer.Kritik der didaktischen Steuerung,Bern2006 und MareikeKunter /Jürgen Baumert/Werner Blum u.a. (Hg.), Professionelle Kompetenz vonLehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV,Münster 2011. Praxisperspektiven 269 senstransfer ungeeignet ist, diese mitgebrachten Meinungen zu verändern. Es gibt beiuns allen einen gewissen Widerstand, wenn es um Veränderung des Wissensbestandes geht, der sich unter Druck noch verstärkt –und dieser ent- stehtaufgrund der hohen Anforderungen, die in kurzer Zeit im Referendariat zu erfüllen sind, fürfast alle. Wirneigen dazu, neue Erfahrungen in Überein- stimmung mit unseren früheren Gewohnheiten und Erkenntnissen zu assimi- lieren, um noch einmalmit Piaget zu sprechen.6 Es gilt weiter das Phänomen, das Watzlawick »mehr vomselben«7 nennt:

»Wenn zum Beispiel ein Referendar in der Klasse scheitert, als erfolgreicher Über- mittler vonInformation zu fungieren, dann wird er oder wird sie oftmals noch größere Anstrengungen unternehmen, ein ›besserer Übermittler‹ zu werden, anstattseine oder ihre grundlegendeUnterrichtskonzeptionzuverändern.«8

Dieser Widerstand wirkt sozusagen als Filter beim Umgang mit Theorie und Erfahrung in der Ausbildung. Deshalb ist es vonbesonderer Bedeutung,die Prinzipien professionellen Lernens beider Entwicklung vonAusbildungskon- zepten zu berücksichtigen. Das heißt, zu ermöglichen, –dass das Lernen vom Bedürfnis des Lernenden geleitet wird. Das bedeutet, idealer Ausgangspunkt fürdie Gestaltungvon Lernprozessen im Seminar sind die Erfahrungen der Referendarinnen und Referendare–soweit dies möglich ist –und die Fragen, die sie sich selbst stellen, die Problemebzw.Heraus- forderungen, denen sie in ihrem Schulalltag begegnen.

Professionelles Lernen heißtweiter,zuermöglichen, –dass sich Lernprozesse in den individuellen Erfahrungen verwurzeln können, um mit Fred Korthagenzusprechen, dessen Modell fürdie Seminardidaktik ein wesentlicher Bezugspunkt ist,9 und schließlich, –dass Erfahrungen reflektiertwerden.

In der Reflexion siehtKorthagen zutreffend »ein grundlegendes Werkzeug beim Entwickeln vonstärkerem Bewusstsein hinsichtlich praktischer Situationen und während des Eingebundenseins in jene Situationen.«10 Dies sind Gründe, warum Ausbildung immer nurselektiv wirkt, nie als Ganzes, sondern insbesondereinden Teilen, die die Studierenden und Refe- rendare als relevanterleben:Die Vorlesung in Pädagogik ist vielleichtnur fürdie Prüfung wichtig; das Lehrbuch zur Lernpsychologie vermittelt vielleichtwich-

6Vgl.Korthagen, Erstellung eines realistischen Lehrerausbildungsprogramms, S. 75. 7Ebd. 8Ebd. 9Vgl.ebd.,S.76. 10 Ebd.,S.77. 270 Barbara Utz tige, aber nichtanwendbare Einsichten;die fachdidaktische Übung gibt viel- leichtanwendbare Einsichten, die aber vor Ortgerade nichtgebrauchtwerden; die Aufgabe, verschiedenedidaktische Modelle im eigenen Unterrichtzuer- proben, mag geeignet sein, das Planungs- und Handlungsrepertoire vonRefe- rendarinnen und Referendaren zu erweitern, trifftjedoch ggf. nichtdie aktuell als wesentlich empfundene Herausforderung usw. Es sind also zusammengefasst vorallem individuelle Ansätze in der Ausbil- dung, die wirksam sind, wennesumdie Korrektur und Erweiterung subjektiver Theorien geht. Damit verbunden müssen vielfältigeLernwege angeboten wer- den, wenn unterschiedliche individuelle Erfahrungen und Lernstände Aus- gangspunkt des Lernens sein sollen. Individualisierung ist daher Leitmotiv für die Gestaltung der Ausbildung im ZfsL –soweit dies umsetzbarist. Die Formen des Lernens orientieren sich an erwachsenenpädagogischen Prinzipien wie Selbststeuerung und Selbsttätigkeit, Problem- und Handlungsorientierung; Gruppenverfahren, Feedback und Metakommunikation spielen eine zentrale Rolle.

3.3. Theorie-Praxis-Reflexion

Deshalb liegtder Fokus beider Arbeit im Seminar auferfahrbaren und erfah- renen Handlungssituationen des beruflichen Alltags als Ausgangspunkt des Lernens, die gleichzeitig die Vielfalt und Breite der Herausforderungen im pädagogischen System Schule repräsentieren. Wirsprechen in diesem Kontext auch vomPrinzipder Handlungsfeldorientierung. Damit komme ich zu einem weiteren wesentlichen Aspekt der aktuellen Se- minardidaktik:Ausgehend vonder Praxis erfolgtdie Reflexion der Erfahrungen. Aufdiese Weise wird eine Verbindung zwischen Erfahrungen und relevanten Theorien hergestellt,die dann in neuen Erfahrungssituationen angewendet und überprüft werden können. Diese Artvon Rückkopplungsmodell handlungs- orientierten Lernens in Schule und Seminar ist eine Stärkeder Institution Se- minar mit dem Anspruch, berufliche Erfahrungen mit theoriegeleiteter Refle- xion zu verknüpfen,mit fachlichen und pädagogischen Problemstellungen und Erkenntnissen zu korrelieren und unter dem Gesichtspunkt der Kompetenzer- weiterung zu evaluieren. Dies verlangt, dass Lehrerausbilderinnen und Lehrer- ausbilder Expertinnen und Experten beim Arbeiten vonder Praxis in die Theorie sein müssen, was völlig andereFertigkeiten als die voraussetzt,die Unterrichtende in der Schule und wahrscheinlich auch in der Universitätbe- nötigen. Das trifftumso mehr zu, als die Integration vonPraxis und Theorie innerhalb der Person der Referendarin /des Referendars stattfinden muss, was bedeutet, dass Lehrerausbilderinnen und Lehrerausbilder Kenntnisse, Fertig- Praxisperspektiven 271 keiten und Einsichten ausaktuellen Wissensbeständen zur menschlichen Ent- wicklung im umfassenden Sinn zur Verfügung haben müssen. Eine Herausforderung fürSeminarausbilderinnen und Seminarausbilder im Sinne der Mitverantwortlichkeit fürgelingendesLernen im Seminar ist es – unter Berücksichtigung der Aussagen zur Bedeutung der Vorerfahrungen –, immer wieder eine Balance herzustellen zwischen Sicherheit und Herausfor- derungen, dem Planen vonErfahrungsmöglichkeiten im Einklang mit den in- dividuellen Langzeitlernprozessen der Referendareeinerseits sowieQualitäts- normen und Vorgaben in Ausbildungscurricula andererseits, der Integration vonTheorie und Praxis und den Erkenntnissen ausden wesentlichen Bezugs- wissenschaften (neben den Fachwissenschaften insbesondereErziehungswis- senschaft, Psychologie, Soziologie, empirischeWirkungsforschung,umdie wichtigsten zu nennen). Sowohl die Handlungspraxis der Studierenden bzw.der Referendareals auch die Übungspraxis im Seminar spielen also eine zentrale Rolle, wenn es um Erweiterung und Professionalisierung des individuellen Handlungsspektrums gehen soll. Lernen im Seminar ist daher konzeptionell als Lernen in komplexen Bezügen, aufvielfältigen Lernwegen und mit kognitiven, emotionalen, sozialen und instrumentellen Anteilen angelegt. Nebenhöherer Wirksamkeit vonLern- prozessen hat dies auch den Vorteil, dass Lern-und Arbeitsformen im Seminar aufder einen Seite und in Schule und Unterrichtauf der anderen Seite häufig in einem modellhaften Entsprechungsverhältnis stehen, vondem die angehenden Lehrerinnen und Lehrer profitieren können. Das bedeutet zum Beispiel, dass Seminarausbilderinnen und Seminarausbilder in ihren Ausbildungsveranstal- tungen in Abhängigkeit vonden Ausbildungsthemen exemplarisch didaktische Konzeptionen umsetzen werden, die auch in der Schule beider Arbeit mit Schülerinnen und Schülerneinsetzbar sein können.

3.4. Ausbildung als Prozess

Obwohl in den letzten Jahren intensiv immer wieder überdie Modularisierung der Ausbildung diskutiertund beraten wurde, gibt es in den Lehrerausbil- dungsseminaren in Nordrhein-Westfalen bisher nurpunktuell Module, in denen thematische Schwerpunkte wählbar sind. Charakteristisch ist vielmehr eine kontinuierlicheBegleitung,Beratung und Unterstützung der angehenden Leh- rerinnen und Lehrer durch Ausbilderinnen und Ausbilder,die parallel in der Schule tätigsind und sich dortbesonders qualifizierthaben. Nebendem Ziel der Entwicklung und Ausbildung berufspraktischer Handlungskompetenz füralle, gehteszentral immer auch um die Entwicklung vonindividuellen Potenzialen und den Ausbauder schon vorhandenen berufsbiographischenProfessionalität. 272 Barbara Utz

Bringtzum Beispiel ein Studierender neben seinen Fächernzusätzliche Fremdsprachenkenntnisse mit, wird manihn dahingehend beraten, Erfahrun- gen mit bilingualen Modulen z.B. in den FächernBiologie oder Geschichte zu sammeln und weiterzuentwickeln. Die Entwicklung der in einem Kerncurriculum festgelegten Kompetenzen ist nichtdurch punktuelle Vermittlung vonWissen und Übernahme vonTheorien sowieeinmalige Reflexion vonentsprechenden Praxissituationen erfahrbar, sondern erfordertvielmehrein sich kontinuierlich wiederholendes Durchlaufen vonPraxissituationen aufunterschiedlichen Niveaus. Die Erfahrungswerte der angehenden Lehrkräftegewinnen aufdiese Weiseallmählich die Qualitätper- sönlicher Theorien, die mit dem Umfeld abgestimmt sind. Kompetenz wird in den Situationen des Alltagsaufgebaut, das Ausbildungswissen kommt nurzur Anwendung,wenn es dazu passt und sich bewährt. Das Ziel der Schulung von Kompetenzen ist nichtnur,einen möglichst hohen KompetenzgradinBezug auf die Handlungsfähigkeit im Schulalltag zu entwickeln, sondernebenso wichtigist es, eine möglichst großeSelbstständigkeit in der Steuerung voneigenen Lern- prozessen und in der MetareflexionimLaufe des Ausbildungsprozesses zu er- reichen. Dies alles erfordertZeit und ist ein Grund, warum sich Ausbildung, die aufden hier beschriebenen didaktischen Schwerpunktsetzungen basiert, nicht beliebig verkürzen lässt.

3.5. Ausbildung personaler Kompetenzen –Ausbildungin interaktionsfähigen Gruppen

Welche Bedeutung persönlichen Eigenschaften vonLehrenden zukommt, wird u.a. aufgrund der aktuellen Veröffentlichungen zur Hattie-Studie intensiv dis- kutiert.11 Ichmöchte darauf jetzt nichtnäher eingehen, jedoch zweiganz pragmatische Gesichtspunkte nennen, die einsichtigmachen, warum die Ent- wicklung personaler und sozialer Kompetenzen in der Lehrerausbildung eine wichtige Rolle spielen muss. Fragt man Berufseinsteiger und Berufseinsteigerinnen, wiesie gelernt haben und was sie können, dann fallen meistens Namen. Es sind Personen:Ausbil- derinnen und Ausbilder,Dozentinnen und Dozenten, Kolleginnen und Kollegen

11 Vgl. z.B. Ewald Terhart, HatJohn Hattie tatsächlich den Heiligen Gral der Schul- und Un- terrichtsforschung gefunden?Eine Auseinandersetzung mit »Visible Learning«, in:Edward Keiner u.a. (Hg.), Metamorphosen der Bildung:Historie–Empirie –Theorie, Bad Heil- brunn 2011, S. 277–293 und Ulrich Steffens,Visible Learning –Betrachtungen zur Publi- kation vonJohn Hattie,in: Bildungbewegt13(2011), S. 25–27 und Ulf Mühlhausen, Gute Sichtauf Lernen?Anmerkungen zu ›Lernen sichtbar machen‹ vonJohn Hattie, in:Seminar 2 (2013), S. 169–174. Praxisperspektiven 273 und nichtzuletzt Schülerinnen und Schüler,die oft entscheidende weiterfüh- rende Einsichten vermitteln. Leider gibt es dazu bisher meines Wissenskeine empirischen Studien. Oelkers sprichtdavon,dass sich professionelles Know- howsozial fassen lassen muss.12 Lehrkräfteerfahren stets unmittelbar die Wir- kungen ihres Handelns, insbesondere überdie Resonanz der Schülerinnen und Schüler,selbst wenn diese schweigen.Dasssolche unmittelbaren Erfahrungen weit wirksamersind als die besten Theorien, haben wiralle selbst erfahren. Deshalb kommt den sich aufdiese Weise bildenden sogenannten subjektiven Theorien ein durchaus hoher Stellenwertzu. SubjektiveTheorien dürfen also nichteinfach durch scheinbar überlegene objektiveTheorien korrigiertoder gar ersetzt werden. Wasdie vorhandenen subjektiven Theorien korrigiert, sind andere Erfahrungen, nicht überlegene Theorien, die es in der Praxis ohnehin nie gibt. EinweitererGesichtspunkt:Die HandlungsfelderSchuleund Unterrichter- fordernalltäglich Zusammenarbeitund Kooperationmit sehr unterschiedlichen Personengruppen. Deshalbsindfürzukünftige Lehrerinnen undLehrerneben der fachlichen unddidaktischenExpertisesowie denerforderlichen Kenntnissen und Fähigkeitenaus demBereich derBildungswissenschaftenbesondere Fähigkeiten undEigenschaftenerforderlich. Dieaktuellen wissenschaftlich untermauerten Konzepte vonLernen undLehrensowie dieaufgrundgesellschaftlicher Ent- wicklungen fürdie Institution Schule gültigen Zieleund Orientierungenlassen eine ganzePalette personaler Kompetenzenals wünschenswerterscheinen, die nichtautomatisch von Lehramtsstudierenden mitgebracht odervon selbst ent- wickeltwerden. Deshalbkommt derEntwicklungund Förderungvon personalen Kompetenzen in derzweiten Phaseder Lehrerausbildung eine besondere Be- deutungzu. AlsBeispiele von Aspekten personaler undsozialerKompetenz seien hier genannt: Initiative, Zielstrebigkeit, Durchsetzungsfähigkeit, Kritikfähigkeit, Belastbarkeit,Gewissenhaftigkeit, Durchhaltevermögen, Stabilität, Selbstbe- wusstsein, Offenheit, Flexibilität, Kreativität, Innovationsbereitschaft, Füh- rungsbereitschaft und-fähigkeit, Ausdrucksvermögen. Unterstützend und besonders wirksam sind hier vor allem interaktionsfähige Ausbildungsgruppen, die in verschiedenen Konstellationen die Ausbildung im Seminar auch in anderen Zusammenhängen kennzeichnen. Darüberhinaus stärken bestimmte Ausbildungsformateden individuellen Entwicklungsprozess, der ebenso durch entsprechende inhaltliche Ausbildungsangebote unterstützt wird.Zunennen sind hier z.B. die verbindlichen BeratungeninFormver- schiedener Formate:Entwicklungs- und Perspektivgespräche insbesonderezu

12 Vgl. Jürgen Oelkers, Qualitätssicherungals Herausforderung fürdie Lehrerbildung, Vortrag anlässlich der Tagung »Innovationund KreativitätinLehrerbildung und Unterricht –Im- pulse ausEuropa«, am 26. Mai2009 im GustavStresemann Institut Bonn, S.3. 274 Barbara Utz

Beginn der Ausbildung, individuelle Beratungen mit Coaching-Methoden über den gesamten Ausbildungsprozess,verbindliche selbstgesteuerte kollegiale Praxisberatungen in festen Ausbildungsgruppen sowieAuswertungsgespräche zum Abschluss der Ausbildung.

4. Ein Blick auf die Lehrerbildung an der Universität in der Seminarperspektive –Chancen der Vernetzung

4.1. Welche Chancen der Vernetzungergeben sich auf der Grundlage der bisherigen Ausführungen aus Sicht des Seminars?

In der Lehrerbildung sind die Studierenden bzw.die Referendarinnen und Re- ferendaredie zentralen Akteure. Qualitätssicherung muss ihren Interessen und Anliegen entgegenkommen, was auch heißt, dass die Ausbildung jenseits aller Bildungsideale einfach als nützlich empfunden werden muss, denn danach be- urteilen die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer wesentlich ihre Ausbildung. Unter anderem war es deshalb eine zentrale und sinnvolle Reformder Lehrer- ausbildung, dass Lehrerausbildungsseminare seit 1997 ihre Ausbildungsver- antwortung gemeinsam mit Schulen teilen müssen. Heute würde niemand mehr aufdie Idee kommen, an dieser Konstruktion zu zweifeln; man fragtsichviel- mehr,wie es lange Jahreanders funktionieren konnte. Generell gesagt: Die Ausbildung muss zu den Anforderungen des Berufsfeldes passen und so ihr Eigenleben beschränken. Ichmöchte nichtsoweit gehen, einen vergleichbaren Schritt fürdie Verbindung zwischen Universitätund Seminar bzw.Schulen zu fordern, doch eine punktuell deutlichere Ausrichtung aufdas Berufsfeld Schule würde die Qualitätder universitären Lehrerbildung nichtnur in den Augen der Studierenden sicher verbessernhelfen. Ichwürdemir daher wünschen:weniger Abgrenzung der beiden Lernorte (inhaltlich und didaktisch), sondernmehr zumindest punktuelle Vernetzung sowieeine Erweiterung der Perspektive an beiden Lernorten –Universitätund Lehrerausbildungsseminar –bei der Ent- wicklung vonAusbildungscurricula. Als Beispiel füreinen ersten Realisie- rungsansatz ist die Bildung vonFächerarbeitsgruppen zum Praxissemester an der UniversitätBonnzunennen, in denen Fachkolleginnen und Fachkollegen ausUniversitätund Schulen gemeinsam arbeiten. Nebender Fachwissenschaftals zentralem Orientierungspunkt fürdie Ent- wicklung vonAusbildungsmodulen in der Universitätkönnten die Fachrichtli- nien der Unterrichtsfächer den Horizonterweitern–weniger in dem Sinne, dass in der Universitätausschließlich abnehmerorientiertgearbeitet werden sollte, sondern dass als ein Auswahlgesichtspunkt neben anderen auch die Fach- Praxisperspektiven 275 richtlinien der Unterrichtsfächer Orientierung bieten können und punktuell auch sollten. Die Bildungswissenschaften möchte ich dabei ausdrücklich ein- schließen. Gerade aufgrund der vielen Bezugswissenschaften, die hier eine Rolle spielen, ist die Gefahr ausmeiner Sichthöher als in den Fachwissenschaften, Ausbildungsmodule anzubieten, die fürBerufseinsteigerinnen und Berufsein- steiger zu wenig Orientierungshilfe anbieten. Hier mögen die sehr unter- schiedlichen Rahmenbedingungeneine Rolle spielen, die die Bildungswissen- schaften einerseits und die Schulpraxis andererseits prägen und damit verändern. AusbildunginSchule und Seminar unterliegtdeutlich mehr politi- schen Entscheidungenals dies in der Regel in der Wissenschaftder Fall ist –auch wenn sich der Einfluss der Politik ausmeiner Sichtinder Hochschullandschaft zurzeit verstärkt. Am LernortSeminar könnten ebenso mehr Bewusstheit und Kommunikation überdie manchmal begrenzten fach- und allgemeindidaktischen Positionen, die in der Ausbildung unter dem Einflussbildungspolitischer Setzungen themati- siertwerden sowieder Hinweis aufmögliche Alternativen, die Referendarinnen und Referendareunter Umständen an der Universitätkennengelernt haben, helfen, den Blick zu weiten und die Exemplarizitätzubetonen, mit der Semi- narausbildung nurAngebote zur didaktischen Arbeit machen kann.ImLaufe einer längeren Ausbildungstätigkeit als Seminarausbilderin und Seminaraus- bilder erfahren alle, wiestark seminardidaktische Entscheidungen vongesell- schaftlichen Veränderungen beeinflusst werden und politischen Setzungen unterliegen.

4.2. Wünsche von Seminarausbilderinnen und Seminarausbildern an die universitäre Lehrerbildung

Im Vorfeld dieser Veranstaltung habeich meine Kolleginnen und Kollegen im Seminar befragt, die heute und morgen keinen eigenen Beitrag leisten, was sie sich vonder Fachwissenschaftund der Fachdidaktik in der Universitätwün- schen, um mögliche Anknüpfungen sinnvoll gestalten und aufverlässliche Fundamente bauen zu können. Wenn Sie uns so etwas wieeine Wunschliste erlauben, dannwürdeauf einer solchen Liste aufgrund meiner bisherigen Ausführungen z.B. stehen:ein Mehr an Vernetzung,insbesondereder fachdi- daktischen mit der bildungswissenschaftlichen Perspektive sowieder fachwis- senschaftlichen mit der fachübergreifenden Perspektive, mehr Modulangebote, in denen allgemeinpädagogische und fachspezifische Kompetenzen und weniger Fachwissen erworben bzw.erweitertwerden können (z.B. Beobachtung als professionelle Kompetenz verstehen und anwenden, Erwerb und Erprobung von Methoden selbstständigenArbeitens und Beurteilens, Erwerb und Erprobung 276 Barbara Utz eines Grundlagenrepertoireszur Medienkompetenz, Wege und Modelle zur wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung und Theoriebildung,Erwerb und Erprobung eines Grundrepertoires an fachspezifischenArbeitsmethoden, Überblick zu wesentlichen Fach-Arbeitsmitteln usw.), ein verlässliches Angebot an Inhalten insbesondereinden Bildungswissenschaften, die fürdas Hand- lungsfeld Schule eine herausgehobene Bedeutung haben. Dazu gehörenz.B. Inhalte ausden Bereichen:Entwicklungstheorien, Grundlagen der pädagogi- schen Psychologie (insbesondereLern- und Motivationspsychologie, Konflikt- theorien), Diagnostik, Leistungserwerb,Leistungsmessung,Leistungsbeurtei- lung, Grundlagen der Handlungs- und Aktionsforschung,allgemeine Didaktik (Konstruktion vonLehrplänen und Curricula, didaktische Modelle, didaktische Grundprinzipien, Grundkenntnisse zu Sozial- und Arbeitsformen, Unter- richtsmethoden etc.), Schule als Institution, Lehrerleitbilder,Erziehender Un- terricht. Beidem Wunsch nach Vernetzung könnte dem inzwischen verpflichtenden Portfolio als einfachemInstrument, die individuelle Entwicklung in der Be- rufsbiographie zu dokumentieren, zu reflektieren und selbstständig in allen Phasen zu steuern, eine wesentliche Bedeutung zukommen. Entscheidend ist am Ende die Frage:Wie entstehtprofessionelle Kompetenz der Lehrkräfteund was trägt die Ausbildung in beiden Phasen dazu bei? Dazu gehört u.a. auch die Überlegung,wer fürdie Themen zuständig ist, die unverzichtbar fürprofes- sionell agierende Lehrerinnen und Lehrer und die kaum im Blick der Fachwis- senschaftsowie der Fachdidaktik sind und auch nichtausreichend in der Praxis erfahrbar werden können. Ichdenkehier an Themen wieden Zusammenhang zwischen Schulentwicklung und den präferierten Unterrichtsmethoden, Um- gang mit Evaluationsergebnissen,Zusammenhang vonBeraten und Fördern, Methoden und Ergebnisse der empirischen Bildungsforschung,Bildungsstan- dards und Leistungstests, um nureinige Beispiele zu nennen. In diesem Zu- sammenhang sei auch noch einmalandie zunehmende Bedeutung der Ent- wicklung personaler Kompetenzen erinnert. Gerade in diesem Bereich wären Angebote in der ersten Phase der Ausbildung zur Grundlageund Weiterent- wicklung nichtnur hilfreich, sondernaus meiner Perspektiveunbedingter- forderlich. Ichnenne als Beispiel hier Ausbildungsmodule zu Themen wie Kommunikation und Gesprächsführung,selbstreguliertes Lernen, Lehrerge- sundheit,Stimmbildung etc. Praxisperspektiven 277

5. Perspektiven für die Zukunft

5.1. Gesamtkonzept der Lehrerbildung

Auch wenn ich heute vor allem das seminardidaktische Konzept der vonmir vertretenen Institutionmit Hilfe einiger ausgewählter Aspekte beschrieben und erläuterthabe, so möchte ich doch abschließend noch einmal betonen, wie wesentlich ausmeiner Sichtdie unterschiedlichen Stärken der an der Lehrer- bildung beteiligten Institutionen füreine gelungene Ausbildung sind. Gerade die Differenz der Institutionen, die mit der Lehrerausbildung beauf- tragtsind, ermöglichen, unterschiedliche systemische Stärken fürdie Ausbil- dung nutzbar zu machen. In diesem Zusammenhang ist das hohe fachwissen- schaftliche Niveau in den Universitäten –das die OECD-Studien13 der letzten Jahre immer beschrieben haben –hervorzuheben, das eine unverzichtbare si- chere fachwissenschaftlicheGrundlegunginden Unterrichtsfächerngarantiert. Ebenso ist dashohe Maß an Flexibilitätder Institution Seminarzunennen, das eine individuell orientierte Ausbildung unmittelbar im zukünftigen Hand- lungsfeld prozessorientiertermöglicht. Dazwischen sind Fachdidaktik und Bildungswissenschaften angesiedelt, die wesentlich dafürsind, dass die Brücke zum Handeln in der Praxis gesehen und begangen wird.Sokönnten durch die Theorie-Praxis-Orientierung,die in Ansätzen bereits in der Auswahl vonIn- halten und Themensowie durch deren methodische Bearbeitung in Fachwis- senschaftund Fachdidaktik in der Universitätgrundgelegtwird,individuelle Qualifizierungsprozesse unter Beteiligung der Schule im ZfsLweiterentwickelt werden. Wünschenswertist also ein phasenübergreifendes Gesamtkonzept fürdie Lehrerbildung,dem verbindliche Standardsund Vereinbarungen überTheorie- Praxis-Bezüge zwischen den Phasen und Institutionen zugrundeliegen. Auf diese Weise würden Kontinuitätund Anschlussfähigkeit der beiden Ausbil- dungsphasen garantiert. Rechtlich haben wirmit dem aktuellenLehrerausbil- dungsgesetz dazu bereits eine Grundlage, die inhaltliche Gestaltung steckt je- doch ausmeiner Sichtnochinden Anfängen und brauchtAnregungen ausder Zusammenarbeit aller beteiligten Lehrerbildungsinstitutionen. Deshalb ist neben der Fachkultur eine lebendige und wertschätzende Be- gegnungs- und Austauschkultur zwischen den an der Lehrerausbildung betei-

13 Vgl. z.B.:KMK, Berichtvon OECD-Experten: Anwerbung, berufliche Entwicklungund Verbleib vonqualifizierten Lehrerinnen und Lehrern.Länderbericht: Deutschland. 2004, URL:http://www.kmk.org/presse-und-aktuelles/pm2004/anwerbung-berufliche-entwick lung-und-verbleib-von-qualifizierten-lehrerinnen-und-lehrern[14.05.2015] und Edwin Stiller,Der Vorbereitungsdienstzählt zu den Stärken des Bildungssystems!Erste Ergebnisse der OECD Lehrerstudie, in:Seminar 4(2003), S. 22f. 278 Barbara Utz ligten Institutionen ebenso wichtig. Unterstützt und gefördertwerden könnte dieser Prozess durch noch mehr Zeit fürdas Gespräch und den Austausch sowie die Beteiligung voninteressierten Kolleginnen und Kollegen ausden Schulen. Die Gelegenheit zum Austausch unter Dozentinnen und Dozenten sowieAus- bilderinnen und AusbildernanUniversitätund ZfsL, wiez.B.heute in diesem kleinen Rahmen, sehe ich als einen wichtigen Beitrag aufdiesem Weg.

5.2. Qualifizierungder Ausbilderinnen und Ausbilder

Überdie Diskussionvon curricularen Fragen der Ausbildung hinaus sollten dabei auch andere Themeninden Blickgenommen werden. Dafürmöchte ich zwei Beispiele nennen: Nebenden deutlichen institutionell bedingten Unterschieden teilen Univer- sitätund ZfsL das Problem bzw.die Herausforderung der ausreichenden Qua- lifizierung ihrer Ausbilderinnen und Ausbilder.Sowie eine gute Wissen- schaftlerin /ein guter Wissenschaftler nichtautomatisch auch eine gute Hochschullehrerin/ein guter Hochschullehrer ist, ist auch eine gute Lehrerin / ein guter Lehrer nichtdeckungsgleich mit einer qualifizierten Seminarausbil- derin /einem qualifizierten Seminarausbilder.Hier fehlen Qualifizierungs- maßnahmen in beiden Institutionen. Eine gemeinsame Orientierung und Ver- netzung in dieser Frage hätte viele Vorteile und könnte u.a. dabeihelfen, z.B. Idealisierungen–etwa durch das Primat vonTheorien oder didaktischen Prinzipien–zuverhindernbzw.die Formulierung überhöhter Qualitätskrite- rien fürguten Unterrichtzuvermeiden.Auf der Seite des ZfsLkönnte z.B. die Bedeutung des Zusammenhangs vonprofessioneller Handlungskompetenz mit empirisch unterstützter Theorie deutlicher erkanntund konsequenter im Rah- men der Ausbildung im Blick sein. Schließlich wäre die Fortbildung fürLehrerinnen und Lehrer ausden Schulen und Lehrerausbildungsseminaren eine sinnvolle gemeinsame Aufgabe, in der die unterschiedlichen Stärken der Systeme Universitätund Seminar sich im Sinne einer höheren Wirksamkeit besonders gut ergänzen würden. Sehr geehrte Damen und Herren, ich wünsche mir,dassdieser Tagung viele fruchtbare Gelegenheiten zum Austausch folgen werden. IchdankeIhnen für IhreInitiativeund Einladung und Ihr Zuhören. Praxisperspektiven 279

Literaturverzeichnis

KMK, Berichtvon OECD-Experten:Anwerbung,beruflicheEntwicklung und Verbleib von qualifizierten Lehrerinnen und Lehrern. Länderbericht: Deutschland. 2004,URL: http://www.kmk.org/presse-und-aktuelles/pm2004/anwerbung-berufliche-entwick lung-und-verbleib-von-qualifizierten-lehrerinnen-und-lehrern [14.05.2015]. Korthagen, Fred A. J.,Erstellung eines realistischen Lehrerausbildungsprogramms,in: Ders. /Jos Kessels/Bob Koster /Bram Lagerwerf/Theo Wubbels (Hg.), Schulwirk- lichkeitund Lehrerausbildung (Staatliches Studienseminar fürdie Lehrämter an Hamburger Schulen), übers. v. Wolfgang Meyer,Hamburg 2002,S.74–94. Kunter,Mareike/Baumert, Jürgen /Blum, Werner (Hg.), Professionelle Kompetenzvon Lehrkräften. Ergebnissedes Forschungsprogramms COACTIV,Münster 2011. Mühlhausen, Ulf, Gute Sichtauf Lernen?Anmerkungen zu ›Lernen sichtbar machen‹ von John Hattie, in:Seminar 2(2013), S. 169–174. Oelkers, Jürgen, Qualitätssicherung als Herausforderung fürdie Lehrerbildung,Vortrag anlässlich der Tagung »Innovation und KreativitätinLehrerbildung und Unterricht– Impulse ausEuropa«, am 26. Mai 2009 im GustavStresemann Institut Bonn (persön- liche Notizen). Schmid, Christian, Lernen und Transfer.Kritikder didaktischen Steuerung, Bern 2006. Steffens, Ulrich, Visible Learning –Betrachtungenzur Publikation vonJohn Hattie, in: Bildung bewegt13(2011), S. 25–27. Stiller,Edwin, Der Vorbereitungsdienst zählt zu den Stärken des Bildungssystems!Erste Ergebnisse der OECD Lehrerstudie, in:Seminar 4(2003), S. 22f. Terhart, Ewald, HatJohn Hattie tatsächlich den Heiligen Gral der Schul- und Unter- richtsforschung gefunden?Eine Auseinandersetzung mit »Visible Learning«, in:Ed- ward Keiner u.a. (Hg.), Metamorphosen der Bildung: Historie–Empirie –Theorie, Bad Heilbrunn 2011,S.277–293.

Vera Wethkamp,Thomas Hildebrandund Ulrich Blum

Lehramtsstudium Physik an der Universität Bonn. Praxisorientierteund fachdidaktische Begleitung vom Lernenden zum Lehrenden

1. Einleitung

»Physik ist doof«und »Nur wenige Physiklehrer sind gut« –dies sind Parolen, die eine häufig auftretende Schülerperspektivetreffend beschreiben. Das In- teresse vonJugendlichen am Physikunterrichtnimmt mit zunehmendem Alter stetig ab.Während noch fast die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler in der Mittelstufe im Falle einer Wahlmöglichkeit sich füreinen naturwissenschaftlich- technischen Wahlpflichtbereich entscheiden, reduziertsich der Anteil von Leistungskursteilnehmerinnen und -teilnehmern im Fach Physik auf15Prozent der Schülerschaft.1 Dieses beobachtbar geringe Interesse ist kein typisch deut- sches Phänomen, sondernlässt sich in nahezu allen technischhochentwickelten Industrienationen beobachten. Die Attraktivitätnaturwissenschaftlich-techni- scher Berufe und Studiengänge nimmt mit dem Modernisierungsbedarfeines Landes zu2 und hängtwenig vonder Bedeutung ab,die Schülerinnen und Schüler dem Fach insgesamtbeimessen (»important, but not for me«).3 Aus- gehend vondiesen allgemeinen Erfahrungen hatte die Fachgruppe Physik/ Astronomie die Aufgabe,ein Curriculum zu konzipieren, das es seit dem Win- tersemester 2011/12Lehramtsstudierenden an der UniversitätBonn ermöglicht, im Rahmen eines modularisierten Studiums in einem grundständigen, poly- valenten Bachelorstudiengang und einem konsekutivenMasterstudiengang (Master of Education) dasFach Physik zu studieren. Insbesonderemusste bei

1Vgl.Deutsche Physikalische Gesellschaft, DPG-Studiezur Unterrichtsversorgung im Fach Physik und zum Wahlverhalten der Schülerinnen und Schüler im Hinblick aufdas Fach Physik, 2014, S. 33–44. 2Vgl.Berlin-Brandenburgische Akademieder Wissenschaften,Stellungnahmen und Emp- fehlungen zur MINT-Bildung in Deutschland aufder Basis einer europäischen Vergleichs- studie, Berlin 2012, S. 19. 3Anders Jidesjö /MagnusOscarsson/Karl-Göran Karlsson /Helge Strömdahl, Science for all or science for some:What Swedish students wanttolearnabout in secondaryscience and technologyand their opinions on science lessons, Nordic Studies in Science Education 5, 2 (2009), S. 213–229. 282 Vera Wethkamp, Thomas Hildebrand und Ulrich Blum dieser Neukonzeptiondes Lehramtsstudiums das Verhältnis der Fachwissen- schaftund Fachdidaktik zueinander fürden StandortBonndefiniertwerden. Ebenso wieder naturwissenschaftliche Schulunterrichteinerseits dem Ziel der scientific literacy –was mit Wissenschafts- und Technikmündigkeit über- setzt werden könnte –und andererseits der Nachwuchsförderung fürnatur- wissenschaftlich-technische Berufe und Studiengänge dient,4 verfolgtdie uni- versitäre Bildung einerseits das Ziel, junge Menschen aufeine berufliche Perspektive jenseits der Phase der akademischen Lehrerbildung vorzubereiten beigleichzeitiger forschungsbasierter und forschungsorientierter Lehre, die den selbstdenkenden und mit Urteils- und Sachkompetenz ausgestatteten Menschen zum Ziel hat.5 Insofernsind die Lehramtsstudierenden dieser doppelten Ziel- setzung besonders verpflichtet, da sie diese einerseitswährend ihres Studiums direkt erfahren und andererseits in ihrem zukünftigen Beruftäglich anstreben müssen. Im Falle der Lehrerbildung führtdie berufliche Perspektive der Stu- dierenden zudem zwangsläufig zu einer drastischen Einschränkung der Freiheit der universitärenLehre, da der (nahezu)einzig mögliche Arbeitgeber einerseits mit den ländergemeinsamen Anforderungen6 und andererseits mit den Lan- desgesetzen und Verordnungen zur Lehrerbildung sehr rigide Vorgaben zur Ausgestaltung der Studiengänge macht. Obschon die Deutsche Physikalische Gesellschaftein »Lehramtsstudium sui generis«7 empfiehlt, finden sich deutschlandweit doch unterschiedlich ausge- prägteFormen der Lehrerbildung.Während z.B. die TU München sämtliche Lehramtsstudiengänge in eine »School of Education« –eine FakultätfürLeh- rerbildung –zusammenfasst und dabei dann auch Zugriff aufdie Personalres- sourcen der Fakultäten fürdas fachwissenschaftliche Studium hat, findet an der UniversitätzuKöln beispielsweisedas fachwissenschaftliche Studium jeweils in der Verantwortung der Fächer statt, während die fachdidaktische Qualifizierung davonlosgelöst in der Fachgruppe »Didaktik der Naturwissenschaften« der Naturwissenschaftlichen Fakultätgeschieht. Dies bietet der Fachdidaktik ei- nerseits eine hohe Eigenständigkeit und Bedeutung,die beider Gestaltungvon Studiengängen und universitärenStrukturen fürdie Studierenden gewinn-

4Vgl.Berlin-Brandenburgische Akademieder Wissenschaften,Stellungnahmen und Emp- fehlungen, S. 9. 5Vgl.Friedrich-Schiller-UniversitätJena (Hg.), Das Spezifikum universitärerBildung,2007, S. 13–18. 6Vgl.Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepu- blik Deutschland, Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen fürdie Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung, 2008, online unter URL:http://www.kmk.org/ fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2008/2008_10_16-Fachprofile-Lehrerbildung. pdf [13.01.2016]. 7Deutsche Physikalische Gesellschaft, Zur fachlichen und fachdidaktischen Ausbildungfürdas Lehramt Physik, Bad Honnef 2014, S. 23–25. Lehramtsstudium Physik an der Universität Bonn 283 bringend genutzt werden kann, erschwertabergleichzeitig die Vernetzung von fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Lehre. Im Gegensatzdazu hat die FU Berlin ein eigenständiges Lehramtsstudium Physik entworfen, beidem in den ersten Fachsemestern sowohl die fachwissenschaftlichen als auch die fachdidaktischen Module vonden Modulen des fachwissenschaftlichen Bache- lorstudiengangs verschieden sind, jedoch sowohl vonFachwissenschaftlernals auch vonFachdidaktikerndurchgeführtwerden. Erst in höheren Semestern belegenalle Physikstudierende die gleichen fachwissenschaftlichen Module. Für dieses Modell bedarfesallerdings einer ausreichenden Anzahl Studierender,um einen solchen quasi eigenständigen Studiengang kapazitärbewältigen zu kön- nen. An der UniversitätBonnwurden die Vorteile der unterschiedlichen Systeme mit Blick aufdie standortspezifischen Rahmenbedingungen adaptiertund die Lehrerausbildung als eine praxisorientierte und fachdidaktische Begleitung vom Lernenden zum Lehrenden konzipiert. Zentral hierfürist eine enge Verknüp- fung der Fachwissenschaftmit der Fachdidaktik. Bereits Shulman zeigte die zwingende Verbindung vonFachwissen (»contentknowledge«) und fachdi- daktischem Wissen (»pedagogical contentknowledge«) fürdie Lehrerbildung und zeigte auf, dass die Vernachlässigung des einen zu Gunsten des anderen nichtzielführend sei.8 Zudem sei in der Lehrerbildung die Arbeit mit Fallbei- spielen (»case knowledge«) hilfreich, um den angehenden Lehrerinnenund Lehrernein überreine Kenntnisse hinausreichendes, tieferes Verständnis der Fachwissenschaftund der Fachdidaktik zu vermitteln, das ihnen die eigen- ständige Bearbeitung komplexer Sachverhalte schulischer Realitätermöglicht (»strategic knowledge«).9 Untersuchungen zur Wirksamkeit universitärerLehrerbildung in Physik und zu wissensbasierten Kompetenzprofilen vonPhysiklehrkräften gibt es in Deutschland erst seit wenigen Jahren und nurinrechtgeringem Umfang.Erste Studien bestätigen jedoch Shulmans Aussagen,dass in der Lehrerbildung weder die Fachwissenschaftnochdie Fachdidaktik vernachlässigtwerden darf.10 Al- lerdings sollte daraus nichtder Schluss gezogen werden, dass vonallem einfach »mehr« unterrichtet werden müsse. Vielmehr ist eine Kombination der beiden Bereiche hin zu »schulbezogenem Fachwissen« erforderlich, damit einerseits vorhandenes Wissen vernetzt und andererseits unterschiedliche Zugänge zu

8Lee S. Shulman, Those WhoUnderstand:Knowledge GrowthinTeaching,in: Educational Researcher 15, 2(1986), S. 4–14. 9Ebd. 10 Vgl. Yvonne Gramzow/Josef Riese /Peter Reinhold, WissensbasierteKompetenzprofile angehender Physiklehrkräfte, in:Physik und Didaktik in Schule und Hochschule 10, 1 (2011), S. 10–21. 284 Vera Wethkamp, Thomas Hildebrand und Ulrich Blum verschiedenen Themengebieten aufgezeigtwerden.11 Diese Überlegungen wur- den konsequentineinem Konzept zur Physiklehrerbildung an der Universität Bonn umgesetzt, dasimFolgenden vorgestelltwird.

2. Praxisorientierte Kombination von Fachwissenschaft und Fachdidaktik

Fürdie Studiengänge im Lehramtsfach Physik mussten einige fachwissen- schaftliche sowiealle fachdidaktischen Module neu konzipiertwerden. Die Fachgruppe Physik/Astronomie hat in Abstimmung mit Vertreternder Uni- versitätund des Zentrums fürschulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL) ein Studienkonzept entwickelt, welches vorsieht, dass die Lehramtsstudierenden einerseits die Module der fachwissenschaftlichen Bachelor-und Masterstu- diengänge belegen und andererseits eigens fürdas Lehramtsstudium angebo- tene fachwissenschaftliche Module besuchen. Zudem bieten teilabgeordnete Lehrerinnen und Lehrer sowohl im Bachelor-als auch im Masterstudiengang fachdidaktische Module mit einem hohen Maß an Praxisorientierung an. Die Teilabordnung gewährleistet dabei einen kontinuierlichen Bezug zur aktuellen Schulwirklichkeit. Gleichzeitig wird durch den Aufbaueiner Arbeitsgruppe Fachdidaktik Physik,der neben den abgeordneten Lehrerinnen und Lehrern und zukünftigen Verfassernund Verfasserinnen vonBachelor-und Masterarbeiten auch weiteres wissenschaftliches Personal der Fachgruppe Physik/Astronomie angehört und die sehr eng mit den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterndes zdi-Schülerlabors Physikwerkstatt Rheinland zusammen- arbeitet, eine enge Anbindung der Lehrenden ausder Schule an die Fachgruppe Physik/Astronomie gewährleistet und eine ForschungsperspektiveimRahmen der Fachdidaktik Physik eröffnet. Die Entwicklung der fachdidaktischen Module hat sich an den drei Themen fachdidaktische Inhalte, Methodik und physikalische Inhalte orientiertund dabei fürdie beiden Studiengänge jeweils unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt.

2.1. Schwerpunktsetzung Fachdidaktische Inhalte

Mit der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung beiden fachdidaktischen In- halten im Bachelor –und im Masterstudium wird berücksichtigt,dass die Lehramtsstudierenden in beiden Studiengängen unterschiedliche Vorausset-

11 Josef Riese, Empirische Erkenntnisse zur Wirksamkeit universitärer Lehrerbildung, in: Physik und Didaktik in Schule und Hochschule 9, 1(2010), S. 25–33. Lehramtsstudium Physik an der Universität Bonn 285 zungen und Vorkenntnisse haben. Im Bachelorstudiengang gehtesvorrangig um das eigene forschende Lernen im Umgang mit physikalischen und fachdi- daktischen Inhalten, während im Masterstudiengang mit dem Praxissemester vor allem das Lernen der Schülerinnen und Schüler und das eigene Lehren in den Blick genommen werden. Dementsprechend verschieben sich die Schwerpunkte beiden fachdidaktischen Inhalten wieinder Folge beschrieben. Im Bachelorstudiengang werden überwiegend fachdidaktische Themenbe- handelt, die einen direkten Bezug zur unterrichtlichen ›Vermittlung‹ physika- lischer Inhalte haben. Dabei stehen Themen wieElementarisierung physikali- scher Inhalte, Analogie- und Modellbildung in der Physik, physikalische Methoden wieExperimentieren und Theoriebildung,Kontextorientierung, Medien im Physikunterrichtund allgemeine unterrichtliche Methoden im Vordergrund. Dies geschiehtimSinne der Verknüpfung vonFachwissenschaft und Fachdidaktik beider Entwicklung schulbezogenen Fachwissens anhand von Fallstudien, die sich fachwissenschaftlich an Themen der parallel stattfindenden Fachvorlesungenorientieren. Zentrales Thema im zweiten Fachsemester sind z.B. die Maxwellschen Gleichungen,die die Ausbreitung elektromagnetischer Wellen erklärenund die Grundlage zur physikalischen Beschreibung der Phä- nomene der Elektrodynamik bilden. Wiedieses physikalisch bedeutsame Thema in seiner universitären Abstraktheitauf schulische Anwendung bezogen und ausfachdidaktischer Perspektivezuschulbezogenem Fachwissen im fach- didaktischen Begleitseminar aufbereitet wird,soll in Abschnitt 4.1 detailliert dargestellt werden. Im Masterstudiengang dominieren hingegen Themen,die mit der Auswahl physikalischer Inhalte zu tun haben. Es wird neben der gesellschaftlichen vor allem die pädagogische Dimension vonPhysikunterrichtbetrachtet. Im Zen- trumstehen daher vorwiegend übergeordnete fachdidaktische Themen wie Gründe fürden Physikunterricht, Ziele des Physikunterrichts, Lernen von Physik, Schülervorstellungenund affektiveAspekte sowieLerndiagnose und Leistungsbewertung im Unterricht.

2.2. Schwerpunktsetzung Methodik

Beider methodischen Umsetzung der fachdidaktischen Inhalte wird ebenfalls zwischen Bachelorstudiengang und Masterstudiengang unterschieden. Im Ba- chelorstudiengang,indem die Studierenden eher die Rolle des Lernenden an- nehmen, werden sie in Seminaren noch mit enger Betreuung unterrichtet. Die Bachelorseminare haben demnach eher übungsähnlichenCharakter,wobei in diesen Veranstaltungen die Auswahl der Themen und Methoden vonden Do- zenten ausgeht. Im Masterstudiengang hingegen wird kontinuierlich mehr Ei- 286 Vera Wethkamp, Thomas Hildebrand und Ulrich Blum genständigkeit vonden Studierenden verlangt. Durch die angeleitete Themen- findung sowiedie eigenständige Vorbereitung und Durchführung ihrer Semi- narsitzungenbeginnen sie, selbstständig zu unterrichten und schlüpfen damit schon situativindie Rolle des Lehrenden.

2.3. Schwerpunktsetzung Physikalische Inhalte

Beiden physikalischen Inhalten liegtder Schwerpunkt im Bachelor-und im Masterstudiengang aufder Praxisorientierung.Die fachdidaktischen Inhalte werden immer an physikalische Beispiele gekoppelt, die fürden Physikunter- richtinder Schule relevantsind. Parallel zur Vorlesung Physik 3(Optik und Wellenmechanik)wird im fachdidaktischen Begleitseminar z.B. der fachdi- daktische Inhalt»Modellbildung durch Schülerexperimente« anhand der fach- wissenschaftlichen Themen Strahlenoptik und optische Instrumente wieFern- rohr,Spiegel oder Fotoapparat behandelt. Die Strahlenoptik bildet in der Sekundarstufe Iinder Regel den ersten Kontakt der Schülerinnen und Schüler mit systematischem Physikunterrichtund bietet auszahlreichen Gründen viele Möglichkeiten fürden sinnvollen Einsatz vonSchülerexperimenten. In der Vorlesung Physik 3stehtdie Strahlenoptik ebenfalls am Beginn, erreichtjedoch einen weit größeren Abstraktions- und Mathematisierungsgrad, als dies in der Schule der Fall ist. Die Kombination mit dem fachdidaktischen Inhalt »Mo- dellbildung durch Schülerexperimente« bietet erneut ein treffendes Fallbeispiel zur Entwicklung schulbezogenen Fachwissens. Hierbei muss grundsätzlich darauf geachtet werden, dass die Studierenden schon Kenntnisse zu den physikalischen Themenhaben, die als Beispiele aus- gewählt werden. Das wird z.B. im Bachelorstudiengang dadurch garantiert, dass die fachdidaktischen Begleitseminare parallel zu einer Fachvorlesung stattfin- den, in der die im Fachdidaktikseminar verwendeten Themenbeispiele fach- wissenschaftlich vertieftbehandelt werden. Die Tabelle 1gibt einen Überblick überdie Veranstaltungen und Angebote, die im fachdidaktischen Bereich fürdie Lehramtsstudierenden im Fach Physik gemachtwerden.

Bachelorstudiengang Fachdidaktisches Begleit- Fachdidaktisches Begleit- Fachdidaktisches Begleitse- seminar zur Fachvorlesung seminar zur Fachvorlesung minar zur Fachvorlesung Physik II –Elektromagne- Physik III –Optik und Physik IV –Atome, Mole- tismus Wellenmechanik küle, Kondensierte Materie Bachelorarbeit mit fachdidaktischem Schwerpunkt Lehramtsstudium Physik an der Universität Bonn 287

(Fortsetzung) Masterstudiengang Fachdidaktisches Seminar Praxissemester mit Experimente im Physikun- Vorbereitungsseminar Begleitseminar terricht Masterarbeit mit fachdidaktischem Schwerpunkt Tabelle 1: Veranstaltungen und Angebote ausder Fachdidaktik Physik an der Universität Bonn

WieTabelle 1verdeutlicht, gibt es neben den Seminaren auch das Angebot, Bachelorarbeiten und zukünftigauch Masterarbeiten in der FachdidaktikPhy- sik anzufertigen. Studierende, die sich fürdie fachdidaktische Forschung in- teressieren, können diese Angebote annehmen. Alternativbestehtallerdings auch die Möglichkeit, ein fachwissenschaftliches Bachelor-oder Masterar- beitsprojekt durchzuführen. Eine nähere Erläuterung der Umsetzung der fachdidaktischen Studienanteile findet sich in den folgenden drei Abschnitten. In Abschnitt3 wird das zdi- Schülerlabor Physikwerkstatt Rheinland vorgestellt.12 An diesem Ortfindet fachdidaktisches Studium im unmittelbaren Praxisbezug statt. Nebender Be- reitstellung vonRäumen und Material ermöglichtdiese Einrichtung auch die Begegnung vonLehramtsstudierenden mit Schülerinnen und Schülern. Die Begleitseminare im Bachelorstudiengang werden im Abschnitt 4präsentiert. Diese Seminare wurden zum gegenwärtigen Zeitpunktteilweise schon mehrfach durchgeführt. Konzeptionelle Betrachtungen und Beispiele zu den Seminaren im Masterstudiengang befinden sich in Abschnitt5.Ihrekonkrete Umsetzung begann mit dem Wintersemester 2014/2015.

3. Das zdi-Schülerlabor Physikwerkstatt Rheinland

Fürden Lehramtsstudiengang Physik ist es ausinhaltlichen und auch organi- satorischenGründen vongroßem Vorteil, dass die UniversitätBonninder Fachgruppe Physik/Astronomie ein Schülerlabor hat:das zdi-Schülerlabor Physikwerkstatt Rheinland. Das zdi bezeichnet »eine Gemeinschaftsoffensive zur Förderungdes naturwissenschaftlichen-technischen Nachwuchses in Nordrhein-Westfalen.«13 Es handelt sich um ein Netzwerk, in dem sich haupt- sächlich Schulen, Forschungseinrichtungen, Universitäten, aber auch Unter- nehmen zusammengeschlossen habenund das Ziel verfolgen, Kinder und Ju-

12 Das Kürzel »zdi« stehtfür»Zukunft durch Innovation«. 13 Zit. nach der Selbstpräsentation vonzdi, unter URL:http://www.zdi-portal.de/netzwerk/ das-ist-zdi/ [27.10.2014]. 288 Vera Wethkamp, Thomas Hildebrand und Ulrich Blum gendliche in den sogenannten MINT-Fächern(Mathematik, Informatik, Na- turwissenschaften, Technik) überden Schulalltag hinaus zu fördernund zu fordern, diese Fächer fürsie interessanter zu gestalten und damit mehr Ju- gendliche fürein Studium im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich zu gewinnen. Das zdi-Schülerlabor Physikwerkstatt Rheinland ist eines von24zdi-Schü- lerlaboren in Nordrhein-Westfalen. Als außerschulischer Lernortermöglichtes einzelnen Schulklassen oder Projektkursen, einen Einblick in die naturwissen- schaftliche Forschungsarbeit an der Universitätzuerhalten. Auseinem breiten Angebot an Experimenten, Möglichkeiten zu Laborbesichtigungen und Vorle- sungsbesuchenkannfüreine Besuchergruppe ein individuell gestaltetes Pro- gramm »zur Unterstützung des Unterrichts«14 zusammengestelltwerden. Schülerinnen und Schüler haben dabei die Möglichkeit, sichimBeisein von Lehrenden der Universitätmit bestimmten Themen und speziell fürsie aufbe- reitetenExperimenten auseinanderzusetzen und so überden Unterrichthinaus mit dem Fach Physik in Berührung zu kommen. Da die Physikwerkstatt Rheinland einen wichtigen Verknüpfungspunkt zwischen Universitätund Schule darstellt, bietetessich an, sie intensiv in die Lehrerbildung einzubeziehen.Sokönnen die Seminare zur FachdidaktikPhysik in den Räumen des Schülerlabors stattfinden und die Sammlung der Experi- mente, Materialienund Geräte der Physikwerkstatt vonden Lehramtskandida- ten genutzt werden. Darüberhinaus lernen die Studierenden die Programme und Angebote der PhysikwerkstattRheinland kennen. Das Physikalische In- stitut der UniversitätBonnist z.B. am Netzwerk Teilchenweltbeteiligt, einem Projekt mehrerer deutscher Forschungsinstitute und des CERN mit dem Ziel, das Wissen über»dieWelt der kleinsten Teilchenund die großen Rätsel des Universums […] an Lehrkräfte, Jugendliche und Projektleiter zu vermitteln.«15 Die Studierenden führen als Lernende die Programme durch, wiez.B.die Masterclasses des Netzwerks Teilchenwelt, mit dem Ziel in einer späteren Phase ihres Studiums Vermittler dieser Programmesein zu können.16 In der Physikwerkstatt habendie Studierenden außerdem die Möglichkeit, Forschungsprojekte mit fachdidaktischem Schwerpunkt als Bachelor-und Masterarbeiten oder Studienprojekte im Praxissemesterdurchzuführen. Derzeit [Stand 2014] habenz.B.zwei Studentinnen ihreBachelorarbeiten in der Fach- didaktik Physik geschrieben. Sie haben darinExperimente fürSchülergruppen aufbereitet, Lerneinheiten dazu konzipiertund durchgeführt. Diese Lernein-

14 Zit. nach URL:http://www.schuelerlabor.uni-bonn.de/lehrer [27.10.2014]. 15 Zit. nach URL:http://www.teilchenwelt.de/das-projekt/unsere-ziele [27.10.2014]. 16 Vgl. UtaBilow/Konrad Jende /Michael Kobel/Gesche Pospiech, Das Konzept »Masterclass« –Schüler beschäftigen sich mit dem LHC, in:Praxis der Naturwissenschaften –Physik in der Schule 2/60 (2011), S. 22–28. Lehramtsstudium Physik an der Universität Bonn 289 heiten haben sie anschließend unter fachdidaktischen Aspekten evaluiert(z. B. durch die Untersuchung vonSchülervorstellungen) sowieihreErgebnisse aus- gewertet und reflektiert.17 Die Physikwerkstatt Rheinland ist somit fürden Bachelorstudiengang bereits ein unverzichtbarer Baustein im Lehramtsstudium Physik. Eine Weiterent- wicklung der Sammlungsausstattung, insbesonderemit Blick aufden Physik- unterrichtinSchulen, ist geplantund wird den Wert dieser Einrichtung fürdas Lehramtsstudium Physik weiter steigern.

4. Fachdidaktische Begleitseminare im Bachelorstudiengang

Im Bachelorstudiengang belegen die Lehramtsstudierenden physikalische Fachvorlesungen, deren Inhalte in Übungen vertieftwerden. Ergänzend werden zu drei dieser Experimentalphysikvorlesungen vomzweiten bis vierten Fach- semester fachdidaktische Begleitseminare belegt, in denen Beispiele ausdiesen Fachvorlesungenaufgegriffen werden, um an ihnen wichtige fachdidaktische Aspekte fürden Physikunterrichtzuerarbeiten und zu veranschaulichen. Damit bieten die fachdidaktischen Begleitseminare eine passende fachdi- daktische Ergänzung zu den bereits frühimStudium vorgesehenen Praxisele- menten und helfen den Studierenden auch, in fachdidaktischer Perspektive eine in den Praxiselementen verankerte Selbstreflexion vorzunehmen. Zugleich fol- gen diese Begleitseminare den Forderungender Deutschen Physikalischen Ge- sellschaftnach einem »Lehramtsstudium sui generis«, um den eigenen Ziel- setzungen und Anforderungen eines solchen Studiums gerechtzuwerden.18 PassendeBeispiele ausden Fachvorlesungen zu finden, die auch fürden Physikunterrichtinder Schule relevantsind, ist im Fach Physik möglich und auch sinnvoll, da sich die Themengebiete im Sinne des Spiralcurriculums von der Sekundarstufe I überdie Oberstufe des Gymnasiumsbis hin zu den An- fängervorlesungenander Universitätkontinuierlich vertiefendwiederholen. So stimmen z.B. die im Kernlehrplan Physik in NRWfürdie Jahrgangsstufe 7/9 (Gymnasium) benannten Inhaltsfelder und fachlichen Kontexte Optik, Elek-

17 Daria Benden, Aufbauvon Experimenten zum Thema geladene Teilchen in elektrischen und magnetischen Feldernfürden Einsatz im zdi-SchülerlaborPhysikwerkstatt Rheinland, Bachelorarbeit, UniversitätBonn 2014 (unveröffentlicht), S. 23–32,Lisa Brokemper, Das Röntgengerät»LD 554 81«: Aufbauvon Experimenten zum Thema Röntgenstrahlungfürden Einsatz im zdi-SchülerlaborPhysikwerkstatt Rheinland, Bachelorarbeit, UniversitätBonn 2014 (unveröffentlicht), S. 38–49. 18 Deutsche Physikalische Gesellschaft, Zur fachlichen und fachdidaktischen Ausbildung für das Lehramt Physik, Bad Honnef 2014, S. 23–25. 290 Vera Wethkamp, Thomas Hildebrand und Ulrich Blum trizitätslehre,Mechanik und Kernphysik19 mit den Teilbereichen der Physik überein, die in den Anfängervorlesungen im Bachelorstudiengang fürLehr- amtsstudentinnen und -studenten »Mechanik, Wärmelehre«, »Elektromagne- tismus«, »Optik und Wellenmechanik«,»Atome, Moleküle, Kondensierte Ma- terie« und »Kerne und Teilchen« behandelt werden.Natürlich nimmt der Grad der Elementarisierung der Inhalte vonder Schule bis zur Universitätabund der Grad der Mathematisierung stark zu. Viele der Inhalte werden aber in den verschiedenen Bildungsstufen immer wieder aufgegriffen. Damit ergeben sich die physikalischen Themen oder Beispiele, die im Be- gleitseminar behandelt werden sollen, sehr natürlich ausden passenden Fach- vorlesungen. Sie werden so gewählt, dass möglichst viele wichtige fachdidakti- sche Fragestellungen an ihnen erarbeitet werden können. Der Schwerpunkt der fachdidaktischen Inhalte liegtimBachelorstudiengang eher im Bereich der Elementarisierung,der physikalischen Methoden, der Unterrichtsmethoden, der Methoden-Werkzeuge und der Medien im Physikunterricht. Beider me- thodischen Umsetzung der Seminare wird ein Vorschlag vonJosef Leisen auf- gegriffen: Er regt in seinem Aufsatz »Zur Gestaltung des Fachdidaktikseminars« an, auch in Seminaren Lehr-Lern-Modelle des Physikunterrichts zu Grunde zu legen, jedoch »unter den Bedingungen der Erwachsenenpädagogik. […] Die Studierenden setzen sich mit fachdidaktischen Fragestellungen und Konzepten auseinander und zwar an Schülermaterial und fachdidaktischen Materialien mit Methoden wiesie auch im Fachunterrichteingesetztwerden.«20 Im Folgenden wird an drei Beispielseminarsitzungen dasZusammenspiel von fachdidaktischen Inhalten und physikalischen Beispielen ausder Schule be- schrieben. Die Tabelle 2gibt einen Überblick zu den drei Beispielen.

Beispiel Physikalischer Fachdidaktischer Methodischer Inhalt Schwerpunkt Schwerpunkt 1Maxwell-Gleichungen Elementarisierung SozialesLernen, Strukturle- durch verschiedene getechnik Darstellungsformen 2Fadenstrahlrohr Ziele vonExperi- Demonstrationsexperiment menten im Physik- mit Gruppenarbeit zu den unterricht Zielen des Experiments

19 Ministerium fürSchule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kern- lehrplan Physik, SekundarstufeI,Gymnasium, Frechen 2008, S. 35, zit. nach URL:http:// www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplkaene/upload/laehrplaene_download/gymnasium_ g8/gym8_physik.pdf [26.02.2015]. 20 Josef Leisen, Zur Gestaltung des Fachdidaktikseminars, zit. nach URL:http://www.jose fleisen.de/seminar.php, Didaktik des Fachdidaktikseminars (PDF-Dokument) [10.09.2015]. Lehramtsstudium Physik an der Universität Bonn 291

(Fortsetzung) BeispielPhysikalischer Fachdidaktischer Methodischer Inhalt Schwerpunkt Schwerpunkt 3Aufbauvon Atomkernen, Methoden zur Glie- Gruppenarbeit zu unter- radioaktiveStrahlung derung des Unter- schiedlichen physikalischen und radioaktiver Zerfall richts zielgerichtet Inhalten in Sek. I einsetzen Tabelle 2: Überblick zu physikalischen, fachdidaktischen und methodischen Schwer- punktsetzungen dreier Beispielseminare ausdem Bonner Lehramts-Bachelorstudiengang Physik

4.1. Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion am Beispiel der Maxwell-Gleichungen

Die vier Maxwell-Gleichungen sind die fundamentalen Gleichungen, um die Erzeugung und Ausbreitung elektromagnetischer Felder zu beschreiben, die in fast allen Bereichen der Physik eine wichtige Rolle spielen:Sosind z.B. Radio- und Mikrowellen, das Lichtund auch höherenergetischeRöntgen- und Gam- mastrahlen elektromagnetische Wellen.Tabelle 3gibt die Maxwell-Gleichungen in der Form partiellerDifferentialgleichungen an.

1 div ~E ¼ div ~B ¼ 0 e 1. Maxwell-Gleichung 0 2. Maxwell-Gleichung @~B @~E rot ~E ¼ À rot ~B ¼ m ~j þ m e @t 0 0 0 @t 3. Maxwell-Gleichung 4. Maxwell-Gleichung Tabelle 3: Die vier Maxwell-Gleichungen FürSchülerinnen und Schüler wieauch fürStudierendeimBachelorstudiengang sind die Gleichungen in der Form,wie sie oben angegeben werden, kein einfa- cher Lerngegenstand, da sie die nötigen mathematischen Werkzeuge noch nicht kennengelernt haben. Das fachdidaktische Thema Elementarisierung spielt hier also eine große Rolle. Die Maxwell-Gleichungen sollten unter den vonKircher u.a. vorge- schlagenendrei Kriterien der didaktischen Rekonstruktion»fachgerecht, schülergerecht, zielgerecht«21 vereinfachtwerden. Gerade um dem Lernenden gerechtzuwerden, wird vonKircher u.a. Bruners lernpsychologisches Grundmuster fürden Physikunterrichtgenannt: Ein phy- sikalischer Inhalt soll zuerst »enaktiv«, d.h. experimentell handelnd, dann

21 Ernst Kircher /Raimund Girwidz /Peter Häußler,Physikdidaktik –Eine Einführung in Theorie und Praxis, Braunschweig /Wiesbaden 2000, S. 101. 292 Vera Wethkamp, Thomas Hildebrand und Ulrich Blum

»ikonisch«, d.h. bildhaft, und zuletzt »symbolisch«, d.h. durch eine sprachliche –auch mathematische –Darstellung erarbeitet werden.22 Die Seminarsitzung zur Elementarisierung der Maxwell-Gleichungen beginnt mit einem Dozentenvortrag zum Thema Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion. Daran anschließend beschäftigen sich die Studentinnen und Studenten in der Erarbeitungsphase eigenständig mit den Maxwell-Gleichun- gen. Sie erhalten dafürauf 12 nichtsortierten Karteikarten die vier Maxwell- Gleichungeninverschiedenen Darstellungsformen:Erstens die schon oben angegebene mathematischeDarstellung, zweitens vier Sätze zu den Maxwell- Gleichungen, die diese in sprachlicher Form angeben (siehe Tabelle 4).

1. Elektrische Ladungen sind Quellen 2. Magnetische Felder haben keine Quel- eines elektrischen Feldes. len;esgibt keine magnetischen Mono- pole. 3. Zeitlich veränderlicheMagnetfelder 4. Elektrische Ströme und zeitlich verän- sind vonelektrischen Feldernum- derliche elektrische Felder sind von schlossen. magnetischen Feldern umschlossen. Tabelle 4: Die vier Maxwell-Gleichungen in sprachlicher Form Drittenserhalten die Studierenden vier Fotos vonExperimenten zu den Glei- chungen, die diese bildhaftdarstellen (siehe Tabelle 5). Die Verwendung dieser Bilder mag gleichzeitig andeuten, wieein enaktiver Zugang zu den Maxwell- Gleichungeninder Schule möglich ist. Diese 12 Karteikarten können durch 4weitere Karten ergänzt werden, die die Maxwell-Gleichungen in integraler Form beinhalten. Der Arbeitsauftrag an die Studierenden ist es nun, diese 12 (oder 16) Kar- teikarten zu sortieren und den einzelnenMaxwell-Gleichungen zuzuordnen.Im Anschluss an diese Erarbeitungsphase werden die Vor- und Nachteile der un- terschiedlichen Darstellungsformen mit den Studierenden diskutiert. Dabei wird der Fokus aufAspekte der Elementarisierung gelegt. Ein Transfer der Elementarisierung physikalischer Inhalte aufandereBei- spiele findetspäter in anderen Seminarsitzungen statt, in der z.B. die Analo- giebildung beim elektrischen Schwingkreis und beim mechanischen Feder- pendel betrachtet wird.

22 Vgl. Jerome S. Bruner,Towards the theoryofinstruction,Cambridge 1966, S. 10f. Lehramtsstudium Physik an der Universität Bonn 293

1. Maxwell-Gleichung 2. Maxwell-Gleichung

3. Maxwell-Gleichung 4. Maxwell-Gleichung Tabelle 5: Experimente und Modelle zu den vier Maxwell-Gleichungen:1.Maxwell-Glei- chung:Ladungsmessung einer Hohlkugel mit Cavendish-Halbkugeln;2.Maxwell-Glei- chung:Feldlinienmodelleines Stabmagneten:Magnetnadelnrichten sich im Magnetfeld des Stabmagneten aus; 3. Maxwell-Gleichung:Ringentladungsröhre;4.Maxwell-Glei- chung:Oerstedt-Versuch: Das Magnetfeld eines stromdurchflossenen Leiters wird durch Eisenspäne sichtbar gemacht.

4.2. Bedeutung und Ziele des Experiments im Physikunterricht am Beispiel des Fadenstrahlrohrs

In den fachdidaktischen Themenfeldern Physikalische Methoden und Medien im Physikunterricht nimmt das Experimenteine zentrale Rolle ein. Fürden Phy- sikunterrichtgibt es viele unterschiedliche Arten vonExperimenten:Schüler- versuche, Handexperimente, qualitativeund quantitativeExperimente, die je- weils unterschiedliche fachdidaktische Ziele verfolgen. Der Fadenstrahlrohrversuch ist ein typisches Demonstrationsexperiment, das den Einfluss vonelektrischen und magnetischen Feldern aufgeladene Teilchen sichtbar macht.Esbestehtaus einem evakuierten Glaskolben, der eine minimale Wasserstoffgasfüllung besitzt und in den mittels einer Hochspannung 294 Vera Wethkamp, Thomas Hildebrand und Ulrich Blum beschleunigte Elektronen eintreten. Durch zwei sogenannte Helmholtz-Spulen, die den Glaskolben umschließen, wird in diesem ein homogenes Magnetfeld erzeugt, das die Flugrichtung der Elektronen beeinflusst und diese aufeine Kreisbahn zwingt. Durch die Kollisionder Elektronen mit den Wasserstoffmo- lekülen werden diese zum Leuchten angeregtund die Flugbahn der Elektronen somit sichtbar gemacht. Am Fadenstrahlrohr können sehr klar die unter- schiedlichsten fachdidaktischen Ziele eines Experiments dargestellt werden. Tesch nenntz.B.: »Verbindung vonTheorie und Praxis«, »erkenntnistheoreti- sche Aspekte vermitteln«, »Bedeutung vonPhysik in Technik und Alltag zeigen«, »Interesse wecken, Erlebnisse ermöglichen«, »soziale Fähigkeiten fördern«, »physikalische Sachverhalte darstellen« und »Prozesseund Fertigkeiten ein- üben«.23 Nachdem in der Einstiegsphase der Seminarsitzung überdie Ziele vonEx- perimenten in der Schule gesprochen wurde, wird in der Erarbeitungsphase eine Gruppenarbeit durchgeführt, die die verschiedenen Ziele abbildet. Eine Gruppe baut mit Hilfeeiner Anleitunginder Form einer sogenannten Gerätekarte das Fadenstrahlrohr auf. Eine weitere Gruppe beschäftigtsich mit Hilfe vonAr- beitsblätternaus der Schule und Schulbüchernmit der Theorie zum Faden- strahlrohr. Einedritte Gruppe führtmit Hilfe vonVersuchsbeschreibungen und Schulbücherneine Messung durch und stellt diese Sachverhalte dar.Eine vierte Gruppe erarbeitet schließlich mit Hilfe vonSchulbüchernKontextezum Fa- denstrahlrohr,wie z.B. die Entstehung vonPolarlichtern, und zeigtdamit die Relevanz des Lerngegenstandes in Technik und Alltag auf. Die Gruppenarbeit selbst fördertsoziale Fähigkeiten auch unter den Studierenden. Nach der Präsentation der Ergebnisse der Gruppenarbeit folgtamEnde der Seminarsitzung eine Reflexion und Diskussion zur Bedeutung und zu den Zielen vonExperimenten im Physikunterricht. Insbesondere dieses Thema eignet sich, um die lernbiographische Disposition der Studierendenabzufragen und somit unterschiedliche schulische Erfahrungen der Studierenden selbst in die Dis- kussion einzubringen. In späteren Sitzungen werden –aufbauend aufdieser Sitzung –weitere Arten vonExperimenten mit ihren unterschiedlichsten Zielen behandelt.

4.3. Einstieg in eine Unterrichtsstunde im Themenbereich Kernphysik in der Sekundarstufe I

Der fachdidaktische Bereich MethodenimPhysikunterricht betrachtet ver- schiedene Ebenen, aufdenen methodische Elemente fürden Unterrichtgenutzt

23 MaikeTesch, Das Experiment im Physikunterricht, Berlin 2005, S. 70. Lehramtsstudium Physik an der Universität Bonn 295 werden können. Methodische Überlegungenspielen sowohl beider Organisa- tion vonUnterrichtinmethodische Großformen eine Rolle, wiez.B.dem Pro- jektunterrichtoder dem Lernen an Stationen oder auch beider Wahl der Sozi- alformen im Physikunterrichtund beider Nutzung vonMethodenwerkzeugen.24 Ein Merkmal guten Physikunterrichts ist Methodenvielfalt, aber keine Be- liebigkeit,25 d.h. Methoden sollten zielführend und sinnvoll eingesetzt werden. In verschiedenen Seminarsitzungen lernen die Studierenden eine großeVielfalt an Methoden mit ihren Funktionen fürden Physikunterrichtkennen. Beider Gliederung einer Unterrichtsstunde helfen beispielsweise methodische Grund- schemata, wiesie vonKircher u.a. vorgeschlagen werden:Typischerweise folgt nach einer Phase der Motivation die Phase der Erarbeitung,und die Unter- richtsstunde endet mit der Phase der Vertiefung. In einem konkreten Beispiel einer Seminarsitzung zum Aufbauder Atom- kerne, zur radioaktivenStrahlung und zum radioaktiven Zerfall in der Sekun- darstufeIsollen die Studierenden Ideen fürden Einstieg in eine Unterrichts- stunde, alsodie Phase der Motivation, entwickeln. Sie erhalten dazu didaktische Kriterien und Einstiegsbeispiele, wiesie z.B. vonHilbertMeyer26 vorgeschlagen werden, und arbeiten mit Schulbüchern. Die unterschiedlichen Ideen der Stu- dierenden werden gesammelt und am Ende der Sitzungverglichen.Beispiels- weise könnte ein möglicher Einstieg in das Thema ›Aufbauder Atomkerne‹ die Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler abfragen und so an ihr Vorver- ständnis vonAtomen anknüpfen. Ein Einstieg zum Thema ›radioaktiveStrah- lung‹ könnte ein Lehrfilm überdie medizinisch-technischen Anwendungen sein und hätte damit einen informierenden und motivierenden Charakter.Zueiner Unterrichtsstunde mit experimentellem Schwerpunkt, z.B. beieinem Schüler- experimentzum radioaktivenZerfall, sollte der Einstieg einen organisatorischen Rahmen bilden. Mit Hilfe der Ergebnisse der Studierenden kann so das didak- tische Funktionsspektrumder Einstiegsphase fürden weiteren Verlauf einer Unterrichtsstunde herausgearbeitet werden. In späteren Sitzungen werden weitere Methoden und Methodenwerkzeuge zur Gliederung und Organisationdes Unterrichts behandeltund so die Me- thodenvielfalt fürden Physikunterrichtgezeigt.

24 Zum Begriff und zu konkreten Beispielen:vgl.Staatliches Studienseminar fürdas Lehramt an Gymnasien Koblenz /Josef Leisen, Methoden-Werkzeuge, Online-Informationsangebot (Quellenangabe dort: Josef Leisen, Methoden-Handbuch DFU,Bonn 1999 und 2003)http:// www.studienseminar-koblenz.de/bildungswissenschaften/methodenwerkzeuge.htm [10.09. 2015]. 25 Vgl. Reinders Duit, Piko-Briefe, Der fachdidaktische Forschungsstand kurzgefasst, zit. nach URL:http://www.ipn.uni-kiel.de/de/das-ipn/abteilungen/didaktik-der-physik/piko/piko briefe032010.pdf, Februar 2010 (PDF-Dokument)[26.02.2015]. 26 Vgl. Hilbert Meyer, Unterrichtsmethoden II:Praxisband, Berlin:Cornelsen Scriptor,1987, S. 122–150. 296 Vera Wethkamp, Thomas Hildebrand und Ulrich Blum

5. Schwerpunktsetzung im Masterstudiengang

Der Studiengang Master of Education ist im Gegensatz zum Bachelorstudien- gang nichtmehr polyvalentangelegt, sondern bereitet als Voraussetzungfürdie Aufnahme des Vorbereitungsdienstes die Lehramtsstudierenden praxis- und wissenschaftsorientiertauf ihren zukünftigen Lehrberuf vor.Demzufolge sieht das Studiengangskonzept der Fachgruppe Physik/Astronomie in den fachdi- daktischen Studienanteilen weiterhin den Schwerpunkt Praxisorientierung vor. Fachdidaktische Themen werden nichtineiner rein wissenschaftlichen Per- spektiveund ohne Anwendungsbezug betrachtet, sondernimmer mit fürdie Schule relevanten Beispielen kombiniert, so dass der Praxisbezug der fachdi- daktischen Theorien immer sichtbar bleibt, was insbesondere fürdie Durch- führung der Studienprojekte während des Praxissemesters vonBedeutungist. Ein zentraler Baustein des Masterstudiengangs ist das Praxissemester,indem die Lehrerbildung überwiegend in die Schule verlagertwird. Mit dem Praxis- semester wird das Ziel verfolgt, »im Rahmen des universitären Masterstudiums Theorie und Praxis professionsorientiertmiteinander zu verbinden und die Studierenden aufdie Praxisanforderungen der Schule und des Vorbereitungs- dienstes wissenschafts- und berufsfeldbezogen vorzubereiten.«27 Dieses Ziel wird einerseits durch einen schulpraktischen Teil erreicht, der in der Verant- wortung der Schulen und des ZfsL liegtund es den Studentinnen und Studenten ermöglicht, beim Beobachten vonUnterrichtund beim selbständigenUnter- richten Erfahrungen zu sammeln. Andererseits eröffnet ein Schulforschungsteil, der in der Verantwortung der Universitätliegt, die Möglichkeit, fachdidaktische Modelle im Rahmen vonUnterrichtsbeobachtungen und voneigenem Unter- richtinder Praxis zu testen. Hierzu führen die Studentinnen und Studenten eigene Studienprojekte in forschender Grundhaltung durch.28 Die drei im Masterstudiengang stattfindenden Fachdidaktikseminare, Expe- rimente im Physikunterricht, Vorbereitungsseminar und Begleitseminarzum Praxissemester bereiten die Studierenden insbesonderedarauf vor,während des Praxissemesters in der Schule theoriegeleitete Studienprojekte in forschender Grundhaltung durchzuführen bzw.begleitensie dabei. Das Seminar Experi- mente im Physikunterricht im ersten Master-Semester hat einen methodischen und praktischen Schwerpunkt. Im Berufdes Physiklehrers bzw.der Physikleh- rerinist das Kennenlernen einer Physiksammlung, die Auswahl, die Beschaf-

27 Ministerium fürSchule und Weiterbildung und lehrerbildende Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen, Rahmenkonzeptionzur strukturellen und inhaltlichen Ausgestaltung des Praxissemesters im lehramtsbezogenen Masterstudiengang, 14. April 2010,S.4,zit. nach URL:http://www.bzl.uni-bonn.de/dokumente/praxiselemente/rahmenkonzept-praxisse mester [26.02.2015]. 28 Vgl. ebd.,S.7f. Lehramtsstudium Physik an der Universität Bonn 297 fung,die Vorbereitung und die Durchführung vonExperimenten jeglicher Art vongroßer Bedeutung.ImExperimente-Seminar erfahren die Studierenden den Prozess der Theoriebildung,der fachdidaktischen Schwerpunktsetzung, der Vorbereitung,Beschaffung und Durchführung selbst und stellen diese Erfah- rungen in einer Seminarsitzung vor.Auf diese Weise lernen sie die unter- schiedlichsten Experimente und Experimentarten zusammen mit dem jeweili- gen fachdidaktischen Hintergrund kennen. Dabei ist dasSeminar inhaltlich sehr breit aufgestellt.Soreichen die Themen vonder Unter-und Mittelstufe (z.B. Strahlenoptik –Reflexion und Brechung oder Elektrizitätslehre –Wärmewir- kung des elektrischen Stroms) bis in die Oberstufe (z.B. Wellenoptik –Inter- ferenz am Einzel- und Doppelspaltoder Elektromagnetismus –Induktion und Lenz’sche Regel) und umfassen sowohl Demonstrationsexperimente (z.B. In- duktion), Freihandexperimente (z.B. Fadenpendel) und Schülerexperimente (Akustik, Saiteninstrumente), sodass die Studierenden mit großer Wahr- scheinlichkeit wenigstens eines der behandelten Experimente bzw.Experi- menttypen im Praxissemester selbst einsetzenund untersuchen können. In Vorbereitungsseminaren zum Praxissemester während des zweiten Fach- semesters sollen hingegen fachdidaktische Modelle behandelt werden, die für mögliche Studienprojekte im Praxissemester relevantsind. Dabei werden vor allem dasLernen der Schülerinnen und Schüler sowiedas eigene Lehren in den Blick genommen. Die im Vorbereitungsseminar und im Praxissemester eine Rolle spielenden Theorien werden deshalb unter dem Leitgedanken Schüler- orientierung ausgewählt, so dass die Studierenden im Praxissemester die viel- fältigen Möglichkeiten nutzen können, Schülerinnen und Schüler im Unterricht zu beobachten und zu befragen. Didaktische Modelle und Themen, die im Vorbereitungsseminar behandelt und im Begleitseminar reflektiertwerden, sind deshalb u.a.: –Schülervorstellungen und Lernen im Physikunterricht, –Lehr-Lern-Modelle, –Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion, –Kontextorientierung, –VerschiedeneExperimenttypen im Physikunterrichtund ihreZiele, –Koedukation, –affektiveAspekte und Lernen im Physikunterrichtund an außerschulischen Lernorten.

Zum Ende des Vorbereitungsseminars wird aufGrundlage dieser Modelle ein Themenpool mit Fragestellungen fürdie Studienprojekte erarbeitet.Die Stu- dierenden habendann die Möglichkeit, in Absprache mit der Praktikumsschule ein passendes Thema fürihr Projekt zu wählen. Im Begleitseminarzum Pra- 298 Vera Wethkamp, Thomas Hildebrand und Ulrich Blum xissemester werden die Durchführung und die Ergebnissedieser Studienpro- jekte reflektiert. Am Ende des Masterstudiengangs bestehtnach dem Praxissemester fürdie Lehramtsstudierenden die Möglichkeit, ihre Masterarbeit in der Fachdidaktik Physik zu verfassen. Sie können z.B. ein erfolgreiches Studienprojekt ausdem Praxissemester zu ihrer Masterarbeit erweiternoder das Schülerlabor Physik- werkstatt Rheinland nutzen, um dortfachdidaktisch zu forschen.29 Wiegezeigtwerden konnte, ist das Konzept der Fachgruppe Physik/Astro- nomie fürdie fachdidaktischen Studienanteile im Lehramtsstudium Physik sowohl praxis-als auch wissenschaftsorientiertund bietet den Lehramtsstu- dierenden vielfältige fachdidaktische Perspektiven, die ihnen im späteren Be- rufsleben nützen werden.

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29 Da die erstenStudierenden zum jetzigen Zeitpunkt aber erst am Anfang ihres Masterstu- diengangs stehen,können Projekte fürMasterarbeiten und weitere Forschung hier noch nichtkonkretisiert werden. Lehramtsstudium Physik an der Universität Bonn 299

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Abbildungsverzeichnis

Stephan Berendonk Abb. 1–14:Rechte beim Autor. Abb. 15:Lambacher Schweizer 9, Mathematik fürGymnasien,Nordrhein- Westfalen, Stuttgart2009, S. 72 ( Ernst Klett Verlag GmbH). Abb. 16:Ebd.,S.74. Abb. 18:Ebd. Abb. 19:Ebd, S. 25. Abb. 20:Ebd. Abb. 21:Ebd, S. 76. Abb. 22:Schnittpunkt 9, Mathematik, Nordrhein-Westfalen,Stuttgart 2008, S. 124 ( Ernst Klett Verlag GmbH).

Peter Geiss Abb.:Weihestein des Q. Vettius Severus fürdie AufanischenMatronen im (vormals Rheinischen) Landesmuseum Bonn, Foto:Jürgen Vogel. LVR-LandesMuseum Bonn.

Roland Ißler Abb. 1: »¿QuØ hora es?«, aus: Michaela Rückl u.a.,Descubramos el es- paÇol. Spanisch interlingual, Lehr-und Arbeitsbuch mit inter- aktiver Übungs-CD-ROM, Wien 2012, S. 62, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags ( Verlag Hölder-Pichler- Tempsky GmbH 2012). Abb. 2: »Tabula scholarum –Emploi du temps«, aus:Sonja Döll-Schmidt/ ChristinaGentzik (Hg.), Salve! Hello!Salut!Dreisprachiges Ar- beitsheft, Jahrgangsstufe 5, Darmstadt:Ludwig-Georgs-Gymna- sium, 2010, S. 19, Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Sonja Döll-Schmidt. Abb. 3: »Wörter ausromanischen Sprachen erschließen«,aus:Ursula Behr (Hg.), Sprachen entdecken –Sprachen vergleichen.Kopier- 302 Abbildungsverzeichnis

vorlagen zum sprachenübergreifenden Lernen Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, Latein, Berlin:Cornelsen/Volk und Wis- sen, 2005, S. 48. Abb. 4: »Personal-Daten«, aus: Werner Nagel, Latein und romanische Sprachen. IhreVernetzung in Unterrichtseinheiten, Bamberg 2003, S. 31, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags ( C.C. Buchner Verlag 2003).

Annette Scheersoi Abb. 1und 2 sowie4–6:Rechte beider Autorin. Abb. 3: Harald Gropengießer /Ulrich Kattmann /Dirk Krüger,Biolo- giedidaktikinÜbersichten, Hallbergmoos2010, S. 13.

Vera Wethkamp,Thomas Hildebrand und Ulrich Blum Abb. 1–4 (in Tab. 5): Rechte beiden Autoren.

Die Bildrechte wurden überdie Autoren der Beiträge gesichert,denen die Ab- bildungen jeweils zugeordnet sind. Autorenverzeichnis

(Stand:März 2016)

Berendonk, Stephan, Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-UniversitätBonn, Hausdorff Center for Mathematics.

Blum, Ulrich, Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-UniversitätBonn, Physika- lisches Institut, Fachdidaktik Physik.

Boschki, Reinhold, Prof. Dr., EberhardKarls UniversitätTübingen, Katholisch- Theologische Fakultät, Religionspädagogik.

Geiss, Peter,Prof. Dr.,Rheinische Friedrich-Wilhelms-UniversitätBonn, Institut fürGeschichtswissenschaft, Didaktik der Geschichte.

Glaum, Robert,Prof. Dr.,Vorsitzender des Vorstandesdes Bonner Zentrums für Lehrerbildung (BZL).

Henke, Roland W. ,Dr. ,Rheinische Friedrich-Wilhelms-UniversitätBonn, In- stitut fürPhilosophie und Zentrum fürschulpraktische Lehrerausbildung Bonn, Fachseminar Philosophie.

Hildebrand, Thomas, Rheinische Friedrich-Wilhelms-UniversitätBonn, Physi- kalisches Institut, Fachdidaktik Physik.

Ißler,Roland Alexander,Jun.-Prof. Dr., RheinischeFriedrich-Wilhelms-Uni- versitätBonn, Institut fürKlassische und Romanische Philologie, Didaktik der RomanischenSprachen und Literaturen.

Jünger,Dr. Ursula, Zentrum fürschulpraktische Lehrerausbildung Bonn, Fachseminar Deutsch. 304 Autorenverzeichnis

Kaenders, Rainer,Prof. Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-UniversitätBonn, Hausdorff Center for Mathematics.

Küchler,Uwe, Prof. Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-UniversitätBonn, Institut fürAnglistik, Amerikanistik und Keltologie,Fachdidaktik Englisch.

Ladenthin, Volker,Prof. Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-UniversitätBonn, Bonner Zentrum fürLehrerbildung,Bildungswissenschaften, Historische und Systematische Erziehungswissenschaft.

Mess, Ulrike, Zentrum fürschulpraktische Lehrerausbildung Bonn, Fachsemi- nar Englisch.

Radvan, Florian, Prof. Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-UniversitätBonn, Institut fürGermanistik, Vergleichende Literatur-und Kulturwissenschaft, Fachdidaktik Deutsch.

Scheersoi, Annette, Prof. Dr.,Rheinische Friedrich-Wilhelms-UniversitätBonn, Fachgruppe Biologie, Nees-Institut, Fachdidaktik Biologie.

Schumann, Werner,Zentrum fürschulpraktischeLehrerausbildung Bonn, Fachseminar Erdkunde.

Stärk-Lemaire,Hiltrud, Rheinische Friedrich-Wilhelms-UniversitätBonn, Evangelisch-Theologische Fakultät, Religionspädagogik.

Utz, Barbara, Zentrum fürschulpraktischeLehrerausbildung Bonn.

Wethkamp, Vera, Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-UniversitätBonn, Phy- sikalisches Institut, Fachdidaktik Physik.