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SWR 2 Musikstunde mit Rainer Damm, 29. November 2012 Der legendäre Dirigentenjahrgang 1912

Ferdinand Leitner (4)

Kaum ein anderer Beruf ist - zumindest in der Öffentlichkeit - so verklärt und idealisiert wie der des Dirigenten. Jeder Konzert - oder Opernbesucher kennt den Anblick: schwarzer Rücken, fliegende Frackschöße, kennt die lockende, gebieterische Hand. Die Maestri, Pultheroen oder Klangmagier, die Zuchtmeister im Frack, die Taktstockvirtuosen, und wie man sie sonst noch genannt hat..... sie fungieren als mythische Helden, als Galionsfiguren der musikalischen Freizeitindustrie. Auch unter den Dirigenten gibt es, wie im richtigen Leben, die unterschiedlichsten Typen: den Pedanten oder Träumer, den Showstar oder Poltergeist, den entrückten Mystiker wie den pragmatischen Handwerker. Ferdinand Leitner, auch er entstammt dem legendären Dirigentenjahrgang 1912, war kein Musiker der Sensationen und Skandale, der selbstherrlichen Exzesse oder Showallüren. Vielmehr verkörperte er - in vieler Hinsicht vorbildlich - den souveränen, verantwortungsbewussten, für Neuerungen durchaus offenen, aber nicht um jeden Preis auf Neuheiten erpichten Interpreten, der langfristige Impulse zu vermitteln vermochte. Er verkörperte große deutsche Musiktradition und zugleich den Typ eines vielseitigen und für alle Stile und Aufgaben offenen Musikers. Manche seiner rund dreihundert Schallplatteneinspielungen mag der vielzitierte Zeitgeist eingeholt haben. - Manche mögen durch veränderte ästhetische Wahrnehmungsweisen nicht mehr an vorderster Stelle in der Hörergunst stehen. Dennoch wird ihn manches, was er geleistet hat lange überleben. ______CD DG 427 237 2 Disc 2, track 6 ab 2‘37 = 7‘50 ______Wilhelm Kempff war der Solist im Finalsatz von Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 in G - Dur op. 58. Ferdinand Leitner dirigierte die Berliner Philharmoniker in dieser 1962 entstandenen Gesamtaufnahme der Beethovenschen Klavierkonzerte, bis heute ein unverzichtbarer Baustein jeder Klassikdiskothek. Das vierte Konzert war bekanntlich Kempffs Lieblingskomposition, und das spürt man meine ich auch in jedem Takt. So romantisch schwelgend und cantabile hat man

2 dieses Werk selten gehört. Und Ferdinand Leitner hat mit den Berliner Philharmonikern wesentlichen Anteil an dieser im wahrsten Sinne des Wortes klassischen Einspielung. Ein Star wollte Ferdinand Leitner nie sein. Solides Handwerk ging ihm über alles, und dafür liebten ihn wohl all jene, die mit ihm zu tun hatten. Anhängern eines Dirigententypus, die das Dirigieren als Personality - Show betrachten, hatte er wenig zu bieten. Sein Dirigieren vermeidet den emotionalen Exzess, sein Klangideal ist vielmehr einer vielschichtigen, facettenreichen Darstellungsweise verpflichtet. Er hat nicht als Magier oder Furioso - Dirigent Weltkarriere gemacht, sondern als souveräner, hochprofessioneller, gleichwohl passionierter Künstler. Und neben dem tradierten Repertoire hat er hartnäckig eine Lanze gebrochen für die Werke der sogenannten gemäßigten Moderne. ______CD DG 427 413 2 Disc 2, track 10 7‘17 ______Das Symphonische Intermezzo aus Ferruccio Busonis mit dem Symphonie - Orchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Ferdinand Leitner. Vor drei Jahren machte wieder einmal ein Fundstück aus dem Keller des Kölner Funkhauses Furore, Händels Alcina in einer unglaublichen Besetzung, nämlich mit Fritz Wunderlich und Joan Sutherland unter den Gesangssolisten - und Ferdinand Leitner am Pult. Dabei wäre das, was vor über einem halben Jahrhundert als Ereignis des Händeljahres 1959 gefeiert wurde, beinahe nicht zustande gekommen. Denn Fritz Wunderlich musste, ebenso wie Joan Sutherland, in letzter Minute für die ursprünglich vorgesehenen Künstler einspringen, die beiden waren also gewissermaßen aus purer Not aufeinander getroffen. Anfangs schien noch alles einigermaßen normal zu laufen. Doch schon bei der ersten Solistenprobe stellte sich heraus, dass Nicola Monti irrtümlich die falsche Partie einstudiert hatte.... nämlich den Oronte statt des Ruggiero. In den verbleibenden fünf Tagen die größere Partie einzustudieren, traute er sich nicht zu. Und obwohl sie auch für Fritz Wunderlich in der Tessitura alles andere als optimal lag, nahm er die Herausforderung in der ihm eigenen Art an:

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Machen Sie sich keine Sorgen beruhigte er seinen Kollegen ich denke, dass ich Ihre Rolle übernehmen kann. Worauf er die Partie vom Blatt sang, und zwar derart sicher, selbst in den schwierigsten Verzierungen, dass es allen Beteiligten schlichtweg die Sprache verschlug. ------CD DG 477 8017 Disc 1, track 31 5‘48 ------Mi lusinga il dolce affetto- die Arie des Ruggiero aus dem 2. Akt von Georg Friedrich Händels Alcina mit Fritz Wunderlich und der Capella coloniensis mit Ferdinand Leitner am Pult. Mit den zuvor genannten Problemen waren aber die Hindernisse bei der Produktion dieser Oper keineswegs beseitigt. Schon bahnte sich die nächste Krise an. Die ursprünglich vorgesehene Sängerin der Titelpartie hatte derartig mit Intonationsproblemen zu kämpfen, dass man sie aus dem Vertrag entlassen musste - eine riskante Entscheidung schon insofern, als damals nur ganz wenige Sängerinnen diese Rolle im Repertoire hatten. Eine von ihnen war Joan Sutherland, und zwei Jahre zuvor hatte sie Alcina in London auf englisch gesungen. Glücklicherweise war sie bereit, den Part auch in der Originalsprache - in italienisch - zu lernen, und so kam es zur einzigen und einzigartigen Konstellation Fritz Wunderlich und Joan Sutherland ...... mit Ferdinand Leitner am Pult. ______CD DG 477 8017 Disc 2, track 26 4‘44 ______Non è amor né gelosia, das Terzett Alcina, Ruggero, Bradamante aus dem 3. Akt von Händels Alcina mit Joan Sutherland, Norma Procter, Fritz Wunderlich und Ferdinand Leitner am Pult der Capella Coloniensis. Aber nicht nur unter dem Aspekt der Sängerbesetzung ist diese Kölner Alcina von 1959 ein Unikat. Auch als Dokument aus der Pionierzeit der historischen Aufführungspraxis in Deutschland ist es höchst aufschlussreich und interessant. Denn mit der Capella Coloniensis ist hier eines der ersten, wahrscheinlich sogar das erste Orchester zu hören, das auf historischen Instrumenten spielte und das sich um möglichst stilgetreue Aufführungen bemühte. Thomas Voigt erinnert in seinem höchst informativen Beiheft daran, dass die Gründungsväter der Capella coloniensis ja

4 allesamt Pioniere der Alte - Musik - Bewegung waren: Der Cellist und Dirigent August Wenzinger, der Flötist Gustav Scheck und der Cembalist Fritz Neumeier. Vierter im Bunde der Musikwissenschaftler Eduard Gröninger. Die jeweilige Zusammensetzung des Orchesters ergab sich fast von selbst, meist waren es Kollegen und Schüler der zuvor Genannten. Allen gemeinsam war die grenzenlose Begeisterung für die Erforschung und Realisierung Alter Musik. Für Ferdinand Leitner war die die Arbeit in Köln willkommene Abwechslung zu seinem Winterbayreuth in . Außerdem hatte er ein Faible für die Musik Händels und war an stilgerechten Aufführungen seiner Musik sehr interessiert. Dieses Interesse erstreckte sich natürlich auch auf die Werke zweier Komponisten, die Leitner besonders am Herzen lagen. Haydn und Mozart. ______CD Capriccio 10619 track 12 5‘25 ______Der Finalsatz Allegro con spirito aus Mozarts Sinfonie in A - Dur KV 201 mit der Capella Coloniensis unter der Leitung von Ferdinand Leitner. Zweiundzwanzig Jahre lang, von 1947 - 69 bestimmte Ferdinand Leitner als Opernchef und Generalmusikdirektor den Aufstieg und die Größe des Stuttgarter Musiklebens in den Nachkriegsjahrzehnten. Dort fand er in Walter Erich Schäfer den fordernden und fördernden Intendanten, in Wieland Wagner und Günter Rennert die szenischen Partner, in einem Spitzenensemble die gleichgesinnten Mitspieler für ein stilistisch weitgestreutes Programm... für die Bühnenwerke von Wagner, Mozart und Verdi, Berg und Zimmermann. Stark beachtet wurde die hohe Beteiligung Stuttgarter Kräfte an den Bayreuther Festspielaufführungen. Auch das Werk von hat unter Ferdinand Leitner in Stuttgart besondere Pflege erfahren. Diese Tradition geht zurück bis auf die UA der Bernauerin 1947, setzte sich über die Trionfi fort, die hier 1953 ihre erste deutsche Aufführung erlebten, es folgten das Osterspiel und das Weihnachtsspiel. In der Spielzeit 1963/64 wurde zur Neueröffnung des Kleinen Hauses die endgültige Fassung der Sommernachtstraum- Musik gegeben.

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Eine Orffwoche im Dezember 1959 bot zum erstenmal eine Zusammenschau einiger seiner bedeutendsten Werke: Antigonae in der Wieland Wagner – Inszenierung. Der Mond in der szenischen Umsetzung von Günter Rennert sowie die Trionfi. Eröffnet wurde diese Woche mit der Uraufführung des Ödipus, den Orff der Philo-sophischen Fakultät der Universität Tübingen widmete, aus Anlass der Verleihung des Ehrendoktorats zu Orffs 60. Geburtstag. Der Komponist greift hier auf die ungekürzte Hölderlin‘sche Fassung des Sophokles - Textes zurück, er wählt einen gerafften Deklamationsstil mit Vorherrschaft des gesprochenen Worts. Seine musikalisch - szenische Deutung löst sich noch entschiedener als in seinen vorangegangenen Kompositionen von all dem, was man gemeinhin unter opernhafter Gestaltung versteht. Anstelle breiter Musikalisierung tritt hier ein ganz spezifischer Sprach - und Deklamationsstil in Erscheinung, zu dem der Musikkritiker Karlheinz Ruppel treffend angemerkt hat: Man wird Orffs Schaffen nicht gerecht, wenn man es ausschließlich unter musikalischen Gesichtspunkten betrachtet. Neben die Ursprünglichkeit seines Musikertums tritt gleichbedeutend die anregende Kraft seiner Ideen für das szenische Kunstwerk überhaupt, das im tönend bewegten Raum den singend und spielend bewegten Menschen als Gleichnis des Lebens widerspiegelt. ______CD Myto 238 Disc 1, track 7 & 8 bis 1’02 5‘50 ______Fritz Wunderlich als Tiresias, als Ödipus und Hans Günter Nöcker als Chorführer waren die Solisten in diesem Ausschnitt aus Carl Orffs Oedipus der Tyrann. In diesem Uraufführungmitschnitt vom 11. Dezember 1959 stand Ferdinand Leitner am Pult der Stuttgarter Staatsoper, Großes Haus versteht sich. Die Resonanz in der Presse war geteilt: Einerseits wurde übereinstimmend der herausragende Standard der Aufführung, die durchgehend hochprominente Sängerbesetzung und die Leistung von Chor und Orchester bestätigt, das Werk selbst wurde aber eher kritisch aufgenommen. Stichwort: Oper ohne Musik, Entmusikali- sierung des Musiktheaters, Orff als Klangregisseur. Ein englischer Kritiker gab erschöpft zu Protokoll. Zwei Stunden Orff ist einfach zuviel.

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Wie auch immer: Für die Griechendramen ist Leitner der Vertrauensdirigent Carl Orffs geblieben. Von diesem Komponisten hatte er übrigens eine fast fünfhundert Briefe umfassende Korrespondenz zu Hause. Namen wie Orff, Berg, Fortner oder Wieland Wagner mögen heute kaum noch kulturrevolutionär klingen. Aber, was heute manchmal vergessen wird, in den späten fünfziger und in den sechziger Jahren bedurfte es schon mutiger Duchsetzungskraft, und vor allem eines hochkarätigen Ensembles, um solche Projekte erfolgreich zu verwirklichen. Jedenfalls hat Ferdinand Leitner, neben vielen andern Verdiensten, mit seinem gesamten Lebenswerk bewiesen, dass das Engagement für neue Ansätze, Wege und Werke durch aus mit traditionellen dirigentischen Tugenden in Einklang zu bringen ist. Dieses Selbstverständnis hat auch seinen Niederschlag gefunden in der langjährigen, kontinuierlichen Zusammenarbeit, die Leitner mit dem Radio - Sinfonie - Orchester Stuttgart verband - eine Zusammenarbeit, die 1958 begann und sich bis in die Achtziger Jahre erstreckte. Und die emphatisch das Motto einlöste, das er einmal im Rückblick auf seine musikalische Karriere so formuliert hat: Ich habe mich einfach mein Leben lang bemüht, anständig zu musizieren. Schöne Musik machen, das ist alles. ______CD Hänssler Classic 93.052 track 1 ab 20‘50 = 5‘00 ______SvD Die SWR 2 Musikstunde mit Rainer Damm ging zu Ende mit dem Schlussabschnitt des 1. Satzes der 9. Sinfonie von Anton Bruckner in einem Konzertmitschnitt vom 11. November 1983 aus der Stuttgarter Liederhalle. Das Radio - Sinfonieorchester Stuttgart spielte unter der Leitung von Ferdinand Leitner. In der morgigen Musikstunde wird es noch einmal um Ferdinand Leitner gehen.

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