Deutschland

SOZIALDEMOKRATEN Angriff auf den Ober-Ossi Der SPD-Vize Wolfgang Thierse tritt für differenzierten Umgang mit ehemaligen SED- Mitgliedern ein. Nur so könne die SPD auch im Osten eine Volkspartei werden. Diese Überzeugung bringt Thierse in Konflikt mit den eigenen Genossen.

echs Jahre ist er nun schon Berufs- politiker, länger als er es sich je hat- Ste träumen lassen. Aber eines kann Wolfgang Thierse bis heute nicht: Er kann sich nicht in Pose werfen. Er kann nicht cool wie Gerhard Schröder in die Kamera schauen, wenn er im Inner- sten wütend ist, nicht wie der Genosse Man- fred Stolpe aus Potsdam mit einem landes- väterlichen Brummton Vertrauen wecken, selbst wenn alles Vertrauen aufgebraucht ist. Thierse tobt, wenn ihm danach ist. Jetzt fühlt sich Thierse, 53, getroffen wie noch nie. Daß einige Genossen ausgerech- net ihm Nachhilfe im Umgang mit der PDS erteilen wollen, erregt ihn aufs äußerste. „Als Frechheit“ empfindet er, daß ihn An- gelika Barbe, gerade erst von der SPD zur CDU gewechselt, als „Obereinfädler“ der PDS-Connection beschimpft. Schließlich war es Thierse, dem die PDS 1994 ganz gezielt als Gegen- kandidaten in seinem Berliner Wahlkreis entgegensetzte. Und daß der Schriftstel- ler, 83, dem Literaturwissenschaftler das Bonner Direktmandat abjagte, hat Thierse erheblich geschwächt. Schon deshalb, glaubt der ranghöchste Ostdeutsche der SPD, müßten ihm die Ge- nossen Lauterkeit der Motive abnehmen, wenn er immer wieder für einen „diffe- renzierten Umgang“ mit der Gysi-Truppe plädiert. Daß die Parteikollegen ihn nicht verstehen oder verstehen wollen, ent- täuscht ihn, daß ihm einer gar Verrat vor- wirft, legt seine Nerven bloß. „Sie stellen mir schon dieselben Fragen wie Pfarrer Hintze“, ranzt er Journalisten an, während er sich vergebens müht, die zu Berge stehenden Haare glattzustreichen. Das mag nicht sehr professionell sein.Aber in diesem Sinne hat es Thierse längst auf- gegeben, Politprofi zu werden. „Mit über 50“, sagt er, „werde ich mich nicht mehr ändern.“ Nie habe er gedacht, daß die Notizen, die er für ein Treffen der ostdeutschen SPD-Chefs Mitte Dezember zu Papier ge- bracht hatte, so einen Wirbel verursachen würden. Dabei hat er nicht viel mehr ge- tan, als das „Dilemma“ der SPD im „Um- gang mit der PDS“ zu beschreiben. Denn die SPD hat in mehreren ostdeutschen Ländern nur die Wahl zwischen zwei Übeln: Große Koalition mit der CDU oder

* Vor der Statue Willy Brandts in der Berliner Partei- GLASER P. zentrale. SPD-Politiker Thierse*: „Ich werde mich nicht mehr ändern“

46 4/1997 Zusammenarbeit mit der SED-Nachfolge- In der FDP sagt der Name Westerwelle al- Jetzt rächt sich, daß Thierse 1992 nicht partei, die unweigerlich eine neue „Rote- les, einen Ostler hat der nie gebraucht. Die den Vorsitz der Berliner SPD übernahm, Socken-Kampagne“ der CDU heraufbe- CDU hat den dynamischen Aufsteiger aus sich nicht so jene Hausmacht verschaffte, schwören würde. Sachsen, Heinz Eggert, schnell fallenlas- die ihm nun fehlt. In der vereinten und Doch das Papier des Genossen Thierse sen, Bündnis 90/Grüne hat die bedächtige doch noch immer geteilten Stadt blieb nicht in dem vertrauten Kreis. Daß es verschlissen. hätte er umsetzen können, was er immer einer der zehn Ostgenossen unter der Längst gilt auch Thierse nicht mehr als predigt. Oft bleibt Thierse nur die Funkti- Hand öffentlich machte, läßt die auch von Polit-Entdeckung wie in den ersten Jahren on als Moderator – oder als Prügelknabe. Thierse vielbeschworene Ossi-Solidarität seiner Amtszeit, als die Westler noch staun- Dabei hat der Bärtige vom Prenzlauer als Wunschdenken erscheinen. ten, wie sprachbegabt ein Ostler sein kann, Berg im vergangenen Jahr ein zweites po- Aus dem „Non-Paper“ wurde so ein und als viele Ostler erleichtert waren, daß litisches Standbein entwickelt. „Ossi zu „Strategiepapier“ (frankfurter rund- da einer so leidenschaftlich für sie warb. sein“, sagt er selbst, „ist auf Dauer keine ausreichende Qualifikation.“ Thierse hat „umgeschult“ auf Sachpoli- tik: Er leitet den Arbeitskreis „Innovative Industriepolitik“, die in Krisengebieten des Ostens Banker,Wissenschaftler und Politi- ker an einen Tisch bringt. Er arbeitet in der SPD-Kommission „Fortschritt 2000“, leitet die Projektgruppe „Informationsge- sellschaft“ der Fraktion, ist Mitglied der Medienkommission der SPD. Als Fraktionsvize zuständig für Bildung und Forschung, fordert er im zum Staunen der Regierungsfraktionen ein „Innovationsministerium“ und attackiert vehement den sogenannten Zukunftsmi- nister der Union. In der frankfurter all- gemeinen schreibt er über die „neue Me- dienordnung“.

M. DARCHINGER Doch mit diesen Themen hat es Thierse SPD-Politiker Stolpe, Höppner: Konkurrenz für den Genossen schwer, in die Schlagzeilen zu kommen. Vielen Journalisten gilt der kantige Mann schau), das altbekannte Thierse-Gegner Ein Grund dafür liegt in der Entwicklung nur als Experte fürs ostdeutsche Jammer- auf den Plan rief. Daß der Nichtdissident, der neuen Bundesländer: Die Unterschiede wesen, der höchstens am Tag der deut- Nichtprotestant und Nichtpfarrer vor Jah- zwischen den Ostdeutschen wachsen, schen Einheit angerufen wird. „Leider“, ren an ihnen vorbeigezogen ist, haben sie einer kann nicht mehr für alle sprechen. sagt Thierse selbstironisch, „falle ich nicht nie verwunden. Thierse hat sich nicht krampfhaft an die durch eine Scheidung auf.“ „Es sei schon gut, mal zu wissen, was an- Rolle als ostdeutscher Alleinunterhalter So bleibt nur der Streit mit der oder um dere denken“, tönte der Bundestagsabge- geklammert. Als die Bundestagsfraktion die PDS, der ihm öffentliches Gewicht ver- ordnete , Ex-Pfarrer und die Querschnittsgruppe „Deutsche Ein- leiht. Und da gebe es keinen Grund -Außenminister der DDR; „eine unwürdi- heit“ schuf, hat er nicht verhindert, daß zurückzustecken. „Im Unterschied zu an- ge Sache“ sei der Text, schimpfte der Pa- der Sachse Schwanitz den Vorsitz über- deren“, sagt er mit einem deutlichen Sei- storensohn und Bundestagsabgeordnete nahm. Als die SPD das „Forum Ost- tenhieb auf einige zur CDU gewechselte Stephan Hilsberg. deutschland“ ins Leben rief, hat er es ab- Bürgerrechtler, „habe ich weder eine SED- Und , Fraktionskollege gelehnt, dafür auch noch den Vorturner zu Vergangenheit noch eine Vergangenheit in aus Sachsen, schwang sich auf, um ein Ge- machen. Der Brandenburger Ministerprä- der Ost-CDU abzuarbeiten.“ genpapier zu verfassen, in dem er dem sident Stolpe übernahm den Vorsitz. Thierse plädiert weiter für Differenzie- Parteivize Naivität und Verrat an den Für seine Zurückhaltung zahlt Thierse rung, für Öffnung gegenüber ehemaligen Grundwerten der Sozialdemokratie vor- jetzt den Preis – die anderen machen ihm SED-Mitgliedern. Wenn man die SPD im hielt. Ein schwerer Vorwurf gegen einen den Platz in der politischen Arena streitig. Osten zur Volkspartei machen wolle, davon Mann, der Chef der Grundwertekommis- „Was die Querschnittsgruppe Deutsche ist er überzeugt, müsse man ins PDS-Mi- sion seiner Partei ist. Jetzt muß er damit Einheit entwickelt, will sie auch selbst ver- lieu einbrechen. Und dazu, glaubt er, müs- rechnen, abgestraft zu werden. Es stehen treten“, sagt Schwanitz. Als Chef dieser se bei der Mitgliederaufnahme das „Rein- Wahlen an, im März zum Fraktionsvor- Arbeitsgruppe demonstriert er den An- heitsgebot“ aufgegeben werden. stand und im Dezember für die Partei- spruch, zu Ost-Themen im Bundestag für Was das bedeutet, haben offenbar die ei- spitze. Und Thierse, der Fraktions- und die SPD das Wort zu ergreifen. genen Genossen viel weniger begriffen als Parteivize, will für beide Posten erneut Daß der Sachse vom Seeheimer Kreis die Strategen der PDS. Deren Wahlkampf kandidieren. den linken Thierse als Ober-Ossi der Frak- gegen den ersten Ostler der SPD offen- In einem Brief an Parteichef Oskar La- tion gern beerben würde, gilt seit dem Anti- barte die ganze Demagogie der Gysi-Trup- fontaine fordert der Chefideologe des rech- Thierse-Papier als unzweifelhaft. „Der pe, die stets behauptet, sie treibe die SPD ten sozialdemokratischen „Seeheimer Schwanitz könnte das bestimmt so gut wie nach links: Indem die PDS Thierse Kreises“, der Abgeordnete Karl Hermann Thierse“, läßt Richard Schröder verlauten, schwächte, drängte sie die SPD nicht nach Haack, Konsequenzen für Thierse. Der Theologieprofessor und 1990 SPD-Frakti- links, sondern allenfalls westwärts. Inso- habe eine Diskussion „über das größte onschef in der DDR-. fern wäre ein Scheitern Thierses an der Spalterthema“ vom Zaun gebrochen. Mar- Derweil machen die SPD-Ministerpräsi- SPD-Spitze auch ein Sieg der PDS. kig fordert Haack „politische Charak- denten Stolpe und Reinhard Höppner dem „Ich dachte immer“, schimpft Reinhard terfestigkeit und Zuverlässigkeit der Ober-Ossi Konkurrenz. Sie haben die Kraetzer, der über den Krach unter den Führungspersonen“ ein. Macht, Fakten zu schaffen, sei es im Kampf Ost-Sozis verärgerte SPD-Bürgermeister Im Vergleich zu den Ober-Ossis anderer mit der Bonner CDU, sei es im Umgang von , „zum Selbstzerflei- Parteien hat Thierse lange durchgehalten. mit der PDS. schen sind wir im Osten zu wenig.“ ™

der spiegel 4/1997 47