Max Henninger Das „italienische Panama“ und die Revolten von 1893 bei Friedrich Engels und Antonio Labriola

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Um die Jahreswende 1892/93 machte das Königreich Italien durch einen Bankenskandal von sich reden.1 Man sprach vom „italienischen Panama“ oder auch vom „Panamino“, dem „kleinen Panama“. Diese Bezeichnung spielte auf einen kurz zuvor in Frankreich ausgebro- chenen Skandal an, der als größte Bestechungsaffäre des 19. Jahr- hunderts in die Geschichte eingegangen ist: Die französische Re- gierung unter Georges Clemenceau musste sich 1892 dafür verant- worten, von der zur Finanzierung des Panamakanalbaus gegründe- ten Compagnie de Panama größere Summen Bestechungsgeld an- genommen und im Gegenzug den Bankrott der Compagnie jahre- lang verschleiert zu haben. Hunderttausenden Kleinanlegern hatte das einen Verlust von annähernd zwei Milliarden Francs beschert.2

1 Dieser Aufsatz ist aus Recherchen hervorgegangen, die 2012 und 2013 im Auf- trag der Bremer Editorengruppe der Marx / Engels Gesamtausgabe (MEGA2) unter- nommen wurden; die in ihm behandelte Korrespondenz zwischen Friedrich Engels und Antonio Labriola soll in der MEGA2, Abt. III, Bd. 34, in den Originalsprachen mit kritischem Apparat veröffentlicht werden. Hier entwickelte Einschätzungen und Urteile sind die des Verfassers und entsprechen nicht notwendig den Positionen der Bremer Editorengruppe. Dank für wertvolle Hinweise und weiterführende Kri- tik geht an Till Schelz-Brandenburg, Helmut Dietrich und Thomas Funk. 2 Jean Y. Mollier, Le scandal de Panama, Paris 1991; Pierre A. Bourson, L’affaire Panama, Paris 2000.

8 Sozial.Geschichte Online 14 (2014), S. 8–41 (http://www.stiftung-sozialgeschichte.de) Forschung / Research

Der italienische Bankenskandal war zwar geringeren Ausmaßes, aber ansonsten durchaus vergleichbar.3 Zwei Parlamentsabgeordne- te, Napoleone Colajanni und Ludovico Galvazzi, erklärten am 20. Dezember 1892, sie seien im Besitz eines von der Regierung jahre- lang unter Verschluss gehaltenen Berichts, in dem der Banca Roma- na, einer der sechs italienischen Emissionsbanken, schwerwiegende illegale Praktiken nachgewiesen würden. Der Bericht war authen- tisch und die Banca Romana hatte in der Tat 25 Millionen Lire mehr emittiert, als gesetzlich erlaubt; daran und an den Fehlbetrag von neun Millionen Lire, den ihr Kassenstand aufwies, knüpften sich eine Reihe von Bestechungsaffären, in die nicht nur prominen- te Journalisten und Parlamentsmitglieder, sondern auch Angehöri- ge des italienischen Königshauses verwickelt waren. Den Bericht, auf den sich Colajanni und Galvazzi bezogen, hat- ten der Senator Giuseppe Giacomo Alvisi und der Beamte des Schatzamts Gustavo Biagini bereits 1889 auf Anfrage des Landwirt- schafts-, Industrie- und Handelsministers Luigi Alfonso Miceli ver- fasst. Der damalige italienische Ministerpräsident und dessen Finanzminister , zwischen Mai 1892 und November 1893 selbst Ministerpräsident, hatten sich zwar be- müht,4 jegliche Verbreitung des Berichts zu unterbinden, doch war 1892 eine Abschrift des Textes über einen Vertrauten Senator Alvi- sis, den Soziologen und Ökonomen Leone Wollemborg, in die Hän- de einiger Redakteure der wirtschaftsliberalen Zeitschrift Giornale degli Economisti gelangt. Die Redakteure (unter ihnen der Soziolo- ge Vilfredo Pareto) nahmen sich vor, der Geheimhaltung des Be-

3 Grundlegend zum Italien der 1890er Jahre: Gastone Manacorda, Dalla crisi alla crescita: crisi economica e lotta politica in Italia, 1892–1896, Rom 1993. Zum Ban- kenskandal: Eligio Vitale (Hg.), La riforma degli istituti di emissione e gli « scandali bancari » in Italia, Rom 1972. Vgl. zeitgenössisch: Richard Dalla Volta, The Italian Banking Crisis, Journal of Political Economy, 1 (1893), S. 1–25. Faktenreich, aber erkennbar von der faschistischen Ideologie seines Verfassers geprägt, ist das Buch von Nello Quilici: Fine di secolo – Banca Romana, Mailand 1935. 4 Giolittis kurze Amtszeit war durch seinen am 24. November 1893 erklärten Rücktritt bedingt, der wiederum Folge des Bankenskandals war. Nach Giolittis Rücktritt übernahm Crispi erneut das Amt des Ministerpräsidenten.

Sozial.Geschichte Online 14 (2014) 9 richts ein Ende zu setzen. Sie dachten zunächst daran, ihren Infor- manten Wollemborg die Befunde Alvisis und Biaginis öffentlich machen zu lassen. Im November 1892 wurde Wollemborg ins Par- lament gewählt. Die von ihm während des Wahlkampfs in Aussicht gestellten Enthüllungen unterblieben dann jedoch. Zum oben beschriebenen Ausbruch des Skandals kam es erst, als die Redakteure des Giornale degli Economisti auch die Abgeordne- ten Colajanni und Galvazzi in den Inhalt des Berichts einweihten.5 Colajanni war den Redakteuren von einem Philosophieprofessor der Universität Rom vorgeschlagen worden, der zu dieser Zeit eine rege Korrespondenz mit Friedrich Engels pflegte: Antonio Labrio- la.6 Der von Engels Anfang 1893 geschriebene und anonym im Vor- wärts erschienene Artikel „Vom italienischen Panama“ stützt sich wesentlich auf Informationen Labriolas.7 Die Konsequenzen aus dem Bankenskandal wurden im Juli 1893 gezogen. Das in jenem Monat rechtskräftig gewordene Bankenge-

5 Ausführlich geschildert sind diese Ereignisse bei Quilici, Fine di secolo (wie Anm. 3), S. 90–109; Colajanni selbst hat seine Einweihung in den Inhalt des Alvisi- Biagini-Berichts geschildert in: Napoleone Colajanni, Banche e parlamento. Fatti, discussioni e commenti, Mailand 1893, S. 4–10. Siehe auch Vitale, La riforma (wie Anm. 3), S. 12–20. 6 Grundlegend zur Person Labriolas: Luigi Dal Pane, Antonio Labriola nella poli- tica e nella cultura italiana, Turin 1975. Zum Verhältnis Labriolas zur deutschen So- zialdemokratie und insbesondere zu Engels siehe: Renzo Martinelli, Antonio La- briola 1843–1904, Rom 1988, S. 68–94; Léo Valiani, Lettres de Antonio Labriola aux socialistes allemands et français (1890–1900), Bulletin of the International Institute of Social History, 2 (1954), S. 93–120; Malcolm Sylvers, Il cammino di un intellet- tuale marxista ed il rapporto con Friedrich Engels, in: Carlo Antonio Barberi- ni / Eros Barone / Gerd Callesen u. a. (Hg.), Antonio Labriola e la nascita del marx- ismo in Italia, Mailand 2005, S. 91–106; Eros Barone, Il carteggio tra Labriola ed Engels, ebd., S. 107–128. Siehe auch Giuseppe Del Bo (Hg.), La corrispondenza di Marx e Engels con italiani 1848–1895, Mailand 1964; Ernesto Ragionieri, Socialde- mocrazia tedesca e socialisti italiani, 1875–1895, Mailand 1961. 7 Friedrich Engels, Vom italienischen Panama, Vorwärts, 27–29 (1.–3. Februar 1893), jetzt in: Karl Marx / Friedrich Engels, Gesamtausgabe (MEGA2), Abt. I, Bd. 32, S. 198–204. Zur Datierung des Artikels und der Frage, weshalb Engels den Arti- kel anonym veröffentlichte, siehe ebd., S. 967 f. Die Briefe Labriolas finden sich in: Antonio Labriola, Carteggio, Bd. 3: 1890–1895, Neapel 2003.

10 Forschung / Research setz sah die Zusammenlegung von vier der sechs italienischen Emis- sionsbanken zu einem einzigen Institut, der Banca d’Italia, vor. Nur der Banco di Napoli und der Banco di Sicilia sollten neben diesem neuen Institut fortbestehen.8 Das Gesetz beseitigte eine wesentli- che Anomalie des italienischen Bankenwesens: das Nebeneinander- bestehen eines halben Dutzends zur Emission landesweit gültigen Papiergeldes berechtigter Geldhäuser. Diese Modernisierung des ita- lienischen Bankenwesens dürfte das Hauptziel gewesen sein, das die Redakteure des Giornale degli Economisti durch ihre Anstiftung des Skandals verfolgten. Dem Sozialisten Labriola dürfte es bei seiner Beteiligung an be- sagter Anstiftung eher darum gegangen sein, den korrupten Cha- rakter der Regierung und ihre Verstrickungen mit einem auf Betrü- gereien angewiesenen Finanzkapital öffentlichkeitswirksam nachzu- weisen. Italien durchlief in den frühen 1890er Jahren eine Reihe in- nenpolitischer Umbrüche, in welche die in Gründung befindliche sozialistische Partei verschiedentlich propagandistisch zu interve- nieren versuchte.9 Ausdruck der innenpolitischen Instabilität des Landes waren 1893 neben dem Bankenskandal und dem Rücktritt des Ministerpräsidenten Giolitti eine Reihe größerer und kleinerer Revolten insbesondere süditalienischer Arbeiter und Arbeiterinnen. Am bekanntesten ist der Aufstand der sizilianischen Fasci dei la- voratori („Arbeiterbünde“), auf den die Regierung in der ersten

8 Siehe Vitale, La riforma (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 37–94; ebd., Bd. 3, S. 203–215 (Dokumentation des Gesetzestextes). 9 Die italienische sozialistische Partei (Partito socialista italiano) wurde 1892 auf dem Kongress von Genua (14.–15. August) gegründet. Vorläufer waren die 1882 in Mailand gegründete italienische Arbeiterpartei (Partito operaio italiano) und der 1889 gegründete Mailänder Sozialistenbund (Lega socialista milanese). Die Grün- dung der sozialistischen Partei war gekennzeichnet von einer scharfen Spaltung zwi- schen der parlamentarisch und marxistisch orientierten Strömung um und der insurrektionalistisch und anarchistisch orientierten Strömung um Pietro Gori und andere. Es war die erste dieser beiden Strömungen, die sich in Genua durch- setzte. Siehe Franco Pedone (Hg.), Il Partito socialista italiano nei suoi congressi, Bd. 1: 1892–1902, Mailand 1959, S. 5–26.

Sozial.Geschichte Online 14 (2014) 11 Jahreshälfte 1894 mit drastischer Repression reagierte.10 Labriola hat in seinen Briefen an Engels auch über diese Entwicklungen berich- tet. Die Ursachen der sizilianischen Revolte reichen bis in die 1880er Jahre zurück. Die Lebensverhältnisse der Landarbeiter hatten sich über Jahrzehnte hinweg verschlechtert, unter anderem bedingt durch die sich kontinuierlich öffnende Schere von sinkenden Agrarpreisen und steigenden Steuerforderungen der italienischen Zentralregie- rung.11 Auch unter den Schwefelgrubenarbeitern herrschte Unmut. Zu ihren ungewöhnlich harschen Arbeitsbedingungen kamen nied- rige Löhne und die durch eine Überproduktionskrise verschärfte Prekarität des Beschäftigungsverhältnisses hinzu. Die ab 1891 ge- gründeten, teils aus zuvor bestehenden Gewerkvereinen, Genossen- schaften und Hilfskassen hervorgegangenen Fasci dei lavoratori wa- ren zunächst gewerkschaftsähnliche Vereinigungen der Land- und Schwefelgrubenarbeiter. Ihre Zusammensetzung war allerdings he- terogener, als es auf den ersten Blick erscheint, denn auch das städ- tische Handwerksproletariat war in ihnen vertreten. Zu den etwa 7.500 Mitgliedern des im Juni 1892 gegründeten, vom Sozialisten Rosario Garibaldi Bosco angeführten Fascio von Palermo zählten Drucker, Weber, Tischler, Schneider, Schmiede und Schuster.12 Aber auch Personen bürgerlichen Hintergrunds organisierten sich in der

10 Siehe zu den Fasci: Renato Zangheri, Storia del socialismo italiano, Bd. 2: Dalle prime lotte nella Valle Padana ai , Turin 1997; Francesco Renda, I fasci siciliani (1892–1894), Turin 1977; Salvatore Francesco Romano, Storia dei fasci sici- liani, Bari 1959. Zeitgenössisch: Adolfo Rossi, L’agitazione in Sicilia, a proposito del- le ultime condanne: impressioni e giudizi, Mailand 1894. Aus der Feder Labriolas: Antonio Labriola, Sui fasci siciliani, Handschrift vom 22. November 1893, in: ders., Scritti politici, Bari 1970, S. 307–310; Antonio Labriola, Ancora sui fasci siciliani, Handschrift vom 9. April 1894, ebd., S. 319–320. Es handelt sich um Artikel, die La- briola für die Wiener Arbeiterzeitung verfasste. Für die Veröffentlichung des ersten Artikels gibt es bislang keinen Nachweis; der zweite erschien in der Ausgabe vom 24. April 1894. 11 Engels sprach von „la fiscalité la plus vorace que jamais système bourgeois ait in- ventée.“ Friedrich Engels, La situation en Italie, Handschrift vom 25. und / oder 26. Januar 1894, jetzt in: Karl Marx / Friedrich Engels, Gesamtausgabe (MEGA2), Abt. I, Bd. 32, S. 269–272, hier S. 269.

12 Forschung / Research

Bewegung, die im März 1893 bereits weit genug gediehen war, um mit einer in Palermo abgehaltenen Generalversammlung von sich reden zu machen. Ein halbes Jahr später, im Herbst 1893, erreichte die Entwicklung der Fasci dann ihren von Streiks und Aufständen gekennzeichneten Höhepunkt, auf den die militärische Repression folgte. Der durch eine umfassende Gesetzesreform erreichten Beilegung des Bankenskandals folgte also binnen kurzer Frist ein bürgerkriegs- ähnliches Geschehen im Süden des Landes, dem mit Reformen allein nicht mehr beizukommen war. Das „italienische Panama“ gibt sich im historischen Rückblick als Auftakt einer mindestens anderthalbjäh- rigen innenpolitischen Krise zu erkennen. War das erste Halbjahr 1893 von der Aufdeckung schwerwiegender finanzpolitischer Missstän- de und grellen Schlaglichtern auf die grassierende Korruption der politischen Klasse geprägt, so brach sich im folgenden Halbjahr der soziale Konflikt Bahn. Die italienische Regierung changierte wäh- rend des gesamten Zeitraums geschickt zwischen politischer Reform und polizeilicher Repression.13 Dieses Vorgehen war derart erfolg- reich, dass bis zum Sommer 1894 nicht nur die sizilianische Revolte beendet, sondern auch jegliche offene politische Arbeit der Sozia- listen auf Jahre hinaus verunmöglicht werden konnte.

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Um ihr militärisches Vorgehen gegen die Fasci zu legitimieren, ver- suchte die Regierung von Ministerpräsident Crispi die Bewegung als ein aus Frankreich gesteuertes Komplott darzustellen, mit dem Paris die Abspaltung Siziliens von Italien anstrebe. Gerüchte über Waffen- lieferungen aus Frankreich wurden von Crispi dankbar aufgegrif- fen, um den innenpolitischen, sprich sozialen Konflikt in einen au-

12 Daniela Adorni, L’Italia crispina, Riforme e repressione, 1887–1896, Mailand 2002, S. 283. 13 So die These Daniela Adornis; siehe dies., L’Italia crispina (wie Anm. 12).

Sozial.Geschichte Online 14 (2014) 13 ßenpolitischen umzudeuten und Maßnahmen wie die Einsetzung von Militärtribunalen zu rechtfertigen.14 Was die Mär einer aus Paris gelenkten Subversion an Glaubwür- digkeit für sich beanspruchen konnte, gründete nicht nur auf dem seit längerem angespannten Verhältnis der französischen und italie- nischen Regierungen, sondern auch auf einem Vorfall aus dem Au- gust 1893, der seinerseits, wie der Aufstand der Fasci, Ausdruck so- zialer Spannungen war. Am 16. und 17. August, also nur wenige Wo- chen nach der Verabschiedung des Bankengesetzes und kurz vor der Zuspitzung der sizilianischen Revolte, lieferten sich italienische und französische Arbeiter in der südfranzösischen Stadt Aigues- Mortes heftige Auseinandersetzungen. Die französischen Beschäf- tigten der örtlichen Salzwerke beschuldigten ihre italienischen Kol- legen der Lohndrückerei, worauf es zu Krawallen kam, bei denen eine ungeklärte Zahl von Personen – die Angaben reichen von neun bis dreißig – ihr Leben ließen. Der Vorfall dürfte der Regierung Cri- spi die Blaupause geliefert haben für ihre propagandistische Taktik der Überführung sozialer und Arbeitskonflikte in die Kategorien nationalstaatlicher Konkurrenz. Denn die Massengewalt von Aigues- Mortes wurde in der italienischen Presse einer chauvinistischen In- terpretation unterzogen. Den französischen Arbeitern wurde die al- leinige Schuld an der Auseinandersetzung zugewiesen, sie wurden der Unzivilisiertheit und Grausamkeit beschuldigt und es wurden sogar Rufe nach einen Krieg gegen Frankreich laut (etwa in der re- gierungsnahen neapolitanischen Tageszeitung Il Pungolo).15 Bezeichnenderweise fanden diese chauvinistischen Pressestimmen nur bedingt Anklang. Zwar kam es in mehreren italienischen Städ-

14 Christopher Duggan, Francesco Crispi, 1818–1901, Oxford 2002, S. 640–644; Ambra Boldetti, La repressione in Italia: il caso del 1894, Rivista di storia con- temporanea, 6 (1977), 4, S. 481–515, hier S. 489, Anm. 32; Gastone Manacorda, Dal- la crisi (wie Anm. 3), S. 97, 213. 15 Nunziata Lo Presti, I fatti di Aigues-Mortes e le loro ripercussioni in Italia, Rassegna storica del Risorgimento, 1974, S. 282–300; Lucio D’Angelo, L’eccidio di Aigues-Mortes e le sue ripercussioni in Italia e in Francia, Critica storica, 1976, S. 458–503.

14 Forschung / Research ten zu Demonstrationen mit Angriffen auf französische Botschaf- ten und Konsulate. Die Demonstrationen verloren jedoch schon bald ihren antifranzösischen Charakter und begannen den Vorfall von Ai- gues-Mortes als Ausdruck einer sozialen Problematik zu thematisie- ren.16 Den ab dem 19. August täglich durch Rom ziehenden De- monstrationen schlossen sich bereits am dritten Tag streikende Stein- metze und Maurer an, die auf ihren Flugblättern dazu aufforderten, den Protest nicht gegen Frankreich, sondern gegen die Bourgeoisie zu richten. Der Versuch, wie an den Vortagen zur französischen Bot- schaft auf der Piazza Farnese vorzudringen, wurde aufgegeben. Statt- dessen errichteten die Demonstranten Barrikaden und lieferten sich eine mehrstündige Schlacht mit den von der Stadtverwaltung ent- sandten Truppen. Die Regierung sah darin die Folge anarchistischer Agitation. Am Folgetag kam es zu zahlreichen Verhaftungen poli- zeibekannter Anarchisten.17 Ähnlich, aber dramatischer verliefen die Proteste in Neapel. Nach Steinwürfen gegen das französische Konsulat am Abend des 20. August richtete sich der Unmut der Demonstranten bereits am Folgetag gegen andere Ziele. Nun wurden auch die Schaufenster italienischer Geschäfte eingeschlagen, und zu den Demonstratio- nen kam, wie bereits in Rom, ein Streik hinzu: Am 23. August traten die Kutscher Neapels in den Ausstand. Um ihrem Arbeitskampf Nach- druck zu verschaffen, blockierten sie die Routen der Trambahn, was zu kleineren Krawallen führte. Als eine Menschenmenge versuchte, einen verhafteten Kutscher aus einer Polizeiwache im Stadtviertel Pendino zu befreien, schoss die Polizei neun Personen an, von de- nen drei tödliche Verletzungen erlitten. Daraufhin wurden auch in Neapel Barrikaden errichtet, außerdem die Wohnhäuser wohlhaben- der Bürger angegriffen. Am 24. August gewannen die Proteste noch zusätzlich an Vehemenz, nachdem ein Carabiniere einen dreizehn-

16 Einen publizistischen Nachhall fand diese zunächst auf der Straße vollzogene Ablehnung der chauvinistischen Interpretation des Vorfalls von Aigues-Mortes in einem Artikel von Labriola: Ancora sui fatti di Aigues-Mortes, La Capitale, 1. No- vember 1893, in: ders., Scritti politici (wie Anm. 10), S. 301–306. 17 D’Angelo, L’eccidio (wie Anm. 15), S. 100 f.

Sozial.Geschichte Online 14 (2014) 15 jährigen Demonstranten erschossen hatte. Erst am Folgetag gelang es der Regierung, die Demonstrationen und Krawalle aufzulösen, und zwar durch die militärische Belagerung der Stadt. Die Wieder- herstellung der bürgerlichen Ordnung hatte auch in Neapel eine Verhaftungswelle zum Schlussakt: Bis zum Morgen des 26. August nahm die Polizei etwa 1.200 Personen in Gewahrsam.18 Die Proteste in Neapel und ihre Niederschlagung waren ein Vor- schein der weiteren Entwicklung auf Sizilien. Denn am 3. Januar 1894, als es um die endgültige Zerschlagung der Fasci-Bewegung ging, wurde auf der gesamten Insel der Belagerungszustand verhängt. Das rechtlich fragwürdige Vorgehen – die Verhängung des Belage- rungszustands (stato d’assedio) war streng genommen nur für den Kriegsfall vorgesehen – wurde mit der Behauptung legitimiert, es gehe um die Abwehr einer verdeckten französischen Intervention.19 Ministerpräsident Crispi ließ 40.000 Soldaten nach Sizilien entsen- den. Es kam zur Einrichtung von militärischen Sondertribunalen, vor denen Mitglieder der Fasci massenhaft zur Verbannung (domi- cilio coatto) verurteilt wurden; bis Ende des Monats belief sich die Zahl der Verurteilten auf rund tausend Personen. Im Rahmen des Belagerungszustands wurde auch eine Zensurbehörde eingerichtet, die den Vertrieb politischer unliebsamer Zeitungen aus dem In- und Ausland unterband.20 Die endgültige Abwicklung des Fasci-Aufstands begann im April 1894 mit der Eröffnung des Prozesses gegen Giuseppe De Felice Giuffrida, Rosario Garibaldi Bosco und andere Protagonisten der Bewegung.21 Einen noch bedeutenderen Schlag, der das hier umris-

18 Ebd., S. 102 f. Vgl. zeitgenössisch: Relazione della Commissione d’inchiesta sui disordini avvenuti in Napoli dal 20 al 25 agosto 1893, Gazzetta Ufficiale, 213 (11. Sep- tember 1893), S. 3961–3965. 19 Luciano Violante, La repressione del dissenso politico nell’Italia liberale: stati d’assedio e giustizia militare, Rivista di storia contemporanea, 5 (1976), 4, S. 481– 524, hier S. 517–522; Duggan, Francesco Crispi (wie Anm. 14), S. 643; Zangheri, Storia (wie Anm. 10), Bd. 2, S. 562. 20 Boldetti, La repressione (wie Anm. 14), S. 490. 21 Rino Messina, Il processo imperfetto. I Fasci siciliani alla sbarra, Palermo 2008. Zwischen der Niederschlagung der Fasci im Dezember 1893 und der Prozesser-

16 Forschung / Research sene innenpolitische Krisengeschehen im Sinne der Regierung ent- schied, versetzte Crispi den Protestbewegungen und organisierten antikapitalistischen Strömungen Italiens einige Monate später. Mit den am 1. Juli 1894 der Abgeordnetenkammer vorgelegten und bin- nen dreier Wochen gebilligten Sondergesetzen gelang es Crispi, die auf Sizilien ergriffenen Sondermaßnahmen auf eine feste rechtliche Grundlage zu stellen, landesweit auszudehnen und zu verstetigen. Anarchisten und Sozialisten mussten in Zukunft auch bei kleineren Delikten mit erheblicher Repression rechnen und sahen sich in ih- ren organisatorischen und agitatorischen Möglichkeiten stark einge- schränkt. Das erste der drei von Crispi durchgesetzten Sondergesetze ver- schärfte die Bestrafung von Sprengstoffdelikten und stellte allein schon deren Rechtfertigung unter Strafe. Das zweite Gesetz nahm eine Einschränkung der Pressefreiheit vor, die insbesondere auf die Unterbindung antibellizistischer und antimilitaristischer Meinungs- äußerungen abzielte. Hielten sich die Auswirkungen dieser beiden Gesetze auf die italienischen Sozialisten und Anarchisten noch in Grenzen, so war das dritte Gesetz für sie nichts weniger als verhee- rend: Es weitete die Anwendbarkeit von Präventivhaft und Verban- nungsstrafe auf zahlreiche bis dahin weniger streng bestrafte Delik- te aus, kriminalisierte jegliche Äußerung, die auf den Vorsatz schlie- ßen ließ, die „gesellschaftliche Ordnung“ zu unterwandern und ver- bot darüber hinaus sämtliche „Zusammenschlüsse und Versamm- lungen“, die eine solche Unterwanderung befürchten ließen.22 Da- mit war beispielsweise die Abhaltung von sozialistischen Kongres-

öffnung im April 1894 kam es auch in Norditalien zu einer Revolte, die allerdings sehr kurzlebig war: Anarchistische Arbeiter aus den Marmorbrüchen der Provinz Massa Carrara schritten am 13. Januar 1894 zum bewaffneten Aufstand. Diese Re- volte konnten Crispis Truppen innerhalb von wenigen Tagen niederschlagen, unter anderem dank ihrer Anwendung der bereits auf Sizilien erprobten Repressionsmaß- nahmen. Vgl. zeitgenössisch: Resoconto dei processi per i fatti accaduti nella pro- vincia di Massa e Carrara, Carrara 1894. 22 Boldetti, La repressione (wie Anm. 14), S. 496–509; Pier Carlo Masini, Storia degli anarchici italiani nell’epoca degli attentati, Mailand 1981, S. 55 f.; Adorni, L’Ita- lia crispina (wie Anm. 12), S. 301–304.

Sozial.Geschichte Online 14 (2014) 17 sen zunächst einmal verunmöglicht – für die junge sozialistische Partei ein schwerer Rückschlag. Sicherlich trug der Eindruck, den zwei im Juni 1894 von italienischen Anarchisten unternommene At- tentate hinterlassen hatten, zur raschen Bewilligung der Gesetze bei.23 Doch stehen diese Gesetze auch deutlich in Kontinuität zu den ge- gen die sizilianischen Fasci angewandten Repressionsmaßnahmen. Als zusammenfassende, aus der Perspektive von Sozialisten wie Labriola und Engels formulierte Bewertung des hier dargestellten Zeitraums lässt sich festhalten, dass er mit einem propagandisti- schen Erfolg begann (der Enthüllung der im Alvisi-Biagini-Bericht geschilderten Missstände im Dezember 1893), aber mit einer dras- tischen Beschneidung der eigenen politischen Handlungsspielräume endete (den Sondergesetzen des Juli 1894). Dazwischen verlagerte sich der Schwerpunkt des Geschehens von der Aufarbeitung des Ban- kenskandals durch die Regierung – einer Aufarbeitung, die schlus- sendlich recht zügig erfolgte und in eine gelungene finanzpoliti- sche Modernisierung des Landes mündete – zum sozialen, in klei- neren und größeren Aufständen sich Bahn brechenden Protest vor allem süditalienischer Arbeiter. Durch ihre Bereitschaft, rasch zum Mittel der militärischen Repression zu greifen, konnte die Regie- rung Crispi die Entwicklung zu ihren Gunsten wenden. Indem sie die zunächst in Überschreitung ihrer rechtlichen Befugnisse ange- wandten Maßnahmen nachträglich legalisierte, gelang es ihr, die ei- gene Machtposition nachhaltig zu konsolidieren und die antikapita- listischen Kräfte des Landes in ihren Organisationsbemühungen um Jahre zurückzuwerfen. Es wäre jedoch irreführend, die Niederlage der Sozialisten einzig auf die militärische Übermacht der Regierung zurückzuführen. Viel- mehr scheint ihnen, jedenfalls im Norden des Landes, die Bedeu- tung der Entwicklung auf Sizilien lange entgangen zu sein; zumin-

23 Der Anarchist Paolo Lega hatte am 16. Juni ein Revolverattentat auf Crispi versucht; am 24. Juni war es einem weiteren italienischen Anarchisten, Sante Gero- nimo Caserio, gelungen, den französischen Staatspräsidenten Marie François Sadi Carnot zu erdolchen.

18 Forschung / Research dest Labriola war – wie unten darzustellen sein wird – noch vom Bankenskandal gebannt, als in Sizilien bereits der soziale Aufstand auf der Tagesordnung stand. Hinweise auf den bevorstehenden Auf- stand erreichten ihn durchaus, doch er tat sie als anarchistische Träu- mereien ab. Was Engels angeht, so hat er sich zwar umfassend zum „italienischen Panama“ der Jahreswende 1892/93 geäußert, nicht aber zu den Fasci.

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Der in den ersten drei Februartagen 1893 im Vorwärts veröffentlichte Artikel „Vom italienischen Panama“ ist die mit Abstand längste Ver- öffentlichung, die Engels im hier verhandelten Zeitraum italienischen Angelegenheiten gewidmet hat.24 Der Artikel bietet seinen Lesern und Leserinnen eine flott geschriebene Einführung in den Verlauf des Bankenskandals, die stellenweise von einem recht abschätzigen Blick auf das südeuropäische Land geprägt ist. So eröffnet Engels seinen Text beispielsweise mit einem Zitat aus einem „deutschen Studenten- liede von den italienischen Wanzen und Flöhen“ – „Italia, Italia, was hast du für Canaglia“ – und merkt dazu an, dass es in Italien „neben der sechsbeinigen Canaglia“ auch „zweibeinige“ gebe (ge- meint sind die in den Bankenskandal verwickelten wirtschaftlichen und politischen Autoritäten).25 Die Vorstellung einer moralischen Unterlegenheit Italiens gegenüber Deutschland ist damit allerdings nicht verbunden. Engels stellt Italien und Deutschland (sowie Frank-

24 Engels, Panama (wie Anm. 7). Vgl. zur Vorgeschichte Karl Marx / Friedrich Engels, Werke (MEW), Bd. 39, Berlin 1968, S. 186. Weitere Texte von Engels zu Ita- lien aus dieser Zeit: La situation (wie Anm. 11); ders., Au troisième congrès du Parti socialiste des travailleurs italiens (6. September 1894), in: MEGA2, Abt. I, Bd. 34, S. 303; ders., Aux socialistes de la Sicile (26. September 1894), ebd., S. 304; ders., A la rédaction de la « Critica Sociale » (27. Oktober 1894), ebd., S. 305 f.. 25 Engels, Panama (wie Anm. 7), S. 198. Das Bild Italiens als eines sozial und politisch rückständigen, von „Hochstaplern“ (impostori) und „Scharlatanen“ (ciarla- tani) bevölkerten Landes findet sich freilich auch bei Labriola: Brief an Engels vom 26. Juli 1894, in: Carteggio (wie Anm. 7), Bd. 3, S. 422 f., hier S. 423; vgl. den Brief vom 2. Juli 1893, ebd., S. 303–308, insbesondere S. 307.

Sozial.Geschichte Online 14 (2014) 19 reich) auf eine Ebene: Durch den Bankenskandal habe Italien ge- zeigt, dass es in Sachen Korruption und Misswirtschaft nicht nur „la belle France von Panama“ sondern auch der „züchtigen Germania der Gottesfurcht, der frommen Sitte und des Welfenfonds“ ebenbür- tig sei.26 Im Hinweis auf Panamaskandal und Welfenfonds zeigt sich die den gesamten Text kennzeichnende Intention, auf die Parallelität der Korruptionsskandale und finanzwirtschaftlichen Betrügereien in den verschiedenen europäischen Ländern hinzuweisen. Beim Welfen- fonds handelte es sich um das 1868 beschlagnahmte und seitdem von einer preußischen Kommission verwaltete Vermögen des ehe- maligen Königs von Hannover; aus ihm wurden unter anderem Schlossbauten Ludwigs II. von Bayern, vor allem aber eine syste- matische Bestechung der Presse durch Bismarck finanziert.27 Für die deutsche Gesamtwirtschaft war der Welfenfonds bei weitem nicht so bedeutsam wie die jahrelange Misswirtschaft der Banca Romana für die italienische. Doch beschäftigte der Fonds gerade zum Zeit- punkt, da Engels schrieb, die deutsche Öffentlichkeit, denn Kaiser Wilhelm II. hatte erst 1892 in die Verwaltung der Gelder interve- niert und angewiesen, die Zinsen in Zukunft ausschließlich dem Kö- nigshaus Hannover zukommen zu lassen. Damit war der Hinweis auf den Welfenfonds geeignet, den Lesern und Leserinnen des Vor- wärts eine ungefähre Vorstellung von den italienischen Vorgängen zu vermitteln und zugleich den Eindruck einer europaweit grassie- renden Korruption zu schüren.28 Auf Letzteres zielt auch der Schluss

26 Engels, Panama (wie Anm. 7), S. 198. 27 Hans Philippi, Zur Geschichte des Welfenfonds, in: Niedersächisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 31 (1959), S. 190–254; Dieter Brosius, Welfenfonds und Presse im Dienste der preußischen Politik in Hannover nach 1866, in: ebd., 36 (1964), S. 172–206. 28 Das Verfahren, Parallelen zu anderen Ländern anzudeuten und damit das Sze- nario einer europaweiten Korruption zu beschwören, findet sich – selbstredend un- ter ganz anderen Vorzeichen – auch in dem bereits erwähnten, rund vierzig Jahre nach dem Artikel von Engels veröffentlichten Buch des faschistischen Historikers Nello Quilici. Auch diesem dient als französische Parallele zum Bankenskandal die Affäre um den Panamakanalbau; als Beispiel aus Deutschland wird nicht der Welfenfonds

20 Forschung / Research des Artikels: „Panama und Panamino und Welfenfonds beweisen“, heißt es dort, „daß die ganze heutige Bourgeoispolitik [...] nicht ge- führt werden kann ohne kolossale Massen Geld; daß diese Geld- massen verwandt werden für Zwecke, die man nicht öffentlich be- kennen darf; und daß die Regierungen [...] sich mehr und mehr ge- nöthigt sehen, für diese unsagbaren Zwecke die Mittel auf unsagba- ren Wegen beizuschaffen.“29 Mit einer gewissen Genüsslichkeit beschreibt Engels, wie die Re- form des italienischen Bankenwesens über Jahre hinweg und unge- achtet des Wechsels der Regierungen verschleppt wurde. Der Al- visi-Biagini-Bericht wurde „stillschweigend zu den Akten [gelegt]“; Minister Miceli, der den Bericht in Auftrag gegeben hatte, bat Alvi- si, „ihn und den Kredit des Landes nicht durch Enthüllungen zu kompromittiren“; das Projekt einer Bankenreform ging „[w]ie ‚Fünkchen lebt noch‘, der Glimmspahn im Kinderspiel, […] von Hand zu Hand, bis endlich […] das letzte Fünkchen unbefugter- weise grausam zerdrückt wurde.“30 Im weiteren Verlauf seiner Darstellung skizziert Engels die ta- gespolitischen Details des Bankenskandals, um diese polemisch aus- zuschlachten. Er nennt die Namen der in den Skandal verwickelten Politiker und spekuliert über mögliche Quellen weiterer Enthüllun- gen.31 Zwar nennt er auch Zahlen, aus denen das Ausmaß der Miss- wirtschaft insbesondere bei der Banca Romana hervorgeht,32 doch angeführt, sondern ein im Juli und August 1892 ausgebrochener Skandal um die an- geblich fehlerhaften Gewehre des Waffenherstellers Loewe, der das deutsche Heer belieferte. Tatsächlich ging es dabei weniger um Korruption und Misswirtschaft als um Antisemitismus: Loewe war eine jüdische Firma, und die Vorwürfe gegen sie dienten als Vorwand für eine aus konservativen Kreisen heraus betriebene antijüdi- sche Kampagne. Quilicis Vergleich zwischen Deutschland hinkt damit noch stärker als der von Engels. Vgl. Quilici, Fine di secolo (wie Anm. 3), S. 95, Anm. 3. 29 Engels, Panama (wie Anm. 7), S. 204. 30 Ebd., S. 199. „The parliamentary machine is pretty slow“, fiel auch einem Zeit- genossen von Engels, dem Ökonomen Richard Dalla Volta, auf: Banking Crisis (wie Anm. 3), S. 6. 31 Engels, Panama (wie Anm. 7), S. 201 ff. 32 Ebd., S. 199.

Sozial.Geschichte Online 14 (2014) 21 bleibt der ökonomische Hintergrund der Vorfälle dort und bei den anderen italienischen Emissionsbanken insgesamt unterbelichtet. Durch seine oben zitierte Interpretation dieser Vorfälle – die „Bour- geoispolitik“ benötige für ihre nicht öffentlich bekennbaren Zwe- cke „Geldmassen“ und sei „genötigt“, diese „auf unsagbaren Wegen beizuschaffen“ – verstellt sich Engels geradezu den Blick auf die im Bankenskandal zutage tretende ökonomische Problematik.33 Um die- se besser zu verstehen, lohnt es, die Analyse eines anderen Zeitge- nossen, des wirtschaftsliberalen Ökonomen Richard Dalla Volta her- anzuziehen. In seinem im Dezember 1893 in der amerikanischen Fachzeit- schrift Journal of Political Economy erschienenen Artikel „The Ita- lian Banking Crisis“ geht Dalla Volta ausführlich auf die ökonomi- sche Vorgeschichte des Skandals ein.34 Er moniert zwar die Rolle, die „government interference, politics, and other like influences“ darin ge- spielt hätten,35 macht das Hauptproblem aber in wirtschaftlichen Fehlentscheidungen der Bankiers aus, insbesondere in ihrer unge- bremsten Geldemission und ihrem unverantwortlichen Umgang mit Krediten. Sehe man ab von italienischen Besonderheiten wie den „caprices of government control“, so sei die Situation durchaus ver- gleichbar mit der in England vor dem Bank Charter Act von 1844: Bei der anstehenden italienischen Bankenregulierung gehe es, wie in England ein halbes Jahrhundert zuvor, um die Eindämmung ei- ner exzessiven Geldschöpfung.36 Den sechs italienischen Emissionsbanken war es seit 1874 ge- setzlich erlaubt, Banknoten im dreifachen Wert ihres Eigenkapitals zu emittieren. Nur ein Drittel ihrer umlaufenden Banknoten muss-

33 Ebd., S. 204; Hervorhebung M. H. 34 Dalla Volta, Banking Crisis (wie Anm. 3). 35 Ebd., S. 1. 36 Ebd., S. 2. Zum englischen Bank Charter Act von 1844 siehe Jürgen Albohn, Widersprüche des Geldsystems und Geldkrisen als Ausdruck kapitalistischer Dyna- mik. Zu Walter Bagehots Lombard Street, Sozial.Geschichte Online, 12 (2013), S. 69–81.

22 Forschung / Research te durch eine Reserve aus Münz- oder Papiergeld gedeckt sein.37 Wie kam es, dass sie sich über diese Beschränkung hinwegsetzten und jahrelang zusätzliche Banknoten emittierten? Dalla Volta führt die Mitte der 1870er Jahre als entscheidenden Wendepunkt an. Dass die Kreditvergabe der Banken Anfang des Jahrzehnts ungewöhn- lich hoch war, erkläre sich aus dem in diese Zeit fallenden allgemei- nen Wirtschaftsaufschwung. Als es 1873 zur Krise kam und im Fol- gejahr ein bis 1879 anhaltender Abschwung einsetzte, hätten die Ban- ken es versäumt, ihre Kreditvergabe entsprechend anzupassen.38 Anfang der 1880er unternahm die Regierung einen ersten Regu- lierungsversuch. Das 1883 in Kraft getretene Gesetz vom 1. April 1881 zielte darauf ab, der Zirkulation überschüssigen Papiergeldes ein Ende zu setzen. Die sechs Emissionsbanken sollten zur Münz- geldproduktion übergehen und die von ihnen in Umlauf gebrach- ten Banknoten vom Schatzamt aufgekauft werden.39 Dieser Regulie- rungsversuch gelang jedoch nur bedingt: Das anhaltende Vertrauen in das alte Papiergeld bremste die Nachfrage nach dem neuen Münz- geld. Die 1880er Jahre wurden damit nicht wie erhofft zu einem Jahrzehnt geldpolitischer Stabilität. Es kam sogar zu einer bis 1887 anhaltenden Phase ausgiebiger Spekulation.40 Diese Spekulationsphase, die wie schon die 1870er Jahre durch eine hohe Kreditvergabe der sechs Emissionsbanken geprägt war, brachte dem Land zunächst verschiedene Vorteile. Italienische Wert- papiere standen auch im Ausland hoch im Kurs, was sich günstig auf die Kreditwürdigkeit des Mittelmeerlandes auswirkte. Italien konnte nicht nur die zusätzlichen Münzgeldreserven bezahlen, die es aufgrund des Gesetzes vom 1. April 1881 angelegt hatte, son- dern auch seine negative Handelsbilanz ausgleichen. Obwohl die italienischen Exporte 1884 deutlich hinter die Importe zurückzu-

37 Dalla Volta, Banking Crisis (wie Anm. 3), S. 3. 38 Ebd., S. 5. 39 Ebd., S. 5 f. 40 Ebd., S. 6, 13 f.

Sozial.Geschichte Online 14 (2014) 23 fallen begannen, fehlte es – aufgrund des internationalen Vertrau- ens in italienische Wertpapiere – zunächst nicht an Liquidität.41 Das begann sich Mitte der 1880er Jahre zu ändern. Nach einem ersten, von Dalla Volta auf eine schlechte Ernte und eine Cholera- Epidemie zurückgeführten Wirtschaftseinbruch im Herbst 1884 brach das internationale Vertrauen in italienische Wertpapiere ein,42 Gold und Silber begannen ins Ausland abzufließen, die Geldreser- ven der Banca Romana und des Schatzamts verringerten sich zuse- hends. 1887 folgte trotz einer Anhebung des Zinssatzes auf sechs Prozent eine Depression, die bis in die 1890er Jahre anhalten soll- te.43 Nun war das Bild geprägt von einem chronisch werdenden Haushaltsdefizit, den schwebenden Schulden des Schatzamtes, das jährlich beträchtliche Mengen Gold an ausländische Kreditgeber zu zahlen hatte, und einer allgemeinen Stagnation der Wirtschaftstä- tigkeit.44 Der Abzug ausländischen Kapitals war eine Hauptursache der Krise von 1887. Eine andere, ebenfalls bedeutende Ursache lag in der italienischen Immobilienblase der 1880er Jahre.45 Die vor allem in Rom zu verzeichnende rege Bautätigkeit beruhte wesentlich auf der großzügigen Kreditvergabe der Emissionsbanken. Die Sorge vor ei- nem reihenweisen Fallieren der Bausparkassen, die zwischen die Emis- sionsbanken und die Bauherren geschaltet waren, erklärt zu einem guten Teil den Unwillen der Regierung, gegen die längst unzulässi-

41 Ebd., S. 6 f. Der Rückgang der Exporte war unter anderem durch einen Han- delskrieg zwischen Italien und Frankreich bedingt, bei dem Italien deutlich unterlag. Frankreich verschloss seinen Markt zahlreichen italienischen Produkten, was die auf den Weinexport angewiesene sizilianische Landwirtschaft besonders hart traf. Vgl. Salvatore Carbone, Le origini del socialismo in Sicilia, Rom 1947, S. 3–33. 42 Die Cholera-Epidemie von 1884 forderte in Neapel etwa siebentausend Men- schenleben und hatte großmaßstäbliche Sanierungsprojekte zur Folge, die sich nach- haltig auf die Sozialstruktur der Stadt auswirkten. Siehe dazu Frank M. Snowden, in the Time of Cholera, 1884–1911, Cambridge 1995. 43 Dalla Volta, Banking Crisis (wie Anm. 3), S. 7. 44 Ebd., S. 16. 45 Ebd., S. 7, 9.

24 Forschung / Research ge Kreditvergabe der Emissionsbanken vorzugehen.46 Darin lag wohl ein Grund für das von Engels angesprochene Hinauszögern der im Alvisi-Biagini-Bericht angemahnten Reformen.47 Ein Zusammen- hang zwischen der 1887 einsetzenden Depression und dem Unmut der sizilianischen Handwerker und Landarbeiter, die in die Grün- dung der ersten Fasci mündete, liegt ebenfalls nahe. Die Grundzüge des hier anhand von Dalla Voltas Artikel skiz- zierten Geschehens ließen sich durch eine Einordnung in den welt- wirtschaftlichen Kontext des sogenannten „bürgerlichen Kondra- tieff“ (1846–1895) noch deutlicher herausarbeiten.48 Das kann hier nicht geleistet werden. Es liegt aber auf der Hand, dass die italieni- sche Konjunkturentwicklung der 1870er, 1880er und 1890er Jahre in Zusammenhang mit dem Ausklang des „bürgerlichen Kondra- tieff“ (auch „Eisen-Kohle-Stahl-Zyklus“) zu sehen ist. Das Jahr 1873 war nicht nur – wie oben dargelegt – für Italien, sondern auch welt- wirtschaftlich ein Wendepunkt: ein Jahr zahlreicher Börsenkräche und der Beginn jener bis 1896 anhaltenden Periode verlangsamten Wirtschaftswachstums, die als „Große Depression“ bekannt ist.49 Zu den allgemeinen Merkmalen dieses Zeitabschnitts zählt der Wirt- schaftshistoriker Hans Rosenberg neben einer spürbaren „Erschwe- rung des langfristigen Wachstums“, „akute[n] Absatzkrisen“ und „Pro- duktionsrückschläge[n]“ auch eine „Steigerung nunmehr chronisch und massenhaft werdender sozialer Unzufriedenheit und Unruhe“ sowie einen „mit der erschwerten Steigerung der nationalen Real- einkommen verknüpfte[n] [...] und vielfach mit politischen Mitteln

46 Ebd., S. 9. 47 Engels, Panama (wie Anm. 7), S. 199. 48 Joseph A. Schumpeter, Konjunkturzyklen, Göttingen 2008, S. 347 f., 352. 49 H. L. Beales, The “Great Depression” in Industry and Trade, Economic His- tory Review, 5 (1934), S. 65–75; Maurice Dobb, Studies in the Development of Cap- ital, New York 1947, S. 300–319. Zur Großen Depression in Italien: Ernesto Cianci, La lunga crisi del 1874–1896 e la crisi odierna, La riforma sociale, 46 (1935), S. 80– 90; Romeo Soldi, La crisi economica in Italia dal 1882 al 1896, Rivista di politica economica, 23 (1933), S. 1002–1016, 1124–1134.

Sozial.Geschichte Online 14 (2014) 25 ausgefochtene[n] Streit über ihre Verteilung.“50 Diese Charakteri- sierung passt erstaunlich gut auf den italienischen Fall. Doch zurück zu Engels. Dass sein Artikel keine Einsichten in die von Kondratieff dreißig Jahre später aufgedeckten Langfristten- denzen kapitalistischer Konjunkturentwicklung bietet, wird man ihm kaum zum Vorwurf machen können. Erstaunlich ist aber, dass „Vom italienischen Panama“ auch keinerlei Auseinandersetzung mit den in den 1890er Jahren durchaus zu überschauenden, von Dalla Volta skizzierten ökonomischen Zusammenhängen erkennen lässt. Vor allem zum Problem des Kredits hätte man von Engels ausführlichere Äußerungen erwarten können, war er doch zeit- gleich mit der Überarbeitung der entsprechenden Abschnitte in den von Marx hinterlassenen Manuskripten zum dritten Band des Kapital beschäftigt.51 Wie bereits erwähnt, hat sich Engels auch zu den Aufständen von 1893 so gut wie überhaupt nicht geäußert. Zur Zeit der Veröf- fentlichung seines Artikels über den Bankenskandal hatte der schwe- lende Unmut des italienischen Proletariats noch wenig öffentlichen Ausdruck gefunden, doch auch die Texte, die Engels in den folgen- den Monaten zu italienischen Angelegenheiten verfasst hat, lassen eine gründliche Beschäftigung mit den Ereignissen auf Sizilien und anderswo vermissen. Dies gilt etwa für „La situation en Italie“, einen Text vom Januar 1894, der im Folgemonat in der italienischen Cri- tica Sociale erschien.52 Es handelt sich um die Antwort von Engels auf einen Brief Anna Kuliscioffs und Filippo Turatis, in dem diese die Frage aufwarfen, wie sich die italienische sozialistische Partei zu den Aufständen von „Bauern, Erwerbslosen, Hungernden und Krämern“ („contadini, disoccupati, affamati, bottegai“) verhalten

50 Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Ge- sellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967, S. 26 f., 29. 51 MEGA2, Abt. I, Bd. 34, S. 964. 52 Engels, La situation (wie Anm. 11). Vgl. MEGA2, Abt. I, Bd. 34, S. 1084. La- briola lobte den Text in einem Brief an Engels vom 4. Februar 1894 („Optime, come Unterweisung“): ebd., S. 1088; Labriola, Carteggio (wie Anm. 7), Bd. 3, S. 372.

26 Forschung / Research solle.53 Hintergrund war offenkundig die Entwicklung auf Sizilien. Und doch kommt Engels an keiner Stelle explizit auf die Fasci zu sprechen. Vielmehr formuliert er auf wenigen Seiten eine allgemeine Beschreibung des italienischen Kapitalismus, um dann in einigen eben- falls recht allgemein gehaltenen Sätzen auf die Aufgaben der Sozia- listen zu sprechen zu kommen. Er konstatiert eine unvollständig entwickelte, mit „Resten der Feudalität“ („restes de féodalité“) durch- setzte Wirtschaft; die italienische Bourgeoisie habe es versäumt, die Produktion „nach modernem Muster“ („d’après le modèle [...] mo- derne“) zu organisieren und sich darüber hinaus zutiefst verächtlich gemacht durch ihre „unwürdigen Finanzbetrügereien“ („elle s’est rendue impossible est méprisable au dernier degré et à jamais par ses ignobles escroqueries financièries“).54 Die arbeitende Bevölkerung werde von der wirtschaftlichen Rückständigkeit des Landes gerade- zu erdrückt („se trouve écrasé“).55 Weiter heißt es, die Masse der Produzenten sei überall in Unruhe; da und dort erhebe sie sich („Partout la masse productrice est en émoi: par endroits elle se lève“).56 In diesem „da und dort“ erschöpft sich die Auseinandersetzung mit den Revolten von 1893 und den Fasci (deren Mitglieder zum Zeit- punkt, da Engels diese Worte schrieb, bereits seit einigen Wochen der Repression ausgesetzt waren, die mit der Verhängung des Be- lagerungszustands auf Sizilien einherging). Seine taktischen Ratschlä- ge an die italienischen Sozialisten, etwa hinsichtlich der Opportuni- tät von Bündnissen mit Republikanern, begründet Engels mit Zita- ten aus dem „Manifest der kommunistischen Partei“ und Verglei- chen mit der Entwicklung in Frankreich nach 1848. Der Text bekräftigt insgesamt die Notwendigkeit einer abwartenden, auf die weitere Entwicklung kapitalistischer und demokratischer Struktu- ren vertrauenden Haltung. Nichts darin vermittelt den Eindruck, dass

53 Zit. n. MEGA2, Abt. I, Bd. 34, S. 1084. 54 Ebd., S. 269. 55 Ebd. 56 Ebd.

Sozial.Geschichte Online 14 (2014) 27 Engels der sozialen Bewegung auf Sizilien besondere Bedeutung zu- gesprochen hätte.57 Zwei weitere Texte zu Italien verfasste Engels im September 1894: „Au troisième congrès du Parti socialiste des travailleurs italiens“ und „Aux socialistes de la Sicile“.58 Bei dem ersten dieser beiden Texte handelt es sich um ein kurzes Schreiben an die Teilnehmer des So- zialistischen Kongresses von Imola, der vom 7. bis zum 9. Septem- ber abgehalten werden sollte, tatsächlich aber aufgrund der Repres- sion, die mit den Sondergesetzen des Juli 1894 einherging, abgesagt werden musste. Engels, der davon bei der Niederschrift offenbar noch nichts wusste, entschuldigt sich dafür, nicht persönlich teil- nehmen zu können, und kommt dann auf das „unerhörte Ausnah- megesetz“ („loi d’exception inouïe“) zu sprechen, das den italieni- schen Sozialisten „einige Jahre schweren Leids“ („quelques années de souffrances sévères“) bringen werde.59 Darauf folgen ermutigende Hinweise auf die bereits von den französischen und deutschen So- zialisten gemeisterten „Prüfungen“ („épreuves“).60 Was „Aux socialistes de la Sicile“ angeht, so gelingt es Engels selbst darin, die Fasci mit keinem Wort zu erwähnen (dafür aber „die antiken Dichter Siziliens, Theokrit und Moschos“ – „les ancien poètes grecs de la Sicle, les Théocrites, les Moschus“).61 Der kurze Text skizziert in rund einem Dutzend Sätzen die wirtschaftliche Ent-

57 Die Korrespondenz zwischen Kuliscioff, Turati und Engels, aus der „La situati- on en Italie“ hervorgegangen ist, erinnert in mancherlei Hinsicht an die dreizehn Jahr zuvor geführte Korrespondenz zwischen Marx und Vera Zasulič. In beiden Fäl- len ging es um die Frage, ob sich Sozialisten in der kapitalistischen Peripherie auch zu den Kämpfen noch nicht restlos proletarisierter Arbeiter aktiv verhalten oder aber erst die weitere Entwicklung des Kapitalismus in ihrem jeweiligen Land abwar- ten sollten. „La situation en Italie“ legt wie gesagt Letzteres nahe. So zog denn auch die Redaktion des Berliner Sozialdemokrat, die im Juli 1894 eine deutsche Fassung des Textes veröffentlichte, aus den Ausführungen von Engels das Fazit, eine erfolg- reiche proletarische Revolution sei in Italien „heute [...] ganz undenkbar [...].“ Zit. n. MEGA2, Abt. I, Bd. 34, S. 1090. 58 Engels, Au troisième congrès; ders., Aux socialistes (beide wie Anm. 24). 59 Engels, Au troisième congrès (wie Anm. 24), S. 303. 60 Ebd. 61 Engels, Aux socialistes (wie Anm. 24), S. 304.

28 Forschung / Research wicklung der Insel seit der Antike, stellt fest, dass die gegenwärti- gen Arbeitsbedingungen dort geeignet seien, eine Rückkehr zu alt- römischen Verhältnissen wünschenswert erscheinen zu lassen und schließt wiederum mit aufmunternden Worten: Es stehe den unter- drückten Klassen die „Morgenröte einer neuen und besseren Gesell- schaft“ bevor („l’aurore d’une nouvelle et meilleure société“).62 Die nächste öffentliche Äußerung von Engels zu italienischen An- gelegenheiten, „A la rédaction de la « Critica Sociale »“, stammt vom Oktober 1894.63 Im Vormonat hatte sich die italienische sozialistische Partei faktisch aufgelöst. Engels beklagt in seinem auf Bitte Filippo Turatis verfassten Schreiben das repressive Vorgehen der Regierung und die „Verleumdungen“ („calomnies“) der Presse,64 um dann, wie bereits in „La situation in Italie“, auf die von den Sozialisten ande- rer Länder gemeisterten Herausforderungen hinzuweisen: Die italie- nischen Sozialisten hätten dieselbe Prüfung zu bestehen, wie die deutschen unter dem Sozialistengesetz, und sie könnten damit rech- nen, eines Tages über Crispi zu siegen, wie die deutschen über Bis- marck gesiegt hätten („Au reste l’Italie passe en ce moment par la même épreuve par où l’Allemagne a passée pendant les douzes ans de législation exceptionelle. L’Allemagne a vaincu Bismarck, l’Italie so- cialiste aura raison de Crispi“).65 Das Resümee der Engelsschen Auseinandersetzung mit Italien fällt ernüchternd aus. Italien wird als wirtschaftlich und politisch unter- entwickeltes Land dargestellt, seinen Sozialisten eine Orientierung an deutschen und französischen Vorbildern empfohlen. (Immer wieder analogisiert Engels die italienische Gegenwart mit der fran- zösischen und deutschen Vergangenheit, wie um die Rückständig- keit Italiens zu unterstreichen.) Der Bankenskandal wird als politi-

62 Ebd. Zum Entstehungskontext dieses Textes, den die palermitanische Zeitung La Riscossa socialista am 16. August 1895, also rund zwei Wochen nach dem Tod von Engels, als dessen „letztes Wort an Italien“ („L’ultima parola all’Italia“) veröffent- lichte, vgl. MEGA2, Abt. I, Bd. 34, S. 1151 f. 63 Engels, A la rédaction (wie Anm. 24). 64 Ebd., S. 305. 65 Ebd., S. 306.

Sozial.Geschichte Online 14 (2014) 29 scher Skandal interpretiert, über die zugrundeliegenden ökonomi- schen Zusammenhänge erfährt man wenig. Die Revolten von 1893 erwähnt Engels nur sehr beiläufig, als sporadisches Aufbegehren einer arbeitenden Bevölkerung, die unter den Zumutungen eines unvoll- ständig entwickelten, feudalen Verhältnissen verhaftet gebliebenen Kapitalismus zu leiden habe. Die Ausführungen von Engels orientieren sich merklich an jenem bei Marx und Engels immer wieder anzutreffenden, bereits im „Ma- nifest der kommunistischen Partei“ erkennbaren Entwicklungssche- ma,66 das die restlose Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse zur Voraussetzung gesellschaftlicher Emanzipation erklärt. Damit fest verknüpft ist die Vorstellung einer feststehenden Abfolge gesellschaft- licher Entwicklungsetappen und Umbrüche (vom Feudalismus über den Kapitalismus zum Sozialismus, gemäß dem „Revolutionskalen- der“, der die bürgerliche Revolution zur Voraussetzung der prole- tarischen macht). Mit der empirischen Vielfalt wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse auf dem europäischen Kontinent oder auch weltweit konfrontiert, haben sich Anhänger dieser Vorstellung – so wie hier Engels – immer wieder mit einem teleologischen Be- griff der Ungleichzeitigkeit beholfen: Die Unterschiede zwischen verschiedenen Nationalstaaten werden damit erklärt, dass diese einen als zwangsläufig imaginierten historischen Prozess in unterschiedli- chen Tempi durchlaufen, die einen also zu einem gegeben Zeitpunkt bereits Herausforderungen gemeistert haben, die den anderen erst noch bevorstehen.67

66 Karl Marx / Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei, in: dies., Werke (MEW), Bd. 4, Berlin 1959, S. 459–493, hier S. 466 f., 473 f. 67 Klassischen Charakter hat in dieser Hinsicht der Ausspruch von Marx: „Wenn ich die deutschen Zustände von 1843 verneine, stehe ich, nach französischer Zeit- rechnung, kaum im Jahre 1789, noch weniger im Brennpunkt der Gegenwart.“ Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEGA2, Abt. I, Bd. 2, S. 170–183, hier S. 171. Eine umfassendere Problematisierung dieses Ansatzes findet sich in: Max Henninger, Armut, Arbeit, Entwicklung. Zur Kritik der Marx- schen Begriffsbestimmungen, in: Marcel van der Linden / Karl Heinz Roth (Hg.), unter Mitarbeit von Max Henninger, Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Ar- beitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahr-

30 Forschung / Research

Dieses Entwicklungsschema scheint Engels den Zugang zur so- zialen und politischen Bedeutung der sizilianischen Revolte versperrt zu haben. Jedenfalls steht ein abstraktes Stufenmodell kapitalisti- scher Entwicklung in den hier diskutierten Texten immer wieder anstelle einer konkreten Untersuchung der italienischen Verhältnis- se. Vor allem für seinen Verzicht auf eine Beschäftigung mit den von Dalla Volta benannten wirtschaftlichen Zusammenhängen hat En- gels einen hohen Preis bezahlt, wäre doch erst auf der Grundlage ei- ner den Konjunkturverlauf und die mit ihm verbundenen Zwänge miteinbeziehenden Analyse triftig über einen Zusammenhang von ökonomischer Entwicklung und sozialer Emanzipation zu sprechen gewesen. Nun hat Engels in anderen Kontexten durchaus differenzierte, an konkreten sozio-ökonomischen Konstellationen und nicht an ab- strakten Schemata orientierte Untersuchungen vorgelegt. Es stellt sich also die Frage, warum er dies in seinen öffentlichen Äußerun- gen zum Italien der Jahre 1893 und 1894 nicht getan hat. Dass er in diesen Jahren mit der Arbeit an den von Marx hinterlassenen Ma- nuskripten zum dritten Band des Kapital beschäftigt war und ihm entsprechend wenig Zeit zur eingehenden Beschäftigung mit ande- ren Angelegenheiten zur Verfügung stand, sollte erwähnt werden, wenn es auch nur bedingt als Entschuldigung gelten kann. (Gerade die in jenen Manuskripten enthaltenen Ausführungen zum Kredit hätten, wie oben angedeutet, die Analyse der italienischen Entwick- lung bereichern können.) Eine wichtige Rolle dürfte darüber hin- aus die Angewiesenheit von Engels auf die Mitteilungen Labriolas gespielt haben, denn diese waren nicht immer geeignet, als Grund- lage einer nuancierten Analyse zu dienen. Labriolas Anmerkun- gen zu politischen Angelegenheiten sind teils sehr knapp, teils aus- schweifend, stets jedoch stark personalisierend;68 über ökonomi- sche Hintergründe erfährt man nicht erst bei Engels, sondern be- hunderts, Berlin / Hamburg 2009, S. 335–362. 68 Vgl. etwa den Brief vom 22. August 1893, in: Labriola, Carteggio (wie Anm. 7), Bd. 3, S. 313–318.

Sozial.Geschichte Online 14 (2014) 31 reits bei Labriola wenig. Auch mit diesen Defiziten der Mitteilun- gen Labriolas ist der unbefriedigende Charakter der Engelsschen Äußerungen zu Italien allerdings nicht restlos zu erklären. Vor al- lem, dass sich Engels über die Fasci weitgehend ausgeschwiegen hat, kann Labriola, wie gleich noch zu zeigen sein wird, nicht ange- lastet werden.69

4

Labriolas meist in Rom verfasste Briefe an Engels enthalten wie er- wähnt zahlreiche Hinweise sowohl auf den Bankenskandal und sei- ne Folgen als auch auf die sizilianischen Ereignisse. Auffallend ist, dass Labriola zwar vergleichsweise früh auf die Entwicklung der Fas- ci aufmerksam wurde, dieser aber lange Zeit wenig Beachtung schenk- te. Darin scheint sich, wie gleich noch näher darzustellen sein wird, der für die Gründung der italienischen sozialistischen Partei prä- gende Konflikt zwischen Sozialisten und Anarchisten ausgewirkt zu haben. Doch zunächst zum Bankenskandal. Labriola berichtet detailliert über die durch ihn ausgelösten Parlamentsdebatten sowie über die Vorbereitung und Verabschiedung des Bankengesetzes vom Juli 1893,70 wenn auch ohne die von Dalla Volta dargelegten ökonomischen Hin- tergründe zu analysieren. Stattdessen klagt Labriola über den mora- lischen Zustand seines Landes und die Folgen für seine eigene Ver-

69 Es muss darüber hinaus betont werden, dass Labriola nicht der einzige aus Ita- lien berichtende Korrespondent von Engels war, denn dieser stand ja auch mit Anna Kuliscioff und Filippo Turati brieflich in Verbindung, deren Briefe einen ganz ande- ren Charakter haben als die von Labriola. Hinzu kommt, dass Labriola seinen Brie- fen an Engels italienische Zeitungen beizulegen pflegte; jedes abschließende Urteil über den Wert von Labriolas Mitteilungen müsste also auch den Inhalt dieser Zei- tungen berücksichtigen, die jedoch verloren gegangen sind. Da auch die meisten Briefe von Engels an Labriola nicht überliefert sind, bleibt schließlich weitgehend unklar, mit welchen Fragestellungen sich Engels an Labriola gewandt hat. Vgl. zu diesen Schwierigkeiten MEGA2, Abt. I, Bd. 34, S. 964–967. 70 Siehe etwa die Briefe vom 2. und vom 9. Juli 1893, in: Labriola, Carteggio (wie Anm. 7), Bd. 3, S. 303–308.

32 Forschung / Research fassung: Der Mensch könne sich dem Einfluss seiner Umgebung nicht entziehen, und das Leben in Italien sei allzu unerfreulich („troppo brutta“).71 Bemerkungen darüber, dass die italienische Situation „tra- gische“ Züge annehme oder für das Land eine „historische Krise“ be- gonnen habe,72 stehen neben knappen, oft im Telegrammstil gehal- tenen Hinweisen auf die Folgen der Enthüllungen von Colajanni und Galvazzi für die an den unlauteren Geschäften der Banca Romana beteiligten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. So erwähnt La- briola etwa den Fall des Herausgebers der regierungsnahen Tageszei- tung Il popolo romano, Costanzo Chauvet.73 Dieser war, so kam im Frühjahr 1893 ans Licht, nicht nur über die Bilanzfälschungen bei der Banca Romana im Bilde, sondern wurde von ihr auch jahrelang großzügig mit Geld versorgt. Als Gegenleistung schwieg er sich über die Missstände bei dem Geldinstitut aus und stellte sicher, dass Stim- men, die für eine Reform des italienischen Bankenwesens eintraten, in seiner Zeitung nicht zu Wort kamen. Als Chauvet im November 1893 verhaftet wurde, war es jedoch nicht dies, was ihm angelastet wurde, sondern seine Beteiligung an einem illegalen Importgeschäft der Reisfirma Pinto, das ebenfalls nicht ohne Bestechung ablief.74 Solche Schlaglichter auf die Korruption des italienischen Bürger- tums scheinen Labriola eine gewisse Genugtuung bereitet zu haben; Engels sollte ähnlichen Fällen, wie oben dargelegt, in seinem Arti- kel über das „italienische Panama“ einige Aufmerksamkeit schenken. Immer wieder kommt Labriola auf anarchistische Umtriebe zu sprechen. So berichtet er Engels am 2. Juli 1893 von einem „gehei- men Rundschreiben“ des exilierten italienischen Anarchisten Erri- co Malatesta, in dem dieser den Aufbau anarchistischer „Föderatio-

71 Ebd., S. 307. 72 Briefe vom 14. November 1893 und vom 15. Februar 1894, ebd., S. 351 f., 372 f., hier S. 352, 373. 73 Ebd. 74 Quilici, Fine di secolo (wie Anm. 3), S. 625; Manacorda, Dalla crisi (wie Anm. 3), S. 73–81. Chauvet wurde zu vier Jahren Haft verurteilt, kam jedoch nach 13 Mo- naten wieder frei.

Sozial.Geschichte Online 14 (2014) 33 nen“ anrege.75 Ein solches Rundschreiben ist nicht überliefert, doch es besteht kein Grund, an Labriolas Darstellung zu zweifeln. Ihr zu- folge ging es Malatesta um die Wiederaufnahme eines anarchisti- schen Organisationsvorhabens aus dem Jahr 1891. Damals war auf dem Kongress von Capolago (4.–6. Januar 1891) das Projekt einer landesweit aktiven, in regionalen Föderationen organisierten „Sozia- listisch-anarchistisch-revolutionären Partei“ (Partito socialisa-anar- chico-rivoluzionario) entstanden. Die in den folgenden Wochen ge- schaffenen Strukturen waren jedoch bald wieder zerschlagen wor- den. Die anarchistische Agitation zum 1. Mai 1891 und die in zahl- reichen Städten (unter anderem Rom, Florenz, Bologna und Pisa) abgehaltenen, teils in Straßenkämpfe mündenden Demonstrationen hatten eine Repressionswelle nach sich gezogen, die mehrere Prot- agonisten der anarchistischen Bewegung, unter ihnen auch Malates- ta, ins Exil zwang, während andere zu mehrjährigen Haftstrafen ver- urteilt wurden.76 Labriola weist in seinem Brief an Engels darauf hin, dass viele dieser Haftstrafen inzwischen abgebüßt seien und folglich mit einem erneuten Aufleben anarchistischer Agitation ge- rechnet werden müsse.77 Der argwöhnische Blick, mit dem Labriola die Aktivitäten der Anarchisten verfolgt, erklärt sich aus dem angespannten, von Kon- kurrenz und gegenseitiger Geringschätzung geprägten Verhältnis zwischen den sozialistischen und anarchistischen Strömungen Itali- ens. Der in der I. Internationale mit dem Konflikt zwischen Marx und Bakunin begonnene Ausdifferenzierungsprozess eines sozialis- tischen und eines anarchistischen Revolutionsmodells,78 bei dem es

75 Labriola, Carteggio (wie Anm. 7), Bd. 3, S. 304. 76 Ferdinando Capriolo, Commentario della vita giudiziaria e politica d’Italia dal 1878 al 1929 – anno VII, Rom 1930, S. 55–64; Pier Carlo Masini, Storia degli anar- chici italiani. Da Bakunin a Malatesta (1862–1892), Mailand 1969, S. 258–265; Gior- gio Candeloro, Storia dell’Italia moderna, Bd. 6: Lo sviluppo del capitalismo e del movimento operaio, Mailand 1970, S. 377 f. 77 Labriola, Carteggio (wie Anm. 7), Bd. 3, S. 304. 78 Siehe Michail Bakunin, Ausgewählte Schriften, hg. von Wolfgang Eckhardt, Bd. 5: Konflikt mit Marx, Teil 1: Texte und Briefe bis 1870, Berlin 2007, sowie Bd. 6: Konflikt mit Marx, Teil 2: Texte und Briefe ab 1871, Berlin 2011. Siehe auch die Re-

34 Forschung / Research im Kern um die Frage der Beteiligung am Parlamentarismus ging, war in Italien (wie anderswo) auch in den 1890er Jahren noch wirk- sam. Auf dem Gründungskongress der italienischen sozialistischen Partei in Genua (14. bis 15. August 1892) hatte der Streit zwischen sozialistischen und anarchistischen Teilnehmern zur Aufspaltung des Kongresses in zwei getrennt tagende Teilversammlungen geführt.79 Durch die in der Folge weitestgehend durchgesetzte Ausgrenzung anarchistischer Positionen wurde die neu gegründete sozialisti- sche Partei stark auf eine parlamentarische Strategie nach dem Vor- bild der deutschen Sozialdemokraten ausgerichtet.80 Anarchistische Teilnehmer des Genueser Kongresses wie Pietro Gori hatten sich

zension in Sozial.Geschichte Online, 10 (2013), S. 176–190. 79 Pedone, Partito (wie Anm. 9), Bd. 1, S. 5–26. 80 Freilich wurde der Parlamentarismus auch innerhalb der SPD kontrovers dis- kutiert. Gerade im Zeitraum 1890–1893 formulierte die innerparteiliche Opposition der „Jungen“ eine vehemente Kritik an der parlamentarischen Orientierung und am Etatismus der Parteiführung. Diese von Engels als „Literaten- und Studentenrevol- te“ diffamierte Opposition konnte sich jedoch nicht behaupten; unter dem Einfluss Gustav Landauers sollten einige der „Jungen“ später zum Anarchismus übergehen. Insofern vollzog sich die Polarisierung von Sozialisten und Anarchisten in den 1890er Jahren nicht nur in Italien entlang der Frage des Parlamentarismus. Siehe Hans Man- fred Bock, Die „Literaten- und Studentenrevolte“ der Jungen in der SPD um 1890, Das Argument, 63 (1971), S. 22–41, sowie James Joll, The Second International: 1889–1914, London 1955, S. 63 f. und (zu vergleichbaren Auseinandersetzungen in Frankreich) S. 59–62. Auch der auf dem Internationalen Sozialistenkongress in Zü- rich (6. bis 13. August 1893) beschlossene Ausschluss sämtlicher antiparlamentari- schen Strömungen gehört in die Geschichte dieser länderübergreifenden Polarisie- rungstendenz. Siehe dazu Markus Bürgi, Die Anfänge der Zweiten Internationale: Positionen und Auseinandersetzungen 1889–1893, Frankfurt am Main 1996, S. 561– 588; Joll, Second International (wie oben in dieser Anm.), S. 71 ff. Siehe auch Gu- stav Landauer, An den Züricher Kongreß. Bericht über die deutsche Arbeiterbewe- gung, Berlin 1893; ders., Von Zürich bis London. Bericht über die deutsche Arbei- terbewegung an den Londoner Kongreß, Berlin 1896. Die von Engels auf dem Zürcher Kongress gehaltene Abschlussrede ist dokumentiert in: MEGA2, Abt. I, Bd. 32, S. 376. Labriola hat seine Eindrücke vom Kongress später in einem längeren Brief an Engels festgehalten, geht darin allerdings nur kursorisch auf den Ausschluss antipar- lamentarischer Strömungen ein: Labriola, Carteggio (wie Anm. 7), Bd. 3, S. 313– 318.

Sozial.Geschichte Online 14 (2014) 35 zuvor vehement gegen einen solchen „sozialistischen Legalismus“ ausgesprochen.81 Diese Hintergründe sind hier von Interesse, weil Labriola im Kon- text seiner Bemerkungen über die Anarchisten zum ersten Mal auf die sizilianischen Fasci zu sprechen kommt. Und zwar erwähnt er in seinem Brief vom 2. Juli 1893 die „Illusion einer bevorstehenden Re- volte in Sizilien“, die seit einem Monat im Mittelpunkt der anar- chistischen Agitation stehe.82 Labriola zufolge handelt es sich bei der Erwartung einer sizilianischen Revolte um zügellose Schwärmerei („ro- magnolismo peggiorato“) – die Fasci seien „Fantasiegebilde“ („lavori di fantasia“).83 Labriola wollte offenbar nicht die Existenz der sizi- lianischen Arbeiterbünde bestreiten, wohl aber, dass es politisch sinnvoll sei, sich auf sie zu beziehen: Im nächsten Satz hält er fest, unter den Mitgliedern gebe es „Studenten, Anwälte, fallierte Unter- nehmer, heitere Jugendliche“ („studenti, avvocati, appaltatori falliti, giovanotti allegri“).84 Damit spricht er zwar einerseits das Faktum der heterogenen Zusammensetzung der Fasci an, andererseits aber lässt er weitere Mitgliedsgruppen – entweder aus Unwissen oder mit Täuschungsabsicht – unerwähnt. Eine Bezugnahme etwa auf die Land- und Schwefelgrubenarbeiter wäre ja durchaus mit dem politi- schen Ansatz von Labriola und Engels vereinbar gewesen. Labriola scheint es vor allem darum gegangen zu sein, die Fasci lächerlich er- scheinen zu lassen.85 Das war wohl weniger in einer besonderen

81 Vgl. die von Gori einige Monate vor dem Genueser Kongress, am 4. April 1892, vor einer Mailänder Arbeiterversammlung gehaltene Rede, zit. in Masini, Sto- ria (wie Anm. 76), S. 267. Biographische Einzelheiten zu Gori finden sich bei Fran- co Andreucci / Tommaso Detti (Hg.), Il movimento operaio italiano. Dizionario biografico, 1853–1943, Bd. 2, Rom 1976, S. 522–530. 82 Labriola, Carteggio (wie Anm. 7), Bd. 3, S. 304. 83 Ebd. 84 Ebd. 85 Charakteristisch ist Labriolas Bemerkung, Giuseppe De Felice Guiffrida, eine wichtige Führungsfigur der Fasci-Bewegung, befinde sich überhaupt nicht auf Sizili- en, sondern in Rom, wo er sich im Café mit Prostituierten vergnüge. Ebd., S. 305.

36 Forschung / Research

Kenntnis der sizilianischen Situation als in der Assoziation der Fas- ci mit dem Anarchismus begründet.86 Labriola hat das revolutionäre Potenzial der sizilianischen Ent- wicklung zunächst also völlig verkannt. Ob auch seine Wahrneh- mung eines engen Zusammenhangs zwischen den italienischen An- archisten und den Fasci unzutreffend war, ist schwieriger zu beur- teilen. Es besteht kein Grund daran zu zweifeln, dass anarchistische Gruppen in Norditalien, wie von Labriola im zitierten Brief berich- tet, den Aufbau der Fasci beobachteten, begrüßten und agitatorisch begleiteten. Waren Anarchisten auch unmittelbar an der Organisa- tion der Fasci beteiligt? Bekannt ist, dass einer der Protagonisten der sizilianischen Bewegung, Giuseppe De Felice Giuffrida, 1893 brieflich mit dem Anarchisten Amilcare Cipriani korrespondierte.87 Auch geht aus Berichten der römischen Polizei hervor, dass ein weiterer Kopf des italienischen Anarchismus, der im Malteser Exil lebende Francesco Saverio Merlino, bereits Jahre zuvor, im Spät- sommer 1890, seine Gesinnungsgenossen in der italienischen Haupt- stadt brieflich aufgefordert hatte, sich auf einen bevorstehenden Auf- stand in Sizilien vorzubereiten. Den gleichen Berichten zufolge hat der in London exilierte Errico Malatesta die sizilianischen Arbeiter mit Geldmitteln unterstützt und zum Aufbau von Waffenlagern auf Malta beigetragen, die der Versorgung der sizilianischen Arbeiter die- nen sollten.88 Es gibt also Hinweise auf länderübergreifend koordinierte, mehr- jährige Aktivitäten italienischer Anarchisten zur Vorbereitung und Unterstützung eines größeren Aufstands auf Sizilien. Allerdings ist die Glaubwürdigkeit der Polizeiberichte unsicher. Jedenfalls fällt

86 Teilweise suggeriert Labriola sogar, die Aufmerksamkeit für die Fasci sei Ergebnis der Tätigkeit polizeilicher agents provocateurs. Diese groteske Unterstellung hängt mit Labriolas Assoziation der Fasci mit den Anarchisten zusammen, denn Labriola war der Überzeugung, die anarchistische Bewegung sei von Polizeispitzeln durch- setzt. Ebd., S. 305. 87 Masini, Storia (wie Anm. 22), S. 18–19; Francesco Crispi, Politica interna. Dia- rio e documenti raccolti e ordinati da T. Palamenghi-Crispi, Mailand 1924, S. 308. 88 Crispi, Politica (wie Anm. 87), S. 307–309.

Sozial.Geschichte Online 14 (2014) 37 die Nähe des von der römischen Polizei skizzierten Szenarios zu der wenig überzeugenden, zuvörderst aus innenpolitischen Erwägun- gen motivierten Behauptung Crispis auf, der sizilianische Aufstand sei aus dem französischen Ausland organisiert worden. Einiges deu- tet darauf hin, dass der Einfluss der Anarchisten innerhalb der Fas- ci zumindest zu dem Zeitpunkt, als die Revolte tatsächlich ausbrach, begrenzt war. Der von Rosario Garibaldi Bosco angeführte Fascio von Palermo schloss Mitglieder, die sich zum Anarchismus bekann- ten, bereits im November 1892 ausdrücklich aus.89 Wahrscheinlich müssen die sizilianischen Arbeiterbünde als ein zunächst weitgehend autonomes, das heißt unabhängig von sozialistischen und anarchis- tischen Aktivitäten entstandenes Organisationsprojekt angesehen werden, das dann allerdings von Anarchisten agitatorisch und ma- teriell unterstützt wurde, um schließlich zu einem Schauplatz anar- chistisch-sozialistischer Konkurrenz zu werden. Die von den italie- nischen Sozialisten auf dem Kongress von Genua im August 1892 erfolgreich erprobte Strategie einer Ausgrenzung anarchistischer Po- sitionen wurde jedenfalls ein Vierteljahr später auch innerhalb der Bewegung der Fasci nachvollzogen. Der beim Ausschluss der Anar- chisten aus dem Fascio von Palermo federführende Bosco war ein Anhänger Filippo Turatis und bekennender Sozialist. Labriola sollte sich, als er im Laufe des Jahres 1893 seine anfänglich ablehnende Position zu den Fasci zu revidieren begann, sehr positiv auf Bosco beziehen.90

89 Zangheri, Storia (wie Anm. 10), Bd. 2, S. 526. 90 Am 12. November 1893 schrieb Labriola dem Berliner Sozialdemokraten Ri- chard Fischer: „Der denkende Kopf der ganzen Bewegung [der Fasci; M. H.] ist Ga- ribaldi Bosco, ein wackerer und kluger Mensch.“ Labriola, Carteggio (wie Anm. 7), Bd. 3, S. 348; deutsch und Hervorhebungen im Original. Labriola und Bosco begeg- neten sich mindestens einmal, auf dem sozialistischen Kongress von Reggio Emilia (8.–10. September 1893), also rund einen Monat vor der Niederschrift des Briefes an Fischer. Die Bedeutung Boscos nicht nur für den Fascio von Palermo, sondern für die sizilianische Bewegung insgesamt ist von weiteren Zeitgenossen bezeugt; so wurde Bosco beispielsweise vom Journalisten Adolfo Rossi 1894 als „Seele der Fas- ci“ bezeichnet: Rossi, L’agitazione (wie Anm. 10), S. 14. Biographisches zu Bosco bei Andreucci / Detti, Il movimento (wie Anm. 81), Bd. 1, Rom 1975, S. 384–388;

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Es muss betont werden, dass Labriola die Fasci schon bald völlig anders bewertete als in seinem Brief vom 2. Juli 1893 und an der si- zilianischen Bewegung lebhaften Anteil zu nehmen begann. Nach dem Einsetzen der Repression berichtet Labriola in einer Reihe von Briefen an Engels über seine Bemühungen, die Sozialisten verschie- dener europäischer Länder zur finanziellen Unterstützung der ver- folgten Fasci-Mitglieder zu bewegen.91 Der Konflikt mit dem Anar- chismus sollte in Labriolas Wahrnehmung der Ereignisse auf Sizilien kaum noch eine Rolle spielen. In einem Brief vom 4. Januar 1894 findet sich sogar die bemerkenswert klarsichtige Einschätzung, dass es sich bei den Fasci um eine eigenständige Bewegung handle, die als solche nicht auf anarchistische Machenschaften zurückzuführen sei, aber auch die Sozialisten mit ihrer am Parlamentarismus orien- tierten („legalistischen“) Strategie überrumpelt habe.92 Um diese Ei- genständigkeit der Fasci zu betonen, spricht Labriola von einer „spon- tan anarchischen Bewegung“ („movimento spontaneamente anarchi- co“).93 Das ist, so geht aus dem Kontext hervor, anerkennend gemeint. Zwar unterscheidet Labriola die „spontane Anarchie“ der aufständi- schen Sizilianer von den Aktivitäten der „Berufsanarchisten“ („an- archisti di professione“), von denen er weiterhin wenig hält.94 Doch ist insofern eine semantische Verschiebung gegenüber den Aussagen vom Juli 1893 zu konstatieren, als „Anarchie“ nun positiv konno- tiert wird. Diese semantische Verschiebung ist Ausdruck einer positiven Be- zugnahme auf die spontanen, das heißt hier: nicht aus Organisati- onsbestrebungen „beruflicher“ Revolutionäre gleich welcher Orien- tierung zu erklärenden Revolten des Jahres 1893. Sie ist bereits in Labriolas Ausführungen zu den durch die Vorfälle von Aigues-Mor- tes im August 1893 ausgelösten Demonstrationen und Straßenschlach- siehe auch Zangheri, Storia (wie Anm. 10), Bd. 2, S. 522–523, 543. 91 Siehe etwa die Briefe vom 3. Dezember 1893, vom 14. Dezember 1893 und vom 25. März 1894: Labriola, Carteggio (wie Anm. 7), Bd. 3, S. 357, 360 f., 381. 92 Ebd., S. 365 f., hier S. 366. 93 Ebd. 94 Ebd.

Sozial.Geschichte Online 14 (2014) 39 ten zu verzeichnen. In einem Brief vom 27. August 1893 beginnt Labriola seinen Bericht über die Auseinandersetzungen in Rom und Neapel mit den Worten, dort sei es zu einem „bemerkenswerten Fall spontaner Anarchie“ („un notevole caso di anarchia spontanea“) gekommen.95 Die Begeisterung, mit der Labriola über die Vorfälle berichtet, lässt keinen Zweifel daran, dass auch dies positiv gemeint ist. Am 21. Oktober 1893 blickt Labriola noch einmal auf die „Re- volten von Neapel und Rom“ zurück und merkt mit Genugtuung an, sie hätten „populäre Leidenschaften, die lange Zeit entweder über- sehen wurden oder gedämpft waren, in den Vordergrund gerückt“ („Le rivolte di Napoli e di Roma hanno spinto sul davanti della scene passioni popolari da lungo tempo, o ignote, o attutite“).96 Im nächsten Satz hält Labriola fest, auf Sizilien drohe der Bür- gerkrieg („In Sicilia c’è la minaccia della guerra civile“).97 Anteilneh- mend und sorgenvoll berichtet Labriola auch in den folgenden Mo- naten über die Entwicklung auf der süditalienischen Insel.98 Am 14. Dezember 1893 äußert er sich begeistert über den „revolutio- nären Geist“ („spirito rivoluzionario“) der Sizilianer und charakteri- siert ihre Revolte als Schmelztiegel eines neuen sozialistischen Be- wusstseins.99 Rund eine Woche später, am 20. Dezember, hält er mit knappen Worten fest, die sizilianischen Angelegenheiten seien „ernst“ („gravi“).100 In den Briefen aus dem Januar 1894 bleibt dann nur noch die Niederlage der Fasci zu konstatieren.101 Vergleicht man die Äußerungen von Labriola mit denen von En- gels, so sticht als wesentliche Differenz ins Auge, dass die Revolten von 1893 bei Labriola einen Lernprozess angestoßen haben, in dem er seine ursprünglich abschätzige Sicht auf die Fasci revidierte und

95 Ebd., S. 319. 96 Ebd., S. 342. 97 Ebd. 98 Vgl. die Briefe vom 6. November 1893, vom 7. November 1893, vom 14. De- zember 1893 und vom 20. Dezember 1893: ebd., S. 344, 345 f., 360 f., 362. 99 Ebd., S. 361. 100 Ebd., S. 362. 101 Ebd., S. 367 ff.

40 Forschung / Research zur aktiven materiellen Unterstützung der sizilianischen Bewegung überging. Die für italienische Revolutionäre so bestimmende Riva- lität von Sozialisten und Anarchisten trat dabei zumindest vorüber- gehend in den Hintergrund. Die Anteilnahme, mit der Labriola die Entwicklung auf Sizilien verfolgt, kontrastiert deutlich mit den knap- pen und recht formelhaften Äußerungen von Engels. Nach der Zerschlagung der Fasci wechselt der Charakter von La- briolas Briefen merklich. Nun stehen immer häufiger philosophische und historische Themen oder Lektüreerfahrungen im Mittelpunkt.102 Die enttäuschten politischen Hoffnungen beförderten offenbar einen Rückzug in die Theorie. Mit den im Juli 1894 verabschiedeten Son- dergesetzen schien sich dann die ursprüngliche, von Pessimismus ge- kennzeichnete Sicht Labriolas auf sein Land, wie sie etwa im oben mehrfach zitierten Brief vom 2. Juli 1893 zum Ausdruck kommt,103 auf verheerende Weise zu bestätigen. In der Zwischenzeit war selbst ein letzter Versuch, weiteres politisches Kapital aus dem Banken- skandal zu schlagen, gescheitert. Die geplanten zusätzlichen Ent- hüllungen, die unter anderem die Verstrickung des Königshauses in die Geschäfte der Emissionsbanken zum Inhalt haben sollten, konn- ten nicht erfolgen, da der Abgeordnete Colajanni in einem zwi- schenzeitlich veröffentlichten Buch – offenbar aus Arglosigkeit – die Namen einiger für die Anstiftung des ursprünglichen Skandals zuständiger Personen genannt hatte, wodurch diese sich bedeckt zu halten gezwungen waren.104 So endete das für Labriola und andere Sozialisten so hoffnungsvoll begonnene Jahr 1893 durchweg ent- mutigend, und auch den von ihm angestoßenen Lernprozessen soll- ten, aufgrund von Crispis konterrevolutionärer Innenpolitik, auf absehbare Zeit die Anwendungsmöglichkeiten versagt bleiben.

102 Vgl. etwa die Briefe vom 14. März 1894, vom 13. Juni 1894 und vom 3. August 1894: ebd., S. 377 f., 411–414, 427. 103 Vgl. ebd., S. 306 f.; siehe auch S. 352, 373. 104 Siehe die Briefe vom 18. September 1893 und vom 10. Dezember 1893, ebd., S. 335 f., 357 ff. Bei dem Buch handelt es sich um Colajanni, Banche (wie Anm. 5).

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