10 Märkische Allgemeine Zeitung KULTUR Mittwoch, 17. Juni 2020

Mehr Schutz für jüdische Die Frau mit dem Loch im Bauch Einrichtungen Die diesjährige Freiluft-Kunstausstellung Spectrale in Luckau dreht sich um Migration –

Magdeburg. Sachsen-Anhalt ver- zwölf Künstler aus der Region Berlin-Brandenburg stellen aus stärkt den Schutz von Synagogen und jüdischen Gemeindeein- Von Mathias Richter richtungen. Im Doppelhaushalt 2020/21 sind dafür in diesem Jahr Luckau. Herbert Schirmer schüttelt insgesamt 890 000 Euro und im energisch den Kopf. „Nein, ich glau- kommenden Jahr 1,535 Millio- be nicht, dass das Rechte waren“, nen Euro eingeplant, wie die sagt der Kurator der Open-Air- Staatskanzlei mitteilte. Die Lan- Kunstausstellung „Spectrale“ in Lu- desregierung habe am Dienstag ckau (Dahme-Spreewald). Die Tä- einer Zusatzvereinbarung zum ter seien wohl eher an dem Material Staatsvertrag mit der jüdischen des Kunstwerkes interessiert gewe- Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt sen, glaubt er. Und doch ist es ein be- zugestimmt, die Finanzmittel für sonderer Affront. Wenige Tage vor Maßnahmen vorsieht, die das der Eröffnung der diesjährigen Landeskriminalamt (LKA) emp- Kunstschau wurde das Werk von fiehlt. Darüber hinaus enthält die Roland Schefferski gestohlen – die Zusatzvereinbarung die pau- Arbeit eines polnischen Künstlers, schalierte Förderung von Bewa- die speziell für eine Ausstellung ge- chungsleistungen innerhalb von fertigt wurde, die den provokanten Synagogen oder Einrichtungen, Titel trägt „Flüchtlinge – ein zeitlo- wie die Staatskanzlei weiter mit- ses Feindbild!?“. teilte. Pro Jahr und Einrichtung Die Freiluftkunstschau Spectrale werden dafür bis zu 50 000 Euro findet in diesem Jahr zum neunten bereitgestellt. Mal in Luckau statt. Zwölf in Berlin Sachsen-Anhalts Innenminis- und Brandenburg lebende Künstler ter Holger Stahlknecht (CDU) haben sich mit dem vorgegebenen sagte: „Der Anschlag in Halle am Thema Migration auseinanderge- 9. Oktober 2019 war eine Zäsur.“ setzt. Ein Thema, das nicht nur aktu- Mit der Zusatzvereinbarung ell kontrovers diskutiert wird. „Es ist werde die angekündigte finan- ein Thema der Menschheitsge- zielle Unterstützung für bauliche schichte“, sagt Schirmer, denn es und technische Sicherungsmaß- kamen immer Menschen, sei es aus nahmen und Bewachungsmaß- religiösen, wirtschaftlichen oder nahmen zugesichert. Stahl- kriegerischen Gründen irgendwo- knecht sagte: „Die Synagogen hin. Und der Umgang der Mehr- und jüdischen Gemeinderäume heitsgesellschaft mit Neuankömm- im Land benötigen einen beson- lingen war immer durch mehr oder deren Schutz, um den Gläubigen weniger heftige Konflikte geprägt. eine angstfreie und sichere Glau- Micha Brendel lässt mit seiner Installation, die an Gräber erinnert, „Gras über die Sache wachsen“. Fotos: Micha Brendel, Carsten SASS bensausübung zu gewährleis- Kunstwerke in der ganzen Stadt ten.“ Das gilt nicht zuletzt für die Zeit nicht. Aus dem Körper der Frau nerungsfragmente aus einer verlas- nach dem Zweiten Weltkrieg, als die klafft ein tiefes Loch in den Kontu- Open-Air-Kunst senen Heimat sein. Vertriebenen aus dem Osten auf das ren eines kleinen Menschen. „Unter Ebenso metaphorisch, aber unter Territorium der späteren DDR und anderen Umständen“ hat die aus Die Brandenburger Freiluftkunstaus- Rückgriff in die Antike und ästhe- In Kürze der Bundesrepublik strömten. Im Doberlug-Kirchhain (Elbe-Elster) stellung Spectrale in Luckau findet in tisch überwältigender, eine überle- Westen wurden sie lange wie Aus- stammende Bildhauerin Catrin Gro- diesem Jahr zum neunten Mal statt. bensgroße Holzskulptur des aus sätzige behandelt, waren sie doch ße die Skulptur genannt. Ihr ist da- Potsdam stammenden Bildhauers Humboldt Forum will eine lebendige Erinnerung an die mit eine Illusion gelungen, die auf Mit dem Migrationsthema „Flüchtlin- Hans Scheib. Sie zeigt die geschun- im Dezember öffnen deutsche Kriegsschuld. Im Osten die Erinnerung an etwas, das verlo- ge – ein zeitloses Feindbild!?“ hat sich dene Gestalt der Priesterin Io, die wurden sie Umsiedler genannt, um ren gegangen ist, anspielt. Eine Er- die Spectrale unter das Dach des Fes- von Zeus vergewaltigt und zur Kuh Berlin. Nach der erneuten Ver- vergessen zu machen, dass es die innerung, die unter uns weilt, denn tivals von Kulturland Brandenburg be- verzaubert nach Ägypten floh. schiebung hält das Humboldt Fo- befreundete Sowjetarmee war, die man denkt unweigerlich an die To- geben, das sich um das Thema „Krieg rum in Berlin an einer ersten Teil- sie vertrieben hatte. ten, darunter viele Kinder, im Mit- und Frieden – 1945 und die Folgen in Schuhe wie Kriegsgräber eröffnung noch in diesem Jahr Gut die Hälfte der Künstler, die telmeer. Brandenburg“ dreht. aufgereiht fest. Das vor allem im Fassadenbe- an der diesjährigen Spectrale teil- Ebenso eindringlich funktioniert Verstörend wiederum die Arbeit reich rekonstruierte Stadtschloss nehmen, kennen Fluchterzählun- die Installation von Marietta Thier Die meisten Kunstwerke der Spectra- von Micha Brendel. Er hat 120 Paar werde baulich bis Ende 2020 fer- gen aus ihrer eigenen Familienge- aus Lübben (Dahme-Spreewald) in le sind entlang der Altstadt und dem Schuhe über eine ausgedörrte Gras- tig, teilte das Humboldt Forum mit. schichte. Entsprechend sensibel ha- der Kulturkirche. Sie hat sich mit ehemaligen Laga-Park ausgestellt – fläche verteilt. Stiefel, Turnschuhe, Die bereits mehrfach verschobene ben sich die meisten mit dem Thema den Feldpostbriefen ihres Vaters ein kleiner Teil befindet sich in der Sandalen, Arbeitsschuhe, Ausgeh- und zuletzt für September geplan- auseinander gesetzt. Wer derzeit in von der Ostfront im Zweiten Welt- Kulturkirche. Diese ist Di-So von 10-17 schuhe, Kinderschuhe – wie Kriegs- te erste Eröffnung war wegen co- Luckau durch die Altstadt entlang krieg auseinandergesetzt. Auf Uhr geöffnet - Mi erst ab 13 Uhr. Die gräber hat der Künstler aus Hohen- ronabedingter Verzögerungen bei der Stadtmauer oder den ehemali- einem Video wer- Schau geht bis 17. September. Von größtem Verlust zeugt „Unter an- dorf (Dahme-Spreewald) sie auf die den Arbeiten abgesagt worden. gen Laga-Park geht, stößt immer den Passagen da- deren Umständen“ von Catrin Große. Absätze gestellt und aneinanderge- Das Humboldt Forum soll in drei wieder auf Irritatio- raus, zum Teil offen reiht. Wem mögen die Treter gehö- Schritten bis Herbst 2021 komplett nen, die dazu he- rassistische Urteile lage benutzte die Künstlerin Fotos. Grasnarbe geschaufelt. „Wunsch- ren? Welche Schicksale könnten da- zugänglich sein. rausfordern, sich über die Menschen in Fahrzeuge, Waffen, gesichtslose wege“ hat sie die Furchen genannt, mit verbunden sein? „Gras drüber mit dem Thema den besetzten Gebieten, Menschen in einer kargen Land- die alle auf eine blaue Tür an der wachsen lassen“ hat der Künstler Baftas um zwei Migration auseinander- verlesen. Dazu im Kont- schaft sind verschwommen zu se- Mauer zulaufen. Wer sie öffnet, die Installation lakonisch genannt. Monate verschoben zusetzen. rast Berichte einer aus Sy- hen. Wer versammelt sich da? Sind stellt fest: Der Durchgang ist zuge- Bis zum Ende der Spectrale im Sep- Zum Teil geschieht das recht rien geflohenen jungen Frau das Soldaten? Wird hier gar jemand mauert. tember wird vermutlich nicht mehr London. Die British Academy Film subtil. Ganz oben in einem zuge- und Textstellen aus dem Buch exekutiert? Wir können es nur erah- Oder Jost Löber aus Groß Pan- viel davon zu sehen sein. Awards – Baftas – im nächsten mauerten Fenster der Kulturkir- „Wir Flüchtlinge“ der Philoso- nen. Zu unscharf hat die Künstlerin kow (Prignitz). Er hat im Laga-Park Das schon zu Beginn der Schau Jahr sind um zwei Monate nach che hängt außen neuerdings phin Hannah Arendt, die als Jü- die ganz in Schwarz-Weiß gehalte- aus Feuerwehrschläuchen zwei rie- verschwundene Kunstwerk von Ro- hinten auf den 11. April verlegt wor- eine bronzene Frauengestalt. din vor den Nazis in die USA nen Bilder gemalt. Nur diejenigen, sige Hände installiert. Zwölf Meter land Schefferski bestand übrigens den. Das teilten die Organisatoren Sie könnte da schon immer an- geflüchtet war. die das erlebt haben, könnten davon umfassen seine „Offenen Arme“, aus drei Spiegeln aus poliertem der Auszeichnungen am Dienstag gebracht gewesen sein. Ist sie Das Video dient lediglich der detailliert berichten. die den Besucher willkommen hei- Stahlblech. Sie hingen an der Stadt- mit. Die Entscheidung kam nach aber nicht. Und bei näherem Kommentierung dreier großer Nicht alle Arbeiten der diesjähri- ßen – doch sie könnten ihn freilich mauer. Wer in sie blickte, erkannte der Mitteilung der Academy of Mo- Hinsehen wird auch klar: Dies Gemälde, die daneben hängen. gen Spectrale sind so komplex. Die genauso erdrücken. auf seiner Kleidung in Spiegel- tion Picture Arts and Sciences und ist keine Mutter Gottes mit dem Bilder von der Ostfront. Als Vor- in Michendorf (Potsdam-Mittel- Die Berlinerin Nele Probst hat schrift den Satz: „Ich bin fremd“. des Senders ABC am Montag, dass Christuskind, sondern eine Person, mark) lebende Künstlerin Birgit Stuhllehnen, Fensterrahmen, Be- Und wer hat das nicht schon einmal die Oscars 2021 von Februar auf die den größten Verlust erlitten hat, Knappe ist das Migrationsthema senstiele und weitere Teile von Ge- irgendwo so empfunden? Jetzt hän- April verschoben werden. Grund den eine Mutter beklagen kann. Geschundene Priesterin Io von ganz direkt und insofern etwas brauchsgegenständen zu einer gen an der Mauer nur noch ein paar seien die Auswirkungen der Coro- Das Kind in ihren Händen, das man Hans Scheib. Foto: Herbert Schirmer plump angegangen. Sie hat vor der Skulptur verarbeitet, die sie Le- durchtrennte Drahtseile. Auch eine na-Krise auf die Filmindustrie. zu erblicken meint, gibt es gar Stadtmauer drei Furchen in die bensbaum nennt – es könnten Erin- Verlusterfahrung. schließt den Kreis Mit „“ veröffentlicht der Singer- und Literaturnobelpreisträger das kaum noch erwartete große, kluge Alterswerk.

Von Werner Herpell vom „allerübelsten Mord“ am jun- em Gitarren-Blues („Goodbye Jim- zuvor – auf das berüchtigte Nu- ment in der Bürgerrechtsbewegung von einem verlorenen Zeitalter. Es gen Präsidenten und Hoffnungsträ- my Reed“, „Crossing The Rubi- scheln, Krächzen und Zetern ver- („The Lonesome Death Of Hattie spricht für den Augenblick.“ Zumal Berlin. Die Abgesänge waren ver- ger John F. Kennedy in Dallas 1963 con“). zichtet er zugunsten einer geradezu Carroll“, „Hurricane“) eine dauer- es in der Welt „heute definitiv viel früht. Viele Fans und Kritiker hatten über das zwiespältige Lebensgefühl „Mother of /sing for me“, altersmilden Performance. hafte Hauptrolle als Protestsänger. mehr Angst und Nervosität als frü- zuletzt bezweifelt, dass Bob Dylan der 1960er Jahre bis zur daraus re- so erfleht der 79-Jährige Inspiration In den 60ern und 70ern verwei- Jetzt begleitet er das politische Dra- her“ gebe. Die Apokalypse lauert nach „Tempest“ (2012) noch ein sultierenden Gewalttätigkeit der von einer Schutzgöttin der Künste. gerte Dylan nach seinem Engage- ma in den USA mit vieldeutigen stets um die Ecke – wohl nicht um- meisterliches Album in sich trägt. US-Gesellschaft von heute. Die demütige Bitte hat offenkundig Songzeilen und erschütternden Aus- sonst wird Anne Frank in einem der Ein Alterswerk mit eigenen Liedern, Dutzende Namens- und Song- gewirkt – nicht nur im zutiefst bewe- sagen in einem seiner raren Inter- neuen Lieder erwähnt. das seine 60-jährige Karriere nach Anspielungen enthielt das virtuos genden Gospel „Mother Of Muses“, views. „Das hat mich ohne Ende Wie schon auf dem ebenfalls sehr dem Literaturnobelpreis von 2016 mäandernde Lied – eine Spotify- dem vielleicht allerschönsten Song krank gemacht – zu sehen, wie starken Album „Tempest“ – und im angemessen abrundet. Mit „Rough Playlist mit über 60 Titeln zeugt da- einer insgesamt herrlich melodi- George so zu Tode gequält wurde“, Gegensatz zu den teils uralten Stü- And Rowdy Ways“ gibt Dylan nun von. Auch „“ schen Platte. erzählte er der „New York Times“ cken aus Jazz oder Swing, die er zu- auf seine typische Art Entwarnung: und „False Prophet“ waren erlesene Auch das betörende Akkordeon- über die grauenvolle rassistische letzt lediglich lau nachsang – findet Die zehn Stücke mit über 70 Minu- Geschenke für alle „Dylanologen“ Stück „Key West (Philosopher Pira- Polizeibrutalität gegen George Floyd Dylan grandiose eigene Bilder und ten Gesamtlaufzeit präsentieren ihn und ihre tiefschürfenden Analysen. te)“ gehört in die Reihe jener Lieder, in seinem Geburtsstaat Minnesota. Vergleiche für Vergangenheit, als knorrigen, oft rätselhaften Song- Nun also ein Monumentalgemäl- die wohl nur der weise alte Rabe Ro- Auch „Murder Most Foul“ (Dy- Gegenwart, Zukunft. So sei „I Con- dichter und Sänger in fantastischer de von Album, mit den drei bereits bert Allen Zimmerman alias Bob lans erster Nummer-eins-Singlehit tain Multitudes“ eher grundsätzlich Form. bekannten, längst liebgewonnenen Dylan erfinden kann. Mit zu Tränen in den USA) sei trotz all der Sixties- der Vergänglichkeit gewidmet, sag- Die Vorboten des späten Liedern und sieben weiteren. Ein- rührender Scharfsichtigkeit schaut Bezüge ja mehr gewesen als nur ein te er im Interview. „Ich denke über Triumphs waren vielversprechend. gespielt mit bewährter Band, kom- der alte Herr zurück auf sich und Rückblick auf vergangene Zeiten, den Tod der menschlichen Spezies Mit „Murder Most Foul“ veröffent- men die Stücke im klassischen Dy- sein zerrissenes Land – der Ausblick betonte der Musiker: „Für mich ist nach. Die lange, seltsame Reise des lichte Dylan im März aus dem Ho- lan-Spätwerkstil daher – zwischen ist noch einigermaßen tröstlich: der Song nicht nostalgisch. Ich be- nackten Affen. (...) Ich denke in all- meoffice in Malibu überraschend üppiger Ballade („I’ve Made Up My „Key West is fine and fair/If You lost trachte „Murder Most Foul“ nicht gemeinen Begriffen darüber nach, ein Epos, in dem er fast 17 Minuten Mind To Give Myself To You“), kar- Your mind/You’ll find it there“. Dy- Singer-Songwriter Bob Dylan. als eine Verherrlichung der Vergan- nicht auf eine persönliche Art und lang einen breiten Bogen schlug: gem Folk („Black Rider“) und rau- lan singt hier so zärtlich wie selten Foto: Sony Music/dpa genheit oder als eine Art Abschied Weise.“