SPD – 06. WP Fraktionssitzung: 22. 02. 1972

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22. Februar 1972: Fraktionssitzung

AdsD, SPD-BT-Fraktion 6. WP, 87. Überschrift: »Protokoll der Fraktionssitzung vom 22. Februar 1972«. Zeit: 9.15–11.30 Uhr und 13.45–16.40 Uhr. Vorsitz: Wehner. Proto- koll: Zeisig; später: Steffen.

Sitzungsverlauf: A. TOP 1: Politischer Bericht des Fraktionsvorsitzenden Wehner: Ratifizierungsverfahren für den Moskauer und Warschauer Vertrag; Bericht zur Lage der Nation; Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion betr. Deutschland- und Außenpolitik. B. TOP 2: Bericht von Staatssekretär Bahr über die Ostverträge. – Aussprache. C. Vorbereitung der Plenarsitzungen: TOP 3: Tagesordnung und Ablauf der Plenarsitzun- gen. – TOP 4: Bericht zur Lage der Nation. D. TOP 5: Ratifizierungsgesetz zum Moskauer Vertrag. – TOP 6: Ratifizierungsgesetz zum Warschauer Vertrag. – TOP 7: Große Anfrage der CDU/CSU betr. Deutschland- und Außenpolitik. – TOP 8: Antrag CDU/CSU betr. Beziehungen der Bundesrepublik und Polen. – TOP 9: Entschließungsantrag der SPD- und FDP-Fraktion zur Außen- und Deutschlandpolitik. E. Sonstiges: TOP 10: Informationen (Broschüre »Wort gehalten«; Radikalenerlass). – TOP 11: Neuer Obmann für die AG Kulturpolitik. – TOP 12: Vorschlag betr. den stell- vertretenden Vorsitz im Arbeitskreis II. – TOP 13: Nächste Termine. – Verschiedenes.

[A.] Eingangs gedenkt des vor fünf Jahren verstorbenen Fraktionsvorsit- zenden Fritz Erler. Im Einverständnis mit der Fraktion wird die ausgedruckte Tagesordnung abgeändert. Der Bericht Karl Wienands, als erster Tagesordnungspunkt vorgesehen, wird als dritter Tagesordnungspunkt behandelt. Bei den übrigen Tagesordnungspunkten bleibt es in der ausgedruckten Reihenfolge. Punkt 1 der TO: Politischer Bericht Herbert Wehners Herbert Wehner bewertet die bevorstehende Bundestagsdebatte über die Ratifizierung der Verträge von Moskau und Warschau, den Bericht zur Lage der Nation und die Große Anfrage zur Deutschland- und Außenpolitik.1 Auf den Pressedienst der SPD- 2 Bundestagsfraktion vom 22. 2. 1972, Tagesdienst 105, wird Bezug genommen (Anlage 1 ). [B.] Punkt 2 der TO: Bericht Egon Bahrs gibt einen Überblick über das Vertragswerk3 und seine Bedeutung. Seine Ausführungen sind dem beigefügten Protokoll zu entnehmen (Anlage 24).

1 Vgl. dazu Anm. 3, 8 und 13. 2 Die Anlage mit der Zusammenfassung des Redebeitrags Wehners ist dem Protokoll beigefügt. Für den Wortlaut der Äußerungen des Fraktionsvorsitzenden vgl. Dok. 87 A, SVP A. 3 Zum Entwurf der Bundesregierung vom 16. Februar 1972 für ein Gesetz zu dem Vertrag vom 12. August 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR vgl. BT Drs. 06/3156. Zum Entwurf der Bundesregierung vom 16. Februar 1972 für ein Gesetz zu dem Vertrag vom 7. Dezember

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In der nachfolgenden Aussprache äußert Herbert Hupka Bedenken gegen den War- schauer Vertrag, die er in drei Punkten zusammenfaßt: 1. Nach seiner Auffassung beinhalte der Warschauer Vertrag eine Änderung unserer bisherigen Politik, weil die Gebiete jenseits von Oder und Neiße nunmehr zum Aus- land würden. 2. In dem Vertrag sei versäumt worden, die Menschenrechte für die deut- schen Minderheiten zu regeln. 3. Da wir noch keinen Friedensvertrag abgeschlossen hätten, könnten wir die Gebiete jenseits der Oder und Neiße noch in das Deutschland- bild mit einbeziehen. Nach Ratifizierung des Vertrages werde sich das ändern. Der Vertrag gebe der anderen Seite die Möglichkeit, den als Vertragsbrecher und Revan- chisten zu bezeichnen, der weiterhin Gebietsansprüche geltend mache. Willy Bartsch ist ebenfalls der Meinung, daß es ein Fehler des Warschauer Vertrages sei, wenn er keine Regelungen für die Minderheiten enthalte. Ulrich Lohmar stimmt dem Vertragswerk zu. Er fragt Egon Bahr, ob bedacht worden sei, daß die DDR durch Verzögerungen bei den Verhandlungen zur Ausfüllung des Berlin-Abkommens5 wieder – wie bei früheren Bundestagswahlkämpfen – Wahlhilfe für die CDU/CSU leisten könne, und ob sich die Bundesregierung irgendwie abge- sichert habe. Egon Bahr nimmt zu den Diskussionsbeiträgen Stellung. Seine Ausführungen sind in dem anliegenden Protokoll wiedergegeben (Anlage 36). Die Sitzung wird um 11.30 Uhr unterbrochen und um 13.45 Uhr fortgesetzt. [C.] Punkt 3 der TO: Tagesordnung und Ablauf der Plenarsitzungen7 Karl Wienand gibt den Ablauf und die Tagesordnung der anstehenden Bundestagsde- batte bekannt. Er berichtet über die Vereinbarung des Ältestenrates, daß über die Ost- verträge voraussichtlich 22 Stunden debattiert werde. Der ungefähre Zeitplan sei vom Ältestenrat wie folgt festgelegt worden: Debattiert werde am Mittwoch und Donners- tag jeweils von 9.00 Uhr bis 13.00 Uhr und von 15.00 Uhr bis 20.00 Uhr. Die Frage- stunde finde an beiden Tagen von 14.00 Uhr bis 15.00 Uhr statt. Am Freitag solle ab 9.00 Uhr bis mittags debattiert werden, die Abstimmung über die Überweisung der Verträge an die Ausschüsse solle am Freitag um 13.00 Uhr erfolgen. Nach dem verein- barten Zeitplan stünden für die Redner der Opposition etwa 10 ½ Stunden und für die der Regierung und Koalitionsparteien rund 11 ½ Stunden zur Verfügung. Sollten sich im Plenum Vertreter des Bundesrates zu Wort melden, müßten sie in diesen vereinbar-

1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen vgl. BT Drs. 06/3157. 4 Die Anlage ist dem Protokoll beigefügt. Für den Wortlaut der Äußerungen von Staatssekretär Bahr vgl. Dok. 87 A, SVP B. 5 Zum Vier-Mächte-Abkommen über Berlin vom 3. September 1971 und zum Schlußprotokoll vom 3. Juni 1972 vgl. BUNDESANZEIGER, Nr. 174 vom 15. September 1972, Beilage, S. 44–73; EUROPA- ARCHIV 1971, D 443–454. – Seit der Unterzeichnung des Vier-Mächte-Abkommens am 3. September 1971 verhandelten die Bundesrepublik – respektive der Berliner Senat – und die DDR über die Aus- gestaltung eines Transitabkommens, über Regelungen zum Gebietstausch zwischen Berlin (West) und der DDR sowie über Erleichterungen beim Besucherverkehr. Zu den entsprechenden Abkom- men vom 17. bzw. 20. Dezember 1971 vgl. EUROPA-ARCHIV 1972, D 68–80; DIE ENTWICKLUNG DER BEZIEHUNGEN, Dok. 31, 33 und 34. 6 Die Anlage ist dem Protokoll beigefügt. Für den Wortlaut der Diskussion innerhalb der Fraktion vgl. Dok. 87 A, SVP B. 7 Zu den Plenarsitzungen, einschließlich der Fragestunde, am 23., 24. und 25. Februar 1972 vgl. BT Plenarprotokoll 06/171, 06/172 und 06/173.

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ten Zeitrahmen mit einbezogen werden. Im Ältestenrat sei außerdem festgestellt wor- den, daß diese Debatte für alle Abgeordneten so wichtig sei, daß ein Pairing wegen der gleichzeitig stattfindenden Tagung der WEU diesmal ausgeschlossen werde. Karl Wienand weist nochmals auf die Bedeutung der vollen Präsenz im Plenum hin. Punkt 4 der TO: Bericht zur Lage der Nation8 würdigt die Materialien zum Bericht zur Lage der Nation9, der im Ple- num vom Bundeskanzler abgegeben werden wird. Er hebt hervor, daß der Versuch unternommen worden sei, Entwicklungen in den beiden Teilen Deutschlands in wis- senschaftlichen Darstellungen zu vergleichen oder gegenüber zu stellen. Beispielhaft erwähnt er das Gerichtsverfassungsrecht und das Arbeitsrecht. Mit der Vorlage der Materialien werde das Ziel verfolgt, ein objektives Bild zu zeichnen, das jedem ein eige- nes Urteil erlaube. Die notwendige politische Wertung werde im Bericht des Bundes- kanzlers vorgenommen. Georg Schlaga fragt, ob es bei der Fertigstellung der Materialien Schwierigkeiten gege- ben habe, so daß sie erst am Freitag vergangener Woche vorgelegt werden konnten. Er möchte ferner wissen, ob für die Debatte eine hinreichende Zahl von Genossen über den Inhalt der Materialien informiert sei. Egon Franke erwidert: Er sei der Auffassung, daß man über die einzelnen wissenschaftli- chen Beiträge der Materialien nicht debattieren könne. Es komme allenfalls eine Debat- te über Sinn und Anlage des Berichts zur Lage der Nation in Frage. Es sei insbesondere zu erwarten, daß die Opposition unser Bemühen um eine objektive Sachdarstellung nicht würdigen, vielmehr die fehlende politische Wertung in den einzelnen Kapiteln der Materialien bemängeln werde. Sie werde voraussichtlich die Kritik an Tatbeständen, die auch von uns nicht gebilligt würden (z. B. den Mauerbau in Berlin), in den Vordergrund stellen. Die Materialien seien im übrigen wegen der vielen schwierigen, neu zu erarbei- tenden Beiträge, für die kein Archivmaterial vorhanden gewesen sei, so spät fertigge- stellt worden. Jürgen Schmude bemängelt, daß in den Materialien eine Darstellung des politisch aktu- ellen und wichtigen Staatsangehörigkeitsrechts fehle. Egon Franke weist darauf hin, daß die Materialen von Jahr zu Jahr ergänzt werden sollen, und daß die Absicht bestehe, zukünftig weitere wichtige Themen aufzunehmen. Es solle nach und nach unabhängig von der aktuellen politischen Diskussion eine um- fassende Dokumentation entstehen. Fritz Schäfer ist der Auffassung, daß das schwierige Problem des Staatsangehörigkeits- rechts gegenwärtig noch nicht in die Materialien aufgenommen werden könne. Dazu müßten die weitere politische Entwicklung und etwaige politische Entscheidungen abgewartet werden. Herbert Wehner bemerkt zu der ihm von einem Genossen gestellten Frage, daß der Wortlaut des Berichts des Bundeskanzlers zur Zeit noch nicht vorliege. gibt anschließend einen Überblick über die Ausführungen, die in seinem Bericht enthalten sein werden. Gegenüber dem letzten Berichtsjahr seien als neue politi- sche Ereignisse besonders zu erwähnen: Das Berlin-Abkommen, die Vereinbarungen zur Ausfüllung des Berlin-Abkommens10, und die Arbeiten an einem Abkommen mit

8 Zum Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland, den Bundeskanzler Brandt am 23. Fe- bruar 1972 dem erstattete, vgl. BT Plenarprotokoll 06/171, S. 9739–9742. 9 Zu den am 8. Februar 1972 in den Bundestag eingebrachten Materialen zum Bericht zu Lage der Nation vgl. BT Drs. 06/3080. 10 Vgl. Anm. 5.

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der DDR11, das erstmals der Zustimmung des Parlaments bedürfen wird. Zu werten werde unser unvermindertes Interesse nicht nur an dem Verkehrsvertrag, sondern einer generellen vertraglichen Regelung zwischen den beiden deutschen Staaten sein. Ferner werde es darauf ankommen, die drei Elemente unserer Deutschlandpolitik in ihren Zusammenhängen darzustellen: Die Einheit der Nation, den Anspruch auf Selbstbestimmung, das Bemühen um ein geregeltes vertragliches Verhältnis zwischen den Staaten auf deutschem Boden. […]12 Fortsetzung des Protokolls der Fraktionssitzung vom 22. Februar 1972 Übernahme des Protokolls um 14.50 Uhr [D.] Herbert Wehner ruft die Punkte 5–8 gemeinsam auf13 und erteilt Kurt Mattick für einen Bericht aus dem Arbeitskreis das Wort. Kurt Mattick verzichtet auf eine Darstel- lung der sachlichen Vorarbeit im Arbeitskreis. Er erklärt, daß der Arbeitskreis keine feste Rednerliste erstellt habe, damit in der Debatte genügend Bewegungsfreiheit bleibe. Es sei vielmehr ein Themenkatalog erstellt worden und die einzelnen Genossen haben sich zu verschiedenen Gebieten vorbereitet. Für verfassungsrechtliche und völkerrecht- liche Themen stünden Claus Arndt, Dieter Haack sowie Alwin Brück zur Verfügung, für einen historischen Rückblick Kurt Mattick, Carlo Schmid, die völkerrechtliche Position der DDR würde Manfred Geßner behandeln, auf Fragen der Normalisierung und Entspannung in Europa würde Georg Kahn-Ackermann sowie Georg Schlaga eingehen, zur Berlinfrage Roelf Heyen, Hellmut Sieglerschmidt und Kurt Mattick, zu allgemeinen Fragen der , Georg Kahn-Ackermann, Hellmut Sieglerschmidt und Wolfgang Schwabe. könne auf die Fragen zur Eu- ropapolitik eingehen. Hier stünde ein Entschließungsantrag zur Debatte, der noch mit der FDP abgestimmt werden müßte, aber nicht auf alle Fälle eingebracht werde.14 Er schlage außerdem vor, daß die Auseinandersetzung über die Verträge offensiv ge- führt werden solle. Im Mittelpunkt der Diskussion solle dabei die Situation Berlins stehen, damit die CDU/CSU ihre Alternative darstellen müsse, wie sie sie nach seiner Auffassung nicht habe. Generell für die gesamte Debatte stünden außerdem noch Her- bert Wehner, , Karl Wienand, Hans-Jürgen Wischnewski, Carlo Schmid und Kurt Mattick zur Verfügung. Damit wären die Vorarbeiten für die erste Lesung und auch für die Ausschußberatungen geleistet. Georg Schlaga vermißt, daß bei der Darstellung der Themenkataloge der Bereich Aus- füllung der Verträge insbesondere in Richtung Absichtserklärungen, so wie sie zum Beispiel durch die NATO gegeben worden seien, nicht enthalten war. Er fragt, ob etwa

11 Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR über Fragen des Verkehrs wurde erst, nach Ratifizierung der Ostverträge, am 12. Mai 1972 paraphiert und am 26. Mai 1972 unterzeichnet. Vgl. AAPD 1972, Dok. 119 und Dok. 146. 12 Protokollführer Wolfgang Zeisig übergibt das Protokoll an Knut Steffen. 13 Zu den Ratifizierungsgesetzen zu den Ostverträgen vgl. Anm. 3. Zur Großen Anfrage der CDU/ CSU-Fraktion vom 14. Oktober 1971 betr. Deutschland und Außenpolitik vgl. BT Drs. 06/2700. Zur Antwort des Auswärtiges Amts vom 11. November 1971 vgl. BT Drs. 06/2828. Zum Antrag der CDU/CSU-Fraktion vom 4. Dezember 1970 betr. Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen vgl. BT Drs. 06/1523. 14 Zum Entschließungsantrag der SPD- und FDP-Fraktion vom 24. Februar 1972 zur Außen- und Deutschlandpolitik vgl. BT Plenarprotokoll 06/173, S. 10012 f., Umdruck 261.

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der Verteidigungsminister in der Diskussion bereitstünde, um auf diese Fragen einzu- gehen. Karl Wienand erklärt dazu, daß er in einem Gespräch mit Schmidt klargestellt habe, daß dies in seinem Beitrag als Minister mit abgedeckt werde. Herbert Wehner erteilt, bevor er Tagesordnungspunkt 9 aufruft und Walter Behrendt das Wort gibt, Diether Posser für Berichterstattung über die Beratung im Bundesrat das Wort. Diether Posser erklärt, daß im Bundesrat die beiden Ausschüsse Recht und Auswärtiges, nicht aber der Innerdeutsche mit den Beratungen befaßt gewesen seien. Dabei haben im Vordergrund die Rechtsfragen gestanden und es sei mit 7:4 Stimmen im Rechtsausschuß beschlossen worden, das Bundesverfassungsgericht nicht anzurufen. Im Auswärtigen Ausschuß dagegen haben allgemeine politische und verfassungspolitische Fragen im Vordergrund gestanden. Auch dieser Ausschuß habe mit Mehrheit keine Einwendun- gen gegen die beiden Verträge erhoben. In der Debatte im Bundesratsplenum sei dann von der CDU/CSU das Interpretationsrisiko in den Verträgen hervorgehoben worden, insbesondere sei auf die Begriffe Unverletzlichkeit und ähnliche [Begriffe] Bezug ge- nommen worden. Die Differenzen haben aber durch die Regierung weitgehend ausge- räumt werden können. Weiter hat die CDU in der Debatte Befürchtungen vorgetragen, daß die Wiedervereinigung durch die Verträge ausgeschlossen werde.15 Es wurde aber darauf hingewiesen, daß diese nicht im Gegensatz zu den Verträgen stünde, insbesondere wurde Bezug auf den Brief zur deutschen Einheit in der Debatte und dessen Eingang in die Ratifizierung genommen.16 Claus Arndt schlägt vor, daß die Regierung der Fraktion nach Möglichkeit den Artikel der »Iswestija«, in dem zu der Frage der Unverletzlichkeit bzw. Unveräußerlichkeit Stellung genommen worden sei17, zur Verfügung stelle. Der Bundeskanzler erklärt, daß es weiterhin einen Artikel in der Außenpolitischen Zeitschrift der Sowjetunion zu diesem Problem gebe. Er weist jedoch auf die Schizo- phrenie in der Argumentation der Opposition hin. Sie sage, einerseits sei den Sowjets nicht zu trauen, andererseits traut sie aber ihren Erklärungen mehr als denen der eige- nen Regierung.18 Jürgen Schmude bittet Minister Posser, zu der Identitätstheorie und ihrer Rolle in der Debatte kurz Stellung zu nehmen. Dieses Problem sei auch in der Großen Anfrage der CDU/CSU zur Deutschland- und Außenpolitik angeschnitten worden, seiner Meinung nach aber unbefriedigend beantwortet. Minister Posser erklärt, daß dieses Problem auch im Rechtsausschuß des Bundesrates eine Rolle gespielt habe und erläutert die Frage näher. Carlo Schmid erklärt zu dem gesamten Problem, daß es fast unmöglich sei, die Absich- ten der Alliierten nach 1945 in völkerrechtliche Kategorien zu bringen. Insbesondere

15 Zur Diskussion im Bundesrat über die Ostverträge vgl. BR Plenarprotokoll, 376. Sitzung am 9. Fe- bruar 1972, S. 399–453. 16 Zum »Brief zur deutschen Einheit«, der anläßlich der Unterzeichnung des Vertrags zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR am 12. August 1970 im sowjetischen Außenministerium übergeben wurde, vgl. BT Drs. 06/3156, S. 5. 17 Vermutlich Bezugnahme auf die Äußerung des sowjetischen Außenministers Gromyko vom 29. Juli 1970. Vgl. BT Drs. 06/3156, S. 14, Anlage 1. 18 Die unionsregierten Länder hielten der Bundesregierung im Bundesrat vor, dass ein wesentlicher Begriff wie »unverletzlich«, der die Möglichkeit friedlicher Grenzänderungen in der Zukunft um- schloss, im russischen Teil des Moskauer Vertrages mit der Bedeutung »unantastbar« übersetzt wor- den sei, womit auch friedliche Grenzänderungen in Zukunft ausgeschlossen seien. Vgl. BR Plenar- protokoll, 376. Sitzung am 9. Februar 1972, S. 422 f.

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zur Frage der Oder-Neiße-Grenze war beabsichtigt, eine genaue Abgrenzung und Vermessung einem späteren Friedensvertrag vorzubehalten. Dies ergänzt Kurt Mattick und verliest zur Frage der Oder-Neiße-Grenze die Briefe von Churchill und Roosevelt.19 Herbert Hupka geht auf die einzelnen Diskussionsbeiträge ein, insbesondere auf die von Carlo Schmid und Kurt Mattick, und übt hieran Kritik. Er führt insbesondere aus, daß er nicht einsehen könne, daß die zitierten Texte so interpretiert werden, daß sie gegen die deutschen Interessen sprechen würden. Minister Posser geht daraufhin noch einmal auf die staats- und völkerrechtlichen Fra- gen, insbesondere des Warschauer Vertrages ein. Er führt aus, daß im Warschauer Ver- trag keine Gebietsverfügung vorgenommen sei, was die BRD allerdings auch nicht könne. Er begründet weiter, warum Polen besonderen Wert auf die Grenzfeststellungs- erklärung legt. Der Bundeskanzler erklärt hierzu, 1. man dürfe nach seiner Auffassung nicht masochistisch argumentieren, das heißt, man dürfe die Diskussion nicht verkehren, 2. eine Verbesserung des Verhältnisses mit der Sowjetunion war notwendig gewesen, daher mußten auch Äußerungen zu Verhältnissen im Herrschaftsbereich der Sowjet- union gemacht werden, 3. es werden nicht Grenzen geschaffen, die bestehenden werden aber auch nicht in Fra- ge gestellt. In der folgenden Debatte stellen Dieter Sperling, Manfred Geßner, Jochen Raffert und Herbert Hupka verschiedene Fragen zu Einzelproblemen, auf die Kurt Mattick und Diether Posser eingehen. Posser weist insbesondere darauf hin, daß die CDU/CSU es meisterhaft verstehe, in der Debatte die verschiedenen Denk- und Argumentationsebe- nen ständig zu vertauschen. Heinz Pöhler geht in seinem Diskussionsbeitrag darauf ein, daß sich in der Nachkriegs- zeit die Situation völlig geändert habe, daß wir nun aber verpflichtet seien, unsere Ge- schichte zu tragen. In einer weiteren Diskussion setzen sich Dieter Sperling und Hugo Collet mit Argumenten von Herbert Hupka auseinander, auf die dieser wiederum ein- geht. Einige Bemerkungen von Staatssekretär Bahr zu den Problemen beenden die Diskussion und Herbert Wehner erklärt den Tagesordnungspunkt 8 für abgeschlossen. Tagesordnungspunkt 9 Walter Behrendt erklärt, daß der Entschließungsantrag je nach Aussagen der CDU/CSU eingebracht werde. Punkt 4 der Entschließung solle nach einem Wunsch der FDP geän- dert werden.20 Dies wird so beschlossen. [E.] Tagesordnungspunkt 10 Günther Müller fragt, welche Grundlage die in der Broschüre »Wort gehalten« wieder- gegebenen Werte über die Rentenerhöhung hätten.21 erklärt dazu, daß

19 Zum Wortlaut der Äußerungen von des britischen Premierministers Churchill am 15. Dezember 1944 vor dem Unterhaus vgl. HANSARD, Commons, Bd. 406, Sp. 1478–1578, online. Zum Wortlaut des Briefes von US-Präsident Roosevelt an den polnischen Ministerpräsidenten im Exil, Mikołajczyk, am 17. November 1944 vgl. FOREIGN RELATIONS OF THE UNITED STATES 1944, Bd. III, S. 1334 f., online. 20 Vgl. Anm. 14. 21 Gemeint ist die 1972 vom Vorstand der SPD herausgegebene Broschüre »Wort gehalten. Bilanz nach drei Jahren sozialdemokratisch geführter Bundesregierung«.

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die Broschüre lediglich Annäherungswerte enthalte, eine genaue Festlegung sei erst mit Vorlegung des Rentenberichtes möglich. Lenelotte von Bothmer fragt nach weiteren Erläuterungen zum Beschluß der Länder- minister, keine radikalen Beamten einzustellen.22 Dazu erläutert , daß vor allem gesehen werden müsse, daß der Beschluß der Länderminister kein neues Recht setze, sondern lediglich das bestehende Gesetz bekräftige. Die Ausführungen werden von Friedrich Schäfer ergänzt. Lenelotte von Bothmer sowie Hellmut Sieglerschmidt und Dieter Sperling stellen Zusatzfragen, auf die noch und Friedrich Schäfer eingehen. Tagesordnungspunkt 11 und 12

Annemarie Renger erklärt, daß gemäß § 4 der Geschäftsordnung der Fraktion der Vor- stand der Fraktion als neuen Obmann für die Arbeitsgruppe Kultur Rolf Meinecke vorschlage. Dies wird so beschlossen. Weiterhin habe der Vorstand Karl Liedtke als neuen Vorsitzenden des Arbeitskreises II vorgeschlagen. Dies wird so beschlossen. Tagesordnungspunkt 13 Siehe Tagesordnung.23 Zum Punkt Verschiedenes liegen keine Wortmeldungen vor.

22 Am 28. Januar 1972 beschlossen die Regierungschefs der Länder zusammen mit Bundeskanzler Brandt, dass die Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Organisation unvereinbar mit einer Einstellung in den öffentlichen Dienst sei. Zum Wortlaut der später als »Radikalenerlass« bezeichne- ten Grundsätze zur »Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst« (Fassung vom 18. Februar 1972) vgl. MINISTERIALBLATT FÜR DAS LAND NORDRHEIN-WESTFALEN, 1972, Ausgabe A, Nr. 20, S. 342. 23 Termine laut Tagesordnung: Montag, 28. Februar 1972, 17.00 Uhr: Vorstand; Dienstag, 29. Februar 1972, 15.00 Uhr: Fraktion.

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