Nr. 208/209 I/II - Juli 2010 A 3109 F MITTEILUNGEN der Humanistischen Union e.V. für Aufklärung und Bürgerrechte

Zeit für das Ende der Sicherungsverwahrung Jens Puschke Fotomontage: Lüders

Die Rechtsprechung überschlägt sich in den letzten Monaten verwahrung rückwirkend angeordnet oder verlängert wird. So mit Beschlüssen und Urteilen zur Sicherungsverwahrung. hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Dabei geht es vor allem um die Frage, ob die Sicherungsver- (EGMR) im Dezember 2009 über eine Beschwerde zu ent- wahrung eine Strafe ist und dementsprechend für ihre scheiden, mit der gerügt wurde, dass die Abschaffung der Anordnung die gleichen strengen Grundsätze gelten müssen zehnjährigen Höchstgrenze für die Sicherungsverwahrung im wie für die Verhängung einer Freiheitsstrafe. Jahr 1998 sich auch auf zu diesem Zeitpunkt bereits in In Deutschland wird die Sicherungsverwahrung als eine Sicherungsverwahrung befindliche Personen auswirkte. Für Maßregel der Besserung und Sicherung bezeichnet. Sie soll den Beschwerdeführer, der sich seit 1991 in Sicherungsver- die Allgemeinheit vor als gefährlich beurteilten Straftätern wahrung befand (zuvor verbüßte er eine fünfjährige Frei- schützen. Als freiheitsentziehende Maßnahme wird sie heitsstrafe), hieß das, dass er nicht nach zehn Jahren, also im zusätzlich zu einer verhängten Freiheitsstrafe angeordnet Jahr 2001 entlassen wurde, sondern auf unbestimmte Zeit und regelmäßig im an sie vollstreckt. Die Anord- inhaftiert blieb. Die Straßburger Richter gaben dem nung kann unmittelbar in dem Urteil erfolgen, in dem der Beschwerdeführer Recht. Sie urteilten, dass die für das Straf- Straftäter auch zu Freiheitsstrafe verurteilt wird. Sie kann in recht geltenden besonderen Beschränkungen der Europäi- diesem Urteil aber auch lediglich vorbehalten werden; die schen Menschenrechtskonvention (EMRK) - wie das Rück- abschließende Entscheidung über die Anordnung wird dann wirkungsverbot - auch auf die Sicherungsverwahrung erst zu einem späteren Zeitpunkt getroffen. Zudem besteht - angewendet werden müssen. Der Grund hierfür sei, dass sich seit 2004 im Erwachsenenstrafrecht und seit 2008 auch im die Rechtsfolgen in der Anwendung kaum unterscheiden las- Jugendstrafrecht - die Möglichkeit, die Sicherungsverwah- sen. Sowohl die Freiheitsstrafe als auch die Sicherungsver- rung nachträglich, also während der Verbüßung der Frei- wahrung sind Sanktionen, die tief in Grund- und Menschen- heitsstrafe und ohne vorherige Anordnung im Urteil, zu ver- rechte eingreifen; außerdem werden sie in denselben hängen. Haftanstalten vollzogen und dienen zumindest theoretisch Mit Blick auf die Menschenrechte und das Grundgesetz der Resozialisierung des Inhaftierten und der Sicherung der sind Fälle besonders problematisch, in denen die Sicherungs- Allgemeinheit. Und auch aus Sicht der Gefangenen ist ein

1 Ende der Sicherungsverwahrung? 12 Rechtsstaatlichkeit in Zeiten der 27 Urabstimmung zum Vereinsnamen 4 ELENA - das neue Datenmonster Terrorbedrohung 28 Sexualpolitik der HU 6 Grundrechte-Report 2010 15 Gustav-Heinemann-Forum 33 Sexueller Missbrauch von 7 Entscheidung zur Vorratsdaten- 16 Ankündigung Verbandstag 2010 Kindern als Traumatisierung speicherung: Kommentar 17 Fritz-Bauer-Preis an H. Kramer 36 Nachruf Gerald Grünwald 8 Versammlungsgesetz Bayern 18 Rezension: Fritz-Bauer-Film 37 Rezension 9 Videoüberwachung in 20 4. Berliner Gespräche: 38 Kurz-Mitteilungen 10 Interview: Evaluation und Dokumentation & Kommentar 43 Serviceadressen Gesetzesfolgenabschätzung 26 Fachtagung Strafvollzug 44 Termine / Impressum Rechtspolitik

Unterschied kaum wahrnehmbar. Darüber hinaus beklagte sierung ausgerichtete Strafvollzug in Deutschland darf nicht der EGMR auch den Mangel an besonderen Betreuungs- und auf diese Weise zu Lasten des Verurteilten gehen. Therapieangeboten. Das Urteil wurde am 11. Mai 2010 Teilweise wird argumentiert, dass die Verhängung der rechtskräftig. Sicherungsverwahrung am Ende der Haftzeit keine nachträg- Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) beurteilte diese liche, auf denselben Gegenstand (die Straftat) bezogene Ent- Frage im Jahr 2004 noch anders. Es entschied, dass das abso- scheidung sei, sondern vielmehr eine von der Verurteilung zur lute Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG auf Maßre- Freiheitsstrafe unabhängige neuartige Anordnung. Dann geln der Besserung und Sicherung nicht anzuwenden sei. käme aber auch eine Verhängung der Sicherungsverwahrung Somit könne eine nachträgliche Gesetzesänderung auch zu in Betracht, gänzlich ohne zuvor begangene Straftat. Es käme Lasten des Verurteilten gehen. Im Gegensatz zur Freiheits- dann nur noch auf die von Gutachtern festgestellte Gefähr- strafe diene die Sicherungsverwahrung weder der Missbilli- lichkeit an, um Menschen wegzusperren - ein Szenario, das gung vorwerfbaren Verhaltens noch dem Ausgleich straf- inhaftierte Menschen endgültig zum bloßen Objekt degradie- rechtlicher Schuld. Nur für diesen Fall sei es jedoch ren würde. Stattdessen geht der EGMR davon aus, dass auch notwendig, dass man sich auf die Rechtsfolgen seines Tuns die Sicherungsverwahrung als eine Reaktion auf eine Straftat einstellen könne. zu betrachten ist und nicht außer Verhältnis zur Straftat ste- Die unterschiedliche Beur- hen darf, deretwegen sie ver- teilung der Frage, ob besondere hängt wurde. So wird in dem Beschränkungen für die Siche- Urteil zur Sicherungsverwah- rungsverwahrung gelten oder rung ausgeführt, dass sich eine nicht, wirkt sich nicht nur auf freiheitsentziehende Maßnah- den Fall der Gesetzesänderung me nur dann gem. Art. 5 Abs. 1 des Jahres 1998 aus. Obwohl a EMRK rechtfertigen lässt, vom EGMR nicht unmittelbar wenn ihre Verhängung eng mit entschieden, hat das Urteil der Feststellung der Schuld auch Gewicht, wenn es um die verbunden ist. Beurteilung geht, ob die aktu- Die Ausführungen machen elle gesetzliche Regelung zur deutlich, dass unter Beachtung nachträglichen Sicherungsver- von EMRK und Grundgesetz wahrung mit dem Grundgesetz Anzahl der Sicherungsverwahrten in Deutschland (nach: das Schutzniveau des Straf- und der EMRK vereinbar ist. Statist. Bundesamt; Kinzig in NStZ 2010, 233ff.; Wikipedia) rechts auch für die Siche- Das ist nach dem Urteil höchst rungsverwahrung gilt, mit der fraglich. Zwar kann man mit dem Bundesverfassungsgericht Folge, dass es eine nachträglich verhängte oder verlängerte der Meinung sein, dass es sich bei der Sicherungsverwahrung Sicherungsverwahrung nicht geben darf. Auch die Sicherheit nicht um eine Strafe im eigentlichen Sinne handelt. Dennoch der Allgemeinheit spricht nicht gegen, sondern für eine sol- ist ihre Eingriffstiefe mit der einer Freiheitsstrafe vergleich- che Bewertung. Bei Strafgefangenen, die einer nachträgliche bar. Das gilt sowohl für die vom EGMR angesprochene Art Sicherungsverwahrung unterliegen, werden Vorbereitungen und Weise des Vollzuges als auch für den Stempel der auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft deutlich Gefährlichkeit, der dem Verurteilten aufgedrückt wird und erschwert. Ist der voraussichtliche Zeitpunkt der Haftentlas- ähnliche psychische und soziale Folgen mit sich bringt wie sung unklar, lassen sich Maßnahmen zur Wiedereingliede- das Unwerturteil, das in der Verhängung einer Freiheitsstrafe rung wie Hafturlaub oder offener Vollzug schlecht planen zu sehen ist. Im Ergebnis bedeutet dies: Das strafrechtliche und unterbleiben häufig. Zum anderen erschweren die psy- Rückwirkungsverbot und das Verbot der Doppelbestrafung chischen Auswirkungen einer ungewissen Zukunft die Bemü- kommen zwar nicht unmittelbar zur Anwendung. Zumindest hungen der Strafgefangenen. In der Folge kann die Wahr- die Unzulässigkeit einer nachträglichen Anordnung der scheinlichkeit eines Rückfalls erheblich steigen. Dadurch Sicherungsverwahrung ergibt sich aber aus der Garantie der wird das Ziel eines besseren Schutzes der Allgemeinheit Menschenwürde, dem allgemeinen Vertrauensgrundsatz und durch die nachträgliche Sicherungsverwahrung letztlich kon- dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Einer Person, die rechts- terkariert. kräftig zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, Leider bleibt festzuhalten, dass die obersten deutschen ist es nicht zuzumuten, bis kurz vor Ende der Verbüßung die- Gerichte der kritischen Bewertung der Sicherungsverwah- ser Strafe im Unklaren darüber zu bleiben, ob sich noch eine rung bisher nicht folgen. Sowohl das BVerfG als auch der zeitlich unbestimmte Sicherungsverwahrung anschließt. Dies Bundesgerichtshof (BGH) haben die nachträgliche Siche- gilt umso mehr, wenn eine besondere Gefährlichkeit im Zeit- rungsverwahrung für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt. punkt der Verurteilung nicht festgestellt werden konnte, sich Eine Hauptsachenentscheidung des BVerfG zur Sicherungs- also eine solche Beurteilung erst im Zusammenhang mit dem verwahrung nach dem Urteil des EGMR steht allerdings noch Strafvollzug ergibt. Der nicht hinreichend auf die Resoziali- aus. Der Antrag auf eine einstweilige Anordnung, die die Frei-

Seite 2 Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Rechtspolitik lassung eines von der Gesetzesänderung im Jahr 1998 Betroffenen zur Folge gehabt hätte, wurde vom BVerfG abge- Sicherungsverwahrung in Deutschland – lehnt. Die durch das Urteil des EGMR aufgeworfenen Rechts- die Etappen ihrer Ausweitung fragen seien im Hauptsacheverfahren zu klären. Die Brisanz der Diskussion wird noch dadurch erhöht, 28.8.2002 Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Siche- dass im Koalitionsvertrag eine Harmonisierung der Anord- rungsverwahrung [Einführung § 66a StGB - Vorbehalt der SV nungsvoraussetzungen für die Sicherungsverwahrung und und § 275a StPO - Verfahren zur vorbehaltenen Entscheidung] Wenn die materiellen Voraussetzungen für eine Anordnung der SV das Schließen vermeintlich bestehender Schutzlücken ver- zum Zeitpunkt des Urteils vorliegen, aber das Gericht nicht hinrei- einbart wurde. Die Koalition sieht sich also immerhin selbst chend sicher bestimmen kann, ob ein ,,Hang zu erheblichen Straf- in der Pflicht aktiv zu werden. Und dieser Pflicht muss sie taten" gem. § 66 (1) StGB besteht, kann im Strafurteil eine späte- unabhängig von anstehenden Urteilen des BVerfG nachkom- re Anordnung der Verwahrung vorbehalten werden. Die men. Es darf in einem demokratischen Rechtstaat nicht Auf- Entscheidung trifft dann die Strafvollstreckungskammer, spätes- tens 6 Monate vor dem möglichen Termin einer vorzeitigen Haft- gabe des Verfassungsgerichts sein, staatliche Zwangsmaß- entlassung (2/3 Strafzeit). Das Gericht muss Gutachter zur Beur- nahmen, die derart tief in Grundrechte eingreifen, auf das teilung der Gefährlichkeit hinzuziehen. verfassungsrechtlich gerade noch zulässige Maß zurückzu- stutzen. Das Bundesjustizministerium (BMJ), dem innerhalb 24.7.2004 Gesetz zur Einführung der nachträglichen Siche- rungsverwahrung [Einführung § 66b StGB - nachträgliche SV, der Regierung die Federführung für einen Gesetzesentwurf Anpassung § 275a StPO] zukommt, und der Gesetzgeber sind daher dazu aufgerufen, Werden nach einer Verurteilung Tatsachen bekannt (etwa durch das Recht der Maßregeln der Besserung und Sicherung das Verhalten im Strafvollzug), die auf eine erhebliche Gefähr- grundlegend neu zu gestalten. dung der Allgemeinheit schließen lassen, kann die Sicherungsver- Inzwischen wurde ein vom Kabinett beschlossenes Eck- wahrung auch nachträglich angeordnet werden (ohne dass sie im Urteil vorbehalten war). Die nachträgliche SV ist möglich bei punktepapier des BMJ vorgelegt, das vorsieht, die nachträgli- Straftaten gegen Leib, Leben oder die sexuelle Selbstbestimmung che Sicherungsverwahrung abzuschaffen und die anderen bzw. bei Freiheitsstrafen von mind. 5 Jahren. Formen der Sicherungsverwahrung auf schwere Gewalt- und Sexualstraftaten zu beschränken. Zudem wird über den Ein- 8.7.2008 Gesetz zur Einführung der nachträglichen Siche- satz einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung für die rungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht [Änderung § 7 JGG] Zeit nach der Haftentlassung nachgedacht. Inwieweit die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung auch im sog. elektronische Fußfessel bzw. eine besondere Form der Jugendstrafrecht möglich bei einer Verurteilung zu einer Frei- GPS-Ortung aber über die Beruhigung der Bevölkerung heitsstrafe von mind. 7 Jahren und Verbrechen gegen das Leben, hinaus zum Schutz vor zukünftigen strafbaren Handlungen die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestim- oder zur besseren Eingliederung der Haftentlassenen führen mung. Für die Anordnung gelten die Bestimmungen bei Erwachse- nen, lediglich die gerichtliche Prüffrist auf Fortsetzung der SV soll, bleibt unklar. Die im Eckpunktepapier vorgesehene wurde auf 1 Jahr verkürzt. Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung ist eine notwendige Reaktion auf die Entscheidung des EGMR. Sie geht aber nicht weit genug. Ziel muss es sein, ein staatli- ches Reaktionssystem zu entwerfen, das Gesichtspunkte der dagegen staatliche Eingriffe nur an vermuteten Risiken ori- Schuldangemessenheit, der Verhältnismäßigkeit und eines entieren, verdrängten bald Angst und Voreingenommenhei- menschenwürdigen Umgangs mit Straftätern zum Leitbild ten die rechtstaatlichen Wertmaßstäbe. Die Grenze für einen hat. Das hieße aber, dass nicht nur die nachträgliche Siche- freiheitsentziehenden staatlichen Eingriff muss dort gezogen rungsverwahrung abzuschaffen ist. Der Staat sollte vielmehr werden, wo Menschen, die für ihre Taten verantwortlich sind, auf das Instrumentarium der Sicherungsverwahrung voll- dem Grad ihrer Schuld entsprechend die ihnen auferlegte ständig verzichten. Denn auch eine im Strafurteil angeordne- Freiheitsstrafe verbüßt haben. te oder vorbehaltene Sicherungsverwahrung stellt sich aus Die beste Art und Weise, um Gefahren für die Allgemein- Sicht der Betroffenen als zusätzliche, als doppelte Strafe dar. heit zu vermeiden, besteht darin, den Strafvollzug während Jede Form der Sicherungsverwahrung bedeutet letztlich ein dieser Zeit konsequent so auszugestalten, dass er auf not- Wegsperren über die Zeitspanne hinaus, die ein Gericht als wendige Therapie, auf Verbesserung der Lebenssituation der schuldangemessene Freiheitsstrafe betrachtet. Dieses Inhaftierten, etwa durch (Aus)Bildung und Betreuungsange- zusätzliche Wegsperren begründet sich allein aus einer bote, und auf Resozialisierung für alle Gefangenen ausge- Gefährlichkeitsprognose, die höchst unsicher ist. Zudem richtet ist. Trotz gegenteiliger Beteuerungen einiger Politiker führt die Freiheitsentziehung auf unbestimmte Zeit, wie sie gibt es einen solchen Strafvollzug in Deutschland bisher allen Formen der Sicherungsverwahrung zu eigen ist, dazu, nicht. Freilich ist eine solche Ausgestaltung des Vollzuges dass eine erfolgreiche Wiedereingliederung kaum möglich ist. teuer. Dennoch ist dies die einzige Möglichkeit, ein notwen- Natürlich birgt der Verzicht auf die (u.U. lebenslängliche) diges Maß an Sicherheit und rechtsstaatliche Grundsätze Sicherungsverwahrung auch Gefahren. Solche Gefahren gleichermaßen zu bewahren. jedoch sollte eine offene Gesellschaft aushalten. Würden sich Jens Puschke ist Mitglied des Bundesvorstands der Humanistischen Union

Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Seite 3 Datenschutz ELENA – Wird das Datenmonster zur Strecke gebracht?

Nach rund halbjährigem Untertauchen ist die Datenkrake desministerium für Arbeit und Soziales hat Ende Februar ELENA pünktlich zum medialen Sommerloch wieder aufge- 2010 mit Zustimmung des Bundesrates eine Rechtsverord- taucht: Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) nung erlassen, in der Form und Inhalt der zu übermittelnden hatte Anfang Juli gegenüber einer Tageszeitung geäußert, Daten näher bestimmt sind. dass man verstärkt über ein Moratorium nachdenken müsse. Während dem FDP-Minister finanzielle Belastungen des Mit- Ziele des ELENA-Verfahrens telstandes durch die Sammelei von Arbeitnehmerdaten Sorge Nach Auffassung der Bundesregierung diene ELENA dem bereiten und ihn zum Stoppen des umstrittenen Vorhabens Bürokratieabbau und könne Kosten bei Arbeitgebern und der veranlassen könnten, befürchtet der Bundesdatenschutzbe- Verwaltung einsparen, wenn künftig auf Papierbescheinigun- auftragte Peter Schaar, dass die datenschutzrechtlichen Vor- gen verzichtet wird. Zudem könnten Anträge auf Sozialleis- gaben angesichts der Kritik an der Praxistauglichkeit aufge- tungen schneller und fehlerfreier bearbeitet werden. Für die weicht würden. „Die Zweifel am Verfahren sind gewachsen", Bürger/innen würde die Antragstellung z.B. von Arbeitslosen- erklärte er. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von ELENA oder Wohngeld zudem diskreter, da sie nicht mehr bei ihrem insgesamt sind allerdings mehr als angebracht. (ehemaligen) Arbeitgeber wegen einer Arbeitsbescheinigung vorstellig werden müssten. Nach Einbeziehung aller Sozial- Was ist ELENA? leistungen sei ELENA schließlich geeignet, Leistungsmiss- Die Abkürzung ELENA steht für den ELektronischen Entgelt- brauch weitgehend auszuschließen. NAchweis. ELENA ist die Weiterentwicklung des schon unter der rot-grünen Regierung vorangetriebenen JobCard-Pro- Welche Daten werden gespeichert? jekts. In Form von einzelnen Datenbausteinen und Datenfeldern Seit 1. Januar 2010 sind alle Arbeitgeber verpflichtet, für werden unter anderem Name, Geburtsdatum, Anschrift, jeden ihrer Beschäftigten monatlich einen festgelegten Steuerklasse und Kinderfreibeträge des Beschäftigten, Anga- Datensatz über das Arbeitsentgelt und zahlreiche weitere ben zum Arbeitgeber, zur Tätigkeit, zu Art und Höhe der Ent- Arbeitnehmerdaten an die Deutsche Rentenversicherung zu gelte, den abgeführten Steuern und Sozialversicherungsbei- übermitteln, den diese in einer zentralen Stelle speichert. trägen, Art und Umfang von Fehlzeiten, Abmahnungen, Betroffen sind alle ca. 36 Millionen Arbeitnehmer/innen in Entlassungen/Kündigungen und deren Gründe erfasst. Dabei Deutschland einschließlich der geringfügig Beschäftigten handelt es im Wesentlichen um Angaben, die bislang - aller- (außer in Privathaushalten), BeamtInnen, Richter/innen und dings nur wenn sie benötigt wurden - mit den amtlichen For- SoldatInnen. mularen erhoben wurden, bspw. denen der Bundesagentur Die Datensammlung soll die bislang auf Papier erstellten für Arbeit oder der Wohngeldstelle. Arbeits- und Verdienstbescheinigungen des Arbeitgebers ersetzen, die beim Beantragen bzw. beim Bezug von Arbeits- Wie lange werden die Daten gespeichert? losengeld, Übergangsgeld, Berufsausbildungsgeld, Wohngeld Die einzelnen Daten werden solange gespeichert, wie sie für und Elterngeld von den Bürger/innen vorgelegt werden müs- eine Entgeltbescheinigung zum Bezug von Arbeitslosengeld, sen. Es ist geplant, in Zukunft weitere Bescheinigungen und Wohngeld, Elterngeld etc. benötigt werden. Sie werden Sozialleistungen in das ELENA-Verfahren miteinzubeziehen jedoch spätestens nach Ablauf von fünf Jahren gelöscht. Die wie z.B. BAföG, Prozesskostenhilfe, Arbeitslosengeld II. Löschung soll jeweils automatisch und feldgenau erfolgen. Sämtliche Daten werden verschlüsselt und unter Pseudo- Das heißt, ein Datum bleibt solange gespeichert, wie es im nym bei der sog. Zentralen Speicherstelle gespeichert. Eine längsten Fall potentiell benötigt wird. Das ist bei den einzel- Zuordnung der Daten zu einer bestimmten Person soll nur nen Sozialleistungen jedoch sehr verschieden und kann bei über die sog. Registratur Fachverfahren möglich sein, die die der Berechnung des Arbeitslosengeldes tatsächlich bis zu Pseudonyme verwaltet. Ein Datenabruf soll nur erlaubt sein, fünf Jahre zurückreichen. wenn der betroffene Bürger mit seiner Signaturkarte, also Nach telefonischer Auskunft der Deutschen Rentenversi- seinem Schlüssel, die erforderlichen Daten gegenüber der cherung Bund, die für die Umsetzung des ELENA-Verfahrens zuständigen Stelle (Bundesagentur für Arbeit, Elterngeldstel- zuständig ist, werden sämtliche Daten zunächst zwei Jahre le etc.), freigibt. gespeichert, unabhängig davon, ob sie benötigt werden oder nicht. Rechtsgrundlage Bundestag und Bundesrat haben im März 2009 das ELENA- Auskunftsrechte Verfahrensgesetz beschlossen (BGBl I Nr. 17 v. 1.4.2009, S. Jede/r Arbeitnehmer/in hat dem Gesetz nach ab 2010 den 634 ff.), das das Verfahren des elektronischen Entgeltnach- Anspruch, bei der Zentralen Speicherstelle und bei der Regis- weises im Sozialgesetzbuch IV regelt (§§ 95-104). Das Bun- tratur Fachverfahren zu erfahren, welche Daten über ihn/sie

Seite 4 Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Datenschutz gespeichert sind. Angeblich sei eine Auskunft jedoch erst ab Zusätzlich können sie die - von der ZSS bis 2012 angeblich Januar 2012 technisch realisierbar, mit der Begründung, dass nicht realisierbare - Auskunft über ihre Daten einklagen. die abrufenden Stellen, also die Sozialbehörden, erst ab 2012 Damit ließe sich zugleich belegen, dass ELENA nicht daten- auf die Daten zugreifen könnten. Nach Kritik von Bundesrat schutzkonform umgesetzt ist. Nach Papieren der ELENA-Gre- und Bundesdatenschutzbeauftragtem wird nun an einem mien sei eine solche Klage auf Erteilung einer Auskunft beim Konzept gearbeitet, wie eine "Selbstauskunft" der Arbeitneh- Sozialgericht Hannover anhängig. mer über ihre Daten Ende März reichten schon vorher gewähr- rund 22.000 Arbeit- leistet werden kann. nehmer/innen eine Allerdings soll diese vom FoebuD und dem Auskunft, die dann AK Vorrat organisierte beim Datenschutzbe- Verfassungsbeschwer- auftragten erfolgen de gegen das ELENA- wird, erst Mitte 2011 Verfahrensgesetz ein. möglich sein. Aktueller Stand Was kann man Nach massiven Protes- gegen ELENA tun? ten von Gewerkschaf- Der Gesetzgeber hat ten u.a. wegen der keine Möglichkeit für Erfassung von Streikta- die Arbeitnehmer/ gen, sah sich die Bun- innen vorgesehen, der desregierung um den Übermittlung und Jahreswechsel Speicherung ihrer 2009/2010 herum

Daten im ELENA-Ver- So funktioniert das ELENA-Verfahren. Grafik: Wikipedia gezwungen, Änderun- fahren zu widerspre- gen am ELENA-Verfah- chen. Nach dem ELENA-Verfahrensgesetz sowie dem Bun- ren anzukündigen. In der Folge wurde der Umfang der zu desdatenschutzgesetz bestehen lediglich Auskunftsrechte übermittelnden Daten minimal verringert: Bei Fehlzeiten und das Recht, fehlerhafte Daten zu berichtigen bzw. zu wird nun nicht mehr zwischen unrechtmäßigen, rechtmäßi- löschen. gen Streiks und Aussperrungen unterschieden, sondern der- Der/die Betroffene kann theoretisch den Abruf der Daten artige Fehlzeiten werden nunmehr in der Sammelrubrik durch die Sozialbehörden verhindern, indem er/sie die erfor- "sonstige unbezahlte Fehlzeit" erfasst, in der auch bspw. die derliche Zustimmung mit der Signaturkarte verweigert. Eine Pflege eines kranken Kindes ohne Krankengeldbezug, unent- Verweigerung wird jedoch dazu führen, dass die beantragten schuldigtes Fehlen u.a. gemeldet werden. Sozialleistungen abgelehnt werden. Ferner hat der Deutsche Gewerkschaftsbund ein Anhö- Arbeitgeber, die sich weigern, die Daten ihrer Mitarbei- rungsrecht - nicht etwa ein Mitwirkungs- oder Mitentschei- ter/innen zu melden, drohen Bußgelder bis zu 25.000 Euro. dungsrecht - für den Aufbau der einzelnen Datensätze erhal- Jedoch werden nach Auskunft der Deutschen Rentenversi- ten. Diese Änderung des SGB IV hat der Deutsche Bundestag cherung derzeit keine Prüfungen vorgenommen, ob Arbeitge- am 17.6.2010 beschlossen. Ein Anhörungsrecht von Arbeit- ber vollständig gemeldet haben. Mit Bußgeldern müsse man nehmervertreter/innen bei der Festlegung der Datenfelder daher noch nicht rechnen. oder die Streichung einiger weniger Datenfelder ändert jedoch nichts an der grundlegenden Problematik. Welche Klagemöglichkeiten gegen ELENA bestehen? Arbeitnehmer/innen haben zum einen die Möglichkeit, gegen Kritik an ELENA ihren Arbeitgeber auf Unterlassung der Übermittlung ihrer · Beim ELENA-Verfahren handelt es sich um eine Vorratsda- Daten vor dem Arbeitsgericht zu klagen. Dazu sollten sie tenspeicherung, ohne dass zum Zeitpunkt der Speicherung zunächst ihrem Arbeitgeber untersagen, ihre Daten an die tatsächlich ein bestimmter Zweck vorliegt. Der in der Geset- Zentrale Speicherstelle (ZSS) zu übermitteln. zesbegründung angegebene Zweck, nämlich Kosten für Sie könnten ferner bei der speichernden Stelle, der ZSS Arbeitgeber zu senken und die Verwaltung effizienter zu bei der Deutschen Rentenversicherung die Löschung der gestalten sind lediglich abstrakt formulierte Ziele, die nicht übermittelten Daten beantragen und - wenn sich die ZSS ohne weiteres die Speicherung von Millionen von personen- weigert - auf die Löschung ihrer Daten vor dem Sozialgericht bezogenen Daten rechtfertigen können. klagen. Das Hauptargument in beiden Fällen ist, dass die · Bei den in der ZSS gesammelten Daten handelt es sich um Daten in einer verfassungswidrigen, da unverhältnismäßigen sehr sensible Daten über die Einkommensverhältnisse aller Datensammlung gespeichert werden. abhängig beschäftigten Menschen, darunter längere Krank-

Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Seite 5 Datenschutz

Grundrechte-Report 2010 erschienen

Der alternative Verfassungsschutzbericht tagsabgeordneten · Unabhängigkeit der diesmal mit Beiträgen zu folgenden Themen: Medien · Versammlungsfreiheit · Videoüber- Abschiebungen · Aus- und Einreiseverbote · wachung · Willkürliche Wehrpflicht u.v.m Berufsverbote · Bildungsungerechtigkeit · Bleiberecht · Ehegattennachzug · ELENA · Der Grundrechte-Report ist über den Online- Fixierung in Pflegeeinrichtungen · Geheim- Shop der Humanistischen Union erhältlich dienstliche Telefonüberwachung · Hartz IV- (www.humanistische-union.de/shop/) oder Ermittler · Illegale Haft · Internetsperren · kann über den Buchhandel bezogen werden. Islamfeindlichkeit · Kinderrechte · Kindes- Mitglieder der Humanistischen Union erhal- entzug · Konkordatslehrstühle · Lagerunter- ten das Buch wie üblich kostenfrei zuge- bringung von Asylsuchenden · Patientenver- sandt. fügungen · Piratenbekämpfung · Polizei- beauftragte · Polizeiübergriffe · Pressefrei- Grundrechte-Report 2010. heit · Randgruppenparagraph · Religionsfrei- Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in heit · Rentenversicherung für Gefangene · Deutschland, hrsg. von T. Müller-Heidelberg, Residenzpflicht für Flüchtlinge · Richtervor- U. Finckh, E. Steven, K. Schubert, M. Pelzer, A. behalt · Scheingewerkschaften · Spitzel für Würdinger, M. Kutscha, R. Gössner und U. Ausländerbehörden · Studiengebühren · Engelfried; Preis 9.95 €, 280 Seiten, Frank- SWIFT · Terrorcamps · Terrorismusvorbehalt furt/M. (Fischer Taschenbuch Verlag), Mai im Asylrecht · Überwachung von Bundes- 2010, ISBN 3-596-18678-5.

heits- und andere Fehlzeiten sowie subjektive Daten wie mulare für den Antrag auf Leistungen zeigt die Vielfalt der Abmahnungen und Kündigungsgründe, die als Freitext über- abgefragten Daten. mittelt werden. · Damit ist eine Ausweitung des Umfangs der gespeicherten · ELENA schafft eine Datensammlung, ohne dass sicher ist, Daten und der Zugriffsberechtigten vorprogrammiert: Eine dass die Daten überhaupt benötigt werden. Das Gebot der umfassende Datenbank mit Arbeitnehmerdaten und mögli- Datensparsamkeit wird zudem durch den Umfang der erfass- cherweise weiteren Daten wird entstehen. ten Daten verletzt. · Der von der Bundesregierung angegebene Spareffekt für · Die Übermittlung und Speicherung der Daten ist unver- Arbeitgeber ist lächerlich: Es sollen anfangs 85 Millionen hältnismäßig. Der gemutmaßte Nutzen, nämlich Einsparung Euro sein. Bei 3 Millionen Arbeitgebern wären dies rund 28 von anfangs 86 Millionen Euro bei den Arbeitgebern und Euro pro Arbeitgeber und Jahr. Dagegen gerechnet werden Bürokratieabbau in der Verwaltung rechtfertigen nicht die müssen aber die Ausgaben der Arbeitgeber für die Umstel- Vorratsspeicherung derart sensibler Daten von Millionen lung auf die neue Meldepflicht, die deutlich höher als 28 Arbeitnehmer/innen. Euro sein werden - gerade für kleinere Betriebe. Auch für die · Die zentrale Speicherung birgt ein großes Missbrauchsrisi- Arbeitnehmer/innen wird es teurer als gedacht: Die benötig- ko und Gefahren für die Datensicherheit. Angesichts der te Signaturkarte wird nicht für 3,30 Euro pro Jahr zu haben Datenskandale der letzten Zeit, welche gravierende sein, wie der Normenkontrollrat berechnet hat. Zur Zeit muss Schwachstellen bei der Datensicherheit aufzeigten, ist eine noch mit Kosten von 20 Euro pro Jahr gerechnet werden. solche Datenbank nicht zu verantworten. Nicht einmal das Kostenargument trägt also. Die bürger- · Eine derartige Datensammlung weckt Begehrlichkeiten. rechtlichen Kosten sind hingegen immens. Zwar ist zur Zeit im Gesetz eine Verwendung der Daten zu Ob nach den Äußerungen von Bundeswirtschaftsminister anderen als den dort genannten Zwecken nach anderen Brüderle das ELENA-Verfahren tatsächlich gestoppt wird, ist Rechtsvorschriften ebenso wie eine Beschlagnahme ausge- zu bezweifeln. Dafür wurde bereits zu viel Geld in den Aufbau schlossen. Eine Änderung des Gesetzes und damit eine der Infrastruktur gesteckt. Dabei wäre es allerhöchste Zeit, Zweckentfremdung der Daten ist aber bei entsprechenden über Alternativen nachzudenken, die ohne eine zentrale Mehrheiten möglich. Speicherung auskommen und die die volle Kontrolle der · Nach den Plänen der Bundesregierung soll die Daten- Daten durch die Betroffenen gewährleisten. sammlung zukünftig sogar auf alle Sozialleistungen ausge- Martina Kant weitet werden, u.a. um Missbrauch auszuschließen und die Geschäftsführerin der Humanistischen Union Verwaltungseffizienz weiter zu erhöhen. Das würde bedeu- Informationen zur Verfassungsbeschwerde und weiteren Protesten ten, dass weitere personenbezogene, zum Teil sehr sensible gegen ELENA unter www.humanistische-union.de/shortcuts/elena/. Daten künftig zentral gespeichert werden könnten. Ein Blick Die Webseite der Deutschen Rentenversicherung Bund enthält zahlrei- in die von den Sozialbehörden derzeit bereitgehaltenen For- che Dokumente zum ELENA-Verfahren (Rechtsgrundlagen, FAQ etc.): https://www.das-elena-verfahren.de.

Seite 6 Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Datenschutz Bulliges zur Vorratsdatenspeicherung

(Red.) Am 2. März diesen Jahres entschied das Bundesverfassungsge- generellen Einschränkung legitimer staatlicher Aktivitäten richt über einige Musterbeschwerden gegen die Vorratsdatenspeiche- beantwortet, lässt es Zweifel an der Rechtstreue aller anderen rung. Neben der HU, zahlreichen Parteien und Berufsverbänden hatten Staatsorgane erkennen und gefährdet letztlich das Vertrauen mehr als 30.000 Bürgerinnen und Bürger gegen das Gesetz geklagt. Mit ihrem Urteil erklärten die Verfassungsrichter das deutsche Umsetzungs- in das geltende Recht." gesetz zur Speicherung der TK-Verbindungsdaten mehrheitlich für nich- Man reibt sich angesichts solcher drastischen Formulie- tig, unterließen es jedoch, die zugrundeliegende EU-Richtlinie dem rungen verwundert die Augen. Was sind denn „gutgemeinte Europäischen Gerichtshof vorzulegen. Grundsätzlich sei eine anlasslose Ängste", die in den Augen Bulls zweifellos unbegründet sein Speicherung der Kommunikationsdaten mit dem Grundgesetz vereinbar, sollen? Hat das Gericht nur ein Phantom gezeichnet, als es so die Richter. Welche Auswirkungen diese Entscheidung für den Daten- schutz hat, und wie die Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung in darauf verwies, dass sich aufgrund einer Auswertung der Deutschland und Europa weiter geht, darüber berichten wir in der Telekommunikationsverkehrsdaten "tiefe Einblicke in das nächsten Ausgabe der Mitteilungen. An dieser Stelle zunächst ein Kom- soziale Umfeld und die individuellen Aktivitäten eines jeden mentar von unserem Beiratsmitglied Martin Kutscha zu den Diskussio- Bürgers gewinnen" lassen? Und gibt es in der deutschen nen, die die Entscheidung unter (ehemaligen) Datenschützern auslöste. Geschichte wirklich keinerlei Beispiele für massive staatliche Bespitzelung auch jenseits des Rechts? Gerade auch von bürgerrechtlicher Seite wurde die Haupt- Merkwürdig mutet auch der Vorwurf an, das Bundesverfas- sachentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vor- sungsgericht ließe „Zweifel an der Rechtstreue aller anderen ratsdatenspeicherung mit Spannung erwartet. Das Urteil vom Staatsorgane erkennen." Schließlich ist doch gerade die 2. März 2010 bedeutete dann einerseits einen Triumph, weil Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit, ja überhaupt die das Gericht die entsprechenden bundesgesetzlichen Rege- gerichtliche Kontrolle staatlicher Machtausübung Ausdruck lungen für verfassungswidrig und nichtig erklärte, anderer- des Zweifels, ob der Staat in seinem Handeln die Verfassung seits aber auch eine Enttäuschung: Das Bundesverfassungs- und die einfachen Gesetze immer strikt einhält. Dass dies gericht verzichtete darauf, die EG-Richtlinie dem nicht der Fall ist und dass sogar elementare Grundrechte Europäischen Gerichtshof wegen Verstoßes gegen EU-Recht missachtet werden, belegt nicht nur unser jährlicher Grund- vorzulegen, und erklärte die Vorratsdatenspeicherung nicht rechte-Report, sondern auch eine lange Kette von Entschei- für „schlechthin unvereinbar" mit dem im Grundgesetz ver- dungen der Verwaltungsgerichte sowie des Bundesverfas- ankerten Telekommunikationsgeheimnis. Der Abruf und die sungsgerichts. Als Bundesdatenschutzbeauftragter war unmittelbare Nutzung dieser Daten seien vielmehr dann ver- schließlich auch Hans Peter Bull vor vielen Jahren mit der hältnismäßig, so das Gericht, „wenn sie überragend wichtigen Aufgabe betraut, die Einhaltung der gesetzlichen Grenzen für Aufgaben des Rechtsgüterschutzes dienen." (Urteilstext unter die Datenverarbeitung zu kontrollieren. Später war Bull dann www.bverfg.de). Auf der Grundlage einer entsprechenden allerdings Innenminister des Landes Schleswig-Holstein, und gesetzlichen Neuregelung dürfen demnach in Zukunft wieder in den letzten Jahren hat er sich u. a. als Gutachter für Pri- alle Verkehrsdaten der Telekommunikation monatelang vatunternehmen betätigt, so z. B. 2005 für die Firma Loyalty gespeichert und unter bestimmten Voraussetzungen von Partner GmbH, die Betreiberin des „Payback"-Systems. Ihm staatlichen Stellen auch abgerufen und ausgewertet werden. dürfte dabei nicht verborgen geblieben sein, dass beim Die Humanistische Union hat also zu Recht die bürger- Betrieb solcher „Kundenkarten"-Systeme zahlreiche perso- rechtliche Halbherzigkeit der Karlsruher Richter und Richte- nenbezogene Daten erhoben, gespeichert und ausgewertet rinnen in Sachen Vorratsdatenspeicherung angeprangert werden. Unser wackerer Gutachter hat damit indessen keine (Pressemitteilung vom 2.3.2010), ebenso wie einige liberale Probleme: „Datenaskese zu üben", sei „nicht nur chancenlos, Journalisten. Auch Hans Peter Bull, Sozialdemokrat, emeri- sondern unangebracht; denn Datenverarbeitung ist im Allge- tierter Staatsrechtler und in den Jahren von 1978 bis 1983 meinen sozial nützlich" (Bull, Zweifelsfragen um die informa- als erster Bundesdatenschutzbeauftragter im Amt, hat im tionelle Selbstbestimmung – Datenschutz als Datenaskese? Editorial der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW), Heft NJW 2006, S. 1618). Nanu, ist dem ehemaligen Datenschüt- 12/2010, immerhin der wichtigsten juristischen Fachzeit- zer das in § 3a des Bundesdatenschutzgesetzes mit guten schrift, heftige Kritik an dem Urteil des Bundesverfassungs- Gründen verankerte Gebot der Datenvermeidung und Daten- gerichts geäußert. Die Stoßrichtung dieser Kritik erstaunt sparsamkeit nicht bekannt? Jedenfalls hat sich seine Per- allerdings: Für ihn geht das Urteil in Sachen Freiheitsschutz spektive auf das Grundrecht auf informationelle Selbstbe- zu weit. „Die Abwägung der betroffenen Interessen ist ganz stimmung seit der Wahrnehmung seines anspruchsvollen einseitig ausgefallen. Dass die Daten zur Strafverfolgung Amtes radikal verändert. Und mit seiner neuesten Philippika nötig sind, wird nicht mit dem gebotenen Gewicht berück- gegen das Bundesverfassungsgericht hat er sich endgültig sichtigt". Und es kommt noch dicker: „Indem das BVerfG gut- für den nächsten Big Brother Award qualifiziert. Herzlichen gemeinte, aber unbegründete Ängste vor einem Umkippen des Glückwunsch, Herr Bull! Rechtsstaats in einen ‚repressiven Präventionsstaat' mit der Martin Kutscha lehrt Verwaltungsrecht an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht

Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Seite 7 Versammlungsfreiheit Verfassungsbeschwerde gegen Bayerisches Versammlungsgesetz wird fortgeführt

Das vielfältig geänderte Bayerische Versammlungsgesetz trat soweit die Öffentlichkeit z.B. durch Transparente und am 1. Juni 2010 in Kraft. Obwohl erst am 22. Juli 2008 von Flugblätter informiert wird; es besteht die Gefahr, dass der damaligen absoluten CSU-Mehrheit beschlossen, hat es der Staat in diese Tarifauseinandersetzungen hineinge- schon eine bewegte Geschichte: Nach dem Erlass dieses für zogen und der notwendige Überraschungseffekt von das Funktionieren einer Demokratie äußerst wichtigen Warnstreiks hinfällig wird Gesetzes erhoben wir noch im Herbst 2008 in Karlsruhe Ver- · zwar soll der Staat nicht mehr heimlich mithören und fil- fassungsbeschwerde.* men dürfen, aber auch offenes Abhören und Filmen von Wir rügten die bürokratische und schikanöse Behinderung Versammlungen schüchtert ein. Wir fordern deshalb eine dieses zentralen Grundrechts sowie den staatlichen Kontroll- Beschränkung der Datensammlung auf Fälle, in denen wahn, der in dem Gesetz zum Ausdruck kam. Überraschend tatsächlich Straftaten verübt werden und nicht auf Vor- schnell entschied das Bundesverfassungsgericht am 17. Feb- rat, außerdem ein Recht der Betroffenen auf Einsicht und ruar 2009 in einer gleichzeitig von uns beantragten einstwei- die Eröffnung eines Klageweges ligen Anordnung, dass zahlreiche Vorschriften des neuen · die unsinnig ausgedehnten Vorschriften gegen das Mit- Gesetzes gegen Art. 8 (Versammlungsfreiheit) des Grundge- führen von sogenannten „Schutzwaffen" wie bestimmte setzes verstoßen und setzte sie einstweilen außer Kraft. Kleidungsstücke und mögliche „Vermummungen" wie Gegen weitere Vorschriften wurden vom Gericht deutliche Schals und Sonnenbrillen sind auf ein vernünftiges Maß Vorbehalte geäußert, die Entscheidung jedoch bis zur Ver- zurückzuführen. Auch in ihrer jetzigen Fassung sind sie handlung über die Hauptsache zurückgestellt. oft genug Vorwand, anreisende Demonstranten stunden- Nach der Niederlage der CSU bei der Landtagswahl 2008 lang festzuhalten und am Ausüben ihres Grundrechts zu brachte die neue Regierungskoalition aus CSU und FDP eine hindern. Neufassung des Gesetzes ein, die jetzt verabschiedet wurde. · Das auch aus Sicht von hohen Polizeibeamten schwam- Sie entschärft unter dem Druck der Verfassungsbeschwerde mige „Militanzverbot" ermöglicht weiterhin den Erlass besonders schikanöse und unbestimmte Vorschriften des von Beschränkungen und Verboten. alten Gesetzes, versucht, der staatlichen Kontroll- und Datensammelwut Grenzen zu setzen und entkriminalisiert Darüber hinaus erwarten die Beschwerdeführer von der Fort- harmloses Handeln von Demonstranten, das gegen Ord- setzung des Verfahrens eine Klärung von grundsätzlichen nungsvorschriften verstößt und bisher als Straftat verfolgt Fragen des Verhältnisses von Versammlungsfreiheit und wurde. Damit wurden viele Forderungen des Bündnisses staatlicher Sicherheitspolitik, auch soweit Vorschriften jetzt gegen das Gesetz von 2008 erfüllt. geändert oder aufgehoben wurden. Das Rechtsschutzinteres- Die Beschwerdeführer der Verfassungsbeschwerde von se besteht fort. Zum einen würde die CSU gerne zum alten 2008 haben jedoch gemeinschaftlich – offen ist nur noch die Stand zurückkehren. Zum anderen war Bayern nur das erste FDP – beschlossen, ihre Beschwerde weiter zu verfolgen. Dr. Bundesland, das ein neues Versammlungsgesetz vorlegte, Klaus Hahnzog und Hartmut Wächtler: „Es geht um die Frei- andere Länder wie Baden-Württemberg und Niedersachsen heit der selbstbewussten Bürger, die mehr denn je auf die folgen. Wie deren Entwürfe zeigen, besteht durchaus die ‚Pressefreiheit des kleinen Mannes' angewiesen sind. Die in Gefahr, dass die bayerischen Fehler dort wiederholt werden. Art. 8 des Grundgesetzes garantierte Versammlungsfreiheit Immer noch im Raum steht auch ein 2006 in Hinblick auf die ist für unsere Demokratie ‚schlechthin konstituierend'." Fol- Föderalismusreform vom Bundesinnenminister gefertigter gende Gründe sprechen für die Weiterverfolgung des Angriffs Vorentwurf für die Länder. Auch deshalb ist es wichtig, das auf jetzt noch gültige Vorschriften: begonnene Verfahren in Karlsruhe fortzusetzen. · auch das neue Gesetz von 2010 regelt viele Sachverhalte München, den 31.5.2010 übermäßig und richtet bürokratische Hürden für den Dr. Klaus Hahnzog und Hartmut Wächtler Bürger auf, der friedlich sein Grundrecht ausüben will: * Die ursprüngliche Verfassungsbeschwerde wurde im Namen folgender Eine Versammlung soll ab 2 Personen vorliegen mit der Organisationen eingereicht: 1. DGB Bayern 2. Vereinte Dienstleistungs- Folge einer Vielzahl von Anzeige- und Meldepflichten für gewerkschaft ver.di Landesverband Bayern 3. Gewerkschaft Erziehung den Veranstalter, selbst wenn keinerlei Gefahren von der und Wissenschaft GEW Bayern 4. Bund Naturschutz in Bayern e.V. 5. Mini-Versammlung ausgehen; auch werden Versamm- Paritätischer Wohlfahrtsverband Landesverband Bayern 6. Bayerischer Journalistenverband e.V. (BJV) 7. Humanistische Union Bayern 8. Sozi- lungen in geschlossenen Räumen jetzt nahezu den glei- aldemokratische Partei Deutschland SPD Landesverband Bayern 9. chen Beschränkungen unterworfen wie solche unter frei- Bündnis 90/Die Grünen Landesverband Bayern 10. Freie Demokratische em Himmel Partei FDP Landesverband Bayern 11. Die Linken Landesverband Bayern · die neuen Anzeige- und Meldepflichten gelten dem 12. Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung 13. Attac München. Wortlaut nach auch für Arbeitskämpfe und Streikposten, Zum Thema s. Mitteilungen 202, S. 28 und Mitteilungen 201, S. 12-14.

Seite 8 Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Datenschutz Zwei Jahre Videoüberwachung im Öffentlichen Personennahverkehr in Berlin – eine Evaluation, die den Namen nicht verdient

Bis zum 31. Januar 2010 hatte der Berliner Senat Zeit für Aus den vorgelegten Daten ergibt sich, dass nur ein Bruchteil einen Evaluationsbericht, in dem er über Art, Umfang und der Bilderflut für die Strafverfolgung verwertbar ist. Im Jahr Erfolg der Videoüberwachung im Öffentlichen Personennah- 2008 wurden 1.383 Aufzeichnungen an die Polizei oder verkehr Auskunft geben sollte. Sowohl die Polizei als auch die andere Strafverfolgungsbehörden weitergegeben. In 246 Fäl- BVG sind durch eine Änderung des Allgemeinen Sicher- len ergaben die Bilder irgendeinen Anhaltspunkt auf heits- und Ordnungsgesetzes (ASOG) und des die Täter, in 141 Fällen „unterstützten“ die Bil- Datenschutzgesetzes seit November 2007 der angeblich die Ermittlung oder Identifizie- befugt, den Öffentlichen Nahverkehr in der rung von Tätern. Im Jahr 2009 stieg die Hauptstadt mit Videokameras zu überwa- Zahl bereits auf 1.823 Übermittlungen an, chen. Davon sind täglich über eine Million die 325 Täteranhalte lieferten und in 124 Fahrgäste betroffen. Wegen erheblicher Fällen die Ermittlungen oder die Identifi- Zweifel an der Wirksamkeit und der Verhält- zierung unterstützten. Damit wird deut- nismäßigkeit der neuen Regelungen ver- lich: Während die Nachfrage nach den pflichtete das Parlament den Senat zu der Eva- Videobildern von einem zum anderen Jahr luation, die angesichts des beispiellosen deutlich anstieg, halfen die von der BVG Kameranetzes dringend geboten ist. gelieferten Bilder der Polizei immer seltener bei Dass es sich bei dem im Januar diesen Jahres vom der Ermittlung oder Identifizierung von Tatverdächti- Senat vorgelegten Bericht (Drucksache 16/2958) um keine gen. So drängt sich die Vermutung auf, dass das Anfordern ernsthafte Auswertung oder gar Evaluation handelt, zeigt von Videobildern immer mehr zum selbstverständlichen bereits der erste Blick. Der Bericht hat gerade einmal den Ermittlungsinstrument wird – unabhängig von deren zu Umfang von einer Seite. Selbst zusammen mit den Informa- erwartenden Nutzen. tionen, die sich aus zwei vom Abgeordneten Benedikt Lux Bei der vom Senat vorgelegten „Evaluation“ bleiben viele eingereichten Kleinen Anfragen (Drucksachen 16/13853 und Fragen offen: Wie oft die Identifizierung der Täter auch auf 16/13854) ergeben, kann der Senat den Nachweis, dass der andere Weise hätte erreicht werden können? Wie oft führten Eingriff in die Grundrechte der Bürger gerechtfertigt ist, die Ermittlungen zu Gerichtsverfahren und Verurteilung. In nicht erbringen. Deutlich wird aber durch die jetzt veröffent- welchem Umfang werden Daten an die Strafverfolgungsbe- lichten Zahlen, in welchem Ausmaß innerhalb der ersten bei- hörden übermittelt? Für die Aufklärung welcher Straftaten den Jahre von den neuen Befugnissen Gebrauch gemacht wurden die Bilder ausgewertet? Konnte die Videoüberwa- wurde. Die Datenerhebung erfolgte schwerpunktmäßig durch chung in irgendeiner Form kriminalpräventive Wirkungen die BVG. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die Polizei entfalten? Antworten auf all diese Fragen wären wichtig, um die Videoüberwachung gem. § 24 b ASOG nur bei hinreichen- grundlegend beurteilen zu können, ob die Videoüberwachung dem Anlass und zur Abwehr oder zum Erkennen von Strafta- zur Kriminalitätsbekämpfung geeignet, erforderlich und im ten von erheblicher Bedeutung nutzen darf. In den vergange- Verhältnis zu dem mit ihr verbundenen Eingriff in das infor- nen zwei Jahren sah die Polizei diese Voraussetzungen mationelle Selbstbestimmungsrecht auch angemessen ist. lediglich in 12 Fällen als gegeben und beobachtete Bahnhöfe Trotz der mageren Erkenntnisse über die Wirkung der und Fahrgäste in Echtzeit. Ohne weitere Analyse bewertet Videoüberwachung schreitet der Ausbau der Überwachungs- der Senat die Anwendung dieser Maßnahmen relativ großzü- anlagen zügig voran. Wie aus der Antwort auf die zweite gig als Erfolg. Im Bericht heißt es dazu: „Es ergab sich ein Anfrage des Abgeordneten Lux deutlich wird, plant der Senat unauffälliges Bild der Lage an den beobachteten öffentlich alle Fahrzeuge (U-Bahnen, Busse, Trams) mit Kameras auszu- zugänglichen Räumen der BVG. Diese Erkenntnis war für die statten. Das würde nach Berechnung der Humanistischen weitere Lagebeurteilung hilfreich.“ Union zu einer Verdopplung auf ca. 12.000 Kameras führen, In den meisten Fällen bedient sich die Polizei jedoch der die rund um die Uhr Bilder aller Fahrgäste aufzeichnen. durch die BVG angefertigten Videoaufzeichnungen. Anders Anja Heinrich als die Polizei darf die BVG gem. § 31b Berliner Datenschutz- Landesgeschäftsführerin der HU Berlin-Brandenburg gesetz Videoaufzeichnungen verdachtsunabhängig und Drucksache 16/2958 - Evaluationsbericht des Senats von Berlin damit tagtäglich und rund um die Uhr in allen U-Bahnhöfen, Drucksachen 16/13853 und 16/13854 - Antworten des Senats auf die U-Bahnen, Bussen und Straßenbahnen anfertigen. Aus dem Kleinen Anfragen des Abgeordneten B. Lux und der Fraktion Bündnis Bericht ergibt sich, dass inzwischen alle 173 U-Bahnhöfe, 90/Die Grünen 31 % der U-Bahnen, 68 % der Busse und 28 % der Trams mit HU Berlin-Brandenburg: Pressemitteilungen vom 16.1. und 24.1.2010 Mareike Schmale: So weit die Kamera reicht. Schwierigkeiten einer Eva- Kameras ausgestattet sind. Insgesamt überwacht die BVG luation der Videoüberwachung am Beispiel der Berliner Verkehrsbetrie- ihre Fahrgäste mit 6.404 Kameras. be. Mitteilungen Nr. 204 (1/2009), S. 5-7.

Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Seite 9 Evaluation Gesetzgebung im Ungewissen Über Informationslücken des Gesetzgebers, die Nichtbefolgung von Gesetzen und effiziente Rechtsetzung. Ein Interview mit Dr. Corinna Sicko

ist billiger: Gar nicht regeln oder falsch regeln?' Dieses Ver- hältnis, das ist mein Verständnis vom Recht als Risikofaktor.

Was kann die Gesetzesfolgenabschätzung dazu beitragen, solche Risiken zu minimieren?

Die Gesetzesfolgenabschätzung ist ja in Deutschland haupt- sächlich bekannt geworden durch Herrn Böhret. Er vertritt einen sehr umfassenden Ansatz, der alles abschätzen und viele Auswirkungen erfassen will. Aus diesem umfassenden Ansatz ergibt sich das Problem der Praktikabilität. Wir gehen Foto: Lüders Dr. Corinna Sicko davon aus, dass aufgrund des sehr umfangreichen Verfahrens – sehr teuer, sehr zeitintensiv – es sich noch nicht in der Flä- che durchsetzen konnte. Deshalb wollen wir vor allem versu- Ob Anti-Terror-Datei, BKA-Gesetz oder Videoüberwachung – chen, Module zu entwickeln, das Verfahren handhabbarer mehr und mehr Gesetze auch im Sicherheitsbereich werden machen, auch in zeitlicher Hinsicht. Wenn sie heute eine bei ihrer Verabschiedung mit einem Evaluationsvorbehalt ver- prospektive Gesetzesfolgenabschätzung in Auftrag geben, sehen. Die nachträgliche Prüfung der Aus- und Nebenwirkun- dauert die drei Jahre. Da will der Gesetzgeber meist schon gen neuer Gesetze ist eine von drei Formen der Gesetzesfol- lange tätig geworden sein. genabschätzung (GFA). Das methodische Arsenal der GFA auszubauen und für Anwender in Ministerien wie Verwaltun- Wie könnte es schneller gehen? gen handhabbar zu machen, diesen Zielen hat sich das Insti- tut für Gesetzesfolgenabschätzung und Evaluation (InGFA) Da ist natürlich die Frage, ob man sich nicht Kriterien über- am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung legt, wie tief so eine Prüfung gehen soll. Eine Idee von uns: Speyer verschrieben. Im Interview erläutert Dr. Corinna Sicko Wenn Gesetze neu erlassen werden, handelt es sich meist um die Ziele und Vorteile einer sozialwissenschaftlichen Beglei- Konvolute, von denen 90 Prozent der Regelungen nicht so tung der Rechtsentwicklung. spannend sind, zumindest im politischen Kontext. Man braucht eben Kriterien, wann eine Gesetzesfolgenabschät- Frau Sicko, in einem Vortrag haben Sie kürzlich vom „Risiko- zung sinnvoll ist und was die Punkte sind, die ihren Umfang faktor Recht” gesprochen. Das klingt ungewöhnlich, zumin- bestimmen. Wie tief muss rein gegangen werden? Was sind dest aus dem Mund einer Juristin. Was macht das Recht zum die Knackpunkte, auf die man sich beschränkt? Risiko? Wie gehen Sie bei einer begleitenden Gesetzesfolgenabschät- Recht dient natürlich zunächst einmal der Risikovorsorge. zung vor? Wenn man jedoch die Steuerungsebene betrachtet, dann stellt sich schon die Frage, ob die staatliche Rechtsetzung Wenn Sie ganz vorn ansetzen, müssen Sie fragen: ‘Was wollt selbst ein Risiko darstellen kann. Wenn der Gesetzgeber tätig Ihr damit erreichen?’ Dann geht es uns nicht darum, diese wird, weiß er ja im Zweifel nicht genau, was seine Gesetze Ziele an sich zu bewerten, sondern um die Frage: ‘Können mit bewirken. Er wird selten alle Daten haben und auch nicht die den vorgesehenen Mitteln, oder mit welchen Mitteln – um Möglichkeiten, die Auswirkungen seiner Gesetze bis ins Letz- prospektiv zu sprechen – können diese Ziele erreicht wer- te zu überblicken. Wenn man Risiko dann als Unsicherheit den?’ Um diese Frage zu beantworten, kommt natürlich die versteht, kommt man relativ schnell dazu, vom Risikofaktor komplette Methodik in Betracht. Die Frage nach den Kosten Recht zu sprechen. darf dabei nicht ausgeblendet werden, ebenso wenig wie die Akzeptanz beim Normadressaten. Ein weiterer wichtiger Worin besteht das Risiko für den Gesetzgeber? Punkt ist, juristisch gesprochen, die Frage nach der Geeignet- heit, oder einfach gesagt die Frage nach der Datengrundlage. Das größte Risiko für mich als Gesetzgeber besteht darin, Auf welcher Informationsgrundlage entscheiden Sie? dass ich falsch regle. Das ergibt die sog. „Irrtumskosten“ einer Regelung, wie Herr Scherzberg das mal formuliert hat. In Welchen Einfluss kann eine wissenschaftliche Begleitfor- monetären Verhältnissen ausgedrückt würde ich fragen 'Was schung auf die Gesetzgebung nehmen?

Seite 10 Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Evaluation

Unsere Vorschläge können einerseits zeigen, was zur Zieler- reichung geeignet ist. Andererseits können wir darauf hin- Kriterien der Gesetzesfolgenabschätzung weisen, welche Regelungsvorschläge als falscher Weg betrachtet werden, was geändert werden sollte. Das wären 1. Geeignetheit: Kann die gesetzliche Norm zur Erreichung dann unsere Empfehlungen an den Gesetzgeber. Vielleicht der politischen Ziele beitragen? auch: Ihr solltet noch hier oder da zusätzlich regeln. Bei der 2. Praktikabilität: Ist die Norm für die Behörden anwendbar begleitenden Gesetzesfolgenabschätzung haben Sie selten und für die Bürger einlösbar? die Möglichkeit, noch einmal komplett von der gesetzlichen 3. Ökonomische Effizienz: Welches Kosten/Nutzen-Verhält- Regelung herunter zu kommen. Die Vorentscheidung für eine nis ergibt sich in der Anwendung der Norm? gesetzliche Regelung ist meist schon gefallen. 4. Gerechtigkeitsfolgen: Welche Verteilungswirkungen ent- faltet die Norm? Wie wichtig ist die Unabhängigkeit der Untersuchenden? 5. Systemische Folgen: Welche Wechselwirkungen entfaltet die Norm? Welche Nebenfolgen ergeben sich im Nahbe- Ich denke, darüber muss man sich bewusst sein: Gesetze pas- reich (z.B. mitbetroffene Bürger, die nicht Normadressa- sieren im politischen Raum. Natürlich ist eine Unabhängig- ten sind), im Fernbereich oder gemessen an globalen keit der Untersucher anzustreben – so weit als möglich. Also Maßstäben (Nachhaltigkeit, Ökologie...). wir, unser Institut, würden uns nicht reinreden lassen, was 6. Nachvollziehbar: Ist die Norm verstehbar/verständlich? das Ergebnis anbelangt. Das versteht sich ja von selber! Man 7. Welche Akzeptanz erzielt die Norm bei den Anwendern hat als Institut den Vorteil, dass man vergleichsweise unab- und Adressaten? hängiger ist, als wenn die Untersuchung verwaltungsintern durchgeführt würde. Ein Problem haben Sie als Untersuchen- (nach: BMI, Arbeitshilfe zur Gesetzesfolgenabschätzung, Berlin 2009; Böhret/Konzendorf 2000) de, wenn Sie die Gesetzesfolgenabschätzung im Auftrag der Regierung durchführen. Natürlich werden Sie von manchen Befragten damit konfrontiert, die Ihnen vorwerfen: ‘Sie sind ja von denen beauftragt, Sie werden sicherlich kein Gutach- ten erstellen, dass den Wünschen der Regierung wider- Ich selber bin zu der Auffassung gelangt, dass die Beteiligung spricht.’ Aber so macht man es sich zu leicht, finde ich. Die ein ganz zentraler Punkt ist. Zum einen ist die Einbindung der wissenschaftliche Unabhängigkeit ist vorhanden, auf die Betroffenen wichtig, damit sich die Leute ihrerseits beteili- legen wir sehr viel Wert. gen, dass sie sich ernst genommen fühlen und ernst genom- men werden. Zum andern gilt natürlich: Sie bekommen als Sie sprachen von der Unabhängigkeit der Ergebnisse Ihrer Gesetzgeber da Informationen, die sie höchstwahrscheinlich Untersuchungen. Wie sieht es hinsichtlich der ausgewählten nicht hätten, wenn sie das Gesetz im stillen Kämmerlein aus- Methoden aus? formulieren. Manchmal werden Sie auch überrascht, wenn der Gesetzgeber mit mehr Widerstand rechnet. Da heißt es Das war vielleicht missverständlich formuliert. Natürlich dann in der Praxis plötzlich: ‘Finden wir eigentlich gut, ledig- können wir auch die Methodik frei wählen. Was Verfahren lich da und dort könnte man es anders machen.’ und Methodik anbelangt, deren Auswahl erfolgt nach wis- senschaftlichen Standards und darauf wird auch Wert gelegt Inwiefern sehen Sie die Gefahr, dass Ihre Arbeit der Akzep- – zumindest von unserer Seite. Sie werden immer das Pro- tanzbeschaffung für den Gesetzgeber dient? blem der Unabhängigkeit und Objektivität durch ihre Verfah- ren haben. In der Praxis geht es aber eher darum: Welche Ich sehe Gesetzesfolgenabschätzung nicht so negativ, als Fragen werden gestellt? Natürlich wird der Auftraggeber ein Instrument der Akzeptanzbeschaffung. Ich sehe vielmehr das Interesse an gewissen Fragen haben, gewisse Schwerpunkte Ziel, die Gesetze insofern zu verbessern, dass Sie weniger setzen. Eine weitere Frage ist: Wann bekommen Sie über- Probleme haben durch Nichtbefolgung. Es geht darum, zu haupt objektive Informationen? Natürlich verfolgen diejeni- erkennen: Wo gibt es Verbesserungsmöglichkeiten, Anpas- gen, die Sie befragen, mit ihrer Antwort auch eine Strategie. sungsbedarf oder vielleicht auch kompletten Änderungsbe- Aber vielleicht sind das ja gerade die Aufgaben der Gesetzes- darf? Jemand hat von der Effizienz gesetzlicher Regelungen folgenabschätzung: relativ früh zu informieren, zu beteiligen, gesprochen. Effizienz in dem Sinne, dass sie befolgt werden, Transparenz zu gewährleisten und dem Auftraggeber – wie in möglichst wenig Kosten verursachen und vor allem auch ihr diesem Fall der Regierung – zu zeigen, wo die Konfliktlinien Ziel erreichen. Wenn Sie davon ausgehen, dass eine gesetzli- liegen. che Regelung grundsätzlich zur Zielerreichung geeignet ist, funktioniert sie natürlich nur, wenn sie befolgt wird. Und Welche Rolle spielt die Beteiligung von Experten und betrof- insofern ist die Akzeptanz der Normadressaten natürlich ein fenen Bürgern – der Normadressaten – im Verfahren der wichtiger Punkt. Gesetzesfolgenabschätzung heißt dann Gesetzesfolgenabschätzung? eben nicht Akzeptanzbeschaffung ‘auf Teufel komm raus’ für

Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Seite 11 Sicherheit & Freiheit einen vorgefertigten Entwurf. Vielmehr geht es darum, einen als Gesetzgeber mehrere Probleme: Sie haben teilweise euro- Gesetzentwurf aufgrund der Rückmeldungen, die man von parechtliche Vorgaben, die sie beachten müssen. Sie haben den Adressaten erhält, zu verbessern. sachliche Probleme, die sie lösen wollen – sei es jetzt Umweltschutz, sei es Integration, sei es sonst irgend etwas. Was halten Sie von einer Evaluation, die von den Anwendern Gerade bei größeren Vorhaben ist es deshalb wichtig, dass sie der Gesetze selbst vorgenommen wird? sich eine entsprechende Datengrundlage verschaffen. Nicht umsonst mahnt das Bundesverfassungsgericht ja immer wie- Bei Eigenevaluation haben Sie natürlich das Problem, dass der an, dass der Gesetzgeber doch bitteschön die vorhande- die eigenen Ziele der Anwender wesentlich stärker in die nen und verfügbaren Daten einfließen lässt und die Pflicht Untersuchung einfließen. Wobei man andererseits berück- hat, laufend zu prüfen, ob seine gesetzlichen Regelungen sichtigen muss, dass bestimmte Fragen – gerade wenn es um noch passen. formelle, interne Abläufe geht – einer, der die Interna kennt, wesentlich besser beurteilen kann. Insofern denke ich, die Vielen Dank für das Gespräch. Eigenevaluation ist, was Verfahrensstandards angeht, sicher- lich gut und richtig. Wenn es dann aber um die materielle, Die Fragen stellte Sven Lüders. die inhaltliche Seite geht, sieht das wieder anders aus. Rechtsgrundlagen der Gesetzesfolgenabschätzung: Irgendwann werden sie betriebsblind. Wenn Sie da jemanden § 44 Gemeinsame Geschäftsordnung der Ministerien (GGO) und ständi- von Außen darauf schauen lassen, der hat einfach ganz ge Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das eine Prognose-, andere Ideen und bringt einen anderen Blickwinkel ein. Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers insbeson- dere aus grundrechtlichen Schutzpflichten ableitet (vgl. BVerfGE 50, S. 290, 333; BVerfGE 56, 54, 78; BVerfGE 88, 203, 263). Hat die Begleitung von Gesetzgebungsverfahren Ihren Blick auf das Recht verändert? Informationen: Carl Böhret/Götz Konzendorf: Leitfaden zur Gesetzesfolgenabschätzung. Ich glaube schlichtweg, dass sie derzeit zu kurz kommt. Ich Stuttgart 2000, unter http://www.verwaltung-innovativ.de (-> Büro- bin Juristin, da sind Sie mit dem formellen Gesetzgebungs- kratieabbau -> GFA). Marion Albers/ Ruth Weinzierl (Hrsg.), Menschenrechtliche Standards in prozess vertraut, den kennen Sie. Wie ein Gesetzentwurf aber der Sicherheitspolitik. Beiträge zur rechtsstaatsorientierten Evaluierung entsteht und was dahinter steckt, ist dabei zweitrangig. Seit von Sicherheitsgesetzen. Baden-Baden (Nomos) 2010 ich mich damit näher beschäftige, denke ich vor allem, dass Institut für Gesetzesfolgenabschätzung und Evaluation Speyer (InGFA): die inhaltlichen Fragen zu wenig beachtet werden. Sie haben http://www.ingfa-speyer.de.

Rechtsstaatlichkeit in Zeiten der Terrorbedrohung

1. Vorbemerkung Das immer stärkere Hochschrauben der Sicherheits- und Es ist nicht selbstverständlich, dass ein Mitglied der Sozialde- Überwachungsspirale führte zwar regelmäßig zu einem mokratischen Partei Deutschlands in den Mitteilungen der innerparteilichen (und teilweise außen hörbaren) Aufbegeh- Humanistischen Union über die Bewahrung des Rechtsstaa- ren der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristin- tes in Zeiten der Terrorbedrohung veröffentlicht. Die SPD hat nen und Juristen und anderer bürgerrechtlich und rechts- sich bedauerlicherweise in den letzten Jahren nicht mit über- staatlich denkender Sozialdemokrat(inn)en. Dies änderte mäßigem Engagement für Rechtsstaatlichkeit und Daten- aber weder etwas am Regierungshandeln noch konnte es schutz hervorgetan. Es gab zu wenig Respekt vor den Frei- verhindern, dass die SPD inzwischen kaum mehr als Partei heitsrechten, zu wenig Besonnenheit im Umgang mit wahrgenommen wird, die sich für den Schutz und die Durch- staatlichen Überwachungsmaßnahmen. setzung der Freiheits- und Bürgerrechte einsetzt. Der Umstand, dass auch andere Parteien mit einer ver- Warum ist dies alles so gekommen und wie kann man in nünftigen Antwort auf die Terrorbedrohung hadern, tröstet Zukunft eine vergleichbare Fehlentwicklung verhindern? Wie kaum darüber hinweg, dass es ein sozialdemokratischer kann es gelingen, nicht nur die SPD, sondern auch die Libera- Innenminister war, der nach dem 11. September 2001 ohne len (und vielleicht sogar die Christdemokraten) von dem Kurs nennenswerten Widerstand einer sozialdemokratischen Jus- immer schärferer Sicherheits- und Überwachungsmaßnah- tizministerin die Sicherheitsgesetze durchsetzen konnte. Eine men abzubringen? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, weitere sozialdemokratische Justizministerin wollte die mit müssen wir jene Mechanismen analysieren und demaskieren, der vermeintlichen ‚Terrorbekämpfung' einhergehenden die hinter der Politik der Otto Schilys und Wolfgangs Schäu- Grundrechtseingriffe ebenfalls kaum wahrnehmen. bles liegen.

Seite 12 Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Sicherheit & Freiheit

Aufruf zur AG Netzpolitik Von anonymer Kommunikation über Informationsfreiheit bis zu Urheberrechtsfragen – die Regulierung des Internets und seiner Dienste lässt sich mit dem Datenschutz allein nicht bewältigen. Wie kann eine bürgerrechtliche Antwort auf die netzpolitischen Fragen aussehen? Was bieten „klassische Zugänge“ der HU, wo benötigen wir neue Ansätze für die Bürgerrechte im Web? Diesen Fragen widmet sich die neu zu gründende AG Netz- politik. Mitglieder und Interessierte, die zum Thema arbei- ten möchten, melden sich bitte bei Tobias Baur (E-Mail: [email protected]) oder in der Bundesge- schäftsstelle der HU.

2. Angst, Sicherheit und Freiheit Wie können wir einer solchen Angst und Verunsicherung begegnen? Stabilität, Ruhe und Geborgenheit sind eine Art Während Furcht auf eine konkrete Bedrohung gerichtet ist, Gegenentwurf zur Angst: Menschen, die in stabilen Lebens- ist Angst von der ursprünglichen Bedeutung her ein nicht auf und Arbeitsverhältnissen leben, die in sich ruhen, die Solida- ein bestimmtes Objekt gerichteter Gefühlszustand. Es gibt rität und Geborgenheit fühlen, sei es in der eigenen Familie, unterschiedliche Arten von Angst: Angst vor Krieg, Gewalt unter Freunden, in der Nachbarschaft, ja auch Menschen, die und Kriminalität, Angst vor Klimawandel, Umweltkatastro- in irgend einer Weise an Gott glauben, verspüren deutlich phen und vor Atomkraft, Angst vor sozialem Abstieg, Angst weniger Angst als Menschen in unsicheren Lebenslagen, ein- vor Krankheit, vor dem Tod und dem Verlust von Menschen, same Menschen und Menschen, die sich nichts zutrauen. die wir lieben. Diese Ängste sind oftmals diffus und unbe- Der Staat und die Parteien müssen die Ängste der Men- stimmt. Es gibt aber auch die sog. Realängste, beispielsweise schen ernst nehmen und auf die Bedrohungen mit angemes- die Angst ausländischer Mitbürger vor rechtsradikalen Pöbe- senen Mitteln reagieren. Was aber tun, wenn eine Regierung leien oder gar tätlichen Übergriffen, die Angst von Kindern immer weniger Menschen eine angemessene Versorgung all und Jugendlichen vor Ausgrenzung und Schamzufügung in ihrer Bedürfnisse garantieren kann und es nicht zu verhin- der Schule oder die Angst von Menschen in gefährdeten dern vermag, dass die Gegensätze zwischen Arm und Reich Wirtschaftszweigen vor dem Verlust ihrer Arbeit. immer größer und immer unerträglicher werden? Es erscheint Das deutsche Wort „Angst“ hat es als Wortexport bis ins dann allzu reizvoll, von diesen (nur scheinbar) unlösbar Englische geschafft. Dort bedeutet es soviel wie Existenz- anmutenden Problemen abzulenken und sich der Ängste und angst, eine aus Sicht der Engländer typisch deutsche Unsicherheiten bezüglich Terror oder Kriminalität zu widmen. Gefühlsanwandlung. Das erscheint seltsam, ist doch Auf derart kultivierte Ängste wird dann mit vorgefertigten Deutschland eines der sichersten Länder der Welt: Wir haben Überwachungsgesetzen reagiert, die in weiten Teilen zudem niedrige Kriminalitätsraten und in Deutschland in den letzten noch kaum größere Sicherheit bieten! Jahren keinen Terroranschlag erleben müssen, wie die USA, Den Begriff der Freiheit benutzen wir oft, ohne uns England oder Spanien. bewusst zu machen, was er wirklich bedeutet. Im Gegensatz Warum ist dennoch Angst derart präsent in unserem zur Freiheit von inneren Zwängen umfasst die äußere Freiheit Land? Angst entsteht zum einen durch das Beobachten oder als soziale Größe alle rechtlichen, sozialen und politischen das Erfahren bedrohlicher Ereignisse in der näheren oder ent- Umstände. Von besonderer Relevanz für unsere äußere Frei- fernteren Umgebung, aber auch durch ständige Warnungen heit sind die Grundrechte. Wir dürfen uns frei bewegen, vor schrecklichen Ereignissen. Angst vor Terror kann zu irra- unsere Meinung äußern, uns mit anderen versammeln, tionalen Sicherheitsmaßnahmen verleiten. Die Angst vor dem grundsätzlich unabgehört kommunizieren über Briefe und Terror legitimiert in Amerika seit 2001 einen „Krieg gegen Telefon und ganz generell unsere Persönlichkeit entfalten, den Terrorismus" im Irak, an dem Deutschland zum Glück solange wir nicht die Rechte anderer verletzen und nicht (durchaus dank der SPD) nicht direkt teilnimmt. Mit der gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstoßen. Schon Angst vor terroristischen Anschlägen werden seit 2001 in heute aber lassen sich viele Menschen beispielsweise von Deutschland immer neue Überwachungsmaßnahmen starker Polizeipräsenz oder von staatlichen Videoaufzeich- gerechtfertigt. Die Intensität und Häufigkeit der Warnhin- nungen von der Teilnahme an einer Demonstration abhalten. weise standen nicht in einem angemessenen Verhältnis zur Wann wird es so weit sein, dass wir zögern, höchstpersönli- tatsächlichen Terrorbedrohung. che und vertrauliche Dinge am Telefon auszusprechen oder

Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Seite 13 Sicherheit & Freiheit im Mailverkehr schriftlich auszutauschen und unsere Freihei- Montesquieu, lediglich den gesellschaftlich unbedingt not- ten im doppelten Sinne nicht mehr ‚wahrnehmen'? wendigen Zwang ausübe, sei die maximal mögliche bürgerli- che Freiheit gegeben. Ein beachtlicher Satz vor dem Hinter- 3. Die innere Logik von Politik grund unserer Zeit. Wo aber haben wir heute noch eine Gegen die unter Schily und Schäuble getroffenen Überwa- wirkliche parteiunabhängige Kontrolle der Regierungen chungsmaßnahmen haben die Humanistische Union, der AK durch die Parlamente? Vorratsdatenspeicherung, die Grünen, Teile der FDP und der Die Richter am Bundesverfassungsgericht haben uns in SPD immer wieder protestiert. Die Arbeitsgemeinschaft Sozi- den vergangenen Jahren viele rechtsstaatswahrende Urteile aldemokratischer Juristinnen und Juristen (ASJ) stieß dabei beschert – auch sie aber genügen dem Anspruch auf Schutz auf manchen Widerstand in den eigenen Reihen. der Grundrechte nur im Rahmen der selbst auferlegten Brigitte Zypries aber war stolz auf die nach eigenem Zurückhaltung, der sog. „richterlichen Selbstbeschränkung." Bekunden angeblich stets rechtsstaatliche Bekämpfung des So scheute sich das Bundesverfassungsgericht beispielsweise Terrorismus, insbesondere auf die Bestrafung des Besuchs davor, Onlinedurchsuchungen für gänzlich verfassungswidrig von Terrorcamps, die Vorratsdatenspeicherung und die erwei- zu erklären und begnügte sich mit dem Aufstellen hoher Hür- terte Kronzeugenregelung. Sie verwies auch gern auf jene den für solche Maßnahmen. Punkte, in denen sie bzw. die SPD dem Koalitionspartner Fatalerweise schwindet aber aktuell auch die Wirksamkeit widerstanden habe: den Einsatz der Bundeswehr im Innern, der Medien als ‚Vierter Gewalt'. Da sich immer mehr Bürger ein Feindstrafrecht, die Vermischung von Polizei und Nach- im Internet kostenlos informieren, brechen den Verlagen und richtendiensten (die aber de facto mit der Reform des BKA- Sendern die Werbeeinnahmen weg, Einschaltquoten und Gesetzes erfolgte) oder eine Aufweichung des Folterverbotes. Auflagen sinken. Weil Medienkonzerne sparen müssen, wird Dieser Widerstand reichte nicht aus. Die SPD braucht eine eine gründliche Recherche kaum mehr finanziert. Schnellig- Rückbesinnung auf früher gepflegte rechtsstaatliche und keit, nicht Redlichkeit ist das Gebot der Stunde. freiheitliche Überzeugungen. Was also tun, wenn Politik und Medien versagen und das Die bürgerrechtliche Zukunft unter der schwarz-gelben höchste Gericht vornehme Zurückhaltung übt? Wie kommen Regierungsmehrheit sieht keineswegs besser aus (s. Mittei- wir heraus aus dem Teufelskreis von medialer Aufhetzung lungen Nr. 207, S. 1-8). Letztlich unterliegen alle Parteien der und politischem Aktionismus? Gefahr, den Verlockungen populistischer Forderungen im Es ist an der Zeit, dass die kritische Öffentlichkeit wieder Bereich der Terrorabwehr nachzugeben. Sie ist offenbar zu mehr Widerstand und Zivilcourage zeigt. Nach dem Schock reizvoll, diese um „Volksnähe" bemühte Politik, die Unzufrie- des 11. September 2001 haben allmählich einzelne Gruppen denheit, Ängste und aktuelle Konflikte für ihre Zwecke ihre Sprache wiedergefunden. Die Berliner Demonstration instrumentalisiert, an Instinkte appelliert und einfache „Freiheit statt Angst" hat im letzten Jahr viele Menschen Lösungen propagiert und dabei verantwortungsethische und mobilisiert, Aufsehen erregt und die Gruppierungen, die sich rechtsstaatliche Überlegungen weitgehend außer Acht lässt. für den Erhalt des Rechtsstaates einsetzen auch emotional Auch auf der politischen Agenda der EU stehen noch zusammen geführt. erschreckende Vorhaben, beispielsweise die Aufzeichnung Die Humanistische Union hat in den letzten Jahren viel sämtlicher Flugreisedaten, ein europäisches Visa Informati- publiziert, immer wieder in klugen und gewählten Worten ons-System, in dem biometrische Fotos und Fingerabdrücke auf Missstände und Bedrohungen unseres Rechts- und Sozi- aller Besucher gespeichert werden, ein EU-Sicherheitspro- alstaates hingewiesen. Das war gut so. Vielleicht aber sollten gramm und eine systematische Überwachung von Finanz- wir gemeinsam über andere Formen des Widerstandes, des transaktionen. Ein Lichtblick war allein die kürzlich erfolgte Aufbegehrens und des Protestes nachdenken. Die Leute vom Ablehnung des sogenannten Swift-Abkommens durch das AK Vorratsdatenspeicherung machen es uns vor: Sie drucken Europäische Parlament. Warnhinweise auf ihre Visitenkarten und warnen vor Über- Gegen Populismus im ‚Kampf' gegen die ‚Terrorbedro- wachungsanlagen auf öffentlichen WCs und andernorts. Wir hung' hilft nur Aufklärung über das Ausmaß der wirklichen sollten uns fragen, was die HU von diesen Methoden lernen Risiken, ein Demaskieren der falschen Sicherheitsverspre- kann: Gibt es Aktivitäten, die wirksamer sind als Aufsätze in chungen, ein Widerlegen der Scheinlogiken und vor allem Mitteilungsblättern oder Vorträge im kleinen Kreis? Worauf eine tatsächliche Verbesserung der sozialen und wirtschaftli- hören die Menschen, wohin sehen sie, wovon lassen sie sich chen Situation der Menschen und des solidarischen Mitei- berühren und anstecken? Und wie können wir noch effektiver nanders. auf Abgeordnete und Regierungsverantwortliche einwirken? Wir sind alle gefragt, mehr zu tun als bislang für Freiheit 4. Auswege (aber auch für Solidarität und Gerechtigkeit). Wir müssen uns Was aber tun, wenn – wie bislang – die Politik in weiten Tei- einmischen im Kleinen wie im Großen. Das ist anstrengend len versagt? Unsere Demokratie hält zumindest drei Schutz- und unbequem, aber bitter nötig! mechanismen bereit: die Gewaltenteilung, das Bundesverfas- Anke Pörksen sungsgericht und die Medien. Nur wenn der Staat, so ist Mitglied der HU Hamburg und stellv. Bundesvorsitzende der Arbeits- gemeinschaft Sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen (ASJ)

Seite 14 Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Ankündigung Foto: Martin Dürrschnabel Die Tagung findet im Rastätter Schloss, dem Vortragssaal des Wehrgeschichtlichen Museums statt. Das Schloss beherbergt die Erinnerungsstätte an die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte, für deren Aufbau sich einst stark engagierte.

Perspektiven des nationalen und europäischen Schutzes der Bürger- und Menschenrechte. Erstes Gustav-Heinemann-Forum in Rastatt

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdaten- und der Arbeitnehmerdatenbank ELENA; der Diskussion um speicherung von März 2010 zeigt, dass die nationale Umset- das Mindestmaß von Teilnahme am gesellschaftlichen, kultu- zung europäischer Vorgaben immer häufiger zum Gegen- rellen und politischen Leben, die sich nach dem Urteil des stand verfassungsgerichtlicher Auseinandersetzungen wird. Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 entwickelt. Die Rechtssprechung der nationalen Verfassungsgerichte Mit dem „Gustav-Heinemann-Forum“ startet die Huma- wird vermutlich Auswirkungen auf die Gestaltung europäi- nistische Union, vereinigt mit der Gustav Heinemann-Initia- scher Regelungen haben. tive, den Auftakt für eine neue verfassungspolitische Diskus- Ist das Europarecht also Ergänzung oder Vorgabe für die sionsreihe. Sie widmet sich den Leerstellen und Defiziten nationale Rechtsprechung? Wie verhalten sich die Men- unserer Verfassungsordnung. Das Gustav-Heinemann-Forum schenrechtsschutzsysteme von EU, Europarat und OSZE zuei- sucht Antworten auf die bürger- und menschenrechtlichen nander? In welcher Weise ergänzen, verstärken oder behin- Probleme unserer Zeit und will Impulse für die weitere Ent- dern sie sich? Diesen Fragen sind die Einführungsvorträge des wicklung der nationalen und europäischen Verfassungsord- Gustav-Heinemann-Forums gewidmet, das die Humanisti- nung geben. sche Union am 3./4. September 2010 erstmals im Rastätter Martina Kant Schloss veranstaltet. Die generelle Perspektive auf das Spannungsfeld von Eine Einladung zur Tagung geht allen Mitgliedern der HU zu. Die Teil- nahme ist kostenfrei möglich. Es wird um eine Anmeldung bis zum nationaler und europäischer Gewährleistung der Bürger- und 25.8.2010 gebeten. Anmeldungen online unter www.humanistische- Menschenrechte wird am zweiten Tag beispielhaft an zwei union.de/veranstaltungen/2010/ oder formlos an die Geschäftsstelle der Themen vertieft: dem Zusammenhang von Datenschutz und HU (Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin, Fax: 030 / 204 502 57 oder E-Mail: „Innerer Sicherheit“ anhand der Vorratsdatenspeicherung, [email protected]).

Samstag, 4. September 2010

Programm 9.30 Uhr Begrüßung Werner Koep-Kerstin, Humanistische Union

Freitag, 3. September 2010 9.35 Uhr Existenzsicherung und Teilhabe am politischen, sozialen und kulturellen Leben. Zur Bedeutung nationalen und europäi- 18.00 Uhr Begrüßung schen Grundrechtsschutzes für das ‚untere Drittel‘ der Gesellschaft Prof. Dr. Rosemarie Will, Vorsitzende der HU Prof. Dr. Anne Lenze, Hochschule Darmstadt anschl. Diskussion (Moderation: Jutta Roitsch-Wittkowsky, HU) 18.15 Uhr Eröffnungsvorträge: Nationaler und europäischer Schutz der Bürger- und Menschenrechte 10.20 Uhr Pause Dr. h.c. Renate Jaeger, Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 10.30 Uhr Datenschutz und Innere Sicherheit Prof. Dr. Siegfried Broß, Richter am Bundesverfassungsgericht Prof. Dr. Alexander Roßnagel, Universität Kassel anschl. Diskussion (Moderation: Jutta Roitsch-Wittkowsky, HU) 19.15 Uhr Diskussion (Moderation: Dr. Jürgen Kühling, RiBVerfG a.D.) 12.15 Uhr Zwei alternative Führungen durch die Erinnerungsstät- 20.15 Uhr Empfang im Schloss Rastatt te für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte Vortragssaal des Wehrgeschichtlichen Museums „Revolutionen 1848/49“ oder „Freiheitsbewegungen in der DDR“

21.00 Uhr Abendessen im Restaurant Braustüble 13.15 Uhr Mittagessen / Ende der Veranstaltung

Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Seite 15 Verein Aufruf zum Verbandstag der Humanistischen Union vom 8.-10. Oktober 2010 in Köln

Der Bundesvorstand lädt für den 8. bis 10. Oktober 2010 alle Schwerpunktsetzungen von HU-Mitgliedern ausdrücklich Mitglieder und Freunde der Humanistischen Union zum Ver- erwünscht. Der Verbandstag steht für alle Themen offen, die bandstag nach Köln ein. Nach Freiburg, und Lübeck die Mitglieder diskutieren wollen. Die Bundesgeschäftsstelle findet das Treffen diesmal im Westen der Republik statt, bei freut sich über entsprechende Vorschläge. der Regionalgruppe Köln/Bonn. Auf dem Programm stehen Veranstaltungsorte Zimmer frei? zahlreiche Themen, die von Die Auftaktveranstaltung am Freitag Abend findet im Kino Sie würden ein HU-Mitglied und seiner Bedeu- Odeon in der Kölner Südstadt statt, am Samstag und Sonntag zum Verbandstag bei sich tung für die Aufarbeitung des trifft sich der Verbandstag dann im Kulturzentrum „Alte Feu- aufnehmen? Dann melden nationalsozialistischen erwache" in der Kölner Innenstadt. Die Verleihung des Fritz- Sie sich bitte in der HU- Unrechts (Film & Diskussion Bauer-Preises am Samstagabend findet in der Kölner NS- Geschäftsstelle. zum Auftakt) bis zu netzpoliti- Dokumentations- und Gedenkstätte statt. schen Debatten der Zukunft reichen. Im Rahmen des Verbandstages findet am Samstag Anreise & Unterbringung Abend auch die feierliche Verleihung des Fritz-Bauer-Preises Die Bundesgeschäftsstelle hat ein Zimmerkontingent für an Helmut Kramer statt. Mitglieder der HU reserviert. TeilnehmerInnen am Verbands- Alle Veranstaltungen im Rahmen des Verbandstages sind tag können über die Bundesgeschäftsstelle der HU eines die- öffentlich, Nicht-Mitglieder sind herzlich dazu eingeladen. ser Zimmer buchen oder eine Liste mit Hotelangeboten, Das Treffen bietet eine gute Gelegenheit, die Arbeit einer preiswerten Pensionen und Jugendherbergen abrufen. Bürgerrechtsorganisation aus der Nähe zu erleben und Mit- Die Kosten für Anreise und Unterkunft zum Verbandstag glieder der HU persönlich kennen zu lernen. werden normalerweise von den TeilnehmerInnen selbst Verbandstage dienen in der Humanistischen Union der getragen. Mitglieder mit geringem Einkommen können vereinsinternen Kommunikation. Die Mitglieder tauschen jedoch eine finanzielle Unterstützung der HU erhalten. Wer sich untereinander über Positionen und Vorhaben der HU aus, einen Zuschuss für Anreise und/oder Unterbringung benötigt, der Verbandstag berät den Vorstand in organisatorischen wie melde sich bitte in der Bundesgeschäftsstelle. Wir finden programmatischen Fragen. Das schließt die kritische Ausei- eine Lösung, wie Sie kostengünstig an dem Treffen teilneh- nandersetzung mit der Arbeit des Bundesvorstands (und der men können – versprochen! Geschäftsstelle) ein. Die Programmgestaltung für den Ver- Sven Lüders bandstag liegt – dem basisdemokratischen Anspruch der HU Die Materialien für den Verbandstag werden auf der Webseite der HU folgend – in den Händen der Mitgliedschaft. Die im Pro- (bei der Ankündigung unter -> Veranstaltungen -> 2010) veröffentlicht grammentwurf genannten Themen sind daher als Angebote oder können Ende September in der Bundesgeschäftsstelle abgerufen und Vorschläge zu verstehen, weitere Themen oder andere werden.

Freitag, 8. Oktober 2010 20 Uhr Programm Auftaktveranstaltung: „Fritz Bauer. Tod auf Raten" (D 2010). Voraufführung des Films über den HU-Mitbegründer. Anschließend Samstag, 9. Oktober 2010 19-21 Uhr Diskussion mit der Regisseurin Ilona Ziok und Thymian Bussemer. Verleihung des Fritz-Bauer-Preises 2010 an Dr. Helmut Kramer Kino Odeon, Severinstraße 81, 50678 Köln NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln, EL-DE-Haus, http://www.odeon-koeln.de/ Appellhofplatz 23-25, 50667 Köln (Ankündigung siehe Nebenseite)

Samstag, 9. Oktober 2010 10- 18 Uhr Sonntag, 10. Oktober 2010 9-14 Uhr Verbandstag - Teil 1: Themen und Positionen Verbandstag - Teil 2: Verbandsinterne Diskussionen Alte Feuerwache Köln, Melchiorstr. 3, 50670 Köln Alte Feuerwache Köln, Melchiorstr. 3, 50670 Köln http://www.altefeuerwachekoeln.de http://www.altefeuerwachekoeln.de

Programmvorschläge: * Bericht der Geschäftsführung: Finanzüberblick, Mitgliederent- * Integration und Inklusion von Behinderten an Schulen wicklung, Geschäftsstelle, Zuständigkeiten * Projektvorstellung: Netzpolitische Ambitionen der HU * Berichte aus & Austausch zwischen den Regionalverbänden * Bürgerrechtler und die Friedensfrage: Das HU-Positionspapier * Debatte um Sexualstrafrecht/Sexualpolitik in der HU zum Afghanistan-Konflikt in der Diskussion * HU-Beirat: Diskussion über Aufgabe, Funktion & Berufungsverf. * 50 Jahre HU - Vorbereitungen für das Jubliäum in 2011 * Urabstimmung zum Verbandsnamen

Seite 16 Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Ankündigung

Preisverleihung Samstag, 9. Oktober 2010 19h EL-DE-Haus Appellhofplatz 23-25, Köln

Ein Lebenswerk gegen die Hinterlassenschaften des NS-Unrechts Fritz-Bauer-Preis 2010 an den Richter und Rechtshistoriker Dr. Helmut Kramer

Die Humanistische Union vergibt ihren diesjährigen Fritz- Die Beschäftigung mit früherem Unrecht ist für Helmut Bauer-Preis an Dr. Helmut Kramer. Der Bundesvorstand Kramer keine Frage der Vergangenheit, sondern immer auf begründet die Entscheidung mit den herausragenden Ver- die Gegenwart ausgerichtet. Er will jene Beliebigkeit der diensten Kramers um ein humanes Rechtswesen in Vergan- juristischen Methodik überwinden, die das Recht zum genheit und Gegenwart: „Helmut Kramer setzt sich seit Instrument totalitärer Systeme werden ließ. So bemüht er Jahrzehnten für die Aufhebung von Unrechtsurteilen, für die sich, die Rechtsgeschichte in der juristischen Ausbildung zu Aufklärung der Verstrickungen und Beteiligungen von Juris- verankern und die Methoden des Rechts zu historisieren. ten an nationalsozialistischen Verbrechen und die Aufhe- 15 Jahre lang leitet er die Sommertagungen der Deutschen bung der rechtspolitischen Hinterlassenschaften dieses Richterakademie zur NS-Justiz, gründet 1999 sein Forum Regimes ein.“ Für seine Initiativen zur Aufarbeitung der Justizgeschichte. Mit seinem enzyklopädischen Wissen um jüngeren Justizgeschichte, für sein Engagement gegen das Akteure, Ereignisse und Strukturen des NS-Unrechts Rechtsberatungsgesetz und nicht zuletzt in Anerkennung begeistert er viele und prägt eine Juristengeneration, die seiner friedenspolitischen Bemühungen vergibt die Huma- sich endlich mit der Verantwortung ihrer Zunft beschäftigt. nistische Union in diesem Jahr ihre höchste Auszeichnung Die Verantwortung für eine humane Zukunft lässt Hel- an den früheren Richter am OLG Braunschweig. mut Kramer in den 1980er Jahren auch zum Mitstreiter der Helmut Kramer hat sich der Aufhebung nationalsozia- Friedensbewegung werden. 1987 beteiligt er sich an der listischen Unrechts auf allen Ebenen verschrieben: Sein Blockade in Mutlangen, wird wie viele andere von Richter Name steht gleichermaßen für die Rehabilitierung der Offenloch zu einer Geldstrafe verurteilt. Später erläutert er Opfer (Wiederaufnahmeverfahren Erna Wazinski), für die in einem Interview, warum ihn die Angst vor möglichen lokalhistorische Dokumentation der Verbrechen (Ausstel- Konsequenzen nicht von der Teilnahme abhielt. Für ihn sei lung „Braunschweig unterm Hakenkreuz“), für die Aufde- klar gewesen: „Wenn du dich da heraus hältst, dann hast du ckung personeller Kontinuitäten in der bundesdeutschen aus den ganzen Jahren der intensiven Beschäftigung mit der Justiz (Affäre Puvogel), die Aufhebung des NS-Unrechts NS-Justiz und ihren Ursachen nichts gelernt." (Rehabilitierungsgesetze 1998 u. 2009) und die rechtshis- Zu den Lehren aus der Vergangenheit gehört für Helmut torische Bildungsarbeit (Fortbildungen der Richterakade- Kramer auch ein solidarisches Verständnis des Rechts. Es mie, Forum Justizgeschichte, Gedenkstätte Wolfenbüttel). sind vor allem die Schwächsten der Gesellschaft, die seiner Dabei knüpft er nicht nur ideell an das Werk Fritz Bauers bedürfen. Mit einer Selbstanzeige und einem Verfahren bis an. 1984 veröffentlicht er seinen wohl folgenschwersten vor das Bundesverfassungsgericht erreicht er 2008 schließ- Aufsatz über die Beteiligung von Juristen an der „Aktion lich die Aufhebung des Rechtsberatungsgesetzes. Er öffnet T4“, dem nationalsozialistischen Programm zur Vernich- damit den von ihm beratenen Totalverweigerern, vielen tung „unwerten Lebens“. Aufbauend auf Voruntersuchun- Minderheiten und sozialen Bewegungen einen leichteren gen Bauers – das Verfahren wurde nach dessen Tod still Zugang zum Recht. beendet – dokumentierte Kramer, wie 1941 alle OLG-Präsi- Sven Lüders denten und Generalstaatsanwälte dabei halfen, die mas- Der Festakt zur Preisverleihung findet im Rahmen des Verbandstages senhafte Verschleppung und den Mord behinderter Men- der HU, am 9. Oktober 2010 in Köln statt. Weitere Informationen schen juristisch abzusichern. unter: http://www.humanistische-union.de/shortcuts/fbp.

Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Seite 17 Film „Fritz Bauer – Tod auf Raten” Ein Film über den Generalankläger des Ausschwitz-Prozesses und Mitbegründer der HU

Fritz Bauer - Tod auf Raten chen und so für die allgemeine Anerkennung des Widerstan- Deutschland 2010, 97 Minuten des gegen den Nationalsozialismus im Nachkriegsdeutsch- Ein Film von Ilona Ziok land sorgen. CV Films Produktion in Koproduktion mit dem Saarländischen Rundfunk Format Digital Beta, Farbe & s/w Der Film stellt nicht den Anspruch, die Umstände des Todes von Fritz Bauer – er wurde 1968 zu Hause tot in der Badewanne aufgefunden – durch neue, ultimative Fakten Auf der diesjährigen Berlinale hatte der Film über Fritz Bauer aufzuklären. Es kommen Freunde zu Wort, die Selbstmord für in der Sektion Panorama mit viel Beifall bedachte Welt-Pre- höchst unwahrscheinlich halten, Mord aber nicht ausschlie- miere. Zwei weitere Vorstellungen waren rasch ausverkauft. ßen. Der Film kommentiert dies nicht. Schon der Titel des Ilona Ziok, international bekannte und preisgekrönte Regis- Films allerdings weist den Tod Bauers als Endpunkt einer tra- seurin, hat in jahrelanger Recher- gischen Vorgeschichte aus: „Tod che-Arbeit nunmehr das filmische auf Raten“ heißt doch, dass Porträt dieses für die Frühge- jemand nach und nach gestorben schichte der Bundesrepublik und ist. Oder nach und nach ums für die Ahndung der Nazi-Verbre- Leben gebracht wurde. Die Zuset- chen so bedeutenden Juristen zungen, die Fritz Bauer erfahren vorgelegt. musste, kulminieren in seiner Während Bauer, zunächst in Bemerkung, wenn er sein Büro Braunschweig, dann als hessi- verlasse, befinde er sich in „feind- scher Generalstaatsanwalt in lichem Ausland“. Der zufällige Frankfurt/M. tätig, der Humanisti- Zeuge einer Unterhaltung zweier schen Union nicht nur als Grün- sich unbeobachtet wähnenden dungsmitglied aus dem Jahr 1961 Kunden in einem Braunschweiger bekannt ist, dürften die meisten Antiquariat nach dem Remer- Deutschen mit diesem Namen Prozess Anfang der 1950er Jahre nichts verbinden. Nach ihm ist konnte hören, wie bedauerlich es keine Straße benannt; das Bun- sei, dass man Fritz Bauer zu ver- desverdienstkreuz zu verleihen, gasen vergessen habe. Zahlreiche kam keinem der Bundespräsiden- Schmähbriefe mit Anspielungen ten in den Sinn. Bauers Tod im auf seine jüdische Herkunft spie- Jahr 1968 war allerdings für geln den „unsäglichen Zeitgeist“ Robert W. Kempner, Chefankläger (Ralph Giordano), der wenig bei den Nürnberger Prozessen, bereit war, die NS-Täter, von Anlass festzustellen: „Er war der denen zahlreiche noch oder wie- größte Botschafter, den die Bundesrepublik hatte… Er wusste, der in Justiz und Politik tätig waren, zur Verantwortung zu womit man Deutschland helfen kann und er hat ihm gehol- ziehen. fen.“ Der Filmemacherin Ilona Ziok ist es beeindruckend gelun- Aber Deutschland hat ihm nicht geholfen. Gegen größte gen, das Leben und Wirken Bauers durch die Mitteilungen Widerstände aus Justiz und Politik hat Bauer 1963 die Auf- seiner Freunde, Bekannten und Kollegen in eine große Erzäh- nahme des Auschwitz-Prozesses, der gegen Wachmann- lung mit tiefgründiger dramatischer Struktur zu montieren. schaften des KZ Auschwitz mit der Anklage millionenfachen Zu Wort kommen sein Nachlassverwalter Manfred Amend, Mordes geführt wurde, durchsetzen können. Ohne seine Hin- der Neffe Rolf Tiefenthal, Gerhard und Ingrid Zwerenz, Ralph weise an den israelischen Geheimdienst Mossad über den Giordano, Heinz Düx – Untersuchungsrichter im Auschwitz- Aufenthalt Eichmanns in Argentinien wäre dessen Entfüh- Prozess – und Joachim Kügler, Staatsanwalt im Ausschwitz- rung 1960 und der Prozess in Jerusalem im folgenden Jahr Prozess sowie Staatsanwalt Johannes Warlow, schließlich nicht möglich gewesen. Den deutschen Behörden, die sich nie noch Thomas Harlan, als der Sohn Veith Harlans mit dessen ernsthaft um die Auslieferung Eichmanns bemüht hatten, NS-Vergangenheit belastet, und viele mehr. misstraute Bauer. Er hielt es sogar für möglich, dass Eich- Auch wenn der Film zahlreiche „Talking Heads” zeigt, ist mann vorab gewarnt würde. Bereits Anfang der fünfziger er doch weit entfernt von additiver Präsentation. Wie in Jahre konnte Bauer im sogenannten Remer-Prozess den einem Spielfilm baut Ilona Ziok ihr jüngstes Werk in einer deutschen Widerstand vom Vorwurf des Hochverrats freima- Erzähl-Tradition, wie sie u.a. von Marcel Ophüls und Krzysz-

Seite 18 Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Film tof Kieslowski in den 1950er und 1980er Jahren in überaus von deren feiger Wortkargheit. Mulka hat im Prozess lange vielschichtigen Filmen entwickelt wurde. In spannend erzähl- geleugnet, etwas von den Vergasungen in Auschwitz gewusst ten und informativ dichten Kapiteln werden die mit dem zu haben, bis man ihm Listen mit seiner Unterschrift vorge- Namen Fritz Bauer verbundenen Etappen der Manifestierung legt hat. des Rechtsstaates mit Hilfe von Archivmaterial und Inter- Ohne umfangreichen Nachlass und mit nur wenigen views dargestellt: Remer-Prozess, Verurteilung Eichmanns in schriftlichen persönlichen Aufzeichnungen wie im Falle Fritz Jerusalem, Auschwitz-Prozess, Vorbereitung des Prozesses Bauers ist es schwer, im Film einen Menschen nahe zu brin- gegen die Euthanasie-Täter und als Beispiel für eine Form gen. Es sind vor allem diese Fernsehbilder, die einen Eindruck von Strafvereitelung der Fall Dreher. vom Charisma und auch dem abgründig Vulkanischen in der Der Bonner Ministerialbeamte Eduard Dreher, im Krieg als Person Bauers vermitteln. Seine Hoffnung, die junge Genera- Staatsanwalt am Sondergericht in Innsbruck tätig und durch tion werde dem Rechtsstaat und dem individuellen Recht Übereifer bei der Verhängung von Todesurteilen berüchtigt, verpflichtet sein, trägt er mit großer Leidenschaft vor. Anek- war im Bundesjustizministerium am Entwurf und an der Ein- doten zeugen von der Menschlichkeit Bauers. Noch jeder bringung eines Gesetzes beteiligt, das zunächst in der angeklagte Jugendliche, der seine Unschuld beteuerte, und unscheinbaren Form eines Einfüh- den Bauer vor dem Prozess zum rungsgesetzes zum Ordnungswid- Gespräch aufgesucht hat oder rigkeitengesetz die Ausschuss- kommen ließ, habe nach einiger Hürden nahm – und dann im Mai Zeit gesagt: „Herr Bauer, isch bins 1968 durch Anfügung eines § 50 doch gewäse.” II im durch den Gewiss vermittelt der Film Deutschen Bundestag faktisch zu keine wesentlich neuen Erkennt- einem Ende der Strafverfolgung nisse über Nationalsozialismus von NS-Schreibtischtätern führte. und Holocaust. Auch ist im aka- Statt für Beihilfe zum Mord konn- demischen Bereich mit einer im ten nun zahlreiche Straftäter nur Jahr 2009 erschienenen umfang- wegen Beihilfe zum Totschlag reichen Biografie über Fritz Bauer belangt werden. Dieser war für nahezu alles zusammengetragen. Straftaten aus der NS-Ära bereits Was den Film auszeichnet, ist 1960 verjährt. Welch zynisch- seine Gesamtschau auf das politi- unmenschliche Begründungen für sche Klima der Frühzeit der Bun- die Bewertung Totschlag statt desrepublik, das von größten Mord konstruiert wurden, schil- Widerständen in Justiz, Politik dert der Film anhand der detail- und Gesellschaft gegen eine Auf- lierten Wiedergabe eines Schwur- arbeitung der NS-Verbrechen gerichtsurteils aus dem Jahr 1962, Foto: T. Baur geprägt war. Was den Film zudem Die Regisseurin Ilona Ziok gemeinsam mit Werner Koep- in dem es um die Erschießung von Kerstin nach einer Aufführung des Films im historischen für ein großes Publikum und ins- zehn polnischen Häftlingen in Plenarsaal des Berliner Oberverwaltungsgerichts. besondere für Schulen so wichtig ihrer Zelle ging. Dreher war lange macht, ist seine durch den Jahre Leiter der Strafrechtsabteilung im Justizministerium authentischen Bericht von Weggefährten Bauers und ausge- und Mitverfasser eines in zahlreichen Auflagen erschienen zeichnetes Archivmaterial anschauliche Darstellung von Strafrechtskommentars. ungeheuren Sachverhalten, die in ihrer Täterschaft und Ausschnitte aus der Fernsehsendung „Der Kellerclub“ des Schuld aufzuklären Bauer als Generalstaatsanwalt seine Hessischen Rundfunks aus dem Jahr 1964, in der Fritz Bauer ganze Kraft gewidmet hat: Die Einzigartigkeit des Holocaust mit Studierenden diskutiert, geben leitmotivisch in allen durch das industrielle Morden und die mit dem Mord verbun- Kapiteln Bauers Sicht auf Schuld der Täter und Verantwor- dene Beraubung der Opfer sowie deren physische „Verwer- tung der jungen Generation für das demokratische Deutsch- tung”. land wieder. „Das Nein ist die Grundlage jeder Ethik”, sagt Bauer, und: „Es gibt eine Grenze, wo wir nicht mehr mitma- Zur Rezeption des Films chen dürfen”. Kritiker tun sich schwer, wenn eine Dokumentation derart Dass keiner der Angeklagten des Auschwitz-Prozesses schweren Stoffs nicht puristisch bleibt und künstlerische Ele- auch nur ein einziges Wort der Reue oder Menschlichkeit mente einsetzt. Wem, wie dem Kritiker der Tageszeitung, die sagt oder gar an die als Zeugen aussagenden Opfer richtet, verwendete Musik wegen der „emotionalisierenden Wirkung“ hat Bauer mehr als alles anderen beklagt. O-Töne der Ange- nicht zusagte, dem dürfte vermutlich nicht bekannt gewesen klagten zu Fotos vom heutigen, leeren Gerichtssaal, in dem sein, dass es sinfonische Klagelieder aus berühmten Kompo- gegen Boger, Mulka und andere verhandelt wurde, zeugen sitionen sind – Goreckis „Dritte Symphonie“ und Pendereckis

Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Seite 19 Film

„Auschwitz Symphonie“ – die der Film dezent einsetzt. Die eine der kleinsten Sendeanstalten Geld gab, verwundert Bilder vom Flug einer Möwe mit der Musik des Berliner Kom- angesichts der Tatsache, dass Filme über Adenauers Staats- ponisten und Produzenten des Films, Manuel Göttsching, bei sekretär Globke oder über Hitlers Sekretärin mit ihrem endlo- der Fährfahrt des Erzählers nach Kopenhagen, wo Fritz Bauer sen Monolog recht großzügig gefördert wurden – der Glob- zunächst Exil fand, gehören zu den Sequenzen, die dem ke-Film vom WDR, SWR und von ARTE. Zuschauer Augenblicke der Entspannung von schwer zu Auf dem HU-Verbandstag im Oktober 2010 in Köln wird ertragenden Schilderungen verschaffen, und die zum Rhyth- Ilona Ziok ihren Film präsentieren. AKTION MENSCH hat den mus des Films beitragen. Film als den deutschen Beitrag ihres diesjährigen Zyklus mit Der Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dem Thema „Über Mut" ausgewählt. Insgesamt 10 interna- (19.2.2010) fragt: „Wo sind Fritz Bauers Feinde geblieben?“ tionale Filme werden in dieser Reihe ab dem 4.11.2010 ein und wirft dem Film „methodischen Mangel“ vor, weil seine Jahr lang in 100 deutschen Städten zu sehen sein. Der Fritz- Feinde nicht zu Wort kämen. Abgesehen davon, dass diese Bauerfilm wird die Tour eröffnen. Inzwischen gab es zahlrei- Kritik von filmischer Ausgewogenheit ausgeht, ist zu fragen, che Voraufführungen. Das Cinemaxx(!)-Filmtheater in Braun- ob es für jene Jahre nicht gerade kennzeichnend war, dass schweig zeigte ihn zusammen mit der Braunschweiger viele Altnazis aus der Deckung heraus agierten? Warum wohl Zeitung, die Juristenvereinigung „Forum Recht und Kultur im trug der Generalstaatsanwalt Bauer eine Pistole? Absagen Kammergericht e.V." führte ihn in Berlin vor. Derzeit bereitet bei Interview-Anfragen für den Film gab es genügend – u.a. die Produzentin die US-Premiere des Films in New York vor. vom Büro Helmut Kohls, dessen Rolle in einer Landtagsde- Ohnehin findet ihr filmisches Schaffen in den USA mindes- batte über die Weigerung des Kultusministeriums in Rhein- tens ebenso viel Aufmerksamkeit wie in Europa. Das Film- land-Pfalz, ein Buch Bauers für Schulen zuzulassen, im Film Department der University of California, Los Angeles hat geschildert wird. Es scheint, als hätten Probleme der FAZ mit Ilona Ziok einen Lehrauftrag angeboten, in dem sie ihr Film- Fritz Bauer Tradition: Der Artikel zum hundertsten Geburts- schaffen vorstellen kann. Bei der Retrospektive wird "Tod auf tag Bauers am 16.7.2003 trug den Titel: „Volksaufklärung Raten" der Eröffnungsfilm sein. Der „größte Botschafter, den durch Strafrechtstheater“ – womit auch die „Inszenierung“ die Bundesrepublik hatte" (Robert W. Kempner) wird auch des Auschwitz-Prozesses gemeint war. dann wieder durch die filmische Darstellung seines Lebens Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat in ihrer Bespre- und Wirkens seinen Dienst tun. chung des Films als finanziellen Förderer irrtümlich die Bun- Werner Koep-Kerstin deszentrale für Politische Bildung genannt. Tatsächlich war Die Geschäftsstelle der HU unterstützt interessierte Regionalgruppen, es das Bundespresseamt, das den Film unterstützenswert die den Streifen in ihrer Stadt präsentieren wollen. Bei Bedarf vermitteln fand. Dass ansonsten mit dem Saarländischen Rundfunk nur wir Referenten zu begleitenden Diskussionsrunden.

Kirchliche Privilegien oder staatliche Förderung des Gemeinwohls? Die vierten Berliner Gespräche über das Verhältnis von Staat, Religion und Weltanschauung

Am 22./23. Januar fanden die vierten Berliner Gespräche über eine normale Förderung des Gemeinwohls. Und dass eine das Verhältnis von Staat, Religion und Weltanschauung statt. Bürgerrechtsorganisation wie die HU solche Fragen ganz Das religionspolitische Forum der Humanistischen Union uneigennützig, nämlich aus verfassungsrechtlichem Patrio- richteten wir in diesem Jahr gemeinsam mit der Friedrich- tismus aufwerfen könnte, wird immer wieder angezweifelt. Naumann-Stiftung aus. Auf dem Programm standen „Die Pri- Während die Kontroverse zwischen Podium und Publikum vilegien der Kirchen und das Grundgesetz", wozu die Einla- schon zur Tradition der Berliner Gespräche gehört, erfasste dung drei faktische Vergünstigungen aufzählte, die – teils sie diesmal auch die beiden Veranstalter. Die Differenzen fin- exklusiv – den beiden Kirchen zugute kommen: der staatliche den sich in deren Bewertung der Veranstaltung wieder. Die Einzug von Kirchensteuern, die allgemeinen Staatsleistungen Diskussion eröffnet ein Kommentar von Ulrich Finckh (für die an die Kirchen sowie die Staatskirchenverträge bzw. Konkor- HU/GHI). In der nächsten Ausgabe wird Pascal Kober (für die date als Merkmale einer privilegierten Partnerschaft. FDP) darauf antworten. Um die Inhalte nicht aus dem Blick Zum Konzept der Berliner Gespräche gehört es, für die zu verlieren, dokumentieren wir zunächst ausführlich die religionspolitischen Anliegen der HU (Trennung Staat/Kirche) Fakten und Argumente der Debatte. in einem Dialog zwischen Politik und Recht, aber auch zwi- Sven Lüders schen Religionsgemeinschaften und weltanschaulich organi- Podiumsdiskussion und Referate der Veranstaltung sind auf der HU- sierten Gruppen zu werben. Auf die vier Gespräche rückbli- Webseite dokumentiert: www.humanistische-union.de/shortcuts/bg. ckend müssen wir jedoch feststellen: Die Verständigung über Im Sommer erscheint eine gedruckte Dokumentation der Beiträge, die religionsverfassungsrechtliche Fragen wird nicht leichter. über den Online-Shop der HU bzw. die Bundesgeschäftsstelle bezogen Was dem einen fragwürdige Privilegien, ist für den anderen werden kann - für HU-Mitglieder kostenfrei.

Seite 20 Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Berliner Gespräche

Kirchensteuer – Staatliche Einziehung?

Worum geht es? Rechtliche Grundlagen Die beiden Kirchen (und einige Weltanschauungsgemeinschaften) erheben ihre Mitgliederbeiträge in Form einer Steuer, die auf alle Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren. Einkommen fällig wird. Für die Kirchen sind dies jährlich knapp Die Behörden haben nur soweit das Recht, nach der Zugehörigkeit zu 6 Mrd. Euro von ihren Mitgliedern selbst, weitere 0,7 Mrd. Euro kom- einer Religionsgesellschaft zu fragen, als davon Rechte und Pflichten men von deren Lebenspartnern. Die Höhe der Kirchensteuer bemisst abhängen oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung sich nach der Höhe der Einkommen und den jeweiligen staatlichen dies erfordert. [Artikel 136 Abs. 3 WRV] Steuerhebesätzen. Für abhängig Beschäftigte werden die Kirchen- steuern im Rahmen des Lohnsteuerabzugverfahrens durch die Die Religionsgesellschaften bleiben Körperschaften des öffentlichen Arbeitgeber abgeführt; für Bankeinkommen (Zinsen) nehmen dies die Rechtes, soweit sie solche bisher waren. Anderen Religionsgesell- Geldinstitute vor. Arbeitgeber und Banken müssen dazu die Religi- schaften sind auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren, wenn sie onszugehörigkeit ihrer Beschäftigten/Kunden erfassen. Für die Fest- durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der stellung der Steuerpflicht, die Berechnung und Abführung der Kir- Dauer bieten. ... Die Religionsgesellschaften, welche Körperschaften chensteuer erhalten sie keinerlei Aufwandsentschädigung. des öffentlichen Rechtes sind, sind berechtigt, auf Grund der bürger- Die Steuerverwaltung ihrerseits stellt die Kosten des staatlichen lichen Steuerlisten nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestim- Steuereinzugs den Körperschaften in Rechnung. Als Aufwandsent- mungen Steuern zu erheben. [Artikel 137 Abs. 5/6 WRV] schädigung behält sie 2-4% des Kirchensteueraufkommens ein – das ist vermutlich mehr als die tatsächlich verursachten Kosten auf Sei- Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deut- ten des Staates, und kommt die Kirchen dennoch günstiger, als wenn schen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses sie die Beiträge ihrer Mitglieder selbst erheben müssten. Grundgesetzes. [Artikel 140 Grundgesetz]

Auszüge aus den Referaten

Prof. Dr. Stefan Korioth Ludwig-Maximilians-Universität Dr. Johannes Wasmuth München Rechtsanwalt, München

„[I]nsbesondere aus der Verwendung des Worts ‘erheben’ [in Art. 137 „Einen offenen Verfassungsbruch begeht..., wer behauptet die Kir- Abs. 6 WRV], abzuleiten, dass die Religionsgemeinschaften und ihre chensteuergarantie erfasse auch den staatlichen Kirchensteuerein- Organe mit der Steuererhebung betraut bleiben sollen und ihnen zug und dessen Delegation an Arbeitgeber und Arbeitnehmer...“ daher nicht das Recht zustehe, die Kirchensteuererhebung durch die staatlichen Behörden vornehmen zu lassen, verfehlt den dem Grund- „Kirchensteuereinzug durch den Staat und Kirchenlohnsteuereinzug gesetz eigenen religionsfreundlichen Charakter, der grundsätzlich durch in Dienst genommene Arbeitgeber verstoßen darüber hinaus auf Förderung der Religionsgemeinschaften und eine Zusammenar- elementar gegen ... die Gebote der staatlichen Neutralität und der beit zwischen Staat und Religionen zielt.“ Parität der Religions- und Weltanschauungsgesellschaften.“

„Es geht mithin in der Auseinandersetzung um die Kirchensteuern ... „Arbeitgeber und Arbeitnehmer können Lehren und Handeln der Kir- um die Frage der Verfassungswidrigkeit der einfachgesetzlichen chen aufgrund abweichender Weltanschauung ablehnen. Dennoch Ausgestaltung der im Grundsatz von der Verfassung ausdrücklich werden sie hoheitlich verpflichtet, einen maßgeblichen Beitrag zur gebilligten und auch nicht systemwidrigen Kirchensteuer.“ wirtschaftlichen Prosperität ... der Kirchen zu erbringen.“

Beim Lohnsteuerabzugsverfahren „ist sowohl bezüglich der Arbeit- „[D]as Kirchenlohnsteuerabzugsverfahren [stellt] ein kollusives geber wie der Arbeitnehmer von einer Grundrechtsbetroffenheit Zusammenwirken von Staat und Kirchen auf Kosten von Arbeitge- durch die staatliche Inpflichtnahme auszugehen.“ bern und Arbeitnehmern dar.“

Bei der Angabe der Religionszugehörigkeit der Arbeitnehmer „liegt „Art.136 Abs. 3 S. 1 Weimarer Reichsverfassung beschränkt eine ein Verstoß gegen die Erforderlichkeit vor, da die Besteuerung auch Durchbrechung des ... geschützten Rechts, seine Religionszugehörig- ohne Inpflichtnahme des Arbeitgebers durchgeführt werden kann.“ keit zu verschweigen, auf Fragen von Behörden. Weiter legitimiert diese Ausnahmeregelung nichts. Arbeitgeber sind keine Behörden.“ Die Arbeitgeber „müssen, unbeschadet der eigenen Religionszuge- hörigkeit, im Finanzierungsverhältnis von steuerpflichtigen Arbeit- „Der durch den Wegfall der Steuerlisten eingetretene Wandel lässt nehmern und Religionsgemeinschaften tätig werden. ... Insgesamt es nur zu, dass die Religionsgesellschaften den Steuerlisten entspre- bestehen deshalb gegenüber dem gegenwärtig praktizierten Lohn- chende Informationen erhalten, um dann ihrerseits die Kirchensteu- abzugsverfahren erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken.“ ern festzusetzen.“

Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Seite 21 Berliner Gespräche

Staatsleistungen: Ewige Rente?

Worum geht es? die historische Schuld nach fast einhundertjährige Zahlung bereits Jährlich erhalten die beiden Kirchen ca. 450 Mio. Euro von den Län- als abgegolten, oder ist ein voller Wertersatz angezeigt? Und wel- dern, über die sie frei verfügen können. Sie verwenden die Gelder v.a. chen Ablösewert haben Rechtstitel auf dauernde jährliche Zuwen- für die Besoldung von Bediensteten und das Kirchenregime. Begrün- dungen? det werden die Leistungen i.d.R. als Entschädigung für enteignetes Kircheneigentum, insbes. durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803. Rechtliche Grundlagen Diese Staatsleistungen im engeren Sinne sind nach den Bestimmun- gen der Weimarer Reichsverfassung von 1918 zu beenden, auch das Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Grundgesetz fordert ein entsprechendes Ablösegesetz. Statt eines Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die solchen Gesetzes wurden die Leistungen in zahlreichen Konkordaten Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das und Staatskirchenverträgen fortgeschrieben, ihre Höhe an die Reich auf. Gehaltsentwicklung im öffentlichen Dienst gekoppelt. Das Eigentum und andere Rechte der Religionsgesellschaften und Da eine Ablösung der Staatsleistungen politisch nicht opportun religiösen Vereine an ihren für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätig- erscheint, sind viele finanzielle Fragen noch ungeklärt: Zählen zu den keitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und sonstigen Ver- abzulösenden Vergünstigungen auch die negativen Staatsleistungen mögen werden gewährleistet. [Artikel 138 WRV] (Steuervergünstigungen und Abgabenbefreiungen) sowie die kom- munalen Zuwendungen? (Beide sind in der o.g. Summe nicht enthal- Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deut- ten.) Und die Gretchenfrage: In welchem Umfang ist ein angemesse- schen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses ner Ausgleich für die Aufhebung der Staatsleistungen zu leisten? Gilt Grundgesetzes. [Artikel 140 Grundgesetz]

Auszüge aus den Referaten

Prof. Dr. Heinrich de Wall Dr. Carsten Frerk Friedrich-Alexander-Universität Freier Autor und Journalist, Erlangen-Nürnberg Agenturleiter hpd-online.de

Das Ablösegebot „umfasst alle Leistungen, die auf den genannten „Von einer Säkularisation ‘der katholischen Kirche’ zu sprechen, ist Rechtstiteln beruhen, seien sie Säkularisationsfolgen oder nicht. Der mehrfach übertrieben und auch sachlich falsch, da 1803 alle katho- Versuch nachzuweisen, dass alle oder einzelne Staatsleistungen in lischen Einrichtungen, die der ‘Seelsorge’ und der Wohlfahrt dienten, Wirklichkeit keine Säkularisationsfolgen seien, ist daher für den im Kirchenbesitz verblieben...“, und manch säkularisiertes Gut sich Rechtsgehalt des Art. 138 Abs. 1 WRV ... irrelevant.“ „zwar im Besitz aber eben nicht im Eigentum der katholischen Kirche befand, also auch nicht enteignet“ werden konnte. „Art. 138 Abs. 1 WRV ordnet eben die Ablösung der Staatsleistungen an und schließt damit ihre bloße Aufhebung oder Nichtzahlung aus. Die historische Begründung der Staatsleistungen mit dem Reichsde- ... Der allgemeine Wandel der Verhältnisse kann nicht einfach die putationshauptschluss geht fehl: „Als Ausgleich wird [dort] festge- Verfassung überspielen.“ legt, dass die ehemaligen Fürstbischöfe und Bischöfe, die Mitglieder des Domkapitels und die bei den Diözesen beschäftigten Geistlichen Die Ablösesumme muss dem Äquivalenzprinzip (voller Wertersatz) bis an ihr Lebensende eine zu vereinbarende Dotation erhalten. Mehr folgen, da „auch eine Entschädigung im Sinne der eingeführten nicht. Mit dem Tod des letzten Bediensteten sind die Dotationsver- Begrifflichkeit [der Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 GG] üblicherwei- pflichtungen erloschen. Über Nachfolger steht dort nichts. Über Ent- se den vollen Wert der entzogenen Sache erreichen muss.“ „Ein schädigungen: Nichts.“ Anhaltspunkt für das Maß der Ablösungsentschädigung ... mag die steuerliche Bewertung von wiederkehrenden Leistungen sein. Nach Die Neubegründung der Staatsleistungen im Konkordat von 1817 Anlage 9 a des Bewertungsgesetzes sind wiederkehrende, zeitlich war ein Handel: „Alimentierung aus Fürsorge gegen Legitimation“. begrenzte Leistungen von über 101 Jahren mit dem 18,6-fachen des „Diese Nützlichkeitserwägungen bzw. der legitimatorische Dienst Jahreswertes anzusetzen.“ des Klerus für die Monarchien war mit den demokratischen Verände- rungen in Deutschland (1918/19) beendet. Für die weitere Alimen- Andere haben keinen Anspruch auf Staatsleistungen, denn „der recht- tierung des Klerus gab es fortan keine Gründe mehr.“ fertigende Grund für die Leistung gerade und allein an die ursprüng- lich begünstigten Religionsgemeinschaften besteht in der Garantie Die nach 1918 in den Staatskirchenverträgen und Konkordaten des Art. 138 Abs. 1 WRV selbst. Es verstößt daher nicht gegen den „getroffenen Vereinbarungen sind ... Ausdruck einer Art formalen Gleichheitssatz, wenn eine solche Staatsleistung nur an die ursprüng- Wunsch- oder Anspruchsdenkens, dessen Formulierungen schon im lich begünstigten Religionsgemeinschaften gezahlt wird.“ Stadium der Entstehung rechtswidrig und damit hinfällig waren.“

Seite 22 Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Berliner Gespräche

Kirchenverträge – Undemokratische Vorzugsbehandlung?

Worum geht es? Staatskirchenverträge werden auf unbestimmte Dauer geschlossen. Bisher wurde in der Bundesrepublik noch kein Vertrag gekündigt. Alle Bundesländer haben Verträge bzw. Konkordate mit der evangel. Offen ist, welche (Selbst-)Bindung die Verträge für den Staat entfal- Kirche, dem Heiligen Stuhl und oft auch mit den jüdischen Gemein- ten, ob und wann sie kündbar sind. Mit der zunehmenden Vielfalt den geschlossen. Jenseits der konkret vereinbarten Leistungen soll religiös/weltanschaulicher Gruppierungen in unserer Gesellschaft mit den Verträgen eine besondere Form staatlicher Anerkennung der verstärkt sich das Problem der Gleichbehandlung: Soll oder muss der Gemeinschaften verbunden sein. Nach der herrschenden Meinung Staat mit allen vergleichbare Verträge abschließen? Bisher gibt es des Staatskirchenrechts sollen sie den Status völkerrechtlicher Ver- keine Verträge mit muslimischen Verbänden/Gemeinden, lediglich einbarungen besitzen. Hamburg hat entsprechende Verhandlungen über den Abschluss eines Staatskirchenvertrags aufgenommen. In den Verträgen vereinbaren Staat und Religionsgemeinschaften die Regeln ihrer Kooperation. Da der staatliche Einfluss auf die Geschäf- Eine Übersicht aller Staatskirchenverträge findet sich beim Bundes- te der Religionsgemeinschaften von Verfassungs wegen beschränkt ministerium des Innern: ist, beinhalten die Verträge v.a. staatliche Verpflichtungen: Neben http://www.bmi.bund.de/cln_156/DE/Themen/PolitikGesellschaft/ den freien Staatsleistungen garantieren sie weitere zweckgebunde- KirchenReligion/StaatReligion/StaatReligion_node.html ne Zuwendungen (etwa Finanzierung theologischer Fakultäten), den kirchlichen Einfluss bei der Besetzung öffentlicher Gremien (z.B. Rechtliche Grundlagen Rundfunkräte) und den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen. keine

Auszüge aus den Referaten

Prof. Dr. Dirk Ehlers Dr. Gerhard Czermak Westfälische Wilhelms-Universität, Verwaltungsrichter, Schriftsteller, Institut f. öffentl. Wirtschaftsrecht Beirat d. Giordano-Bruno-Stiftung

„Rechtliche Bedenken gegen den Abschluss von Staatskirchenver- Staatskirchenverträge sind nicht erforderlich: „Dies umso mehr, als trägen können allenfalls bestehen, wenn solche Verträge das Können sich die Verfassungsrechtler einig sind: alle Staat-Kirche-Verträge und Dürfen des Gesetzgebers in demokratiewidriger Weise dürfen nur solche Regelungen enthalten, die der Staat auch einseitig beschränken würden. Dies ist indessen nicht der Fall...“ treffen dürfte, d.h. ohne kirchliche Mitwirkung.“

„Der Verfassungsstaat hat ... eine Verantwortung dafür, dass ... die „Unbestreitbares Hauptmotiv für Kirchenverträge und Konkordate Grundrechtsverwirklichung nicht aus der Öffentlichkeit verbannt in ist jedenfalls auf kirchlicher Seite die Überzeugung, der Vertrag einen privaten Raum abgeschoben wird.“ Er hat „ein legitimes Inte- begründe eine besondere Bestandsfestigkeit der Regelungen, die resse an der Förderung gemeinwohldienlichen Wirkens der gesell- jeder Verfassungs- und Gesetzesnorm überlegen ist.“ schaftlichen Kräfte über die bloße Freiheitsgewährleistung hinaus.“ „Es bedarf keines Vertrages und Vertragsgesetzes, um den Staat Verfassungsrechtliche Grenzen des Kirchenvertragswesens: zusätzlich auf die Selbstverständlichkeit zu verpflichten, dass er 1. „Der Staat kann seiner ... Friedenssicherungsfunktion und Gemein- seine eigene Verfassungs- und Rechtsordnung auch gegenüber den wohlverantwortung nur gerecht werden, wenn er in der Lage bleibt, Kirchen einhalten muss.“ Religionsgemeinschaften einseitige Grenzen zu ziehen...“ ; 2. „vertragliche Verständigung [darf] kein Vehikel sein, staatliche „Dem Parlament bleibt regelmäßig nur ein Ja oder Nein zu dem text- und religionsgemeinschaftliche Aufgabenwahrnehmungen lich bereits feststehenden Vertrag. Das brisante Verhältnis von Staat untrennbar miteinander zu vermischen“; und Kirche wird der politischen Willensbildung im Parlament weitge- 3. „darauf zu achten, dass der Staatskirchenvertrag nicht zu einer hend entzogen und gleichzeitig vor der Öffentlichkeit abgeschirmt.“ Festschreibung der geregelten Verhältnisse für alle Zeiten führt.“ „Mit einer vertraglichen Regelung wird einem künftigen, anders „Der demokratische Gesetzgeber unterliegt aber nicht nur der Ver- zusammengesetzten Parlament die Änderung der einmal getroffe- tragsbindung. Er ist zugleich von Verfassungs wegen verpflichtet, nen Entscheidung im Hinblick auf den zu erwartenden Vorwurf des das Gemeinwohl stets neu zu konkretisieren.“ Im Konfliktfall „ist Vertragsbruchs politisch und psychologisch erschwert... Mit dem verfassungsrechtlich abzuwägen und zu entscheiden, ob die Religi- Sinn der Demokratie und der Würde des Parlaments ist das unverein- onsgemeinschaften unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse bar. So kommen teilweise Regelungen zustande, die einem Selbst- Vertrauensschutz beanspruchen können.“ kontrahieren nahekommen.“

Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Seite 23 Berliner Gespräche Verständnis Fehlanzeige Die 4. Berliner Gespräche zum Thema „Die Privilegien der Kirchen und das Grundgesetz"– ein Rückblick

Die Humanistische Union und die der FDP nahe stehende komitee der deutschen Katholiken und der Abgeordnete und Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit hatten für den evangelische Pfarrer Kober die Rechtssituation der Kirchen 22. und 23. Januar zu den „4. Berliner Gesprächen über das normal und nützlich, weil sie die staatliche Gemeinschaft Verhältnis von Staat, Religion und Weltanschauung" eingela- moralisch stützt. Eine kleine Unsicherheit ergab sich aller- den und ein gutes Echo gefunden. Der Saal in der Urania war dings, als Frau Nahed Samour als Muslima darauf hinwies, voll, das Gespräch lebhaft, die Referenten und Referentinnen dass Moslems gar keine Körperschaftsrechte haben und gute Sachkenner – und doch war die Veranstaltung trotz vie- haben können, deshalb also prinzipiell benachteiligt sind. Ihr ler interessanter Hinweise recht unbefriedigend. Man redete einfach zu sagen, das sei halt eigene Schuld, man könne sich weithin aneinander vorbei. Die kirchlichen und kirchennahen doch entsprechend organisieren, war keine angemessene Diskutanten fanden die besonderen Rechte der Kirchen gar Antwort. Im Übrigen gebe es auch andere religiöse Gemein- nicht besonders und die unkirchlichen Diskutanten wiederum schaften, die sich bewusst nicht so organisieren, dass sie ihre konnten das nicht verstehen und zählten auf, was nach ihrer Beiträge vom Staat einziehen lassen. Was für ein Freiheits- Meinung alles an Privilegien der Kirchen der grundsätzlichen verständnis diese Freikirchen gegenüber dem Staat haben, Trennung von Staat und Kirche widerspricht. wurde nicht angesprochen. Sie wurden nur als Beispiele dafür zitiert, dass es eben Freiheit gibt, sich als Körperschaft zu organisieren oder das zu lassen. Dass es für Nichtkirchli- che keine solche Möglichkeit gibt, war nach Meinung der Kir- chenvertreter deren eigene Wahl, nicht Folge der staatlichen Privilegien für die Kirchen. Die ersten Fachreferate belegten die gegenseitige Ver- ständnislosigkeit. Der Münchner Professor Korioth referierte über die staatliche Einziehung der Kirchensteuern für die Kir- chen und Religionsgemeinschaften, die als Körperschaften des öffentlichen Rechts organisiert sind. Das Körperschafts- recht sei eine legale und legitime Rechtsgrundlage, zumal die Kirchen sinnstiftend für den Staat seien, der sein Recht nicht aus sich habe. Sein Koreferent, der Münchner Rechtsanwalt Dr. Wasmuth, widersprach und berief sich darauf, dass Foto: Lüders Ulrich Finckh (Mitte) am Rande der Tagung im Gespräch mit Tobias Voraussetzung der staatlichen Erhebung der Kirchensteuern Baur (links) und Werner Koep-Kerstin. die Offenlegung der eigenen religiösen Zugehörigkeit sei, die den Arbeitgeber nichts angehe. Das folgende Gespräch zeigte Für mich begann die Tagung schon mit einer Überraschung. beispielhaft, was die ganze Tagung charakterisierte. Die Die frühere Staatsministerin Dr. Irmgard Schwaetzer vom kirchliche Seite konnte oder wollte nicht verstehen, dass Vorstand der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit diese Darlegung der eigenen Konfession je nach gesellschaft- und bekannte FDP-Politikerin sprach in ihrer Begrüßung von licher Umgebung unangenehm sein kann und ihre Nicht- der wachsenden Bedeutung der Religion und der wichtigen preisgabe auch durch das Grundrecht der informationellen Rolle der Kirchen. Diese seien sinnstiftend für den Staat, was Selbstbestimmung und durch die Religionsfreiheit grund- keine andere Organisation so leisten könne. Ebenso endete rechtlich geschützt wird. Die nichtkirchlichen Diskutanten die Tagung mit einer Überraschung, als der FDP-Bundestags- dagegen betonten, dass sie die Pflicht, ihre Konfession zu abgeordnete Pascal Kober ebenfalls problemlos in seinem offenbaren, als Unrecht empfinden. Außerdem wiesen sie auf Schlusswort die wichtige Rolle der Kirchen betonte. Ich hatte die Problematik hin, dass von Arbeitgebern verlangt wird, immer gemeint, die FDP sei den Kirchen gegenüber viel neu- Aufgaben zu übernehmen, die eigentlich nicht zu ihrem Auf- traler, ja zurückhaltender. Neutraler war die Begrüßung von gabenbereich gehören. Beide Seiten fühlten sich ohne jedes Frau Will, die die Offenheit für die Problematik betonte und Verständnis für die jeweils andere Seite im Recht, schüttel- einen guten Meinungsaustausch erhoffte. Sie sah die Berliner ten, bildlich gesprochen, den Kopf über die Vertreter der Gespräche in Konkurrenz zu ähnlichen kirchlichen Gesprä- gegenteiligen Meinung. chen. Das nächste Fachgespräch fragte nach den Staatsleistun- Die erste gemeinsame Gesprächsrunde zeigte schon die gen an die Kirchen. Professor de Wall erläuterte die ins ganze Problematik. Während Herr Haupt von der Humanisti- Grundgesetz übernommenen Kirchenartikel der Weimarer schen Union die vielfachen kirchlichen Privilegien aufzählte, Reichsverfassung. Das Gebot, die Staatsleistungen abzulösen, fanden der frühere Bundesrichter van Schewick vom Zentral- sei allerdings nicht erfüllt. Wegen der Eigentumsgarantie des

Seite 24 Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Berliner Gespräche

Grundgesetzes wäre das auch schwierig. Dass die Staatsleis- tungen auch auf andere Religionsgemeinschaften übertragen Vorbereitung der V. Berliner Gespräche wurden, sei nicht von alten Rechten abzuleiten, sondern eine Religion und Schule Frage der Gleichbehandlung. Was so schön als Verfassungs- recht mit kleinen Problemen erschien, wurde von dem Publi- Deutschland gehört zu den wenigen Staaten, in denen glaubens- zisten Dr. Frerk radikal zerpflückt. Er erläuterte, wie weder die gebundener Religionsunterricht an öffentlichen Schulen getrennt nach den Konfessionen erteilt wird. Faktisch findet er meist nur Säkularisationen der Reformation noch der Reichsdeputati- für evangelische und katholische Schüler statt, obwohl die reli- onshauptschluss von 1803 die Staatsleistungen begründen, giöse Landschaft in den letzten Jahren vielfältiger geworden ist. die heute noch gezahlt werden. Kaiserliche Lehen waren Daraus ergeben sich zahlreiche Fragen: Ist der Religionsunterricht nicht kirchliches Eigentum, und die Garantie eines angemes- mit der Religionsneutralität des Staates (noch) vereinbar? Sollte senen Lebensstandards auf Lebenszeit für geistliche Würden- Muslimen ein eigener Religionsunterricht ermöglicht werden? Ist träger, die ihrer Länder verlustig gegangen sind, können keine es zweckmäßig, Kinder und Jugendliche nach Konfession getrennt Rechtsgrundlage für dauernde Bezahlung der Bischöfe und zu unterrichten? Wie wirkt sich dies auf die gesellschaftliche Inte- Domkapitel sein. Ich fand diese Darstellung überzeugend und gration aus? Ist es überhaupt zulässig (und wünschenswert), dass die Vermittlung von Glaubensinhalten an staatlichen Schulen war enttäuscht über die schwache Antwort des Professors de stattfindet? Welche Erfahrungen gibt es mit anderen Formen, Wall. etwa der gemeinsamen Vermittlung weltanschaulicher und reli- Das dritte Hauptthema waren die Konkordate und Kir- giöser Kenntnisse in unseren Nachbarländern? chenverträge. Professor Ehlers berichtete vorsichtig über die Diesen Fragen könnten sich die 5. Berliner Gespräche widmen, mit Rechtsprechung, die deren Gültigkeit akzeptiert. Dagegen deren Vorbereitung der Bundesvorstand begonnen hat. Interes- wies der Richter im Ruhestand Dr. Czermak darauf hin, wie sierte Mitglieder sind aufgerufen, sich in die Vorbereitung einzu- ungewöhnlich Inhalt und Form der Verträge sind: Keine Kün- bringen, das Konzept ist in der Bundesgeschäftsstelle abrufbar. digungsklauseln außer Änderungen im gegenseitigen Einver- nehmen, zudem kirchliche Vetorechte bei Berufungen, die der Freiheit der Wissenschaft an den theologischen Fakultäten waren offensichtlich sogar der Meinung, dass kirchlicher Ein- (in Bayern sogar darüber hinaus bei den „Konkordatslehr- fluss schädlich ist, wobei sie nicht nur an religiösen Funda- stühlen") ebenso widersprechen wie den Grundrechten auf mentalismus, aber besonders natürlich an den dachten. Das freien Zugang zu öffentlichen Ämtern und dem Gleichheits- Problem der ganzen Veranstaltung war, dass die kritischen artikel des Grundgesetzes. Durch die Garantie der theologi- Anfragen nicht Ernst genommen und erst recht nicht ange- schen und der Konkordats-Lehrstühle werden an den Univer- messen beantwortet wurden. Trotzdem habe ich einiges sitäten Mittel gebunden, die an anderer Stelle fehlen, was gelernt. Dazu gehören eine ganze Reihe von Fakten zur Kritik den Universitäten und Hochschulen schadet. Praktisch sind der so genannten alten Rechte. Ich habe einen guten Ein- die Konkordate ein Unterlaufen der Trennung von Staat und druck bekommen vom Denken derer, die den Kirchen kritisch Kirche, außerdem der inhaltlichen parlamentarischen Diskus- gegenüberstehen und deshalb sich gegen ihre Beiträge zur sion weitgehend entzogen, weil den Parlamenten am Ende Unterstützung kirchlicher Arbeit wenden. Ich habe auch nur ein Ja oder Nein blieb. Sie hatten keinen Einfluss auf die einen neuen Blick auf die übertriebene Selbstsicherheit derer Verhandlungen. gewonnen, die im Vollgefühl der sicheren und bisher vom Wenn ich die Plenumsdiskussionen überdenke, so waren Verfassungsgericht akzeptierten Stellung der Kirchen Kritik kritische Stimmen im Blick auf die großen kirchlichen Privile- und Anfragen einfach an sich abprallen lassen. Wenn die gien sehr stark vertreten. Warum Steuerfreiheit? Warum bei Christenheit so mit Andersdenkenden umgeht, darf sie sich Grundstücksgeschäften Befreiung von Notariatsgebühren? nicht wundern, wenn immer mehr sich von den Kirchen Warum Übernahme von Baulasten über das für Kunstdenk- abwenden. mäler Übliche hinaus? Warum garantierte Mitsprache in Das i-Tüpfelchen auf diese Taubheit war das Schlusswort Rundfunkräten und vielen anderen staatlichen Gremien? des FDP-Abgeordneten und Pfarrers Kober von der Gruppe Warum staatliche Zuschüsse für kirchliche Kindergärten, „Christen in der FDP-Bundestagsfraktion". Er sprach, als hätte Schulen und Hochschulen? Warum Sonderrechte gegenüber es alle kritischen Anfragen nicht gegeben. Wenigstens von den Angestellten in Kirchen und kirchlichen Einrichtungen? einem Kollegen hätte ich mehr Einfühlungsvermögen für Warum Berufung auf legendäre Rechte, die es in der Realität Andersdenkende erwartet. Aber anscheinend ist die FDP der so gar nicht gab? Die Fragen und Statements gegen alles, Meinung, die Kirchen seien noch so große Institutionen, dass was als kirchliches Privileg angesehen wurde, waren zahl- man sich mit ihnen gut stellen muss und sich keine Kritik reich. Man fragt sich, was zu dieser Fülle von Kritik geführt leisten kann. Für liberal halte ich das nicht. Zumindest bei hat. Ist sie berechtigt? Schaden die Vorrechte jemand? den Anfragen nach Grundrechten und der prinzipiellen Tren- In der Diskussion spielte eine große Rolle, dass viele nung von Staat und Kirche hätte ich im Resumé nicht nur staatliche Leistungen aus den allgemeinen Steuern, also auch kirchlich, sondern auch politisch mehr erwartet. von denen bezahlt werden, die in keiner Kirche sind und an Ulrich Finckh der Förderung der Kirchen kein Interesse haben. Manche ist Pfarrer i. R. und Mitglied des Beirates der Humanistischen Union

Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Seite 25 Ankündigung

(Red.) Hat das Bundesverfassungsgericht eine Wende in der Sozialpolitik eingeleitet? Unter dieser Überschrift diskutierten am 10. Mai VertreterInnen aus Wissenschaft, Verwaltung und Politik über die Konsequenzen aus der Verfassungsgerichtsentscheidung zu den Hartz IV-Regelsätzen für Kinder. Im Mittel- punkt standen dabei verfassungsrechtliche Fragen sowie die Auswirkungen auf Arbeits- markt und Kinderarmut. Die Tagung war eine Kooperation von Humanistischer Union und Friedrich-Ebert-Stiftung. Eine Dokumentation der Beiträge wird demnächst auf der HU- Webseite erscheinen und in der nächsten Ausgabe der Mitteilungen nachgereicht. Foto: Lüders

Chancenlos, rechtlos und ausgeliefert? Tagung zu aktuellen Problemen des Strafvollzugs am 17./18. September 2010 in Bremen

Freiheitsentzug ist der intensivste Eingriff in Grundrechte, Programm der dem Staat zur Verfügung steht. Er wirkt weit über Freitag, 17. September 2010 des eigentlichen Vollzuges einer Freiheitsstrafe oder einer Sicherungsverwahrung hinaus. Dementsprechend sind Ziele 17.00 Uhr Begrüßung und Einführung Prof. Dr. Rosemarie Will, Bundesvorsitzende der HU und Ausgestaltung des Strafvollzugs, die Beachtung und Umsetzung von Bürgerrechten im Strafvollzug sowie die Strafvollzug in Deutschland im Jahre 2010 – eine Bestandsaufnahme Chancen von Inhaftierten nach ihrer Entlassung von grundle- Dr. Jens Puschke, Bundesvorstand der HU anschließend Diskussion im Plenum gender Bedeutung. Derzeit besteht ein breites Bedürfnis, über offenkundig bestehende Probleme zu diskutieren und nach 18.45 Uhr Exklusion des Anderen Lösungen zu suchen. Dabei geht es z.B. um die Ungleichbe- Braucht unsere Gesellschaft Strafe? Welche Alternativen gibt es im handlung von Gefangenen vor allem nach der Föderalismus- Vergleich zum deutschen Strafvollzugssystem? reform, die den Bundesländern die Gesetzgebungskompetenz Prof. Dr. Gaby Temme, Polizeiakademie Niedersachsen für den Bereich des Strafvollzuges zugewiesen hat. Es geht Exklusion durch Strafvollzug über das Wegsperren hinaus um die Auswirkungen des Urteils des Europäischen Gerichts- Klaus Jünschke, Kölner Appell gegen Rassismus hofs für Menschenrechte, der Teile der deutschen Regelung anschließend Diskussion auf dem Podium zur Sicherungsverwahrung für nicht vereinbar mit der Euro- gegen 20.30 Uhr Empfang päischen Konvention für Menschenrechte erklärt hatte. Und Samstag, 18. September 2010 es geht um die täglich präsente Gewalt, der Gefangene aus- gesetzt sind. 9.00 Uhr Bürgerrechte im Strafvollzug Die Fachtagung beschäftigt sich mit neueren Entwicklun- Humanismus und Strafvollzug gen im Strafvollzug aus theoretischer und praktischer Sicht. Prof. Dr. Johannes Feest, Strafvollzugsarchiv an der Universität Bremen In drei Blöcken wird es um die „Exklusion des Anderen", „Bür- Schutz der Bürger- und Menschenrechte im Strafvollzug gerrechte im Strafvollzug" und „Gewalt im Strafvollzug" Dr. h. c. Harald Preusker, ehem. Sächsisches Staatsministerium der Justiz gehen. Diese grundsätzlichen Zugänge werden durch jeweils anschließend Diskussion auf dem Podium zwei ReferentInnen sowie eine anschließende Diskussion mit 10.45 Uhr Kaffeepause weiteren ExpertInnen auf handhabbare Fragen konkretisiert. 11.15 Uhr Gewalt im Strafvollzug Tagungsort & Anmeldung Totale Institution. Gewalt im Strafvollzug als inhärente Gegebenheit Jochen Goerdeler, Staatsanwaltschaft Itzehoe Die Tagung findet an der Universität Bremen statt: Hörsaalgebäude Zum Umgang mit Gewalttätern im Strafvollzug GW1HS, Universitätsallee, 28359 Bremen. Dr. Ingke Goeckenjan, Universität Osnabrück Die Teilnahme an der Tagung ist kostenfrei möglich. Es wwird um eine anschließend Diskussion auf dem Podium vorherige Anmeldung gebeten, im Internet unter www.humanistische- union.de/shortcuts/anmeldung/, per Fax 030 / 204 502 57 oder E-Mail 13.00 Uhr Ergebnisse der Tagung und Ausblick [email protected]. Ende der Tagung gegen 14.00 Uhr

Seite 26 Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Verein Humanistische Union oder Gesellschaft für Bürgerrechte? Start des Urabstimmungsverfahrens zum Verbandsnamen

heute im deutschsprachigen Raum weltanschauliche Vereinigungen verstanden, im englischsprachigen Aus- land notlindernde Hilfsorganisationen. Beides will die HU aber nicht sein. Dass es sich bei einer humanistischen Vereinigung um eine Bürgerrechtsorganisation handle, ist weder im Deutschen noch in der englischen Überset- zung zu erahnen. · die Verwechslungsprobleme mit dem Humanistischen Verband (HVD): Selbst von Referenten unserer eigenen Tagungen wird der Unterschied zwischen HU und HVD übersehen (wie zuletzt bei den Berliner Gesprächen), von der Presse ganz zu schweigen. Das unterminiert nicht nur die neutrale Position der HU in weltanschaulichen Streit- fragen, sondern schwächt unseren Wiedererkennungs- wert. · ein neuer Name als Integrationsmotor: Nach der Fusion Der Bundesvorstand hat den Startschuss gegeben: Auf seiner mit der GHI sprechen auch identitätspolitische Gründe Sitzung am 10./11. April 2010 beschloss er, die seit langem für eine Namensänderung. Mit einem neuen Vereinsna- angekündigte Urabstimmung über den Verbandsnamen ein- men würde ein Zeichen für den gemeinsamen Aufbruch, zuleiten. Die Abstimmung, die auch im Vertrag zur Ver- für die aktive Integration der neuen Mitglieder aus der schmelzung mit der Gustav Heinemann-Initiative vereinbart GHI bei uns gesetzt. war, findet Ende Oktober per Briefwahl statt. Dabei werden folgende Alternativen zur Abstimmung stehen: Gegen eine Umbenennung werden jedoch ins Feld geführt:

• Ich stimme der Änderung des Vereinsnamens zu. · finanzieller Aufwand einer Namensänderung (durch neue Die derzeit gültige Satzung der Humanistischen Union Logos & Designs bzw. sonstige Aufwendungen, um den wird in § 1 Nr. 1 wie folgt geändert: „Der Verein führt neuen Namen bekannt zu machen) den Namen ‘Gesellschaft für Bürgerrechte’. In engli- · potentieller Bedeutungsverlust durch die Aufgabe der schen Beschreibungen trägt der Verein die Bezeich- „Marke HU“ nung ‘German Society for Civil Liberties’.“ • Ich lehne die Änderung des Vereinsnamens ab. Letzte Gelegenheit zur Diskussion Es bleibt bei der Bezeichnung „Humanistische Union, Vor der Abstimmung stehen natürlich die ausführliche vereinigt mit Gustav Heinemann-Initiative“. Begründung des Vorschlages sowie die Diskussion des Pro & Contras aus. Dazu gibt es bereits eine Informationsseite im Wie aus dem Antrag hervorgeht, handelt es sich bei der Wiki (Wiki-Code 1001-I). Selbstverständlich wird die Diskus- Namensänderung um einen Eingriff in die Satzung der HU. sion aber auch „offline“ möglich sein. So besteht für Mitglie- Daher ist für eine Annahme des Vorschlags ein Quorum von der die Möglichkeit, sich in der nächsten Ausgabe der HU- 75% der abstimmenden Mitglieder (§ 8 Nr. 3) nötig. Stimm- Mitteilungen (Nr. 209, erscheint im September 2010) zu der berechtigt sind lt. § 1 unserer Wahlordnung alle Mitglieder, Frage zu äußern. Wir bitten daher alle Interessierten, Ihre die zum Zeitpunkt der Ankündigung der Urabstimmung Beiträge bis zum 15. August 2010 an die Diskussionsredakti- (Stichtag: 1. Juli 2010) bereits Mitglieder des Vereins waren. on und/oder die Geschäftsstelle zu senden, damit sie in der Ausgabe berücksichtigt werden können. Warum ein neuer Name? Schließlich bietet auch der Verbandstag im Oktober die Die Unzufriedenheit mit dem Vereinsnamen zieht sich durch Gelegenheit, sich mit anderen HU-Mitgliedern über den Vor- die Geschichte der Humanistischen Union. In den letzten schlag auszutauschen. Eine Kurzinformation über die Urab- Jahren werden immer wieder folgende Gründe genannt, stimmung steht dort am Sonntagmorgen auf dem Programm. warum eine Namensänderung sinnvoll sei: Sven Lüders Geschäftsführer der Humanistischen Union · die Mehrdeutigkeit des Humanismus-Begriffs und die fehlende Darstellung dessen, was die HU eigentlich Der genaue Abstimmungszeitraum sowie der Termin für die Auszählung betreibt: Unter humanistischen Organisationen werden der Stimmzettel wird in der nächsten Ausgabe mitgeteilt.

Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Seite 27 Sexualpolitik Bürgerrechte und Verantwortung Die Debatte um den sexuellen Missbrauch in (kirchlichen) Bildungseinrichtungen geht auch an der HU nicht spurlos vorüber. Versuch einer Aufarbeitung der sexualpolitischen Vergangenheit

Am 10. März 2010 trat der Regensburger Bischof Gerhard Kinder zum Gegenstand erwachsener Begehrlichkeiten wer- Ludwig Müller in Rom vor die Kameras. Fernab der Heimat den, sind in unseren Augen immer sexueller Missbrauch. So wehrte er sich gegen Kritik, die Katholische Kirche Deutsch- viel wir auch über die Weite des Sexualitätsbegriffs und die lands arbeite bei der Aufklärung von sexuellem Missbrauch Zulässigkeit sexueller Handlungen zwischen Kindern streiten, an Kindern nicht hinreichend mit den Strafverfolgungsbehör- so klar muss doch sein: Eine echte Einvernehmlichkeit in den den zusammen. Seine Empörung richtete sich vor allem Sexualbeziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern kann gegen die Bundesjustizministerin. Sabine Leutheusser- es nicht geben. Bei der behaupteten Einvernehmlichkeit han- Schnarrenberger hatte zuvor in einem Interview (Tagesschau delt es sich vielmehr um Projektionen auf kindliche Lebens- vom 22.2.2010) die Überarbeitung der internen Richtlinien äußerungen. Heranwachsende Kinder davor zu schützen, der Bischofskonferenz für den Umgang mit Missbrauchsfäl- gebietet allein schon die Garantie der Menschenwürde. Dass len gefordert. Die Pointe von Müllers Stellungnahme: Die auch das Strafrecht bei sexuellem Missbrauch an Kindern Ministerin habe kein Recht, die Katholische Kirche für ihre zum Einsatz kommt, steht für die HU nicht zur Debatte. defensive Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden zu Die hier zitierte Position der HU zur Pädophilie ist nicht kritisieren. Schließlich gehöre sie selbst einer Vereinigung an, neu. Sie findet sich im Beschluss des Vorstands aus dem Jahr die die Pädophilie legalisieren wolle. Die Rede war von der 2004. Dieser an sich klaren Positionierung stehen Vorwürfe Humanistischen Union. entgegen, die HU habe mit ihrer Kooperationspraxis, mit ihrer Nachdem sich Müller einer außergerichtlichen Einigung Kritik an einer überkommenen Sexualmoral und deren Aus- verweigerte, beantragte die Humanistische Union Rechts- läufern im Sexualstrafrecht und mit ihren kritischen Bemer- schutz beim Landgericht Berlin. Das Gericht stimmte dem kungen zur Wirksamkeit des (Sexual-)Strafrechts jenen Dis- Antrag einer einstweiligen Verfügung am 13. April 2010 zu, kurs unterstützt, der schlussendlich in eine Legalisierung seither ist dem Bischof die weitere Verbreitung seiner Unter- pädosexueller Kontakte münde. Die HU eine bewusste/unbe- stellungen untersagt. wusste Wegbereiterin der sog. Pädophilenlobby? Der Vorwurf Beachtlich ist, wie unchristlich Müller seine Vorwürfe wiegt schwer und scheint überzogen. Dennoch meine ich, die gegen die Justizministerin und die Humanistische Union vor- HU tut gut daran, zwischen den teils zweifelhaften Motiven trug. Seine Anspielung auf Normalität/Anormalität bediente einiger KritikerInnen und dem rationalen Kern ihrer Vorwürfe sich verbreiteter Ressentiments gegen Pädophile. Gegenüber zu differenzieren. Dafür sprechen folgende Gründe: der HU blieb er den Nachweis seiner Behauptung, sie setze · Nur so kann sie jeden Anschein einer institutionellen sich gegenwärtig für Legalisierung ein, schuldig und verwei- Selbstimmunisierung vermeiden. Für die Humanistische gerte sich einem Dialog mit ihr. So war das dahinter stehen- Union galt stets der Anspruch, dass die Rechte des Ein- de Ablenkungsmanöver leicht zu durchschauen: Die Debatte zelnen gegenüber (geschlossenen) Institutionen gestärkt um die Aufklärung von sexuellem Missbrauch sollte als Kam- werden müssen. Das sollte auch für die HU selbst gelten. pagne von Kirchenkritikern diskreditiert werden. Dieser Ver- · Wir sollten es vermeiden, die Debatte um den (sexuellen) dacht bzw. Vorwurf – auch gegen die HU – zog sich in der Missbrauch auf eine Auseinandersetzung um die Kirchen Folge quer durch die Medien. Ein rationaler Kern der zu reduzieren, wie dies manche christliche Splittergruppe Anschuldigungen schälte sich in den Berichten jedoch tut. Das wird weder dem Schutzanspruch der Kinder heraus: die bis in die 1990er Jahre zu beobachtende Nähe gerecht, noch entspricht es der Erfahrung, wonach der zwischen einer diffusen Pädophilenlobby, der 68er-Generati- Missbrauch in kirchlichen wie weltlichen Einrichtungen, on, den Grünen und auch der Humanistischen Union. Sich in christlichen wie libertären Familien auftritt. diesem Vorwurf zu stellen, die berechtigten Vorwürfe von · Eine kritische Reflektion des sexualpolitischen Umfelds, den ideologischen Anfeindungen zu unterscheiden, dient der in dem sich die HU bewegt(e), mag sinnvoll sein, um die vorliegende Text. Er unterzieht dazu frühere Stellungnahmen Kontextgebundenheit der eigenen Positionen besser zu der HU einer kritischen Würdigung. Seine Thesen gehen auf erkennen. Dies ist umso wichtiger, als die HU häufig ihre Diskussionen im Bundesvorstand zurück. argumentative Stärke daraus bezieht, dass die von ihr reklamierten Rechte einem universellen Anspruch folgen. Klarstellungen Aber wird die Politik der HU jenem Anspruch einer über- Um der These einer vermeintlichen Förderung pädophiler geordneten Rationalität wirklich gerecht? Positionen durch die HU entgegen zu treten, sei es gesagt: · Nicht zuletzt: Die Vorwürfe einer Verharmlosung des Der (sexuelle) Missbrauch von Kindern ist für die Humanisti- Missbrauchs bzw. einer Blindheit gegenüber pädophilen sche Union nicht tolerabel. Und um keinerlei Missverständ- Vereinnahmungsversuchen sind nicht neu. Sie wurden nisse aufkommen zu lassen: Sexuelle Beziehungen, in denen bereits früher, aus den Reihen der HU selbst erhoben.

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Dokumentation: Sexualpolitik in der Humanistischen Union

Die nachfolgenden Zitate sind verschiede- sieht die HU die Grundlage zur Verringerung gemacht, sondern sei, so die HU, lediglich nen Arbeitspapieren der HU aus drei Jahr- von Gewalt und Eingriffen in die sexuelle aufgrund überholter Vorstellungen von zehnten entnommen. Die Auswahl ist einsei- Selbstbestimmung.“ Sexualmoral verurteilt worden. Daß unser tig und erfasst ausschließlich solche Inhalte, Pressemitteilung der Humanistischen Union Sexualstrafrecht eine solche Verurteilung mit denen eine kritische Auseinandersetzung im Nachgang zur Tagung „Pornografie und nach wie vor ermögliche, weise auf die poli- angezeigt erscheint. Die erneute Wiedergabe Jugendschutz“ in Mainz. Der Verbandstag tische Bedeutung des Falls Peter Schult hin. erfolgt hier aus dokumentarischen Gründen, der HU votierte im Herbst 2000 dafür, diese Noch immer gelte für homosexuelle Kontak- um den Gegenstand der Diskussion einzu- Erklärung zurück zu ziehen und nicht als te ein höheres Schutzalter als sonst (§175 grenzen. Sie markiert eine Differenz, keine Stellungnahme der HU zu verbreiten. Zur StGB) und noch immer müsse bei sexuellen Übereinstimmung mit den Positionen. Diskussion siehe: K.S. Rürup in Mitteilungen Kontakten mit Kindern nach § 176 StGB 169, S. 13; U. Neumann in Mitteilungen 169, selbst dann verurteilt, werden, wenn das Erklärung des Bundesvorstands zum S. 13f.; LV Berlin in Mitteilungen 171, S. Kind einverstanden gewesen war und kei- Sexualstrafrecht. Entwurf vom 24.6.2000 67/75. nerlei Schädigung eingetreten sei.“ „Die absolut und relativ außerordentlich Pressemitteilung des LV Berlin. Anlass der raren Fälle sexueller Gewalthandlungen zur Pressemitteilung: Solidaritätserklärung Stellungnahme war die verweigerte Haftver- bedrohlichsten Gefahr für junge Menschen mit der AG Pädo (16.1.1999) schonung für den selbst bekennenden Päde- und ihre Abwendung zur vornehmsten Auf- „Der Arbeitskreis unterstützt das auf Eman- rasten Peter Schult, der während seiner Haft gabe staatlicher Politik zum Schutze von zipation basierende Selbsthilfekonzept der tödlich erkrankte. Kindheit und Jugend zu stilisieren, grenzt in AG-Pädo und bewertet dieses als eine ver- seiner Blickverengung und in seinem Verlust antwortliche Form des Umganges mit der Memorandum für ein humanes von Proportionen an politische Fahrlässig- Thematik der Pädophilie. Die Selbsthilfe- Sexualstrafrecht. Entwurf aus Dez. 1982 keit, wenn nicht Schlimmeres.“ gruppen sind dabei ein sinnvoller Beitrag „Die Inhumanität dieses Strafgesetzes „Die Unterstellung gewaltfreier und kon- zum Kinderschutz und verdienen eine weit- kommt aber auch darin zum Ausdruck, daß sensbestimmter Sexualbeziehungen unter reichende Förderung, da sie den Teilnehmer es die Anwendung von Gewalt in sexuellen erwachsenen und gleichaltrigen Heterose- bei der Reflexion ihrer Neigung und Situati- Beziehungen in nicht vertretbarer Weise xuellen ... ist dabei bekanntlich ebenso fiktiv on beistehen, wobei auch die Problematik bagatellisiert. In Strafverfahren wegen Ver- wie die Unterstellung, sexuelle Beziehungen der pädosexuellen Kontakte thematisiert gehen gemäß §§ 174 bis 176 oder § 180 unter altersungleichen Homosexuellen seien wird. Die AG-Pädo hat das Vertrauen des StGB wird nach der Freiwilligkeit oder von vornherein und typischerweise gewalt- Arbeitskreises. Sie leistet einen wesentli- Unfreiwilligkeit des Kontakts oft nur neben- besetzt und -erzwungen. Nach dem Muster chen Beitrag zur Versachlichung der Thema- bei oder auch gar nicht gefragt; entschei- einer Logik, daß nicht sein kann, was nicht tik. Ihrer Kriminalisierung und Diskriminie- dend ist. der Tatbestand einer „sexuellen sein darf, wird in der Kriminalpolitik wie in rung tritt der BAK Sexualstrafrecht der Handlung“; ob sie sich zwischen Liebenden der öffentlichen Diskussion auf der Basis Humanistischen Union mit allem Nachdruck oder mit Gewalt und Angst abgespielt hat, einer solchen verzerrten Wirklichkeitsdar- entgegen.“ ist zweitrangig.“ stellung eine geradezu kreuzzugartige Kam- Pressemitteilung des AK Sexualstrafrechts Der Entwurf schlägt die Abschaffung des pagne gegen Pädophile und sogar deren der Humanistischen Union. § 176 StGB (bei Erweiterung des Grundtat- Selbsthilfegruppen geführt.“ bestands von § 177 StGB) vor. Der Text Diskussionspapier des Bundesvorstandes – Pressemitteilung: Keine Kriminalisierung wurde vom AK Sexualstrafrecht der HU Nie- erstellt im Auftrag der Delegiertenkonferenz von Selbsthilfegruppen (21.10.1998) dersachsen verfasst, in den Mitteilungen 101 1999, die eine Unterstützung der „Bostoner „Die Bezeichnung der Mitglieder der AG- (Dezember 1982) angekündigt und als Erklärung“ aufgrund ihrer einseitigen Partei- Pädophilie, Fachgruppe der Arbeitsgemein- Eigendruck auf Anfrage verschickt. Aus dem nahme ablehnte und den AK Sexualstraf- schaft Humane Sexualität e.V. (AHS) und HU-Beirat gab es befürwortende wie ableh- recht/den Vorstand zur Erarbeitung einer der regionalen Selbsthilfegruppen als nende Stellungnahmen zum Vorschlag. Der eigenen Stellungnahme aufforderte. Der „Pädokriminelle” entbehrt jeglicher Grund- Vorstand machte sich daraufhin das Memo- Text wurde am 24.6.2000 vom Vorstand ver- lage. Die Gruppen verfolgen unserer Infor- randum nicht zu eigen, sondern stellt dem abschiedet und in den Mitteilungen 171 (S. mation und unserem Eindruck nach keiner- AK eine weitere Diskussion anheim. 63-65) veröffentlicht. Der Verbandstag der lei kriminelle Aktivität. Ihr Ziel ist es, HU lehnte die Erklärung im September 2000 pädophilen Menschen eine Plattform zu Antrag zur Delegiertenkonferenz 1975: in Marburg mehrheitlich ab – aufgrund der geben, auf der sie über ihre Ängste und Nöte Unzuchtsparagraph aufheben/entschärfen einseitigen, kriminologisch geprägten Sicht diskutieren können. Sie tragen mit dazu bei, „Die Humanistische Union setzt sich dafür und der fehlenden Berücksichtigung der das Selbstwertgefühl pädophiler Menschen ein, daß Sexualität und Zärtlichkeit – gleich Opferperspektive. Zur Diskussion siehe: T. zu stützen, und geben ihnen die Möglich- zwischen welchen Partnern – solange sie Baur in Mitteilungen 172, S. 85-88. keit, gemeinsam ihr Verhalten zu reflektie- auf gegenseitiger Freiwilligkeit beruhen, ren. Daher dienen diese Selbsthilfegruppen nicht mehr bestraft werden. Insbesondere Pressemitteilung: Pornografie vermindert dem Kinderschutz und dürfen nicht diskri- bemüht sie sich um Entschärfung, bzw. sexuelle Gewalt (15.11.1999) miniert werden.“ Abschaffung der §§ 174 (1) S. 1 StGB und „Die Einschränkung bürgerlicher Freiheiten Pressemitteilung des AK Sexualstrafrechts 176 Ziffer 3 StGB (unzüchtige Handlungen durch eine strikte Anwendung des Sexual- der Humanistischen Union. mit Abhängigen bzw. Kindern).“ strafrechts hält die HU nach alledem für Der Antrag wurde von der Delegiertenkonfe- eine unverhältnismäßige Aktion des Staates, Pressemitteilung: Unterstützung d. Gna- renz nicht behandelt und zur weiteren Bear- die keine Bürgerin und keinen Bürger schüt- dengesuchs für Peter Schult (19.12.1983) beitung an den Bundesvorstand überwiesen. zen kann. In einer Freigabe der Pornografie „Eines sozialschädlichen Verhaltens habe Dieser fällte nach bisheriger Erkenntnis kei- und aller freiwilligen sexuellen Handlungen sich Peter Schult somit nicht schuldig nen Beschluss.

Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Seite 29 Sexualpolitik Verzerrungen und Fahrlässigkeiten Gewaltdelikte, deren ursächliche Motive nicht bzw. nicht Die HU war immer stolz darauf, zur Liberalisierung der bun- allein im sexuellen Begehren liegen. Und laut Polizeilicher desrepublikanischen Gesellschaft beigetragen zu haben. Kriminalstatistik wird ein sehr großer Anteil des sexuellen Dazu gehört auch die Sexualmoral. Dennoch ist das Bild einer Missbrauchs von Personen aus dem sozialen Nahbereich der antimoralischen Vereinigung, einer idealtypischen Gegen- Opfer begangen. Es ist daher eine schlichte Verdrehung der Kirche, welches Reinhard Bingener in der FAZ vom 29. März Tatsachen, diesen Missbrauch vor allem den 68ern (und von der HU zeichnet, verfehlt. In den Auseinandersetzungen „ihren“ Pädophilen) anzulasten. Die 68er waren es gerade, die um die zentralen Lebensfragen – vom Schwangerschaftsab- auf verborgene Gewaltpotentiale in den familiären Nahbe- bruch über die freie Geschlechtswahl in Sexualbeziehungen ziehungen hinwiesen. bis zur Sterbehilfe – hat die HU als Verband stets eine libera- le Position bezogen. Dem gingen regelmäßig kontroverse Verharmlosungen: Es zeugt von einem fragwürdigen Grund- Debatten voraus. Die Meinungsvielfalt, welche die HU bis rechtsverständnis und einer mangelnden Sensibilität für die heute kennzeichnet, ist dabei kaum zu übersehen. Sie hat Opfer des Kindesmissbrauchs, wenn im Entwurf einer HU- sich dabei von der libertären Bewegung anstecken lassen – Stellungnahme von „absolut und relativ außerordentlich etwa beim gezielten Tabubruch; der sexuellen Befreiung am raren Fällen sexueller Gewalthandlungen“ die Rede ist. Das und durch den eigenen Körper; der gänzlichen Ablehnung des ist bürgerrechtlicher Populismus auf Kosten der betroffenen Strafrechts. Kinder. Gewiss, das Argument diente hier der Kritik daran, Bei dieser Nähe der HU zu Emanzipationsbewegungen dass die Bekämpfung von Sexualstraftaten zum medialen überrascht es wenig, dass sich auch bei ihr Spuren jener Leitbild der Jugendpolitik aufgestiegen ist. Diese Kritik ist Debatte um die Straffreiheit sexueller Beziehungen zu Kin- nachvollziehbar, ihre Begründung an dieser Stelle nicht. Zum dern wiederfinden, die seit den 1980er Jahren das linkslibe- einen verzeichnet die Polizeiliche Kriminalstatistik jährlich rale Milieu beschäftigte. Die Rückschau (s. Infokasten) bietet ca. 12.000 Fälle sexuellen Missbrauchs an Kindern in wiederkehrende Beispiele dafür, dass auch die HU einen Deutschland. Gegenüber den Schutzansprüchen dieser Kinder „ideologischen Rahmen für Pädophile“ (taz) bot: müsste eine Bürgerrechtsorganisation sensibel sein, sich ihnen gegenüber solidarisch verhalten. Stattdessen wird hier Gewaltfreiheit und angebliche Einvernehmlichkeit pädosexu- das Problem klein geredet. Dabei gehört es zu den Grundfes- eller Kontakte: Die Liberalisierung des Strafrechts ist eine ten der Bürger- und Menschenrechtsarbeit, dass sich die Geschichte der Tabubrüche – „Mein Bauch gehört mir“, „Raus Tragweite einer Freiheitsbeschränkung nicht an den Opfer- aus den Toiletten, rein in die Straßen“... Auch die in den zahlen bemisst – Bürger- und Menschenrechte sind nun ein- 1970er Jahren entstehende Bewegung der Pädophiliebefür- mal nicht teilbar. So wenig wir Menschenrechtsverletzungen worter zielte auf solche Tabubrüche. Sie knüpfte mit dem in Deutschland mit denen in China aufrechnen können, angeblichen Einverständnis der Kinder zu Sexualbeziehungen genauso wenig können wir die Folgen der Kinderarmut mit unmittelbar an die Schwulenbewegung an. Was im Konsens den Folgen des Kindesmissbrauchs verrechnen. geschieht, so ihr Argument, könne nicht zu Lasten eines Opfers gehen, und weise keine Sozialschädlichkeit auf. Dabei Kritik des Strafrechts im falschen Kontext: Auch in der Debat- wird jedoch unterschlagen, wie viel Aufwand echte Pädophi- te zum Sexualstrafrecht hat die HU immer wieder einge- le darauf verwenden, den angeblich freien Konsens mit den wandt, dass das Strafrecht nur eine unzureichende Form der Kindern herzustellen – wohl wissend, dass die Diskrepanz Wiedergutmachung leisten kann, entstandene Verletzungen zwischen erwachsener und kindlicher Sexualität letztlich und psychische Schäden mit einer Verurteilung der Täter unüberbrückbar ist. Am Ende bleibt dieser herbeigeführte nicht überwunden werden können und die betroffenen Kin- Konsens nicht mehr als eine Legitimationsstrategie. Die HU der durch das Strafverfahren möglicherweise neue Verlet- hat nicht nur den strategischen Charakter der „Einvernehm- zungen erfahren. All diese Einwände sind grundsätzlich lichkeitsdebatte“ übersehen, sondern machte sich auch zum bedenkenswert, sie gelten in vergleichbarer Weise auch für (unfreiwilligen) Helfer der dahinter stehenden Legalisie- andere Delikte und deren Opfer. Der Ausgleich zwischen rungsbemühungen, wenn sie pauschal die Freigabe aller frei- repressiven und sozialpolitischen Instrumenten gehört zu den willigen sexuellen Handlungen vorschlug, ohne die Konse- Kernforderungen der HU (so auch beim Umgang mit Terroris- quenzen einer solchen Entscheidung zu bedenken. ten oder jugendlichen Straftätern). ). Dies gilt auch für Straf- Dennoch irritiert die Parallelisierung der Debatten um taten pädophiler Täter. Der entscheidende Unterschied zur sexuellen Missbrauch und Pädophilie. Bei der Frage nach den Debatte um Pädophilie bleibt jedoch: Niemand fordert die Ursachen und den Möglichkeiten einer Prävention sexuellen Straffreiheit für Mord und Totschlag, und auch der Humanis- Missbrauchs von Kindern vermag die Erforschung des pädo- tischen Union unterstellt das niemand. Umso wichtiger war philen Begehrens kaum zu helfen, denn es spielt dabei keine und ist es deshalb, sich von pädophilen Legalisierungsbemü- Rolle. Nach übereinstimmenden Untersuchungen weist nur hungen abzugrenzen. Eine bürgerrechtliche Kritik des Straf- ein geringer Teil der Missbrauchstäter pädophile Neigungen rechts sollte im sexualpolitischen Kontext daher klar formu- auf. Mehrheitlich handelt es sich bei den Übergriffen um

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Dokumentation: Die Zusammenarbeit von HU und AHS

Kooperationen mit der AHS 2002 mietet eine Selbsthilfegruppe pädophiler Männer für ihre wöchentlichen Treffen Räume im damaligen Büro des Bildungswerks 1998 „Prostitution als Beruf” (gemeinsame Tagung in Bremen) der Humanistischen Union Bayern an. Nach polizeilichen Ermittlun- 1999 „Pornographie und Jugendschutz heute” (gemeinsame Tagung gen und einer Veröffentlichung des Stern-Reporters Manfred Karre- in Mainz) mann werden im Herbst 2003 Mitglieder der Gruppe wegen des Ver- dachts auf Besitz und Handel mit Kinderpornografie verhaftet, die 2000 „Sexualerziehung” (gemeinsame Tagung in Dresden ) Räume des Bildungswerkes durchsucht. Die Untervermietung an die 2002 „Intersexualität / Transsexualität”, Tagung der AHS in Gräfel- Gruppe wurde beendet, das Büro des Bildungswerkes aufgelöst. fing bei München s. auch Pressemitteilungen in der Dokumentation auf S. 29.

2003 „Sexualität und Recht”, gemeinsame Tagung des AK Sexual- Die Sicht der Anderen strafrecht der HU und der AHS „Ich würde nicht sagen dass die HU von der AHS unterwandert ist. Es scheint so, dass aber die AHS zu bestimmten Punkten die Humanisti- Weitere Verbindungen sche Union benutzt, oder funktionalisiert, und es scheint so, dass ins- besondere Teile des Arbeitskreises Sexualstrafrecht von der HU, Die AHS wird 1983 gegründet und arbeitet von Beginn an eng mit Handlangerdienste ist vielleicht etwas hart formuliert, aber so was der HU zusammen. Das 1982 in Niedersachsen entworfene Memo- in der Richtung für die AHS leisten." (Thomas Schlingmann, Leiter randum zum Sexualstrafrecht wird - z.T. von den gleichen Protago- von Tauwetter e.V. in Report München vom 19.7.2004) nisten - in HU und AHS gleichermaßen diskutiert. Insbesondere zwi- schen dem HU-Arbeitskreis Sexualstrafrecht (erstmals begründet „Eigentlich kann kein Verein ein Interesse daran haben, auch nur in 1985) und der AHS bestehen einige Doppelmitgliedschaften. den vagen Verdacht zu kommen, etwas mit ‘Pädos’ zu tun zu haben; Seit den 1980er Jahren entsendet die Humanistische Union regel- oft reicht schon der Eindruck, man versuche zu differenzieren, und mäßig VertreterInnen in das Kuratorium der AHS. Ihm gehörten bzw. man wird als williger Unterstützer oder nützlicher Idiot von Pädo- gehören u.a. Johannes Glötzner, Klaus Rauschert und Fritz Sack an. philen journalistisch verhackstückt... Nun also die Humanistische Die Entsendung seitens der HU wurde mit dem Abgrenzungsbe- Union. Ausdrücklich bedanken wir uns dafür, dass Sie solange durch- schluss vom 7. August 2004 eingestellt. gehalten haben.“ (Brief der AHS an die HU vom 24.8.2004)

lieren, dass die Entkriminalisierung sexuellen Missbrauchs So viel Kritik es an der Zusammenarbeit mit der AHS gab, so keine akzeptable Alternative ist. schwierig war aus bürgerrechtlicher Sicht die Abgrenzungs- erklärung und die folgende, selbst auferlegte Kontaktsperre Blinde Solidarisierungen und einseitige Kooperationen: der HU gegenüber der AHS. Sie war sicher nötig, um den Ein- Bereits in den 1980er Jahren hatte die HU Kontakte zur druck einer thematischen Schieflage in der HU entgegen zu Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität (AHS) aufgebaut, steuern. Es kommt jedoch einer bürgerrechtlichen Bankrott- einer Organisation, die sich der sexuellen Selbstbestimmung erklärung gleich, wenn wir mit bestimmten sozialen Gruppen verschrieben hat. Die AHS war es auch, die nach der Auflö- nicht mehr reden können – und seien die ihnen zur Last sung des Bundesverbandes Homosexualität (1997) den Pädo- gelegten Taten noch so schlimm. Zu einer rationalen, an den philen eine neue Heimat und mit ihrer AG Pädo eine Platt- Problemen des Kindesmissbrauchs orientierten Diskussion form für deren Forderungen bot. Ausgerechnet in jener Phase gehört auch das Gespräch mit Pädophilen bzw. jenen (weni- etablierte sich die AHS zur alleinigen Kooperationspartnerin gen) Gruppen, in denen sie Fürsprecher finden. Nur darf sich der HU in sexualpolitischen Fragen, mit gemeinsamen Stel- der Dialog eben nicht darauf beschränken, wie in der HU zwi- lungnahmen und Fachtagungen. Aus dieser „Kooperation“ schen 1998 und 2003 faktisch geschehen. Die Würde der gingen auch Solidaritäts- und Vertrauenserklärungen der HU Kinder und deren Verletzung ernst zu nehmen heißt vielmehr, für die AG Pädo hervor, wobei weder die personellen Über- dass ein solcher Dialog zunächst bei den Kindern (vertreten schneidungen zwischen HU-Arbeitskreis und AG Pädo offen durch ihre Schutzverbände) anzusetzen hätte, heißt auch, gelegt noch die Grundlage des ausgesprochenen Vertrauens dass Therapeuten und Sozialarbeiter anzuhören wären, um benannt wurden. Die Kooperation wurde nach verbandsinter- deren Vorschläge zur Verhinderung des Missbrauchs aufzu- ner Kritik – Berichte des Stern und von Report München war- nehmen. All dies sollte die HU nachholen, wenn sie ihre sexu- fen der AHS vor, dass die pädophilen Selbsthilfegruppen als alpolitische Handlungsfähigkeit wiedergewinnen und sich Tarneinrichtung für den Tausch von Kinderpornografie dien- nicht dem Vorwurf einer einseitigen Parteinahme für Pädo- ten – im Jahre 2004 vom Bundesvorstand ausgesetzt. Als phile aussetzen will. Begründung dienten jedoch nicht die eigenen konzeptionel- len Fehler der HU, sondern die fraglos problematischen Posi- Zusammenfassend: Unsere bürgerrechtlichen Argumente tionen der AHS in Bezug auf pädophile Sexualität; ein sollten wir künftig auch daraufhin prüfen, ob sie von Grup- Abgrenzungsbeschluss im wahrsten Sinne des Wortes. pen vereinnahmt werden, denen es erkennbar nicht um die

Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Seite 31 Sexualpolitik

Freiheit der Anderen geht. Auch wenn es zutrifft, dass ein Beifall von der „falschen“ Seite allein noch kein Argument Informationen desavouiert, heißt dies noch lange nicht, dass wir als „Theo- retiker“ keine Verantwortung dafür hätten, was mit unseren Eine Übersicht der sexualpolitischen Texte der HU und der Positionen und Forderungen im politischen Raum geschieht. Zusammenarbeit mit der AHS findet sich auf unserer Webseite: www.humanistische-union.de/shortcuts/sexualstrafrecht. Dieses Credo einer verantwortungsvollen Bürgerrechtspolitik hat Roland Otte anlässlich der Debatte um die Erklärung zum Unter der Adresse kommentieren wir auch die zahlreiche Presse- Sexualstrafrecht 2000 so auf den Punkt gebracht: „Auf die berichte über die HU zum Thema. Mitglieder der HU können eine Dokumentation in der Geschäftsstelle abrufen, die alle zitierten Rechte von Tätern pochen, sich aber nicht mit ihnen solidari- Texte und die Protokolle der verbandsinternen Beratungen ent- sieren oder ihre Taten kleinreden.“ hält. Ein derart verantwortungsvoller Zugang zur politischen Auseinandersetzung lässt sich auch nicht dadurch erreichen, Sexualpolitische Aufarbeitung bei anderen Beteiligten dass man vermeintlichen Fehldeutungen und Missverständ- Nina Apin: Kuscheln mit den Indianern. Pädo-Aktivisten im lin- nissen der HU-Positionen mit immer neuen Klarstellungen zu ken Milieu. Tageszeitung vom 22.4.2010 begegnen versucht. Rückblickend leidet manche Diskussion Wolfgang Kraushaar: Bewegte Männer? Wie Teile der Linken und um das Sexualstrafrecht in der HU an einer Überbetonung der alternativen Szene Pädophilie als Emanzipation begriffen. der ideologischen Dimensionen von Pädophilie und Kindes- Die Zeit Nr. 22 vom 27.5.2010, abrufbar unter www.zeit.de/ missbrauch zulasten der realen, praktischen Probleme der 2010/22/Missbrauch-Paedophilie. Betroffenen. Die Verantwortung der Bürgerrechtler kann sich Daniel Boese: Pädophilie in der zitty. Als Sprachrohr der alterna- vielmehr darin erweisen, dass sie ihre Zeit und Energie in tiven Szene debattierte zitty 1979 über die Straffreiheit von Sex einen konstruktiven Dialog zum Schutz vor sexuellen Über- mit Kindern. Wie kam es dazu? Zitty 13/2010, S. 34ff. griffen einbringen. Wenn es der HU gelänge, aus den in die- sem Jahr bekannt gewordenen Übergriffen entsprechende Einsichten zu formulieren, wie sich Derartiges künftig verhin- dern lässt, wäre dies nicht nur überzeugender, sondern auch lagen auf. Ohne die urliberale Unterscheidung dass derjenige, nützlicher als jedes bloße Bekenntnis zum Schutz der Kinder. der sich für einen fairen Umgang mit mutmaßlichen Rechts- verletzern einsetzt, sich dadurch nicht automatisch zum Mit- Liberale Umgangsformen nach außen wie innen. schuldigen macht, gäbe es keine Bürgerrechtler, sondern nur Worauf wir achten sollten Mittäterinnen und Mittäter. Dieser Text kann nur ein Anfang sein. Er lädt Sympathisanten Die HU als Verband sollte sich um eine klare Positionie- wie Kritiker gleichermaßen ein, über Leerstellen und Fehler in rung zum Schutz der missbrauchten Kinder, zu den Proble- den sexualpolitischen Stellungnahmen der HU zu debattie- men der Prävention und Aufklärung sexuellen Missbrauchs, ren. Der Bundesvorstand hat sich entschieden, diese Ausei- zu rechtsstaatlichen Defiziten des Sexualstrafrechts u.a. Fra- nandersetzung, wie auch sonst in der HU üblich, in einer gen bemühen. Mehr als bisher müssen wir dabei auf Klarheit transparenten Form zu führen. Die sexualpolitische Vergan- in unseren Stellungnahmen achten, um Missverständnissen genheit der HU wird deshalb auch Gegenstand des diesjähri- und Verharmlosungen vorzubeugen. Neben den Begrifflich- gen Verbandstages sein (s. Seite 16). Die Veröffentlichung der keiten (wie Gewalt, Sexualität...) betrifft dies auch die ver- aus heutiger Sicht kritikwürdigen Texte soll ein erster Beitrag schiedenen Ebenen des Missbrauchs-Diskurses, die in der sein, um diese Diskussionen anzustoßen. Im Sinne der inner- Vergangenheit oft durcheinander gerieten. betrieblichen Demokratie sollten wir uns dabei auf einige Bei all diesen Bemühungen sollten wir aber der Versu- Regeln verständigen: chung einer diskursiven widerstehen. Natür- Die Humanistische Union sollte es vermeiden, die Debatte lich wird es bei vielen Fragen Meinungsverschiedenheiten um ihr Engagement zu sexualpolitischen Fragen, um ihr Ver- geben. Die Mitgliedschaft der HU ist nicht nur altersmäßig, hältnis zu pädophilen Lobbygruppen erneut so stark zu per- sondern auch in beruflicher Hinsicht und in ihren politischen sonalisieren, wie dies teilweise in der Vergangenheit geschah. Überzeugungen sehr heterogen. Diese Meinungsvielfalt ist Innerhalb der HU sollte gelten, was wir auch von der Gesell- für die Qualität unserer Diskussionen essentiell. Darum pflegt schaft einfordern: die Abkehr vom fragwürdigen Konstrukt die HU unter ihren Mitgliedern und in ihrem Beirat ein hohes einer Kontaktschuld. Wer sich für das Thema Pädophilie inte- Maß an Toleranz gegenüber Meinungen, die von der Ver- ressiert, darüber Bücher verfasst oder dafür engagiert, das die bandsmehrheit abweichen. Der Vorstand hat sich deshalb rechtsstaatlichen Gewährleistungen etwa der Unschuldsver- auch entschieden, persönliche Äußerungen von Mitgliedern / mutung und eines fairen Verfahrens auch für die Beschuldig- Beiräten der Humanistischen Union von Verbandsseite aus ten pädosexueller Delikte durchgesetzt werden, darf nicht nicht öffentlich kommentieren bzw. zu widerrufen. Kritische automatisch selbst zum Verdächtigen gemacht werden. Eine Anmerkungen zu all dem, was die Humanistische Union zu Bürgerrechtsorganisation, die dem Reflex einer Kontakt- verantworten hat, sind uns aber umso mehr willkommen. schuld erliegt, gäbe damit eine ihrer zentralen Arbeitsgrund- Sven Lüders Geschäftsführer der Humanistischen Union

Seite 32 Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Sexualpolitik Sexueller Missbrauch von Kindern - eine durch die Generationen weitergegebene Traumatisierung

(Red.) Die Humanistische Union wurde in den letzten Jahren mehrfach Schutzbedürfnis und damit sich selbst als Person zu missach- wegen missverständlicher Stellungnahmen zum Sexualstrafrecht ange- ten. Regelmäßig sind schwere psychische Erkrankungen die griffen. In der Kritik standen dabei auch Äußerungen von Beiratsmitglie- lebenslange Folge. dern, denen eine verharmlosende oder gar befürwortende Haltung zur Pädophilie unterstellt wurde. Die aktuellen Anwürfe hat Prof. Dr. Thea Die Misshandlung wird weitergegeben: Bauriedl, Psychoanalytikerin in München, zum Anlass genommen, um ihre praktischen und wissenschaftlichen Erfahrungen im Umgang mit die Wiederholung als Heilungsversuch Sexualstraftätern und mit Opfern sexueller Gewalt darzustellen. In Auch wenn inzwischen bekannt ist, dass die späteren Täter in ihrem Beitrag fordert sie einen aktiven Schutz der Kinder vor sexuellem der Regel als Kinder selbst Opfer von ähnlichen Vorgängen Missbrauch und plädiert dafür, die Tendenz zur Wiederholung des Miss- brauchs durch ehemalige Opfer, die später häufig selbst zu Tätern wer- waren, kann diese Erkenntnis nicht zur Entschuldigung oder den, in aufklärender psychotherapeutischer Arbeit zu vermindern. Verharmlosung ihrer Taten führen. Sie macht vielmehr darauf aufmerksam, dass solche „Traditionen" eindeutig und sorgfäl- Wie in einer anwachsenden Lawine haben sich in letzer Zeit tig unterbrochen werden müssen. immer mehr Opfer gemeldet, die sexuelle und andere Formen Um zu verstehen, auf welche Weise die Weitergabe einer von gewalttätigen Übergriffen in ihrer Kindheit und Jugend schweren psychischen Schädigung grundsätzlich unterbro- erlitten haben. Fast alle haben diese Übergriffe in geschlos- chen werden kann, muss man sich mit der Frage befassen, senen Gemeinschaften, insbesondere in kirchlichen und welchen subjektiven Gewinn die Wiederholung von sexuellen weltlichen Internaten, über sich ergehen lassen müssen. Für Übergriffen gegen Kinder und andere abhängige Personen für solche Einrichtungen gilt, was auch für Familien gilt, in den Täter mit sich bringt. Ohne solche Überlegungen würde denen Kinder und Jugendliche sexueller Gewalt ausgeliefert man vielleicht meinen, dass die früheren Opfer von sexueller sind, dass die Opfer weder physisch noch psychisch der Gewalt aufgrund der eigenen leidvollen Erfahrung nun als Gewalt entkommen können. Sie sind von ihren Bezugsperso- Erwachsene alles daran setzen würden, dass den ihnen nen abhängig und von Natur aus bereit, sich den sie betreu- anvertrauten Personen nicht dasselbe geschieht, was ihnen enden Erwachsenen anzuvertrauen. Deshalb nehmen sie erst selbst geschehen ist. Nicht selten rechtfertigen die Täter und einmal an, dass das, was mit ihnen geschieht, so in Ordnung Personen, die ein Interesse daran haben, dass entsprechende ist, ja sie schämen und beschuldigen sich oft selbst für das, Taten als harmlos angesehen werden, „pädophile" Phantasien was ihnen angetan wurde, und tendieren deshalb oft lebens- als naturgegebene „Eigenschaft" eines Menschen, eventuell lang dazu, darüber zu schweigen und die Täter zu schützen. als ein „genetisch bedingtes" Bedürfnis, das danach drängt, in reale Handlungen umgesetzt zu werden. Wenn sich dabei Schutzlose und sprachlose Kinder werden zu Opfern die Kinder nicht wehren, weil man vorsichtig oder liebevoll Bisher ging man allgemein davon aus, dass der sexuelle Miss- mit ihnen umgeht, dann wird die Wehrlosigkeit des Kindes brauch von Kindern vorwiegend im familiären Umfeld statt- von diesen Personen oft als Zustimmung oder gar als Beweis findet. Was die Zahl der Fälle angeht, ist das sicher so. Durch für ein eigenes sexuelles Bedürfnis des Kindes uminterpre- die jetzt massenhaft in die öffentliche Wahrnehmung ein- tiert. dringenden Fälle von sexuellen Übergriffen in geschlossenen Die Pädophilie ist aber Ausdruck einer psychischen Gemeinschaften außerhalb der Familie wird deutlich, wie Erkrankung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Betrof- auch hier, in der nahen Umgebung der Opfer, diese Übergrif- fenen kontinuierlich von sexuellen Phantasien mit Kindern fe zumeist nicht wahrgenommen, verharmlost, verschwiegen bedrängt werden. Gleichzeitig haben diese Phantasien durch oder vertuscht werden. Mitwissende wollen zumeist nicht in ihre sexuelle Stimulation eine euphorisierende und damit Schwierigkeiten kommen und „opfern" deshalb selbst ein antidepressive Wirkung, weshalb sie auch zur Abwehr von Kind oder mehrere Kinder durch Wegschauen und Gesche- Wertlosigkeitsgefühlen dienen. Solche Phantasien haben in hen-Lassen. Wegen dieses Verschweigens und Vertuschens in der Regel den Charakter und die Funktion eines Suchtmittels, der nahen Umgebung wiegen die regelmäßig mit solchen was sich auch in der derzeit zunehmenden – oder zuneh- Erfahrungen verbundenen psychischen Folgen besonders mend deutlich werdenden – Zahl von kinderpornographi- schwer. Da ist zumeist niemand, der eindeutig Stellung schen Abbildungen im Internet zeigt. bezieht und grundsätzlich sagt: „Dieses Kind braucht Schutz, Zum Glück wird das suchtartige Ausleben solcher Phanta- es darf nicht missbraucht werden". Da ist niemand, der Ver- sien in unserer Gesellschaft immer eindeutiger als Straftat antwortung übernimmt, wenn er sieht, was dem Kind gesehen. Dies folgt der Einsicht, dass den Kindern durch geschieht, und der erkennt, daß der sexuelle Missbrauch in sexuelle Übergriffe – auch wenn sie ohne Gegenwehr des ganz besonderer Weise das Selbstbestimmungsrecht und das Kindes erfolgen – ein schwerer psychischer Schaden zugefügt Schutzbedürfnis des Kindes missachtet. Das führt dazu, daß wird, der von der Allgemeinheit nicht toleriert werden darf. das Kind ein Leben lang dazu tendieren wird, sein eigenes Das subjektive Gefühl von Freiheit, das der Täter dabei sucht-

Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Seite 33 Sexualpolitik artig erlebt, wird in unserer Gesellschaft nur noch von denje- Bedürftigkeit gefürchtet. Sie erleben jetzt (selbst erwachsen) nigen als ein „Menschenrecht" angesehen, die selbst ein Inte- eine Sexualität, in der sie sich scheinbar frei und ohne Angst resse daran haben, in ähnlicher Weise auf Kosten anderer fühlen können. Vor kleinen Jungen und Mädchen müssen sie leben zu können. sich nicht fürchten, wie ehemals vor den erwachsenen Män- Die Weitergabe der Verletzung des Grundrechts auf sexu- nern oder Frauen, von denen sie selbst (faktisch oder in den elle Selbstbestimmung durch die ehemaligen Opfer führt Phantasie) missbraucht worden sind. Jetzt können sie sexuel- dazu, dass wiederum die psychische und physische Unver- le Anziehung, Erregung und Befriedigung scheinbar ohne sehrtheit eines Kindes zutiefst verletzt wird, und sein Bedürf- Angst erleben – die Angst wird ja jetzt von dem abhängigen nis nach Schutz und Sicherheit in der menschlichen Gemein- Kind erlebt. Von diesem Kind erwarten sie nun selbst die schaft missachtet wird. Das Opfer solcher Misshandlungen Zustimmung, zu der sie einst gezwungen waren. Die schein- macht die schwerwiegende Erfahrung, dass man keinem bare „Zustimmung" des Kindes, die auf seinem Gefühl der Menschen – und damit auch sich selbst nicht - wirklich ver- Wehrlosigkeit beruht, dient für die Täter gleichzeitig zur Ent- trauen kann. lastung von der heutigen Schuld und zur Verharmlosung des- Solche Erfahrungen führen in aller Regel dazu, dass die sen, was ihnen selbst als Kindern angetan worden ist. einst selbst missbrauchten Kinder als Erwachsene dieselben Man kann trotz der hier dargestellten Erkenntnisse über „Szenen" wiederholen, denen sie als Kinder ausgeliefert die Weitergabe der Traumatisierung nicht behaupten, daß waren. Ihr durch die eigene Schädigung schwer verletztes alle Täter einst Opfer der selben Art von Übergriffen waren Selbstwertgefühl verlangt nach „Heilung". Dieser „Heilungs- und deshalb umgekehrt alle Opfer später Täter im Sinne einer versuch" besteht dann leider oft darin, dass das frühere Opfer genauen Wiederholung solcher Übergriffe sein werden. Wie dieselbe Gewaltszene, der es selbst einst hilflos ausgeliefert man aus den Krankengeschichten von in der Kindheit miss- war, nun als Täter wiederholt. Jetzt erlebt der Täter ein oft brauchten Frauen und Männer sieht, sind die Bewältigungs- rauschartiges Gefühl von „Freiheit", einer Freiheit, die auf der mechanismen von psychischer und physischer Gewalt in der Überlegenheit über ein hilfloses und orientierungsloses Kind Kindheit vielfältig. Menschen, die Kinder sexuell missbrau- und auf der Verfügbarkeit dieses Kindes beruht. Das gleich- chen, sind aber in jedem Fall psychisch schwer beschädigte zeitig im Täter entstehende Gefühl einer vermeintlichen Menschen. Nähe zum missbrauchten Kind unterstützt seine Phantasie, dass die Verlorenheit und Einsamkeit in seiner eigenen Kind- Wie kann man mit den Wiederholungen und den heit auf diesem Wege beseitigt oder „wieder gut gemacht" Folgen des Missbrauchs hilfreich umgehen? werden kann. Freilich bringt dieser Versuch, sich selbst auf Wie kann nun diese Kette der so häufigen Wiederholungen Kosten eines anderen zu retten, dem Täter nicht wirklich die von sexuellen und anderen gewalttätigen Übergriffen prinzi- Wiederherstellung eines unzerstörten psychischen Zustands. piell unterbrochen werden? Ganz sicher hilft hier weder Ver- Trotzdem versuchen die früheren Opfer einerseits durch harmlosung noch Geheimhaltung oder Vertuschung. Auch die Wiederholung der Übergriffe gegen Kinder, sich selbst zu die Rechtfertigung als harmlose „Liebe zum Kind" ist Teil der bestätigen, dass Sexualität mit Kindern ein ganz „normaler" Vertuschung eines schwerwiegenden Verbrechens. Der Staat und deshalb „harmloser" Vorgang ist, ja dass die Kinder und die nähere Umgebung der Opfer müssen dafür sorgen, womöglich nichts dagegen haben, wenn man sie so „in die dass sexuelle Übergriffe – in welchem Zusammenhang auch Sexualität einführt". Die Kinder würden sich ja sonst wehren immer - als das gesehen werden, was sie sind: Schwere Ver- – sie selbst haben sich als Kinder ja auch nicht gewehrt. letzungen der Integrität von Abhängigen, die schwere psy- Andererseits versuchen sie, das in der eigenen Kindheit erleb- chische Schäden zur Folge haben. te Gefühl, hilflos ausgeliefert zu sein, dadurch zu beseitigen, Zu einem heilsamen Umgang mit den hier dargestellten dass sie als Erwachsene in derselben Szene nun die handeln- Szenen des Missbrauchs von Abhängigen, insbesondere von de Rolle einnehmen: Der Täter bestimmt, was mit dem Opfer Kindern, gehört in dem Bewusstsein der Umgebung grund- geschieht. Er definiert das Opfer als „willig" und den Übergriff sätzlich die folgende Trias: als „harmlos". So versuchen die einstigen Opfer nun als Täter Alles, was diesem Kind geschehen ist, ist wahr. aus dem ihr ganzes Leben bestimmenden Zustand der Alles, was diesem Kind geschehen ist, war schlimm. „Gefühllosigkeit für sich selbst", der Hilflosigkeit und des Alles, was diesem Kind geschehen ist, wollte es nicht. Ausgeliefertseins herauszufinden: Wenn sie dasselbe tun, Alle Positionen zu diesem Geschehen, die behaupten, dass was ihnen selbst als Kindern angetan wurde, dann kann die der Missbrauch vielleicht gar nicht geschehen ist, dass er damalige Verletzung ihrer persönlichen Integrität doch nicht doch nicht so schlimm gewesen sein kann, und dass das Kind so schlimm gewesen sein – so die Phantasie. Im Gegenteil, doch einverstanden war oder selbst den Erwachsenen ver- die jetzt empfundene körperliche Lust scheint ein Beweis führt habe, wiederholen und verstärken die Traumatisierung. dafür zu sein, dass die Sexualität zwischen Erwachsenen und Die „Lawine" derer, die sich derzeit ihrer eigenen Leidens- Kindern etwas ganz Natürliches ist. zeit erinnern und es wagen, öffentlich zu erklären, was ihnen Die einst so schwer beschädigten Täter haben sich damals geschehen ist, weist darauf hin, dass aktuell in unserer als Opfer vor den Erwachsenen und vor deren sexueller Gesellschaft eine Bereitschaft besteht, solche Vorgänge für

Seite 34 Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Sexualpolitik wahr zu halten und sie ernst zu nehmen. Ein solches Klima zungen und die damit verbundene Einsamkeit und Hilflosig- der Aufmerksamkeit für ein Geschehen, das seit Jahrhunder- keit in Verbindung mit ihren Taten zu verstehen, kann es ten latent zu unserer Kultur gehört, bietet eine Chance dafür, möglich werden, dass sie gesündere Formen des Zusammen- dass in der Öffentlichkeit und damit für alle Betroffenen klar lebens entwickeln, was die Gefahr vermindert, dass sie wei- wird, dass der Missbrauch wirklich geschehen ist, dass er eine terhin Kinder missbrauchen. Trotz allem muss man sehen, schlimme Grenzverletzung darstellt und dass die Kinder – dass diese Bemühungen, den Opfer-Tätern dabei zu helfen, oder andere Abhängige, denen Ähnliches angetan wurde – ihr Suchtverhalten zugunsten anderer Lebensmöglichkeiten dies nicht wollten. Wenn dies anerkannt wird, müssen sich aufzugeben, wie jede Behandlung einer Suchtkrankheit sehr die Opfer vielleicht weniger schämen oder sich nicht mehr aufwendig und schwierig sind. Die Kunst besteht darin, dass selbst für das beschuldigen, was ihnen angetan wurde. es möglich wird, die Person gleichzeitig als Opfer und als Da es so viele ehemalige Opfer sind, die sich jetzt „bemerk- Täter zu sehen und zu behandeln. bar" machen, erleben sie außerdem, dass sie nicht alleine Das große Bedürfnis der Opfer, sich mitzuteilen und Ver- sind, und dass sie in dieser Situation eine Chance haben, in ständnis für ihr Leiden zu finden, wird derzeit besonders ihrem Leiden akzeptiert und verstanden zu werden. Wir alle deutlich, weil sich so viele ehemalige Opfer öffentlich zu haben jetzt eine Chance, mit den Opfern zusammen zu Wort melden, da die „Schleusen" in unserer Gesellschaft nun bedauern und zu betrauern, was ihnen geschehen ist. Den dafür geöffnet sind. Das war in unserer Gesellschaft lange Missbrauch wahrzunehmen und ihn als schwere Verletzung Zeit nicht so, und es ist in vielen Familien immer noch nicht eines Kindes zu verstehen, ist ein wichtiges Prinzip, das – so. In Familien fürchtet man zumeist, dass das eigene Nest zumindest grundsätzlich – die Tendenz zur Wiederholung in beschmutzt werden könnte, oder dass der notdürftig aufrecht der nächsten Generation vermindern kann. Dazu braucht erhaltene Zusammenhalt der Familie gestört würde, wenn man im Einzelfall viel persönlichen Mut, vielleicht auch die deutlich würde, was geschehen ist und was geschieht. Des- Unterstützung anderer Personen, die jetzt durch die öffentli- halb besteht weiterhin die Gefahr, dass die „Schleusen“ wie- che Debatte über die massenhaft bekannt gewordenen Ver- der geschlossen werden, vor allem im familiären Nahraum, in letzungen der Integrität von Kindern ebenfalls Mut fassen dem es die Opfer auch jetzt zumeist noch nicht wagen kön- und auch selbst weniger wegschauen wollen. nen, sich zu erinnern und über ihr Leiden zu sprechen. Kinder Natürlich ist auch die Unterstützung von entsprechenden wollen ihre Eltern schützen, denn sie fürchten, dass das Fachleuten und von deren spezifischer Fortbildung eine „familiäre Dach" über ihnen zusammenbrechen könnte, wenn wichtige Voraussetzung für ein verbessertes Hilfsangebot in deutlich würde, was unter ihm geschehen ist und eventuell unserer Gesellschaft. Die sogenannten „Pädophilen" und noch geschieht. Sie versuchen auch zu verhindern, dass sich auch die straffällig gewordenen Täter brauchen gute psycho- ihre Eltern schämen oder schuldig fühlen müssen, weil sie ihr therapeutische Hilfe, und sie haben Glück, wenn es ihnen Kind nicht geschützt oder auch selbst schwer verletzt haben. möglich ist, solche Hilfe anzunehmen. Das fällt ihnen leich- So wird die aufklärende, betreuende und psychotherapeuti- ter, wenn ihre Betreuer wie auch ihre Psychotherapeuten sche Arbeit an diesen Problemen trotz des aktuell vermehrten eindeutig mit ihnen und ihren Taten umgehen. Die Eindeutig- öffentlichen Interesses an solchen Vorgängen immer weiter keit besteht darin, dass man die Tat – oder die Tendenz zu nötig sein. entsprechenden Taten – wahr nimmt und ernst nimmt und Wahrscheinlich wird die Öffentlichkeit ihre Aufmerksam- gleichzeitig die schwere psychische Verletzung der – poten- keit nach einiger Zeit von den jetzt sichtbar gewordenen psy- tiellen oder tatsächlichen – Straftäter sieht. chischen Katastrophen wieder abwenden. Es scheint oft Auf Seiten der Betreuer und Psychotherapeuten kommt es leichter zu sein, sich nicht mit diesen „schmutzigen“ und darauf an, dass sie den Veränderungswunsch in diesen ängstigenden Dingen zu beschäftigen. Deshalb ist es so schwer beschädigten Personen sehen und mit diesem wichtig, gerade in dieser der Aufklärung bedürftigen und für Wunsch nach anderen Lebensmöglichkeiten zusammenarbei- die Aufklärung zugänglichen Situation auch kollektive Ten- ten. Das ist oft sehr schwierig, weil man in dieser Arbeit denzen zur Verharmlosung sexueller und anderer gewalttäti- immer wieder in Gefahr ist, sich entweder mit der Tendenz ger Übergriffe gegenüber abhängigen Personen deutlich zu zur Verleugnung und Verharmlosung zu verbünden, die in sehen und offen zu legen. Aus meiner Sicht wäre es beson- den (potentiellen) Tätern genauso vorhanden ist wie in ihrer ders wichtig, den Begriff der „Pädophilie" als verharmlosende Umgebung. Oder man gerät auf die Seite der Verfolger, die Bezeichnung einer vielleicht doch normalen sexuellen Orien- die Täter zusammen mit ihren Taten verteufeln, um sich tierung aufzuklären, wie ich das in dieser kurzen Darstellung selbst vor der „Ansteckung" durch die Missbrauchsszene zu versucht habe. Es handelt sich hier um Personen, die selbst retten. Ein verständnisvolles berufliches Umfeld und die schwer beschädigt wurden und deshalb eine eindeutige Stel- Unterstützung durch qualifizierte Supervision machen es für lungnahme und fachkundige Hilfe brauchen, damit sie ihre die Helfer leichter, immer wieder zu sehen, wie die Täter, die eigene Schädigung nicht wiederholend an andere abhängige ehemals sprachlosen Opfer, sich jetzt dringend mitteilen wol- Personen weitergeben. len. Soweit es gelingt, mit den Opfer-Tätern gemeinsam deren Sprachlosigkeit aufzulösen und ihre eigenen Verlet- Prof. Dr. Thea Bauriedl ist Psychotherapeutin und Mitglied des Beirats der Humanistischen Union

Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Seite 35 Nachruf Prof. Dr. Gerald Grünwald – ein Großer hat uns verlassen

Geboren am 5. September 1929 in Prag, Professor für Straf- „Ihr ganzes Engagement ist unserem freiheitlichen demokra- recht und Strafprozessrecht in Bonn von 1963 bis zu seiner tischen Rechtsstaat gewidmet“, sagte das HU-Beiratsmit- Emeritierung, später Rektor der Universität Bonn und Präsi- glied Helga Schuchardt in der Laudatio für den Preisträger. dent der Westdeutschen Rektorenkonferenz, ist mit Gerald Grünwald setze immer wieder das Recht über die politische Grünwald am 18. Dezember 2009 einer der großen Straf- Opportunität, weil er wusste, dass nur die Einhaltung rechtli- rechtler und Kämpfer für ein liberales Straf- und Strafverfah- cher Begrenzungen der Staatsmacht die Freiheitsrechte der rensrecht und einen liberalen Rechtsstaat gestorben. Bürger und damit ein menschenwürdiges Dasein sichern 1966 zählte Gerald Grünwald zu den „Alternativprofesso- kann – unabhängig von noch so guten und scheinbar einsich- ren“, die einen Alternativentwurf zum Strafgesetzbuch vor- tigen Zwecken, mit denen die Einschränkung der Freiheits- legten und dadurch die liberalen Reformen des Strafrechts rechte und die Beseitigung gesetzlicher Schranken für die stark geprägt haben. Gerald Grünwald gehört damit zu den Staatsgewalt begründet werden. Grünwald war sich bewusst, Akteuren jener kurzen Phase einer Liberalisierung des Straf- dass solche „Sicherheitsgesetze“ oft genug lediglich aus poli- rechts, bevor ab Mitte der 1970er Jahre im Rahmen der sog. tischer Opportunität verabschiedet wurden. Bei rationaler Terroristenbekämpfung (RAF) das Pendel im Straf- und Straf- Betrachtung erkenne man leicht, dass die gesetzgeberischen prozessrecht wieder zurückschlug. Unter dem Vorsitz von Schritte das angebliche Ziel der Schaffung von mehr Sicher- Charlotte Maack berief die Humanistische Union Grünwald heit für die Bürger gar nicht erreichen können, oder - wie der 1975 in ihren Beirat (ich vermute, auf Vorschlag der damali- Verfasser dieses Nachrufs oft genug formuliert hat: „Die Poli- gen Bundesvorstandsmitglieder Werner Holtfort und Jürgen tiker tun so, als ob sie etwas täten“, weil sie meinen, dies der Seifert), 1978 verlieh die HU ihm den Fritz-Bauer-Preis. Liest öffentlichen Meinung schuldig zu sein. man heute die Reden anlässlich dieser Preisverleihung – die Ende 1978 vertrat Prof. Dr. Gerald Grünwald als Prozess- Begründung kam von der damaligen Bundesvorsitzenden bevollmächtigter eine Verfassungsbeschwerde gegen die Charlotte Maack, die Laudatio von Helga Schuchardt – so strategische Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs stellt man fest, dass Grünwald in den Kernbereichen der HU mit der DDR und dem übrigen Ostblock durch den Bundes- aktiv war. nachrichtendienst, wenn auch vergeblich. Fünfeinhalb Jahre Gerald Grünwald trug in den 1960er Jahren dazu bei, dass brauchte das Bundesverfassungsgericht bis zu seinem die Gedanken von Strafe und Sühne im Strafrecht zugunsten Beschluss vom 20. Juni 1984, mit dem es die Verfassungsbe- der Resozialisierung verdrängt wurden, er half bei der schwerde zurückwies und die strategische Post- und Telefon- Abschaffung der Zuchthausstrafe und des Arbeitshauses und überwachung durch den Bundesnachrichtendienst für ver- war an der Begrenzung kurzer Freiheitsstrafen und der Ein- fassungsmäßig erklärte (BVerfGE 67, 157). schränkung der Sicherungsverwahrung beteiligt – weil all 1992 fand man Gerald Grünwald wieder in der vordersten dieses der Gesellschaft nichts nützt und den Straftäter nicht Reihe derjenigen, die den Großen Lauschangriff verhindern bessert. So konnte er in seiner Dankesrede zur Verleihung des wollten. Die Professoren Erhard Denninger, Gerald Grünwald, Fritz-Bauer-Preises feststellen: „Wir haben ein Strafrecht, das Jürgen Seifert (alles Beiratsmitglieder der HU) und Hans- weniger inhuman ist als das der Vergangenheit.“ Peter Schneider verfassten im Oktober 1992 den berühmten Doch die Vorzeichen änderten sich. In den 1970er Jahren Aufruf „Wehret dem Lauschangriff gegen Wohnungen“, der kämpfte Grünwald gemeinsam mit der HU gegen den Abbau aufgrund auch des Organisationsgeschicks von Gerhard jener rechtsstaatlichen Vorschriften, die bis dato den Ver- Saborowski von ca. 100 Professoren des Staats- und des dächtigen und damit zunächst noch Unschuldigen schützen Strafrechts sowie der Politischen Wissenschaften unterzeich- sollten: Kontaktsperregesetz, Kronzeugenregelung, Abhören net wurde und an Bundestag und Bundesrat appellierte, von Verteidigergesprächen, Verteidigerausschluss, Rechtfer- „nicht wegen eines vermeintlichen Sachzwanges grundlegen- tigung gesetzwidriger Abhörmaßnahmen mit einem angebli- de Prinzipien unserer Verfassung preiszugeben. Sicherheits- chen Staatsnotstand (Lauschaffäre Traube). Als Sachverstän- politik, die fundamentale Freiheitsrechte beseitigt, verändert diger bezog er vor dem Bundestag Stellung gegen die den demokratischen Verfassungsstaat.“ Die damaligen Vor- Gesetzentwürfe zur Bekämpfung terroristischer Gewalttäter stands- und heutigen Beiratsmitglieder der HU Jürgen Roth und die Einführung des § 129a StGB, der einen neuen Straf- und Till Müller-Heidelberg organisierten in Bonn ein Verbän- tatbestand (Bildung schwerkrimineller oder terroristischer deforum gegen den Großen Lauschangriff, an dem neben den Vereinigungen) schuf. Er wies darauf hin, dass diese Vor- üblichen „Verdächtigen“ wie Humanistische Union, Strafver- schrift nicht wirklich der Bekämpfung terroristischer Strafta- teidigervereinigungen, Gustav Heinemann-Initiative und ten diene, sondern lediglich als Türöffner zu ansonsten ver- anderen auch die Bundesrechtsanwaltskammer und der botenen Ermittlungs- und Überwachungsmaßnahmen, zur Deutsche Börsenverein teilnahmen. Für einige Jahre konnte Verhängung von Untersuchungshaft ohne Haftgrund. Diese so der Große Lauschangriff verhindert werden – bis trotz ent- Kritik ist heute so aktuell wie einst. gegenstehender Parteitagsbeschlüsse das ehemalige HU- Mitglied Otto Schily vom damaligen SPD-Parteivorsitzenden

Seite 36 Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Rezension

Rudolf Scharping den Auftrag erhielt, den Großen Lauschan- Literatur von und über Gerald Grünwald: griff salonfähig zu machen und durchzusetzen – was ihm lei- Charlotte Maack / Helga Schuchardt: Fritz-Bauer-Preis 1978. Begrün- der auch gelang und zum Rücktritt der Justizministerin Sabi- dung der Preisvergabe und Laudatio auf Gerald Grünwald. Mitteilungen ne Leutheusser-Schnarrenberger führte; einem der wenigen Nr. 85 (Dezember 1978), S. 44-47 Ministerrücktritte deutscher Geschichte, die aus politischer Denninger, Grünwald, Schneider & Seifert: Wehret dem „Lauschangriff“ Überzeugung und nicht wegen eines Skandals erfolgten. gegen Wohnungen! vorgänge 120 (Heft 6/1982), S. 113f. Zunehmend weniger HU-Mitglieder kennen noch die gro- Gerald Grünwald (1978): Die antiliberale Tendenzwende in der Straf- ßen Persönlichkeiten, die unseren Verein und seine Politik rechtspflege (=Rede anlässlich der Verleihung des Fritz-Bauer-Preises 1978), vorgänge 36 (Heft 6/1978), S. 12-18 geprägt und in der Öffentlichkeit repräsentiert haben. Gerald Gerald Grünwald (1975): Die Strafprozeßreform - Sicherung oder Abbau Grünwald gehörte dazu. Im Kampf um den liberalen Rechts- des Rechtsstaates? vorgänge 18 (Heft 6/1975), S. 36-48 staat mit seiner Verteidigung der Freiheits- und Bürgerrechte Gemeinsamer Aufruf: 31 Strafrechtslehrer zu den Beschränkungen der sowie um ein liberales und soziales Strafrecht darf er nicht Verteidigung im Strafverfahren. vorgänge 16 (Heft 4/1975), S. 110 vergessen werden. Gerald Grünwald: Leserbrief zur Diskussion um Berufsverbote in der Dr. Till Müller-Heidelberg ehem. DDR. Mitteilungen Nr. 145 (März 1994), S. 10 ist Rechtsanwalt in Bingen, war von 1995 – 2003 Bundesvorsitzender der Humanistischen Union und gehört nun dem Beirat der HU an. Er ist Mitherausgeber des jährlich erscheinenden Grundrechte-Reports. Alle Texte sind über die Online-Ausgabe der Mitteilungen zu erreichen.

Datenschutz für EinsteigerInnen

Risiken eines mangelnden Datenschutzes. Mahnung und Appell sind ihm wichtiger als nüchterne Information. Es bemüht sich um eine sehr verständliche Sprache und gibt- datenschützerische Bedenken pointiert wieder. Leider schleicht sich dabei mancher Fehler im Detail ein (etwa die Michael Brückner, Andrea Przyklenk: behauptete Nutzung der Mautdaten für Fahndungszwe- Kursbuch Datenschutz. Der Ratgeber cke, S. 67). Dennoch bietet das Buch einen guten Einblick gegen den Röntgenblick. in die Geschichte des Privacy-Gedankens (Warren/Bran- Mankau Verlag, Murnau 2009 deis 1890) und klärt über grundlegende Rechtsansprüche 285 S., 15 €, ISBN 978-3-9383-96-33-9 der Bürger und Konsumenten auf. In systematischer Hin- Der Datenschutz hat sein Nischendasein verlassen. sicht fehlt im leider eine Übersicht der Grundprinzipien Bemerkbar macht sich dies u.a. daran, dass Datenschutz des Datenschutzes. Was es etwa mit Zweckbindungen inzwischen zum Ratgeberthema taugt. Offenbar gibt es oder Löschfristen auf sich hat, wird nicht verraten. einen Markt dafür. Auf diesem will sich das Kursbuch Dafür bemühen sich die Autoren, der analytischen Datenschutz behaupten, dass seine LeserInnen über die Sicht auf die Datenschutzrisiken jeweils sinnvolle Hand- „gefährlichsten Datenfallen“ und „die besten Abwehrstra- lungsempfehlungen für ihre LeserInnen zur Seite zu stel- tegien“ aufzuklären verspricht. Nach einem düsteren Ein- len. An vorderster Stelle steht bei ihnen immer wieder die stieg inklusive Big-Brother-Szenario behandelt es in sechs Selbstbeschränkung und die Datenaskese – was allerdings Abschnitten die großen Datenschutzsünden: Dem deut- den Anreiz für Datenschutz-Einsteiger mindern dürfte. schen Staat werden v.a. das BKA-Gesetz, die Vorratsda- Daneben empfehlen die AutorInnen die Nutzung von tenspeicherung, biometrisierte Ausweise und Pässe und datenschutzfreundlichen Techniken (etwa Anoymisie- die Finanzdatenabfragen angelastet. Die Verbraucher wer- rungsdienste), Medienkompetenztrainings zum bewusste- den vor Rabattsystemen, Gewinnspielen, Onlineplattform- ren Umgang mit den verschiedenen Medien und - man nen wie ebay und dem Custom Relationship Management höre und staune - das Engagement in Bürgerrechtsorgani- der Firmen gewarnt. Ein Kapitel ist zudem den Gefahren sation wie der Humanistischen Union. So viel Werbung für des Internets, allen voran den sozialen Netzwerken gewid- die HU wie in diesem Buch war schon lange nicht mehr, met. immer wieder wird sie als Sachverständige zitiert. Ob Das Kursbuch will wachrütteln. Es ist weniger Fachlek- allerdings LeserInnen, die bisher wenig Berührungen mit türe - wer sich mit den angesprochenen Themen schon Datenschutzfragen hatten, an deren rechtspolitischer einmal befasst hat, wird darin wenig Neues entdecken - Arbeit Gefallen finden, mag dahingestellt bleiben. sondern verschreibt sich ganz der Sensibilisierung für die Sven Lüders

Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Seite 37 Kurz-Mitteilungen Kurz-Mitteilungen

Google Street View zu unterstützen. In einem Schreiben an die Arbeitsgemeinschaft der Kommunalen Spitzenverbände Niedersachsen sowie an den Oberbürgermeister der Landes- hauptstadt Hannover betont die HU, dass sich viele Bürgerin- nen und Bürger durch die Kameras in ihrer Privatsphäre und ihren Persönlichkeitsrechten verletzt sehen. Der Landesver- band verweist auf die Stadt Lüneburg, die vorbildhaft ihre Einwohner über die Erfassung durch Google Street View, die damit verbundenen Risiken und die bestehenden Wider- spruchsmöglichkeiten informiert habe. Die niedersächsischen Foto: eco Ungewohnt einmütig präsentierten sich die netzpolitischen Sprecher Kommunen wurden aufgefordert, dem Beispiel Lüneburgs zu der Bundestagsfraktionen beim IGF-Deutschland am 7. Juni in Berlin: folgen und entsprechende Informationen bereit zu stellen. Lars Klingbeil (SPD), Thomas Jarzombek (CDU/CSU), Manuel Höferlin Zudem regt die HU an, dass die Kommunen auch die Termine (FDP), Stefan Krempl (Moderation), Herbert Behrens (Linke) und Konstantin von Notz (Grüne) (v.ln.r.). bekannt geben, an denen Google die jeweilige Region befährt. Die Firma hatte sich gegenüber der zuständigen Internet Governance Forum Deutschland: Hamburger Datenschutzbehörde dazu verpflichtet, diese Ter- Netzpolitik jenseits der Grenzen mine vorab zu veröffentlichen. (SL) Für die Vorbereitung netzpolitischer Entscheidungen hat Widerspruchsschreiben auf der Webseite der HU Niedersachsen: http://niedersachsen.humanistische-union.de/ sich die UN ein offenes Forum geschaffen, in dem sie Vertre- ter aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zum Dialog Ankündigung der Regionen für die nächsten Street-View-Aufnahmen: bittet: das Internet Governance Forum (IGF). Dessen nächster http://maps.google.de/help/maps/streetview/faq.html#q9 . Gipfel findet vom 14.-17. September in Vilnius statt, zu sei- Mustertexte für Widerspruchsschreiben gegen Google Street View bietet ner Vorbereitung gab es am 7. Juni ein warm-up in Berlin. das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- cherschutz an: http://www.bmelv.de/SharedDocs/Standardartikel/Ver- Das IGF-Deutschland wurde vom Branchenverband eco braucherschutz/Internet-Telekommunikation/GoogleStreetview.html. gemeinsam mit der Dt. Gesellschaft für die Vereinten Natio- nen (DGVN), der Internet Society German, der Gewerkschaft Demonstrationsbeobachtung der HU Lübeck ver.di und der Humanistischen Union organisiert. Während die Branchenvertreter von eco, Google und DE-CIX sowie die (HL) Die HU Lübeck hat am 27. März (wie in den Jahren Zivilgesellschaft ihre Forderungen nach internationalen zuvor) einen rechtsradikalen Aufmarsch, die dazu angekün- Regulierungsansätzen, nach mediengerechten Gesetzen und digte Gegendemonstrationen und den Polizeieinsatz beglei- nach digitaler Teilhabe vorbrachten, präsentierten sich die tet. Mit insgesamt 24 DemonstrationsbeobachterInnen netzpolitischen Sprecher der Parteien und die Vertreter der (darunter Rechtsanwälte und Mitglieder des Bundes- und Justizministerien des Bundes sowie der Länder Hamburg und Landtages) gelang es trotz einiger Behinderungen durch die Sachsen-Anhalt guten Willens, aber ohne konkrete Gestal- Polizei, die Entwicklungen des Tages an den zentralen Punk- tungsvorschläge. Zudem zeigte die Diskussion einmal mehr, ten der Demonstration und den Blockaden mitzuverfolgen. dass der netzpolitische Diskurs Deutschlands noch immer Die Demonstrationsbeobachtung zielt auf eine Deeskalation sehr national geprägt ist; am IGF in Vilnus wird vermutlich der regelmäßig bei so kontroversen Versammlungen zu beob- wieder kein Vertreter der Bundespolitik teilnehmen. achtenden Konflikte, zudem erlaubt sie eine von Polizei wie DemonstrantInnen gleichermaßen unabhängige Einschät- Einen ausführlichen Bericht zur Veranstaltung veröffentlichte eco: zung der Ereignisse. http://www.eco.de/verband/202_7877.htm. Zum Thema siehe auch: Wolfgang Kleinwächter, Websperren: Internetpolitik von Gestern. Tele- In ihrem Bericht zur Auswertung der Demonstrationsbe- polis vom 17.8.2009, www.heise.de/tp/r4/artikel/30/30904/1.html. obachtung kommt die HU Lübeck zu dem Schluss, dass sowohl Demonstranten als auch Polizei in diesem Jahr um eine Deeskalation bemüht waren. Die vergleichsweise Google I: HU Niedersachsen ruft Kommunen und zurückhaltende Polizeistrategie habe sich beispielsweise im Betroffene zum Protest gegen Street View auf Einsatz von Konflikt- und Dialogteams gezeigt. Dennoch gab es vereinzelte Gewalteskalationen und Ingewahrsamnahmen. (SL) Der niedersächsische Landesverband der HU hat alle die aus Sicht der BeobachterInnen unverhältnismäßig waren. Kommunen und Gebietskörperschaften des Landes aufgefor- dert, die Bürgerinnen und Bürger bei der Wahrnehmung ihres Der ausführliche Bericht der Demonstrationsbeobachtung mit konkreten Vorschlägen an die Adresse der Polizei findet sich auf Webseite der HU Widerspruchsrechtes gegen die digitale Erfassung durch Lübeck unter http://www.humanistische-union.de/regionen/luebeck/.

Seite 38 Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Kurz-Mitteilungen Baden-Württemberg: Vortragsreihe TACHELES nen seien, wurde von Frau Spiecker kritisch gesehen. Mit zum Thema Bologna-Prozess Hilfe dieser Bilder könnten einfach - per Mausklick - Rück- schlüsse auf die sozialen und sozio-ökonomischen Verhält- (JP) Am 17. Juni startete die Vortragsreihe TACHELES, die nisse der Besitzer gezogen werden. Auch die sog. Verpixelung gemeinsam von der Humanistischen Union Baden-Württem- von Gesichtern und Autokennzeichen sei nicht ausreichend, berg und dem Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstraf- da der Rohdatensatz bei Google verbleibe und in diesem kei- recht der Universität Freiburg organisiert wurde. Sie behan- nerlei Anonymisierung vorgenommen werde. delt gesellschaftliche Themen mit Bezug zu Menschen- und Die ca. 80 anwesenden Zuhörerinnen und Zuhörer diskutier- Bürgerrechten. ten engagiert über das konkrete Ausmaß dieser Digitalisie- In der ersten Veranstaltung an der Universität Freiburg rung des öffentlichen Raumes und die Möglichkeiten, Goo- ging es um die Bildung, genauer gesagt den Bologna-Prozess. gles Datenhunger zu begrenzen. Vorgeschlagen wurden Es referierte der Prorektor für Lehre der Universität Freiburg, etwa: ein Totalverbot der Aufnahmen; die Forderung, Google Professor Heiner Schanz. Er stellte die Ziele von Bologna dar müsse für die Aufnahme und Verwendung der Fotos zahlen; sowie die Schwierigkeiten, sie zu erreichen, zeichnete aber die hohe Hecke, mit der sich Einblicke in die eigene Privat- insgesamt ein positives Bild, in dem die Chancen die Risiken sphäre vermeiden lassen. Ein Abend, der zahlreiche Erkennt- überwögen. Zudem zitierte er Umfragen über die große nisse über die tatsächliche und rechtliche Problematik ver- Zufriedenheit der Studierenden mit den neuen Studiengän- schaffte, das Bewusstsein für die Überwachung durch gen und -abschlüssen. Vorwürfe über eine Ökonomisierung Wirtschaftsunternehmen schärfte und mit einem kühlen Glas der Universitäten wies er strikt von sich. Wein für die Anwesenden angenehm ausklang. Die meisten der ca. 40 Zuhörerinnen und Zuhörer sahen dies anders. Insbesondere die Studierenden unter ihnen sorg- ten nach dem Vortrag für eine lebhafte Diskussion. Sie bemängelten, dass die Verantwortlichen ihnen nicht ausrei- chend zuhörten, es an studentischen Partizipationsmöglich- keiten fehle und die Hochschulleitung sie bei ihren Bemü- hungen, gegen die von der Politik oktroyierten Sparzwänge vorzugehen, nur unzureichend unterstütze. Zudem wurde kri- tisiert, dass die Bachelor- und Masterstudiengänge den Uni- versitäten und damit den Studierenden alternativlos überge- stülpt worden seien und der Wettbewerb mit anderen Studienabschlüssen nicht zugelassen werde. Der Abend zeig- Foto: Lüders te, dass der Prozess der universitären Umgestaltung noch in Kontroverse zur Transparenz der Polizeiarbeit am 5. Mai in Berlin (v.l.): vollem Gange ist und die Bedürfnisse, Ideen und Erfahrungen Werner Koep-Kerstin, Michael Purper, Martina Kant und Hartmut Aden. der Studierenden stärker in Entscheidungen eingebunden werden sollten, damit aus relativer Zufriedenheit mit dem Polizeikontrolle I: LV Berlin-Brandenburg Studium eine bessere Qualität des Studiums wird. diskutiert mit der Gewerkschaft der Polizei Google II: TACHELES zu Google Street View (AH) Am 5. Mai veranstaltete die HU Berlin-Brandenburg eine Podiumsdiskussion zum Thema „Polizeibeauftragte und (JP) Am 29. Juni 2010 lud der Landesverband der Humanisti- Polizeikennzeichnung: bürgerrechtliche Vorschläge auf dem schen Union Baden-Württemberg zusammen mit dem Insti- Prüfstand“. Prof. Dr. Hartmut Aden, zuständig für die Polizei- tut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht der Universi- ausbildung an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in tät Freiburg zu einem Vortrag von Professorin Indra Spiecker Berlin, gab einleitend einen Überblick über bestehende Kon- genannt Döhmann ein. Im Rahmen der Vortragsreihe TACHE- trollmechanismen und zeigte deren Defizite auf. Während die LES referierte sie zum Thema Google Streetview. Möglichkeiten einer externen Kontrolle z.B. durch Bürger, Frau Spiecker ist Lehrstuhlinhaberin am KIT (Karlsruher Insti- NGO´s und Medien wegen fehlender Informationen begrenzt tut für Technologie) und erstellte als ausgewiesene Daten- seien, trage das wichtigste interne Kontrollinstrument, die schutz-Expertin zusammen mit Thomas Dreier für die rhein- Verwaltungshierarchie, das Problem in sich, dass Vorgesetzte land-pfälzische Landesregierung ein Gutachten zu Google aufgrund ihrer Mitverantwortung für begangene Fehler ein Street View. Ihre Bedenken gegen die flächendeckende begrenztes Interesse an der öffentlichen Aufarbeitung haben. Ablichtung durch Google richteten sich u.a. dagegen, dass Hilfreich wäre daher eine Kontrollinstanz, die an der Schnitt- Fotos aus zu großer Höhe gemacht würden (wodurch man stelle zwischen Innen und Außen steht, wie sie ein Polizeibe- Einblicke in persönliche Bereiche erlangen könne, die einem auftragter oder eine Polizeikommission darstellt. Eine solche normalen Passanten verwehrt blieben). Auch die Abbildung Einrichtung brächte neben den erforderlichen Befugnissen von Einfamilienhäusern, die ihren Inhabern leicht zuzuord- die notwendige Distanz mit, um Fehlverhalten ernsthaft auf-

Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Seite 39 Kurz-Mitteilungen zuklären. Darüber hinaus würde eine Kennzeichnungspflicht nahmen handelt wie das Verbrennen von Oury Jalloh in einer für Polizeibeamte es den Bürger erleichtern, erlebtes Fehlver- Dessauer Polizeizelle im Januar 2005. Doch ein systemati- halten konkreten Beamten zuzuordnen. scher Überblick fehlt. Die Region Frankfurt / Rhein-Main Die HU-Bundesgeschäftsführerin Martina Kant schloss an hatte am 29. April 2010 zwei Experten eingeladen, um ein den Vortrag an und stellte den HU-Musterentwurf für ein Problembewusstsein über das Ausmaß von Polizeiübergriffen Gesetz zur Einrichtung eines Polizeibeauftragten vor. Sie zu schaffen und Möglichkeiten zu diskutieren, wie solche unterstrich die langjährige Forderung der HU nach einer Übergriffe verfolgt, besser noch: vermieden werden können. Kennzeichenpflicht. Eine solche Kennzeichenpflicht sei Auf dem Podium diskutierten mit rund 40 ZuhörerInnen der eigentlich eine demokratische Selbstverständlichkeit: Zum Gießener Rechtsanwalt Tronje Döhmer und Andreas einen entspreche sie dem Leitbild einer bürgernahen Polizei, Schwantner, der sich seit über 20 Jahren bei amnesty inter- stärke das Vertrauen zwischen Bürger und Staat. Anderer- national engagiert und die Fachkommission Polizeirecherche seits ließen sich dadurch mutmaßliche Übergriffe durch Poli- mit aufgebaut hat. Diese recherchiert seit 2005 Fälle von zeibeamte aufklären. übermäßiger Gewaltanwendung durch Polizisten und beob- Erwartungsgemäß wies Michael Purper, damaliger stell- achtet etwaige Strafverfolgung. vertretender Landesbezirksvorsitzender der Gewerkschaft der Zunächst berichteten die beiden Referenten sehr kennt- Polizei (GdP), diese Forderungen zurück. Er betonte die mit nisreich über Polizeiübergriffe bei Demonstrationen und poli- der Polizeikennzeichnung verbundene Gefahr der Verfolgung tischen Aktionen, anschließend über Übergriffe im Alltag. Im von Polizeibeamten durch einzelne Kriminelle. Eine Zwangs- dritten und wichtigsten Teil wurde die Frage diskutiert, was kennzeichnung lehne die GdP daher ab. Mit Blick auf das man dagegen tun könne. Obwohl Polizeikessel seit dem Berliner Verfahren zur Polizeikennzeichnung (der Polizeiprä- berüchtigten „Hamburger Kessel" im Juni 1986 von Gerichten sident wollte diese per Vereinbarung durchsetzen) forderte er wiederholt für rechtswidrig, da unverhältnismäßig, erklärt eine gesetzliche Regelung. Für die Kennzeichenpflicht ver- werden, errichtet die Polizei solche Kessel immer wieder, lange er politische Entscheidung, bei der sich jeder einzelne unter anderem bei der Friedberger Anti-Nazi-Demo im Abgeordnete zur Kennzeichnung bekennen muss. Die Einfüh- November 2009. Zu den gravierendsten Folgen der Polizei- rung eines Polizeibeauftragten lehnte er ab. Begangene Ver- einsätze rund um den Gipfel von Heiligendamm im Juni 2007 fehlungen einzelner Polizeibeamter würden bereits jetzt aus- gehört sicher, dass ein Demonstrant infolge eines Wasser- nahmslos aufgeklärt, die bestehenden Kontroll- und werfereinsatzes erblindete: Der Wasserwerfer zerstörte sein Einwirkungsmechanismen seien ausreichend. Diese Behaup- linkes Auge. tung löste im Publikum heftigen Widerspruch aus. Purper Die Liste von Polizeiübergriffen war lang - beide Referen- wurde vorgeworfen, Missstände innerhalb der Polizei unter ten verfügten über deutlich mehr Material, als sich während den Teppich zu kehren und die Lösung struktureller Defizite der Zeit eines Podiumsgesprächs vorstellen ließ. Doch für der Polizeiorganisation zu verhindern. Martina Kant zeigte eine systematische Risikoabschätzung reichte es nicht. Hier sich für die HU gesprächsbereit und forderte Herrn Purper zu bleibt wissenschaftliche Forschung nötig. Ob es einen konstruktiven Gesprächen auf, um konkrete Vorschlägen zur Zusammenhang von Polizeiübergriffen mit dem Inhalt der Verbesserung der Polizeiarbeit zu diskutieren. Demonstration – links- oder rechtsgerichtet – gibt? Für eine seriöse Aussage sei hier die Datendecke zu dünn, so Andreas Schwantner. Aber eine Beobachtung machte er: „Cop Cultu- re" und der sehr hierarchische Apparat haben strukturell eher Affinitäten zu rechtslastigen Demo-Veranstaltern denn zu anarchischen linken. Eine Verfolgung von Polizeiübergriffen findet praktisch nicht statt, stellte Tronje Döhmer fest. Zwar gebe es viele Anzeigen, doch Verurteilungen von Polizisten seien die hoch- seltene Ausnahme. Döhmer wies darauf hin, dass ein Staats- anwalt nicht selbst ermittelt, sondern dafür immer die Polizei

Foto: HU Frankfurt/M. beauftragt: Polizisten müssten also gegen Kollegen ermitteln. Im Frankfurter Club Voltaire stand die Polizeiarbeit auf dem Prüfstand: Anzeigeerstatter trügen zudem das Risiko, dass der Polizist RA Trontje Döhmer, Peter Menne (Moderation) und Andreas Schwantner (Seko Polizei von ai) (v.l.n.r.). sie wiederum wegen „Widerstands gegen Vollstreckungsbe- amte" anzeigt. Bei diesem Delikt laufen die Ermittlungen Polizeikontrolle II: Veranstaltung der HU deutlich schneller. Auch im Alltag kommt es zu Polizeiübergriffen: Der „lage- Frankfurt zu Polizei-Übergriffen im Rechtsstaat bedingte Erstickungstod" ist ein großes Problem. Wenn Per- (PM) Meldungen über Polizeiübergriffe blitzen immer wieder sonen an Händen und Füßen gefesselt auf dem Bauch liegen, in den Zeitungen auf – und die Fälle verschwinden wieder bekommen sie leicht Atemprobleme. So leicht, dass diese aus dem öffentlichen Blickfeld, wenn es sich nicht um Aus- Fesselungsmethode in den USA verboten ist, so Döhmer. In

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Deutschland sterben jedoch immer wieder polizeilich Festge- tisch-konstruktiven Religionskritiker, der sich in der Endpha- nommene den „lagebedingten Erstickungstod". Erschreckend se der Weimarer Republik auf einen Briefwechsel mit einer sei der polizeiliche Umgang mit Verletzten: Tronje Döhmer jungen Journalistin aus der Zentrumspartei eingelassen nannte das Beispiel einer Schlägerei von vermutlich zwei hatte. Tucholsky selbst nannte diese Texte Briefe „über den Banden vor einem Gießener Restaurant. Danach lag ein trennenden Graben hinweg“, geschrieben von „Verstand zu Mann in einer Blutlache auf dem Boden. Ein hinzugeeilter Verstand“. Heiter bis melancholisch, ironisch bis leicht ero- Polizist begann nicht mit Erster Hilfe, sondern fesselte den tisch begründet Tucholsky der Journalistin seinen säkularen am Boden liegenden zunächst, bevor er eine Stichwunde Humanismus. Er wendet sich dagegen, die Kirche mit „Cliché- nahe des Herzens feststellte. In der Akte hierzu heißt es: Sol- phrasen“ zu bekämpfen. Er grenzt sich gegen überhebliche che „Eigensicherung" sei ebenso legitim wie normal... Dogmatiker ab (in der Kirche wie unter den Kommunisten), Wen treffen Polizeiübergriffe? Auch hier fehlen exakte geißelt Dummköpfe, unwürdige Priester, Scheinheilige. Er Daten für eine eindeutige Antwort. Doch bei aller Vorsicht hält dem Christentum vor, kein Verbrechen, keinen Krieg ver- vor falscher Verallgemeinerung meinte Döhmer, dass Perso- hindert zu haben. In einem Brief aus dem Jahr 1931 fragt nen mit nicht-europäischem Aussehen ein höheres Risiko Tucholsky Marierose Fuchs: „Wie sieht die Geschichte der treffe. christlichen, der allerchristlichsten Staaten aus? Bluttriefend. Andreas Schwantner fasste abschließend die vier Forde- Also? Also ist es nichts, nützt nichts, hilft nichts“. Wenige rungen von amnesty international zusammen, mit denen Jahre vor seinem Tod im schwedischen Exil sucht dieser intel- Polizeiübergriffe begegnet werde solle: lektuelle Geist eine Verständigung über einen weltlichen 1. unabhängige Untersuchung von Verdachtsfällen auf Humanismus und Menschen, die diese Suche teilen. Wie übermäßige Polizeigewalt durch spezielle Staatsanwalt- aktuell diese Suche doch ist. schafts- und Polizeiorgane, die von den normalen Abläu- fen strikt getrennt arbeiten. Literaturhinweise: Marierose Fuchs hat die Briefe im Jahr 1970 erstmals bei Rowohlt veröf- 2. Kennzeichnung von Polizisten - entweder durch fentlicht, in der Tucholsky-Gesamtausgabe sind sie ebenfalls enthalten. Namensschilder oder Identifikationsnummern. Ab Spätsommer ist der Vortrag von Joachim Kahl auf der Homepage des 3. Videoaufzeichnungen in Polizeiwachen in allen Räumen Autors nachzulesen: www.kahl-marburg.de. außer dem Sanitärbereich und den ausschließlich von Polizeibeamten genutzten Räumen - wohl aber in Einzel- zellen und Gemeinschaftsflächen. Die Aufnahmen sind sicher zu archivieren und sind nur dann zu sichten, wenn Vorwürfe einer Misshandlung oder schweren Straftat bestehen. 4. Menschenrechtsbildung als fortlaufende und obligatori- sche Weiterbildung - nicht nur generell, sondern auch mit konkretem Bezug zur alltäglichen Praxis, einschließ- lich einer Bewertung, wie Festnahmen durchgeführt

wurden. Foto: Rainer Scholl Podium zur Landtagswahl (v.l.n.r.): Gernhard von Grünberg (SPD), Achim Kansy (FDP), Christoph Lövenich (Moderation), Eike Block Wiederentdeckt. Tucholskys „Briefe an eine (Grüne), Monika Dahl (Linke) und Christian Horchert (Piratenpartei). Katholikin“ NRW: Bürgerrechts im Fokus - Diskussion mit den (JR) Seit über 40 Jahren ist der Club Voltaire in Frankfurt ein Parteien zur Landtagswahl geschichtsträchtiger, legendärer Ort für die HU: Hier wurde politisch gestritten, polemisiert, provoziert. Auch für Joachim (FB) Die Köln-Bonner Regionalgruppe der HU, der Republika- Kahl, den Marburger Philosophen (und studierten Theologen), nische Anwältinnen- und Anwälteverein sowie der örtliche war der Abend im März eine Rückkehr an einen altbekannten AK Vorratsdatenspeicherung befragten am 28. April die Ver- Ort, schließlich studierte er nach seinem Austritt aus der Kir- treter der Parteien anlässlich der bevorstehenden Landtags- che Ende der 1960er Jahre in Frankfurt Soziologie, Philoso- wahlen. Bis auf die CDU, die keinen Vertreter auf das Podium phie und Politikwissenschaft. Sein rororo-Band „Das Elend entsandte, beteiligten sich alle im Landtag vertretenen Par- des Christentums oder Plädoyer für eine Humanität ohne teien an der Runde, die von dem Bonner Politologen Chris- Gott“ erreichte allein vom November 1968 bis zum Mai 1969 toph Lövenich moderiert wurde. Themen des Abends waren: schon fünf Auflagen: ein Bestseller damals. Doch an diesem die Demokratisierung der Polizei durch unabhängige Beauf- Abend war das aktuelle Elend der Katholischen Kirche kein tragte und der Verzicht auf private Sicherheitsdienste als Thema, vielleicht zur Enttäuschung mancher im Club. Ersatzpolizisten (so die Wünsche der HU), die Stärkung des Joachim Kahl zeigte in seinem bemerkenswerten Vortrag Datenschutzes durch eingeschränkte Erhebungsbefugnisse über Kurt Tucholskys „Briefe an eine Katholikin“ einen skep- (AK Vorrat) und die Situation im Jugendstrafvollzug des Lan-

Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Seite 41 Kurz-Mitteilungen des, der nicht erst seit dem „Foltermord“ von Siegburg in der das Leben in Freiheit vorzubereiten. Beurlaubungen aus der Kritik steht (RAV). Die Diskussionen des Abends boten inte- Haft sind in der Zeit 1998 bis 2008 um 60 % zurückgegan- ressante Einblicke in die programmatische Ausrichtung der gen. Ähnliches gilt für den offenen Vollzug. Bundesweit wer- Parteien. Inwiefern die Zusagen, sich bestimmter Misstände den die materiellen und finanziellen Ressourcen gekürzt. anzunehmen, nun aber umgesetzt werden können, ist ange- Kein Wunder, dass die Rückfallzahlen so hoch sind wie eh sichts der schwierigen Koalitionsbildung nun aber offen. und je. Dies liegt auch daran, dass in unserer Gesellschaft das Bewusstsein dafür schwindet, dass ein resozialisierender Ein ausführlicher Bericht von den Diskussionen findet sich in der Online- Strafvollzug die beste Kriminalprävention ist. Haftstrafen Ausgabe der Mitteilungen bzw. auf der HU-Webseite unter: http://www.humanistische-union.de/veranstaltungen/berichte/. können nun einmal nicht ausgleichen, was an Sozialpolitik versäumt wurde. HU Bremen: Humanismus und Strafvollzug – geht Zwischen Minimal- und Maximalstandards gibt es ver- schiedene Modellprojekte, die mindestens zu einer Zivilisie- das überhaupt? rung des Strafvollzuges beitragen könnten. Als besonders (HLÜ) 31 Personen gingen im Februar ganz freiwillig in die gutes Beispiel wurde die Bildhauerwerkstatt genannt, die es Justizvollzugsanstalt Bremen. Grund war eine Einladung des in der JVA Bremen seit 1978 gibt. Dort arbeiten Gefangene HU-Landesverbandes Bremen zu einem Vortrag von Prof. Dr. unter Anleitung professioneller Künstler. In diesem Projekt Johannes Feest: „Humanismus und Strafvollzug: Verrechtli- (meist werden Skulpturen aus Stein hergestellt) geht es um chung, Zivilisierung oder Abschaffung?“ künstlerische Arbeit als Alternative zur Pflichtarbeit. Der Veranstaltungsort war bewusst gewählt, um auch Von Humanisten (auch solchen aus der Humanistischen Strafgefangenen bzw. Bediensteten die Teilnahme zu ermög- Union) sind zahlreiche zivilisatorische Impulse für den Straf- lichen. Diese Hoffnung erfüllte sich aber nur teilweise . Eini- vollzug ausgegangen. Als Beispiele wurden u.a. die Anstalts- ge Beschäftigte der JVA lauschten den Ausführungen und leiter Helga Einsele und Heinz-Dietrich Stark genannt, die für beteiligten sich an der Diskussion, Gefangene waren leider ihre Verdienste von der Humanistischen Union mit dem Fritz- nicht da. Am Abend wurde bekannt, dass zwei Redakteure der Bauer-Preis ausgezeichnet wurden. Sie haben versucht, die Gefangenenzeitung der JVA („DISKUS 70“) eine Teilnahme an Institution in positiver Richtung zu verändern und sind oft der Veranstaltung beantragt hatten, dies jedoch von der dafür selbst diszipliniert worden. Leider ist die traurige Anstaltsleitung abgelehnt wurde. Welches Motiv die Wahrheit, dass die totale Institution Gefängnis diese Refor- Anstaltsleiterin hatte, beide Anträge abzulehnen, blieb offen. mer relativ unbeschädigt überlebt hat. Teilnehmer bedauerten die Entscheidung: „Ich hätte mir Die schrittweise Abschaffung der Gefängnisinstitution etwas mehr Mut von der Anstaltsleiterin gewünscht“, so eine selbst wäre daher ein konsequenter Schritt zur Humanisie- Stimme. rung des Strafwesens. Die gesellschaftliche Entwicklung drif- Johannes Feest spannte einen großen Bogen bei dem tet aber zur Zeit in die entgegensetzte Richtung. Die Privati- schwierigen Thema. Er zitierte den Direktor der bekannten sierung bzw. Kommerzialisierung trägt eher zum Ausbau als Vollzugsanstalt ‚Santa Fu‘ in Hamburg, Dr. Heinz-Dietrich zu seinem Abbau bei. Johannes Feest plädierte dafür, eine Stark, der bereits Mitte der 1970er Jahre mit der These auf- weitere Verrechtlichung und Zivilisierung des Gefängnisses trat: „Wenn man Menschen wie Tiere behandelt, werden sie voranzutreiben, was zugleich einen weitgehenden Abbau der sich auch wie Tiere benehmen“. Damit verband er ein eindeu- Institution impliziere. In der anschließenden Diskussion traf tiges Plädoyer für einen menschlicheren Strafvollzug. dieser Gedanken nicht auf ungeteilte Zustimmung. Es gab Ein solcher Strafvollzug kann durch rechtliche Vorgaben auch – insbesondere wegen der Gewalttaten gegenüber unterstützt werden. Dabei handelt es sich einerseits um Min- Frauen – die Auffassung, dass Strafvollzug ein notwendiges deststandards, durch die absolut unmenschliche Behandlung Übel bleibe. ausgeschlossen werden sollen – etwa: Folterverbot, Mindest- besuchszeiten, Recht auf täglich eine Stunde im Freien etc. Auszeichnung für humanistisches Lebenswerk Solche Normen garantieren ein zivilisatorisches Minimum. Sie führen aber oft dazu, dass häufig nicht mehr getan wird, (SL) Elisabeth Kilali, langjähriges Mitglied des HU-Bundes- als der Mindeststandard vorsieht. Was als unterste Grenze vorstandes, wurde am 9. November 2009 mit dem Bundes- gedacht war, wird zum Standard . verdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Zur Begründung Andere rechtliche Vorgaben setzen höhere Ziele, etwa das verwies die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Doris Vollzugsziel der Resozialisierung. Gefangene sollen im Voll- Ahnen, die die Auszeichnung im Namen des Bundespräsiden- zug „fähig werden, in sozialer Verantwortung, ein Leben ohne ten überreichte, auf das jahrzehntelange ehrenamtliche Straftaten zu führen“, heißt es dazu im Bundesstrafvollzugs- Engagement der Geehrten. Kilali habe sich besondere Ver- gesetz. Theorie und Praxis klaffen hier allerdings weit ausei- dienste um die Rechte psychiatrisierter Menschen sowie um nander, wie Johannes Feest mit zahlreichen Beispielen bele- ein integratives Bildungssystem erworben und dabei einen gen konnte. Das zeige sich sich am Rückgang der „im besten Sinne traditionellen Humanismus" verfolgt, so die Vollzugslockerungen, die dazu dienen sollten, Gefangene auf Begründung der Ministerin.

Seite 42 Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Kurz-Mitteilungen

Humanistische Union: Wege zu einer neuen Psychiatrie, Protokolle einer Elisabeth Kilali engagierte sich in den 1980er Jahren in der Tagung. HU-Schriften 9, München 1980 Humanistischen Union für eine umfassende Psychiatriere- Elisabeth Kilali: „Alles ist im Fluss, und Politik bleibt spannend". Laudatio form, um die Selbstbestimmungsrechte der Patientinnen und anlässlich der Verleihung des Fritz-Bauer-Preises an Dr. Klaus Water- Patienten zu stärken. Von 1979 bis 1993 gehörte sie dem stradt. Mitteilungen 203, S. 17 Bundesvorstand der Humanistischen Union an, eine Zeit lang begleitete sie das Amt der stellvertretenden Bundesvorsit- Baden-Württemberg: Mitgliederversammlung, zenden. Die gelernte Pädagogin organisierte während dieser neuer Vorstand und Vortrag zum Bodyscanner Zeit u.a. die Fachtagung „Wege zu einer neuen Psychiatrie", deren Ergebnisse in einer gleichnamigen Publikation doku- (WB) Am 27. März 2010 fand in Freiburg i. Br. die Mitglieder- mentiert sind. Elisabeth Kilali arbeitete eng mit Klaus Water- versammlung des Landesverbandes Baden-Württemberg stradt zusammen, für dessen Auszeichnung mit dem Fritz- statt. Der Bericht des Vorstandes zu den Aktivitäten der letz- Bauer-Preis sie im November 2008 die Laudatio hielt. Heute ten Jahre fiel positiv aus: Mehrere Veranstaltungen, wie die ist Elisabeth Kilali im Beirat der Humanistische Union aktiv. Podiumsdiskussion zur Novellierung des Polizeigesetzes in In Mainz, wo sie von 1989 bis 2009 als schul- und kulturpo- BW oder die Diskussion mit dem Bundesbeauftragten für litische Sprecherin der SPD-Stradtratsfraktion wirkte, setzte Datenschutz, Peter Schaar, waren sehr gut besucht. Erfolg- sie sich für Bildungsangebote an Migrantenkinder und inte- reich waren auch eine Petition beim Landtag zu "Integrativen gratives Lernen in Gesamtschulen ein. Schulen" und die vom Landesvorsitzenden RA Dr. Udo Kauß eingelegte Verfassungsbeschwerde gegen die Befugnis der Quellen: Allgemeine Zeitung & Rheinzeitung vom 10.11.2009 automatischen Kennzeichenerfassung im neuen Polizeige-

Service-Adressen Landesverband Berlin-Brandenburg Landesverband Bremen Landesgeschäftsstelle im Haus der Demokratie und Menschenrechte, c/o Christiane Bodammer-Gausepohl, Telefon: 0421–25 2879, Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin Thomas von Zabern, Telefon: 0421 – 59 70 730 oder Telefon: 030 – 20 42 504 Fax: 030 – 20 45 02 57 Kirsten Wiese, Telefon: 0421 – 6962 0246, E-Mail: [email protected] E-Mail: [email protected] Internet: http://berlin.humanistische-union.de Aktiventreffen: jeden 1. Mittwoch eines Monats 20h Geschäftsstelle Ortsverband Marburg c/o Franz-Josef Hanke, Furthstraße 6, 35037 Marburg Bildungswerk der HU NRW Telefon: 0641 – 66 616 Internet: www.hu-marburg.de Kronprinzenstraße 15, 45128 Essen E-Mail: [email protected] Telefon: 0201 – 22 79 82 Fax: 0201 – 23 55 05 E-Mail: [email protected] Landesverband Niedersachsen Internet: www.hu-bildungswerk.de c/o Burckhard Nedden Tel.: 05136 – 811 89 Landesverband NRW E-Mail: [email protected] Kronprinzenstraße 15, 45128 Essen Internet: http://niedersachsen.humanistische-union.de Telefon: 0201 – 22 89 37 E-Mail: [email protected] Regionalverband Nordbayern / Nürnberg c/o Irene Maria Sturm, Augustinstraße 2, 92421 Schwandorf Regionalverband Köln/Bonn Telefon: 09431 – 42 348 Fax: 09431 – 42 954 Kontakt über: Anke Reinhardt oder Ute Hausmann E-Mail: [email protected] oder E-Mail: [email protected] Sophie Rieger, Günthersbühler Straße 38, 90491 Nürnberg Telefon: 0911 - 59 15 24 Ortsverband Frankfurt/Main c/o Peter Menne, Speyerstr. 16, 63065 Offenbach Regionalverband München / Südbayern Telefon: 069 – 80 04 717, E-Mail: [email protected] c/o Wolfgang Killinger, Paul-Hey-Straße 18, 82131 Gauting oder Schatzmeister Norbert Sanden, E-Mail: [email protected] Telefon: 089 - 85 03 363 Fax: 089 - 89 30 50 56 Aktiventreffen: jeden 2. Mittwoch eines Monats 20h Club Voltaire E-Mail: [email protected] Internet: http://suedbayern.humanistische-union.de Landesverband Hamburg c/o Hartmuth H. Wrocklage, Arndtstraße 5, 22085 Hamburg Landesverband Baden-Württemberg Telefon: 040 – 22 96 928 Fax: 040 – 22 75 89 26 c/o Udo Kauß, Herrenstr. 62, 79098 Freiburg E-Mail: [email protected] Telefon: 07631 – 702 093 E-Mail: [email protected]

Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010] Seite 43 Termine setz. In den neuen Vorstand gewählt wurden: Dr. Udo Kauß (Vorsitz), Walburga Büchel, Ulrich Neumann, Ulrike Ortmann und Prof. Dr. Britta Schinzel. Nach der Wahl referierte Jens Rinne, Dipl. Informatiker und Wissenschaftlicher Angestellter in der Arbeitsstelle ZDV (Zentrale Datenverarbeitung) des Instituts für Deutsche Spra- che in Mannheim, zum Thema „Körperscanner – Ausziehen für die Sicherheit?". Er stellte die unterschiedlichen Systeme von Körperscannern und ihre Gefahren für die Gesundheit und die Privatsphäre detailliert dar. Impressum Verlag: Humanistische Union e.V. Ursula Schröder verstorben Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin Telefon: 030 – 204 502 56 Fax: 030 – 204 502 57 E-Mail: [email protected] (SL) Bereits am 6. November 2009 verstarb die Tübinger www.humanistische-union.de Menschenrechtsaktivistin Ursula Schröder. Die 1916 Gebore- Bank: Konto 30 74 200, BfS Berlin (BLZ 100 205 00) ne war über Jahrzehnte hinweg das Gesicht der Frauen-, Diskussionsredaktion: Eberhard Steinweg, erreichbar über Verlag Friedens- und Dritte-Welt-Bewegung in Tübingen. Sie enga- oder E-Mail: [email protected] gierte sich in zahllosen Gruppen, so der Armutskonferenz, bei Redaktion: Sven Lüders (über Verlag) Terre des Femmes, in der Patientenberatung - und auch in Layout: Sven Lüders Druck: hinkelstein druck, Berlin der Humanistischen Union, in die sie bereits 1965 eintrat. Die Mitteilungen erscheinen viermal jährlich. Der Bezugspreis ist Ursula Schröder bezeichnete sich selbst einst als „geistige im Mitgliedsbeitrag enthalten. Für den Inhalt der namentlich Trümmerfrau“. Ihre Aufgabe sah sie darin, autoritäre und gezeichneten Artikel sind die Autorinnen und Autoren verantwort- undemokratische Traditionen zu durchbrechen. Nach einem lich. Kürzungen bleiben der Redaktion vorbehalten. Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie pro- Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 30. Juni 2010 movierte sie 1940. Der Weltkrieg, die Flucht mit ihren kleinen Redaktionsschluss der nächsten Ausgabe: 30. August 2010 Kindern und eine fehlende berufliche Perspektive mit drei ISSN 0046-824X Söhnen, die sie nach der Scheidung allein zu versorgen hatte, ließen keinen Raum für eigene Karrierepläne. Umso mehr engagierte sie sich als „Hausfrau“ (so ihre Berufsangabe im Elektronische Informationen HU-Eintrittsformular), kämpfte für Angebote zur Kinderbe- Für Mitglieder und Interessierte bieten wir alternativ zur Papier- treuung wie das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Zahl- form einen elektronischen Bezug der Mitteilungen und anderer reiche Initiativen verlieren mit Ursula Schröder eine enga- Informationen der HU an. Das ist bequemer für Sie und spart Kos- gierte Mitstreiterin. ten. Einfach ausgefüllten Schnipsel an die HU-Geschäftsstelle sen- den: Ulrike Pfeil: Menschenrechte unterm Arm. Schwäbisches Tageblatt vom 24.11.2009 ______Name, Vorname Termine 2010

3./4. September 2010 „Nationaler und europäischer Schutz der ______Bürger- und Menschenrechte.“ Erstes Gustav- E-Mail Heinemann-Forum, Rastatt (s.S. 13) 4./5. September 2010 Bundesvorstandssitzung, Rastatt

17./18. September 2010 „Chancenlos, rechtlos und ausgeliefert?“ ______Fachtagung Strafvollzug, Bremen (s.S. 24) Telefon / Fax 1.-3. Oktober 2010 Öffentlichkeit und Demokratie. Gemeinsamer Gewünschte Informationen (bitte ankreuzen): Kongress von zahlreichen NGOs, Gewerk- schaften und Stiftungen in Berlin (Infos: O Mitteilungen elektronisch http://oeffentlichkeit-und-demokratie.de) O Newsletter Bundesverband O Pressemitteilungen Bundesverband 8.-10. Oktober 2010 Verbandstag der Humanistischen Union und Verleihung des Fritz-Bauer-Preises, Köln O Pressemitteilungen Berlin (s.S. 14) O Veranstaltungstermine Bundesverband 20./21. November 2010 Bundesvorstandssitzung, Berlin O Veranstaltungstermine Berlin O Informationen des Bundesvorstands Aktuelle Veranstaltungshinweise finden sich auf der Webseite der HU (nur für Mitglieder!) unter: http://www.humanistische-union.de/veranstaltungen/. Seite 44 Mitteilungen Nr. 208/209 [Juli 2010]