Spiegel ! Alfred Hagemann Alfred Daniel Text

The Curse of 6 Im Mai 2013 führt uns eine Reise nach Derby- Die Besucher fasziniert in Calke also vor allem shire in Nordengland mit der Erwartung, einen die Atmosphäre des Unberührten. Kaum eine ganz besonderen Ort zu sehen. Unter den etwa Rolle hingegen spielt die künstlerische Qualität Spiegel # zweihundert historischen Landhäusern, die des Gebäudes. Tatsächlich hebt sich der sparsam der National Trust unterhält, eilt Calke Abbey gegliederte vierflügelige Bau architektonisch Alfred Hagemann Alfred Daniel ein besonderer Ruf voraus. Nach der üblichen, kaum aus der Masse englischer Landhäuser geordneten Routine von Parkplatz, Ticketkauf heraus. Selbst der hauseigene Museumsführer und Shop betreten wir das Haus – und schnell des National Trust bezeichnet das Gebäude als wird deutlich, wie ungewöhnlich Calke Abbey „architecturally unremarkable“ und schließt tatsächlich ist: Keine Spur der ausgewogenen sich der überlieferten Meinung eines Besuchers Balance von adligem Wohnen und ästhetischer aus dem 18. Jahrhundert an: „The thing is done Kunstpräsentation, die sonst das Country house but nobody did it“.3 Auch die Familie, die dieses als die Verkörperung des ‚British way of life’ er- Haus für drei Jahrhunderte bewohnte, ist we- scheinen lassen. Die geordnete, heile Welt, die der politisch noch kulturhistorisch sonderlich der National Trust sonst vor Augen führt, er- prominent. Die Barone von Harpur waren eher scheint hier unter Massen von Inventar regel- typische Vertreter ihres Standes als hervorra- recht begraben. Eine unüberschaubare Menge gende historische Persönlichkeiten.4 von Dingen – vom Alltagsgegenstand bis zum hochrangigen Kunstwerk –, eine verwirrende Die Bau- und Nutzungsgeschichte ist schnell Abfolge und Überlagerung von Zuständen – erzählt. Der Name Calke Abbey geht zurück vom dramatischen Verfall bis zu reiner Unauf- auf eine Augustiner-Abtei des 12. Jahrhunderts geräumtheit – überwältigt uns beim Rundgang (von der eventuell noch Reste in den großen nach wenigen Minuten. Die Verwirrung macht Bier- und Weinkellern des Hauses vorhan- schnell Staunen und Faszination platz. Es folgt den sind), die nach der Säkularisierung 1622 das ästhetische Vergnügen an der Vielfalt der von dem frisch geadelten Sir Henry Harpur verblassenden Farben und sich überschneiden- (ca.1579–1639) erworben und zu einem Herren- den Formen, die Entdeckerfreude beim Durch- haus umgewandelt wurde (Abb. 2). Sein Urenkel streifen der übervollen Räume und des alle John Harpur (1680–1741) errichtete das heutige Winkel füllenden Reichtums. Schließlich stellt Haus 1702–04, rund zehn Jahre später folgten sich die tiefe Befriedigung ein, an einem unge- die auf dem hinter dem Haus gelegenen Hü- wöhnlich authentischen Ort zu sein, an einem gel angelegten Stallgebäude. Zu einer größeren Ort, der uns ein Stück „wahre“ Geschichte erle- Umgestaltung kam es 1806-08, als Sir Henry ben lässt.

So weit die subjektive Erfahrung eines ersten Besuches. Doch die Faszination, die Calke Ab- bey auslöst, spiegelt sich auch in den Äußerun- gen vieler anderer Besucher/innen: 7 „This is a very interesting visit, not your avera- ge old country house, it is very different. It has been left as it was when donated to the National Trust, very tatty in places and full of stuffed ani- mals and old artifacts, you may feel this is part of its charm, or you may not! It made me think and I was uncomfortable at times […].”1

“We were completely mesmerised by this time capsule and so grateful that it hasn’t been pret- tified.”2

← 1: Calke Abbey, Sir → 2: Calke Abbey, Vaunceys Bedroom Südfassade Alfred Hagemann/Daniel! Spiegel

Harpur von William Wilkins einen gräzisieren- Übernahme dieser Liegenschaft und die Inves- den Portikus mit ionischen Säulen als neuen titionen in ein Haus begründen, dessen künst- repräsentativen Eingang erbauen ließ. In den lerische oder historische Bedeutung eher gering 1840er Jahren erfolgte auch im Inneren eine war? Renovierung im Greek Revival Style, bei der die barocke Halle im ersten Obergeschoss zu einem Der National Trust ging in die Offensive klassizistischen Salon umgebaut wurde. Zu er- und stellte den Zustand des „Vergessen-wor- wähnen bleibt Sir Vauncey Harpur (1846–1924) den-seins“ von Calke Abbey selbst als denk- mit seiner raumgreifenden Sammlung von aus- malwert heraus: Der von größeren Umbauten, gestopften Vögeln, Schmetterlingen, Minerali- Zerstörungen oder Verkäufen verschonte Orga- en, Fossilien und verschiedensten Memorabilia, nismus des Hauses bot auf einzigartig eindring- für deren Präsentation die Great Hall und zahl- liche Weise das Bild der Kontinuität einer drei- reiche Kabinetten genutzt wurden (Abb. 3). hundertjährigen Bau- und Nutzungsgeschichte eines englischen Landhauses. Besonders wurde Calke Abbey bezieht also seine Bedeutung nicht betont, dass gerade auch der kontinuierliche aus seinem außergewöhnlichen historischen Niedergang von Familie und Haus charakteris- oder künstlerischen Rang. Keine großen Na- tisch sei für das Verschwinden der traditionellen men sind mit seiner Geschichte verknüpft. Im adeligen Lebensweise in Großbritannien seit Gegenteil, das Haus war nicht nur der Öffent- dem Ersten Weltkrieg. Der Architekturhistori- lichkeit, sondern auch der Fachwelt gänzlich ker Howard Colvin bringt die Besonderheit von unbekannt: “What distinguishes Calke Abbey Calke auf den Punkt: „What in the nineteenth from all others of comparable size and date is century had been a social anomaly, and in the the cloud of obscurity which enveloped it two early twentieth an eccentric anachronism, had hundred years ago and which persisted until by the 1980s become a unique historical docu- it suddenly hit the headlines in 1981.”5 Als der ment – a kind of sealed archaeological deposit.”6 letzte Besitzer, Charles Vauncey, 1981 starb, sa- Bedeutend an Calke Abbey ist also nicht das hen sich die Erb/innen außer Stande, die gefor- Außerordentliche, sondern das Typische, das derten acht Millionen Pfund Erbschaftssteuer unter ganz besonderen Umständen zu einem zu begleichen (bei einem Schätzwert von 14 einzigartigen Zeugnis der Adelskultur gewor- Millionen Pfund). Zunächst schien es aussichts- den ist. Denn den aufeinander folgenden Be- los, das Haus zu halten. Wie sollte man die wohner/innen des Hauses gelang es nicht, sich notwendigen Zuwendungen des Staates für die von den Hinterlassenschaften ihrer Vorgänger/

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← 3: Calke Abbey, Great Hall The Curse of Calke Abbey innen zu befreien. Vielmehr räumten sie unge- stand zu erleben. Und doch ist Calke Abbey nutzte Dinge in ungenutzte Räume, ohne sich gerade aufgrund dieses Konzeptes ein höchst die Mühe zu machen, das bestehende Mobiliar artifizielles Haus. Denn nichts was sich selbst auch nur umzuräumen. Bilder, Jagdtrophäen, überlassen erscheint, ist tatsächlich unberührt. Kinderspielzeug, beschädigte Möbel und Gar- Das Haus befand sich zum Zeitpunkt der Über- tenutensilien wurden einfach unter, auf und nahme nicht nur in einem ästhetisch faszinie- neben die Betten gestellt und die Türen ver- renden Zustand der Unberührtheit, sondern schlossen. Am Ende war nur noch ein kleiner – fast zwangsläufig – auch in einem schlechten Teil des Hauses bewohnt, der immer umfang- baulichen Zustand. Der kontinuierliche Verfall reicher werdende Rest weitgehend sich selbst des Anwesens begann mit dem wirtschaftlichen überlassen. So lagen im Kinderzimmer noch Abstieg der Familie nach dem Tod Sir Vauncey die Spielsachen, die Sattelkammer war noch Harpurs im Jahr 1924. Die hohen Erbschafts- komplett mit Zaumzeug, Halftern und Trensen steuern belasteten schon damals das Budget, ausgestattet, im Wagenschuppen standen, wie die Dienstbot/innen wurden reduziert und nur unberührt, die Hunde- und Verschiebewagen, noch die nötigsten Räume geheizt und genutzt, in der Küche noch die Töpfe und Pfannen. Jen- was angesichts des feuchten britischen Klimas seits der Gebrauchsgegenstände des 19. und 20. schnell bauklimatische Probleme nach sich zog. Jahrhunderts gab es zudem etliche Fundstücke Nach sechzigjähriger Vernachlässigung stellten aus früheren Epochen und Kulturen: So fanden Schwammbefall, feuchte Mauern und marode sich beispielsweise in Sir Vaunceys Schlafzim- Dächer eine akute Gefahr für den Bestand des mer frühviktorianische Puppen, bronzezeitli- Hauses dar. che Schwerter, eine Chinesische Elfenbeinpa- gode und römische Gemmen als Mitbringsel Vier Jahre lang, von 1986 bis 1989, wurde Calke der Grand Tour. In den Wirtschaftsräumen durch den National Trust mit großem Aufwand wurden eine riesige silberne Wein-Fontäne restauriert. Um das Haus für die Zukunft zu von 1719 entdeckt sowie zahlreiche historische erhalten, mussten umfangreiche Baumaßnah- Musikinstrumente, ebenfalls aus dem 18. Jahr- men durchgeführt werden. Das Bleidach wurde hundert, mit denen man ein kleines Orchester komplett ersetzt, Gesimse und anderer Werk- hätte ausstatten können. Dazu zählte eine sel- steinteile repariert. In den von Hausschwamm tene Kammerorgel, eine Mandoline von 1761 befallenen Bereichen wurden die betroffenen und ein Cembalo von Burkat Shudi,7 gefunden Balken ausgetauscht, ansonsten aber versucht, auf dem Heuboden. Der spektakulärste Fund den Schwamm durch Stabilisierung der Holz- war wohl das große Prunkbett, das inklusive der feuchtigkeit unter 20% zu inaktivieren.9 dazugehörigen Textilien in einem lange aufge- gebenen Schlafzimmer in Kisten verpackt war. Da zudem die meisten der 9.000 Objekte des Wahrscheinlich handelt es sich um ein Bett, das Inventars nach jahrelanger Feuchteeinwirkung 1734 ursprünglich für die Hochzeit von Princess dringend einer konservatorischen Behandlung Anne, Tochter von Georg II., mit dem Prinz von bedurften, wurde das gesamte Haus für drei Oranien, angefertigt worden war, welches dann Jahre ausgeräumt. Um dauerhaft günstigere 9 von der Prinzessin ihrer Hofdame Lady Caro- Bedingungen für das Inventar zu gewährleisten, line Manners übereignet wurde, die Sir Henry wurde eine „conservation heating“ eingebaut, Harpur im selben Jahr geheiratet hatte.8 die die relative Luftfeuchte konstant unter 65% hält. Die Heizkörper wurden, wo möglich, in Erst in Folge der Entscheidung, in diesem qua- Schränken und unter den Fußböden versteckt; siarchäologischen Übernahmezustand von 1981 ansonsten werden auch tragbare Radiatoren den eigentlichen Wert von Calke Abbey zu er- eingesetzt, die im Sommer entfernt werden kennen, wurde aus einem eher durchschnittli- können.10 chen ‚adeligen Landsitz’ ein ‚Denkmal’. Nicht das Haus selbst, sondern das denkmalpflege- Da das Konzept darauf beruhte, dem Besucher rische Konzept ist also die wahre Attraktion nach der Wiedereröffnung 1989 das gleiche von Calke Abbey. Dem Besucher vermittelt sich Erlebnis zu bieten, wie es sich bei Übernahme auf diese Weise das Gefühl, kein intellektuelles 1981 geboten hatte, sollte im Anschluss alles Einrichtungskonzept, kein „Raumkunstwerk“, genau dahin zurückkehren, wo es vorgefunden sondern einen organischen und „wahren“ Zu- wurde. Dies erforderte im Vorfeld eine sorgfälti- Alfred Hagemann/Daniel# Spiegel

ge Inventarisation und Fotodokumentation der Räume, die den genauen Fundzustand aller Ob- jekte festhielt.11

Allerdings gab es von diesem Grundkonzept auch deutliche Abweichungen, die die Bedürf- nisse der Kunstwerke einerseits und der touris- tischen Erschließung andererseits nötig mach- ten. Das erwähnte Hochzeitsbett beispielsweise wurde als derart bedeutend eingestuft, dass ein Verbleib im Fundzustand – das heißt in diesem Falle verpackt in Kisten – weder aus kunsthis- torischer noch aus konservatorischer Sicht in Frage kam. Anderseits sollte das Bett das Haus nicht verlassen und andernorts als Museumsob- jekt präsentiert werden. Daher wurden für die Ausstellung solcher Objekte einige Räume in klassisch musealer Weise hergerichtet (Abb. 4).12 Bei aller Unberührtheit sollte und konnte auch auf eine für die touristische Nutzung notwen- dige Infrastruktur nicht verzichtet werden. Tea Room, Shop, Information, Garderobe und WCs wurden in einem der Wirtschaftsgebäude untergebracht, wozu tiefgreifende Sanierungs- und Umgestaltungsarbeiten in diesem Bereich soweit, den durch Feuchtigkeit entstandenen nötig wurden.13 Algenbewuchs am Leben zu erhalten und arran- gierte zerbrochene Möbel wieder wie aufgefun- Im Gegensatz dazu wurde in anderen Berei- den auch an feuchten Stellen liegend (Abb. 6). chen das „frozen-in-time-Konzept“ in unge- Nichtsdestotrotz wurde aber die weitere Aus- wöhnlicher Konsequenz verfolgt. In Fetzen breitung von Algen und Schimmel gestoppt. hängende Tapeten, abblätternde Farbschichten Andere Bereiche hingegen zeigen ein nicht ganz und zerschlissene Textilien wurden mit gro- klare Mischung zwischen Wiederherstellung ßem Aufwand im Auffindungszustand konser- und Verfall. Die Orangerie, die in den Artikeln viert (Abb. 5). In den Küchen ging man sogar aus den 1980er noch als verfallen beschrieben

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↑ 5: Calke Abbey, Oak Bedroom

← 4: Calke Abbey, Drawing room The Curse of Calke Abbey wird, wurde mittlerweile wiederhergestellt reizt den Geist zur mentalen Komplettierung. und die Glaskuppel rekonstruiert, deren Me- Das imaginierte, komplettierte Ganze über- tallrippen seit 1958 anlässlich einer geplanten, trifft dabei immer das reale, unversehrte Ganze. aber nicht ausgeführten Restaurierung auf ei- Ähnliches beschreibt auch Friedrich Wilhelm nem Haufen auf dem Boden gelegen hatten. von Erdmannsdorff 1765 angesichts des Kolos- Der abbröckelnde Putz der Innenwände wurde seums in Rom: „Da bin ich nun oft recht froh hingegen in dieser Form konserviert (Abb. 7).14 darüber, dass von allem diesem so viel ruiniert Insofern erliegen Besucher also einer Illusion, ist. Denn wäre es vollständig erhalten, ich wür- denn die wahrgenommene Atmosphäre der de mir nicht den zehnten Teil soviel selbst dabei Unberührtheit ist ein kunstvoll gestaltetes Bild, denken können.“16 dessen Künstlichkeit nicht geringer ist, als der eines herkömmlich idealisierend eingerichteten Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage Museumsschlosses.15 auf, wie sich die Wirkung des Herrenhauses auf Besucher zur Wirkung des Kolosseums verhält, Erst die Restaurierung und Musealisierung des sprich: ist Calke Abbey eine Ruine? Hauses machte es möglich, das Haus in seinem fragmentierten und beschädigten Zustand dau- Auch wenn das Haus strukturell ein intaktes erhaft zu erhalten. Gerade darauf aber beruht Gebäude ist, das mit Dach, Fenstern und der die außerordentlich starke ästhetische Wirkung in seltener Dichte erhaltener Ausstattung sogar von Calke. Die chaotische Unordnung fordert vollständiger ist als viele andere historische Ge- den Besucher dazu heraus, eine Vorstellung bäude, so ist doch der Umgang mit Calke als mu- des ehemals aufgeräumten und lebensvollen sealisiertem Gebäude eindeutig von den selben Hauses zu entwickeln. Die Unvollständigkeit Fragen bestimmt, die den Diskurs um Ruinen

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← 6: Calke Abbey, Küche Alfred Hagemann/Daniel" Spiegel

dominieren. Ein zentrales Merkmal der Ruine eigenartige Schwebzustand der Ruine, in dem ist zunächst auch weniger der Grad des Verfalls, sie erst aufgrund des drohenden Untergangs an als vielmehr der Verlust der Funktion. Dies hebt Wertschätzung gewann und gleichzeitig aber das Gebäude aus dem Alltäglichen heraus und der Wunsch nach permanenten Erhalt ent- macht es zu einem Monument der Vergangen- stand, charakterisierte auch die Wahrnehmung heit, dessen Denkmalwert sich aus eben diesem von Calke und dominierte die konzeptuellen Funktionsverlust ergibt.17 Zwischen dem Ende Fragen. der Nutzung und dem Beginn der Wahrneh- mung als Denkmal liegt im Regelfall eine Phase Das Vergängliche und Versinkende dauer- des Verfalls. Die fortschreitende Fragmentie- haft erhalten zu wollen, bleibt allerdings ein rung wird zum schlagenden Ausdruck des Ver- Paradoxon. Nicht zuletzt aus diesem Ringen gehens von Zeit und macht jedes leerstehende um den Erhalt von ruinösen Bauten entstand Gebäude zum Mahnmal der Vergänglichkeit. seinerzeit die Denkmalpflege als Disziplin.21 Gleichzeitig erhöht, wie erwähnt, die Fragmen- Ein Lösungsansatz war zunächst der Versuch tierung die Möglichkeit der ästhetischen Wahr- der Wiederherstellung eines konstruierten Ori- nehmung auch mittelmäßiger Architektur.18 Die ginalzustandes. Schnell wurde jedoch deutlich, Ruine wird so gleichsam sakralisiert und erhält dass die „Heilung der Wunden“ den eigentlichen den Charakter einer „Reliquie“ aus einer ver- Reiz und Wert des Denkmals zerstörte. Schon sunkenen Zeit.19 Gerade der mit dem Verfall Karl Friedrich Schinkel stellte im Hinblick auf einhergehende drohende Verlust löst ein Be- den Wiederaufbau der Rheinburgen in den wusstsein für den Wert der entstehenden Ruine 1820er Jahren klar fest, dass „die restaurierten als Denkmal aus.20 Burgen […] gewiss in äußerlicher Form sehr ge- gen die ruinenhaftren Alten zurückstehen [wer- Insofern kann man argumentieren, dass Cal- den].“22 John Ruskin beschrieb Ruinen wenig ke Abbey nach dem Verlust der Nutzung (als später als Zeitzeugen, die dem Menschen nicht Wohnhaus einer Familie) in besonders kur- nur den Lauf der Zeit, sondern auch das eige- zer Zeit als Denkmal einer bereits vergange- ne Altern und Vergänglichkeit demonstrierten. nen Epoche wahrgenommen wurde. Das Haus Das Restaurieren und somit Neubauen würde wurde semantisch zur Ruine erklärt, bevor es dem Gebäude die Geschichte nehmen.23 Auch strukturell zu einer Ruine geworden war. Der die Entstehung der heutigen Denkmaltheorie

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← 7: Calke Abbey, Orangerie The Curse of Calke Abbey in Deutschland um 1900 ist eng mit dem Streit den ‚state of decline’ zu visualisieren? Oder ist um den Umgang mit einer Ruine verknüpft. das Eingreifen des National Trust ebenso Teil Am Ende der Debatte um den Umgang mit dem der Geschichte des Hauses? Heidelberger Schloss stand der Grundsatz, ge- wachsene historische Zustände anzuerkennen Tatsächlich setzt sich der National Trust mit und den Status Quo zu bewahren.24 dieser Arbeit auch selbst ein Denkmal und führt seine Daseinsberechtigung eindrucksvoll Doch besonders im Fall der Ruine bleibt der vor Augen. Schließlich wurde die Organisati- Erhalt des Status Quo, also ihr Erhalt als Ruine, on 1895 mit dem Ziel gegründet, Bauten und Utopie. Der Versuch, den Verfall einer Ruine zu Landschaften durch Erwerb vor Zerstörung stoppen, stellt am Ende einen künstlichen Zu- oder Verbauung zu bewahren. Die Fokussierung stand her, der keine Ruine mehr ist.25 Insofern auf Landsitze begann nach dem Zweiten Welt- liegt auf der Wertschätzung von Ruinen ein krieg, als durch die neuen Steuergesetze immer Fluch. Die Erkenntnis ihres Wertes ist auch ihr mehr Adlige nicht mehr in der Lage waren, die Ende. Denn die Konsequenz, eine Ruine eine Erbschaftssteuern für ihre Häuser zu bezahlen, Ruine sein zu lassen, die sich per Definition am und gezwungen waren, ihre Estates zu verkau- Ende selbst auflöst, ist in dem Moment gesell- fen. Somit benutzt der National Trust Calke Ab- schaftlich nicht mehr durchsetzbar, in dem die bey auch als Fingerzeig darauf, wie viele Häuser Allgemeinheit sich auf den Wert einer Ruine als ohne Ihr Eingreifen untergegangen wären – „ it Denkmal der eigenen Geschichte und Identität tells the story of the dramatic decline of a coun- geeinigt hat.26 try house estate […] vividly portraying a period in the 20th century when numerous country Unser Besuch von Calke Abbey endet also äs- houses did not survive to tell their story.”28 thetisch beeindruckt und zugleich denkmal- theoretisch herausgefordert. Im Tea Room, der Die Entscheidung, das in einen Dornröschen- – wie bei fast allen Liegenschaften des National schlaf gefallene Haus nicht aufzuwecken und Trust – in überaus ansprechender Weise zum den üblichen „beaten track“ der Instandsetzung Konsum englischer Köstlichkeiten animiert, zu verlassen, wurde durch die kunsthistorische versuchen wir, das Gesehene zu reflektieren. (Gering-)Schätzung der Anlage begünstigt. Zu- Dreißig Jahre nach Auffinden des Hauses steht dem erlaubt es die Größe der Institution, die uns heute ein praktisch zufällig herausgegrif- über 200 Landhäuser ihr Eigen nennt, ver- fenes Moment der Geschichte des Hauses vor schiedenste Wege in der Bewahrung der Subs- Augen, künstlich und kunstvoll konserviert. tanz zu gehen. Calke wird heute häufig als „a secret house, where time stood still“27 wahrgenommen. Und Bei diesem Weg spielten auch emotionale Er- in diesem Stillstehen der Zeit wird sein Charak- wägungen eine Rolle. Die Restaurator/innen teristikum erkannt. Tatsächlich verhält es sich wollten Ihre persönliche, als außerordentlich jedoch umgekehrt, denn das eigentlich Charak- empfundene Erfahrung beim erstmaligen Be- teristische im Moment der Auffindung war der treten des Hauses mit der Öffentlichkeit teilen.29 13 laufende Prozess des kontinuierlichen, sanften Die Präsentation des Fundzustandes evoziert bei Verfalls. Die Zeit stand in Calke Abbey somit al- den Besucher/innen unwillkürlich die gleiche les andere als still, man konnte der Zeit in Form Abenteuer- und Entdeckerlust, wie sie Kinder der Ablagerung von Material bei ihrem Werk beim Herumstöbern auf vollgerümpelten Dach- quasi zuschauen. böden verspüren. Für dieses Erlebnis wurde in Kauf genommen, dass der Genuss einzelner Letztendlich ist also auch Calke Abbey wie jede Kunstwerke kaum mehr möglich ist, da diese nutz- und haltbar gemachte Ruine etwas Artifi- zwangsläufig in der überwältigenden Fülle und zielles. Aus einem dynamischen Verfallsprozess Unübersichtlichkeit des Gesamtarrangements als Ausdruck von Vergänglichkeit wurde ein verschwinden. statisches Denkmal der Vergänglichkeit. Wäre Somit bleibt festzustellen, dass Calke Abbey trotz es daher nicht eigentlich konsequenter gewe- aller zu konstantierender Künstlichkeit dennoch sen, diesen Verfallsprozess weiter kontrolliert das „un-stately home“ bleibt, als das es auf der zu begleiten, anstatt ihn einzufrieren? Schließ- Website des National Trust beworben wird. lich war doch das Anliegen des National Trust, Alfred Hagemann/Daniel" Spiegel

1 LambrettaLad, Birmingham, bei Tripadviser 2011. ht- in: Winfried Nerdinger (Hrsg.), Geschichte der Rekonstrukti- tps://www.tripadvisor.co.nz/LocationPhotoDirectLink-g18 on – Konstruktion der Geschichte, München 2010, S. 178. 7048-d284673-i123502705-Calke_Abbey-Derby_Derbyshi- re_England.html (28.02.2016). 16 Zitiert nach Ir" Dian" Mazzoni, Denkmalschutz In- formationen (DSI), 2/3 2007, S. 144-150. 2 Melaniebontrol, London, bei Tripadvisor 2015. https:// www.tripadvisor.co.nz/LocationPhotoDirectLink-g18704 17 Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wird der Diskurs 8-d284673-i123502705-Calke_Abbey-Derby_Derbyshire_ um Ruinenschönheit wieder aufgenommen. Beispiels- .html (28.02.2016). weise plädiert 1948 Eberhard Hempel in der Zeitschrift für Kunst dafür, die „Zeugen der Vergangenheit“ dürften 3 Calke Abbey, National Trust Guidebook, London 2011 „unser Leben nicht beherrschen, aber sie müssen doch (12. Auflage), S. 4. hineinwirken, d" in ihnen das Fundament, auf dem auch unsere Gegenwart ruht, sichtbar wird. […] Pietätvoll gehü- 4 Die Familie Harpur hatte sich Mitte des 16. Jahr- tete Ruinen könnten auch bei uns von der Größe der Ver- hunderts etabliert. Sie waren Abkömmlinge von Richard gangenheit zeugen.“ Eberhard Hempel: Ruinenschönheit, Harpur, einem erfolgreichen Anwalt, der zum Richter am in: Zeitschrift für Kunst 2 (1948), S. 76-91. Court of Common Pleas in Westminster und dann zum Vorsitzenden Richter des County Palatine von Lancaster 18 Gefördert durch die in der Tradition Piranesis stehen- aufgestiegen war. Durch geschickte Heiratspolitik erwarb de bildliche Inszenierung von Bauruinen in der Fotografie, die Familie Reichtum und Ländereien in Sta#ordshire und nimmt die Faszination auch in der breiten Ö#entlichkeit . Calke Abbey 2011 (wie Anm. 3), S. 34-35. einen immer stärkeren Raum ein. Davon zeugen, neben zahlreichen Bildbänden, verschiedene Fotowettbewerbe 5 Martin Drury, The Restoration of Calke Abbey, in: RSA (u. ". Blende 2015 zum Them" “Zahn der Zeit - Ästhetik Journal 6 (1988), S. 487-499, hier S. 490. des Verfalls“, urbEXPO 2016 zum Them" Lost Places) oder auch die starken Zulauf verzeichnende Freizeitbeschäfti- 6 Drury 1988 (wie Anm. 5), S. 490. gung der „Urban Exploration“ bei dem (auch illegal) verfal- lene Orte besucht und fotografisch dokumentiert werden. 7 Burkat Shudi (urspr. Burkhardt Tschudi, 1702-1772) Hochburgen dieser Art Abenteuertourismus sind derzeit gehörte zu den führenden Cembalobauern Englands, der amerikanische Industriebrachen in Bu#alo, Chicago oder u.". durch die Förderung Friedrich Händels Instrumente Detroit. sowohl an das englische wie auch das preußische Königs- haus lieferte. Heute lassen sich noch 23 Cembali von Shu- 19 Anselm Wagner, Historie versus Hygiene: Staub in di nachweisen. Zu Shudi siehe: William Dale, Tschudi: The der Architektur(theorie), in: Daniel Gethmann (Hrsg.), Harpsichord Maker, London 1913. Staub: eine interdisziplinäre Perspektive, Wien/Münster 2013, S. 75-106, hier S. 84. 8 Drury 1988 (wie Anm. 5), S. 490. 20 Vgl. Hartmut Böhme, Die Ästhetik der Ruinen. in: 9 Das zog eine ständige Überwachung der Luftfeuch- Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hrsg.): Der Schein des tigkeit im Haus mit entsprechender technischer Ausstat- Schönen, Göttingen 1989, S. 287-304, hier S. 287-288. tung nach sich. Sarah Staniforth/Bob Hayes, Keep the old piles standing, in: New Scientist 19 August 1989, S. 37-41. 21 Böhme 1989 (wie Anm. 20), S. 289.

10 Eine Beiheizung für Mitarbeiter und Besucher 22 Zitiert nach Hassler 2010 (wie Anm. 15), S. 179. hingegen war nicht notwendig, d" das Haus im Winter geschlossen bleiben sollte. Staniforth/Hayes 1989 (wie 23 John Ruskin: The Seven Lamps of Architecture, Anm. 9), S. 39. London 1849, S. 22-25.

11 Drury 1988 (wie Anm. 5), S. 496. 24 Hassler 2010 (wie Anm. 15), S. 179.

14 12 Die Aufstellung des Prunkbetts erfolgte in einem 25 Hassler 2010 (wie Anm. 15), S. 179. ehemaligen Dienstbotenzimmer, dessen Decke hierfür an- gehoben werden musste. Aus konservatorischen Gründen 26 Hassler 2010 (wie Anm. 15), S. 179-180. wird es in einer klimadichten Glasbox präsentiert und darf nicht fotografiert werden. 27 Staniforth/Hayes 1989 (wie Anm. 9), S. 37.

13 David Pearce, Conservation Today: Conservation in 28 http://www.nationaltrust.org.uk/calke-abbey Britain since 1975, Abingdon-on-Thames 1989, S. 144. (24.02.2016).

14 http://www.nationaltrust.org.uk/calke-abbey/ 29 So sagte Michael Drury, Historic Buildings Secretary features/preserving-the-orangery-at-calke-abbey des National Trust, 1988 über das Konzept: „My ide" of an (24.02.2016). ideal afternoon out is to visit " house such as Chastleton […]. Going there is " very remarkable and fascinating ex- 15 Hier drängt sich der Vergleich zum Konzept des Neu- perience, because of the dust and general feeling of poi- en Museums in Berlin auf: „Dass der neu entstandene ‚Frag- gnant impermanence. By using the word ‘impermanence’ I mentzustand’ ein durchaus künstliches und intellektuell have suggested why preservation of such places is such " gewolltes Ergebnis eines aufwendigen Prozesses ist, wird di$cult task. We thought about it very carefully in Calke dem Besucher womöglich nicht in allen Fällen deutlich". Ut" […]. At the same time you cannot hold decay; it is " living Hassler, ‚Ruine und Rekonstruktionen’ – konservatorische process.” Drury 1988 (wie Anm. 5), S. 497. Konzepte des 20. Jahrhunderts und Architekturkritik heute. The Curse of Calke Abbey

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Abbildungsnachweis

1 Alfred P. Hagemann, 2013

2 Phil Sangwell from (https://com- mons.wikimedi!.org/wiki/File:Calke_Abbey.jpg), „Calke Abbey“, Ausschnitt, https://creativecommons.org/licen- ses/by/2.0/legalcode

3 Alfred P. Hagemann, 2013

4 Phil Sangwell from United Kingdom (https://com- mons.wikimedi!.org/wiki/File:The_Drawing_Room_,_Cal- ke_Abbey.jpg), „The Drawing Room , Calke Abbey“, https:// creativecommons.org/licenses/by/2.0/legalcode

5 Alfred P. Hagemann, 2013

6 Alfred P. Hagemann, 2013

7 Alfred P. Hagemann, 2013

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